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s u b \ u r b a n . zeitschrift für kritische stadtforschung
Debatte
2015, Band 3, Heft 1
Seiten 75-90
zeitschrift-suburban.de
Über (Un-)Möglichkeiten, hiesige
Stadtforschung zu postkolonialisieren
Stephan Lanz
Über (Un-)Möglichkeiten,
hiesige Stadtforschung zu
postkolonialisieren
Kommentare von:
Shadia Husseini
Laura Wenz
Kanishka Goonewardena
Jin Haritaworn
Replik von:
Stephan Lanz
Stephan Lanz
Ausgehend von der These, dass westliche Stadttheorie auf eurozentrischen Prämissen
gründet, die urbane Modernität an westliche Städte koppeln und Städte anderswo dem
Entwicklungsparadigma einer nachholenden Modernisierung unterwerfen, argumentiert der Beitrag für die Notwendigkeit, die urban studies zu postkolonialisieren. An zwei
Beispielen werden Möglichkeiten diskutiert, theoretische und methodische Ansätze einer
Stadtforschung voranzutreiben, die postkoloniale Kritik reflektieren. Zum einen erfolgt ein
Versuch, Theorien aus ‚dem Süden‘ anzuwenden, um etablierte Wahrheiten in der Stadt des
globalen Nordens zu erschüttern. Zum anderen wird das internationale Forschungsvorhaben
„Global Prayers – Redemption and Liberation in the City“ als Versuch diskutiert, im Rahmen
eines transregionalen, transdisziplinären und transinstitutionellen Ansatzes einige eurozentrische Fundamente der urban studies zu dekonstruieren und eine kosmopolitischere
Stadtforschung voranzutreiben.
Ersteinreichung: 18.9.2014; Veröffentlichung online: 10.4.2015
An english abstract can be found at the end of the document.
Die westliche Stadttheorie, so kritisiert Jennifer Robinson (2006), ist maß­
geblich von zwei theoretischen Manövern geprägt: Zum einen stellt sie seit
Georg Simmel oder Louis Wirth eine selektive Assoziation zwischen Stadt und
Modernität her, zum anderen konzipiert ihr „developmentalism“ (ebd.: 4)
Städte jenseits des Nordens als unterentwickelt und defizitär. Nur bestimm­
te Städte im Westen werden so als privilegierte Orte von Erfindungen und
Modernität imaginiert, während Städte anderswo auf der Welt als nichtmo­
derne Orte gelten. Auf sie wird das Paradigma der Entwicklung im Sinne
einer nachholenden Modernisierung angewandt. Wie aktuell diese Kritik
bezogen auf die deutschsprachige Stadtforschung ist, lässt sich für beide
dieser Manöver nachvollziehen.
Die europäische Stadt und der Rest
So boomen in den letzten Jahren Forschungsvorhaben und Publikationen, die
sich – unter anderem im Rahmen eines Programms des Bundesministeriums
für Wissenschaft und Forschung (BMBF) – mit sogenannten Megastädten
beschäftigen, ohne die aus postkolonialen Machtungleichheiten resul­
tie­rende „Geopolitik des Wissens“ (Mignolo 2002) zu reflektieren, in die
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jeder Forschungsprozess schon im Rahmen seiner Förder- und Eva­lua­tions­
bedingungen eingebettet ist (vgl. Kaltmeier 2012). Basierend auf dem Ent­wick­
lungsparadigma (vgl. zu dessen Kritik Lossau 2012, Ziai 2012) und mit Blick
auf Fragen der Regierungsfähigkeit von ‚Megastädten‘ im glo­balen Süden zielen
solche Programme und Studien langfristig mehrheitlich darauf, modellhafte
politische „Lösungsstrategien“ (BMBF 2010) oder, so etwa das Geographische
Institut der Universität Köln (o.D.), „Instrumente für Stadt­planung und für
städtische Governance-Systeme zu entwickeln und so eine nachhaltigere
Entwicklung der im Globalen Süden verorteten Mega­städte zu ermöglichen“.[1]
Auf der anderen Seite zeigt das schon länger in der Kritik stehende Kon­
zept der europäischen Stadt (vgl. zuletzt Ha 2014) eine bemerkenswerte
Beharrlichkeit. So enthält das 2012 publizierte Handbuch Stadtsoziologie
ein Kapitel, in dem „die europäische Stadt“ als „Ort, an dem die moderne
Gesellschaft entstanden ist“ (Siebel 2012: 202), in Abgrenzung von „Städten
anderer Kulturkreise“ (ebd.: 204) zu einem von Emanzipation, Demokratie,
Selbstbestimmung und Hoffnung auf besseres Leben bestimmten Idealtypus
stilisiert wird. Dabei werden die gewaltsame globale Ausdehnung der ‚euro­
päischen Stadt‘ im Zuge der Kolonialregime, ihre nur mithilfe der Aus­beu­
tung der Kolonien mögliche Industrialisierung sowie die systematische Aus­
gren­zung ganzer Bevölkerungsgruppen zunächst aus der Bürger- und später
aus der kapitalistischen Industriestadt (vgl. Lanz 2008) zu nicht erwähnens­
werten Betriebsunfällen degradiert, anstatt sie als strukturelle Bestand­
teile des „historisch Besonderen der Stadt in Europa“ (Siebel 2012: 204) zu
verstehen. Diese Konstruktion ist nur auf der Basis einer essentialistischen
Vorstellung von Kulturen als ethno-national homogene ‚Kulturkreise‘ mög­
lich, die den Repräsentationscharakter und die grundsätzlich unabgeschlos­
senen Austauschprozesse kultureller Praktiken übersieht. Sie gründet auf
der eurozentrischen Vorstellung der einen Moderne und verkennt, dass sich
Moderne in einem „welthistorischen Prozess“ (Comaroff/Comaroff 2012: 16)
in alternierenden Pfaden herausbildete und dass sich Vorstellungen von
Modernität wandeln (vgl. King 2003). Schließlich gründen Konzepte wie
Modernität oder Europa nicht auf objektiven Erkenntnissen, sondern enthal­
ten als Bestandteil des Repräsentationssystems, in dem sie formuliert wer­
den, allenfalls „partielle Wahrheiten“ (Clifford 1986, vgl. auch Costa 2005).
Engin Isin (2003) hat längst herausgearbeitet, dass die exklusive Kopplung
der Konzepte Bürger und Bürgerschaft an eine europäische Stadt im Kon­
trast zu einer ‚orientalischen Stadt‘ durch die darin Max Weber folgenden
Sozialwissenschaften auf orientalistischen Annahmen gründet. So offenbart
sich das Konzept der europäischen Stadt als Bestandteil der von Stuart Hall
(1994) als ‚der Westen und der Rest‘ bezeichneten Diskursformation, die das
Westliche als städtisch, modern, zivilisiert und säkularisiert, den ‚Rest‘ hin­
gegen als unterentwickelt, traditionell und religiös deutet (vgl. Lanz 2007).
In Richtung einer postkolonialen Stadttheorie
Dass im selben Handbuch Stadtsoziologie der Herausgeber Frank Eckardt mit
Johanna Hoerning (2012) für eine postkoloniale Stadtsoziologie plädiert, zeugt
von einem diskursiven Wandel in der etablierten deutschen Stadtforschung.
Beide kritisieren zu Recht ein in den Sozialwissenschaften vorherrschendes
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(bequemes) Verständnis von Postkolonialität als zeitliche Epoche. Sie schließen
sich einer postkolonialen Kritik an, die der erste daran orientierte Stadt­theo­
retiker Anthony King „as an oppositional form of knowledge that critiques
Eurocentric conceptions of the world“ definiert (2003: 262). Als Set interdis­
ziplinärer Diskurspraktiken, die fundamental um Fragen von Subjektivität,
Macht und Herrschaft kreisen (Roy 2009), beschäftigen sich postkoloniale
Ansätze „längst nicht mehr nur mit den Wirkungen der Kolonialisierung, son­
dern bezieh[en] auch die aktuell bestehenden neokolonialen Machtverhältnisse
und die diversen ‚kulturellen Formationen‘, die in Folge von Kolonialisierung
und Migration in den Metropolen entstanden sind, in ihre Betrachtungen mit
ein“ (Castro Varela/Dhawan 2005: 25). Während die Forderung von Eckardt
und Hoerning, die westliche Stadtforschung von ihren Fundamenten aus zu
dekonstruieren, im Einklang mit der postkolonialen Kritik steht, verharren
ihre beispielhaft skizzierten Perspektiven für eine postkoloniale Stadtsoziologie
jedoch eng und deskriptiv an direkten Wirkungen des deutschen Kolonialismus
und bleiben so hinter ihrer theoretischen Kritik zurück.
Denn eine Kritik der eurozentrischen Wissensproduktion über die Stadt
erfordert eine fundamentale Dekonstruktion nicht nur des Konzepts der
europäischen Stadt, sondern all seiner tief in die etablierte Stadtforschung
ein­ge­schriebenen Prämissen. Dazu gehört gerade in Deutschland de­
ren systematische Weigerung, das gesellschaftliche Macht- und Herr­
schafts­verhältnis, in dem in der Stadt Fremdes und Eigenes definiert, in
ein hierarchisches Verhältnis zueinander gestellt und in eine „praktische
Mechanik des Ausschlusses“ (Terkessidis 2004: 99) übersetzt wird, mit
postkolonial informierten Rassismustheorien zu analysieren, anstatt mit
Integrations- und Multikulturalismusparadigmen zu hantieren. Denn de­
ren unhinterfragte Prämissen basieren auf den „natio-ethno-kulturellen“
Unter­scheidungen zwischen ‚Wir‘ und ‚Nicht-Wir‘ (Mecheril 2004: 14),
die in der historischen Tradition einer essentialistischen Konstruktion der
deutschen Nation als Kulturgemeinschaft stehen (vgl. Lanz 2007; 2013). Nur
so ist es beispielsweise zu erklären, dass regelmäßig aufflackernde Ghettound Parallelgesellschaftsdiskurse oder ein sich formierender „antimuslimi­
scher Urbanismus“ (Tsianos 2013) nicht als Bestandteile einer historischen
Diskursformation erkannt werden. Vielmehr werden sie mit Konzepten wie
Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit bearbeitet, die längst einheimische
Nachkommen von Einwander_innen immer wieder zu ‚Fremden‘ machen.
Im Gegensatz zum deutschsprachigen Raum haben postkolo­niale An­
sätze basierend auf wegweisenden Publikationen etwa von Anthony King
(1990), Nezar AlSayyad (1992) oder Jane Jacobs (1996) in den eng­lisch­
sprach­igen urban studies zwar schon eine längere Geschichte (einen
frühen Überblick gibt Yeoh 2001), sie blieben aber auch dort die längste
Zeit eine minoritäre Randerscheinung. Postkoloniale Beiträge der latein­
ame­ri­kanischen Stadtforschung wurden zudem gänzlich übersehen (vgl.
Huffschmid/Wildner 2013). Mit einem kritischen Blick auch auf post­ko­
lo­niale Wissensproduktionen der urban studies halten es Jennifer Robin­
son, Ananya Roy oder Aihwa Ong für eine noch zu meisternde Aufgabe,
eine „post-colonial urban theory“ (Roy 2014) zu entwickeln. Ong argu­
mentiert, dass die beiden in der kritischen „Western-centric urban theo­
ry“ (Edensor/Jayne 2012: 5) vorherrschenden Ansätze zu eng an ihrem
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marxis­tischen Stammbaum verharren: Der polit-ökonomische Ansatz fokus­
siere auf den globalen Kapitalismus als „singuläre Kausalität“ für die Pro­
duk­tion von Stadt als Ort der Kapitalakkumulation und subsumiere urbane
Heterogenität unter ein minimales Set von Erklärungsmustern (Ong 2011: 6,
ähnlich Simone 2011). Offensichtlich zeigt sich dies in der Ignoranz gegen­
über der urbanen Bedeutung von Religion (vgl. Lanz 2014a). Die post­
koloniale Stadtforschung wiederum arbeitet zwar alternierende urbane
Modernitätspfade und subalterne Handlungsmacht heraus. Beide dabei
vorherrschenden Perspektiven – der Fokus auf Kontinuitäten der kolonialen
Vergangenheit in der urbanen Gegenwart und der Fokus auf die politische
Handlungsmacht subalterner Gruppen – verengten aber bei der Analyse
unterschiedlichster urbaner Transformationen den Blick auf postkoloniale
Subjektivität (vgl. Ong 2011). Roy kritisiert zudem ontologische und topolo­
gische Lesarten eines „subaltern urbanism“ (2011a: 235), die Identitäten im
‚Slum‘ der ‚Megastadt‘ essentialisieren oder den unternehmerischen Habitus
und die Selbstorganisation der Armen feiern (vgl. auch Lanz 2008).
Auf der Suche nach einem anderen Fokus auf den postkolonialen Urbanis­
mus schlägt Roy daher einen Wechsel vor, „from the postcolonial as an ur­
ban condition to the postcolonial as a critical deconstructive methodology“
(2011b: 308). Die Zentren und Begriffe urbaner Theorieproduktion sollen
zugunsten „new geographies of theory“ (2009) von Euroamerika weg ver­
rückt werden. Mit Dipesh Chakrabarty (2000) sollen neue Theorien das west­
liche Wissen über die Stadt „provinzialisieren“, das heißt die Partialität seiner
Wahrheitsansprüche offenlegen. Zudem sollen sie in ihren Perspektiven glo­
baler und kosmopolitischer sowie in ihren Geltungsansprüchen lokaler situiert
und bescheidener sein (vgl. Robinson 2010). Roy und Ong (2011) ent­wickeln
dafür ein auf Gayatri Spivak zurückgehendes Verständnis von worlding, das
mit dem kapitalfixierten Zentrum-Peripherie-Modell des Global-City-Ansatzes
bricht. Spivak (1999) prägte den Begriff des ‚Welt­machens‘, um nachzuvollzie­
hen, auf welche Weise die koloniale Welt durch die Produktion eines spezifi­
schen Wissens sowie die pure Anwesenheit der Kolo­nisator_innen hervorge­
bracht und angeeignet werden konnte. Mit Blick auf die Stadttheorie bezieht
sich worlding bei Roy zunächst auf die urbane Wissensproduktion selbst und
zielt auf eine Dekonstruktion von deren globalen Wahrheitsregimes. Zudem
überträgt sie mit Ong am Beispiel asia­tischer Städte das Konzept auf urbane
Alltagspraktiken – seien sie dominant oder subaltern, amtlich oder irregulär
–, die über existierende urbane Lebensverhältnisse hinausblicken: „[They]
creatively imagine and shape alternative social visions and configurations –
that is ‚worlds‘“ (Roy 2011b: 314). Als „worlding from below“ wiederum hat
AbdouMaliq Simone (2001: 16) schon früher die globale Ausdehnung des
urbanen Afrika gedeutet. Roy sieht daher als zentrales Anliegen des Projekts
einer postkolonialen Stadttheorie „an analysis of the worlding of the world but
equally an effort to imagine other worlds“ (2014: 18).
Mögliche neue Routen einer postkolonialisierten deutschen
Stadtforschung
Die Worlding-Konzepte von Simone und Roy/Ong bilden ein sinnvolles
Instru­mentarium, um urbane Konfigurationen aus einer globalen Perspek­tive
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jen­seits der klassischen Nord-Süd-Dichotomie zu analysieren (vgl. bspw.
Lanz 2014a, Heck/Lanz 2014). Im Folgenden möchte ich aber mithilfe von
zwei Beispielen andere mögliche Routen einer postkolonial informierten
Stadtforschung skizzieren.
Zum einen versuche ich am Beispiel von zwei zugegebenermaßen nahelie­
genden urbanen Konstellationen in Berlin, westzentrischen Theoriekonzep­
ten der urban studies eine Strategie entgegenzuhalten, die „etablierte Wahr­
hei­ten über die gegenwärtigen Verhältnisse“ mit Blick auf die ‚eigenen‘
Städte mithilfe von „Theorien aus dem Süden“ zu erschüttern sucht. Diese
jüngst von Jean und John Comaroff (2012: 32) erhobene Forderung zielt
selbst­verständlich nicht darauf, einen hierarchischen Dualismus durch sein
Gegenteil abzulösen. Vielmehr geht es darum, eine kritische Verfremdung
zu versuchen, um „dem Normalen seine Normalität zu nehmen“ (ebd.). Dies
folgt nicht zuletzt der Erkenntnis, dass die Effekte weltumspannender Zir­
ku­la­tions­pro­zes­se auch im Westen urbane Konstellationen hervorbringen,
die für euroamerikanische Städte entwickelte Konzepte nicht einmal mehr
vermeintlich erklären können.
Zum anderen möchte ich den Blick auf Fragen des empirischen doing
of urban studies richten, die die theoriefixierten Debatten von Ananya Roy
und anderen über eine zu postkolonialisierende Stadtforschung allzu oft
ausblenden. Nimmt man den Anspruch ernst, die eurozentrische urbane
Wissensproduktion dekonstruieren zu wollen, muss neben den angewand­
ten Theorien auch die Art und Weise kritisch reflektiert werden, wie sich
die ‚Geopolitik des Wissens‘ in einem Forschungsprozess spiegelt (vgl. Kalt­
meier 2012). Dies gilt von der Akteurskonstellation eines Projekts über die
Datenerhebung bis hin zur Repräsentation der Forschungsergebnisse. Mit
dieser Absicht werde ich das Projekt „Global Prayers – Redemption and
Liberation in the City“ skizzieren, das in meiner Praxis einen ersten solchen
Versuch darstellt.
Theorien aus dem Süden in der Stadt des globalen Nordens
Im September 2012 marschierten Flüchtlinge aus verschiedenen deutschen
Städten in einem Verstoß gegen die Residenzpflicht nach Berlin, errichteten
auf dem Oranienplatz ein Zeltlager und besetzten wenig später eine leerste­
hende Schule. Bis zur ihrer Räumung im Frühjahr bzw. Sommer 2014 wohn­
ten mehrere Hundert Flüchtlinge dort und organisierten die Kämpfe ihres
refugee strike für Rechte auf Aufenthalt, Arbeit, politische Partizipation und
einen selbstbestimmten Wohnort (vgl. Aktionskreis 2013). Die heterogen zu­
sammengesetzte Mieterinitiative Kotti & Co wiederum besetzte im Mai 2012
einen öffentlichen Platz am Kottbusser Tor und errichtete eine gecekon­du
genannte Protesthütte. Ihren Kampf gegen den drohenden Verlust von Woh­
nung und Wohnort durch existenzbedrohende Mietsteigerungen und eine
verfehlte Wohnpolitik führen sie seither in Demonstrationen, politischen
Verhandlungen und Events.
Beide aus diesen Besetzungen öffentlicher Räume entstandenen urbanen
Konstellationen sind meines Erachtens mit herkömmlichen Begriffen der
sozialwissenschaftlichen Stadtforschung nicht sinnvoll zu greifen.[2] Bezogen
auf die postpolitische Situation der gegenwärtigen Stadt (vgl. Lanz 2014b,
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Michel/Roskamm 2013) stellen beide einen Bruch des Gegebenen dar (vgl.
Isin 2008). Sie zielen auf eine demokratische „Gleichheitslogik als Anteil der
Anteillosen“ (Rancière 2002: 146), entfernen die Subjekte von den ihnen
zugewiesenen gesellschaftlichen Orten und repolitisieren so die Stadt.
Mit all den neuen Subjektivitäten und Kämpfen in der globalisierten Stadt –
so argumentiert Engin Isin (2008) ähnlich wie der mexikanische Stadt­forscher
Sergio Tamayo (2013) – manifestiert sich citizenship (oder ciudadanía in
Lateinamerika) immer weniger als Status und Habitus. Vielmehr erweist sie
sich als eine soziale Praxis, bei der sich Subjekte zu citizens aufschwingen,
das heißt zu „claimants of justice, rights and responsibilities“ (Isin 2008: 18;
vgl. dazu auch Hess/Lebuhn 2015). Dies offenbaren auch die beiden Berliner
Initiativen, die sich die Schauplätze ihrer Kämpfe kollektiv aneigneten und
sie in temporäre „Ciudadanía-Räume“ transformierten (Ta­ma­yo 2013). Ihre
„acts of citizenship“ (Isin 2008) formulieren existentielle An­sprüche und ver­
knüpfen sie mit der gesamten Stadt: „Es geht um unsere Exis­tenz. Es geht um
diese Stadt. Wir fordern unsere Rechte ein. Es geht um das Recht auf Stadt“
(Kotti & Co 2012). Als Spiegel der globalisierten Stadt sind beide bezogen auf
soziale, ethnische, nationale, religiöse oder politische Zuge­hö­rig­keiten „mehr
oder weniger zufällig zusammengewürfelt“ (ebd.) und äußerst heterogen. Sie
verweigern jede Einteilung in bekannte Kategorien und lehnen normative
Konzepte von Multikulturalität oder Integration ab. In ihrem Kampf sei es
schwer genug, „normal“ (ebd.) miteinander umzugehen. Dies war besonders in
der prekär selbstverwalteten Schule, in der neben den Aktivist_innen andere
Asylsuchende aus vielen Nationen, osteuropäische Wanderarbeiter_innen
oder zwangsgeräumte Einheimische wohnten, kaum zu meistern.
Folgt man dem postkolonialen Theoretiker Walter Mignolo (2000), der
den Kosmopolitismus als Set von Projekten in Richtung eines weltumspan­
nenden Zusammenlebens bezeichnet hat, handelt es sich beim refugee
strike um ein kosmopolitisches Projekt par excellence. Gemeint ist aber
kein bürgerlich-elitärer, an einen eurozentrisch-liberalen Universalismus
gekoppelter Kosmopolitismus, sondern ein „subaltern cosmopolitanism as
politics“ (Gidwani 2006). Für Vinay Gidwani besteht dieser aus „practices of
thinking, border crossing, and connecting that are transgressive of the esta­
blished order […]. Rejecting the sacred and secular motifs of society neither
as rights-borne privilege nor as charity, but as irrevocable claim“ (ebd.: 19).
Arjun Appadurai (2001; 2011) bezeichnet die alltäglichen Kämpfe für
bürgerschaftliche Rechte in den Armenvierteln von Mumbai als „cosmopo­
litism from below“ und fasst sie mit dem Konzept der „deep democracy“. Da
dort Menschen mit unterschiedlichen Sprachen, Religionen oder Kasten auf
engem Raum zusammengewürfelt leben, erfordert ihr Kampf ständige Über­
set­zungen. Diese müssen die interne kulturelle Diversität und die Kluft zu den
Institutionen der offiziellen Stadt überbrücken. Dieser Kosmopolitismus ist
keiner der freien Wahl, „it is a cosmopolitanism driven by the exigencies of
exclusion rather than by the privileges (and ennui) of inclusion“ (2011: 32).
Ähnlich wie Appadurai versuchen Partha Chatterjee (2004) oder Asef
Bayat (2012) mit ihren Konzepten der political society bzw. der ‚Straßen­po­
li­tik‘ einen widerständigen Aktivismus in Städten Indiens oder des Nahen
Ostens zu erfassen, in denen große Bevölkerungsgruppen dem Staat nicht als
citizens, sondern als marginalisierte, oft in die Illegalität gedrängte Subjekte
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gegenüberstehen. Da Eliten und Staatsapparate sie nicht als Teil der bür­
gerlichen Gesellschaft betrachten, stehen ihnen deren Kanäle für politische
Partizipation nicht offen. Entsprechend unterscheiden sich ihre politischen
Forderungen und ihre oft illegalen Mittel im Kampf um existentielle Rechte
fundamental von denen von ‚Bürger_innen‘. Bayat analysiert die bedeu­
tende Rolle, die dabei die Straße spielt, insofern sie es kaum organisierten
Marginalisierten ermöglicht, unmittelbar zu kommunizieren und die eigenen
Körper im Konflikt mit den Staatsapparaten einzusetzen.
Ohne hier eine gründliche Analyse vornehmen zu können, weist das Ver­
hält­nis zwischen Staat, urbaner Gesellschaft und den um Rechte kämp­
fenden Flüchtlingen offensichtliche Gemeinsamkeiten mit den Analysen
von Appadurai, Chatterjee oder Bayat in Städten des globalen Südens auf.
Als selbst bezeichnete „non-citizens“ (Arbeitskreis 2013), die im Zuge ei­
ner weltumspannenden Mobilität in einer „Weltrisikogesellschaft“ (Ulrich
Beck) aus der Stadt des Nordens nicht wieder verschwinden werden, agie­
ren die Flüchtlinge illegal und verfügen über keinerlei Bürgerstatus, der
ihnen Zugang zu zivilgesellschaftlichen Formen politischer Partizipation
ermöglichen würde. Sie müssen daher auf andere Mittel zurückgreifen.
Gleich­wohl stigmatisieren selbst aufgeschlossene Grünen-Politiker_innen
die Drohungen der Flüchtlinge mit Hungerstreik und Dachsprung als illegi­
time Erpressungen. Solchen Einschätzungen liegen eurozentrische, auf den
Prämissen der bürgerlichen Gesellschaft basierende Vorstellungen eines
legitimen politischen Handelns zugrunde.
Kotti & Co stellt sich in eine den Flüchtlingen vergleichbare kämpferische
Tradition. Ihr gecekondu bezieht sich auf einen selbstorganisierten informel­
len Städtebau, mit dem ländliche Zuwander_innen in türkischen Metropolen
dem Staat ihr Recht auf die Stadt abgerungen haben. Dies verweist auf über­
mittelte Erfahrungen in der türkischen Einwanderercommunity, der einige
Mitglieder der Initiative angehören.
Mithilfe postkolonial geschulter Konzepte, so meine These, lässt sich
die politische Bedeutung von Kotti & Co und dem refugee strike für Ber­
lin greifen. Ihr ‚Kosmopolitismus als Politik‘ widersetzt sich herkömm­
lichen Kategorisierungen sozialer Gruppen und erprobt unter schwers­
ten Bedingungen, wie im Alltag einer hochgradig heterogenen urbanen
Gesell­schaft Interessen und Bedürfnisse übersetzt und verhandelt werden
können. Ihre acts of citizenship durchbrechen die Ausgrenzungsmuster
zivilgesellschaftlicher Partizipationskanäle der bürgerlichen Stadt, um für
Anteillose oder in ihren Rechten Gefährdete eine „Logik der Gleichheit als
Anteil der Anteillosen“ (Rancière) zu erkämpfen. Trotz ihrer Räumung unter
Gewaltandrohung ließen die Flüchtlingsbesetzungen, ihre Unterstützung
durch diverse städtische Milieus und die lange Duldung durch die Kommune
Kreuz­berg Potenziale einer urbanen „democra­cy without borders“ (Appa­du­
rai 2001: 42) zumindest temporär aufscheinen.[3]
Trans…: Eine experimentell vergleichende Stadtforschung
Das Forschungsvorhaben „Global Prayers – Redemption and Liberation in the
City“ stellt einen Versuch dar, die Postkolonialisierung der Stadtforschung mit
einem transregionalen, transdisziplinären und transinstitutionellen Projekt
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voranzutreiben. Es ging aus dem die Buchreihe metroZones begründenden
Ziel hervor, urbanen Alltag jenseits der ‚europäischen Civitas‘ zu erforschen
(vgl. Becker/Lanz 2003). Die metroZones-Programmatik folgt seit 2003 den
Prä­mis­sen, dass Städte des Südens und Nordens zum gleichen postkolo­nia­len
Analyse­feld gehören und dass der urbane Süden als „palimpsests of coloni­
zation, de- re- and neo-colonization“ (de Boeck 2002: 244) eigenständigen
Modernisierungspfaden folgt. Zudem wurde der herkömmliche Blick urbaner
Analysen im Sinne einer „inventive methodology“ (Simone 2010: 279) zu­
gunsten einer Süd-Nord-Perspektive gedreht. Süden und Norden sind dabei
keine ontologischen oder grundsätzlich geografischen Kategorien, sondern in
Anlehnung an Stuart Halls (1994) Konzept vom Westen und dem Rest rela­
tionale, einander bedingende Bestandteile einer einzigen Diskursformation.
Basierend auf diesen Manövern drängten sich weltweit neuartige urbane
Manifestationen des Religiösen in das Blickfeld der metroZones-Forschun­
gen. Insofern solche Entwicklungen fundamentalen Annahmen der kriti­
schen Stadttheorie widersprachen, hatten auch unsere eigenen urban studies
sie lange übersehen oder als Fundamentalismus urbaner Armer stigma­ti­siert.
Die anfängliche Programmatik von „Global Prayers“ basierte entsprechend
auf einer normativen Religionskritik und koppelte den urbanen Boom reli­
giöser Bewegungen eindimensional an soziale Verwerfungen in Folge des
globalen Neoliberalismus. Konfrontiert mit postkolonialer Kritik, rangen wir
uns erst im Rahmen eines Workshops zu der These durch, dass die dahinter
stehende Annahme, urbane Modernität sei per se säkular, als eurozentrische
Prämisse der Stadtforschung dekonstruiert werden müsse. Da mir hier der
Platz fehlt, um alle Dimensionen des Projekts zu diskutieren (vgl. Lanz 2014a,
Becker et al. 2013), möchte ich die strategische Konstellation und zentrale
methodische Manöver bezogen auf mögliche Routen, Stadtforschung zu
postkolonialisieren, diskutieren.
Die extreme Kluft zwischen urbanem Alltag und urbaner Wissens­pro­
duk­tion legte es nahe, vertraute Ansätze der urban studies beiseitezulegen
und einen experimentellen, auf „de-centering“, „de-familializing“ und „untruthing“ (Jacobs 2012: 907) zielenden Forschungsansatz zu konzipieren.
In sehr unterschiedlichen Städten weltweit sollten explorative Fallstudien
fragend und induktiv vorgehen, um die Bedeutung urbaner Religion als
Be­stand­teil der materiellen, sozialen und symbolischen Produktion des
Städ­tischen und als Artikulation urbaner Modernität zu unter­suchen. Die
Fallstudien selbst stellten keine klassischen Vergleiche an, sondern folgten
einem experimentellen Vergleichsansatz (vgl. Robinson 2010). Im Sinne von
Jane Jacobs war „Global Prayers“ ein 1+1+ -Vorhaben: „(+) points to mul­
tiplicity, and in the direction of emergence and becoming“ (2012: 905) und
„the multiple (1+1) generates an ever-present ground ‚un-truthing‘“ (ebd.:
907). Es ging also weniger darum, Ähnlichkeiten und Unter­schiede zwischen
ab­ge­grenz­ten Einheiten zu untersuchen, als darum, Transformationen,
Ver­knüp­fung­en oder Verschmelzungen urbaner Religions- und religiö­
ser Urbanitätsformen herauszuarbeiten. Mit Fokus auf ihre global/loka­
len Manifestationen und Prozesse sowie ihre materiellen und imaginä­
ren Netzwerke und Verknüpfungen wurden sie im Sinne von Simone,
Roy und Ong als Praktiken des worlding untersucht (vgl. Lanz 2014a).
Diese Projektkonstellation folgte der Erkenntnis, dass der Versuch einer
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Dezentrierung als wesentlicher Bestandteil von Postkolonialisierung die
Existenz einer Vielfalt von Perspektiven und Analysen voraussetzt; einer
Vielfalt, die Evidenz erlangt in „the notion of the center against which one
works“ (Jacobs 2012: 904).
Das 1+1+-Konzept von „Global Prayers“ geht über inhaltliche Fragen
hinaus und entspricht Colin McFarlanes Verständnis eines Vergleichs als
Strategie:
„In the expansive reading of comparison […], I argue for attention
not just to different scholarly knowledges on cities from social science
across the world, but different activist and public knowledges that are
important for the production of a more global, more democratic urban
studies characterized by diverse urban epistemes and imaginaries“
(2010: 727).
Der Vergleich ist so jenseits methodischer Fragen eine Denkweise und ein
strategisches Werkzeug zur Konfiguration eines Projekts, das transdisziplinä­
re, transinstitutionelle und transregionale Überschreitungen vornimmt; ein
Instrument „for creating new conversations and collaborations, for reading
different traditions and connections, and for expanding the field of critique
and inquiry“ (ebd.: 730). Ein solcher Vergleich geht über ein gegenseitiges
„learning from*“ (so der Titel einer früheren metroZones-Ausstellung, vgl.
Becker et al. 2003) hinaus: Er ist „a key site for the urban imagination – a
potential site of politics“ (McFarlane 2010: 732).
Um innerhalb dieser Vergleichskonstellation einen analytischen Raum
jenseits des westzentrischen Diskurses vom säkularen Charakter urbaner
Modernität zu öffnen, wählten wir akteurs­zen­trierte und praxistheoreti­
sche Ansätze, die darauf zielten, die „Binnenperspektive der Handelnden
und die Erfahrungen, die ihr zugrunde liegen, zu rekonstruieren“ (Schiff­
auer 2010: 27). Die Fallstudien führten lokal situierte Forschende durch,
deren Fellowships global ausgeschrieben waren. Um die herrschende Geo­
politik des Wissens nicht unbedacht zu reproduzieren, erfolgte ihre Ver­ga­be
nach der Prämisse, unterschiedliche, auch jenseits akademischer Insti­tu­
tion­en erworbene Wissensformen und Kompetenzen wertzuschätzen, an­
statt die Bewertungsmuster euroamerikanischer Akademien anzuwenden.
Daraus resultierte eine heterogene Zusammensetzung und methodische
Experimentierfreudigkeit der Forschenden.
Das Konzept des Vergleichs als Strategie manifestierte sich in weiteren
Manö­vern: In einer Öffnung für künstlerische Forschungsan­sätze eta­blier­
ten wir Forschung als „procedure of exploration and discove­ries, a cons­
tant and delicate movement between knowing and not-knowing“ (Huff­
schmid 2012: 165f.). Wir konfigurierten das Projekt als transinstitutionelle
Kooperation zwischen wissenschaftlichen, kulturellen, künstlerischen und
poli­tischen Institutionen und entwickelten das Wissen kollaborativ in
Workshops und Forschungsexkursionen mit Partner_innen in den Unter­
suchungsstädten. Die Kollaboration von Wissenschaft und Kunst als je ei­
genständige epistemische Praktiken (Bippus 2009) sollte die gegenseitigen
Ordnungs­systeme irritieren, nach denen beide ihr Wissen erzeugen. Auf
diese Weise wollten wir reflexive Befragungen etwa von selbstverständlich
erscheinenden Prämissen oder von Subjektivitätseffekten der Forschenden
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fördern. Nicht zufällig, so die Überlegung, gingen in Deutschland die weit­
reichendsten Ansätze einer postkolonial informierten (Stadt-)Analyse wie
„Projekt Migration“ (Kölnischer Kunstverein 2005), „Crossing Munich“
(Beyer et al. 2009) oder „Colonial Modern“ (Avermaete et al. 2010) aus trans­
disziplinären akademisch-künstlerisch-aktivistischen Konstellationen her­
vor. Die Diversität der Kollaborationen generierte eine Perspektivenvielfalt
bezogen auf Motive, Fragen und Methoden der Forschung. Kulturelle Insze­
nie­rungen, die den laufenden Forschungsprozess öffentlich präsentierten
(vgl. www.globalprayers.info), ermöglichten die Reflexion seiner Strategien
und Methoden in speziellen Diskursformaten. Beispielsweise diskutier­
ten projektbeteiligte Forscher_innen, Protagonist_innen und Kritiker_in­
nen in per Kopfhörer übertragenen Zweiergesprächen selbstkritisch ihre
Möglichkeiten und Grenzen, um den Prämissen einer postkolonialen Kritik
im Forschungsprozess gerecht zu werden.
Die komplexe Projektkonstellation, die Divergenz von Ordnungssystemen
betei­lig­ter Institutionen und Disziplinen, die Vielzahl von inhaltlichen Fall­
studien und Fragen, die Überlagerung verschiedener Wissens- und For­
schungs­traditionen sowie die hohen Reflexivitätsansprüche erzeugten zahl­
reiche Konflikte, die im Forschungsprozess ausbalanciert werden mussten,
und auch eine Reihe ungelöster Probleme. Beispielsweise existierten je nach
lokaler Verortung der Forschenden (im Norden/Süden) hochgradig un­
gleiche Zugänge zu wichtigen Ressourcen (wie Bibliotheken oder univer­
sitäre Infrastrukturen). Im Rahmen der akademischen und geografischen
Verortung des Projekts (in Berlin) war es nur sehr bedingt durchzuhalten,
Methoden und Repräsentationsformen des erzeugten Wissens, die nicht
den standardisierten Anforderungsprofilen der jeweiligen Disziplinen ent­
sprachen, den erforderlichen Freiraum oder angemessenen Wert zu geben.
Die Forschenden sahen sich gezwungen, den internationalen Standards
ihrer künstlerischen oder wissenschaftlichen Disziplin gerecht zu werden,
um ihre Karrieren nicht zu gefährden. Und aus dem Spannungsfeld zwi­
schen der experimentellen Konstellation des Projekts und den Erwartungen
der es finanzierenden Institutionen, die dem diametral entgegengesetz­
ten Exzellenzdiskurs folgten, resultierte ein hoher Druck auf die Steuerung
des Vorhabens und ein dauerhafter Konfliktherd, der zu einer negativen
Zwischenevaluation und damit fast zum vorzeitigen Aus des Projekts führte.
Was eine Postkolonialisierung der Stadtforschung
(un-)möglich macht
Um die Stadtforschung zu postkolonialisieren, ist es zwar weiter unabding­
bar, den westzentrischen Charakter ihrer Prämissen zu dekonstruieren und
theoretische Ansätze fortzuentwickeln, die postkoloniale Kritik reflektieren.
Theorien aus dem Süden in der Stadt des globalen Nordens anzuwenden,
kann aber nur ein erster Schritt sein. Für eine grundlegende Erneuerung
im Sinne einer kosmopolitischeren und demokratischeren Stadtforschung
ist es erforderlich, Forschung im Sinne eines Dialogprozesses zu etablieren,
der postkoloniale Machtungleichheiten reflektiert und nicht nur verschiede­
ne Disziplinen umfasst, sondern auch nichtakademische und aktivistische
Formen der Wissensproduktion. Ein solches Forschen lässt sich fragend
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und mit offenem Ausgang auf eine Begegnung ein, „bei der wechselseitig
Blicke und Reden ausgetauscht werden“ (Berkin/Kaltmeier 2012: 10). Filip
de Boeck drückte es auf dem Global-Prayers-Kongress so aus: „For me,
decolonizing means: how can you invent a language about an encounter or
describe a reality that you yourself are inevitably part of?“
Da eine als dialogischer Prozess konzipierte Forschung permanent „die
bestehenden Normen, institutionalisierten Praktiken und Wissensformen“
infrage stellt (ebd.: 13), müssen die etablierten Komfortzonen der westlichen
Universitäten überschritten werden. Dazu gehört es, neben den inhaltlichen
und methodischen Paradigmen auch Akteurskonstellationen, Re­prä­sen­ta­
tions­for­men oder Evaluierungsweisen eines Forschungsprozesses auf euro­
zentrische Muster zu prüfen, das heißt dessen gesamte Einbettungsformen
in die globale, von nachkolonialen Machtungleichheiten geprägte „Geopolitik
des Wissens“ (Walter Mignolo). Dies kann nur gelingen, wenn das klassische,
an die Akademien gekoppelte Verständnis von Forschung und Wissen trans­
disziplinär und transinstitutionell geöffnet wird. Auch ist es erforderlich,
sich Themen und Fragen – wie Religion, Gewalt etc. – zu stellen, die aus der
Perspektive der kritischen Stadtforschung eingeübte Gewissheiten irritieren
und daher zunächst unangenehm sind.
Zudem gilt auch hier, was Alexa Färber in ihrem Debattenbeitrag über
urbane Assemblageforschung in s u b \ u r b a n bereits formuliert hat: Die
geschilderten Anforderungen an eine Projektkonstellation bezogen auf mög­
liche Wege, Stadtforschung zu postkolonialisieren, sind „inkompatibel mit
den Entwicklungen wissenschaftlicher Institutionen“ (2014: 101). Denn sie
widersprechen deren Mainstreaming- und Homogenisierungsprozessen im
Zuge der herrschenden Prämissen des ‚Exzellenz‘-Diskurses, der vereinheit­
lichten und quantifizierten Evaluierungs- und Konkurrenzlogik sowie der
Marktfähigkeit des erzeugten Wissens. Zwar gilt dies für kritische Forschung
generell. Um eine Postkolonialisierung voranzutreiben, genügt es aber nicht,
die herkömmliche Forderung nach einer „analytischen Unabhängigkeit von
Forschung“ (ebd.: 102) zu erneuern. Vielmehr bezieht sich die Forderung,
die westliche Stadtforschung von ihren Fundamenten aus zu dekonstruie­
ren, auch auf deren kritische Varianten, die allzu oft ebenso blind für den
westzentrischen Charakter ihrer Paradigmen sind.
Endnoten
[1] Bezeichnenderweise konzentrieren sich die BMBF-Projekte unter dem Label „Future
Megacities“ mit dem Ziel, „technologische, soziale und wirtschaftliche Effizienzsprünge
und ‚Hebel‘ für Energieeffizienz und Klimaschutz zu erproben“ sowie „Lösungsstrategien“
zu entwickeln, die als „Modell auch für andere Megastädte dienlich sein“ sollen (BMBF
2010, Grußwort), in neokolonialistischer Manier ausschließlich auf Städte im globalen
Süden. Die Tatsache, dass dabei auch in ihrer Größe und Bedeutung überschaubare Städte
wie Casablanca, Hyderabad, Urumqui oder Addis Abeba unter das Label ‚Megastadt‘
fallen, verdeutlicht, dass sich ‚Mega‘ weniger auf „besonders groß, mächtig, hervorragend,
bedeutend“ (Duden) bezieht, sondern dass eher die auch den Westen bedrohenden
Dimensionen der Probleme und Fragen der Regierbarkeit von Städten das maßgebliche
Kriterium dafür zu sein scheinen.
[2] Einen ähnlichen inhaltlichen Fokus hatte in dieser Zeitschrift der Debattenbeitrag von
Margit Mayer (2013) über „urbane soziale Bewegungen in der neoliberalisierenden Stadt“.
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Aus meiner Sicht werden dabei aber die Thesen in der klassischen Manier der neomar­
xistischen Stadtforschung universalisiert, obwohl die Theorieansätze und Analysen des
Beitrags unverkennbar nur auf urbane Konstellationen und Bewegungen in der euroame­
rikanischen Stadt sinnvoll anwendbar sind.
[3] Dagegen steht allerdings ein schockierender Zynismus, mit dem der rot-schwarze Berliner
Senat in Person seines Innensenators mit einem juristischen Trick alle vertraglich fixierten
politischen Zusagen an die Flüchtlingsaktivist_innen gebrochen hat, die er im Gegenzug
für deren ‚freiwillige‘ Räumung des Oranienplatzes gemacht hatte.
Autor_innen
Stephan Lanz betreibt Stadtforschung bevorzugt an disziplinären und institutio­nel­len Schnitt­
stellen zwischen Wissenschaften, Kultur und Aktivismus.
lanz@europa-uni.de
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On (im-)possibilities to postcolonialize western urban studies
Taking as a starting point that western urban theory is based on eurocentric
premises connecting urban modernity to western cities and subjecting cities
elsewhere to the developmentalism of catching up with modernization, this
paper argues for the necessity of postcolonializing urban studies. Using
two examples, the article discusses possible ways of promoting theoretical
and methodological approaches that reflect postcolonial critique. On the
one hand, ‘theories of the south’ are applied in order to shake established
truths about the city of the global North. On the other hand, the international
research project “Global Prayers – Redemption and Liberation in the City”
is discussed as an attempt to deconstruct some of the eurocentric fundaments of urban studies and to promote more cosmopolitan urban studies
with the help of a transregional, transdisciplinary and transinstitutional
approach.
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