Unternehmensporträt Jugendwerkstatt Gießen
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Unternehmensporträt Jugendwerkstatt Gießen
Vor Ort Neue Perspektiven durch multiprofesionelle Kooperation: Ausbildungsvorbereitung für eine „Jugend im Risiko“ Burkhard Brosig, Usha Förster-Chanda, Julian Möhring, Wolfgang Balser Jugendliche mit Entwicklungsrückständen und Integrationshemmnissen zum Schulabschluss und in Ausbildung zu bringen, ist einer der Arbeitsschwerpunkte der Jugendwerkstatt Gießen e.V. Seit 1982 setzt sich die Jugendwerkstatt für die soziale und berufliche Integration von benachteiligten jungen Menschen ein. Auf die zunehmenden multiplen Qualifikationshemmnisse bei den Jugendlichen reagieren wir mit laufender Weiterentwicklung der methodischen Konzepte und durch intensive Kooperation mit externen Fachinstitutionen wie der Psychosomatischen Klinik, der Suchthilfe und medizinischen Einrichtungen etc. Jugend im Abseits Die Berufsausbildung von Jugendlichen mit ungünstigen Startchancen scheint stärker in das öffentliche Interesse zu rücken. Der sich ankündigende Fachkräftemangel zeigt Wirkung – zumindest auf der Ebene der Rhetorik und der Proklamationen. Die Bertelsmann-Stiftung als wirtschaftsorientierte Denkfabrik hat zu dem Themenbereich gleich drei Projekte in Arbeit. Der gesellschaftliche Befund ist tatsächlich alarmierend: 150.000 Jugendliche eines Altersjahrganges bleiben ohne Berufsabschluss.1 Wo liegen die Ursachen für diese Befunde? Die Erfahrungen aus der Praxis der Ausbildungs- und Berufsvorbereitung von beeinträchtigten 1 www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/ xchg/SID-A4BE17B5-A0E41AB0/bst/hs. xsl/116369.htm 8 forum arbeit 4/14 Jugendlichen zeigen, dass meist ein Bündel von miteinander verknüpften Problemlagen vorliegt – mit je sehr verschiedenen individuellen Ausprägungen. Eine von Misserfolgen geprägte Schullaufbahn, ein fehlender Schulabschluss gehen oft einher mit Rückständen bei der allgemeinen Persönlichkeitsentwicklung, weiteren psychosozialen Beeinträchtigungen und oft bereits chronischen gesundheitlichen Problemen. Zumeist kommen diese Jugendlichen aus einem sozialen und familiären Umfeld, das ihnen keine Förderung bot, sondern eher entwicklungsbeeinträchtigende Erfahrungen mit auf den Weg gab. Psychische Beeinträchtigungen – strategischer Ansatzpunkt der Berufsförderung Mitarbeiter analysieren typische Konfliktdynamiken ihrer Klienten und untersuchen die hierbei erlangten Erkenntnisse daraufhin, welche Bedeutung sie für die Förderung und Integration von Teilnehmern in der Benachteiligtenförderung haben. Vernetztes Vorgehen Wesentlich ist eine Vernetzung der beruflichen, psychologischen und gesundheitlichen Förderung in einer ganzheitlichen Betrachtung. Auf Förderbedarfe wird interdisziplinär eingegangen, wobei arbeitspädagogische, entwicklungspsychologische und medizinische Ansätze ver- Besonders die psychischen Beeinträchtigungen stellen sich immer häufiger als begrenzende Faktoren heraus, die persönliche Entwicklung und Lernen verhindern. Um auf diese Problemlagen reagieren zu können, wurde von der Jugendwerkstatt Gießen gemeinsam mit der Familienpsychosomatik an der Universität Gießen ein Konzept zur psychosozialen Beratung und Unterstützung der Jugendlichen in der Ausbildungs- und Berufsvorbereitung entwickelt. Das Projekt „Jugend im Risiko“ setzt an dem Punkt an, wo arbeits- und sozialpädagogische Methoden allein an Grenzen kommen. Durch die Lösung individueller und familiärer Konflikte sowie durch den Abbau von Hemmnissen wird die berufliche Entwicklung gefördert und die Herausbildung einer stabilen Identität angestrebt. Die psychologischen Das Konzept der Ausbildungs- und Berufsvorbereitung der Jugendwerkstatt Gießen umfasst sowohl fachliche Qualifizierung – wie hier in der Fahrradwerkstatt – als auch allgemeinbildendes und berufsbezogenes Lernen. Foto: Jugendwerkstatt Gießen Vor Ort knüpft werden. Die vorhandenen Ressourcen der Jugendlichen bilden wesentliche Anhaltspunkte und es wird auf eine Stärkung der Resilienz hingearbeitet. Die Lösung biografischer Konflikte bildet einen weiteren Schwerpunkt des Konzepts. Hinzu kommen aus medizinischer Perspektive die Förderung eines gesunden Lebensstils sowie Angebote zur Prävention und Förderung des Körperbewusstseins. Zu Beginn der Maßnahme nehmen die Teilnehmer an einem Erstgespräch bei den Mitarbeitern des psychosozialen Projektes teil. Dabei wird eine erste Einschätzung zur psychosozialen Situation der Jugendlichen gewonnen. Außerdem bearbeiten die Jugendlichen einen Fragebogen zur Lebenszufriedenheit, der Aufschlüsse zur psychosozialen Situation und Hinweise auf vorhandene Indikationen gibt. Falls erforderlich, erhalten die Jugendlichen ein Angebot für weitere Beratungsgespräche mit der psychosozialen Fachkraft. Bei weiteren Beratungsgesprächen geht es um die Unterstützung bei individuellen Klärungsprozessen, bei der Klärung des Bedarfs und der Bereitschaft zu weiterer Beratung oder Therapie im klinischen Zusammenhang. Wenn von dem betreffenden Jugendlichen gewünscht und wenn die Fachkräfte dafür eine Indikation sehen, kann ein Erstinterview in der Klinik angeboten werden, um dort ggf. erforderliche klinische oder ambulante psychosomatische oder psychiatrische Behandlungen in die Wege zu leiten. Die Kooperation zwischen den psychosozialen Fachkräften, den sozialpädagogischen Mitarbeitern sowie evtl. den Fachanleitungskräften bildet einen wichtigen Aspekt des Projektes. Die Erkenntnisse aus den Erstgesprächen von psychosozialer und sozialpädagogischer Fachkraft werden ausgetauscht und dabei auch die Beobachtungen in der Eingangsphase der Werkstattarbeit einbezogen. Bei weitergeführter psychosozialer Beratung erfolgt eine enge Absprache zwischen beiden Fachkräften. Die Erkenntnisse aus der psychosozialen Beratung fließen in die sozialpädagogische und in die arbeitspädagogische Förderung ein. Es werden gemeinsame Folgerungen für die Arbeit mit den Jugendlichen innerhalb der Maßnahme zur Berufsvorbereitung gezogen. Außerdem können die Erfahrungen und Beobachtungen aus der sozialpädagogischen Unterstützung und aus der Arbeit in den Praxisfeldern bei der psychosozialen Beratung einbezogen werden. Produktionsschulkonzept zur Förderung der beruflichen Identität Die Förderung der beruflichen Identität stellt einen weiteren wichtigen Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung Jugendlicher dar. Das Konzept der Ausbildungs- und Berufsvorbereitung umfasst dazu sowohl fachliche Qualifizierung als auch allgemeinbildendes und berufsbezogenes Lernen. Im Rahmen des Produktionsschulkonzeptes werden diese Lernbereiche verknüpft und aufeinander bezogen. Das Produktionsschulkonzept mit seinen Schwerpunkten der Handlungsorientierung, dem Konzept der vollständigen Handlung und der Projektarbeit hat sich seit langem als tragfähig und gut geeignet für die Förderung der Zielgruppe erwiesen. Aktuell werden in der Jugendwerkstatt verstärkt Elemente der Förderschulpädagogik in das Förderkonzept einbezogen. Eine genaue Diagnostik des Lernstandes und der Lerndefizite bildet den Ausgangspunkt zur Entwicklung von Lern- und Unterrichtskonzepten, die jeweils individuelle Lernsituationen berücksichtigen. Auswertung der wissenschaftlichen Begleitung Deutlichster Befund der Begleituntersuchung zu „Jugend im Risiko“ stellt die Erkenntnis dar, dass die Teilnehmer in der Ausbildungsvorbereitung besonders über gesundheitliche Beschwerden klagen. Diese Einschätzung wird als Ausdruck der schwierigen Lebensumstände im Sinne einer erhöhten psychosomatischen Belastung verstanden. Was wird erreicht? Seelische Gesundheit, körperliche Belastbarkeit und Berufsförderung sind miteinander verwoben und können nur ganzheitlich gefördert werden. Die enge Verknüpfung von sozial- und arbeitspädagogischen Die psychologischen Fachkräfte Usha Förster-Chanda und Julian Möhring im Gespräch mit einem Jugendlichen (v.r.n.l.) Foto: Jugendwerkstatt Gießen forum arbeit 4/14 9 Vor Ort Methoden mit psychosozialen Konzepten hat sich in der Praxis als erfolgreich erwiesen. Die enge Kooperation zwischen der Jugendwerkstatt und der Familienpsychosomatik hat sich in den bisher vier Jahren bewährt und wurde zu einer ertragreichen multiprofessionellen Konzeption für die Förderung der persönlichen und beruflichen Entwicklung weiter ausgebaut. Durch die intensive Vernetzung von Jugendwerkstatt, Familienpsychosomatik und ambulanter Psychotherapie sowie durch die Auffächerung von verschiedenen Behandlungsalternativen (Beratung vor Ort, Beratung in einer Klinik, ambulante Psychotherapie bis hin zu einer stationären Maßnahme) konnte die Vermittlung in eine therapeutische Maßnahme deutlich erleichtert werden. Trotz der teilweise erheblichen Entwicklungshemmnisse gelingt es, Jugendliche zum Schulabschluss und in Ausbildung zu bringen. So absolvierten in 2014 sieben Jugendliche die Prüfung zum Hauptschulabschluss. 14 Jugendliche konnten im Sommer 2014 eine Ausbildung aufnehmen. In die psychosoziale Erstberatung waren in 2014 insgesamt 58 Jugendliche einbezogen. Weitere Beratungstermine und Unterstützung gab es für 22 Jugendliche. In 16 Fällen gelang eine deutliche Stabilisierung, die teilweise die Voraussetzung für den Übergang in die Ausbildung darstellte. 10 forum arbeit 4/14 Unternehmenssteckbrief Jugendwerkstatt Gießen e.V. gegründet: 1982, hervorgegangen aus der 1978 gegründeten „Beratungsstelle für arbeitslose Jugendliche“ der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau Rechtsform: eingetragener Verein Hauptbeschäftigungsfelder/Arbeitsschwerpunkte/Kompetenzfelder: Vorbereitung auf den Schulabschluss, Berufsvorbereitung und Ausbildung, Förderung der sozialen Teilhabe, Gesundheitsförderung Hauptzielgruppe der Angebote: benachteiligte Menschen ab 12 Jahre, Langzeitarbeitslose Finanzierungsstruktur: ESF-Mittel, Mittel aus dem SGB II und SGB III, kirchliche Mittel, Mittel der Jugendhilfe, Bundes- und Landesprogramme, Eigenerlöse, Spenden Kooperation / Vernetzung: Jobcenter und Agentur für Arbeit, Jugendämter des Stadt- und Landkreises Gießen, Universität Gießen, Schulen des Stadt- und Landkreises Gießen, regionale Betriebe, Kirchengemeinden, Gemeinwesenarbeit, Stadtteilmanagement, andere Bildungsträger, Frauenbüro, Transition Town Gießen Das Pilotprojekt wurde gefördert durch die Deutsche Bank Stiftung von 2010 bis 2012 und durch das Hessische Sozialministerium und den Europäischen Sozialfonds seit Januar 2013. Wolfgang Balser Jugendwerkstatt Gießen e.V. Alter Krofdorfer Weg 4 35398 Gießen Tel. 0641 / 931 00 12 wolfgang.balser@jugendwerkstattgiessen.de www.jugendwerkstatt-giessen.de Literatur: Förster-Chanda, U., Geist, C., Balser, W., Moser, V., Brosig, B. (2013): Jugend im Risiko. Innere Konflikte und Biographien von Teilnehmern einer Jugendwerkstatt. In Schnoor, H. (Hg.): Psychodynamische Beratung in pädagogischen Handlungsfeldern. Gießen, Psychosozial