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Bernhard Bachinger – Wolfram Dornik (Hg.)
Jenseits des Schützengrabens
Der Erste Weltkrieg im Osten: Erfahrung – Wahrnehmung – Kontext
Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung
Graz – Wien – Klagenfurt
Herausgegeben von Stefan Karner
Sonderband 14
Bernhard Bachinger – Wolfram Dornik (Hg.)
Jenseits
des Schützengrabens
Der Erste Weltkrieg im Osten:
Erfahrung – Wahrnehmung – Kontext
Der Band ist ein Teilergebnis des FWF-Projektes „Jenseits der Schützengräben“
(P23070-G15).
Die Drucklegung wurde unterstützt durch den Fonds
zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF)
sowie durch die Magistratsabteilung 7 –
Wissenschafts- und Forschungsförderung – der Stadt Wien.
© 2013 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck
E-Mail: order@studienverlag.at
Internet: www.studienverlag.at
Satz und Umschlag: Helmut Lenhart, Kalsdorf
Titelbild: Vorfeld eines Schützengrabens an der Ostfront (ÖNB/Bildarchiv)
Redaktion: Bernhard Bachinger, Wolfram Dornik
Übersetzungen: Harald Fleischmann, Michael Hutterer, Andreas Volk, Arno Wonisch
Lektorat: Elisabeth Klöckl-Stadler
Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
­detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.
ISBN 978-3-7065-5249-3
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort .................................................................................................................... 9
Stefan Karner
Jenseits des Schützengraben-Narrativs? Einleitende Bemerkungen über
­Kriegserfahrung und Kriegserinnerung an der Ostfront im Vergleich .....................11
Bernhard Bachinger, Wolfram Dornik
Erfahrungen von österreichisch-ungarischen Soldaten an der Ostfront
„Ganz in den Rahmen dieses Bildes hinein passt auch die Bevölkerung“.
Raumerfahrung und Raumwahrnehmung von österreichisch-ungarischen Soldaten
an der Ostfront des Ersten Weltkrieges ....................................................................27
Wolfram Dornik
Tapfer, zäh und schlecht geführt. Kriegserfahrungen österreichisch-ungarischer
­Offiziere mit den russischen Gegnern 1914–1917 ...................................................45
Martin Schmitz
K.u.k. Soldaten an der Ostfront im Sommer und Herbst 1914.
Eine emotionssoziologische Analyse .......................................................................65
Sabine A. Haring
Die Ostfront des „Großen Krieges“ – aus ungarischer Perspektive ........................87
Ferenc Pollmann
Ein großer Krieg, über den niemand spricht. Kroaten, bosnische Muslime
und Serben an der russischen Front (1914–1918) ....................................................105
Tvrtko Jakovina
Entbehrung und Nationalismus. Die Erfahrung tschechischer Soldaten der
österreichisch-ungarischen Armee 1914–1918 ........................................................121
Rudolf Kučera
6
Inhaltsverzeichnis
Unter dem sinkenden Stern der Habsburger. Die Ostfronterfahrung
polnischer k.u.k. Soldaten ........................................................................................139
Piotr Szlanta
Nervenschlacht. „Hysterie“, „Trauma“ und „Neurosen“ am Beispiel der Ostfront
1914–1918 ...............................................................................................................157
Hannes Leidinger, Verena Moritz
Verlust und Zerstörung in der Kriegserfahrung ungarischer Soldaten
an der Ostfront .........................................................................................................179
Éva Kósa
Kriegsgefangenschaft als Erfahrung. Am Beispiel der Deutschösterreicher
in russischem Gewahrsam ........................................................................................197
Verena Moritz
Jenseits der „Ostfront“ – Kriegserfahrungen im Vergleich
Deutsche Kriegserfahrungen im Osten, 1914–1917 ................................................223
Helmut Rübsam
Die Kriegstagebücher der Brüder Erich und Rudolf Mayr. Kriegserfahrungen
an der Südwestfront im Vergleich ............................................................................243
Isabelle Brandauer
Carso Maledetto. Der Isonzo-Krieg 1915–1917 ..................................................... 267
Lutz Musner
Herausforderung Balkan: Erfahrungswelten deutschsprachiger Soldaten
an der Saloniki-Front 1915–1918 ............................................................................285
Bernhard Bachinger
Russlands Kriegserfahrungen an der Ostfront, 1914–1921 ..................................... 305
Evgenij J. Sergeev
Die Völker Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg aus Sicht des
russischen Gegners ...................................................................................................325
Elena S. Senjavskaja
„Einziger Beschützer vor der Gewalt der Polen“ – Kriegserfahrungen
weißrussischer Soldaten in Grodno (1919) .............................................................. 341
Klaus Richter
Kriegserfahrungen von Flüchtlingen aus dem Nordosten der Monarchie
während des Ersten Weltkrieges ..............................................................................359
Walter Mentzel
Inhaltsverzeichnis
Der koloniale Blick? Polen und Juden in der Wahrnehmung der Mittelmächte ......391
Stephan Lehnstaedt
Gedächtnis – Erinnerung – Deutung
Galizien im Ersten Weltkrieg im Spiegel deutschsprachig-jüdischer Literatur
und Publizistik. Geschichte und Erzählung .............................................................413
Petra Ernst
„Nach Rußland. Da ist ja kein Krieg mehr“. Vom Verschwinden der Ostfront
aus dem deutschen kulturellen Gedächtnis ..............................................................437
Thomas F. Schneider
Visualisierung des Krieges. Die Ostfront in österreichisch-ungarischen
Fotografien und Filmproduktionen ..........................................................................451
Hannes Leidinger
Autorenverzeichnis ................................................................................................ 467
7
Vorwort
Stefan Karner
26. August 1914, mittags: „Die steirischen Gewehre und Maschinengewehre fegten die
erste Welle nieder. Aber weitere Wellen folgten. Auch sie konnten die Front der kaltblütigen ,Belgier‘ nicht durchbrechen. Besonders im Handgemenge waren ihnen die rauftüchtigen Steirer überlegen“1, so die heroisierende Regimentsgeschichte zur „Feuertaufe“ des k.u.k. Infanterieregiments „Albert I. König der Belgier“ Nr. 27 im galizischen
Dorf Skwarzawa, östlich von Lemberg. An diesem Nachmittag fielen drei Offiziere und
66 Mann, zehn Offiziere und 394 Mann wurden verwundet, fünf Offiziere und 170 Mann
blieben vermisst, gesamt also ein Verlust von 648 Mann, bei einer Regimentsstärke von
4202 Mann – es traf jeden siebenten Mann.2
Der fast 70 Jahre später beschriebene Einsatz in dem heute ukrainischen Dorf ist in
zweierlei Hinsicht symptomatisch für den „neuen“ Krieg: Die Soldaten mussten sich rasch
eingraben und heftiges Artilleriefeuer und Infanterieangriffe aussitzen, ehe sie sich zurückzogen. Diese Taktik entsprach ganz und gar nicht jener vorangegangener Schlachten, die
das Regiment seit 1682 gefochten hatte. Die Vorgangsweise entsprach auch gar nicht dem,
worauf die Soldaten und Offiziere in ihrer Friedensausbildung vorbereitet worden waren.
Sie standen mitten im industrialisierten Krieg, der von der massenhaft eingesetzten schweren Artillerie, dem Maschinengewehr, später auch von Gasangriffen, Flugzeugen und Ballons geprägt war – die Eisenbahnen und Fabriken gaben nun den Takt des Krieges vor.
Trotzdem war der Einsatz der steirischen „Belgier“ auch eine kulturelle Erfahrung:
In Galizien kämpften die meisten Mannschaftsangehörigen in einem für sie „fremden“
Land, wenn auch auf „eigenem“ Staatsgebiet. Kaum jemand wusste mehr, als dass dort
viele Juden lebten, es große Ölfelder gab und auch viel Getreide von dort in die westlichen Teile der Monarchie gebracht wurde. Land und Menschen waren ihnen unbekannt,
doch nicht nur den Steirern. Die Zivilisten waren der Armeeführung so suspekt, dass
sie für die militärische Niederlage verantwortlich gemacht wurden: Unzählige Zivilisten wurden inhaftiert oder in Schnellverfahren zum Tode verurteilt; die besonders als
„russophil“ verdächtigte Bevölkerung, die Ruthenen, großteils Angehörige der Intelligenzschicht, war im Herbst 1914 in das Lager Graz-Thalerhof verbracht worden; Hunderttausende wurden zu Kriegsflüchtlingen, die bis zum Ende des Krieges und darüber
hinaus nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren konnten.
1
2
Hans Hegenbarth, Furchtlos und treu. 300 Jahre Infanterie-Regiment Nr. 27. Graz 1982, S. 178.
Hegenbarth, Furchtlos und treu, S. 179.
10
Stefan Karner
In der öffentlichen Wahrnehmung wurde der Erste Weltkrieg nur am Isonzo und an der
Westfront gefochten. Selbst die eingangs zitierte Geschichte des Grazer Hausregiments
zeigt es. Das Regiment kämpfte bis 1918 an den entscheidenden Schauplätzen: in Ostgalizien, Przemyśl, Karpaten, Isonzo, im Südtiroler Hochgebirge und zuletzt am Piave.
Dennoch blieben im kollektiven Gedächtnis vor allem die zwölf Schlachten am strategisch
wichtigen Fluss im italienisch-slowenischen Grenzgebiet haften. Gerade der sich im Karstgebiet manifestierende industrielle Maschinenkrieg half die Kriegserfahrungen an der Ostfront zu überlagern. Hinzu kam, dass der Krieg gegen Italien ausgesprochen „beliebt“ war
und zu einer Welle an Solidarität führte: In der Abwehr des italienischen „Irredentismus“
fühlten sich Slawen, Ungarn und Deutschösterreicher vereint. So kam es, dass trotz der
räumlichen Ausdehnung, dem völlig anderen Kriegsbild und dem Schwerpunkt auf dem
„nordöstlichen“ Kriegsschauplatz Letzterer völlig in den Hintergrund gedrängt wurde. Die
„vergessene Front“, wie sie Gerhard P. Groß in seinem Sammelband bezeichnet hatte,
aufzuarbeiten, ist eine der Intentionen des am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung durchgeführten Projektes des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen
Forschung. Die zweite Intention entspricht einem wesentlichen Anliegen unseres seit nun
20 Jahren bestehenden Institutes: der Integration der osteuropäischen Perspektive.
Historiografie und öffentliche Wahrnehmung zum Ersten Weltkrieg waren und sind in
Osteuropa bis heute durch die noch folgenden Ereignisse des 20. Jahrhunderts überlagert
und werden erst in den letzten Jahren (neu) entdeckt: Es ist daher besonders erfreulich,
dass Historikerinnen und Historiker aus Russland, Polen, Tschechien, Ungarn, Kroatien,
Deutschland und Österreich zu diesem Band Beiträge verfasst und damit ein sehr vielfältiges Bild des Krieges in Osteuropa zwischen 1914 und den frühen 1920er Jahren entworfen
haben und dieses mit jenem anderer Fronten verglichen, aber auch durch die zivile Perspektive ergänzten.
Fast alle nach 1917/18 aus der Erbmasse der drei großen Imperien hervorgegangenen Staaten des östlichen Europa sind heute in der Europäischen Union vereint oder
pflegen als unabhängige Staaten eine Zusammenarbeit mit den EU-Nachbarn. Wenn
sich 2014 der Ausbruch des Ersten Weltkrieges zum 100. Male jährt, so stehen die Gesellschaften der Länder des östlichen Europas heute vor ganz anderen Problemen als
vor vier Generationen. Wirtschaftliche Kooperation, Demokratisierung, Europäisierung,
Überwindung der Banken- und Finanzkrise sind wichtige Themen. Dank der europäischen Integration können wir auf die längste Friedensepoche der jüngeren Geschichte
blicken. Europaweit werden Gedenkfeierlichkeiten, Konferenzen und Ausstellungen
stattfinden, bei denen es umso wichtiger ist, den Blick über die lange Zeit dominierende
nationalstaatliche Perspektive hinausschweifen zu lassen. Insbesondere die lange vernachlässigte osteuropäische Historiografie hat bei der Erörterung des Ersten Weltkrieges
zentrale Bedeutung.
Ich bedanke mich bei allen Beteiligten, bei den Autorinnen und Autoren sowie Herausgebern für die nun erfolgreich abgeschlossene Publikation. Es bleibt zu hoffen, dass
der Band ein erster, aber nicht der einzige Schritt in Richtung einer intensiveren Erforschung Osteuropas im so grundlegend wichtigen ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ist.
Graz, im Juli 2013
Jenseits des Schützengraben-Narrativs?
Einleitende Bemerkungen über Kriegserfahrung und Kriegserinnerung an der
Ostfront im Vergleich
Bernhard Bachinger, Wolfram Dornik
Schon der Titel des Bandes „Jenseits des Schützengrabens“1 suggeriert den Leitgedanken, von dem sich die Herausgeber der vorliegenden Publikation inspirieren ließen:
nämlich, dass bei einer Betrachtung der Kriegserfahrung an der Ostfront so manche gängigen Bilder zum Ersten Weltkrieg über Bord geworfen werden müssen. Es gab zwar bei
den Kämpfen zwischen 1914 und 1918 in Osteuropa auch zeitweise starre Frontlinien,
Schützengräben und Befestigungsanlagen, jedoch nahmen sie nicht diese dominierende
Stellung ein, die ihnen am Isonzo oder an der Westfront zukam. Der Erste Weltkrieg
zeigte in dem riesigen Gebiet zwischen Nord- und Baltischer See im Norden und den
Kämmen der galizischen Karpaten im Südwesten bis zu den Ufern von Pruth, Dnjestr,
Sbruč und Bug im Südosten und Osten, wo sich die Kämpfe erstreckten, ein vielschichtiges Bild. Auch die zeitgenössische Terminologie gibt ein uneinheitliches Bild ab, war
doch der östliche Kriegsschauplatz aus russischer Perspektive die „Westfront“, aus österreichisch-ungarischer die „Nordost“- und aus deutscher die „Ostfront“.2
Der Krieg in Osteuropa hatte schon allein aufgrund des betroffenen geografischen
Raumes, aufgrund der hohen Mobilität und aufgrund der gesellschaftlichen Beschaffenheit ein anderes „Gesicht“ als die so wirkmächtigen Szenerien der Westfront: Viele
Abschnitte waren durch die Eisenbahn nicht gut genug erschlossen, um dort ähnliche
Material- und Menschenmassen wie an der Somme oder in Ypern überhaupt zusammenzuziehen, so war nicht nur der räumlichen Ausdehnung wegen der Materialeinsatz
und die durchschnittliche Mann-pro-Frontkilometer-Besetzung weitaus geringer als
ebendort. Das im Frühjahr und Herbst gleichermaßen, sowie teilweise auch im Winter,
1
2
Der Band ist das Ergebnis des FWF-Projektes („Beyond the Trenches“, P 23070-G15), das zwischen
September 2011 und Anfang 2014 unter der Leitung von Dr. Wolfram Dornik am LBI für Kriegsfolgen-Forschung in Graz durchgeführt wurde.
Zur Ostfront siehe unter anderem: Wolfram Dornik, Der Krieg in Osteuropa 1914–19, in: Wolfram
Dornik et al., Die Ukraine zwischen Selbstbestimmung und Fremdherrschaft 1917–1922. Graz 2011;
Timothy C. Dowling, The Brusilov Offensive, Bloomington – Indianapolis 2008; Gerhard P. Groß
(Hg.), Die vergessene Front – der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung. Paderborn 2006;
Michael Neiberg – David Jordan, The Eastern front 1914–1920. London 2011 etc.
12
Bernhard Bachinger, Wolfram Dornik
zu tiefen Schlammpisten mutierende Straßennetz stellte zudem für die Logistik eine
entscheidende Herausforderung dar und prägte nicht zuletzt auch die Erinnerungen der
Kriegsteilnehmer. Hinzu kam, dass sich die östlichen Linien im Vergleich zur Westfront
zeitweise fast über die doppelte Distanz erstreckten. Auch wenn das Pferd bis 1918 –
und noch weit darüber hinaus – hier eine entscheidende Rolle in der Kriegsführung
innehatte, war der Einsatz von neuen, mörderischen Technologien nicht geringer: Die
kavalleristische Aufklärung, die noch im Sommer 1914 eine gewisse Rolle gespielt hatte, wurde bald durch Aufklärung aus der Luft, sprich durch Flugzeuge, Ballons oder
Zeppeline ersetzt; hinzu kam die aufgrund der Distanzen besonders wichtige Kommunikation über Telegrafie und Funk; auch die schwere Artillerie wurde keinesfalls in geringerem Maße eingesetzt, die oft stunden-, später tagelangen Angriffs-Vorbereitungen
waren an der Ostfront um nichts weniger mörderisch als an der Westfront – angesichts
der oft in geringerer Tiefe liegenden Stellungen und der Bewegungen (Verfolgungen
und Rückzüge) gestaltete sich das Artilleriefeuer zudem unberechenbarer als an anderen
Kriegsschauplätzen. Giftgas wurde von deutschen Truppen an der Ostfront – wenn auch
wenig erfolgreich – überhaupt das erste Mal eingesetzt.3
Eine direkte Folge der hohen Mobilität war, dass der „Große Krieg“ in Osteuropa
nicht nur aus militärischen Operationen bestand, sondern auch Besetzung und Besatzung
bedeutete. Wechselseitig wurden riesige fremde Territorien in Besitz genommen: die
Bukowina und der Großteil Galiziens 1914–15/16 durch russische Truppen; „KongreßPolen“ durch deutsche und österreichisch-ungarische Truppen ab 1915; das von Hindenburg und Ludendorff errichtete und zwischen 1915 und 1918 zwischen Baltischer See
sowie Volhynien bestehende Militär-Kolonialgebiet des „Oberbefehlshabers Ost“; Ostgalizien und Bukowina wiederum 1916 durch die russischen Truppen nach der Brusilov-Offensive; Nordbessarabien, die Ukraine, Weißrussland, die Krim und der Großteil
des Baltikums kamen schlussendlich 1917/18 unter Verwaltung der Mittelmächte unter
deutscher Führung. Bei der Ausbeutung und Beherrschung dieser riesigen Territorien
waren Hunderttausende Truppen im Einsatz. Sie wurden nun mit Verwaltungsaufgaben
konfrontiert, häufig auch mit der Unterdrückung von Widerstandsbewegungen, kulturellen und außenpolitischen Missionen, aber vorwiegend mit der kriegswirtschaftlichen
Nutzbarmachung der vorhandenen Ressourcen. Dafür gab es kaum Vorkriegspläne, geschweige denn Ausbildung für Soldaten und Offiziere.4
3
4
Alexander Meschnig, Der Wille zur Bewegung. Militärischer Traum und totalitäres Programm. Eine
Mentalitätsgeschichte vom Ersten Weltkrieg zum Nationalsozialismus. Bielefeld 2008; Wilfried Schimon, Österreich-Ungarns Kraftfahrformationen im Weltkrieg 1914–1918. Ein Beitrag zur Geschichte
der Technik im Weltkrieg. Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2007, S. 272–301; Wolfgang Zecha, „Unter die Masken“. Giftgas auf den Kriegsschauplätzen Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg. Wien
2000 etc.
Wolfram Dornik, Die wirtschaftliche Ausbeutung Osteuropas im Ersten Weltkrieg. Organisation und
Ziele der Besatzungsregime in Ober Ost, Polen und der Ukraine, in: Linda Erker et al. (Hg.), Update!
Perspektiven der Zeitgeschichte. 8. Österreichischer Zeitgeschichtetag 2010 in Wien. Innsbruck 2012,
S. 85–91; Vejas Gabriel Liulevicius, Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg. Hamburg 2002; Tamara Scheer, Zwischen Front und Heimat. ÖsterreichUngarns Militärverwaltungen im Ersten Weltkrieg. Frankfurt am Main 2009 etc.
Jenseits des Schützengraben-Narrativs?
Ein weiteres wichtiges Charakteristikum des Ersten Weltkrieges in Osteuropa ist
das Fehlen einer klaren zeitlichen Abgrenzung zur Nachkriegszeit. Zwar begannen
die Kämpfe unmittelbar nach Ausbruch des Krieges, und die Ostfront bildete ab 1914
eindeutig den zweiten Hauptkriegsschauplatz nach der Westfront, allerdings vermögen die historischen Tatsachen kein klares zeitliches Ende anzubieten. Ein Dilemma,
das bislang auch in historiografischer Hinsicht noch nicht befriedigend gelöst worden
ist. Hörte die Ostfront mit dem Zusammenbruch des Zarenreiches in der FebruarRevolution oder mit dem Brester Waffenstillstand vom Dezember 1917 auf zu existieren, mit dem Ende der wiederaufgenommenen Kämpfe zwischen Februar und April
1918, dem Zusammenbruch der Mittelmächte im Oktober/November 1918 oder etwa
erst mit dem Ende der „Nachwehen“ durch den Frieden von Riga im März 1921, der
Osteuropa zumindest für die folgenden eineinhalb Jahrzehnte ordnete? Diese Frage
stellt sich umso mehr, als die wichtigsten handelnden Akteure oft lediglich die Uniform wechselten – manchmal nicht einmal dies; für die betroffene Zivilbevölkerung
hatte die Erfahrung von Gewalt ebenso im November 1918 noch lange kein Ende. Für
die vorliegende Publikation gehen wir davon aus, dass der Erste Weltkrieg im Osten
sowohl mit dem Gewehr als auch mit der Feder noch über 1918 hinaus – und zwar
in Form von Territorial- und Unabhängigkeitskriegen, dem Russischen Bürgerkrieg,
ideologischen Kriegen (Niederschlagung Räte-Ungarns) als auch Konflikten um die
Deutung der Geschichte – weitergeführt wurde. Zwar legte die Gründung der Sowjet­
union am 30. Dezember 1922 die zwischenstaatlichen kriegerischen Auseinandersetzungen vorerst auf Eis. Die Geschichte der Gewalt in Osteuropa sollte jedoch auch
danach in unverminderter Härte fortgeführt werden.5
Dass dieses augenscheinlich heterogene Kriegsbild an der Ostfront auch die Erfahrungen der dort eingesetzten Soldaten prägte, ist klar; in diesem Zusammenhang drängt
sich allerdings die Frage nach dem „Wie“ auf. Fast paradigmatisch stehen Thesen im
Raum, die sich vor allem aus der Rückschau ergeben: Deutschland habe mit seiner
Kriegserfahrung im Osten die verweigerte deutsche Kolonisation kompensiert und so
„den Osten“ als koloniales Kampfgebiet für sich entdeckt. Der Krieg habe unter den
Soldaten zu einer Radikalisierung ihres Antisemitismus und Antislawismus sowie ihrer
nationalen Selbstwahrnehmung geführt. Auch habe die Kriegs- und Besatzungserfahrung eine Verrohung und Radikalisierung, insbesondere in der Behandlung von Zivilisten, mit sich gebracht. Doch inwieweit lassen sich diese Thesen in Zusammenhang
mit den historischen Tatsachen bringen beziehungsweise wie rechtfertigen sie, dass die
meisten Kriegsverbrechen an der Ostfront zu Beginn des Krieges an der „eigenen“ Bevölkerung, etwa von den k.u.k. Truppen 1914 in Galizien, verübt wurden?6 Bei der Besatzung der Ukraine 1918 durch deutsche und österreichisch-ungarische Truppen wurde
5
6
Timothy Snyder, Bloodlands, Europa zwischen Hitler und Stalin. München 2011. Deutlich zum Ausdruck gebracht werden die chronologischen Schwierigkeiten um die russische Geschichte zwischen
1914 und 1922 etwa auch in: Orlando Figes, Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der Russischen
Revolution 1891 bis 1924. Berlin 2008.
Alan Kramer, Dynamic of Destruction. Culture and Mass Killing in the First World War. New York
2007, S. 151–155.
13
14
Bernhard Bachinger, Wolfram Dornik
zwar mit großer Härte gegen bolschewikische Kämpfer vorgegangen, ein massenhaftes,
systematisches, willkürliches Vorgehen gegen Zivilisten ist aber nicht zu diagnostizieren. Was war in den vier Jahren passiert, dass die Truppen in der weitaus chaotischeren,
vom Bürgerkrieg erschütterten, nur schwer zu kontrollierenden Ukraine und noch dazu
gegenüber einer „fremden“ Bevölkerung mit größerem Bedacht vorgingen? Auch ein
allgemeiner, radikalisierter Antisemitismus ist nur bedingt zu diagnostizieren; die Besatzungstruppen traten vielmehr als Beschützer der jüdischen Bevölkerung und als Streitschlichter auf. Dies ist nicht mit purem Pragmatismus zu erklären: Natürlich wollten sie
das Land wirtschaftlich ausbeuten und langfristig an sich binden, jedoch offenbart etwa
das deutsche Vorgehen im Baltikum eine ganz andere Politik.7
Die Radikalisierungsthese und ähnliche wurden meist aus der rückbezüglichen Perspektive in Kombination mit dem Filter der NS-Geschichte oder aus Sicht der sich im
Laufe des Krieges radikalisierenden Diskurse an der Heimatfront argumentiert. Dabei
griff man auch in der Forschung auf jene, der Zwischenkriegszeit entstammende Diskursmetaphern zurück, ohne sie kritisch zu hinterfragen. Im vorliegenden Band versuchen wir nun, den Blick der österreichisch-ungarischen Soldaten jenseits ihrer Schützengräben einzufangen und ihren Wahrnehmungen, ihren Erfahrungen, ihren Prägungen,
ihren Interpretationen, ihren Repräsentationen nachzuspüren. Darüber hinaus ziehen wir
verschiedene Vergleichsachsen ein, werfen einen Blick auf die deutschen Truppen an
verschiedenen Fronten, auf die russische Perspektive, und integrieren auch die Kriegserfahrung von Zivilisten in den betroffenen Gebieten. Zentral- und osteuropäische Autorinnen und Autoren aus den Geschichts-, Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften
sowie der Soziologie haben ein interdisziplinäres und methodisch buntes Bild erstellt,
das meist Tagebücher, Feldpostbriefe, Erinnerungen, Regimentsgeschichten, Zeitungen,
­Romane und Fotos verschiedenster Provenienz analysiert.
Methoden und Historiografie
Auch wenn dieser Band der erste ist, der die Kriegserfahrung an der Ostfront des Ersten
Weltkrieges und verschiedene Vergleichsebenen in den Mittelpunkt stellt, so können
die Autoren doch auf eine umfangreiche Forschungsliteratur zu den militärhistorischen
Ereignissen sowie zu Methoden des Arbeitens mit autobiografischen Quellen zurückgreifen. Obwohl der Band Texte aus verschiedensten Disziplinen enthält, deren dementsprechende spezifische Überlegungen in den jeweiligen Beiträgen noch vorangestellt
werden, so möchten wir an dieser Stelle einiges Grundsätzliches anführen.
Eine der wichtigsten Ausgangslagen, auf denen die Forschungen zu Osteuropa
im Ersten Weltkrieg aufbauen, sind die Studien Fritz Fischers und die ihm folgenden
Debatten („Fischer-Kontroverse“). Der Hamburger Historiker hatte versucht nachzuweisen, dass Deutschland über einen langfristigen Plan zur Eroberung und Beherrschung Osteuropas verfügte und diesen zielgerichtet verfolgte. Die „Friedensord7
Dornik et al., Die Ukraine zwischen Selbstbestimmung und Fremdherrschaft 1917–1922. Graz 2011,
S. 225–239 und S. 477–495.
Jenseits des Schützengraben-Narrativs?
nung“ von Brest-Litowsk war für ihn der Höhepunkt eines deutschen „Griffs nach der
Weltmacht“. Die Thesen fanden rasch Widerspruch, Winfried Baumgart etwa sah eher
ad-hoc-Entscheidungen und große Differenzen zwischen militärischer und politischer
Führung des Deutschen Reiches.8 Allen folgenden Studien gemein ist, dass sie die
österreichisch-ungarische Rolle wenig beachteten und kaum Quellen aus Osteuropa
berücksichtigten. Norman Stones „The Eastern Front, 1914–17“ aus dem Jahr 1975
blieb lange die einzige eingehendere allgemeine Studie zu den militärischen, politischen und wirtschaftlichen Aspekten der Ostfront des Ersten Weltkrieges, die auch
russische Materialien berücksichtigte.9 Erst seit den 1990er Jahren, und insbesondere
seit der Jahrtausendwende arbeiteten Studien kontinuierlich daran, aus der „vergessenen“ eine erforschte Front zu machen. Dabei haben militärwissenschaftliche, operationsgeschichtliche Studien bereits eine erkleckliche Anzahl erreicht, auf die die
kommenden kulturwissenschaftlichen Forschungen aufbauen konnten.10
Parallel dazu hielt in der Geschichtswissenschaft eine neue Blickrichtung Einzug:
Seit den 1980er Jahren boomte die „Geschichte von unten“. Nichtoffizielle und persönliche Quellen fanden immer mehr Eingang in den Fachdiskurs und wurden theoretisch sowie methodisch verortet.11 Ergänzt wurden diese insbesondere in den letzten Jahrzehnten
durch Arbeiten kulturwissenschaftlicher Provenienz, die etwa nationale, religiöse oder
individuelle Identitäten, Raum/Räume, Erinnerung und Erleben oder kulturelle Bezüge untersuchten. Ausdruck fand dieser Perspektivenwechsel in verschiedenen Wenden,
dem cultural, topographic, spatial, iconic, linguistic etc. turn.12 So lenkten in der Folge
8
Winfried Baumgart, Deutsche Ostpolitik 1918. Von Brest-Litowsk bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Wien – München 1966; Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegsziele des kaiserlichen Deutschland 1914/18. Düsseldorf 1961; siehe für eine aktuelle Analyse der Ostpolitik der
Mittelmächte, insbesondere gegenüber der Ukraine: Wolfram Dornik – Peter Lieb, Die Ukrainepolitik
der Mittelmächte während des Ersten Weltkrieges, in: Wolfram Dornik et al., Die Ukraine zwischen
Selbstbestimmung und Fremdherrschaft 1917–1922. Graz 2011, S. 91–128 , hier: S. 95–99.
9 Norman Stone, The Eastern Front 1914–1917. London 1998.
10 William C. Fuller, The Foe Within. Fantasies of Treason and the End of Imperial Russia. Ithaca –
London 2006; Gerhard P. Groß (Hg.), Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung,
Nachwirkung. Paderborn 2006; Graydon A. Tunstall, Blood on the Snow: The Carpathian Winter War
of 1915. Lawrence 2010 etc.
11 Andreas Bähr – Peter Burschel – Gabriele Jancke (Hg.), Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung
transkulturell. Köln – Weimar – Wien 2007; Veit Didczuneit – Jens Ebert – Thomas Jander (Hg.),
Schreiben im Krieg, Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege. Essen 2011; Eckart
Henning, Selbstzeugnisse. Quellenwert und Quellenkritik. Berlin 2012; Gabriele Jancke – Claudia
Ulbrich (Hg.), Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung. Berlin 2005; Christian Klein (Hg.), Grundlagen der Biographik.
Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart 2002; Christian Klein – Matías Martínez
(Hg.), Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Stuttgart – Weimar 2009; Winfried Schulze (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der
Geschichte. Berlin 1996 etc.
12 Insbesondere mit den seit den 1960er Jahren erschienenen Arbeiten von Geertz: Clifford Geertz, The
Interpretation of Cultures: Selected Essays. New York 1973. Darüber hinaus, unter anderem: Christoph Conrad – Martina Kessel (Hg.), Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung.
Stuttgart 1998; Alison Donnell – Pauline Polkey (Hg.), Representing Lives. Women and Auto/Biography. Basingstoke et al. 2000; Barbara Friebertshäuser – Antje Langer – Annedore Prengel (Hg.),
Handbuch qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim 2010; Stephan
Günzel (Hg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart – Weimar 2010; Christa Hämmerle
15
16
Bernhard Bachinger, Wolfram Dornik
insbesondere literaturwissenschaftliche Arbeiten den historiografischen Blick nicht nur
auf das Subjekt der Geschichte und seine Interpretation des Erlebten, sondern ebenso auf
Formen sowohl der Sprache als auch der Erzählung an sich.13 Hinzu kam außerdem noch
ein weiteres, im wahrsten Sinne des Wortes „unbeschriebenes“ Feld, nämlich das stille
und das bewegte Bild als Quelle und als Erzählform.14
Insbesondere zur historischen „Erfahrung“ hat sich so ein spannender neuer Diskurs
mit innovativen Impulsen ergeben.15 Thiemo Breyer und Daniel Creutz haben etwa für
die historische Erfahrung ein an Reinhard Koselleck angelehntes mehrschichtiges Modell vorgeschlagen. Dieses berücksichtigt kurz-, mittel- und langfristige Ebenen, die in
ihrer wechselseitigen Abhängigkeit analysiert werden müssen. Speziell in Bezug auf
die Analyse unveröffentlichter Erinnerungsliteratur hat dieses Modell besondere Bedeutung. Der Zeitraum des nachträglichen Schreibens wie auch die dazwischenliegenden
zeitlichen Filter müssen demnach bei der Interpretation und bei der Auswertung von
(zeitgenössischen, aber auch zeitnahen) Quellen stets mitberücksichtigt werden.16 Ihr
Modell eröffnet somit einen diese Ebenen berücksichtigenden Zugang.
So können die in diesem Band zusammengeführten Beiträge auf einen breiten methodischen und theoretischen Diskurs zurückgreifen, insbesondere zur wichtigsten Quelle,
den sogenannten „Ego-Dokumenten“: Tagebücher, Feldpostbriefe und nachträglich verfasste, unveröffentlichte Erinnerungen. Bei der Analyse von besonderer Bedeutung sind
jene Überlieferungen, die zeitnah zum Erlebten erstellt wurden, da sie eine unmittelbarere Sicht wiederzugeben vermögen. Allerdings ist klar, dass selbst hier unterschiedlichste
Einflussfaktoren auf die Verschriftlichung einwirkten – seien es Fragen der Propaganda,
Selbstzensur und Konventionen des schriftlichen, nicht-literarischen Erzählens – und
diese auch bei der Analyse mit einbezogen werden müssen. Die Vergegenwärtigung der
13
14
15
16
(Hg.), Plurality and Individuality. Autobiographical Cultures in Europe. Wien 1995; Michaela Holdenried (Hg.), Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen. Berlin 1995; Stephen Kern, The
Culture of Time and Space 1880–1918. Cambridge – London 2003; Achim Landwehr, Historische
Diskursanalyse. Frankfurt am Main 2008.
Insbesondere mit den seit den 1920er Jahren erschienenen Arbeiten von Benjamin: Walter Benjamin,
Erzählen, Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa. Frankfurt am Main 2007.
Darüber hinaus: Klaus Amann – Karl Wagner (Hg.), Autobiographien in der österreichischen Literatur. Innsbruck – Wien 1998; Trev Lynn Broughton (Hg.), Autobiography. Critical Concepts in Literary
and Cultural Studies. London – New York 2007.
Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München 2001; Ian Jeffrey,
Photographie. Sehen, betrachten, deuten. Bildgeschichte der Photographie von ihrer Erfindung bis
heute. München 2009; Gunther Kress, Theo van Leeuwen, Reading Images. The Grammar of Visual
Design. Abington – New York 2010; Stephen Shore, The Nature of Photographs. London 2007; Horst
Tonn, Medialisierung von Kriegserfahrungen, in: Georg Schild – Anton Schindling (Hg.), Kriegserfahrungen – Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit. Neue Horizonte der Forschung. Paderborn 2009,
S. 109–133. In Bezug auf den Ersten Weltkrieg insbesondere: Anton Holzer, Die andere Front. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Darmstadt 2007.
Anselm Doering-Manteuffel, Die Erfahrungsgeschichte des Krieges und neue Herausforderungen.
Thesen zur Verschränkung von Zeitgeschehen und historischer Problemwahrnehmung, in: Georg
Schild – Anton Schindling (Hg.), Kriegserfahrungen – Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit. Neue
Horizonte der Forschung. Paderborn 2009, S. 273–288.
Thiemo Breyer – Daniel Creutz, Historische Erfahrung. Ein phänomenologisches Schichtenmodell,
in: Thiemo Breyer – Daniel Creutz (Hg.), Erfahrung und Geschichte. Historische Sinnbildung im
Pränarrativen. Berlin – New York 2010, S. 332–363.
Jenseits des Schützengraben-Narrativs?
sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, das heißt, was zum jeweiligen
Zeitpunkt aufgrund der gesellschaftspolitischen Situation opportun zu schreiben war
und was nicht, ist ebenso von zentraler Bedeutung. Welche Rechtfertigungsstrategien
werden angewendet? Worüber wird berichtet, und fast noch wichtiger: worüber wird
geschwiegen? Welche Aspekte wurden in zeitgenössischen Quellen ausgeklammert –
entweder weil sie Teil der Zensurbestimmungen waren oder es gesellschaftlich nicht
opportun war, darüber zu sprechen/schreiben –, welche nachträglich hinzugefügt?
Geben diese Dokumente Einblick in die individuelle Deutung und Repräsentation
von Erlebtem, so erlauben offizielle Dokumente – militärische Berichte, semi/offizieller
Schriftverkehr, Befehle etc. – eine zusätzliche Analyseebene, die aber andere Fragestellungen mit einbeziehen muss: In welcher Beziehung stehen Sender und Empfänger
zueinander? Welche Abhängigkeitsverhältnisse bestehen zwischen den agierenden Institutionen und Personen? Was soll mit dem vorliegenden Dokument erreicht werden?
Wie unterscheiden sich die offiziös erstellten Repräsentationen von den individuellen
Wahrnehmungen?
Eine ebenso wichtige, wenn auch mit ausgesprochen großer quellenkritischer Bedachtnahme zu lesende und zu interpretierende Quelle sind die aus propagandistischen
Gründen während des Krieges sowie die nach 1918 herausgegebenen Darstellungen
über die Ereignisse. Darunter fallen so opulente Werke wie „Österreich-Ungarns letzter
Krieg“ (auch „Generalstabswerk“ genannt; 7 Bände, 7 Beilagen-Bände, 2 Ergänzungsbände, 1930–1937) oder „Der Weltkrieg 1914–1918“ (14 Bände: 1925–1944). Diese
unter dem Aspekt der Kanonisierung verfassten Interpretationen, gemeinsam mit den
in der Zwischenkriegszeit erstellten Werken, die aus der „Kriegsschuld“-Debatte heraus entstanden sind, bilden einen wirkmächtigen Apparat, der auch von jenen, die ihre
Erinnerungen im Nachhinein erstellt haben, als Nachschlagewerk und/oder Reibungsfläche herangezogen wurde. Die „einfachen“ Soldaten und unteren Offiziersränge, die
ihre Tagebücher und Erinnerungen nicht so prominent platzieren konnten – wie etwa ein
Franz Conrad von Hötzendorf mit „Aus meiner Dienstzeit“, Moritz Auffenberg von Komarów mit „Aus Österreichs Höhe und Niedergang“ oder Erich Ludendorff mit „Meine
Kriegserinnerungen“ –, verwendeten ihre Arbeiten auch oft, um Gegengeschichten zur
offiziösen Lesart anzubieten. Oftmals finden sich in diesen Schriften das eigene Handeln
rechtfertigende Argumentationsdiskurse, um die individuellen (Fehl-)Entscheidungen
in äußere Zwänge und von „oben“ auferlegten Lasten einzubetten. Hinzu kommt eine
fast unübersichtliche Zahl an Regimentsgeschichten, die unter der Leitung ehemaliger
Führungsoffiziere erstellt wurden, die eine Mischung aus persönlichen Erfahrungen und
Aufzeichnungen mit offiziösen Repräsentationen sind. Ihnen allen ist eines gemeinsam:
Sie sind vom Duktus der Rechtfertigung der handelnden Personen geprägt und als Heldengeschichten angelegt; doch geben sie trotzdem wertvolle Einblicke in Erfahrungswelten und zeitgenössische Diskursentwicklungen.17
17 Gerd Krumeich – Gerhard Hirschfeld, Die Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg, in: Gerhard
Hirschfeld – Gerd Krumeich – Irina Renz (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Paderborn 2004,
S. 304–315.
17
18
Bernhard Bachinger, Wolfram Dornik
Aufbau
Auf ungezäumten Pferden in den Kampf zu reiten, war in weiser Voraussicht der k.k.
Kavallerie schon im Zuge des Dienstreglements von 1807 nur bei dringender Gefahr gestattet.18 Jene bedeutsame Schrift veranlasste Erzherzog Carl persönlich, wobei die Mitwirkung namhafter zeitgenössischer Geistesgrößen zwar nicht endgültig belegt, so doch
tradiert wurde. Nicht zuletzt dadurch wirkte sie noch weit über ihre Zeit hinaus.19 So
zogen über ein Jahrhundert später schließlich die berittenen österreichisch-ungarischen
Truppen wohladjustiert in erprobter Weise, aber eben zum guten Teil noch immer im
Duktus dieser veralteten Reglement-Leitlinien gefangen, im Sommer 1914 gen Osten.
Der Schlachtenlärm bei Lemberg/L’viv sollte schlussendlich als Nachhall der „klassischen“ Kavallerie-Schlachten in die Geschichte eingehen. Ebenso wenig auf ungezäumten Pferden, sondern fest im Sattel sitzend, möge sich – freilich nur in metaphorischer
Hinsicht – der Leserkreis dieses Sammelbandes zu den östlichen Kriegsschauplätzen des
Ersten Weltkrieges begeben. Im Gegensatz zur damaligen Situation der k.u.k. Soldaten
soll es allerdings keine Reise ins Ungewisse werden, die folgenden Ausführungen werden in aller Kürze das zu Erwartende darlegen.
Gleich der erste Abschnitt „Kriegserfahrungen von österreichisch-ungarischen Soldaten an der Ostfront“ bildet den eigentlichen Schwerpunkt – um nicht zu sagen, das
Herzstück – der dem Band zugrunde liegenden Fragestellung. Obwohl die österreichischungarische Generalität an der Nordostfront, wie das k.u.k. Armeeoberkommando den
Kriegsschauplatz im Osten betitelte, im ersten Kriegsjahr eindeutig den Schwerpunkt
gesetzt hatte, rückte der Fokus alsbald von ihr ab. Nach der Eröffnung der Fronten gegen
Italien waren die dortigen Ereignisse vor allem in den deutschsprachigen Gebieten ungleich höher emotional besetzt; dies gilt in analoger Weise auch für die rumänische Front
im Falle Ungarns. Überdies zerfiel gleichsam der Habsburgermonarchie ebenso die Erinnerung und Aufarbeitung des vorangegangenen Krieges entlang der nunmehr neu etablierten Grenzen. Nicht zuletzt die Historikerzünfte der ehedem in Österreich-Ungarn
beheimateten Nationalitäten deuteten den Ersten Weltkrieg gemäß der neuen politischen
Gegebenheiten und interpretierten so die Ereignisse teils bewusst, teils unbewusst in
sinnstiftender Weise aus ideologischen oder nationalen Blickwinkeln. Zwischen den
beiden Polen, nämlich gefühlter „nationaler Emanzipation“ und „vollständiger Niederlage“, war wenig Spielraum für supranationale Fragestellungen. Sprachliche Barrieren,
alte Konflikte und neu aufflammende Entzweiung sowie ideologische Diskrepanzen taten ihr Übriges dazu. So verwundert es nicht, dass die jeweiligen historiografischen
Traditionen zum Ersten Weltkrieg, und somit auch die damit einhergehende Betrachtung
der Ostfront, eigenständige Wege suchten, die bislang nur marginal dekonstruiert beziehungsweise zusammengeführt werden konnten.
Im ersten Abschnitt des Bandes steht der Versuch, aus einem „österreichisch-ungarischen Blickwinkel“ die Kriegserfahrungen von k.u.k. Armeeangehörigen an der
18 Dienst-Reglement für die kaiserlich-königliche Cavallerie. Erster Theil. Wien 1807, S. 28.
19 Peter Broucek, Ein General im Zwielicht. Die Erinnerungen Edmund Glaises von Horstenau. Graz
1980, S. 109.
Jenseits des Schützengraben-Narrativs?
Ostfront zu beleuchten. Die vorwiegend auf der Auswertung von Ego-Dokumenten basierenden Analysen zeigen auf, wie vielschichtig sich die Kriegserfahrung manifestierten konnte, und das nicht nur aufgrund der unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen
und Fragestellungen der Autorinnen und Autoren. Während Wolfram Dornik die theoretischen Überlegungen des spatial turns als Anlass nimmt, den Raumerfahrungen der
österreichisch-ungarischen Soldaten im Osten generell nachzugehen, versucht Sabine
Haring im Rahmen der von der emotionssoziologischen Disziplin gebotenen Möglichkeiten eine Annäherung an den Affekthaushalt von k.u.k. Frontsoldaten während der
ersten Kriegsmonate abzugeben. Einer sozialen Gruppe innerhalb des österreichischungarischen Heeres, nämlich den Offizieren, widmet sich Martin Schmitz in seinem
Beitrag. Im Fokus seiner Analyse steht die Beurteilung des russischen Gegners durch
k.u.k. Offiziere, wobei er die deutliche Diskrepanz zwischen erwartetem Kriegsbild und
der realen Kriegserfahrung klar herausarbeitet.
Eine interessante Perspektive des ersten Abschnitts gewähren Beiträge aus den
nicht-deutschsprachigen Nachfolgestaaten der Habsburger-Monarchie. Ferenc Pollmann
schafft es in seinem Artikel, sowohl einen Überblick zur ungarischen Historiografie
wie auch zu Kriegserfahrungen ungarischer k.u.k. Soldaten an der Ostfront anzubieten.
Armeeangehörige einer anderen Bevölkerungsgruppe, nämlich der Südslawen, stehen
bei Tvrtko Jakovina im Beitragsfokus, wobei er den Platz des „Ersten Weltkrieges“ in
Kroatien, Serbien und teilweise Bosnien-Herzegowina sowie die Gründe für den Forschungsrückstand und die fehlende öffentliche Wahrnehmung mit einbezieht. Tschechische Soldaten als österreichisch-ungarische Armeeangehörige während des Ersten Weltkrieges stellen ein in der Historiografie – speziell hinsichtlich der tschechischen Legion
– oftmals sehr kontrovers diskutiertes Themenfeld dar; genau dieses analysiert Rudolf
Kučera. Der auf zahlreiche Ego-Dokumente basierende Beitrag zeichnet deutlich nach,
dass die nationalen Trennlinien zwischen den dominierenden Bevölkerungsgruppen des
cisleithanischen Teils der Habsburgermonarchie innerhalb der k.u.k. Armee erst im Zuge
der Kriegserfahrung an sich schärfer wurden. Das Potpourri des „nationalen“ Perspektivenwechsels innerhalb der österreichisch-ungarischen Vielvölkerstreitmacht schließt
­Piotr Szlantas Beitrag ab, der die spezielle Situation der polnischen Soldaten während
des Weltkrieges beleuchtet. An der Ostfront standen nämlich polnische Kombattanten in
den Uniformen aller drei Teilungsmächte unter Waffen, doch nicht nur das: Die Umwälzungen veränderten auch die politische Ausgangssituation des geteilten Polens beträchtlich, sodass in weiterer Folge noch Freiwilligenverbände ins Leben gerufen wurden.
Szlanta zeichnet die heterogenen Aspekte aus der Perspektive von galizischen k.u.k.
Soldaten anhand ihrer Kriegserfahrungen nach. Er analysiert überdies die Entwicklungsstufen, wie während des Krieges die neue Ausdifferenzierung von „Nation“, „Vaterland“
und „Patriotismus“ zwischen all diesen Diskrepanzen erfolgte.
Zu guter Letzt widmen sich die letzten drei Beiträge des ersten Abschnitts dem
Verlust im weitesten Sinn. Kriegserfahrungen beinhalten stets auch Entbehrungen und
Einbußen, im Falle der österreichisch-ungarischen Soldaten an der Ostfront soll dies
anhand drei expliziter Aspekte dargestellt werden. Dem Verlust von Freiheit – einem
Schicksal, das sich die kriegsgefangenen Soldaten am östlichen Kriegsschauplatz in
19
20
Bernhard Bachinger, Wolfram Dornik
a­ ußerordentlich großer Zahl unterwerfen mussten – geht Verena Moritz nach. Sie stellt
sich nicht nur die Frage, ob von einer kollektiven Kriegserfahrung der rund 200.000
deutschösterreichischen Soldaten in russischem Gewahrsam gesprochen werden kann,
sondern untersucht zudem die Nachwirkung und Instrumentalisierung der russischen
Kriegsgefangenschaft in der Zeit über 1918 hinaus. Eine gänzlich andere Perspektive
bietet der Beitrag von Éva Kósa an, die mit literaturwissenschaftlichen Fragestellungen die Reflexion von Verlust und Zerstörung in ungarischen Ego-Dokumenten und
publizierten Memoiren erörtert. Verena Moritz und Hannes Leidinger befassen sich
schlussendlich in einer gemeinsam verfassten Studie mit Kriegstrauma und Neurosen
sowie der medizinischen Debatte, die im Zuge der großen Anzahl an österreichischungarischen Soldaten mit kriegsbedingten psychischen Beeinträchtigungen aufflammten. Die dabei aufgezeigten Diskurslinien über Ursachen, Behandlung und Genesung
von Betroffenen geben ein abstraktes Zeugnis über unvorstellbare und unmenschliche
Kriegserlebnisse ab, die auch abseits der Schlachtfelder omnipräsent waren und weiterwirkten.
Um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den anderen Kriegsschauplätzen besser
herauszuarbeiten, widmet sich der zweite Abschnitt „Jenseits der ,Ostfront‘ – Kriegserfahrungen im Vergleich“ anderen Kriegsschauplätzen und zivilen Kriegserfahrungen. Während dies erlaubt, Analogien, Kontraste und Gemeinsamkeiten der Ostfront
zur West-, Isonzo-, Tiroler- oder Saloniki-Front herzustellen, wagt der Abschnitt aber
auch den Perspektivenwechsel – auf die russische „Westfront“. Der stärkste Kontrast für
k.u.k. Soldaten war wohl jener zwischen den Kriegsschauplätzen im Osten und am Isonzo; der Text von Lutz Musner gibt einen Einblick in diese radikale Gegenwelt: Liest man
die Beschreibungen der Ost- und der Isonzofront nebeneinander, so glaubt man, die Betroffenen seien in unterschiedlichen Kriegen, zu unterschiedlichen Zeiten gewesen. Die
„Gerichtete Landschaft“ Lewins scheint sich am Isonzo aufgelöst zu haben: Ein „vorne“
und ein „hinten“ oder eine Frontlinie scheinen für den Einzelnen an der Front nicht klar
erkennbar gewesen zu sein; die gegenüberliegende Stellung, der Kampf gegen die Natur
(Gestein, Witterungseinflüsse, Wassermangel etc.) und die von oben kommende Gefahr
des Artilleriebeschusses standen im Fokus. Den Soldaten blieb kaum Zeit zu reflektieren
und das Erlebte einzuordnen. Sie verloren sich deshalb in Superlativen und Kunstworten
und erfanden eine neue Sprache und Denkmuster. Während an der Ostfront viel Zeit zum
Nachdenken, zur Überprüfung oder Festigung von Bildern über den „Osten“ blieb, so
verschlang die allgegenwärtige, scheinbar nicht aufhörende Gefahr jegliche Reflexion.
Dies ging so weit, dass sich die Syntax und Topologie änderte: Verwenden die Soldaten
für ihre Erzählungen von der Ostfront ausschweifende Sätze, eine blumige und ruhige
Sprache, so kippen sie an der Isonzofront in stakkatoartige, kurze, von Superlativen geprägte Sätze, ja fast nur noch aneinandergereihte Stichworte.
Zunächst gibt jedoch Helmut Rübsam einen Überblick über die Kriegserfahrungen
des deutschen Verbündeten an der Ostfront. Er zeichnet vor allem nach, wie Soldaten
das Hinterland und die Etappe des östlichen Kriegsschauplatzes reflektierten und welche Aspekte sich bei der Wahrnehmung im Zuge des Kriegseinsatzes in den Tagebüchern wiederfinden lassen. Isabelle Brandauers Studie bezieht sich wiederum auf eine
Jenseits des Schützengraben-Narrativs?
besondere Quelle: die Kriegstagebücher zweier Tiroler Brüder. Sie werden in Bezug auf
die Erfahrungen an den Fronten gegen Italien systematisch analysiert. Auch die oben
bereits erwähnte Studie von Lutz Musner konzentriert sich auf die Isonzofront; in einer
Verknüpfung von räumlichen Aspekten und Kriegsrealitäten schafft er es, ein fundiertes
Bild vom „Maschinenkrieg“, der dort stattfindenden Materialschlachten abzugeben. Die
Saloniki-Front, ein weitgehend außerhalb der mitteleuropäischen Historiografie laufender Kriegsschauplatz, liegt im Fokus des Beitrages von Bernhard Bachinger. Es war
der einzige europäische Kriegsschauplatz, an dem aufseiten der Mittelmächte Soldaten
des Deutschen Reiches oder Österreich-Ungarns nicht die Mehrzahl stellten; somit bietet das Bild der Kriegserfahrungen im „orientalischen“ Makedonien auch inkomparable Aspekte hinsichtlich der Eingliederung und Kooperation mit einer gegensätzlichen
­Militärkultur auf dem weitgehend unbekannten Balkan.
Mit zwei Beiträgen russischer Provenienz wird der Perspektivenwechsel zur „Westfront“ des zarischen Reiches vollzogen. Evgenij Sergeevs Text gibt eine überblicksartige Betrachtung ab und streicht deutlich die Sicht der Gegenseite hervor. Er gibt auch
Einblick in die Wechselwirkungen zwischen den Ereignissen auf den Schlachtfeldern
und dem politischen Parkett, die schlussendlich zu den Umwälzungen des Jahres 1917
führen sollten. Einer gänzlich anderen Fragestellung widmet sich Elena Senjavskaja,
indem sie die russische Perzeption des österreichisch-ungarischen Kriegsgegners aufschlüsselt. Die unterschiedliche ethnische Herkunft von k.u.k. Soldaten erfuhr sowohl
von der militärischen als auch von der zivilen Sphäre im Russischen Reich heterogene
Bewertungen. Schließlich zeigt Klaus Richter noch auf, dass mit den Pariser Vorortverträgen die bewaffneten Auseinandersetzungen im Osten keineswegs beendet waren. Mit
seiner Studie über die Ereignisse in Grodno beleuchtet er einen weitgehend unbekannten Aspekt der polnisch-sowjetrussischen Auseinandersetzung im Jahre 1919. Die Vielschichtigkeit, vor der die Bevölkerungsgruppen während des politischen Machtvakuums
nach dem Zusammenbruch der drei großen Machtfaktoren im osteuropäischen Raum
gestellt wurden, wird am Beispiel der Kriegserfahrung weißrussischer Soldaten in der
multikulturellen Stadt an der Memel deutlich.
Kriegserfahrungen sind nicht allein auf Kombattanten und Armeeangehörige beschränkt; in meist sehr drastischer Form werden auch Zivilisten mit den Kriegsrealitäten
konfrontiert. Diesem meist vernachlässigten Themenfeld widmen sich die letzten beiden Beiträge dieses Abschnittes. Natürlich können diese beiden Texte lediglich Schlaglichter auf das mannigfaltige Themenspektrum werfen – eine umfassende Darlegung
­aller Aspekte und Bereiche, die den Einfluss des Ersten Weltkrieges auf die heterogenen
osteuropäischen Bevölkerungen und Gesellschaften wiederzugeben vermögen würde,
sprengte nicht nur den Rahmen dieses Sammelbandes. Die Beiträge sollen aber die Perspektive auf die Betroffenen in der Region richten.
Der Text von Walter Mentzel beleuchtet ein Thema, das schon während der Kriegsjahre zu heftigen Debatten in Österreich-Ungarn geführt hatte. Die Frage der Kriegsflüchtlinge, die vor den Kämpfen im nordöstlichen Teil der Monarchie Richtung Westen
flohen, schürte nicht nur Verteilungskämpfe, sie hatte auch Einfluss auf die ethnische
Zusammensetzung der Bevölkerung in der Reichshaupt- und Residenzstadt. Mentzel
21
22
Bernhard Bachinger, Wolfram Dornik
analysiert hierbei die Einflussfaktoren auf die der Flucht zugrunde liegenden Beweggründe und die institutionelle Verwaltung der Flüchtlingsmassen. Mit einer speziellen
Frage der Besatzung beschäftigt sich Stephan Lehnstaedts Beitrag, nämlich welche
Rolle die beiden größten Bevölkerungsgruppen – Polen und Juden – im Generalgouvernement Warschau und im k.u.k. Militärgeneralgouvernement Lublin vonseiten der
Besatzungsmächte zukam. Die auf dichtes Aktenmaterial basierende Analyse zeigt nicht
nur heterogene Nuancen in der Herrschaftspraxis auf, sondern zudem auch die dahinterliegenden Leitgedanken derselben.
Literarische Texte leben weiter und markieren eine wichtige Institution der kulturellen Erinnerung. So eröffnet Petra Ernst mit einer Reflexion der literarischen und
publizistischen Kriegserfahrung den letzten Abschnitt zu „Gedächtnis – Erinnerung –
Deutung“. In ihrer literaturwissenschaftlichen Studie steht die jüdische Kriegsliteratur
über Galizien im Fokus der Betrachtung, wobei sie die analysierten Texte im Spannungsbogen zwischen Fiktionalität, Konstruktion und Fakten näher einzuordnen vermag. Der Beitrag von Thomas Schneider analysiert, warum aus deutscher Perspektive
die Ostfront gegenüber der Westfront in der Erinnerungsliteratur der Zwischenkriegszeit an Boden verlor. Da sich die Ereignisse am östlichen Kriegsschauplatz im Gegensatz zur Westfront im Zuge der Diskurse um die Besetzung jener so zentralen Begriffe
wie „Kriegserlebnis“ und „Frontgemeinschaft“ – den ideologisch aufgeladenen Inbegriffen des modernen Krieges und seiner Materialschlachten – kaum eigneten, erklärt
sich auch generell die nachrangige Rolle der Ostfront in der deutschen Publizistik, so
die zentrale Aussage von Schneiders Beitrag. Hannes Leidingers Beitrag begibt sich
schlussendlich auf die Spuren der visualisierten Propaganda, kamen doch im Ersten
Weltkrieg Film und Fotografie besondere Bedeutung zu. Das k.u.k. Kriegspressequartier schuf eine breite Palette an Visualisierungen, in denen die Kriegsereignisse im
Osten eine bedeutende Stellung einnahmen. Leidingers Analyse der Visualisierung des
Kriegsschauplatzes zeigt nicht nur die qualitativen und quantitativen Ausprägungen
der neuen Medien auf, sondern gibt auch Einblick in die Wechselwirkung zwischen
Propagandisten und Rezipienten und wie die geprägten Bilder die kommenden Diskurse beeinflussten.
Die vertikalen und horizontalen Vergleichsachsen in diesem Sammelband, so die
Intention der Herausgeber, sollen die Kriegserfahrungen von k.u.k. Soldaten an der Ostfront nicht nur in einem neuen Licht erscheinen lassen, sondern vielmehr die Vielschichtigkeit unterstreichen, in der sich die Protagonisten während der Kriegsjahre zurechtzufinden hatten. Welche Formen dabei jeder individuell wählte, hängt nicht zuletzt mit den
eigenen Erfahrungswelten zusammen. Aber auch äußere Einflussfaktoren, die eine Weltordnung im Umbruch mit sich brachte, sowie deren wechselseitige Beziehungen mit den
Individuen sind nicht zu vernachlässigen. Der vorliegende Sammelband versucht, diese
Erfahrungshorizonte greifbarer zu machen. Ob die Geschichtswissenschaft gleich wie
die Leserschaft nun besser im Sattel sitzt, bleibt abzuwarten.
Doch um den Bogen zum eingangs erwähnten Dienstreglement von 1807 zu spannen und somit den Kreis endgültig zu schließen, sei noch der eng mit diesem verknüpfte Schriftsteller der Romantik Friedrich Schlegel erwähnt. Er stand nicht nur im Ruf,
Jenseits des Schützengraben-Narrativs?
beratend bei der sprachlichen Ausarbeitung der Instruktionen mitgewirkt zu haben,20
sondern gilt vielmehr auch als Schöpfer des geflügelten Wortes „Der Historiker ist ein
rückwärts gekehrter Prophet.“21 Nach 1945 ließen sich viele Angehörige der historischen
Zunft scheinbar von diesem Gedanken leiten und sahen in der Ostfront der Jahre 1914
bis 1917/18 oftmals lediglich eine Art Prolog für jene des späteren Weltkrieges. Dass es
hierbei Kontinuitäten gab, ist nicht von der Hand zu weisen. Allerdings bestehen auch
beträchtliche charakteristische Brüche, die mit dem vorliegenden Sammelband – so die
Idee dahinter – besser akzentuiert werden können.
Dank
Bevor wir den Leser nun auf die spannende Suche jenseits der Schützengräben schicken,
möchten wir noch Dank aussprechen: Als Allererstes gilt dieser unseren Kolleginnen
und Kollegen am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Stefan Karner sowie dem österreichischen Fonds zur Förderung
der wissenschaftlichen Forschung. Der vorliegende Band ist Teil eines Projektes, das
von Zweiterem gefördert und an Ersterem durchgeführt wurde. Auch dem Deutschen
Historischen Institut in Warschau und dem Österreichischen Kulturforum in der polnischen Hauptstadt sei Anerkennung für die Förderung des Start-Workshops im März
2012 ausgesprochen. Sie haben den Mitwirkenden die Plattform gegeben, die Konzeption des Projektes und des Bandes ausführlich zu diskutieren und auf eine breite Basis
zu stellen.
Ganz besonders sei den Autorinnen und Autoren für ihr Mitwirken am vorliegenden
Band unser Dank ausgesprochen. Aufgrund ihres Engagements, ihrem disziplinierten
Arbeiten und ihrer Expertise konnte die vorliegende Publikation zu einem so erfolgreichen Ergebnis geführt werden.
Ein Band, der Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Staaten Europas zusammenfasst, ist auf Dolmetscher unbedingt angewiesen: Mag. Harald Fleischmann (Russisch), Michael Hutterer, MA (Ungarisch), Mag. Andreas Volk, MA (Polnisch) und
Dr. Arno Wonisch (Kroatisch) haben die Übertragung der fremdsprachigen Texte ins
Deutsche in gewohnter Qualität bewerkstelligt. Der Studienverlag – unter der Koordination von MMag. Melanie Knünz –, Mag. Elisabeth Klöckl-Stadler (Lektorat) und
Helmut Lenhart (Layout) haben die Drucklegung betreut.
20Ebd.
21 Friedrich Schlegel, Kritische und theoretische Schriften. Herausgegeben von Andreas Huyssen. Stuttgart 1978, S. 85.
23
Erfahrungen von
österreichisch-ungarischen Soldaten
an der Ostfront
„Ganz in den Rahmen dieses Bildes hinein passt auch
die Bevölkerung“
Raumerfahrung und Raumwahrnehmung von österreichisch-ungarischen
­Soldaten an der Ostfront des Ersten Weltkrieges1
Wolfram Dornik
„Räume sind nicht, Räume werden gemacht.“2 – Der Berliner Geograf, Hans-Dietrich
Schultz, bringt mit seinem programmatischen Aufsatz aus dem Jahr 1997 eine Wende
auf den Punkt, die bisher in der deutschsprachigen Kulturgeschichte noch verhältnismäßig wenig rezipiert worden ist: den spatial turn.3 Wenn auch Erinnerungsräume und
Gedächtnisorte seit geraumer Zeit so intensiv erforscht werden wie kaum ein anderes
Forschungsthema4 und auch im veröffentlichten Diskurs bis zur völligen Sinnentleerung
missbraucht werden, so gibt es trotzdem eklatante Desiderata: Darunter befindet sich
insbesondere die zeitgenössische Raumperspektive, die Rezeption, der Diskurs und die
Tradierung von Raumbildern in kollektiven und individuellen Identitäts- und Kommunikationsprozessen.5
1
2
3
4
5
Der vorliegende Text entstand im Rahmen des FWF-Projektes „Beyond the Trenches. War Memories
of German-speaking Soldiers of the Austro-Hungarian Army on the Eastern Front of the First World
War“ (P23070-G15), das seit September 2011 am LBI für Kriegsfolgen-Forschung in Graz unter der
Leitung des Autors durchgeführt wird.
Hans-Dietrich Schultz, Räume sind nicht, Räume werden gemacht. Zur Genese ‚Mitteleuropas‘ in der
deutschen Geographie, in: Europa Regional. 5, 1997, S. 2–14.
Fragestellungen des spatial turns wurden bisher überwiegend in der Philosophie, Soziologie und insbesondere der Humangeografie behandelt, siehe dazu (sowie zu seinen „Verwandten“ topographical
und topological turn) beispielsweise: Stephan Günzel (Hg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch.
Stuttgart – Weimar 2010; Klaus Kuhm, Telekommunikative Medien und Raumstrukturen der Kommunikation, in: Christiane Funken – Martina Löw (Hg.), Raum – Zeit – Medialität. Interdisziplinäre
Studien zu neuen Kommunikationstechnologien. Opladen 2003. Zum spatial turn siehe auch: Doris
Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek – Hamburg 2006, S. 284–328.
Neben den auf die Arbeit Pierre Noras zurückgehenden Studien zu „Erinnerungsorten“ sei an dieser
Stelle auf das herausragende, 1995 erstmals erschienene Buch des Yale-Professors Jay Winter verwiesen: Jay Winter, Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great War in European cultural history.
Cambridge 2010.
Die Fokussierung auf Gedächtnisorte/Erinnerungsorte betont auch Doris Bachmann-Medick, die auch
einige für die Geschichtswissenschaft relevante, aber noch immer zu wenig beachtete Raumperspektiven aufzeigt: Bachmann-Medick, Cultural Turns S. 312–314. Siehe für einen Beitrag zum spatial
28
Wolfram Dornik
Die vitalsten Forschungsansätze in diesem Bereich kommen derzeit aus dem englischsprachigen Raum. Dies sind vor allem Arbeiten, die die Konstruktionen von gedachten Räumen thematisieren, wie etwa jene von Maria Todorova über den „Balkan“
oder Larry Wolff über „Galizien“ und „Osteuropa“.6 Andere Studien ziehen geografisch fundierte Räume als Bezugspunkte transnationaler Forschungsansätze heran, wie
beispielsweise das viel diskutierte Buch „Bloodlands“ von Timothy Snyder oder „The
Lands Between“ von Alexander V. Prusin. Diese Arbeiten werden zunehmend in Europa
rezipiert und diskutiert und finden langsam auch Eingang in den Fachdiskurs.7
Die Vernachlässigung der Analyse von Raum-Wahrnehmung und -Erfahrung und
die Stellung des Raumes im Diskurs verwundert umso mehr, erfuhr in der Moderne
doch gerade der „Raum“ als Diskursmetapher und Bezugspunkt eine nahezu beispiellose Hochkonjunktur. Denn ist es so selbstverständlich, dass etwa in der nationalsozialistischen Ideologie gerade der „Lebensraum“ im „Osten“ zum zentralen Bezugspunkt
wurde? Dass dies keine Neuentdeckung war, sondern Ausdruck einer längerfristigen
Fokussierung wird auch bei einem Blick auf den öffentlichen Diskurs in Deutschland
um Teilhabe am „kolonialen Kuchen“ um 1900 deutlich. Auch der österreichisch-ungarische und russische Wettlauf um Einfluss auf Ost- und Südosteuropa im letzten Drittel
des 19. Jahrhunderts ist hier noch eingehender auch unter diesem Aspekt zu untersuchen.
„Anthropogeographie und Geopolitik“ gaben in dieser Zeit die (pseudo-)wissenschaftliche Basis für die Expansionsrhetorik, und damit auch die Begründung für die deutsche
Flottenrüstung oder die Eroberungen Ost- und Südosteuropas (Okkupation BosnienHerzegowinas 1878 durch Österreich-Ungarn). Und während des Ersten Weltkrieges
spielte die Frage von territorialen Erweiterungen in den Kriegszieldebatten in den Staaten der Mittelmächte eine zentrale Rolle: Serbien, Polen, die Ukraine, ja vielleicht sogar
der „Orient“ oder „Mitteleuropa“ standen im Fokus. Auch innerhalb der Entente waren
Fragen der Gründung und territorialen Ausdehnung von (neuen) Staaten sowie die damit
verbundenen Grenzziehungen ein wichtiger Aspekt der gemeinsamen Diskussion um
die gewünschte Situation nach dem Krieg. Umso hitziger waren die Debatten nach dem
November 1918, als die neuen Territorien in den Pariser Vorortverhandlungen, aber auch
in zahlreichen Territorialkriegen ausgefochten wurden. – Grenzziehungsfragen und die
Zugehörigkeit von Territorien standen nun im Mittelpunkt. Welche Vorstellung von Räumen – von „ihrem“ wie auch dem „fremden“ – hatten nun die Betroffenen? Wo wurden
diese Räume begrenzt? Warum waren der Besitz und die Zugehörigkeit von Territorium
so wichtig? Welchen Bezug hatten insbesondere die Soldaten, die zwischen 1914 und
6
7
turn in der Osteuropäischen Geschichte etwa: Frithjof Benjamin Schenk, Der spatial turn und die
Osteuropäische Geschichte, in: H-Soz-u-Kult 1.6.2006, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2006-06-001/ 25.1.2013, 10.15 Uhr, Mozilla Firefox.
Maria Todorova, Imagining the Balkans. Oxford 2009; Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The
Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment. Standford 1994; Ders., The Idea of Galicia.
History and Fantasy in Habsburg Political Culture. Standford 2010 etc.
Bernhard Chiari – Gerhard P. Groß (Hg.), Am Rande Europas? Der Balkan – Raum und Bevölkerung
als Wirkungsfelder militärischer Gewalt. München 2009; Alexander V. Prusin, The Lands Between.
Conflict in the Eastern European Borderlands, 1870–1992. Oxford 2010; Felix Schnell, Räume des
Schreckens. Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine 1905–1933. Hamburg 2012; Timothy Snyder, Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin. New York 2012 etc.
„Ganz in den Rahmen dieses Bildes hinein passt auch die Bevölkerung“
1918 in besonderem Ausmaß Raum er-fahren hatten? Es mangelt also nicht an Relevanz
zu einer näheren Untersuchung der Wahrnehmung und Tradierung von individuellen beziehungsweise kollektiven Raumbildern. – Nicht umsonst hat Schultz das Eingangszitat
an der Erfindung „Mitteleuropas“ festgemacht.
Stephen Kern, der 1983 mit „The Culture of Time and Space, 1880–1918“ eine der
grundlegenden Arbeiten des spatial turns verfasst hatte, erklärt die philosophischen Kategorien von Zeit und Raum als „comprehensive, universal and essential“ und letztlich
als strukturierend für eine generelle Kulturgeschichte.8 Die Orientierung am Raum eröffnet eine Reihe neuer Zugänge und Fragestellungen: „Die Raumperspektive bietet also
die Möglichkeit, das inkommensurable Nebeneinander des Alltagslebens, das Ineinanderwirken von Strukturen und individuellen Entscheidungen, das bisher eher getrennt
voneinander untersucht worden ist, nun in der Zusammenschau zu analysieren – ein
herausragender Neuansatz, […].“9 Aber, eine Grundlage zur Analyse von Raum ist im
strukturalistischen Sinne seine Textbasiertheit: „Der kulturwissenschaftlichen Analyse
zugänglich wird der Raum erst dort, wo er oder etwas an ihm sich in Text verwandelt hat
(oder in etwas Textanaloges), das lesbar ist wie eine Sprache (auch ein Bild kann in diesem Sinne lesbar sein). Nur als Gegenstand in einer ‚Semiosphäre‘ – die sinnstrukturierte Welt der Bedeutungen im Gegensatz etwa zum metrischen Raum der Physik – kann
Raum ein Korpus kulturwissenschaftlichen Fragens werden.“10 Und der Raum kann als
Schichtenmodell in diesen Quellen gelesen werden: „Bevor die Landschaft je ein Refugium für die Sinne werden kann, ist sie schon das Werk des Geistes. Ihre Szenerie ist
ebenso in Schichten der Erinnerung zusammengesetzt wie aus Gesteinsschichten.“11
Gerade wenn wir nun textbasierte Quellen zur Analyse von Raum heranziehen – wie
im vorliegenden Beispiel in Tagebüchern von österreichisch-ungarischen Kriegsteilnehmern an der Ostfront des Ersten Weltkrieges –, so ist als weitere Basis für die Methode
auch die Frage nach „Erfahrung“ zu stellen. Thiemo Breyer und Daniel Creutz haben
für die historische Erfahrung ein an Reinhard Kosellecks angelehntes Schichtenmodell
vorgeschlagen.12 Sobald mindestens zwei in der Erfahrung wirksame „Zeitschichten“ in
Beziehung gesetzt werden, wird Erfahrung zur historischen Erfahrung, und damit für
uns kulturhistorisch analysierbar: „(1) Charakteristisch für das Erfahrung-Machen auf
der ersten Stufe (Kurzfristigkeit) sind die Qualitäten der Novität, Singularität, Irreversibilität, Unwiederholbarkeit der Erfahrung und des Überraschungsmomentes, welches
das jeweils so Erfahrene einleiten. (2) Die zweite Schicht (Mittelfristigkeit) involviert im
Sinne des Erfahrung-Habens bzw. der Erfahrenheit solche Erfahrungsgehalte, die sich
8 Stephen Kern, The Culture of Time and Space, 1880–1918. Cambridge/MA – London 2003, S. 2.
9 Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 304.
10 Jörg Döring – Tristan Thielmann, Einleitung: Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das
geheime Wissen der Geographen, in: Jörg Döring – Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn: Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2008, S. 7–45, hier: S. 17.
11 Simon Schama, Landschaft und Erinnerung, in: Christoph Conrad – Martin Kessel (Hg.), Kultur &
Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung. Stuttgart 1998, S. 242–263, hier: S. 242.
12 Thiemo Breyer – Daniel Creutz, Historische Erfahrung. Ein phänomenologisches Schichtenmodell,
in: Thiemo Breyer – Daniel Creutz (Hg.), Erfahrung und Geschichte. Historische Sinnbildung im
Pränarrativen. Berlin – New York 2010, S. 332–363.
29
30
Wolfram Dornik
im Prozess der Sozialisierung, in der Übernahme kultureller Vorgaben und generationeller Erfahrungsmuster sowie in der Habitualisierung von Verhaltens- und Denkformen
konstituieren und die den Deutungshintergrund für die auf der ersten Stufe zu verarbeitenden Ereignisse bilden. (3) Schließlich gehen auf der dritten Schicht (Langfristigkeit)
Elemente in die Erfahrung ein, die individuelle und generationelle Konstellationen im
Erfahrungshaushalt transzendieren, da sie mit der biologisch-anthropologischen Grundausstattung des Menschen einerseits und mit der natürlich gegebenen Umwelt andererseits zu tun haben, die sich nur bedingt und äußerst langsam kulturell überformen
lassen.“13 Bei der Analyse der in diesem Beitrag untersuchten Quellen haben vor allem
die erste und zweite Ebene Relevanz: Die Betroffenen machten Erfahrungen, die geprägt
waren von der räumlichen Durchmessung an sich, aber auch durch die spezifische Situation in der sie sich befanden (Ebene 1: Kurzfristigkeit); sie knüpften dabei an Erwartungen und Fremdbilder an (Ebene 2: Mittelfristigkeit), die sie kulturell und generationell
erlernt hatten; die 3. Ebene, Langfristigkeit, wurde meist nicht direkt reflektiert, sondern
war ein indirekt mitschwingendes Element: Waren vorangegangene Generationen bei
Reisen meist an die Überwindung des Raumes durch Muskel- oder Windkraft an natürliche Grenzen gebunden, so wurden sie nun im Kontext des industriellen Krieges massenhaft in transkontinentale Bewegung gesetzt. Dabei fehlte ihnen aber eine Methode,
mit dieser Form der Raumwahrnehmung umzugehen. Zwar bildeten Reiseromane, Reiseberichte in Zeitungen und Zeitschriften oder anthropologische Beschreibungen eine
gewisse Vorlage, wie das Erlebte verortet werden konnte, sie hatten aber nur für einen
kleinen Teil der in unserem Fall Betroffenen kanonische Gültigkeit.
Als Basis für die vorliegende Untersuchung dient ein topisches Raumverständnis:
Sozial erlebbarer Raum wird als soziales Feld analysiert. Dies kombiniert Raumbilder,
die in Bezug zu sozialen Interaktionsprozessen stehen, oder die zum Zweck der Verwirklichung eines bestimmten Raumes intentional entworfen werden.14 Das bedeutet, dass
der geografische Raum mit seinen scheinbar objektiven Charakteristiken (flach/hügelig/
bergig, un-/besiedelt, bewaldet/frei etc.) individuell wahrgenommen und beschrieben
und in diesem Prozess bereits kontextualisiert wird. Es werden Bezüge zu den bereits
vorhanden Raumbildern und kulturellen Kontexten hergestellt, Erwartungen erfüllt oder
irritiert – so entsteht ein neues Raumbild, das gegenüber dem Vorhandenen zu einem
­Hybrid vereint wird. Dieses neue, hybride Raumbild bleibt aber nicht starr bestehen, sondern wird im Laufe der Zeit innerhalb dieses Raumes, aber auch nach Entfernung daraus
weiterhin vom Individuum uminterpretiert. Auch die soziale Interaktion bestimmt diese
Bilder im Prozess selbst, aber auch in der Erinnerung. Manche Elemente der „gemachten“ Raumbilder werden verfestigt, andere verschwinden, manche werden nachträglich
korrigiert, so manche individuellen im sozialen Diskurs wechselseitig angeglichen.
Eine weitere Grundannahmen des vorliegenden Textes ist, dass die Wahrnehmung
des Raumes, dem österreichisch-ungarische Soldaten – darunter werden für den vorliegenden Beitrag verkürzt österreichisch-ungarische Kriegsteilnehmer unabhängig von
13 Breyer – Creutz, Historische Erfahrung, S. 354.
14 Siehe dazu insbesondere: Günzel, Raum, S. 100–107.
„Ganz in den Rahmen dieses Bildes hinein passt auch die Bevölkerung“
ihrem Rang verstanden – im Verlauf des Ersten Weltkrieges ausgesetzt waren, einen
wesentlichen Einfluss auf die öffentlichen Diskurse noch während des Krieges in der
Habsburgermonarchie, aber insbesondere auch in den Nachfolgestaaten hatten. Neben
der Gewalterfahrung war jene des Raumes sicherlich eine der einschneidendsten: Das
Kämpfen um jeden Quadratmeter am Isonzo, die Durchmessung Zentral- und Osteuropas im Rahmen von Truppenverschiebungen zwischen den Frontabschnitten, das Eingesperrtsein auf engstem Raum im Schützengraben, die „Richtung der Landschaft“ an der
Front oder tage-, ja wochenlange Märsche im Rahmen von Rückzug vor oder Verfolgung vom Feind haben die Betroffenen gerade in einer traumatisierenden Lebensphase
entscheidend geprägt.
Doch bevor eine Analyse der Folgen dieser Erfahrung vorgenommen werden kann,
sollen im vorliegenden Beitrag die wesentlichen Elemente der individuellen Raumwahrnehmung untersucht werden. Für diesen Text werden zeitnah verfasste Selbstzeugnisse
von deutschsprachigen Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee herangezogen,
die zumindest zeitweise an der Ostfront eingesetzt waren.15 Rückbezügliche Interpretationen in gedruckten oder unveröffentlichten Lebenserinnerungen oder Autobiografien
sollen aufgrund der Beeinflussung des Erfahrenen durch die danach rezipierten Diskurse
sowie die redaktionelle Veränderung durch zeitgenössische Propaganda und (Selbst-)
Zensur nicht untersucht werden – dies würde den Rahmen eines Aufsatzes für einen
Sammelband sprengen. Tagebücher und Feldnotizen geben hingegen einen direkteren
Einblick, ihre Beeinflussung ist verhältnismäßig gering. Natürlich darf bei der Quellenanalyse auch dieser Aspekt nicht vernachlässigt werden, finden doch gewisse Diskursmetaphern oder Begrifflichkeiten der veröffentlichten Propaganda auch hier Einzug.16
Dimensionen des Raumes
Die medien- und verkehrstechnischen Modernisierungen seit dem 19. Jahrhundert –
insbesondere die Eisenbahn und die elektronisch-analoge Informationsübertragung mit
Telegrafie und Telefonie – haben zu einer „induzierten Verdichtung all unserer raumzeitlichen Wahrnehmungshorizonte“ geführt; die daraus folgende Verdichtung wurde von
David Harvey als „time-space compression“ bezeichnet.17 Auch österreichisch-ungari15 Herangezogen wurden Originaltagebücher oder Abschriften. Die Suche nach solchen Zeugnissen ist
kein leichtes Unterfangen, sondern führte in verschiedene Landesarchive, Sammlungen von Museen
und Privatpersonen. Ich danke Mag. Thomas Rohringer und Mag. Bernhard Bachinger für ihre Recherchen und die Transkriptionsarbeiten im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien, dem Wiener
Stadt- und Landesarchiv, dem Oberösterreichischen und dem Tiroler Landesarchiv. Mag. Michael
Hess danke ich für die Unterstützung bei Recherchen im Burgenländischen Landesarchiv.
16 Zu Propaganda- und Zensurmaßnahmen während des Ersten Weltkrieges in Österreich-Ungarn siehe:
Elisabeth Haid, Galizien im Ersten Weltkrieg im Spiegel österreichischer und russischer Zeitungen,
phil. DA. Wien 2009; Tamara Scheer, Die Ringstraßenfront. Österreich-Ungarn, das Kriegsüberwachungsamt und der Ausnahmezustand während des Ersten Weltkrieges. Wien 2010; Verena Moritz –
Hannes Leidinger, Zwischen Nutzen und Bedrohung. Die russischen Kriegsgefangenen in Österreich
(1914–1921). Bonn 2005, S. 128–143; Christian Steppan, Die Kriegsgefangenenzeitung „Nedelja“
– Propagandastimme oder Ombudsfrau?, in: Zeit – Raum – Innsbruck. Militärische und zivile Kriegserfahrungen 1914–1918. Innsbruck 2010, S. 33–80 etc.
17 Döring – Thielmann, Einleitung: Was lesen wir im Raume?, S. 7–45.
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Wolfram Dornik
sche Soldaten haben diese Verdichtung im Ersten Weltkrieg intensiv wahrgenommen:
Wir können davon ausgehen, dass jene, die ihren Kriegseinsatz länger als sechs Monate
überlebten, mit hoher Wahrscheinlichkeit zumindest an zwei Fronten eingesetzt waren,
manche auch an mehr; hinzu kamen jene, die in Kriegsgefangenschaft gerieten und das
eurasische Russland „bereisten“. Sie lernten dabei nicht nur unterschiedliche Formen
des Krieges und unterschiedliche geografische Regionen und Klimazonen kennen, sie
entdeckten dabei auch die Dimensionen des Raumes. Diese spezifische Erfahrung reflektierten die Soldaten auch in ihren Notizen. Gottfried Klein, später Rechtsanwalt in
Wien, freiwilliger Unteroffizier bei der Kavallerie, schrieb kurz nach seiner Instradierung an die Ostfront im März 1916: „Das ist ja ein Vorteil meiner Bestimmung, daß ich
einen großen Teil der Monarchie kennen lerne oder besser sehe, den ich sonst wohl nie
besucht hätte.“18 Oder Josef Bruckner aus Linz: „Der Zug führt uns durch weite, fruchtbare Ebenen, die in Mulden versteckt einsame ärmliche Dörfer bargen. Reiche Waldungen vermindern die Eintönigkeit der Gegend.“19 Ein zentrales Muster dieser Raumbezüge ist die europaweite, ja globale Dimension des Krieges, die die Soldaten versuchen zu
fassen. Korporal Johann Wimmer bringt dies in einem Gedicht über die Landwehr zum
Ausdruck:
„Die Landwehr!
Da kam der Krieg!
Von Bränden umloht, das alte Reich
Von Feinden bedroht.
Wer schützt unsere Grenzen?
Landwehr herbei!
Und die Landwehr kam
Ohne viel Geschrei, tut sie,
Was schon ihr Name geboten.
Sie schützt die Heimat
Und wehrt die Not.
Und wer nicht weiss,
Was wir getan;
Der schau die Landwehrer an
Im heißen Süden und kalten Norden
Sind Österreichs Völker zur
Landwehr geworden.“20
18 Wiener Stadt- und Landesarchiv, Nachlass Klein, Dr. Gottfried Klein, Sign. 3.5.38, Tagebuchaufzeichnungen 1916–17, Bd. 1, S. 6.
19 Universität Wien, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Dokumentation Lebensgeschichtlicher Erinnerungen, Kriegstagebuch meines lieben Mannes Sepp Bruckner (Abschrift des Tagebuches
von Josef Julius Bruckner, Jg. 1892), Eintrag vom 20.10.1915.
20 Niedergeschrieben von Alois Prokosch in seinem Tagebuch: Steiermärkisches Landesarchiv, Sammlung 20. Jahrhundert, HS 1832, Tagebuch von Alois Prokosch (Abschrift von Prokosch selbst), Bd. 1,
S. 4.
„Ganz in den Rahmen dieses Bildes hinein passt auch die Bevölkerung“
Ein Element dieses Versuches einer räumlichen Einordnung, das aus der Propaganda
und den Diskursen der Vorkriegszeit übernommen wurde, war, die Umzingelung und
allumfassende Gefahr zu unterstreichen. Im zitierten Gedicht wurde dies vom Autor
mit „im heißen Süden“ und „kalten Norden“ auf eine allgemeine, fast globale Ebene
gehoben. Die Dimensionen des Welt-Krieges wurden ihnen auch bei der Erfüllung ihrer
Aufgaben durch die Vorgesetzten verdeutlicht: „[…] dass das [Regiment] seine Aufgabe
in Galizien restlos erfüllt habe und viel dazu beitrug, dass der Russe wieder aus Galizien
und Bukowina zurückgedrängt wurde, der Kriegsschauplatz wird sich von nun an auf
russischem Boden abspielen. Dem [Regiment] stehen nun neue Aufgaben am südlichen
Kriegsschauplatze mit einem neuen Gegner[,] de[m] treulosen Italiener[,] bevor.“21
Doch in der Metapher „heißer Süden“ und „kalter Norden“ kommt nicht nur eine
geografische Bezeichnung, sondern mit „heiß“ und „kalt“ auch eine weitere Bedrohungsebene zum Ausdruck: Klima und Wetter. Denn egal welche Front, die klimatischen
Bedingungen stellten für die Soldaten eine direkte, körperliche Bedrohung dar. Eine nur
schwer zu beziffernde Zahl von Verlusten ging auf wetter- und jahreszeitenbedingte körperliche Herausforderungen zurück: Ob dies nun die explosionsverstärkende Wirkung
des Karstgesteins insbesondere bei Trockenheit oder Frost an der Isonzofront, die Lawinen in den Alpen, die kalten Stürme und Schneemassen in den Karpaten, der Schlamm
und Morast im Herbst und Frühjahr oder die Überschwemmungen der Schützengräben
in Ostgalizien und Wolhynien waren; Dehydrierung, Frostverletzungen, Erkältungen,
dauerhafte Feuchtigkeit am Körper und damit verbundene Erkrankungen stellten für
die Soldaten oft direktere Bedrohungen dar, als jene von den ihnen gegenüberliegenden
feindlichen Truppen.22 Greinhofer: „Über unseren Köpfen beginnt wieder ein starkes
Artillerieduell, doch sind wir noch sicher. Abends fängt’s an zu regnen und nun naht ein
neuer Feind, das Wasser. In einer halben Stunde hat es uns herausgespült aus unserer
Deckung, alles stürzt übereinander und schon kommen die ersten feindlichen Kugeln
[…] und in einer viertel Stunde haben wir 80 cm Wasser im Schützengraben.“23
Beschreibungen des physischen Raumes bestimmen deshalb auch weite Teile der
Tagebücher: das tägliche Wetter, die topografischen Beschaffenheiten, Flora und Fauna,
die Marschdistanz in Kilometern oder die Dimensionen des direkten Umfeldes der Stellung bilden einen fixen Bestandteil täglicher Einträge.24
Diese meist auch wegen der zurückgelegten großen Distanzen besonders wahrgenommenen Eindrücke konnten die Soldaten auch im Falle der gegenteiligen Erfahrung
prägen: indem sie für lange Zeit auf einen sehr engen Raum begrenzt blieben. Diese
Raumkomprimierung wurde aber nur selten als Bedrohung empfunden, vor allem wenn
die Soldaten nicht einer dauernden Gefahr ausgesetzt waren. Insbesondere ruhige Front21 Tagebuch von Alois Prokosch, Bd. 4, S. 312f.
22 Siehe beispielweise: Tagebuch von Alois Prokosch, Bd. 4, S. 314–335.
23 Privatbesitz Familie Angela Scheiber in Lienz, Tagebuch von Peter Paul Greinhofer, Innsbruck, 15.1.–
10.6.1915 (Transkription von Ludwig Bedarnig, Schlaiten), S. 46. Ich danke Frau Angela Scheiber
für die Bereitschaft, das Tagebuch zur Verfügung zu stellen, und Herrn Ludwig Bedarnig für die
Transkription; Markus Wurzer und Martin Kofler sei für den Hinweis auf dieses Dokument herzlich
gedankt.
24 Siehe dazu beispielsweise: Tagebuch von Peter Paul Greinhofer.
33
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Wolfram Dornik
abschnitte, an denen man sich ohne heftigere Gefechte über Wochen hinweg verhältnismäßig ruhig gegenüberstand, „erfreuten“ die Soldaten. Sie richteten sich ihre Unterstände immer gemütlicher ein, verbrachten viel Zeit mit Lesen und Schriftverkehr mit
ihren Lieben sowie mit der Körperpflege beziehungsweise Ungezieferbekämpfung. Mit
verschiedenen Ritualen, dem Einrichten eines gemütlichen (trockenen und warmen!)
Schlafplatzes mit einigen wenigen persönlichen Erinnerungsstücken sollte eine heimelige Wohlfühl-Illusion hergestellt werden.25 So nehmen sich manche Beschreibungen
gar nicht als solche aus einem Krieg aus, wie etwa jene von Josef Bruckner am 14. November 1915 von einem ruhigen Frontabschnitt in Osteuropa: „Abends: Gemütliches
Sein beim Kerzenschein. Ein wenig Ibsen lesen und dann sich der Ruhe des Schlafes
so sorglos hinzugeben. Mir kommt vor, man ist hier heraußen viel mehr bei sich selbst,
nicht so zerstückelt, wie in der Stadt daheim.“26 Auch Gottfried Klein beschrieb diese
eigentümliche Ruhe und Zurückgezogenheit an der Front: „Nur das weiß ich, daß die
Lebensweise im Felde viel gesünder [sic!] ist, da kann man wenigstens überall schlafen
und jederzeit vor allem.“27 Ähnliches lesen wir dann auch, als er auf einem abgelegenen
Wachposten an der Tiroler Front stationiert war.
Eindrucksvoll ist auch die Beschreibung des eigenen Unterstandes des Artilleristen
Karl Angerbauer, der seine Erinnerungen an die Fronterfahrung in Form eines Gedichtes
wiedergibt, das er am 22. Februar 1915 in Celló (Karpaten) verfasst hatte, und seiner
Frau nach Hause schickte:
„Im Felde draußen hinterm Hügel versteckt,
steht unsere Batterie gut gedeckt.
Ein Unterstand neben jedem Geschütz,
ist unsere Wohnung[,] unser Besitz.
Da richten wir uns häuslich ein,
natürlich Stroh muß drinnen sein.
Dort kriechen wir dann ein und aus,
so wie aus ihrem Loch die Maus.
Manchmal sitzen wir beisammen friedlich
und unterhalten uns gemütlich.
Wir erzählen von vergangenen Schlachten,
was wir alles erreichten und machten.
[…]
25 Siehe dazu beispielsweise die kollektivbiografische Studie: Wolfram Dornik, Torn apart between time
and space? A Collective Biography of Austro-Hungarian Military Personnel on the Eastern Front,
1914–1918, in: Günter Bischof – Fritz Plasser – Eva Maltschnig (Hg.), Austrian Lives. New Orleans
– Innsbruck 2012, S. 280–303. Siehe dazu auch: Universität Wien, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Dokumentation Lebensgeschichtlicher Erinnerungen, Aus meiner Militärzeit! Im Grossen
Weltkrieg! 1915, 1916 (vermutlich eigene Abschrift, Anton Derka, Jg. 1896, gest. 1976).
26 Kriegstagebuch meines lieben Mannes Sepp Bruckner, Eintrag vom 14.11.1915.
27 Tagebuchaufzeichnungen von Gottfried Klein, 1916–1917, Bd. 2, S. 48.
„Ganz in den Rahmen dieses Bildes hinein passt auch die Bevölkerung“
nun riecht man nicht mehr Pulverdampf[,]
es ist vorüber der heiße Kampf.
Unter die Erde kriechen wir wieder
und legen uns der Reihe nach nieder,
wir ruhen im Schlaf uns aus
und träumen von Euch zu Haus.
Die Nacht ist vorüber, der Feind ging zurück
um ein ganz schönes Stück.
Stellungswechsel heißt es am Morgen[,]
wir mußten die Verfolgung des Feindes besorgen.
Den Feind zu erreichen hatten wir kein Glück
denn er ging rapid zurück.
[…]
Jetzt will ich beschreiben Dir,
wie’s aussieht in unserem Quartier.
Es ist ein Häuschen klein und schlicht,
für eine Familie eingericht’,
Oben am Dach[,] da raucht es heraus,
als würde brennen das ganze Haus,
es ist am Häuschen kein Schornstein darauf[,]
drum geht der Rauch beim Dach heraus.
Gehst Du zur Haustür dann hinein
(die Türen sind stets eng und klein)[,]
da siehst Du links die Wohnungstüre,
rechts, dunkler Stall für größere Tiere.
Kleinere Tiere findest Du dort nimmer,
die sind alle drinnen im Zimmer
es ist dahier so der Brauch und
wir gewöhnen uns daran auch.
[…]
Ein schwangeres Weib man nie vermißt,
verdreckt, versauert ist alles[,] was Du siehst.
Die fünf Tage sind vergangen[,]
wir haben zu Wandern wieder angefangen.
Einige Male wurde Galizien durchquert[,]
dann auch russisch Pohlen [sic!] beehrt.
An Quartieren kann keine Not sein[,]
denn wir quartieren uns überall ein,
in der Scheune oder unterm Dach[,]
wir finden überall „Prunkgemach“,
35
36
Wolfram Dornik
denn wir sind Hienieden,
stets mit wenig sehr zufrieden.
[…]
Es wird der Krieg auch enden
und wir werden uns nach Hause wenden.
Ich habe hier gedichtet
und Dir manches berichtet.
Jetzt werde ich mein Schreiben schließen
mit recht vielen, herzlichen Grüßen.“28
Verortung des Raumes
Doch wie wird der durchmessene Raum nun wahrgenommen? Wie verorten die Betroffenen das Ersehene in ihren Erfahrungshorizont? Wird die Landschaft mit der lokalen
Kultur in Verbindung gebracht? Entsteht ein Angst- oder ein Sehnsuchtsraum? Wie im
oben zitierten Gedicht von Korporal Wimmer auch deutlich wird, spielte der Bezug
zur „Heimat“ eine zentrale Rolle – zum einen als Referenzrahmen für das gerade Erlebte, zum anderen als Sinngebungsargument. Der neutralisierte Heimat-Begriff – der
(noch) nicht von Nation, Sprache oder Religion abhängig gemacht wurde – wird so
in Kombination mit „für Gott, Kaiser, Vaterland“ zur zentralen Sinngebungsmetapher:
Egal welcher Sprachgruppe, Ethnie oder Religion sich jemand zugehörig fühlte, mit
dem Bezugssystem „Heimat“/„Vaterland“, „Gott“ und „Kaiser“ konnten sich auch so
unterschiedliche Charaktere wie der jüdische Artillerist Teofil Reiss aus Wien und Lemberg oder der deutschnationale Leutnant und spätere Oberleutnant Josef Bruckner identifizieren.29 Der Bezug auf und die Erinnerung an die Heimat sollten Halt und Stütze geben: „Schon beginnt wieder das Artillerie-Feuer. Ein schöner Tag, aber etwas abgekühlt
durch das Gerücht, dass wir in ein paar Tagen die uns gegenüber befindliche, russische
Stellung stürmen müssen! Das wird furchtbar werden. Ob ich noch zurückkommen werde? Wenn nicht, so lebet wohl Frau und Kind, Geschwister und Tiroler Berge. Ich hoffe
das Beste.“30 Der Berg- und Wanderbegeisterte Gottfried Klein: „Ich freue mich immer
wieder an der schönen Gegend, die teilweise an Igls und Salzburg, teilweise an den Semmering und an Gloggnitz erinnert.“31
Der Heimatbezug erlaubte gleichzeitig aber auch eine stärker national konnotierte
Aufladung, wie dies etwa Bruckner in einem Eintrag vom 20. Oktober 1915 zum Ausdruck brachte: „Da – plötzlich von rechts ein Lied! Heimatliche Klänge! Deutsche Worte
28 Oberösterreichisches Landesarchiv, Lebenserinnerungen, Karton 5, Sign. 12, Kriegstagebuch von
Karl Angerbauer, 1914–1918.
29 Universität Wien, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Dokumentation Lebensgeschichtlicher Erinnerungen, Tagebuch von Teofil Reiss (Jg. 1889, Lemberg), Einträge vom 22.11.1916,
15. und 16.2.1918; Kriegstagebuch meines lieben Mannes Sepp Bruckner, Einträge vom 3.7. und
20.10.1915.
30 Tagebuch von Peter Paul Greinhofer, S. 10f.
31 Tagebuchaufzeichnungen von Gottfried Klein, 1916–1917, Bd. 2, S. 19.
„Ganz in den Rahmen dieses Bildes hinein passt auch die Bevölkerung“
auf fremdem Boden! ‚Morgenrot, Morgenrot …‘ Einige Soldaten, bei einer Gewehrpyramide lagernd, sangen die volkstümliche Weise. Ich vergaß die Müdigkeit, wenn auch
nur für einige Zeit, und still in meinem Herzen stattete ich ihnen meinen Dank ab.“32
Dort wo keine Bezüge zum Gewohnten möglich waren, weil das Erlebte zu verschieden erschien, reagierten die Soldaten sowohl mit Abscheu als auch mit Faszination,
wobei die Grenzen fließend waren. Josef Bruckner beschrieb Ende Juni 1915 während
des Vormarsches nach dem Durchbruch bei Tarnow-Gorlice beispielsweise folgende Situation: „Tarnogrod. Wir sind heute in einer Ortschaft, die aus niedrigen, schmutzigen,
übertünchten Hütten besteht, aus denen einem überall Gestank entgegen kommt. Juden
gibt es hier und was für Exemplare! Sie übertreffen noch die Karikaturen im ‚Kikeriki‘. […] Ganz in den Rahmen dieses Bildes hinein passt die Bevölkerung. Anscheinend
wohnen hier lauter Juden, echte Vertreter ihrer Rasse. Mit schmutzigem Kaftan, dem
schwarzen Käppi und den unvermeidlichen ,Peiee‘.“33 Er verband seine Irritationen aufgrund der spezifischen Situation des orthodoxen „Ostjudentums“ mit der ihn abstoßenden Landschaft und den ärmlichen Siedlungen zu einem grundlegend negativen Bild,
das auf antisemitische Stereotype des deutschnationalen Diskurses aufbaute, die bereits
in der Vorkriegszeit geprägt worden waren.
Ähnlich ist der Befund auch von Anton Derka: Auch er wandte sich im Verlauf seines
Tagebuches immer stärker dem Deutschnationalismus zu, für Juden und Russen hat er
kaum ein positives Wort übrig. Er beschrieb Landschaft und Bewohner als „schmutzig“,
„verlogen“, „dreckig“ und „stinkend“. Die Folgen dieses grundlegend negativen Bildes
waren schon zeitgenössisch für die lokale Bevölkerung des eigenen Staates verheerend:
„Immer durch Wald, bis 2 h, kommen dann endlich in eine größere Judenstadt, Kopatschefka, wo wir durchgehen, die unseren nehmen alles, was ihnen in die Hände kommt,
Gänse, Enten, Schweine, Kälber, Obst. Die 25er haben ein Haus angezündet, überhaupt
sah man wieder während des ganze Tages bis in die Nacht an einer Menge Stellen große
Brände, alles wird angezündet wegen Ausschuss oder wenn die Gebäude für die Rußen
Wert haben.“34 Und weiter: „[…] deutsche Ortschaften, viele deutsche Bewohner, ein
großer Unterschied zwischen dem ruth[enischen] und russ[ischen] Gesindel und diesen
netten freundl[ichen] Leuten, denen wird nichts weggenommen, aber dafür den anderen
wird alles gestohlen.“35
Auch ein jüdischer Soldat, wie Theofil Reiss, ließ sich zu einer ähnlichen Analogie
hinreißen: „Tarnow, eine dreckige, echt jüdische Stadt, […]“36 Aussagen wie diese sind
bei Reiss aber dahingehend zu interpretieren, dass er sich als in Galizien geborener, und
in seiner Kindheit nach Wien Gezogener vom orthodoxen „Ostjudentum“ abzugrenzen
versuchte. Wenn auch seine Religiosität im Verlauf des Krieges zunahm, so grenzte er sich
immer wieder von „den Juden“ ab, schrieb sein Tagebuch in holprigem Deutsch und betonte besonders sein gutes Auskommen mit nicht-jüdischen Offizieren und Mannschaft.
32
33
34
35
36
Kriegstagebuch meines lieben Mannes Sepp Bruckner, Eintrag vom 20.10.1915.
Ebd., Eintrag vom 29.6.1915.
Anton Derka, Aus meiner Militärzeit! Im Grossen Weltkrieg!, S. 31.
Ebd., S. 35.
Tagebuch von Teofil Reiss, Eintrag vom 25.6.1915.
37
38
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Wie im zitierten Auszug von Derka deutlich wurde, verschwamm die Grenzen der
Fremdheit zwischen dem Staatsgebiet der Habsburgermonarchie und dem russischen
Territorium: „In Rußland siehts vorläufig nicht anders aus als in Galizien. Die Häuser,
der Dreck, alles ist gleich, nur die Gegend wird wieder hübscher.“37 – „Eigenes“ und
„feindliches“ Staatsgebiet schienen gleich fremd zu sein, Solidarität oder Loyalität zur
lokalen Kultur und Bevölkerung kamen kaum auf.
Auch Gottfried Klein ordnete die „endlose russische Ebene“ auf seinem Weg an die
Front in seinem Tagebuch in seinen bisherigen Erfahrungshorizont ein, jedoch sind seine
Einträge eher von Faszination geprägt: „Die Gegend, die wir durchfahren, ist trostlos,
weit und breit kein Haus, kein Baum, kein Strauch und doch ist mir die Gegend nicht
unsympathisch, denn das weite, unbegrenzte erinnert mich an das Meer.“38 Wobei er
nicht nur den Raum „sympathisch“ fand, auch gegenüber der Bevölkerung war er nicht
grundlegend negativ eingestellt: Die „Russen“ seien auch nur „brave Staatsbürger, die
ihre Pflicht gegenüber ihrem Kaiser“ erfüllen. Auch die Bewertung der jüdischen Mitbürger aus Galizien fällt milder aus, als bei anderen Kameraden: „Man mag gegen die
Juden sagen, was man will, hier in Galizien halten sie treu zu uns und sind oft die Retter
in der Not, wenn man einen Dolmetscher braucht. Und die kleinen, hochbeladenen Wagen, auf denen man sie wegfahren sieht, die haben etwas [R]ührendes. Sie müssen ihr
Haus zurücklassen und meist werden sie wohl die Einrichtung nicht mehr finden. […]
Doch auch bei der anderen Bevölkerung glaube ich nicht an die Russophilie. […] Die
Leute sind eigentlich ein hübscher Menschenschlag hier.“39
Kakanische „Kriegslandschaften“ im „Osten“
Das Fassen der Raumdimensionen und die Verortung des Erlebten stellten ein zentrales
Element der verschriftlichten Erfahrungen dar. Doch noch viel einschneidender war die
Wahrnehmung der durch Zerstörung geprägten Kriegslandschaft. Kurt Lewin, in Posen
1890 geboren und nach dem Ersten Weltkrieg als Sozialpsychologe bekannt, verfasste
nach dreijähriger Kriegserfahrung an der Ost- und Westfront 1917 einen kurzen Text
zur „Kriegslandschaft“.40 Er reflektierte darin seine Wahrnehmungen des Raumes an der
Front und goss diese in eine erste Raumtheorie des „Großen Krieges“. Auch er betonte bereits, dass die Landschaft über die phänomenologische Wirklichkeit hinaus etwas
Vorgestelltes ist. Zentraler Aspekt seiner Beschreibung der „Kriegslandschaft“ war die
„gerichtete Landschaft“ – je weiter man sich der Front näherte, desto mehr verlor der
Raum seine Ausdehnung in alle Richtungen. Vielmehr war er in ein Vorn und ein Hinten
orientiert; lediglich direkt an der Frontlinie wurden die Seitenrichtungen wieder relevant. Innerhalb dieser Landschaft gab es „Gefahrenzonen“, die nicht unbedingt mit der
Nähe zur Frontlinie zunehmen mussten, sondern durch Faktoren wie die leichte Einseh37
38
39
40
Anton Derka, Aus meiner Militärzeit! Im Grossen Weltkrieg!, S. 26.
Tagebuchaufzeichnungen von Gottfried Klein, 1916–1917, Bd. 1, S. 6.
Ebd., S. 6f.
Kurt Lewin, „Kriegslandschaft“, in: Jörg Dünne – Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2006, S. 129–140.
„Ganz in den Rahmen dieses Bildes hinein passt auch die Bevölkerung“
barkeit durch den Feind oder Erreichbarkeit durch die (eigene oder) feindliche Artillerie
bestimmt wurden. Die Grenzen innerhalb dieses „Feldes“41 konnten sich jederzeit verschieben, durch Vormarsch oder Rückzug, durch die Veränderung der Landschaft oder
Ähnliches.
In der „Stellung“ verdichtete sich die „Kriegslandschaft“ und alles, was sich in der
Stellung befand, wurde zum „Gefechtsding“, auch wenn es schon zuvor da war. Alle
„Gefechtsdinge“ in der „Stellung“ wurden neu evaluiert: „[…] ihre wesentlichen Eigenschaften sind die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, sie vom Feinde aus einzusehen,
der Schutz, den sie gegen Infanterie- und Artilleriewirkung geben, ihre Eigenschaften
als Schußfeld, die Anzahl und Verteilung besonders geschützter und besonders gefährdeter Stellen, die Häufigkeit, mit der der Feind sie zu bestreichen pflegt, und die Art
und Intensität ihrer augenblicklichen Gefährdung“.42 Sogar der Soldat selbst wurde zum
„Gefechtsding“, wodurch sich sein Verhalten und seine Wahrnehmung veränderten. Bewusst wurde dem Einzelnen dies aber erst, wenn er die Stellung verließ oder verwundet
wurde. In diesem Moment wurde ihm die tatsächliche Gefahr der Stellung bewusst.
Nicht unbedingt die Gefahr, aber „die Reinheit des Gefechtscharakters der Dinge“ nahm
in der Stellung von vorn nach hinten ständig ab.43 „Wird eine Stellung im Bewegungskrieg abgebrochen, so verschiebt sich nicht nur die Grenze und der Gefahrzonencharakter wird aufgehoben, sondern: Mit Verwunderung nimmt man wahr, daß, wo eben
noch Stellung war, nun Land ist.“44 Frühere oder verlassene Stellungen mit Zeichen des
Krieges wurden nicht sofort zu Friedensdingen, sondern blieben als ein Kriegsgebilde
im Lande zurück, das von ihnen verdeckt, umspült oder verdrängt wurde. Die „Kriegslandschaft“ verschwand also nie, sondern wurde lediglich „überlagert“ oder geriet in
„Vergessenheit“.
Wie sahen nun die Lewin’schen „Kriegslandschaften“ im kakanischen Kontext aus?
Wurde der Raum von den Soldaten militärisch eingeordnet? Finden wir den „gerichteten“ Raum wieder? Wurden die Dimensionen des Raumes reflektiert („unter“ und
„über“ der Erdoberfläche, Luftraum)? Wie wurde die Deformierung des Raumes durch
den Krieg wahrgenommen und beschrieben? Wurde die Kriegslandschaft in Kontrast
zur Friedenslandschaft gesetzt?
Je näher die Soldaten bei ihrem ersten Einsatz an die Front kamen, desto eindrucksvoller wurden die Beschreibungen der Kriegslandschaften. Josef Bruckner schrieb: „Abgebrannte Häuser, schlecht oder überhaupt nicht verscharrte Kadaver von Pferden und
Hunden, verlassene Schützengräben erinnern uns immer daran, dass wir der Front und
dem Feinde näher kommen.“45 Und Anton Derka Ende August 1915: „Überall sieht man
ausgebrannte Häuser, Schützengräben, Heldengräber[;] über den großen San gefahren,
die große Brücke darüber ganz zerstört, besonders hergenommen sind Zagorze, Ustrzy41 Der Begriff „Feld“ wird von Lewin später in der Sozialpsychologie noch im Rahmen der Feldtheorie
eine besonders große Rolle spielen: Kurt Lewin, Principles of topological psychology. New York
1936.
42 Lewin, „Kriegslandschaft“, S. 134.
43 Ebd., S. 136.
44 Ebd., S. 137.
45 Kriegstagebuch meines lieben Mannes Sepp Bruckner, Eintrag vom 20.10.1915.
39
40
Wolfram Dornik
ki, Chyrow. Wenn man das zum 1. Mal sieht, erschrickt man, je näher man Przemysl
kommt, desto ärger wird’s. Sonst ist’s wieder friedlich, die Bauern arbeiten auf den
Feldern, aber viel Elend scheint zu sein, die Kinder betteln überall um Brot. Der Ort
Niedcankowica ist wirklich grauenhaft hergerichtet. Überall Schützengraben, Drahtverhaue, Geschützstellungen, oben auf den Bergen sieht man die Trümmer der Forts, hinter
P[rzemysl] liegt ein ganz zerschossenes Außenwerk gleich neben der Bahn. P[rzemysl]
ist sehr hübsch gelegen, viele Juden.“46
Besonders irritierend wurde es für die Soldaten, wenn sich die Friedens- mit den
Kriegslandschaften durchmischten: „Inzwischen ist Frühling geworden. Zwischen den
beiden Schwarmlinien bestellten die Bauern von Kistnaima das Feld, es wurde gepflügt
und gesät, kein Schuss störte sie dabei, kaum war das Feld vom Bauersmann verlassen,
wurden die üblichen Schüsse gewechselt. Am Ostersonntag früh verließen einige Russen mit einem Off[izier] gegenüber der 1. Komp[anie] den Schützengraben und kamen
in friedlicher Absicht ohne Waffen näher. […] Da kam vom [Brigade Kommando] der
Befehl, schnell in Deckung zu gehen, zur Bekräftigung dieses Befehls begann die Artillerie mit ihrer ehernen Sprache zu wirken. Der Osterfriede war gebrochen, der Krieg
nahm seinen Fortgang.“47
Die „Richtung“ der Kriegslandschaft war auch in den untersuchten Tagebüchern
ein wesentlicher Aspekt der Beschreibungen, etwa bei Alois Prokosch im August
1914: „Neuerlich stürmten wir vor, ich verschob mich auftragsgemäß nach links, bekam starkes Infanteriefeuer, die Geschosse pfiffen am Kopfe vorbei. Meine Schützenschnur wurde abgeschossen, ein Schuss durch die Mütze und einen Treffer in die
Patronentasche bekam ich ab.“48 Auch beim Tiroler Kaiserjäger Peter Paul Greinhofer
kommt die Vor-zurück-Orientierung deutlich zum Ausdruck: „Ich und 9 andere von
meinem Zug hingen 200 Schritte vor dem Draht in einem Loch gesund u[nd] gedeckt,
aber unsere Artillerie beschießt uns selbst, also entweder zurück in den Wald oder
hier sterben. Wir entschlossen uns zurück zu laufen, einer probiert’s, kaum ist er aus
der Deckung, ist er auch schon tot. So geht es fort, von allen 9 kommen 4 zurück, die
anderen tot. Das war ein trauriges Sammeln abends. Für den nächsten Tag ist wieder
Sturm befohlen, es ist alles umsonst.“49 Und einige Seiten später: „Doch kaum sind wir
aus dem Laufgraben heraus, überschütten sie uns mit einem solchen Schrapnellfeuer,
wie ich es noch nie gesehen habe. Wir springen in den Wald. Dort von Baum zu Baum,
halbwegs Deckung suchend. Wie wir aus diesem Wald heraus gekommen sind, kann
ich heute nicht begreifen und glauben. Wenn ich im Hinterlande meine Schilderung
geben würde, die halbwegs der Wirklichkeit entsprechen würde, würde man ungläubig
den Kopf schütteln. Ich glaube, dass in der kurzen Strecke von beiläufig 800 bis 1000
Schritt, die wir im Laufschritt zurücklegten, mindestens 150 Schrapnells und einige
Granaten über uns explodiert sind.“50 Greinhofer sprach hier gleich mehrere relevante
46
47
48
49
50
Anton Derka, Aus meiner Militärzeit! Im Grossen Weltkrieg!, S. 14f.
Tagebuch von Alois Prokosch, Bd. 3, S. 276–278.
Ebd., Bd. 1, S. 35.
Tagebuch von Peter Paul Greinhofer, S. 13.
Ebd., S. 42f.
„Ganz in den Rahmen dieses Bildes hinein passt auch die Bevölkerung“
Aspekte an: Zum einen betonte er die Distanz zwischen Front und Heimatfront, die
Irrealität in dieser Gefahr zu überleben; zum anderen folgte er auch der Interpretation
Lewins, dass in der Kriegslandschaft alle Dinge zu Kriegsdingen werden – in seinem
Fall verloren die Bäume ihre Funktion und wurden zur Deckung, um dem Schrapnellfeuer zu entkommen.
Wie schon in den vorangegangenen Zitaten anklang, war vor allem der Verlust der
Gefahr-Orientierung ein Problem für die Soldaten. Sie konnten der Bedrohung schlicht
nicht ausweichen.51 Wenn sie nicht nur von der „gewohnten“ Richtung (von vorne) Gefahr erwarteten, sondern auch von anderen Richtungen, verstärkte sich diese Hilflosigkeit noch: „Einige Meter um uns schlagen 8 bis 10 Granaten und 40 bis 50 Schrapnell
ein, ein ekelhaftes Gefühl sich nicht wehren zu können.“52 Alois Prokop dazu: „[…] rund
herum spürte ich Geschoßeinschläge und dachte[,] mein Ende sei gekommen, dachte[,] wenn ich mich doch dagegen wehren könnte! Über meine Wangen floss Blut, –
wie sich später herausstellte von einem getroffenen Kameraden, der als erster auf mir
lag.“53 Manch ehrgeiziger junger Offizier erhoffte sich durch tapferes Verhalten in verwirrenden Situationen, wie etwa Trommelfeuer, eine Auszeichnung zu bekommen. Sie
betonten dies auch explizit in ihren privaten Aufzeichnungen: „Somit aber machte das
Trommelfeuer auf mich eigentlich keinen Eindruck und nur einmal duckte ich mich, als
einmal am Wege vom Telephon die Geschoße unmittelbar aufeinander folgten und als
Sperrfeuer ganz nahe einschlug. […] Die Mannschaft hielt sich tadellos und eigentlich
verdiente jeder Mann eine Dekoration. Ob der Rittmeister mich wohl zur Dekoration
eingeben würde? Ich hoffe es, es wäre mir das schönste Andenken an diese Zeit.“54
Neben der Artillerie – die sowohl den Raum unter der Erdoberfläche, als auch jenen
darüber beherrschte – fügte insbesondere die Eroberung des Luftraumes durch Flugzeuge eine neue räumliche Dimension der Kriegserfahrung hinzu. Teofil Reiss beschrieb
etwa wie ein „Fliegerangriff“ am 27. Juni 1915 ihn in Angst und Schrecken versetzte:
„Während ich geschlafen habe[,] sind russische Flieger gekommen[, haben] den Bahnhof mit Bomben beworfen, als ich aufwachte[,] hat der Wagon bereits gebrannt; bin
davon gelaufen […] es war ein schrecklicher Anblick. Tote und Verwundete, ein Gejammer und Geschrei, man wusste nicht, wo sich zu verstecken. 24 Waggon Munition sind
in [die] Luft geflogen.“55
Dabei nahm die Gefahr von „oben“ aber nicht nur eine physische, sondern allein
durch ihre Existenz auch als Mittel zur propagandistischen Beeinflussung eine psychologisch wichtige Rolle ein: „Ein russ[ischer] Flieger warf Flugzettel ab, mit der Mitteilung, daß die Festung Przemysl gefallen sei, was uns alle arg bedrückte, hofften wir
doch immer, dass wir in ein paar Wochen wieder zum Entsatze antreten würden.“56 Wie
außergewöhnlich gerade an der Ostfront Flugzeugsichtungen bis zum Ende der Kampf51
52
53
54
55
56
Anton Derka, Aus meiner Militärzeit! Im Grossen Weltkrieg!
Tagebuch von Peter Paul Greinhofer, S. 19.
Tagebuch von Alois Prokosch, Bd. 1, S. 27.
Tagebuchaufzeichnungen von Gottfried Klein, 1916–1917, Bd. 1, S. 94.
Tagebuch von Teofil Reiss, Eintrag vom 27.6.1915.
Tagebuch von Alois Prokosch, Bd. 3, S. 273.
41
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Wolfram Dornik
handlungen 1917 waren, wird dadurch unterstrichen, dass die Soldaten jede Flugzeugsichtung, auch wenn es sich lediglich um einen Überflug ohne Aktion handelte, dokumentierten.
Conclusio
Die untersuchten Tagebücher und Notizen zeigen, dass sie ihren Urhebern halfen, die
Erfahrungen der Ausnahmesituation, in der sie sich befanden, zu strukturieren und für
sich und ihre Nachwelt zu sichern. Dimensionen der Raumdehnung (Distanzen) kamen
genauso wie jene der Raumkomprimierung („heimelig“ machen) zum Ausdruck und
hingen von den individuellen Rahmenbedingungen des Einsatzes ab. Die in den Interpretationen zum Ausdruck gebrachten Tendenzen können aber in einer qualitativen Studie nur bedingt kollektive Trends aufzeigen. So waren negative Interpretationen von
Raum und lokaler Kultur genauso zu finden wie interessiertes und fasziniertes Entdecken. Allen Texten gemein ist aber, dass Raum und Bewohner mit ihrer lokalen Kultur
in Bezug gesetzt wurden, wie dies im Zitat von Bruckner – „Ganz in den Rahmen dieses
Bildes hinein passt die Bevölkerung“ – besonders pointiert zum Ausdruck kommt.
Subkutan lassen die Autoren aber durchwegs einen hegemonialen Raumbezug
erkennen, egal ob es sich um „eignes“ – das heißt österreichisch-ungarisches – oder
„feindliches“ – das heißt russisches – Territorium handelte.57 Die große Distanz zu ihrem
gewohnten kulturellen Umfeld („Heimat“), die Erfahrung der Fremdheit sowohl in der
„fremden“ Landschaft als auch der „fremden“ Kultur verstärkten diesen hegemonialen,
ja kolonialen Blick. Die zentrale Frage ist, ob diese Perspektive eine an die deutschsprachige Herkunft der Soldaten geknüpfte ist, oder auch darüber hinausgehende „hegemoniale“ Identitätsgruppen der Habsburgermonarchie betraf – etwa die ungarische, polnische etc. Diese Frage ist derzeit noch als Desiderat zu bezeichnen und muss in weiteren,
transnationalen Forschungsprojekten noch eingehender untersucht werden.
Dass die Ostfront als weniger bedrohlich als etwa die Isonzo- oder Westfront, die
lokale Kultur als fremd, wenn nicht minderwertig und der Krieg als Bewegungskrieg
erfahren wurden, lässt die Frage aufkommen, ob diese Kriegserfahrung nicht dazu
führte, dass es insbesondere der „Lebensraum im Osten“ war, der in den politischen
Diskurs der Zwischenkriegszeit zum zentralen Bezugspunkt wurde. Denn, da es sich
bei den untersuchten Quellen überwiegend um solche aus den westlichen Kronländern
handelte, ist auch klar, warum sie so von Diskursen der Fremdheit geprägt sind. Auch
wenn die Beschreibungen der Soldaten habsburgischen „Boden“ betrafen, so war ihnen sowohl Raum als auch vorherrschende Kultur genauso fremd wie auf russischem
Territorium. Wir können die Dokumente deshalb auch als Ausdruck eines spezifischen
Blicks deutschsprachiger Subjekte Kakaniens auf Osteuropa interpretieren, der bereits
eine Entfremdung innerhalb der österreichisch-ungarischen Gesellschaft zum Ausdruck
brachte.
57 Siehe dazu insbesondere die postkolonialen Einflüsse auf die Raumtheorie: Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 292–297.
„Ganz in den Rahmen dieses Bildes hinein passt auch die Bevölkerung“
Am Ende dieser ersten Analyse der Raumwahrnehmung in Ad-hoc-Aufzeichnungen
von deutschsprachigen Soldaten Kakaniens können wir, frei nach Stephen Kern, sagen, dass diese für sie „umfassend, universell und essentiell“58 war. Raum – sowohl
mit seinen physiologischen als auch mit seinen interpretativen Dimensionen – stellte
damit eines der zentralen Bezugssysteme der Tagebücher und Notizen dar und prägte
auch ihre Erinnerung an ihre Erfahrungen nach 1918. Zur Überprüfung, inwiefern und
in Form welcher Muster aus der historischen Erfahrung zeitgenössische Diskurse um
die „kulturelle Perzeption Osteuropas“ stattgefunden haben, müssen noch eingehendere
individual- und kollektivbiografische Studien erfolgen. Auch die Analyse, ob und wie
diese Erfahrungen Eingang in die veröffentlichten Diskurse fanden – etwa über Veteranen-Vereine und ihre Organe, die Arbeit von Kriegsteilnehmern als Journalisten in
der Nachkriegszeit oder durch Aufnahme dieser Bilder in die hegemonialen IdeologieDiskurse – steht noch aus.
58 Kern, The Culture of Time and Space, S. 2.
43
Tapfer, zäh und schlecht geführt
Kriegserfahrungen österreichisch-ungarischer Offiziere mit den russischen
Gegnern 1914–19171
Martin Schmitz
In einem Punkt waren sich die herausragenden Repräsentanten habsburgischer Militärmacht im ausgehenden „langen 19. Jahrhundert“ einig: Weder Erzherzog Albrecht
noch die beiden prägenden Generalstabschefs Österreich-Ungarns, Friedrich Graf BeckRzikowsky sowie Franz Conrad von Hötzendorf, konnten der Perspektive eines möglichen Krieges mit dem machtpolitischen Rivalen Russland viel abgewinnen. Während
Albrecht bereits 1872 darüber spottete, dass bei einem möglichen Konflikt der Donaumonarchie mit dem Zarenreich außer „generationenlanger Feindschaft dieses aufstrebenden Kolosses nichts zu holen“ sei,2 postulierte Beck acht Jahre später, dass selbst
der „glücklichste Ausgang eines Krieges mit Russland“ für das Habsburgerreich mit
„derart großen Nachteilen“ verbunden sei, dass man sich wünschen würde, dieser wäre
nie ausgebrochen.3 Auch für Conrad, der als Nachfolger Becks tatsächlich den Kriegszustand Österreich-Ungarns mit dem Reich der Romanows erlebte, stellte der „Kriegsfall
R[ussland]“ am Vorabend des „Großen Krieges“ ein Albtraumszenario dar. Die Ursachen für diese ablehnende Haltung waren von 1872 bis 1914 die gleichen geblieben:
Zu zahlreich schienen die Streitkräfte des Zaren, zu übermächtig dessen militärische
Ressourcen, zu gering die eigenen, weitaus bescheideneren Mittel, die man mobilisieren
konnte.4
1
2
3
4
Dieser Aufsatz basiert auf Teilergebnissen meiner im Dezember 2012 an der Universität Augsburg
eingereichten und von Prof. Dr. Günther Kronenbitter betreuten Dissertation „Als ob die Welt aus den
Fugen ginge“. Kriegserfahrungen österreichisch-ungarischer Offiziere im Ersten Weltkrieg.
Zitiert nach Matthias Stickler, Erzherzog Albrecht von Österreich. Selbstverständnis und Politik eines konservativen Habsburgers im Zeitalter Franz Josephs. Husum 1997, S. 399. Vgl. auch: Lothar
Höbelt, Kein Bismarck und kein Moltke: Regierung, Militär und Außenpolitik in Österreich-Ungarn
1860 bis 1890, in: Das Militär und der Aufbruch in die Moderne 1860 bis 1890. Armeen, Marinen
und der Wandel von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in Europa, den USA sowie Japan. Im Auftrag
des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes und der Otto-von-Bismarck-Stiftung herausgegeben von
Michael Epkenhans und Gerhard P. Groß. München 2003, S. 75–92, hier: S. 88.
Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv (ÖStA, KA), OpB 1 Beck: „Anträge zur Vorbereitung der
Mobilmachung und des strategischen Aufmarsches der Armee“, 7.12.1880, zitiert nach Höbelt, Kein
Bismarck und kein Moltke, S. 88.
Vgl. Günther Kronenbitter, The German and Austro-Hungarian General Staffs and their Reflections
on an „Impossible“ War, in: Holger Afflerbach – David Stevenson (Hg.), An Improbable War? The
46
Martin Schmitz
Angesichts dieser wenig ermutigenden Aussichten war es nur konsequent, dass Conrad Präventivkriege gegen die südlichen Nachbarn bevorzugte: Erstens fühlte man sich
sowohl Italien als auch Serbien gegenüber militärisch überlegen, zweitens waren die
Interessengegensätze der Habsburgermonarchie mit diesen Staaten wesentlich virulenter
als diejenigen, die man mit St. Petersburg wegen Galizien auszufechten hatte.5 Allerdings reduzierten sich im Verlauf der Zeit auch die Siegchancen gegen die südlichen
„Lieblingsfeinde“, da diese ihre Rüstungsanstrengungen weiter verstärkten; zudem wurde es wegen der machtpolitischen Großwetterlage von Jahr zu Jahr wahrscheinlicher,
dass Österreich-Ungarn im Kriegsfall einen Mehrfrontenkrieg führen musste: Die Kombination der Kriegsfälle „R“, „I[talien]“ und „B[alkan]“ stand deshalb immer mehr im
Mittelpunkt der Planungen des Generalstabes und bereitete diesem schlaflose Nächte.6
Bedeutsam war zudem, dass ein Einfrontenkrieg nach dem Beginn des Aufmarsches der
k.u.k. Verbände in einen Mehrfrontenkrieg umschlagen konnte.7 Dieses Szenario war
vor allem hinsichtlich eines militärischen Konfliktes mit Serbien wahrscheinlich, der
nach Conrad „stets in Verbindung mit einem Krieg“ gegen das Zarenreich „zu denken
war“.8
In diesem Fall sah der Operationsplan des Generalstabes vor, gegenüber dem SaveKönigreich nur die sogenannte „Minimalgruppe B“ zu belassen, gegen Russland jedoch
das Gros der eigenen Truppen einzusetzen, was rund 40 Infanterie- und elf Kavalleriedivisionen entsprach. Die geplante Schwerpunktsetzung war aus mehreren Gründen
naheliegend: Zum einen stellte das Zarenreich den bei Weitem gefährlichsten Gegner
Österreich-Ungarns dar, der den eigenen Verbänden im Kriegsfall trotz deren Massierung in Galizien zahlenmäßig deutlich überlegen sein würde. Um eine halbwegs realistische Erfolgschance zu besitzen, benötigte man demnach buchstäblich jeden verfügbaren
Mann an der Nordostfront; aber auch deshalb, weil Conrad sich gegenüber dem deutschen Generalstabschef Helmuth von Moltke dazu bereit erklärte, den Krieg trotz der
materiellen und numerischen Unterlegenheit gegen Russland von Beginn an offensiv
zu führen. Dadurch sollte der deutsche Verbündete, der an seiner östlichen Grenze nur
die in Ostpreußen stehende 8. Armee sowie ein Landwehrkorps einzusetzen gedachte,
entlastet werden, sodass dieser wiederum seine Hauptmacht gegen Frankreich verwenden konnte. Nach dem erwarteten Sieg der Deutschen im Westen sollten dann wiederum
„namhafte […] Kräfte nach dem Osten transportiert und zur gemeinsamen großen Aktion
gegen Russland eingesetzt“ werden.9 Während die Generalstabschefs der Zweibundstaa-
5
6
7
8
9
Outbreak of World War I and European Culture before 1914. Oxford – New York 2007, S. 149–158,
hier: S. 153.
Vgl. dazu Klaus Bachmann, Ein Herd der Feindschaft gegen Russland. Galizien als Krisenherd in den
Beziehungen der Donaumonarchie mit Rußland (1907–1914). Wien u.a. 2001.
Vgl. Günther Kronenbitter, „Krieg im Frieden“. Die Führung der k.u.k. Armee und die Großmachtpolitik Österreich-Ungarns 1906–1914. München 2003, S. 115.
Günther Kronenbitter, Die militärische Planung der k.u.k. Armee und der Schlieffenplan, in: Hans
Ehlert – Michael Epkenhans – Gerhard P. Groß (Hg.), Der Schlieffenplan. Analyse und Dokumente.
München 2006, S. 205–220, hier: S. 208.
Franz Conrad von Hötzendorf, Aus meiner Dienstzeit (im Folgenden als „AmD“ abgekürzt), Bd. 4.
Wien u.a. 1921 bis 1925, S. 281.
Ebd., S. 280.
Tapfer, zäh und schlecht geführt
ten also eine grundsätzliche Einigung über die grobe Kriegsplanung erzielten, blieben
zentrale Details der Absprachen bis zum Ausbruch des „Großen Krieges“ unklar. Conrad
folgend wurde ihm von Moltkes Oberquartiermeister I, Alfred Graf von Waldersee, zugesagt, dass die in Ostpreußen stehenden deutschen Truppen eine Entlastungsoffensive
nordöstlich an Warschau vorbei in Richtung Siedlice durchführen würden.10 Da der Angriff ausblieb und die deutsche Seite vehement ein solches Versprechen bestritt, kam es
in der Zwischenkriegszeit zu einer publizistischen Kontroverse.11 Die Unsicherheiten in
den Absprachen mit dem Hauptverbündeten in Kombination mit der undankbaren Rolle,
welche die habsburgischen Truppen zu Kriegsbeginn in Galizien übernehmen sollten,
stellten allerdings nicht die einzigen Probleme dar, mit denen sich der k.u.k. Generalstab
in Bezug auf einen möglichen Fall „R“ auseinandersetzen musste.
Russische Spionage
Erschwerend kam noch hinzu, dass das Zarenreich über einen exzellenten Spionagedienst verfügte, dem es in den letzten Vorkriegsjahren immer öfter gelang, brisante Informationen über die Kriegsplanung der Donaumonarchie zu beschaffen. Diese Erfolge
basierten in erster Linie auf der geschickten Anwerbepolitik der umtriebigen Militärattachés Mitrofan Konstatinowitsch Martschenko und Michail Ipolitowitsch Zankiewitsch,
denen es gelang, k.u.k. Offiziere als Informanten zu gewinnen,12 unter anderem auch den
ehemaligen Vize-Chef des Evidenzbüros, Oberst Alfred Redl.13 Letzterer verkaufte sowohl die Mobilisierungsanweisungen als auch die Aufmarschpläne des Generalstabes an
das Zarenreich, wobei allerdings nach wie vor umstritten ist, wie hoch der Informationsgehalt der verratenen Interna tatsächlich war.14 Auch wenn mehr Gründe dafür sprechen,
dass die von Redl verratenen Informationen „keinen entscheidenden Wert besaßen“,15
so war dessen Enttarnung im Jahr 1913 für die Kriegserwartung der habsburgischen
Militärelite dennoch von großer Bedeutung, denn diese wurde in ihrer Ansicht bestärkt,
dass das Reich der Romanows einen zukünftigen Krieg gegen die Monarchie von langer
Hand und mit allen Mitteln vorbereitete. Besorgniserregend schien vor allem, dass Russland es nicht allein bei der Spionage in den Machtzentren Österreich-Ungarns beließ,
sondern auch alles dafür tat, um in Galizien, dem wichtigsten Aufmarschraum der k.u.k.
Armee, ein engmaschiges Konfidentennetz aufzubauen. Insbesondere die dort lebende
„ruthenische“ Bevölkerungsgruppe verdächtigte die Armeeführung des Verrats: Wegen
ihrer kulturellen Nähe zu Russland und der unbefriedigenden ökonomischen Situation
10 Vgl. ebd., S. 282; Kronenbitter, Die militärische Planung der k.u.k. Armee und der Schlieffenplan,
S. 219.
11 Vgl. dazu ausführlich: Martin Schmitz, Verrat am Waffenbruder? Die Siedlice-Kontroverse im Spannungsfeld von Kriegsgeschichte und Geschichtspolitik, in: MGZ, Nr. 67/2, 2008, Der Erste Weltkrieg,
S. 385–407.
12 Vgl. Kronenbitter, Krieg im Frieden, S. 236.
13 Vgl. ausführlich zu Redls Tätigkeit und Enttarnung: Verena Moritz – Hannes Leidinger, Oberst Redl.
Der Spionagefall, der Skandal, die Fakten. St. Pölten 2012.
14 Kronenbitter, Krieg im Frieden, S. 236f.
15 Ebd., S. 237.
47
48
Martin Schmitz
boten sich dort der zarischen Auslandsspionage – so der Tenor in Generalstab, Kriegsministerium und Generalität – vermeintlich besonders günstige Bedingungen der Anwerbung. Der stets skeptische Conrad warnte deshalb bereits 1911 in einer Denkschrift
vor der „Wühlarbeit Rußlands in den slawischen Gebieten der Monarchie“, die in erster
Linie auf die „Gewinnung des ruthenischen Elements“ abziele.16
Conrad und seine Mitstreiter verfolgten die Situation in Galizien nervös, überschätzten aber bei Weitem die Erfolge der zarischen Werbearbeit. Nach Meinung August
Urbańskis von Ostrymiecz, dem langjährigen Leiter des k.u.k. Evidenzbüros,17 wurde
die Donaumonarchie sogar in der Zeit vor 1914 regelrecht mit feindlichen Agenten
„überflutet“.18 Diese bedrohliche Entwicklung war nach Meinung der Armeeführung
sowohl auf die russische Spionage als auch auf die Passivität der zivilen Verwaltung
zurückzuführen, der es nicht gelungen sei, die „Unterwanderung“ Galiziens zu stoppen. Moritz von Auffenberg, der im Sommer 1914 die dort operierende 4. Armee kommandierte, klagte noch in seinen Memoiren über Feinde „in Nord und Süd, in Ost und
West und schließlich auch in den eigenen Reihen, die ein unendlich großzügiger Feind
geweckt und eine unendlich unkluge eigene Politik gestützt hatte“.19 Maximilian Ronge, Chef der Nachrichtenabteilung des Armeeoberkommandos (AOK) im Weltkrieg,
warf den „galizischen Behörden“ wiederum vor, das Erstarken der „Moskauphilie“ erst
„durch ihre jahrelange Blindheit und Duldung“ ermöglicht zu haben.20
Die Überzeugung vieler hochrangiger Truppenführer, dass die als schwächlich
empfundene Zivilverwaltung der „russophilen“ Verseuchung in der Zeit vor 1914 nicht
entschieden genug entgegentrat, hatte weitreichende Konsequenzen für den Umgang
der k.u.k. Armee mit der eigenen ruthenischen Bevölkerung nach Kriegsbeginn: Bereits unmittelbar nach Eröffnung der Feindseligkeiten kam es zu zahlreichen Übergriffen österreichisch-ungarischer Einheiten auf diese Bevölkerungsgruppe, die vorrangig
auf die Erwartung zurückzuführen waren, dass dieser „innere Feind“ mit dem äußeren
Feind Russland zusammenarbeiten und die Kriegsanstrengungen der Donaumonarchie
hintertreiben würde. Wie weit verbreitet die Vorstellung vom „ruthenischen Verrat“ im
Offizierskorps des Habsburgerreiches war, geht unter anderem aus der Korrespondenz
von Feldmarschallleutnant Vladimir Giesl von Gieslingen hervor, der Ende August
1914 „nach den Erfahrungen der letzten Wochen“ zutiefst davon überzeugt war, dass
„das ruth. Volk in seiner Masse entschieden russophil denkt und dann, wenn ihm hiezu
Gelegenheit geboten wird, zu Gunsten der Russen und gegen uns handelt“.21 Der Artillerieoffizier Constantin Schneider erinnerte sich rückblickend daran, dass „in allen
16 Conrad, AmD, Bd. 2, Denkschrift vom 15.11.1911, S. 438f.
17 Vgl. ausführlich zum österreichisch-ungarischen Nachrichtendienst Albert Pethö, Agenten für den
Doppeladler. Österreich-Ungarns Geheimer Dienst im Weltkrieg. Graz u.a. 2008.
18 Vgl. August Urbański von Ostrymiecz, Spionage und Gegenspionage bei den Mittelmächten vor dem
Weltkriege, in: Paul von Lettow-Vorbeck (Hg.), Die Weltkriegsspionage. München 1931, S. 62–76,
hier: S. 73.
19 Moritz von Auffenberg, Aus Österreich-Ungarns Teilnahme am Weltkrieg. Wien u.a. 1920, S. 61.
20 Maximilian Ronge, Kriegs- und Industriespionage. Zwölf Jahre Kundschaftsdienst. Wien u.a. 1930, S.
174.
21 Gisl an AOK, 31.8.1914, in: Theophil Hornykiewicz (Hg.), Ereignisse in der Ukraine. Philadelphia
1968, Bd. 1, S. 21.
Tapfer, zäh und schlecht geführt
Winkeln der Verrat lauerte. Es mußten Schulen, ja förmliche Hochschulen eingerichtet
worden sein, um die Bevölkerung von Galizien und des anschließenden russischen
Grenzlandes in allen Systemen der Signalisierung und über das Wesen der Spionage
zu unterweisen. Jeder Mensch signalisierte, Kinder, Greise und Frauen, und mit allen Mitteln wurde gearbeitet: mit verborgenen unterirdischen Telefonleitungen, mit
Windflügeln, mit aufgehängten Wäschestücken, mit weidendem Vieh, mit offenen und
geschlossenen Fensterläden […] Nun begann unsererseits frühzeitig ein Kampf, um
dieses Netz zu zerreißen, das uns zu fangen versuchte und allen Heldenmut der Truppe
zuschanden machte. Unsere Verluste waren schwer, schwerer, als es notwendig war –
eine Wirkung der Spionage.“22 Wie sich die österreichisch-ungarische Armeeführung
die Organisation und Durchführung des gegnerischen Kundschaftsdienstes vorstellte,
geht aus der Studie „Russischer Spionagedienst und dessen Abwehr“ hervor: Die „Beobachtung militärischer Vorgänge in u[nd] hinter der Kampffront“ sowie die „Aufreizung der Bevölkerung im Hinterland“ stellten demnach die wichtigsten Aufträge der
zarischen Agenten dar.23 Um letztgenanntes Ziel zu erreichen, sollte insbesondere auf
die „Verbreitung von aufreizenden Flugschriften“ und auf die „Bedrohung der Bevölkerung“ zurückgegriffen werden.24 Um die Zahl möglicher Informanten zu erhöhen,
sollten zudem „freiwillige oder gezwungene Mitarbeiter in allen Ständen u. Berufen“ sowie „Kinderspione“ rekrutiert werden. Unter Letzteren seien „moralisch total
verdorbene Buben und Mädchen (11-jährige Prostituierte!), meist Waisenkinder; stets
ärmlich gekleidet“ zu verstehen, die „sich durchbetteln u. versuchen insbesonders bei
Trains unterzukommen“.25
Um dieses vermeintlich undurchdringliche Spionagenetz zu zerschlagen, das die
ohnehin problematische Situation der k.u.k. Truppen an der Nordostfront scheinbar
noch verkomplizierte, sollten die österreichisch-ungarischen Verbände auf Befehl der
Armeeführung mit äußerster Brutalität gegen Verdächtige vorgehen: „Wo die Gefahr
verräterischer Umtriebe seitens der Bevölkerung besteht“, müsse, so Erzherzog Friedrich, „diese strengstens überwacht und gegen schuldige Individuen, eventuell ganze
Gemeinden mit der größten Energie und Rücksichtslosigkeit eingeschritten werden.“26
Dieses Vorgehen schien alternativlos, da der ruthenischen Bevölkerung nicht nur die
Kooperation mit dem Gegner vorgeworfen wurde, sondern auch die aktive Beteiligung
an Kämpfen. Nach Meinung Feldmarschallleutnant Joseph Roths, die als durchaus
repräsentativ für die Stimmung im Offizierskorps angesehen werden kann, mussten
sich die schwarz-gelben Truppen nicht nur den Angriffen der regulären russischen
Verbände erwehren, sondern sie standen zudem „im Kampfe mit einem hinterlistigen,
grausamen Mordlande. Man wird fast ein Narr, in jeder Ortschaft schiessen [sic!] die
22 Constantin Schneider, Die Kriegserinnerungen 1914–1919. Eingeleitet, kommentiert und herausgegeben von Oskar Dohle. Wien 2003, S. 71.
23 ÖStA, KA, AdTK Nr. 1878: „Russischer Spionagedienst und dessen Abwehr“, undatiert, entstanden
vermutlich Anfang 1915.
24Ebd.
25Ebd.
26 ÖStA, KA, NFA, Gefechtsberichte, Karton 1877: Erzherzog Friedrich, „Erfahrungen aus den bisherigen Kämpfen“, 28.9.1914.
49
50
Martin Schmitz
Bauern von hinten auf unsere Soldaten; wer erwischt wird, muss kriegsgerichtlich
behandelt werden.“27
Auch wenn nicht gänzlich bestritten werden kann, dass die ruthenische Bevölkerung
tatsächlich in einigen Fällen die russischen Truppen unterstützte,28 waren die pauschalen
Vorwürfe der Illoyalität und die damit einhergehenden Verhaftungen und Hinrichtungen
nicht zu rechtfertigen. Selbst innerhalb des k.u.k. Offizierskorps wurden die Übergriffe mehr und mehr kritisiert, da deren Willkürlichkeit zu Widerspruch herausforderte.29
Selbst Conrad, der in der Nachkriegszeit die „teils tendenziöse, teils weichherzige Entrüstung“ verurteilte, „die das Leben kompromittierter Verräter höher einschätzte, als jenes der für Kaiser und Reich kämpfenden Soldaten“,30 reagierte während des Krieges
durchaus auf die vom AOK selbst geschürten, übertriebenen Ängste vor dem „ruthenische Verrat“ und deren verhängnisvollen Folgen. Nachdem es den Mittelmächten infolge
der erfolgreichen Sommeroffensive 1915 gelungen war, Galizien zurückzuerobern, gab
das AOK eine Belehrung an die Truppe heraus, mit deren Hilfe künftig die „unrichtige
Behandlung eigener Staatsangehöriger“ verhindert werden sollte.31 Letztere war nach
Meinung des Generalstabes vor allem auf „die Unorientiertheit der Truppe bezüglich
der politischen Zugehörigkeit und Gesinnung der in Mittel- und Ostgalizien […] der Bukowina, sowie in Südwestrussland lebenden Bevölkerung“ zurückzuführen.32 Deshalb
sollte nun jeder österreichisch-ungarische Soldat darüber informiert werden, „dass es
absolut falsch wäre, jeden Ruthenen im Voraus als Verräter anzusehen“.33 Zudem müsse den eigenen „anderssprachigen Soldaten von Seiten aller Offiziere ans Herz gelegt
werden, dass sie Galizien nicht als Fremdes Land anzusehen hätten, sondern dass sie der
dort lebenden staatstreuen Bevölkerung wie immer möglichst freundlich entgegenkommen sollen. Unmotiviertes rücksichtsloses Vorgehen unserer anderssprachigen Truppen
könnte wohl leicht dazu führen, dass die erwähnte Bevölkerung in unserem Soldaten
leicht den Feind, in dem ihr sprach- und stammverwandten Kosaken den Erlöser sehen
könnte.“34 Der Versuch des AOK, die Übergriffe der Truppe auf die ruthenische Bevölkerung zu verhindern, basierte also auf der Erkenntnis, dass sich die bislang praktizierten, meist willkürlichen Vergeltungsmaßnahmen als kontraproduktiv herausgestellt
hatten: Die ungerechte Bestrafung förderte eher die Zusammenarbeit der Ruthenen mit
27 ÖStA, KA, B/14, Nr. 15: FMLt. Joseph Roth, undatierter Brief, verfasst wahrscheinlich im August/
September 1914, in: Soldat und Mensch. Roth-Limanowa. Ein Lebensbild für Jugend, Volk und Heer,
unveröffentlichtes Manuskript, Verfasser unbekannt.
28 Vgl. Alexej A. Brussliov, Meine Kriegserinnerungen. Berlin-Ost 1988, S. 129.
29 Vgl. etwa die kritischen Tagebuchaufzeichnungen des späteren Wehrmachtsgenerals Mauritz von
Wiktorin: ÖStA, KA, B/1191, Nr. 7: Tagebucheinträge Wiktorins vom 1.9.1914, 11.9.1914. Vgl. diesbezüglich auch die Memoiren von Glaise von Horstenau: Peter Broucek (Hg.), General im Zwielicht.
Die Erinnerungen Edmund Glaises von Horstenau, Bd. 1, Generalsstabsoffizier und Historiker. Wien
u.a. 1980, S. 290 und 314.
30 Conrad, AmD, Bd. 2, S. 23.
31 Hornykiewicz (Hg.), Ereignisse in der Ukraine, Bd. 1, S. 53: k.u.k. AOK an k.u.k. EOK, 20. Juli 1915,
„Belehrung der Truppe über die ukrain. Nationalität und Anhaltspunkte für das Verhalten der Truppe
auf den von den Ukrainern bewohnten Kriegsschauplätzen.“
32Ebd.
33 Ebd., S. 54. Hervorhebung im Original.
34 Ebd., Hervorhebung im Original.
Tapfer, zäh und schlecht geführt
dem Zarenreich, anstatt diese zu verhindern. Da die russische Militäradministration, so
Eduard Böhm-Ermolli, Kommandant der k.u.k. 2. Armee, während der mehrmonatigen
Besetzung Galiziens der einheimischen Bevölkerung „mit allen Mitteln zu beweisen
versucht“ habe, „dass es unter Russlands Regime selbst in Kriegszeiten besser zu leben
sei als in Österreich im Frieden“,35 bestand sogar langfristig die Gefahr, die ruthenische
Bevölkerung zur Gänze in die Arme des Zarenreiches zu treiben, wenn nicht eine spürbare Verbesserung in deren Verhältnis zur k.u.k. Armee herbeigeführt wurde. Dies war
auch deshalb so wichtig, weil sich die russischen Streitkräfte im ersten Kriegsjahr als
überaus kampfstark erwiesen hatten und deshalb ein erneuter Verlust Galiziens vonseiten des k.u.k. Generalstabes nicht ausgeschlossen werden konnte. In einem solchen Falle
drohte schließlich endgültig die Abwendung der Ruthenen von der Donaumonarchie.
Einschätzung der Leistungsfähigkeit der russischen Armee
Bis in die Gegenwart ist in Forschungsarbeiten zum Ersten Weltkrieg die Behauptung
zu finden, dass die k.u.k. Truppen im Herbst 1914 ihren russischen Gegnern nicht nur
numerisch, sondern auch taktisch unterlegen gewesen seien.36 Die diesbezügliche Inferiorität sei vor allem darauf zurückzuführen gewesen, dass sich Conrad geweigert habe,
den Erfahrungen des russisch-japanischen Krieges Tribut zu zollen.37 Im Gegensatz zu
den habsburgischen hätten die zarischen Streitkräfte dagegen die richtigen Lehren aus
der Niederlage in Ostasien gezogen, was ihnen zu Beginn des „Great War“ entscheidende Vorteile gebracht habe. Um die Stichhaltigkeit dieser These zu überprüfen, bietet
sich eine Analyse der Kriegserfahrungen an, die österreichisch-ungarische Offiziere im
Kampf mit den russischen Gegnern machten. Um die Antwort gleich vorweg zu geben:
Zwar vertrat die Mehrheit der k.u.k. Truppenführer durchaus die Meinung, dass die russischen Truppen in den ersten Kriegsmonaten in einigen Bereichen überlegen waren,
dies bedeutete allerdings nicht, dass man sich dem Gegner grundsätzlich taktisch unterlegen fühlte.
Dessen große Stärke lag nach Meinung der Offiziere in erster Linie in der Verteidigung. In der vom k.u.k. Kriegsministerium herausgegebenen und die Ergebnisse der
ersten Kriegsmonate zusammenfassenden Studie „Kriegserfahrungen und Folgerungen
für die Ausbildung“ wurde ausdrücklich auf „das Geschick“ der Russen aufmerksam gemacht, „das Terrain in der Verteidigung vortrefflich zu verwerten, sich zweckmäßig und
mit gegenseitiger Flankierung einzugraben“ und die „starke Artillerie dazu zu benützen,
35 ÖStA, KA, B/1466, Nr. 1: Kriegstagebuch Eduard Böhm-Ermolli, 26.6.1915. Zur russischen Besatzungsherrschaft in Galizien vgl. Anna Veronika Wendland, Die Russophilen in Galizien. Ukrainische
Konservative zwischen Österreich und Rußland 1848–1915. Wien 2001, S. 549–564; Christoph Mick,
Kriegserfahrungen in einer multiethnischen Stadt. Lemberg 1914–1947. Wiesbaden 2010.
36 Vgl. exemplarisch Hans Eder, Der General der k.u.k. Armee und geheime Rat Maximilian Csicserics von Bacsány. Dissertation. Wien 2010, S. 237. Auch Richard Lein spricht in seiner Dissertation
(Richard Lein, Pflichterfüllung oder Hochverrat? Die tschechischen Soldaten Österreich-Ungarns im
Ersten Weltkrieg. Wien 2011, S. 49) von einer „archaisch anmutenden Taktik“ der k.u.k. Streitkräfte.
37 Eder, Csicserics S. 238.
51
52
Martin Schmitz
um unseren Truppen Verluste zuzufügen“.38 Da sich die gegnerischen Stellungen, in der
Regel handelte es sich dabei um tiefe Schützengräben ohne Brustwehr, die nur schwer
auszumachen waren, als besonders vorteilhaft erwiesen hatten, forderte das Kriegsministerium die eigenen Soldaten nun dazu auf, „es […] ebenso [zu] machen und den
Angriff des Feindes im Feuer der gut placierten Artillerie und der im Schützengraben
gut gedeckten Infanterie niederbrechen zu lassen“.39 Dieser Aufforderung schloss sich
die Warnung an, das bislang bei eigenen Angriffen praktizierte Vorgehen in „dichten
Schwarmlinien unbedingt zu vermeiden“; dieses habe „schon sehr viele Opfer gekostet
und gefangene Russen haben unaufgefordert erzählt, dass wir viel zu dicht vorgehen.
Nur unmittelbar vor dem Sturm dichte Schwarmlinien, dann aber scharf vorgehen, wie
wir es ja gewohnt sind.“40
Die Quelle verdeutlicht zweierlei: Erstens belegt sie die russische Überlegenheit
im Stellungsbau zu Kriegsbeginn, die als Ergebnis der konsequenteren Umsetzung der
Lehren aus dem Krieg gegen Japan gewertet werden muss. In dieser Hinsicht ist die
eingangs zitierte These also durchaus zutreffend, zumal auch in den Memoiren von
Frontoffizieren diese Deutung zu finden ist.41 Zweitens geht aber aus der Quelle ebenso hervor, dass sich die habsburgische Armeeführung sehr wohl als lernfähig erwies
und frühzeitig versuchte, die richtigen Schlüsse aus den bisherigen Kampferfahrungen
zu ziehen. Bereits Anfang September 1914 hatte Arthur Freiherr von Bolfras, der Chef
von Franz Josephs Militärkanzlei, von Conrad eine Erklärung über die Ursachen des
„heroischen – vielfach einfach dummen – Draufgehens“ der eigenen Infanterie erbeten,
die er für „unsere enormen (so schwer ersetzbaren) Verluste“ verantwortlich machte.42
Die kritische Nachfrage belegt, dass selbst hochrangigen Offizieren das vielfach ungestüme und taktisch naive „Draufgehen“ der eigenen Truppen nicht einleuchten wollte,
weil dieses so eben nicht in den Ausbildungsvorschriften vorgesehen war. Es ist zwar
richtig, dass Conrad ein ausgesprochener Befürworter einer offensiven Gefechtsweise
war, in seinen eigenen Publikationen diese Ansicht nachdrücklich betonte und dann als
Generalstabschef die Präferenz für die Offensive im k.u.k. Offizierskorps verankerte.
Gleichwohl ist es nicht gerechtfertigt, der habsburgischen Militärelite kollektive „Ignoranz gegenüber den Fortschritten der Taktik“ beziehungsweise eine diesbezügliche
„Bildungsresistenz“ vorzuwerfen.43 Diese Perspektive ist aus mehreren Gründen zu
kurzsichtig: Erstens bleibt dabei unberücksichtigt, dass es den Einheiten der k.u.k. 1.
und 4. Armee gelang, die beiden Begegnungsschlachten bei Kraśnik und Komarów für
sich zu entscheiden, was auch mit der besseren Ausbildung der k.u.k. Offiziere in dieser
speziellen Form der Kriegführung zusammenhing, die in der Vorkriegszeit besonders
38 ÖStA, KA, AdTK Nr. 1877: K.u.k. Kriegsministerium, Nr. 9072 von 1914, „Kriegserfahrungen und
Folgerungen für die Ausbildung“, undatiert.
39Ebd.
40 Ebd., Hervorhebung im Original.
41 Vgl. exemplarisch Schneider, Kriegserinnerungen, S. 116: „Was der Feind uns vor hatte, war die Erfahrung, die er sich in Ostasien erworben hatte.“
42 Bolfras an Conrad, 3.9.1914, in: Conrad, AmD, Bd. 4, S. 645.
43 Siehe: Lein, Pflichterfüllung oder Hochverrat?, S. 49.
Tapfer, zäh und schlecht geführt
intensiv eingeübt worden war.44 Zweitens darf nicht außer Acht gelassen werden, dass
infanteristische Angriffe nach Meinung Conrads nur dann erfolgversprechend waren,
„wenn die Angriffgruppe es versteht, in kleine Partikel zerlegt (unter Ausnutzung von
Terrainvorteilen, Feuerwirkung und Formenwechsel und bei initiativem Zugreifen aller,
ohne Verlust des Zusammenhangs) derart geschickt vorwärts zu kommen, daß es ihr
gelingt, in einer vorteilhaft placierten mächtigen Feuerlinie dem Feinde auf wirksame
Distanz am Leibe zu liegen“.45 Nicht ohne Grund drang das AOK darauf, dass bei eigenen Angriffen die „bei Friedensübungen mühevoll anerzogene Geschicklichkeit in der
Detailführung zur wirksamen Anwendung komme und damit ein unnützer Verlust im
Frontalkampf vermieden werde“.46
Das kritisierte Vorgehen in dichten Schwarmlinien hatte mit der von Conrad geforderten Angriffsweise demnach nicht viel gemein. Zwar erwies sich dessen Vorstellung
von der „mächtigen Feuerlinie“, mit deren Hilfe das Abwehrfeuer der Verteidiger unterdrückt werden sollte als falsch, aber diese Erfahrung mussten 1914 alle europäischen
Militäreliten machen – auch die russische. Ohnehin hatte sich in der Zeit vor 1914 länderübergreifend die Vorstellung durchgesetzt, dass die Offensive der Defensive sowohl
taktisch als auch strategisch überlegen sein werde.47 Conrad vertrat demnach keineswegs
eine Außenseiterposition, was von seinen Kritikern aber gern vergessen wird. Constantin Schneider wies in seinen Erinnerungen noch auf einen weiteren wichtigen Punkt hin,
den es in Bezug auf die Taktik der k.u.k. Truppen zu Kriegsbeginn zu bedenken gilt:
Er machte für die hohen eigenen Verluste das mangelhafte taktische Verständnis vieler
k.u.k. Offiziere verantwortlich, die sich die „Sturmtaktik“ des Generalstabschefs nicht
ausreichend angeeignet hätten.48
Angesichts der horrenden Verluste der schwarz-gelben Truppen im ersten Kriegsjahr49 war die Suche nach einem Sündenbock innerhalb der habsburgischen Armeeführung allerdings müßig, zumal Conrad kraft eigener Position in der Lage war, diese
Frage zuungunsten zahlreicher Generäle und hochrangiger Generalstabsoffiziere zu beantworten und jene von ihren Posten enthob. Weit wichtiger als das personalpolitische
Revirement war jedoch, dass der Generalstab die richtigen Schlüsse aus den bisherigen
Kriegserfahrungen zog und sich darum bemühte, die österreichisch-ungarischen Truppen an die Gegebenheiten des neuen Kriegsbildes bestmöglich anzupassen. In Bezug
auf den russischen Gegner bedeutete dies vor allem, auf Frontalangriffe zu verzichten.
Diese führten zu schweren eigenen Verlusten, weil die Soldaten des Zaren gegen diese
Angriffsform in der Regel den „zähesten Widerstand“ leisteten, wie das AOK zähne44 Vgl. Lawrence Sondhaus, Franz Conrad von Hötzendorf, Architekt der Apokalypse. Wien u.a. 2003,
S. 165.
45 Franz Conrad von Hötzendorf, Zum Studium der Taktik. Wien 1891, S. 14.
46 ÖStA, KA, NFA, AOK Op. Akten, Karton 8: „Gefechtsleitung, Zusammenwirken von Infanterie und
Artillerie im Gefecht“, 9.12.1914.
47 Kronenbitter, Krieg im Frieden, S. 81.
48 Vgl. Dohle, Schneider, Kriegserinnerungen, S. 118.
49 Laut ÖULK, Bd. 7, S. 46 büßten die Streitkräfte der Donaumonarchie in der Zeit von August 1914 bis
Ende Juli 1915 2.738.500 Mann (Offiziere und Mannschaften) an Toten, Verwundeten und Vermissten
ein.
53
54
Martin Schmitz
knirschend eingestehen musste. Im Gegensatz dazu hatte sich die „Umfassung von Flanke und Rücken, selbst durch ganz untergeordnete Kräfte und Kavallerie“ als deutlich
erfolgversprechender herausgestellt, hierauf reagierten die feindlichen Soldaten „sehr
empfindlich“.50
Die k.u.k. Offiziere respektierten die russischen Streitkräfte jedoch nicht nur wegen
deren Qualitäten in Stellungsbau und Verteidigung. Solange der Bewegungskrieg an der
Nordostfront anhielt, zeigte sich auch die gegnerische Kavallerie der eigenen deutlich
überlegen. Im Gegensatz zur österreichisch-ungarischen Reiterei, die insbesondere zu
Kriegsbeginn noch am „berauschenden Gedanken des klingenden Schwertkampfes hoch
zu Roß und der überwältigenden Attacke gg. die feindl Infanterie“ festhielt,51 und infolgedessen schnell aufgerieben wurde,52 agierte die russische Kavallerie taktisch deutlich
geschickter. Zwar verzichtete auch diese nicht gänzlich auf Attacken – diese traditionelle
Einsatzform war 1914 bei der Reiterei aller europäischen Großmächte noch en vogue53
– sie konzentrierte sich aber vor allem auf die Feindaufklärung und dies mit großem
Erfolg, wie aus dem Kriegstagebuch Karl Pflanzer-Baltins hervorgeht. Dieser beklagte
sich während der Karpatenschlacht darüber, dass das „Resultat der [eigenen] Aufklärung gleich Null ist“, obwohl acht „eigene Eskadronen am Feind“ seien. In deutlichem
Unterschied dazu sei die „Aufklärung der russ. Kav. glänzend, da sie ins kleinste Detail
über alles orientiert war. Vor ihrer Front hatten sie einen dichten Patrouillenschleier, welche ihnen jedwede Verschleierung ermöglichte, ohne dass sie von uns bemerkt werden
konnte“.54 Um die Beschaffung von Informationen über die eigenen Truppenbewegungen zu verhindern, setzte die russische Kavallerie alles daran, möglichst viele feindliche
Patrouillen auszuschalten.55 Dass Pflanzers Armeegruppe trotz der ungünstigen Bedingungen sehr gut über den Gegner informiert war, verdankte sie den „aufgefangenen
Radiodepeschen“.56
50 ÖStA, KA, AdTK Nr. 1877: k.u.k. Kriegsministerium, Nr. 9072 von 1914, „Kriegserfahrungen und
Folgerungen für die Ausbildung“, undatiert. Vgl. auch Conrad, AmD, Bd. 4, k.u.k. AOK, „Weisungen
für die Truppen- und höheren Kommandanten, 29.9.1914, S. 888: „Wie schon […] betont, liegt die
Hauptstärke der russischen Gefechtsweise im frontalen Kampf aus befestigten Stellungen, in welchem
unsere mit großem Elan angreifenden Truppen vielfach sehr bedeutende Verluste erleiden.“
51 Vgl. ÖStA, KA, MS.-WK.A/3: Oberst Veith, Die öster.ung Wehrmacht im Weltkrieg, S. 10–11. Bei
Fritz Fellner (Hg.), Schicksalsjahre Österreichs 1908–1919. Das politische Tagebuch Josef Redlichs,
Bd. 1. Graz 1953–54, S. 252, Tagebucheintrag Redlich, 26.8.1914, ist folgende Aussage von Conrad
festgehalten: „Die Truppen sind ausgezeichnet, die Kavallerie ist so bravourös, daß man es tadeln
muß, es ist zu viel Reitergeist und zu wenig militärische Überlegung bei unseren Kavalleriekommandanten. Sie reiten drauf los, gleichviel, ob Kavallerie oder Infanterie gegenübersteht. Es klingt
unglaublich, ist aber Tatsache, daß unsere Ulanen und Husaren Attacken auf Schützengräben gemacht
und sie auch genommen haben […].“
52 Vgl. diesbezüglich auch Brussilov, Erinnerungen, S. 86.
53 Vgl. zur Entwicklung der Kavallerie bis 1914 den allerdings zu unkritischen Aufsatz von Gervase
Phillips, ,Who Shall Say That the Days of Cavalry Are Over?‘ The Revival of the Mounted Arm in
Europe, 1853–1914, in: War in History. 18, H. 1, 2011, S. 5–32.
54 ÖStA, KA, B/557, Karton VI, Mappe 1: Tagebuchartige Aufzeichnungen des Generalobersten Pflanzer-Baltin über die „Operationen der Armeegruppe Pflanzer-Baltin und der 7. Armee“ 1. Oktober
1914–15. September 1916, hier Tagebucheintrag vom 7.3.1915.
55 Vgl. Major-General Alfred W.F. Knox, With the Russian Army 1914–1917. Two Volumes in One.
New York 1971, S. 109.
56 ÖStA, KA, B/557, Karton VI, Mappe 1: Tagebucheintrag Pflanzer-Baltins vom 7.3.1915.
Tapfer, zäh und schlecht geführt
Noch weitaus gefürchteter als die russische Kavallerie war bei den k.u.k. Offizieren allerdings die Artillerie des Gegners, die sich, insbesondere im ersten Kriegshalbjahr, als achtungsgebietende Waffe herausstellte, der die Donaumonarchie aus zwei
Gründen nichts Gleichwertiges entgegenstellen konnte: Die russischen Divisionen
waren im Vergleich zu den österreichisch-ungarischen nicht nur mit deutlich mehr
Geschützen ausgestattet, sondern diese waren zudem moderner.57 Die Feldkanone des
Gegners besaß etwa eine 1000 Meter größere Reichweite als das vergleichbare Modell
der k.u.k. Armee, weshalb die russische Artillerie den Feuerkampf bereits wesentlich früher eröffnen konnte. Dieser Umstand wirkte sich negativ auf die Kampfmoral der habsburgischen Truppen aus.58 Die verhängnisvollen Folgen der qualitativen
und numerischen Unterlegenheit schilderte Eduard Böhm-Ermolli, Kommandant der
2. Armee, in seinem Kriegstagebuch: Seiner Meinung nach brachen die Angriffe der
k.u.k. Soldaten „hauptsächlich wegen der unzureichenden Portee“ der eigenen Artillerie zusammen, die aus diesem Grund ihren zentralen Aufgaben nicht habe nachkommen können, also „der pflichtgemäßen Mitwirkung im Angriff, durch Niederhaltung des feindlichen Feuers und Bahnung des Angriffsweges der Infanterie. Trotzdem
nahm die brave Infanterie die ganze Schwere des Angriffes auf ihre Schultern, ging
todesverachtend vor und errang Dank ihrer Gefechtstüchtigkeit und Tapferkeit ihre
Erfolge.“59 Um die geringere Reichweite auszugleichen, musste die österreichischungarische Feldartillerie nach Meinung Edmund Glaise-Horstenaus „in mitten der
Schwarmlinie abprotzen“, um die „beschämend geringe“ Reichweite „zu erhöhen“.60
Diese Gefechtsweise zog zwangsläufig erhöhte Verluste nach sich, die wiederum die
numerische Überlegenheit der gegnerischen Artillerie weiter vergrößerte. Allerdings
war das offene Auffahren nicht nur der geringen Reichweite der Geschütze geschuldet,
sondern auch der mangelnden Vertrautheit mit dem indirekten Feuer. „Taktisch hatte
unsere Artillerie“, so Feldmarschallleutnant Otto Berndt, „im Vergleich zum Gegner
einiges nachzuholen […]. Wohl war das indirekte Schießen mit der Einführung des
neuen Feldgeschützes zum Grundsatz erhoben, doch war dieses Schießverfahren bei
der Truppe noch nicht genügend durchgedrungen. Namentlich manche der älteren Offiziere hatten sich noch nicht hinreichend damit befreundet und die Reserveoffiziere
waren darin noch sehr mangelhaft geschult. Auch höhere Truppenführer standen der
Sache misstrauisch gegenüber. In der Artillerieschießschule zu Hajmaskér hatten sich
zwar die maßgebenden Artilleristen eifrig bemüht, den zur Information dorthin kommandierten Generalen die Notwendigkeit des Schießens aus verdeckten Stellungen
darzutun, doch nicht alle ließen sich auch wirklich überzeugen. So kam es, dass unsere
Artillerie in den ersten Kämpfen öfters offen auffuhr und […] schwere Verluste er57 Vgl. Timothy Hadley, Military Diplomacy in the Dual Alliance: German Military Attaché Reporting
from Vienna 1906–1914, in: War in History. 17, H. 3, 2010, S. 294–312, hier: S. 306. Vgl. auch Lothar
Rendulic, Soldat in stürzenden Reichen. München 1965, S. 60.
58 Vgl. ÖStA, KA, B/203, Nr. 3: Otto Bernd, Erfahrungen aus dem Weltkrieg 1914–1918, undatiert, S.
176. Vgl. Broucek, General im Zwielicht, Bd. 1, S. 305: „Wie immer fühlen wir uns gegenüber der
weittragenden, unfassbaren russischen Artillerie wehrlos.“
59 ÖStA, KA, B/1466, Nr. 1: Böhm-Ermolli, Kriegstagebuch, 8.9.1914.
60 Broucek, General im Zwielicht, Bd. 1, S. 300.
55
56
Martin Schmitz
litt. Nun wurde allerdings rasch umgesattelt. Das indirekte Schießen wurde zur Regel
[…].“61
Aus Bernds Analyse geht erneut hervor, dass die Übernahme taktischer Innovationen in der Zeit vor 1914 nicht am Generalstab um Conrad scheiterte, wie so oft behauptet. Immerhin war die Bedeutung des indirekten Schießens von diesem richtig erkannt
und die dementsprechende Instruktion des Offizierskorps verfügt worden. Problematisch war vielmehr, dass das Gros der Generalität den Neuerungen skeptisch gegenüberstand und sich diesen zum Großteil verweigerte – mit den bekannten Folgen. Allerdings
passten sich die k.u.k. Streitkräfte schnell an die Anforderungen des modernen Krieges
an. Die taktische Unterlegenheit im Artilleriekampf währte demnach nur relativ kurz.
Ein weitaus schwierigeres Unterfangen war es dagegen, die numerische Unterlegenheit
auszugleichen.
Die „bessere Artillerieausstattung der Russen“ wurde deshalb zum „stehenden Topos der Klagen“ innerhalb der habsburgischen Streitkräfte62 im Jahr 1914 und schlug
sich in der Forderung der k.u.k. Offiziere nach einer schnellstmöglichen Erhöhung der
eigenen Geschützzahlen nieder. Immerhin gelang es der Rüstungsindustrie der Doppelmonarchie innerhalb des ersten Kriegsjahres, diesem Appell durch die Steigerung
der Produktionszahlen Rechnung zu tragen und einen Gleichstand bei der Anzahl der
Geschütze herzustellen, sodass beide Seiten Ende 1915 über cirka 4500 Feldkanonen
und Haubitzen verfügten.63
Da die Ausstattung der habsburgischen Divisionen insbesondere mit Steilfeuergeschützen im Laufe der Zeit immer besser wurde, büßte die russische Artillerie nach und
nach den Ruf der Überlegenheit ein, den sie sich zu Kriegsbeginn erworben hatte. Dies
hing allerdings auch damit zusammen, dass sich Letztere nur schwer auf die Anforderungen des Stellungskrieges einstellen konnte, der an der Ostfront nach dem Kulminieren
der erfolgreichen Sommeroffensive der Mittelmächte im Jahr 1915 bis zum Juni 1916
zur Regel wurde. Um erfolgreich die gegnerischen Stellungssysteme bekämpfen und
den eigenen Infanterieangriff vorbereiten zu können, benötigte die Artillerie sowohl eine
ausreichende Zahl von Haubitzen als auch eine großzügige Ausstattung mit Granaten.
Insbesondere an Letzterer mangelte es jedoch den russischen Streitkräften zusehends.
Im Gegensatz zum Zarenreich, dessen „shell-shortage“ noch bis 1916 andauerte,64 hatten die Mittelmächte im Frühjahr 1915 ihre „Munitionskrise“ jedoch bereits überwunden
und konnten deshalb den Großangriff bei Gorlice-Tarnow artilleristisch wirkungsvoll
vorbereiten,65 was in erster Linie deutschen Munitionslieferungen zu danken war. Der
dort als Batteriekommandant eingesetzte Constantin Schneider schilderte den Unter61 ÖStA, KA, B/203, Nr. 3: Bernd, Erfahrungen aus dem Weltkrieg, S. 176.
62 So Lothar Höbelt, „So wie wir haben nicht einmal die Japaner angegriffen.“ Österreich-Ungarns
Nordfront 1914/1915, in: Gerhard P. Groß (Hg.), Die vergessene Front. Der Osten 1914/1915. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung. Paderborn 2006, S. 87–119, hier: S. 111.
63Ebd.
64 Vgl. ausführlich Norman Stone, The Eastern Front 1914–1917. London 1998 (Erstveröffentlichung
1975), S. 144–164.
65 Vgl. dazu ausführlich Christian Stachelbeck, Militärische Effektivität im Ersten Weltkrieg. Die
11. Bayerische Infanteriedivision 1915 bis 1918. Paderborn u.a. 2010, S. 68.
Tapfer, zäh und schlecht geführt
schied zu den vorherigen Schlachten in seinen Erinnerungen folgendermaßen: „Zum ersten Mal munterten die höheren Kommandanten uns Batteriekommandanten auf, schneller zu schießen […]. Die Befehle, die ich an diesem Vormittag von meinen Vorgesetzten
erhielt, waren sehr einfach. Sie hießen abwechselnd: ‚Schneller schießen‘ und ‚noch
schneller schießen‘. Sonst befahl man ja immer das Gegenteil: ‚Munition sparen!‘“66
Während bei Gorlice-Tarnow die Angreifer hinsichtlich der Munitionsausstattung aus
dem Vollen schöpften, konnten die Artilleristen der angegriffenen 3. russischen Armee
dagegen „nur fünf bis zehn Geschosse je Tag und Geschütz abfeuern.“67 General D. P.
Suev, Kommandeur des XXIX. Korps, schilderte die Wirkung des gegnerischen Trommelfeuers folgendermaßen: „Die Deutschen durchpflügen die Schlachtfelder mit einem
Hagel von Metall und machen sämtliche Schützengräben und Befestigungen dem Erdboden gleich, wobei deren Verteidiger oft in der Erde verschüttet werden. Sie verbrauchen
Metall, wir dagegen Menschenleben.“68 Die unzureichende Ausstattung mit Granaten
verhinderte, dass die russische Artillerie die deutsche, die zudem noch über bessere und
zahlreichere schwere Geschütze verfügte,69 erfolgreich bekämpfen konnte; zudem war
es ihr nur eingeschränkt möglich, Angriffe der eigenen Infanterie wirkungsvoll vorzubereiten. Die daraus resultierenden fatalen Konsequenzen zeigten sich beispielhaft bei der
russischen Märzoffensive 1916, die sich gegen die deutsche Nordostfront richtete und
mit deren Hilfe Wilna zurückerobert werden sollte. Die geplanten Durchbruchstellen
konnten nur drei bis vier Stunden unter „meist wirkungslosem Artilleriefeuer“ genommen werden, das „stets von viel zu kurzer Dauer“ war, um die gegnerischen „Linien zu
erschüttern“. Die zarische Infanterie erlitt infolge der ungenügenden Angriffsvorbereitung entsetzliche Verluste, weshalb „pro Gefechtstag 2000–3000 Feindesleichen“ vor
den Divisions- oder Brigadeabschnitten der Verteidiger lagen.70
Nur wenige Monate später gelang es der russischen Artillerie jedoch bei der Brussilov-Offensive die österreichisch-ungarischen Stellungen mit einer bislang nicht gekannten Effizienz zu bekämpfen, was entscheidend mit einer umfangreichen Munitionierung
zusammenhing.71 Diese aus Sicht des AOK beunruhigende Entwicklung zeigte sich auch
bei den russischen Angriffen in Galizien im Jahr 1917. Der Generalstab kam in einer
die schweren Kämpfe bilanzierenden Studie zu der Ansicht, dass „die Artillerievorbereitung des Feindes in ihrer Gesamtheit eine weitaus mächtigere war als im Vorjahr. Sie
dauerte nicht Stunden, sondern Tage. […] Das Streben, die eigene erste Stellung (samt
66 Schneider, Kriegserinnerungen, S. 289.
67 Boris Shavkin, Russland gegen Deutschland. Die Ostfront des Ersten Weltkrieges in den Jahren 1914
bis 1915, in: Gerhard P. Groß (Hg.), Die vergessene Front. Der Osten 1914/1915. Ereignis, Wirkung,
Nachwirkung. Paderborn 2006, S. 65–85, hier: S. 76.
68 Suev an Kriegsministerium, undatiert, in: N.K. Jakolev, Poslednjaja vojna staroj [Der letzte Krieg des
alten Russland]. Moskva 1994, S. 82, zitiert nach: Shavkin, Russland gegen Deutschland, S. 76.
69 Vgl. Reichsarchiv (Hg.), Schlachten des Weltkrieges, Bd. 19. Tannenberg Berlin 1927, S. 245.
70 ÖStA, KA, AdTK, Nr. 1877: K.u.k. 7. Armeekommando, „Erfahrungen bei der russischen Märzoffensive an der deutschen Nordostfront“, 8.4.1916.
71 Vgl. John Schindler, Steamrollered in Galicia: The Austro-Hungarian Army and the Brusilov Offensive, 1916, in: War in History. 10, 2003, S. 27–53, hier: S. 42. Vgl. dazu ausführlich auch Rudolf
Jeřábek, Die Brussilow-Offensive 1916. Ein Wendepunkt der Koalitionskriegsführung der Mittelmächte, 2 Bde. Dissertation. Wien 1982.
57
58
Martin Schmitz
allen ihren Linien) zusammenzuschießen und deren Besatzung mürbe zu machen, war
unverkennbar.“72 Als besonders wirkungsvolle Maßnahme erwies sich die Rückverlegung des Artilleriefeuers auf die erste Verteidigungsstellung der k.u.k. Truppen. Diese
wurde bis zum „Moment des Einbruchs“ beschossen, sodass „die aus den Fuchslöchern,
Unterständen, Untertritten, Postenständen eilenden Besatzungen und Bedienungsmannschaften der MG schwere Verluste erlitten“.73 Bereits bei der Brussilov-Offensive hatte
man diese Taktik mit großem Erfolg angewandt.74 Freilich trat bei den Kämpfen in Galizien 1917 erneut ein altbekanntes Problem der russischen Artillerie auf, das ihre Wirksamkeit einschränkte: Zwar konnten erheblich größere Mengen an Granaten verschossen
werden als noch 1915, nichtsdestotrotz kam es erneut zu Munitionsengpässen. Deshalb
war das „feindliche Störungsfeuer auf das eigene Hintergelände (Kommunikation und
Ortschaften) während der Schlacht weit geringer als nach dem schon wochenlang betriebenen Einschießen auf fast jeden wichtigen Geländepunkt zu erwarten war“, so das
AOK.75 Nach dessen Einschätzung hatte die zu geringe Munitionsdotierung verhindert,
dass die russische Artillerie „alle Aufgaben auf einmal erfüllen“ konnte, weshalb „große
Räume hinter der eigenen Front vom Feuer verschont blieben“.76
Auch wenn sich das russische Artilleriefeuer von Jahr zu Jahr intensivierte, so erreichte dieses nach Meinung der k.u.k. Offiziere dennoch nie die Intensität, die man von
der Isonzofront kannte. Lothar Rendulic folgend, „stand die ‚normale‘ Feuertätigkeit
der Italiener dem russischen Trommelfeuer kaum nach, indes das Artillerie- und Minenwerferfeuer vor einer Schlacht alle unsere Vorstellungen überstieg“.77 Erzherzog Joseph,
der von der Isonzo- an die Nordostfront versetzt wurde, um dort eine Heeresgruppe zu
übernehmen, schrieb dem im Süden verbleibenden Generalstabsoffizier Theodor Körner
wiederum, dass „alle Truppen die vom Karste hierher kamen“ hinsichtlich des Artilleriefeuers „einstimmig sagen, dass dort [Isonzo] die Hölle hier [Nordostfront] das Himmelreich ist“.78
Gleichwohl behielt die von Conrad stammende Würdigung der russischen Armee
als „sehr respektabler Gegner“ bis zum Ende des Krieges ihre Berechtigung.79 Für diese Einschätzung gab es gute Gründe, denn diese, nicht die italienische Armee, fügte
der Donaumonarchie während des „Great War“ die schwersten Niederlagen zu. Diese Tatsache schlug sich auch im kollektiven Gedächtnis des österreichisch-ungarischen
Offizierskorps nieder, denn die zu Kriegsbeginn verlorene „Schlacht um Galizien“, die
fehlgeschlagenen Angriffe in den Karpaten 191580 sowie der traumatische Beinahe-Zu72 ÖStA, KA, AdTK, Karton 1877: AOK, „Erfahrungen aus der Abwehrschlacht in Galizien 1917“,
31.7.1917.
73Ebd.
74 Vgl. Jeřábek, Brussilow-Offensive, Bd. 1, S. 259.
75 ÖStA, KA, AdTK, Karton 1877: AOK, „Erfahrungen aus der Abwehrschlacht in Galizien 1917“,
31.7.1917.
76Ebd.
77 Rendulic, Soldat in stürzenden Reichen, S. 85.
78 ÖStA, KA, B/201, Nr. 4: Erzherzog Joseph an Körner, 8.1.1917.
79 ÖStA, KA, B/1450, Nr. 153: Conrad an Bolfras, 1.2.1915.
80 Vgl. dazu ausführlich Graydon A. Tuntstall, Blood on the Snow. The Carpathian Winter War of 1915.
Kansas 2010.
Tapfer, zäh und schlecht geführt
sammenbruch des k.u.k. Heeres infolge der Brussilov-Offensive waren dort fest verankert und trugen maßgeblich dazu bei, dass sich ein Unterlegenheitsgefühl gegenüber den
zarischen Streitkräften ausbildete, mit zum Teil verheerenden Folgen: Bei der Schlacht
von Luck war der „Russenschreck“ der österreichisch-ungarischen Truppenführer und
Soldaten einer der Hauptgründe für das Versagen mancher Truppenteile.81 Nach Ansicht
Hans von Seeckts vertrat die Mehrheit der k.u.k. Truppenführer die Meinung, der „Russe“ sei „der bessere Soldat, dem die eigene Truppe moralisch nicht gewachsen sei“.82 Der
spätere Chef der Reichswehr führte diese, für ihn nicht nachzuvollziehende Haltung aber
nicht nur auf die zahlreichen Niederlagen Österreich-Ungarns an der Nordostfront zurück, sondern machte dafür den fehlenden, aber „nun einmal zum Entscheidungskampf
unerlässlichen Hass“ der k.u.k. Truppen gegenüber den russischen Gegnern verantwortlich. Seiner Meinung nach „versagten“ deshalb Divisionen gegenüber „dem Russen, die
sich an der italienischen Front einwandfrei gut geschlagen haben“.83 Seeckt glaubte im
„österreichischen Volksgeist“, der gegenüber der „russischen Kampfbrutalität“ versage,
die Ursache für die Inferiorität der verbündeten Truppen sehen zu müssen.84
Durch den Rückgriff auf Völkerstereotype konnten freilich die wahren Motive für
das Unterlegenheitsgefühl der schwarz-gelben Truppen nicht erklärt werden. Entscheidend hierfür war in erster Linie die magere militärische Bilanz der Donaumonarchie im
Kampf gegen das Romanowreich: Alle selbstständig geplanten Offensivoperationen Österreich-Ungarns im Nordosten, sieht man von Limanowa-Lapanów ab, scheiterten; Siege im Nordosten konnten nur mit deutscher „Waffenhilfe“ erzielt werden. Im Gegensatz
dazu konnte die k.u.k. Armee die Südwestfront trotz ihrer materiellen Unterlegenheit
verteidigen und so die Einnahme von Triest, dem strategischen Ziel des italienischen
Generalstabes, verhindern. Diese Erfolge, die bis 1917 zudem ohne Hilfe des deutschen
Verbündeten erzielt werden konnten, schlugen sich dementsprechend im Selbstbewusstsein der österreichisch-ungarischen Truppen nieder, die gegenüber den Italienern ein
Überlegenheitsgefühl entwickelten, das nicht zuletzt auf den Siegen des 19. Jahrhunderts fußte. Auf dem italienischen Kriegsschauplatz hatten die habsburgischen Truppen
1848/49 sowie 1866 bedeutsame Schlachten gewonnen, was dazu führte, das „Nachbarkönigreich“ auch zukünftig „als Wunschgegner Österreich-Ungarns erscheinen zu
lassen“.85 Conrad, der als Brigadier in Triest und als Divisionär in Innsbruck gedient hatte, bekam in diesen Garnisonsorten zudem einen „intensiven Eindruck davon, wie lebendig irredentistische Strömungen innerhalb der Monarchie waren“, weshalb er von einem
zwangsläufigen zukünftigen Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und dem südlichen
Nachbarn ausging.86 Die Vorstellung einer „unausweichlichen […] Waffenentscheidung
mit Italien“ war Seeckt folgend denn auch der Motor, welcher „dem Heeresorganismus“
81 Vgl. ÖStA, KA, B/203, Nr. 2: Otto Berndt, „Betrachtungen über die Schlacht von Olyka-Luck 1916“,
29.9.1929, S. 13.
82 ÖStA, KA, B/892, Nr. 32: Hans von Seeckt, „Denkschrift über das k.u.k. Heer“, 1917, S. 41.
83 Ebd., S.18.
84Ebd.
85 Kronenbitter, Krieg im Frieden, S. 113.
86Ebd.
59
60
Martin Schmitz
des „Waffenbruders“ in der Zeit vor 1914 die notwendige „Triebkraft“ verlieh.87 „Diese
innerlich und äußerlich vorbereitete Stellung gegen Italien“ habe schließlich „im Krieg
geradezu hypnotisierend“ auf die österreichisch-ungarischen Streitkräfte „gewirkt“,88
zumal die als „Treubruch“ gewertete Kriegserklärung des ehemaligen Dreibundpartners
die bereits vorhandenen Ressentiments weiter verstärkte. „Der italienische Krieg“ sei
deshalb als „Österreichs ureigenster Krieg“ vom k.u.k. Offizierskorps gedeutet worden,
den es „als Ehrensache betrachtete“,89 so August von Cramon, ab 1915 bevollmächtigter
Verbindungsoffizier der deutschen Obersten Heeresleitung (DOHL) beim AOK.
Den Kampf gegen das Zarenreich betrachteten die k.u.k. Offiziere im Gegensatz zu
der Auseinandersetzung mit Italien dagegen eher nüchtern-professionell. Nach Meinung
Constantin Schneiders gab es „keinen faktischen Haß zwischen ihm [dem russischen
Kontrahenten] und uns, der den Kampf ins Barbarische zog, sondern nur ein Kampf
aus Pflichtgefühl, aus auferlegter Notwendigkeit“.90 Die russischen Soldaten stellten für
Schneider einen „tapferen, einen edlen Gegner“ dar, „wir sollten seinesgleichen nicht
mehr wiederfinden“.91 Auch deutsche Offiziere würdigten die Leistungen der russischen
Mannschaften. Max von Gallwitz, der lange Zeit als Führer an der Ostfront diente, gestand diesen zu, „arbeitsam, anspruchslos, zähe, und unempfindlich gegen Druck und
Verluste“ zu sein; selbst die „blutigen Einbußen“ hätten „nicht vermocht, die Haltung
der Truppe ganz zu brechen; jeder Geländeabschnitt fand sie wieder abwehrbereit; ihre
Marschleistungen waren glänzend“.92
Im Gegensatz zu den Soldaten des Gegners schätzte man deren Offiziere wenig
vorteilhaft ein. Zwar räumte Gallwitz ein, dass diese insbesondere in der Geländenutzung und „Geländeverstärkung“ hervorragend agiert hätten.93 Gleichwohl konnte sich
der deutsche Generalstab dennoch weitgehend in seinen Vorkriegsprognosen bestätigt
sehen, in denen die „taktischen und operativen Führungsfähigkeiten“ des russischen Offizierskorps „als mäßig eingestuft“ wurden; des Weiteren „attestierte man der“ militärischen Führung „methodische Langsamkeit“.94 Diese Voraussagen deckten sich durchaus
mit den Kriegserfahrungen der k.u.k. Truppenführer, die insbesondere in der Phase des
Bewegungskrieges 1914 die geringe Initiative ihrer russischen Kontrahenten zu „schätzen“ lernten. Letztere ermöglichte den geschlagenen österreichisch-ungarischen Truppen, sich weitgehend unbehelligt zurückziehen zu können.95
87 ÖStA, KA, B/892, Nr. 32: Seeckt, „Denkschrift über das k.u.k. Heer“, S. 17.
88Ebd.
89 August von Cramon, Unser österreichisch-ungarischer Bundesgenosse im Weltkriege. Berlin 1920,
S. 54f.
90 Schneider, Kriegserinnerungen, S. 354.
91Ebd.
92 Max von Gallwitz, Meine Führertätigkeit im Weltkriege 1914–1916. Berlin 1929, S. 378, zitiert nach:
Gerhard P. Groß (Hg.), Im Schatten des Westens. Die deutsche Kriegführung an der Ostfront bis Ende
1915, in: Gerhard P. Groß (Hg.), Die vergessene Front. Der Osten 1914/1915. Ereignis, Wirkung,
Nachwirkung. Paderborn 2006, S. 49–64, hier: S. 62. Vgl. ähnlich: Reichsarchiv (Hg.), Schlachten des
Weltkrieges. Tannenberg, Berlin 1927, S. 245.
93 Gallwitz, Meine Führertätigkeit, S. 378, zitiert nach Groß, Im Schatten des Westens, S. 62.
94 Groß, Im Schatten des Westens, S. 52.
95 Vgl. exemplarisch Broucek, General im Zwielicht, Bd. 1, S. 297 und 306.
Tapfer, zäh und schlecht geführt
Das geringe Ansehen der russischen Offiziere war in erster Linie darauf zurückzuführen, dass diese nach Einschätzung der deutschen und habsburgischen Truppenführer oftmals zentrale Offizierstugenden wie etwa Tapferkeit, Opferbereitschaft oder
„Schneid“ vermissen ließen. Anstatt bei Angriffen von vorne zu führen, beispielgebend
zu handeln und sich selbst dem feindlichen Feuer auszusetzen, hätten sich allzu viele zarische Offiziere darauf beschränkt, ihre Bauernsoldaten mit Waffengewalt zum Angriff
zu zwingen, während sie selbst in den sicheren Stellungen verblieben.96 Die mangelhafte Fürsorge zeigte sich nach Meinung vieler k.u.k. Offiziere in besonders ausgeprägter Form bei der russischen Armeeführung, die eine „despotische“ Kommandoführung
an den Tag gelegt habe, bei der „Menschenleben keine Rolle spiel[t]en“.97 Die nicht
zu bestreitenden Erfolge der zarischen Streitkräfte beruhten aus dieser Perspektive betrachtet lediglich auf einer „rücksichtslosen Kampfführung“,98 mit der die mangelnde
Führungskunst ausgeglichen werden konnte beziehungsweise musste. Lothar Rendulic
folgend „jagten“ die russischen Armeeführer ihre Soldaten „ohne Rücksicht auf Verluste
in einem oft primitiven Verfahren, […] in den Kampf“.99 Insbesondere Alexej A. Brussilov warf man auf deutscher und österreichisch-ungarischer Seite „brutale Rücksichtslosigkeit“ gegenüber den eigenen Soldaten vor.100 Obwohl diese Vorwürfe nicht gänzlich
unberechtigt waren, wurden sie nicht zuletzt auch aus geschichtspolitischen Gründen
erhoben: Immerhin hatte Brussilov es bei der nach ihm benannten Offensive vermocht,
der Donaumonarchie eine verheerende Niederlage zu bereiten. Durch den Verweis auf
die „rücksichtslose Kampfführung“ konnte man dessen Glorie zumindest ein Stück weit
einschränken, schließlich waren die mit seinem Namen verbundenen Erfolge nach Meinung seiner Kritiker bloß einer „unfairen“ Nutzung des russischen „Menschenmaterials“
geschuldet. Immerhin brachte der „Despotismus“ der russischen Offiziere nach Dafürhalten des k.u.k. Generalstabes einen Vorteil mit sich, denn die russischen Soldaten würden sich „nicht ungern gefangen nehmen“ lassen, wenn sie nur wüssten, „dass sie nicht
geprügelt werden“ und „genügend Brot und Tee zu essen bekommen“.101
Es darf allerdings nicht verschwiegen werden, dass k.u.k. Offiziere durchaus auch
das mustergültige, „offiziersmäßige“ Verhalten russischer Truppenführer anerkannten.
Pero Blašković, während des Krieges im bosnisch-herzegowinischen Infanterieregiment
Nr. 3 eingesetzt, kritisierte zwar diese für deren Verhalten in den Kämpfen um Sopanovo, gestand ihnen aber zu, bei der Brussilov-Offensive hervorragende Tapferkeit bewiesen zu haben.102 Hans Mailáth-Pokorny wiederum imponierte zu Kriegsbeginn das
96 Vgl. Pero Blašković, Mit den Bosniaken im Weltkrieg, [Auszüge aus „Sa Bonjacima U Svjetskom
Ratu“]. Wien 2001, S. 52.
97 Vgl. ÖStA, KA, B/556, Nr. 86: „Kriegserfahrungen. Aus der Zusendung hunderter Einzelzuschriften“,
(6. Auflage) 1915, S. 5.
98 Rendulic, Soldat in stürzenden Reichen, S. 82.
99Ebd.
100 Ebd. Vgl. auch: Reichsarchiv (Hg.), Schlachten des Weltkrieges, Bd. 9. Die Kämpfe um Baranowitschi. Berlin 1927, S. 16: „In rücksichtslosem, kein Menschenopfer scheuenden Angriff trieb General
Brussilow seine Massen vor […].“
101 Vgl. ÖStA, KA, B/556, Nr. 86: „Kriegserfahrungen. Aus der Zusendung hunderter Einzelzuschriften“,
1915, S. 9.
102 Blašković, Mit den Bosniaken im Weltkrieg, S. 52.
61
62
Martin Schmitz
Verhalten eines russischen Stabsoffiziers so sehr, dass er sich von diesem ein Bild malen
und dieses in seinem Landhaus in Babád aufhängen ließ, um sich „immer in Gedanken
vor dem Helden zu verbeugen“.103 Die Ursache für Mailáth-Pokornys Verehrung war
auf die außergewöhnlichen Tapferkeit, Kaltblütigkeit und Opferbereitschaft des russischen Truppenführers zurückzuführen, den die k.u.k. Offiziere bei einem Angriff „lässig“ an einer Lafette lehnend, „groß und unbeweglich wie eine Statue“ vorfanden: „[…]
Er rührte sich auch nicht, als wir ganz nahe herangeritten waren. Sein Verhalten war so
imponierend, dass ich vom Pferd sprang und mich ohne Waffe in der Hand näherte. Ich
mag so an die 10 Schritte an ihn herangekommen sein, als er plötzlich erwacht schien.
Er warf die Zigarette weg und bevor wir es noch fassen konnten was er tue, schoss er
sich eine Kugel durch den Kopf. Das war alles in einer Form vor sich gegangen, die uns
alle tief ergriff. Wir rissen die Kappen vom Kopf und verharrten eine Weile in tiefem
Schweigen an der Leiche eines Mannes, dem die Pflicht und seine Ehre offenbar mehr
wert waren, als alles andere. […] Wie prachtvoll hatte dieser sein Leben beschlossen,
um der Schande aus dem Weg zu gehen, seine Batterie verloren zu haben. Was für die
Infanterie die Fahne ist, das bedeutet für den Artilleristen seine Kanone.“104 Bei aller
Anerkennung des Gegners vergaß Mailáth jedoch nicht darauf hinzuweisen, dass es ihm
sehr wohl gelungen sei „aus allen Lagen mit Mann, Pferd und Geschützen in Ehren
herauszukommen“.105
Wie das Beispiel belegt, würdigten die k.u.k. Offiziere vereinzelt durchaus die Leistungen ihrer russischen Kontrahenten, obwohl diese dennoch im Großen und Ganzen negativ beurteilt wurden. Der wichtigste Grund dafür ist sicherlich in der nicht unbegründeten Vorstellung von der „despotischen“ Kommandoführung russischer Truppenführer
zu sehen. Gleichwohl bot sich deren Herabwürdigung aus Perspektive der k.u.k. Offiziere auch deshalb an, weil damit von den Fehlentwicklungen im eigenen Offizierskorps
abgelenkt werden konnte.106 Ähnlich einseitig war auch die Verurteilung der russischen
Kriegführung als besonders „brutal“: Zwar war es durchaus zutreffend, dass sowohl die
eigene als auch die gegnerische Zivilbevölkerung unter dieser zu leiden hatte. Die Truppen der Mittelmächte verübten aber ebenso zahlreiche Übergriffe und Plünderungen –
diese stellten keine Ausnahme, sondern die Regel dar.107
Fazit
Wie in diesem Beitrag dargelegt werden konnte, galt der Fall „R[ussland]“ am Vorabend
des Ersten Weltkrieges als Albtraumszenario für den k.u.k. Generalstab. Das Zarenreich
verfügte nicht nur über überlegene militärische Ressourcen, sondern bereitete auch nach
Meinung zahlreicher hochrangiger österreichisch-ungarischer Offiziere zielgerichtet
103 ÖStA, KA, B/700, Nr. 3: Mailáth-Pokorny, Erinnerungen, S. 77.
104 Ebd., S. 76f.
105 Ebd., S. 77.
106Vgl. dazu ausführlich Martin Schmitz, „Als ob die Welt aus den Fugen ginge.“ Kriegserfahrungen
österreichisch-ungarischer Offiziere im Ersten Weltkrieg, Dissertation. Universität Augsburg 2012,
unveröffentlichtes Manuskript, S. 15–55 und 98–174.
107 Vgl. ebd., S. 193–195.
Tapfer, zäh und schlecht geführt
e­ inen Zukunftskrieg gegen die Donaumonarchie durch eine intensive Spionagetätigkeit
vor. Besorgniserregend schien vor allem, dass es Russland scheinbar gelang, in Galizien,
dem wichtigsten Aufmarschgebiet der k.u.k. Armee, ein engmaschiges Konfidentennetz
unter der ruthenischen Bevölkerungsgruppe aufzubauen. Obwohl diese Befürchtungen
übertrieben waren, hatten sie weitreichende Konsequenzen für den Umgang der österreichisch-ungarischen Truppen mit den „eigenen“ Ruthenen nach Kriegsausbruch: Die
Vorstellung im Offizierskorps, dass man gegen einen „inneren“ Feind zu kämpfen habe,
der auf der Seite des Zarenreiches stehe, führte zu zahlreichen Übergriffen auf Landesbewohner, zumal deren „Verrat“ die ohnehin schwierige militärische Situation der
eigenen Streitkräfte noch zu verschlechtern schien. Nachdem aber Conrad und das AOK
mehr und mehr die Überzeugung gewannen, dass die Befürchtungen im Großen und
Ganzen grundlos waren, versuchten sie ungerechtfertigte Bestrafungen zu unterbinden.
Die russische Armee erwies sich aber aus Sicht der k.u.k. Offiziere zu Kriegsbeginn nicht nur wegen der vermeintlich durch Spionage erleichterten Feindaufklärung
als gefürchteter Gegner. Insbesondere beim frontalen Kampf aus befestigten Stellungen
erwiesen sich die gegnerischen Truppen als überlegen, denn sie hatten in diesem Bereich die Erfahrungen aus dem Krieg gegen Japan besser genutzt. Dazu kam noch, dass
die österreichisch-ungarische Artillerie ihrem russischen Pendant im ersten Kriegsjahr
sowohl qualitativ als auch quantitativ unterlegen war. Die Beurteilung der zarischen
Soldaten und ihrer Offiziere fiel im habsburgischen Offizierskorps unterschiedlich aus:
Während die Leistungen der Mannschaften grundsätzlich positiv eingestuft wurden,
brachte man den Offizieren des Zaren wenig Respekt entgegen, da man diesen „Despotismus“ und einen unverantwortlichen Umgang mit den eigenen Soldaten vorwarf.
Auch wenn diese Vorwürfe nicht gänzlich unberechtigt waren, wurden sie auch wegen
geschichtspolitischer Motive erhoben, denn sie lenkten von den Fehlentwicklungen im
eigenen Offizierskorps ab.
63
K.u.k. Soldaten an der Ostfront im Sommer
und Herbst 1914
Eine emotionssoziologische Analyse
Sabine A. Haring
Einleitende Bemerkungen und zentrale Fragestellungen
Die Anfänge einer speziellen Emotionssoziologie in Abgrenzung zur Psychologie werden im wissenschaftlichen Diskurs vielfach mit den 1970er Jahren angesetzt,1 auch wenn
sich bereits die Klassiker der Soziologie des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts
– unter anderen Max Weber, Charles Horton Cooley und insbesondere Georg Simmel –
in ihren Werken mit Emotionen auseinandersetzten.2 In der deutschsprachigen Soziologie wird Emotionen – abgesehen von wenigen Ausnahmen – um 1990 eine verstärkte
Aufmerksamkeit zuteil, Katharina Scherke spricht in diesem Zusammenhang von der
„Durchsetzungsphase“.3 Heute beobachtet man in unterschiedlichen Disziplinen einen
emotional turn, im Hinblick auf die Geschichtswissenschaft konstatierte erst jüngst Jan
Plamper in seinem Buch „Geschichte und Gefühl“, dass die „Emotionsgeschichte im Augenblick förmlich explodiert“4. Am Beginn des 21. Jahrhunderts rücke das Gefühlsleben
des Individuums wieder ins gesellschaftliche Blickfeld, es lasse sich, so unter anderem die
Religionssoziologin Eva Illouz, der Aufstieg des Homo Sentimentalis beobachten.5
1
2
3
4
5
Vgl. zur Geschichte der Emotionssoziologie u.a.: Katharina Scherke, Emotionen als Forschungsgegenstand der deutschsprachigen Soziologie. Wiesbaden 2009; Konstanze Senge – Rainer Schützeichel
(Hg.), Hauptwerke der Emotionssoziologie. Wiesbaden 2013.
Dennoch standen im Zentrum der Arbeiten der soziologischen Klassiker die Schaffung eines genuin
soziologischen Gegenstandsbereichs und einer Methodik, die diesem Rechnung trägt, sowie Fragen
nach der Genese, Ausbreitung und den Konsequenzen des umfassenden neuzeitlichen Modernisierungsprozesses für Individuum und Gesellschaft. In dieser „Legitimierungsphase der soziologischen
Disziplin“, in der vielfach nach sozialen Gesetzmäßigkeiten in Anlehnung an die „exakten“ Naturwissenschaften gesucht wurde, wurde in „systematischer Hinsicht“ den Emotionen keine Beachtung
geschenkt.
Vgl. Scherke, Emotionen als Forschungsgegenstand.
Jan Plamper, Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte. München 2012, S. 17. –
Plamper vergleicht in diesem Zusammenhang den Versuch, eine Einführung in die Emotionsgeschichte zu schreiben, mit dem Versuch „eine Rakete nach Abschuss von der Startrampe in ihrer Beschleunigungsphase fotografisch zu fixieren“.
Vgl. Konstanze Senge, Die Wiederentdeckung der Gefühle. Zur Einleitung, in: Konstanze Senge – Rainer Schützeichel (Hg.), Hauptwerke der Emotionssoziologie. Wiesbaden 2013, S. 11–37, hier: S. 11.
66
Sabine A. Haring
Im Hinblick auf die neuere Emotionssoziologie gibt es jedoch Bereiche, die – mit
wenigen Ausnahmen – kaum Eingang in den emotionssoziologischen Diskurs gefunden
haben. Dazu zählt unter anderem die Thematisierung von Erfahrungen in militärischen
Verbänden sowohl im Krieg als auch im Frieden,6 auch wenn Emotionen sowohl im
Hinblick auf Kriegserwartung sowie Kriegserlebnis und -erfahrung als auch auf das Erinnern an den Krieg eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen.7
Einheitliche Begriffsbestimmungen von Emotion, Gefühl, Stimmung etc. liegen
bis dato nicht vor. Eine Reihe von Definitionen und theoretischen Zugangsweisen inund außerhalb der Disziplinen kennzeichnet den wissenschaftlichen Diskurs rund um
Emotionen.8 Nach Ulich stimmen die unterschiedlichen Ansätze in zwei Punkten überein: „1. Emotionen sind leib-seelische Zuständlichkeiten einer Person, an denen sich
2. je nach Betrachtungsweise verschiedene Aspekte oder Komponenten unterscheiden lassen: eine subjektive Erlebniskomponente, eine neurophysiologische Bewertungskomponente und eine interpersonale Ausdrucks- und Mitteilungskomponente.“9
Vielfach werden in der Forschung sogenannte Basisemotionen – oft auch als primäre Emotionen bezeichnet – von „sekundären“ Emotionen unterschieden, wobei
Autoren wie beispielsweise Darwin, James, McDougall, Gray, Tomkins, Emde oder
Oatley und Johnson-Laird unterschiedliche Emotionen als primäre Emotionen benennen.10 Im wissenschaftlichen Diskurs besteht jedoch weitgehend Konsens darüber, dass „happiness, fear, anger and sadness“ menschliche Universalia sind: „At
a minimum, we can conclude that happiness, fear, anger, and sadness are universal
among humans, with a few other emotions as potential candidates for inclusion in the
list of primary emotions“.11 Mayring entwickelte im Anschluss an unterschiedliche
6
Dieser Befund ist insofern überraschend, als frühe, aus den 1970er Jahren stammende US-amerikanische emotionssoziologische Arbeiten, beeinflusst vom Interaktionismus und in Abgrenzung zum
Parson’schen Funktionalismus, die Bedeutung und Funktion von Konflikten für gesellschaftliches
Zusammenleben betonten. Man denke in diesem Zusammenhang u.a. an Cosers „The Function of
Social Conflict“ aus dem Jahre 1956. Siehe Senge, Wiederentdeckung, S. 14; Sabine A. Haring, Der
„Kampf“ sozialer Gruppen als treibende Kraft der Geschichte. Die Bedeutung und Funktion von Konflikten im Werk von Ludwig Gumplowicz, in: Peter Deutschmann – Volker Munz – Ol´ga Pavlenko
(Hg.), Konfliktszenarien um 1900: politisch – sozial – kulturell. Die österreichisch-ungarische Monarchie und das russische Zarenreich um 1900. Wien 2011, S. 19–41.
7 Vgl. Sabine A. Haring – Helmut Kuzmics, Einleitung, in: Helmut Kuzmics – Sabine A. Haring, Emotion, Habitus und Erster Weltkrieg. Soziologische Studien zum militärischen Untergang der Habsburger
Monarchie im Ersten Weltkrieg. Göttingen, im Erscheinen.
8 Plamper gibt in diesem Zusammenhang folgendes Beispiel: Selbst in dem relativ eingegrenzten Forschungsfeld der englischsprachigen Experimentalpsychologie können zwischen 1872 und 1980 92
verschiedene Definitionen von Emotionen festgemacht werden. (Vgl. Plamper, Geschichte und Gefühl, S. 21.) Nach wie vor kontrovers wird innerhalb der scientific community die Frage diskutiert, in
welchem Maße Emotionen biologisch oder kulturell determiniert sind, wobei zahlreiche Ansätze sich
bemühen, sowohl die biologischen als auch kulturellen Aspekte von Emotionen zu berücksichtigen,
selbst wenn je nach Forschungsgegenstand und -interesse der jeweiligen Disziplinen nach wie vor
unterschiedliche Gewichtungen vorgenommen werden.
9 Vgl. Dieter Ulich, Begriffsbestimmung und Theoriediskussion, in: Dieter Ulich – Philipp Mayring,
Psychologie der Emotionen. Stuttgart – Berlin – Köln 1992, S. 35.
10 Vgl. u.a. Jonathan H. Turner – Jan E. Stets, The Sociology of Emotions. Cambridge et al. 2005,
S. 10–13.
11 Turner – Stets, Sociology of Emotions, S. 13.
K.u.k. Soldaten an der Ostfront im Sommer und Herbst 1914
Klassifikationsversuche von Emotionen eine Liste von 24 Emotionen, die er in vier
Gruppen zusammenfasst: in die Gruppe der „Zuneigungsgefühle“ (1. Liebe, Sympathie, Bindungsgefühl; 2. Mitgefühl; 3. Stolz, Selbstwertgefühl; 4. Hoffnung, Sehnen; 5. Überraschung, Schreck), in die Gruppe der „Abneigungsgefühle“ (6. Ekel,
Abscheu; 7. Verachtung; 8. Ärger, Wut, Zorn; 9. Angst, Furcht; 10. Hass; 11. Eifersucht; 12. Neid), in jene der „Wohlbefindensgefühle“ (13. Lustgefühl, Genusserleben; 14. Freude; 15. Zufriedenheit; 16. Erleichterung; 17. Glück) und der „Unbehagensgefühle“ (18. Niedergeschlagenheit, Missmut; 19. Trauer, Kummer, Wehmut;
20. Scham; 21. Schuldgefühle; 22. Langeweile, Müdigkeit, Leere; 23. Anspannung,
Nervosität, Unruhe, Stress; 24. Einsamkeitsgefühle).12 Die 24 genannten Emotionen
werden nun von Mayring näher beschrieben, wobei die einzelnen Gefühle jeweils
auf der Ebene des subjektiven Erlebens, der typischen Situationen, in denen diese
Emotion auftritt, der charakteristischen kognitiven Inhalte, der Forschungsergebnisse im Hinblick auf physiologische Korrelate und des typischen Ausdrucksverhaltens
abgehandelt werden. Im Hinblick auf diese 24 Emotionen finden sich unter anderem mit „Zufriedenheit“, „Niedergeschlagenheit“, „Leere“ und „Langeweile“ eher
„Stimmungen“ zuzurechnende emotionale Befindlichkeiten, da es sich dabei in der
Regel um länger andauernde Gefühlslagen handelt.13 Plamper verwendet in seiner
Untersuchung zur „Geschichte und Gefühl“ schließlich „Emotion“ im Sinne eines
„Metabegriffs“ und synonym dazu den Terminus „Gefühl“.
Möchte man nun die Erfahrungen von Soldaten im Allgemeinen und von k.u.k.
Soldaten im Ersten Weltkrieg im Besonderen unter emotionssoziologischem Fokus
untersuchen, so kann man dabei unterschiedliche Zugangsweisen wählen. Eine mögliche Zugangsweise stellt bestimmte soziale, eng mit Kriegserfahrung und -verarbeitung verbundene Phänomene wie beispielsweise Kameradschaft oder Heldentum unter
eine emotionssoziologische Perspektive und versucht die Bedeutung von Gefühlen für
„Kameradschaft“ oder „Heldentum“ nachzuzeichnen. Dies taten Helmut Kuzmics und
ich in einigen Kapiteln des von uns verfassten Buches „Emotion, Habitus und Erster
Weltkrieg“.14 Ein anderer Zugang besteht darin, anhand der zur Verfügung stehenden
Quellen – offizieller, semi-offizieller und privater Natur – mithilfe eines wie auch immer konstruierten (vom geschlossenen bis zum weitgehend offenen) Emotionskategorienschema die Fülle der darin vorkommenden Emotionen möglichst vollständig herauszuarbeiten. In diesem Sinne analysierten Silvia Andexlinger und Johannes Ebner
12 Vgl. Philipp Mayring, Klassifikation und Beschreibung einzelner Emotionen, in: Ulich – Mayring,
Psychologie der Emotionen, S. 131–181, hier: S. 138.
13 Zweifellos lassen sich in militärischen Verbänden alle 24 von Ulich und Mayring aufgelisteten Emotionen beobachten, auch wenn sich eine Reduzierung der Anzahl der zu behandelnden Emotionen, wie
Helmut Kuzmics und ich sie in der Studie „Zum Gesicht des Krieges“ vorgenommen haben, fruchtbar
zu sein scheint. Siehe Sabine A. Haring – Helmut Kuzmics, Einleitung, in: Sabine A. Haring – Helmut
Kuzmics (Hg.), Das Gesicht des Krieges: Militär aus emotionssoziologischer Perspektive. Wien 2008,
S. 9–58, hier: S. 44–46.
14 Vgl. Helmut Kuzmics – Sabine A. Haring, Emotion, Habitus und Erster Weltkrieg. Soziologische
Studien zum militärischen Untergang der Habsburger Monarchie im Ersten Weltkrieg. Göttingen, im
Erscheinen.
67
68
Sabine A. Haring
Emotionen von k.u.k. Soldaten im Ersten Weltkrieg,15 wobei sie sich – in Anlehnung
an die Grounded Theory – für ein relativ offenes Schema entschieden und zwei Tagebücher (Theofil Reiss, Anonym), zwei Autobiografien (Johann Obermüller, Ferdinand
Flemmich), zwei Kriegsromane („Berge in Flammen“ [1931] von Luis Trenker und
„Die Standarte“ [1934] von Alexander Lernet-Holenia) und zwei im Österreichischen
Milizverlag herausgegebene Autobiografien (Otto Gallian, Fritz Weber) untersuchten.16
Zusammenfassend stellten sie fest, dass zu Beginn des Krieges die Begeisterung für den
Krieg beziehungsweise für den Kriegseintritt dominiert und dass in allen Texten – zu
unterschiedlichen Zeiten und zum Teil ausgelöst durch bestimmte Ereignisse (Erlebnisse
an der Front, die Veränderung der privaten Situation oder neue politische Nachrichten),
von einer Sekunde auf die andere oder schleichend – ein Bruch erkennbar ist, an dem
sich die Stimmung ändert und an die Stelle der Begeisterung Schock, Enttäuschung und
Frustration treten. In allen acht analysierten Werken stehen ähnliche Emotionen im Vordergrund: Angst, Unsicherheit, Wut, Freude (Begeisterung), Resignation, Frustration,
Enttäuschung, Stolz und Ehr­gefühl.17
Die folgenden Ausführungen sind der bereits von Andexlinger und Ebner gewählten
Zugangsweise zuzuordnen. Es wird versucht, die in den analysierten Texten beschriebenen Emotionen aufzuspüren sowie Deutungen und Zuschreibungen von Gefühlen in
ihren jeweiligen Kontextbedingungen nachzuzeichnen. Das, was die Soziologin beziehungsweise der Soziologe dabei in der Regel untersucht, sind Aussagen über Emotionen. Diese sind – wie Konstanze Senge unterstreicht – eine „Rekonstruktion höherer
Ordnung“.18 Es geht also darum, wie Individuen Emotionen deuten, wobei die jeweiligen „Emotionskonzepte“ wiederum auf emotionale Erfahrung zurückwirken.19 Daneben
15 Vgl. Silvia Andexlinger – Johannes Ebner, „Friedlich leuchtet die Sonne auf Tod und Leben“. Die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges in literarischen und nicht literarischen Quellen, in: Sabine A. Haring
– Helmut Kuzmics (Hg.), Das Gesicht des Krieges: Militär aus emotionssoziologischer Perspektive.
Wien 2008, S. 59–113.
16 Annahmen, Fragestellungen und Hypothesen wurden während der Analyse ständig korrigiert und aktualisiert, wodurch während des Lesevorganges unerwartete Problemstellungen in das Fragengerüst
aufgenommen wurden und dieses ständig erweitert werden konnte. Die Analyse selbst erfolgte in
mehreren Durchgängen, die jeweils aus mehreren Schritten bestanden.
17 Vgl. Andexlinger – Ebner, „Friedlich leuchtet die Sonne auf Tod und Leben“, S. 71–83.
18 Vgl. Senge, Wiederentdeckung, S. 19.
19 Als Quellen emotionssoziologischer Forschung fungieren also vorrangig sprachliche Zeugnisse von
Menschen wie beispielsweise Autobiografien, Briefe, Karten und für die Gegenwartsgesellschaften SMS- und E-Mail-Nachrichten sowie Interviews. Den idealtypisch angelegten, je nach Gesellschaftstypus unterschiedlich strukturierten schichtspezifischen Rollensystemen entspricht dabei ein
bestimmter Sprachgebrauch. So ist für Mitglieder unterer Schichten charakteristisch, dass nur das
sprachlich ausgedrückt wird, was neben den non-verbalen Bedeutungsdeterminanten noch als notwendig erscheint, wobei das Verbalisierte nur im jeweiligen Kontext verständlich ist. In der Mittelschicht
hingegen werde auch das bereits durch den Kontext Verständliche zur Sprache gebracht. In Bezug auf
Emotionen bedeutet dieser Befund zumindest, dass Mittelschichtangehörige in der Lage sind, Gefühle
eher und differenzierter zu verbalisieren, sie aber wie auch Oberschichtangehörige dazu neigen, direkte emotionale Äußerungen zu vermeiden bzw. sich von den eigenen emotionalen Konstruktionen
teilweise zu distanzieren, Fähigkeiten des Aufschiebens und Abwartens zu pflegen und das emotionale
Handeln auf die Antizipation der Erwartungen der anderen abzustimmen. Siehe Jürgen Gerhards, Soziologie der Emotionen. Fragestellungen, Systematik und Perspektiven. Weinheim – München 1988,
S. 118–122.
K.u.k. Soldaten an der Ostfront im Sommer und Herbst 1914
gilt es aber auch die „Leerstellen“ in den Blick zu nehmen. Welche Gefühle werden
selten oder gar nicht genannt, mit welchen Begriffen könnten diese aber umschrieben
werden? Nicht Inhalt der folgenden emotionssoziologischen Analyse sind Überlegungen
dazu, welche Gefühle bei dem Leser oder der Leserin ausgelöst werden beziehungsweise – da ja die jeweiligen Quellen mit bestimmten Intentionen verfasst wurden – wohl
auch ausgelöst werden sollten.
Im Folgenden soll am Beispiel einer Regimentsgeschichte: der Geschichte des k.u.k.
Infanterieregiments Nr. 27,20 des Grazer Hausregiments, eine emotionssoziologische
Analyse versucht und anschließend mit einem autobiografischen Manuskript, jenem von
Gottlieb Pomberger, in Beziehung gesetzt werden. Als Analyserahmen wurde eine sehr
kurze Zeitperiode gewählt: der Sommer- und Herbstfeldzug 1914.
Erst jüngst hat Wencke Meteling mit ihrer Untersuchung eines deutschen und eines
französischen Regiments und deren Heimatstädte im Deutsch-Französischen Krieg von
1870/71 und im Ersten Weltkrieg Regimentsgeschichten für eine „breiter angelegte Kultur- und Sozialgeschichte von Regimentern“ fruchtbar gemacht.21 Beide Typen von Quellen – Regimentsgeschichten22 und autobiografische Manuskripte23 – sind keine Ad-hocDokumente, das heißt, zwischen den den Dokumenten zugrunde liegenden Erlebnissen
sowie Erfahrungen und den damit korrespondierenden Emotionen liegen Zeitschichten,
die in den Gedächtnisprozess eingreifen.24 Darüber hinaus sind Emotionen „ursächlich
daran beteiligt“, „Erinnerungen aus den Gedächtnisspeichern zu mobilisieren“ 25 oder die20 Die Geschichte des steirischen k.u.k. Infanterieregiments Nr. 27 wurde von Oberst d. R. Hermann
Fröhlich, die Auszeichnungs- und Verluststatistik von Oberst d. R. Franz Rech Edler von Feleky und
die Skizzen von Oberstleutnant i. d .R. Arnold Philipp in zwei Bänden verfasst; erschienen ist die
Regimentsgeschichte im Jahre 1937. Bereits im Geleitwort wird die Intention der Verfasser deutlich:
Es geht vorrangig darum, den im Ersten Weltkrieg kämpfenden toten und überlebenden Kameraden
ein Denkmal zu setzen, ihre Treue, ihren Mut und ihr Heldentum für die Nachwelt festzuhalten; und
das – so lässt das Vorwort vermuten – unter deutschnationalen bzw. völkischen Vorzeichen.
21 Vgl. Wencke Meteling, Ehre, Einheit, Ordnung. Preußische und französische Städte und ihre Regimenter im Krieg, 1870/71 und 1914–19. Baden-Baden 2010, S. 19.
22 Vorrangig bieten Regimentsgeschichten aufgrund ihrer Detailgenauigkeit bedeutsame Informationen
zur Genese, Geschichte, Organisation, Ausbildung, Uniformierung, Bewaffnung und Ausstattung
eines Regiments mit einer Fokussierung auf die Feldzüge. Darüber hinaus enthalten Regimentsgeschichten Offiziersstammlisten, Stellenbesetzungen, Stärkenachweise, Gliederungen sowie Listen
von Gefallenen und Ausgezeichneten.
23 Bei beiden schreiben die jeweiligen Autoren aus der Retrospektive, beide sind für ganz bestimmte
Leserkreise (z.B. die Familie, die gegenwärtigen oder auch zukünftigen Kameraden etc.) verfasst. In
beiden Fällen soll dem Vergessen das Erinnern gegenübergestellt werden.
24 Zum Erinnern gehört schon rein begrifflich die Zeit: „Zeit und Identität“, so Aleida Assmann, „greifen aktiv in den Gedächtnisprozess ein, wodurch es unweigerlich zu einer Verschiebung zwischen
Einlagerung und Rückholung kommt.“ (Aleida Assmann, Speichern oder Erinnern? Das kulturelle
Gedächtnis zwischen Archiv und Kanon, in: Moritz Csáky – Peter Stachel (Hg.), Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, Museen, Archive. Teil 2: Die Erfindung des Ursprungs; die Systematisierung der Zeit. Wien 2001, S. 15–29, hier: S. 15). Auf den individuellen Gedächtnisprozess wirken
darüber hinaus sowohl das kommunikative als auch das kulturelle Gedächtnis. Siehe Jan Assmann,
Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Jan Assmann – Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und
Gedächtnis. Frankfurt am Main 1988, S. 9–19.
25 Claudia Wassmann, Die Macht der Emotionen. Wie Gefühle unser Denken und Handeln beeinflussen.
Darmstadt 2002, S. 14.
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Sabine A. Haring
se bewusst (z.B. weil man sich schämt) oder unbewusst (z.B. weil man traumatisiert ist26)
unter Verschluss zu halten.27
Zur Emotions-Geschichte des k.u.k. Infanterieregiments Nr. 27
Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert war ein Regiment eine militärische Organisation zur Ausbildung von Soldaten sowohl für den Krieg als auch für den „inneren Einsatz“, es diente – durch Erziehung der Soldaten zu loyalen Untertanen – der Sicherung
der Herrschaft. Aus „kulturalistischer Perspektive“ können Regimenter, wie Wencke
Meteling unterstreicht, „als organische und traditionsbewusste Einheiten, als ‚militärische Soziotope‘ mit einer eigenen Kultur“28 gedeutet werden. Zur „Regimentsfamilie“
oder „-gemeinschaft“ zählten in diesen Narrativen die lebenden und die toten Mitglieder
des Regiments und deren Angehörige: „Regimentsgeschichten sind Familiengeschichten einer militärischen Einheit, die nach innen Kohäsion und nach außen Legitimität
schaffen soll.“29
Fröhlichs Geschichte des k.u.k. Infanterieregiments Nr. 27 beginnt mit dem Attentat
in Sarajewo, dem „ersten Alarmtag“ (27. Juli) und dem Mobilisierungstag (28. Juli).
„Sang- und klanglos ohne Abschied“ verlässt das Regiment am 30. Juli seine Garnison,
begleitet von Theodor Körners „Gebet vor der Schlacht“, das „diesmal […] ans Herz“30
griff, und zieht am darauffolgenden Tag „unter dem Jubel der Grazer Bevölkerung“ in
Graz ein, unternimmt in den Petersbergen Gefechtsübungen und verlässt nach einem
feierlichen Festgottesdienst und wiederum unter dem Jubel der Bevölkerung und den
Klängen des Radetzkymarsches, diesem „hinreißenden, berauschenden Geniewerk, in
dessen herrlicher Marschmelodie das alte Österreichertum jubelt und jauchzt und deren
deutsch – magyarisch – slawisch – italienisch klingende Weisen mit ihrem zwingenden
Rhythmus zum klingenden Symbol der ganzen altösterreichischen Armee wurden, […]
mit stolzer Entschlossenheit in den schweren Kampf.“31 Dieses von Fröhlich und vielen
anderen gezeichnete Narrativ der Kriegsbegeisterung im Sommer 1914 muss jedoch
26 Im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg gehen internationale Schätzungen davon aus, dass zwischen
800.000 und einer Million Soldaten in den kriegsführenden Nationen von „Kriegspsychiatern“ als
„traumatisiert“ eingestuft wurden. Siehe Susanne Michl – Jan Plamper, Soldatische Angst im Ersten
Weltkrieg. Die Karriere eines Gefühls in der Kriegspsychiatrie Deutschlands, Frankreichs und Russlands, in: Geschichte und Gesellschaft. Jg. 35, H. 2, 2009, S. 209–248, hier: S. 213.
27 Eine weitere Unterscheidung von hohem Belang ist jene zwischen bewusster Erinnerung und sedimentiertem, nicht lokalisierbarem „Trauma“. Traumata können von der Art sein, dass sie gar nicht
erzählt werden oder wenn, dann nur mit größter Mühe und speziellen Methoden rekonstruiert werden
können. Vgl. dazu Harald Welzer, Die Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen. Eine sozialpsychologische Perspektive, in: Hartmut Radebold – Werner Bohleber – Jürgen Zinnecker (Hg.), Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen. 2. Auflage. Weinheim – München 2009, S. 75–93, hier:
S. 90. – In den Berichten werden häufig die äußeren Ereignisse festgehalten, der traumatische Kern
der Erfahrung jedoch nicht.
28 Meteling, Ehre, Einheit, Ordnung, S. 26.
29 Ebd., S. 28.
30 Hermann Fröhlich, Geschichte des steirischen k.u.k. Infanterie-Regimentes Nr. 27 für den Zeitraum
des Weltkrieges 1914–1918. Bd. 1. Innsbruck 1937, S. 9.
31 Fröhlich, Geschichte des k.u.k. Infanterie-Regimentes Nr. 27, S. 9.
K.u.k. Soldaten an der Ostfront im Sommer und Herbst 1914
teilweise einer kritischen und im Hinblick auf soziale Schichten und Milieus sowie auf
regionale und lokale Besonderheiten differenzierenden Betrachtung unterzogen werden.
Darauf weisen neuere Untersuchungen zum „Augusterlebnis“ hin.32
Die jeweilige Wetterlage, die Topografie des Geländes, der Zustand der Straßen
und Wege bilden die Rahmenbedingungen für die Soldaten im Sommer und Herbst
1914 in Galizien. Zunächst sind es im Sommer die Hitze und der Staub, dann der Regen und damit einhergehend der schlammige Boden und die Kälte, die den Soldaten
schwer zu schaffen und die geforderten Marschleistungen – oft über 30 Kilometer am
Tag – zur Tortur machen. Ständige Begleiter sind auch Hunger und Durst; der Train,
die Fahrküchen, sind oft weit hinter den Einsatztruppen (ein „verhängnisvoller Fehler“
zu Kriegsbeginn33). Häufig ernähren sich die Soldaten von Reserveportionen, bisweilen
wird der „brennende Durst“ mit Sumpfwasser gelöscht. Ortschaften, Straßen und Wege
sind häufig von den Train- und Artilleriekolonnen sowie von flüchtenden Einwohnern
und Einwohnerinnen verstopft, Chaos führt immer wieder dazu, dass die Einheiten nach
gewaltigen Marschleistungen am Ende des Tages wieder an ihrem Ausgangspunkt ankommen.34 Übermüdung wird zum ständigen Begleiter der Soldaten35; bereits vor der
ersten Schlacht ist ein Großteil der Truppen erschöpft, während die Russen – durch
den russisch-japanischen Krieg erprobt im Kampf – nach einem von General Russki,
dem Befehlshaber der 3. Armee, verordneten Rasttag ausgeruht in die erste Schlacht,
in die Teile des Regiments Nr. 27 verwickelt sind, ziehen.36 Die ersten Wochen führen
die Verbände einen Bewegungskrieg, sie kämpfen bei Eisenbahntrassen, auf Anhöhen,
in Wiesen und Wäldern, in Dörfern und Gehöften. Die Russen werden als übermächtig
erfahren – sei es an Geschützen, an Material, aber auch an der Anzahl an Soldaten.37
Fröhlich spricht in diesem Zusammenhang von der „Russenflut“, der die k.u.k. Truppen
Tapferkeit und „Opfermut“ entgegensetzen.38
32 Vgl. Petra Ernst – Sabine A. Haring – Werner Suppanz, Der Erste Weltkrieg – Zeitenbruch und Kontinuität. Einleitende Bemerkungen, in: Petra Ernst – Sabine A. Haring – Werner Suppanz (Hg.), Aggression und Katharsis. Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne. Studien zur Moderne 20. Wien
2004, S. 15–41, hier: S. 17–21.
33 Fröhlich, Geschichte des k.u.k. Infanterie-Regimentes Nr. 27, S. 50.
34 Vgl. ebd., u.a. S. 18f., 35, 40, 45, 50–52, 79, 83, 91.
35 Ebd. u.a. S. 18f., S. 53.
36 Vgl. ebd., S. 24.
37 Eine eingehende Analyse der Freund- und Feinderfahrungen und -zuschreibungen und der damit einhergehenden Emotionen finden sich in Kuzmics – Haring, Emotion, Habitus und Erster Weltkrieg,
Kapitel 5. In diesem Aufsatz wird daher auf eine detaillierte Betrachtung dieser Thematik verzichtet.
38 Vgl. Fröhlich, Geschichte des k.u.k. Infanterie-Regimentes Nr. 27, u.a. S. 42, S. 50 und S. 80. – In
ähnlicher Art und Weise beschreibt Constantin Schneider, der bei Kriegsausbruch als Oberleutnant der
Artillerie mit seiner Division ein Teil der 4. Armee unter dem Kommando von Auffenberg war, in seinen Kriegserinnerungen den Verlauf der zweiten (Oktober-)Offensive, die zur Schlacht am San führte:
„Alle Unternehmungen, den Feind zu vertreiben, schlugen fehl, denn er verfügte über unerschöpfliche
Mittel, und mit einer unheimlichen Zähigkeit verstärkte er sich beständig.“ Vgl. Constantin Schneider,
Die Kriegserinnerungen 1914–1919. Eingeleitet und herausgegeben von Oskar Dohle. Wien – Köln –
Weimar 2003, S. 168. – Zur Größe der Streitkräfte im Verlauf des Krieges im Vergleich siehe Rüdiger
Overmans, Kriegsverluste, in: Gerhard Hirschfeld – Gerd Krumeich – Irina Renz (Hg.), Enzyklopädie
Erster Weltkrieg. Paderborn 2009, S. 663–666, hier: S. 664f. Overmans nennt für Österreich-Ungarn
9 Millionen eingesetzte Soldaten und für Russland 15,8 Millionen, wobei die Angaben zu Russland
mit einem Fragezeichen, da zweifelhaft, versehen sind.
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Sabine A. Haring
Bereits vor dem ersten Gefecht zeigt sich nach Fröhlich eine „Überspannung der
Truppen, die durch die Unzulässigkeit der Einschaltung von Rasttagen […] eine Übersteigerung fand, als die gewaltige erste Schlachtensymphonie im Osten begann“39.
Gleichzeitig herrscht, so Fröhlich, der „brennende Wunsch, den Feind zu fassen und
zur Strecke zu bringen, bevor er noch seine Übermacht zur Geltung bringen“ kann.
Dies führt zu einer „Übersteigerung des Angriffsgedankens“. Das, was die Stunden unmittelbar vor dem Gefecht und insbesondere vor dem ersten Gefecht charakterisiert,
ist ein großer „Spannungszustand“, die Angst vor dem Ungewissen, selbst in den Gesichtszügen spiegelt sich zunehmende Nervenanspannung wider: „Und noch immer kein
Befehl! Die Ungeduld steigert sich, das Warten wird nachgerade zur Qual! Da – endlich der Ruf an die Gewehre! Zu Ende die quälende Ungewissheit!“40 Das, was hinter
dem Spannungszustand steht, ist wohl eine Mischung aus Angst und Neugierde. Durch
die Aktion tritt Entlastung ein, der Zustand der Unsicherheit ist überwunden, es geht
vorwärts. Vom Feind ist zunächst nichts zu sehen, die Soldaten wissen nicht, wo seine
Stellungen sind, wo er sich verschanzt hat, aber sie haben das „Gefühl“, dass er „auf der
Lauer liegt“. 41 Beim ersten Gefecht zeigt sich die russische Infanterie als „vorbildlich“42
und „Rußlands Eliteartillerie aus dem Kiewer Militärbezirk“ [beherrscht] souverän das
Kampffeld“43, auch wenn sich die k.u.k. Einheiten als vorwärtsstürmend und überaus
tapfer erweisen. Doch die Angriffsstimmung verändert sich: „Die Luft wurde in den ersten Nachmittagsstunden immer eisenhältiger. Ganze Waggonladungen Eisen wirft der
Russe in den Kampfraum. Seine Batterielagen sausen krachend in die Görzer Batterien,
die schwer bluten, streuen zum Eisenbahndamme, hauen in die Niederungen ein, wo
Reserven vermutet werden. Dieses ununterbrochene rollende Zickzackstreufeuer […]
zerrt nach und nach an den Nerven, läßt nicht zur Ruhe kommen. Mag dieses Feuer
auch zahm sein gegenüber seiner später zur Furie entarteten Schwester: fürs erste war
besonders der moralische Eindruck tiefgehend. Nach wenigen Stunden hat jeder bis zum
letzten Tragetierführer das Gefühl der Ohnmacht gegenüber diesem Feuerwirbel.“44 Das
Artilleriefeuer steigert „die seelische Erschütterung des Einzelmenschen in der ersten
Schlacht“45. Nach dem „Ausbluten“ seines „Heldenbataillons“ ergreift diese „seelische
Erschütterung“ auch den Kommandanten des II. Bataillons der 27er Major Siegl: „‚Mein
armes Bataillon!‘ […] Bittere Enttäuschung steigt auf. Mit flammender Begeisterung
ging es morgens ungestüm in den Kampf. Wer hätte dies unheilvolle Tagesende vorgeahnt? Das Regiment mit seiner ruhmerfüllten Vergangenheit – geschlagen!“46 Der Tag
der Feuertaufe bedeutet also für die Soldaten ein Wechselbad der Gefühle – Anspannung
(Angst und auch Vorfreude) vor dem ersten Gefecht, Angriffslust, die unter anderem
39 Vgl. Fröhlich, Geschichte des k.u.k. Infanterie-Regimentes Nr. 27, S. 20.
40 Ebd., S. 25.
41 Ebd., S. 26f. – Die „kriegserfahrenen“ Russen sind „gut verschanzt“ in „vorzüglichen Deckungen mit
vorgelagerten Drahthindernissen“.
42 Ebd., S. 28.
43 Ebd., S. 29.
44 Ebd., S. 29.
45 Ebd., S. 32.
46 Ebd., S. 35.
K.u.k. Soldaten an der Ostfront im Sommer und Herbst 1914
hilft, die Angst zu bekämpfen, Niedergeschlagenheit und Erschütterung nach dem ersten
Gefecht: „Mit starr zu Boden gesenktem Blicke, wortlos, in das eigene Gedankennetz
verstrickt, ziehen die 27er-Gruppen durch die Niederung, erreichen Sknilów, über dem
blutroter Schein der Brandfackel des nahen Firlejówka liegt.“47 Der Tag der Feuertaufe
habe, hält Fröhlich fest, so viele Soldatenträume zerrissen.48
In Fröhlichs Regimentsgeschichte gibt es einige Passagen, die die „Ästhetik des
Grauens“ – paradigmatisch auch zu finden in Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ – im
Krieg widerspiegeln. Das Grauen wird in diesem Kontext als etwas beschrieben, das sowohl anzieht als auch abstößt – als ein „schaurig-schöner Anblick“ von „hohen Flammenrauchsäulen brennender Ortschaften und Höfe steil gegen den blutroten Abendhimmel“49
ragend. Das Grauen lässt die Soldaten frösteln, fasziniert sie aber auch.
Die Schilderungen der Kampfhandlungen im Sommer 1914 sind – trotz zahlreicher
pathetischer Passagen – bei Fröhlich ambivalent: Auf der einen Seite berichtet Fröhlich
von „Heldentaten“, mutig vorstürmenden, „zähen“ Truppen, auf der anderen Seiten jedoch vom „Versagen einzelner Unterführer und Truppen“, von Paniken50, die auch „hervorragende Regimenter“ nicht verschonten, plündernden Husaren, die angeblich eine
Schnapsfabrik in Brand gesteckt und damit eine Panik unter der Zivilbevölkerung ausgelöst hätten.51 Er berichtet von „Nervosität“ und „erschüttertem Selbstvertrauen“ als „psychischen Ausstrahlungen des eindrucksvollen Erlebnisses des ersten Schlachttages“52.
Abschließend resümiert Fröhlich die erste Kampfperiode 1914, bis zum 3. September,
folgendermaßen: „Es [das 27er-Regiment] hatte diese schicksalhaften Tage tapfer, zäh,
pflichtgetreu durchgestanden, seine Willenskraft, seine Standfestigkeit, seinen Opfermut erprobt, alle Mühsale und Beschwernisse, alle seelischen Erschütterungen mannhaft und leidgestählt ertragen, keinen geringen Blutzoll entrichtet. Von Enttäuschungen
heimgesucht, aber ungebrochenen Mutes vertrauend seiner Kraft, seinem eisenharten
Wollen, harrte des neuerlich an ihn ergehenden Rufes – das Regiment.“53 Es hatte also,
in der Deutung von Fröhlich, seine Angst (ohne dass das Wort Angst nur ein einziges
Mal vorkommt) überwunden, Mut gezeigt, seine Niedergeschlagenheit bekämpft und
neues Vertrauen aufgebaut. Doch bereits am 3. September – beim Kampf der 4. Kompanie mit den hauptsächlich mit Lanzen kämpfenden Kosaken bei Sokolniki – verursacht
die Übermacht des Gegners „moralischen Druck“.54 Am Bahnhof in Lemberg treffen
die Neuankömmlinge nach tagelanger Bahnfahrt übermüdet in einer „elektrisch geladenen Atmosphäre der gefahrenumwitternden, kampferfüllten Kriegszone“55 ein, auf
den Bahnhöfen entlang der Straße warten die zahlreichen, „Hiobsbotschaften verbrei47 Ebd. – Vgl. zur Ästhetik des Grauens bei Jünger Karl Heinz Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens.
Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk. München – Wien 1978, sowie Paul Noack,
Ernst Jünger eine Biographie. 3. Auflage. Berlin 1998, S. 38f.
48 Vgl. Fröhlich, Geschichte des k.u.k. Infanterie-Regimentes Nr. 27, S. 35.
49 Ebd., S. 35.
50 „Panik“ ist das glatte Gegenteil von „Lust“ – das Verhalten ist also in erster Linie angstgesteuert.
51 Vgl. Fröhlich, Geschichte des k.u.k. Infanterie-Regimentes Nr. 27, S. 43, 45.
52 Ebd., S. 51.
53 Ebd., S. 45.
54 Ebd., S. 46f.
55 Ebd., S. 50.
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Sabine A. Haring
tenden“ Verwundeten auf den Abtransport, es herrschen Anzeichen einer „den Neuankommenden unbegreiflichen Panikstimmung“: „Nervosität“ scheint auch, so Fröhlich,
die Transportleitung ergriffen zu haben, die „Erregung […] beängstigend“ zu wachsen.
Eine besondere Bedeutung kommt in dieser panischen, von Gerüchten getragenen Stimmung dem „Kosakenschreck“ zu, „der in seinen üblen Auswirkungen jedem kühl und
fest gebliebenen Frontsoldaten nahezu grotesk erscheinen mußte“.56
Positive Gefühle im Sinne einer gehobenen Stimmung beobachtet Fröhlich dann,
wenn es vorwärts geht, wobei die Erregung bei den Neuankömmlingen besonders groß
ist, während die „Kampferprobten“ „ruhigen Blutes“ bleiben.57 So freut sich die 7. Kompanie, die am 26. August nicht die Feuertaufe erlebt hat, darauf, „endlich einmal loslegen
zu können“58. Doch beim Vormarsch trifft man auf eine Schwarmlinie: „Der Sensenmann hatte ihr [der Schwarmlinie von 10 bis 15 Mann] alles Leben vertilgt. Nur einige
Schwerverwundete wälzen sich in den Ackerfurchen. Doch jetzt heißt es hart bleiben!
Zum hilfreichen Kameradendienste sind andere ausersehen. ‚Vorwärts!‘ An uns liegt es,
die armen Dulder zu rächen.“59 Das Elend der Kameraden soll also unmittelbar gesühnt
werden. Immer wieder jedoch endet der ungebremste Vorwärtsdrang in einem „Verbluten“: „Der ungestüme Angriffsfuror wurde der Kompagnie zum Verderben.“60
Auf den ersten Blick zeichnet Fröhlich ein einheitliches Bild von tapferen, vorwärtsstürmenden Offizieren und Soldaten, bei genauerer Analyse zeigt sich jedoch, dass er
immer wieder auch von zurückweichenden Soldaten berichtet, die durch andere erst
wieder zum Kampf motiviert werden müssen. Diese gehören – in der Erzählung von
Fröhlich – zumeist anderen Regimentern an,61 Offiziere des eigenen Regiments oder mit
diesem „verbundener“ Regimenter62 fordern die Zurückweichenden jedoch zum Kampf
auf.63 „Energische“, „wagemutige“ Männer geben den Soldaten Vertrauen zurück und
ermutigen sie mit „wiedergewonnenem Selbstvertrauen“ zum Vorwärtsstürmen; sie
helfen durch ihre Vorbildwirkung, „zweifelndes Vertrauen“ abzuschwächen:64 „Perletz
56 Ebd., S. 50. – Auch Schneider weist in seinen Kriegserinnerungen auf (unbegründete, wie sich herausstellen sollte) Ängste der Soldaten, die sich aus ihrer Unwissenheit und damit Unsicherheit nährten,
hin: auf die „Kosakenfurcht“, die bei jedem Pferdegetrappel eine von bloßen Gerüchten genährte „Panik“ auslöste, oder die „Minenangst“, die sich zu einer regelrechten „Psychose“ ausgewachsen habe.
Vgl. Schneider, Die Kriegserinnerungen 1914–1919, S. 67.
57 Vgl. Fröhlich, Geschichte des k.u.k. Infanterie-Regimentes Nr. 27, S. 54, 57.
58 Ebd., S. 63.
59Ebd.
60 Ebd., S. 60. – Gemeint ist damit die 14. Kompanie, die im Kampf um den Meierhof von russischer
Artillerie bei gleichzeitig kaum vorhandenen Deckungsmöglichkeiten niedergestreckt wird.
61 Die Zuschreibung von zurückweichenden Soldaten oder von ihnen verübten Gewalttaten an Zivilisten erfolgt, wenn überhaupt, immer an andere Regimenter. Es soll „kein schlechtes Licht auf das
eigene Regiment oder die eigene Armee“ geworfen werden. Siehe Meteling, Ehre, Einheit, Ordnung,
S. 218–220, die diese Strategie am Beispiel deutscher Regimenter bei ihrem Einsatz in Belgien nachzeichnet.
62 Sehr häufig wird das Schwesterregiment, die 47er, bei Fröhlich erwähnt. Zahlreiche Hinweise finden
sich auch zu den „tapferen Untersteirern“ des Infanterie-Regiments Nr. 87.
63 So seien Teile der kämpfenden 97er „zurückgeflutet“, jedoch von den 47ern, dem Schwesterregiment,
zum Stehen gebracht worden. Siehe Fröhlich, Geschichte des k.u.k. Infanterie-Regimentes Nr. 27,
S. 64.
64 Ebd., S. 62 und S. 66–68.
K.u.k. Soldaten an der Ostfront im Sommer und Herbst 1914
[Oberleutnant bei den 27er Regimentspionieren] ließ nicht locker. Unbeugsam hatte er
sie aus dem wirbelnden Durcheinander herausgerissen und vorgeführt. Und schon meldet sich eine Stimme: ‚Na, gemma halt! Alle wer ma ja net hin sein!‘ Es ist Zugführer
Jagersbacher, ein Hüne von Gestalt, kaltblütiger ‚Jager‘, dessen aufmunterndes Wort
aufhorchen lässt.“65 Fatalismus und wohl auch eine Portion Zynismus sprechen aus
diesen Worten. Voller „Selbstvertrauen“, „das die physischen und moralischen Kräfte
dieser ‚Prachtkerle‘ vervielfachte“66, stürmen die Pioniere nun „wie ein Mann“ vor, es
folgt ein wildes Gefecht der „kampfentbrannten“, „kaltblütigen“ Steirer, die mit „Bajonett und Kolben wie die Teufel“67 vorgehen.68 Die einschneidenden Kriegserlebnisse
der ersten Wochen macht Fröhlich dafür verantwortlich, dass manche „schwanken“ und
das „Vertrauen“ verloren hätten. Die Stimmungen ändern sich, Angriffslust wird von
„bewundernswertem Gleichmut“ abgelöst und stößt wiederum auf rückwärtsstürmende,
von Panik getriebene Kameraden.69 Die Augen sehen Schwerverwundete und Tote, die
Ohren hören „qualvolle Schreie der Schwerverwundeten“.70 Vor den nächsten Gefechten
macht sich „höchste Spannung“ breit.71
Im Hinblick auf die Sommerschlachten kommt Fröhlich schließlich zu folgendem Resümee: „In den Augustschlachten stürzten alle öst.-ung. Armeen gleich wilden
Stieren aus ihren Zwingern in die Riesenarena zwischen Weichsel und Dniester. Sie
mußten für ein Kampfverfahren, das sein Heil in einer an allen Fronten entbrennenden
Offensive suchte, schwer büßen. In den Septemberschlachten aber fanden sich Angriff
und Verteidigung schon schwesterlich nebeneinander.“72 Der Rückzug bedeutet für die
Soldaten wiederum ein Wechselbad an Gefühlen: „Furchtbare Enttäuschung wandelt
65 Ebd., S. 66.
66 Ebd., S. 68.
67 Fröhlich verwendet zahlreiche religiöse Metaphern: Den nächtlichen Marsch bei Jawornik Ruskie –
diesen „Teufelsweg mit seinen aufgerissenen Löchern, die in der pechschwarzen Regennacht zu Fallen
wurden, mit seiner zäh-klebrigen Kotschichte, aus der die Steirersöhne, schweißtriefend, sich losziehen mußten“ – bezeichnet er als „Martyrium“. Doch habe der „eiserne“ Regimentstrainkommandant
Hauptmann Moll „dieses Teufelsstück“ bezwungen; es sei „wohl das schlimmste Marscherlebnis des
Regimentes im ganzen Krieg gewesen“ (95). Die Cholera bezeichnet er als „Heimsuchung“ und als
„Gottesgeißel“ (145). Im Zusammenhang mit dem Gefecht bei Krempna spricht Fröhlich von einer
„teuflischen Falle“ (218), aus der sich die Soldaten nur mit zahlreichen Opfern lösen können. 15 Männer werden gefangengenommen. Als am 23. Jänner 1915 die Karpatenschlacht losbricht, beschreibt
dies Fröhlich folgendermaßen: „Hinein ging es in die eisige Hölle der Karpathenschlacht.“ (229) Im
Zuge der Märsche Anfang März 1915 spricht Fröhlich wiederum von einem „Kreuzweg“ (249), einer
„Teufelsroute“ oder einem „teuflischen Hang“ (260), den es zu erklimmen gilt. Als der Russe nach
einer „Osterpause“ wieder aktiv wird, beschreibt er dies als „Auferstehung“ (282).
68 Vgl. Fröhlich, Geschichte des k.u.k. Infanterie-Regimentes Nr. 27, S. 67. – Eine ähnliche Szene findet
sich im Tagebuch eines unbekannten Offiziers: „In diesem Moment setzte ein verheerendes Feuer
ein, das unsere Leute zu hunderten niedermähte und dem auch ein großer Teil unserer Offiziere zum
Opfer fiel. Aber wild vor Erregung gingen unsere Leute zum Nahkampf über, sprangen in die russischen Schützengräben und was sich nicht durch Flucht gerettet hatte, wurde niedergeschossen oder
vom Bajonett zerfleischt.“ Siehe Tagebuch Unbekannt, 1914, S. 45, zitiert nach Andexlinger – Ebner,
„Friedlich leuchtet die Sonne auf Tod und Leben“, S. 99.
69 Vgl. Fröhlich, Geschichte des k.u.k. Infanterie-Regimentes Nr. 27, S. 75.
70 Ebd., S. 68.
71 Ebd., S. 83.
72 Ebd., S. 85.
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Sabine A. Haring
sich in Erbitterung, wird zur Verzweiflung. Und dann kommt es langsam heran: dumpfe
Resignation. […] Graues Regengewölk senkt sich über das Regiment. Ein Leidensweg
beginnt …“73 Und Fröhlich wirft der Heeresleitung mangelndes Vertrauen vor, da sie die
Kämpfenden erst im „äußersten Augenblicke“ vom Rückzug unterrichtet hätte: „Hatte
man nicht so viel Vertrauen in Mut und Ausdauer der Truppen?“74
Die Strapazen der Kampfhandlungen und das schlechte Wetter beim Rückzug haben, wie Fröhlich nachzeichnet, physische aber auch psychische Konsequenzen für die
Soldaten.75 Die Cholera wird zu einer neuen Gefahr, Mann und Pferd sind völlig erschöpft und winden sich in einer „Riesenschlange“ im „schlammigen Brei“ dahin. Auf
beiden Seiten der Straße liegen Hunderte aufgedunsener Kadaver.76 Jedem Bataillon
wird nun eine Reserveküche für das Abkochen von Trinkwasser zur Seite gestellt; die
Versorgungslage ist nach wie vor angespannt.77 Ist das der Bruch, die Zäsur, die Andexlinger/Ebner in ihrer Analyse bei sieben von acht Quellen feststellen konnten? Fröhlich
selbst hält fest: „An die Stelle der Kriegsbegeisterung der Augusttage trat das Gefühl,
einem schweren Schicksal mit zusammengebissenen Zähnen Tribut zollen zu müssen.“78
Besonders wirkte sich der Verlust (Tod, Verwundung, Gefangenschaft oder vermisst)
der Offiziere auf die „Kampfmoral“ aus.79 Der Ersatz war „nur notdürftig ausgebildet“
und hatte „vielfach den Lebensjahren nach das Alter der größten Leistungsfähigkeit
überschritten oder noch gar nicht erreicht“.80 Die vollständige Analyse des von Fröhlich gezeichneten Kriegsverlaufs von 1914 bis 1918 zeigt jedoch, dass es immer wieder
Brüche und Zäsuren gibt, ja dass sich die Stimmungen der Offiziere und Mannschaften
eher in Wellen verändern: Nach Phasen der Niedergeschlagenheit und Frustration fasst,
so Fröhlich, das Regiment wieder neuen Mut und agiert „tapfer“ im Kampf – zunächst
gegen die Russen und später dann gegen die Italiener. Gerade in dieser Überwindung der
Angst und dem Fassen neuen Muts zeige sich, wie im Genre von Regimentsgeschichten
häufig betont wird, „wahres“ Heldentum.81
Die äußeren Bedingungen bleiben im Oktober 1914 schlecht: äußerst anstrengende Märsche, denen die „Nachzügler nicht gewachsen“ waren, und „Trainstauungen
schlimmster Art“. Als Indiz für die verzweifelte Lage der Soldaten nennt Fröhlich die
zahlreichen „Selbstverstümmler“ – vorrangig mit Verletzungen an der linken Hand –,
73 Ebd., S. 87.
74 Ebd., S. 91.
75 Auch der „Feind“ leidet unter dem schlechten Wetter, dem Hochwasser und dem schlechten Zustand
der Straßen und sorgt sich um die Bewaffnung des Mannschaftsersatzes, vor allem aber um die fehlende Munition. Siehe Fröhlich, Geschichte des k.u.k. Infanterie-Regimentes Nr. 27, S. 101.
76 Vgl. ebd., S. 103, 105.
77 Wiederum bleiben die Fahrküchen oft hinten und die Soldaten leben von Reserveportionen.
78 Fröhlich, Geschichte des k.u.k. Infanterie-Regimentes Nr. 27, S. 97.
79 Siehe zur Verluststatistik aller kriegsteilnehmenden Staaten inklusive der zivilen Toten Overmans,
Kriegsverluste, S. 664f.
80 Fröhlich, Geschichte des k.u.k. Infanterie-Regimentes Nr. 27, S. 97. – Bei Fröhlich findet sich für die
Zeitspanne vom 26. August bis zum 11. September 1914 folgende sich aus Gefallenen, Verwundeten
und Vermissten zusammengesetzte Verluststatistik: „Der Gesamtabgang – zirka 1500 – betrug mehr
als ein Drittel des Gefechtsstandes.“ (Fröhlich, Geschichte des k.u.k. Infanterie-Regimentes Nr. 27,
S. 86)
81 Vgl. dazu vor allem Kapitel 5 und 6 in Kuzmics – Haring, Emotion, Habitus und Erster Weltkrieg.
K.u.k. Soldaten an der Ostfront im Sommer und Herbst 1914
die es zwar nicht im III. Korps, aber in anderen Einheiten gebe und gegen die „mit aller
Schärfe eingeschritten werden mußte“.82 Die Artillerie leidet durchgehend an „würgendem Munitionsmangel“83 und kann demnach die Infanterie nicht ausreichend unterstützen und schützen, während die russische Artillerie sich als „souveräne Beherrscherin
des Gefechtsfeldes“84 behauptete. Die Einheiten sind – was Fröhlich stark kritisiert –
zerstückelt und untereinander vermischt. Ordnung in das Chaos bringen in der Deutung
von Fröhlich, die durchgehend als „tapfer“, „schneidig“, „von mitreißender Energie“
und „opfermutig“ beschriebenen Frontoffiziere, die immer ihre Angst überwinden, bisweilen, wie vermutet werden kann, auch von Angriffslust oder Vorwärtspanik getrieben
sind, und immer wieder Sturmangriffe einleiten:85 „Aber Korporal Raudners Vorwärtsdrang kennt keine Grenzen. Mit einigen Beherzten, zu seiner Linken der Draufgänger
Inf. Ludwig Scherz, geht er wieder los, vorbei an den beiden russischen Maschinengewehren, deren vier Schützen mit durchschossenen Köpfen tot daneben liegen. An die
hundert Schritte stürmen die Kampfentbrannten über die eroberte russische Kuppenstellung hinaus.“86 Der Bewegungskrieg der ersten Kriegswochen endet für die 27er im
Oktober 1914; der Schützengrabenkrieg beginnt.
82 Vgl. Fröhlich, Geschichte des k.u.k. Infanterie-Regimentes Nr. 27, S. 112–114. – Vgl. dazu auch
Schneider, Die Kriegserinnerungen 1914–1919, S. 157: „Etwas Düsteres begann sich in diesen Tagen
zu entwickeln. Wie wenn der Überdruß und der Ekel über vergossenes Blut ins Gegenteil umschlagen
wollte, begann jetzt eine allgemeine Lust am Morde sich zu zeigen. Das strenge Kriegsrecht verurteilte jeden Dieb zum Tode, und damals stahlen die Leute viel, weil sie hungerten; sie plünderten die
Packtaschen und Koffer der Offiziere aus und nahmen Konserven und andere Eßwaren an sich. Aber
der Richter durfte keine mildernden Umstände anerkennen, und so erschoß man sie, auch über die
Selbstbeschädiger, deren Zahl ins Unheimliche wuchs, wurde ein Strafgericht verhängt. Jeder Arzt
konnte bei einer Wunde feststellen, ob der Mann sich selbst angeschossen hatte oder die Verletzung
vom Feind herrührte. Wieder wurde zehnfach gemordet! So wüteten also mitten unter uns düstere
Instinkte und mordeten um die Wette mit den feindlichen Waffen und – es muß der Wahrheit zu Liebe
gesagt werden – mit der eigenen Artillerie.“
83 Fröhlich, Geschichte des k.u.k. Infanterie-Regimentes Nr. 27, S. 123.
84 Ebd., S. 126. – Ähnliche Beschreibungen finden sich dann auch im Hinblick auf die Italiener: Von
Beginn an sind die Italiener „überlegen“, vor allem an „Rohr“ und „Munition“ (416). Die 27er sind
– wie in den Kämpfen Ende Juli 1915 – dem „stählern-steinernen Wirbel“ (412) der italienischen Artillerie ausgesetzt, dessen Feuer „von Tag zu Tag an Stärke“ (410) zunimmt. Den Erfolg der Italiener
(in diesem Falle den Gewinn des östlichen Zweispitz und der Piper-Zweispitz-Scharte) führt Fröhlich
letztlich auf die bessere schwere Artillerie zurück.
85 Vgl. Fröhlich, Geschichte des k.u.k. Infanterie-Regimentes Nr. 27, S. 117, 125–133.
86 Ebd., S. 131f. – Die durchschnittlichen Verluste beziffert Fröhlich mit 50 bis 60 Prozent. Stark kritisiert er in diesem Zusammenhang den „aufrüttelnden Befehle“ des 6. Infanteriedivisionskommandos,
der 90 Prozent Verluste dem „Fußvolke“ als Richtziffer präsentierte: „Dieser braven Infanterie, auf
deren Schultern die ganze Last des Kampfes lag! […] War ein solcher ‚Appell‘ nötig für jene erprobten Regimenter und Bataillone der Lemberger Schlachten? Hatten sie nicht ihr Bestes hergegeben?
Mussten sie in diesem ‚Anrufe‘ nicht rasch vergessenden Undank erkennen? Kühle, nüchtern bleibende Naturen nahmen diese ausbrechende Befehlsquelle – vielleicht in richtiger Einschätzung – als
das hin, was sie im tiefsten Grunde war: als klingende Phrase, die sich jenen in der ersten Kriegszeit
wiederholt gehörten und dadurch hohl tönenden Phrasen vom ‚Halten bis zum letzten Mann‘, ‚Um
jeden Preis‘ angliederte.“
77
78
Sabine A. Haring
Der Kriegseinsatz des Gottlieb Pomberger
Im Folgenden soll nun die Regimentsgeschichte der 27er mit Gottlieb Pombergers autobiografischem Manuskript in Beziehung gesetzt werden. Dieses beschreibt seine Ausbildungszeit beim Militär, seinen Kriegseinsatz im Ersten Weltkrieg und seine russische
Gefangenschaft, umfasst 166 maschinengeschriebene Seiten und trägt den Titel „Wiedergabe der Erlebnisse und Begebenheiten im Weltkriege vom Jahre 1914 bis 1918 des
gefertigten Gottlieb Pomberger aus Gosau Nr. 92“. Es wurde Ende der 1980er Jahre dem
„Dokumentationsarchiv lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ übergeben und Mitte
der 1990er Jahre im Eigenverlag der Schreibwerkstätte der Hauptschule 1 Bad Goisern
in Zusammenarbeit mit dem Heimatverein Gosau veröffentlicht.87 Die Vielzahl an erinnerten Einzelheiten und den Aufbau der tagebuchähnlichen Gestaltung des Manuskripts
deuten Hannes Leidinger und Verena Moritz dahingehend, dass „die Aufzeichnungen
auf Basis eines Tagebuchs aus der Zeit der Gefangenschaft abgefaßt wurden“88.
Gottlieb Pomberger wurde 1892 in Gosau geboren. Seine Familie waren Bauern, der
Vater darüber hinaus Bürgermeister von Gosau. Nach der Volksschule absolvierte Pomberger eine Lehre im Gemeindeamt von Bad Ischl, danach wurde er Gemeindesekretär
in Gosau. Er verstarb 1979. Im März 1913 wird Pomberger zur „Assentierung“ nach Bad
Ischl bestellt und „wider Erwarten“ – ein Leistenbruch aus der Kindheit ist noch nicht
ausgeheilt – für tauglich befunden und zum damals in Bozen stationierten 2. Tiroler
Landesschützenregiment einberufen.89 Im Oktober 1913 tritt er seinen Dienst in Bozen
an, er wird der 4. Kompanie zugeteilt und findet sofort zwei weitere Rekruten als „gute
Freunde“: Rudolf Dasner aus Ebensee und Franz Mayer aus Vöcklabruck: „Wir drei
waren wie Brüder.“90 Die freie Zeit verbringen diese meistens zusammen. Dem Militär87 Jene Passagen, die seine Rekrutenzeit beinhalten, wurden in: Christa Hämmerle (Hg.), Des Kaisers
Knechte. Erinnerungen an die Rekrutenzeit im k.(u.).k. Heer 1868 bis 1914. „Damit es nicht verlorengeht…“. Bd. 66. Wien – Köln – Weimar 2012, S. 185–191, veröffentlicht, seine Ausführungen
zur Kriegsgefangenschaft in: Hannes Leidinger – Verena Moritz (Hg.), In russischer Gefangenschaft.
Erlebnisse österreichischer Soldaten im Ersten Weltkrieg, „Damit es nicht verlorengeht …“. Bd. 56.
Wien – Köln – Weimar 2008, S. 48–78.
88 Vgl. Leidinger – Moritz, In russischer Gefangenschaft, S. 48.
89 Vgl. Gottlieb Pomberger, Wiedergabe der Erlebnisse und Begebenheiten im Weltkriege vom Jahre
1914 bis 1918 des gefertigten Gottlieb Pomberger aus Gosau Nr. 92 („Dokumentationsarchiv Lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien),
S. 1f. – Die Wehrpflicht bei den Landesschützen bestand zwischen dem 21. und dem 32. Lebensjahr,
wobei die ersten zwei bzw. drei Jahre bei der Truppe zu verbringen waren. Die Einjährig-Freiwilligen,
die Maturanten, mussten zwar nur ein Jahr dienen, aber längere Waffenübungen machen. Aus diesen
ergänzte sich das Offizierskorps der Landesschützen. Zwischen dem 32. und dem 42. Lebensjahr wurden die Wehrpflichtigen dem Landsturm zugezählt, zunächst dem ersten und danach dem zweiten.
Während die Kaiserjägerregimenter zu den k.u.k. Infanterieregimentern des gemeinsamen Heeres
zählten, gehörten die k.k. Landesschützen-Kaiserschützenregimenter zu den Landwehrfußtruppen
und waren darüber hinaus ab 1906 rein als Gebirgstruppe konzipiert. Die Landesschützen waren in
vielerlei Hinsicht – wie Sold, Ausrüstung, Urlaub und weiteren Vergünstigungen – bessergestellt als
andere Einheiten, auch als die Kaiserjäger. 1893 waren die zehn Landesschützenbataillone in drei
Regimentern zusammengefasst worden. Siehe Heinz von Lichem, Spielhahnstoß und Edelweiß. Die
Friedens- und Kriegsgeschichte der Tiroler Hochgebirgstruppe „Die Kaiserschützen“ von ihren Anfängen bis 1918: k.k. Tiroler Landesschützen-Kaiserschützen-Regimenter Nr. I – Nr. II – Nr. III. Graz
– Stuttgart 1977, S. 25f., 31.
90 Pomberger, Wiedergabe, S. 2.
K.u.k. Soldaten an der Ostfront im Sommer und Herbst 1914
dienst, den er als „militärische Knechtschaft“ bezeichnet, steht Pomberger von Beginn
an kritisch gegenüber: Das Leben der Rekruten bezeichnet er als „Sklavenleben“, das
durch Schikanen, „nicht wenig Sekaturen“, kleinen Bestechungen – wie beim Abrüsten
am 17. Dezember 1913 – und „Aneignungsdelikten“ mitgeprägt ist.91 Nach mehreren
Monaten des Urlaubs tritt Pomberger am 1. April 1914 wieder seinen Dienst an und
wird,92 nachdem seine Kameraden und er wie „herrenlose Hunde“ in der Kaserne „herumlungerten“, der zweiten Kompanie unter dem „strengen, aber gerechten“ Kompaniekommandanten Hauptmann Johann Seelbacher des 3. Tiroler Landesschützenregiments
in Fiera di Primiero zugeteilt.93 „Gute und ehrliche“ Kameraden mildern die Strenge
des Militäralltags.94 Als der für die Garnisonsmenage Verantwortliche, dessen Funktion
ihm ein „sehr zufriedenes“ und vor allem sattes Dasein beschert, erlebt Pomberger das
Attentat von Sarajewo und die von ihm erhoffte Kriegserklärung Österreich-Ungarns an
Serbien.95 Pombergers Stelle wird alsdann von einem Ersatzreservisten besetzt, und er
kehrt am 7. August zu seiner Kompanie zurück, die auf den Abmarsch an den russischen
Kriegsschauplatz wartet.
Nach einer „natürlich streng patriotischen Ansprache“ erfolgt der Abmarsch: San
Martino, Predazzo und Cavalese hinter sich lassend, erreichen die Soldaten den LucanoPass. Den Empfang durch die italienische Bevölkerung schildert Pomberger als besonders „warm“, Speisen, Getränke und Rauchwerkzeug wurden den Soldaten geschenkt.96
Über Neumarkt-Auer erreichen die Soldaten marschierend Bozen, wo sie einwagoniert
werden. Die Züge sind überfüllt, die Hitze drückend, doch die Stimmung „heiter“. Über
Innsbruck, Salzburg, Linz, Wien, Preßburg und Budapest gelangt Pomberger „durch das
endlose Ungarn“97 nach Sambor, von wo aus der Marsch nach Lemberg beginnt; von
dort geht es mit der immer langsamer werdenden Bahn Richtung Osten.98 Während der
91 Vgl. Pomberger, Wiedergabe, S. 1–5. – Am Beginn des Rekrutenlebens seien diese den „Bosheiten“
und „Feindseligkeiten“ der älteren Soldaten ausgesetzt gewesen. Nach den ersten sechs Wochen hätte
sich die Beziehung zu den älteren verbessert, die Rekruten hatten wohl die „Probezeit“ überstanden.
92 Da der Bruder von Gottlieb Pomberger, Balthasar, aktiv diente, hatte der Vater um „Uebersetzung in
die Ersatzreserve“ angesucht.
93 Die zweite Kompanie des 3. Landesschützenregiments hatte sowohl ihr Winter- als auch ihr Sommerquartier in Fiera di Primiero. Siehe Lichem, Spielhahnstoß und Edelweiß, S. 42.
94 Pomberger, Wiedergabe, S. 4–7.
95 Gerade jene Ausführungen zum Attentat und zur Kriegserklärung an Serbien machen deutlich, dass
Pomberger seine Kriegserinnerungen zu einem späteren Zeitpunkt verfasste. Er spricht davon, dass,
nachdem der „Kompagnon“ Serbiens: der Russe, sich auf dessen Seite stellte und auch die Westmächte aktiv wurden, schließlich zwölf Staaten im Kampfe standen. Viele dieser Staaten sind aber erst
später in den Ersten Weltkrieg eingetreten: beispielsweise Italien 1915, Bulgarien 1915, Rumänien
1916 und die Vereinigten Staaten 1917.
96 In der k.u.k. Armee sind rund 1,3% der Soldaten Italiener, in der Kriegsmarine 18,3% der Mannschaften und 9,8% der Offiziere. Siehe Wolfdieter Bihl, Der Erste Weltkrieg 1914–1918. Chronik – Daten
– Fakten. Wien – Köln – Weimar 2010, S. 114.
97 Pomberger, Wiedergabe, S. 10.
98 Den Transport an die Front schildert Lichem in der von ihm verfassten Regimentsgeschichte folgendermaßen: „Die Fahrt war in den vollgepferchten Viehwaggons äußerst beschwerlich. Diese Mühen
aber wog der nicht endenwollende Jubel der Bevölkerung entlang der Bahnstrecke bei weitem auf.“
Siehe Lichem, Spielhahnstoß und Edelweiß, S. 93. – Auch für die englische, in der russischen Armee dienende Krankenschwester Florence Farmborough, eine der „Dramatis personae“ in Peter Englunds Schönheit und Schrecken, scheint der Abschied auf dem Bahnhof „die großartigste Erfahrung
79
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Sabine A. Haring
Bahnfahrt ist die Stimmung „froh und heiter“99, die Soldaten jodeln und singen. Pomberger und seine Kameraden wissen nichts über ihr Ziel und ihre „Mission“. Die erste
Konfrontation mit dem Kriegsgeschehen erfolgt völlig unerwartet: Deutlicher Kanonendonner verursacht „ein ganz unheimliches Gefühl“: „Ein förmliches Frösteln verspürten
wir, trotz des heissen Sommertages.“100 Während der wieder aufgenommenen Bahnfahrt
sind „Kanonendonner“ und „vereinzelte Gewehrschüsse“ hörbar, und Pomberger hält
fest: „Unsere Gemüter wurden bedrückter, denn wir erkannten den Ernst.“101 Diese Passagen deuten Unsicherheit und Angst an. Ein feindliches Artilleriegeschoss zwingt den
Zug in der Nähe von Tarnopol in Ostgalizien stehen zu bleiben. In Schwarmlinie sich
auflösend erklimmen die Soldaten einen Wiesenhang, durchstreifen ein abgeerntetes
Weizenfeld sowie ein Hirsefeld und erreichen schließlich einen Jungwald. Dort treffen sie völlig unvermutet auf einen mit ungarischer Infanterie besetzten Schützengraben, die sie zwar nicht verstehen konnten, deren Kameradschaftsgruß sie aber „lebhaft
erwidern“102. Erst jetzt werden Pomberger und seine Kameraden über ihre Mission vom
Kompaniekommandanten in Kenntnis gesetzt: In einem Sturmangriff soll die russische
Verteidigungslinie zurückgeschoben werden: „Mit welch unheimlichen [sic!] Gefühl
wir diese Worte des Hauptmannes aufnahmen, ist erklärlich, wenn man sich vor Augen
hält, dass wir noch weder einen Russen gesehen noch einen Schuss abgefeuert haben.“103
Gemeinsam mit dem ungarischen Regiment stürmen die Soldaten aus Pombergers Regiment vorwärts: „Ein furchtbares Gewehrgeknatter wurde bei unseren [sic!] Gegner
lebendig. Doch in unserer Aufregung, Zorn und bei manchen auch Eifer, mochten wir
kaum die Gefahr diese Geknatters zu erkennen.“104 Der Zustand der Unsicherheit und
Bedrückung macht der Aktivität Platz: Eifer, und „Angriffslust“, Zorn und Aufregung
treiben die Soldaten nach vorne. Die russischen Einheiten verlassen ihren Schützengraben in Richtung Wald. Im Rücken hört Pomberger die Hilferufe der Verwundeten der
k.u.k. Truppen, vorne wurden „die kläglichen Stimmen der verwundeten Russen laut“.
Die sich ergebenden vier Russen wollen „einige Rohlinge […] sogleich niedermetzeln“.
Andere jedoch, die ein „weicheres Herz hatten, und derartige Grausamkeiten hassten“,
verhindern dies.105 Das Stöhnen und Röcheln der von den Sanitätsmannschaften nicht
aufgefundenen russischen Verwundeten in der Nähe des Dorfes Dunajew löst bei Pomberger Gefühle der Macht- und Ratlosigkeit aus: „Dies war eine ergreifende Stunde für
überhaupt“ gewesen zu sein: „Auf dem Bahnsteig des Alexander-Bahnhofs in Moskau hatte großes
Gedränge geherrscht. Man hatte die russische Nationalhymne gesungen, Segnungen und Mahnungen ausgesprochen, Umarmungen und Glückwünsche ausgetauscht, Blumen und Schokolade verteilt.
Dann war der Zug losgefahren, vorbei an donnernden Hurrarufen, winkenden Händen und Gesichtern,
die Hoffnung und Ungewissheit ausdrückten. Sie selbst war von ‚wilder Heiterkeit‘ erfüllt gewesen:
‚Wir waren unterwegs, unterwegs zur Front!‘ Ich war so überwältigt vor Freude, dass ich kaum sprechen konnte.“ Siehe Peter Englund, Schönheit und Schrecken. Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs,
erzählt in neunzehn Schicksalen. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. Berlin 2011, S. 134.
99 Pomberger, Wiedergabe, S. 9.
100 Ebd., S. 11.
101 Ebd., S. 12.
102 Ebd., S. 12.
103Ebd.
104 Ebd., S. 13.
105 Vgl. ebd.
K.u.k. Soldaten an der Ostfront im Sommer und Herbst 1914
jeden[,] der überhaupt ein Herz im Leibe trug.“106 Am nächsten Tag werden Pomberger
und seine Einheit Zeugen, wie ein österreichischer Train aufgerieben wurde: „Und
wirklich, die Russen entwickelten sich in Schwarmlinien und das Feuer wurde grausam in das Dorf hinein eröffnet. Von einer österreichischen Artillerie war keine Rede.
Uns, die wir vis a vis auf der Höhe standen, war es infolge der grossen Entfernung
nicht möglich, [sie] irgendwie abzuwehren, sondern [wir] mussten nur Augenzeugen
des Blutbades sein.“107 Pomberger und seine Einheit konnten also die Gefahr erkennen, die Soldaten werden „unruhig“108, sie können aber ihre Kameraden nicht warnen
– ein Gefühl der Ohnmacht macht sich breit.
Die Tage nach der Feuertaufe in der Nähe des Dorfes Dunajew sind durch Märsche,
Hitze, großen Durst und Hunger geprägt, viele Soldaten müssen erschöpft zurückbleiben. (Auf den in Lemberg verlassenen Train sollten die Soldaten erst wieder am 6. September stoßen.) Ein Sturmangriff der Russen mit „mörderischem Infanteriefeuer“, wo
sich die Soldaten entscheiden müssen, sich gefangen nehmen zu lassen (was nach Angabe Pombergers auch viele tun) oder zu flüchten, chaotische Rückzüge, schließlich das
Ordnen am Sammelplatz, wobei nur mehr rund 50 Prozent der Mannschaft als einsatzfähig eintreffen – der Rest ist tot, verwundet oder wurde gefangen genommen – bestimmen das Gesicht des Krieges für Pomberger in jenen Tagen. Beim Rückzug durchqueren
die Soldaten kleine Dörfer und Gehöfte, trotz der Erlaubnis zu plündern, bleiben Hunger
und Durst, wie schon in der Regimentsgeschichte von Fröhlich nachgezeichnet, die Begleiter der Soldaten: „Wir hatten an Ueberanstrengung und Hunger derart zu leiden, dass
viele zu weinen begannen, darunter oft die stärksten Männer. Andere wieder fluchten,
dass einen [sic!] hätten die Haare zu Berge steigen können[,] und wieder andere konnten
den Strapazen überhaupt nicht mehr Stand halten.“109 Nach dem Zusammentreffen mit
dem Train bessert sich die Stimmung, schließlich erfolgt aber wieder der Abmarsch in
die Feuerlinie, von Pomberger mit dem Hinweis „O Graus!!“ kommentiert. Doch ist die
„Stimmung […] nicht mehr so düster als zuvor, denn unsere Mägen waren wieder so
halbwegs gefüllt.“110 Kriegsbegeisterung, Angriffslust oder Vorfreude auf die nächsten
Gefechte sucht man bei Pomberger vergeblich.
Pomberger und vier weitere Aktive werden von Hauptmann Seelbacher dazu ausgewählt, das Gelände nach Russen abzusuchen. Als er dem Bataillonskommandanten
Meldung machen will, befindet sich dieser nicht mehr am verabredeten Ort, und Pomberger irrt im dichten Wald auf der Suche nach seiner Einheit umher. Die Umgebung
erfährt er als fremd und wild, er fühlt sich „mutterseelenallein“ im „wilden Galizien“;
beinahe stößt er auf Russen: Ungefähr 80 bis 90 Schritte vor ihm liegen Russen in ihren
Schützenmulden, geht er zurück, könnte er als „Feigling“ gelten, geht er nach vorne,
begibt er sich in große Gefahr:111 „Ich war bereit, wie man zu sagen pflegt, Testament
106 Ebd., S. 14.
107 Ebd., S. 15f.
108 Ebd., S. 15.
109 Ebd., S. 20.
110Ebd.
111 Vgl. ebd., S. 21f.
81
82
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zu machen, denn, dass mein Stündlein geschlagen sei, dachte ich sicher. Wie soll ich
von dieser unheimlichen Stelle nur fortkommen? Laufe ich davon, so wird mir ohne
zu Zweifeln nachgeschossen, bleibe ich stehen und gehen die Russen vor, so muss ich
in ihre Hände fallen und schleiche ich mich langsam zurück und werde vom Feinde
bemerkt, so gebe ich einen sicheren Zielpunkt. Alle diese Gedanken oder besser gesagt
eigenen Ratschläge, konnte ich nur Augenblicke erwägen. In meinen [sic!] Inneren arbeitete nicht mehr ein Herz, sondern eine vollendete Höllenmaschine.“112 Er ergreift die
Flucht, kein Schuss fällt und Pomberger hält in seinen Erinnerungen fest: „Ob mich die
Russen wirklich nicht bemerkten, oder nur Erbarmen mit mir gehabt haben, ist mir nicht
bekannt.“113
Bei einem Sturmangriff am 9. September 1914 – es handelt sich offenbar um jene
Aktion, die Lichem als „Feuertaufe der IIIer Landesschützen bei Lelechowka“114 bezeichnet – erlebt Pomberger das auch bei Lichem beschriebene, dem Kodex von Ehre
widersprechende und aus der Sicht der Landesschützen zu verurteilende Verhalten: „Ehe
wir den Wald vollkommen verlassen hatten, vereinigten wir uns mit unseren [sic!] dritten Bataillon und gingen mit diesen [sic!] – nachdem das Bajonett ‚gepflanzt‘ war, im
Sturme vor. Die Russen feuerten verzweifelt. Das konnte uns aber in unserer Erbitterung
nicht mehr beirren, wir gaben auf keinen Fall mehr nach und so mussten die Russen
unter Zurücklassung einer Menge Gefangener das Feld räumen. Der Umstand, dass der
Feind gleich nach Lautwerden unserer ersten Hurrarufe, das Zeichen des Ergebens hisste, trotzdem aber ein Feuer fürchterlichen Umfanges auf uns eröffnete, brachte uns in
masslose Wut, umsomehr, als wir vielleicht ein Viertel unserer Mannschaft verloren
hatten.“115
Das, was folgt, ist ein „schreckliches Gemetzel“116, dem auch Johann Scheffenbichler
(Schatterhans) aus Russbach, der dem dritten Bataillon angehörte, „beiwohnte“ – oder
an dem dieser sich wohl wie Pomberger selbst beteiligte. In Wut und von Rachegefühlen
geleitet werden die Russen verfolgt, dem schwer verwundeten russischen Kommandanten ein Schluck Wasser verweigert: „In unserer Erbitterung aber, hatten wir für ihn kein
Wasser, sondern nur Kolbenstösse übrig. Eine solche Rohheit vollführt zu haben ist wohl
grausam und kann nur in unbegrenzten [sic!] Zorn geschehen.“117 Pomberger schildert
also nicht nur das „unehrenhafte“ Verhalten der Russen wie Lichem, sondern auch die
Reaktion der Landesschützen, die sich von Wut und Zorn getrieben, brutal rächen und
somit ebenfalls gegen den Kodex der Ehre verstoßen – und das „ohne Befehl und folglich auch ohne Mitwirkung unserer Offiziere“118.
Pombergers Einheiten sind ständig in Bewegung: Vormarsch, Sturmangriff, Verfolgung der Russen, wieder Beschuss durch die russischen Einheiten, Rückzug, Bau von
112 Ebd., S. 22f.
113 Ebd., S. 23.
114 Vgl. Lichem, Spielhahnstoß und Edelweiß, S. 101. – Hier kam das Regiment das erste Mal geschlossen zum Einsatz.
115 Pomberger, Wiedergabe, S. 24.
116Ebd.
117 Ebd., S. 25.
118 Ebd., S. 26.
K.u.k. Soldaten an der Ostfront im Sommer und Herbst 1914
Stellungen im Wald, Sturmangriff der Russen, wieder Rückzug, da die Kompanien schon
sehr lückenhaft sind, Sammeln in einem Dorf, wo die Häuser und Scheunen bereits mit
anderen Einheiten überfüllt sind. Es ist nass und kalt. Nach einer Phase der Ruhe in der
Reserve in Wirchne mit „leidlicher Verpflegung“ beginnt am 7. Oktober wiederum der
Vormarsch.
Nach einer fünftägigen Ruhepause in der Reserve löst Pomberger mit seiner Einheit
die Zweierschützen ab. Der Einheit bietet sich ein „entsetzliches Bild“: „Nicht nur tote
Männer, sondern einzelne Körperteile lagen auf der Wiese umher.“119 Ohne Deckung
müssen die Soldaten auf freiem Feld eine Distanz von circa 250 Schritten überwinden. Auf Befehl Leutnant Engels, eines „waschechten Kaffeehaus-Offiziers“120, laufen
die Männer in Zweierpaaren nach vorne, „Schutz“ finden sie in einem Granattrichter,
in dem sie schließlich neun Stunden liegen oder hocken sollten. Vier der Männer sind
verwundet und „jammerten unaufhörlich“. Pomberger fühlt sich „lebendig begraben“,
erst mit Einbruch der Dunkelheit können sie den Trichter verlassen. Das, was folgt, ist
wiederum ein Sturmangriff, vor dem es die Soldaten „gruselte“, sie haben Angst.121 Vor
einem neuerlichen Sturmangriff am helllichten Tag notiert Pomberger, dass sie „alle
etwas Angst gehabt hätten.“122
Pomberger meldet sich schließlich freiwillig für ständige Patrouillengänge, als Belohnung winken Zigaretten. Bei einem Vorstoß Ende Oktober 1914 stirbt im „mörderischen Maschinengewehrfeuer“ sein Freund Pitsche, Pombergers Stimmung erreicht
einen Tiefpunkt, sie „trübte sich masslos, waren wir doch schon in Fiera di Primiero also
in der Kaserne gute Freunde“123. Bei der Rückkehr in die alten Stellungen trifft Pomberger auf ein Marschbataillon: „Die Mannschaft desselben zeigte deutlich Zaghaftigkeit,
als sie unsere abgehezten [sic] Gesichter sahen und vorne das Jammern und Wimmern
der Verwundeten hörten. Wir aber waren damals schon durch die vielen Gemetzel und
Grauslichkeiten abgehärtet und kalt.“124
Positive Gefühle – Bindungsgefühle und Vertrauen – findet man bei Pomberger
vor allem im Hinblick auf Kameraden aus Oberösterreich oder dem Salzkammergut.
Vertraute Gesichter wie zum Beispiel von Egger („Gotthardlsepp“) oder von Sternberger aus Ebensee erzeugen bei Pomberger immer Freude und Glücksempfindungen. Als
Pomberger schließlich an der Ruhr erkrankt, will er zunächst nicht zur „Marodenvisit“
gehen: „[…] ich fürchtete, nur in ein Feldspital zu kommen, wo sowohl Verpflegung
als auch sanitäre Vorsorgen [sic] sehr mangelhaft waren und weiters die Gefahr bestand, nach meiner Genesung, falls mein Regiment unterdessen stark verschoben werden sollte, zu einem fremdsprachigen Truppenkörper zugeteilt zu werden. Letzteres
fürchtete ich am allermeisten. Auch wollte ich meine alten Kameraden, die oft mehr
119 Ebd., S. 30.
120 Ebd., S. 28.
121 Vgl. ebd., S. 35f.
122 Pomberger, Wiedergabe, S. 39. – Vgl. dazu auch die Tagebucheintragungen von Pál Kelemen, eines
ungarischen Kavalleristen: „Alarm! Die Russen nähern sich der Stadt. Ich glaube, alle haben ein wenig Angst.“ Zitiert in Englund, Schönheit und Schrecken, S. 28.
123 Pomberger, Wiedergabe, S. 42.
124 Ebd., S. 43.
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84
Sabine A. Haring
als Brüder galten, durchaus nicht verlassen. Aktive Diener waren wir freilich nur mehr
etliche.“125 Pomberger entschließt sich, trotz massiver Beschwerden bei seiner Kompanie zu bleiben.
Anfang November beginnt der „große Rückzug“, Pomberger leidet unter der Ruhr
und großem Hunger, hinzu kommt schließlich ein stark geschwollener Vorderfuß, sodass
Pomberger seinen Schuh nicht mehr anziehen kann. Keinesfalls jedoch möchte er seine
Einheit verlassen; sein Vorgesetzter erlaubt ihm daraufhin – da er „den überaus strengen Strapazen“ kaum mehr gewachsen ist – „erforderlicherseits zurückzubleiben“; dies
gelte jedoch nur dann, wenn er nicht danach „trachte, […] in die Hände der Russen zu
fallen“126. Bei einem Rückzug durch den Wald im Dezember 1914 wird Pomberger gemeinsam mit seinem Freund Sternberger von Russen verfolgt: „Sternberger lief, was er
nur konnte. Ich aber konnte unmöglich nachkommen, da mich der kranke Fuß im Stiche
ließ. In diesem Augenblick fing ich völlig an zu verzagen. Ich rief Sternberger nach, ob
er vergessen habe, daß wir bisher immer Brüder waren und Freud und Leid stets geteilt
hatten. Sollte dieses Band sich in dieser ernsten Stunde lösen?“127
Zusammenfassende Schlussbetrachtung
Im Vorangehenden wurden zwei Quellen, die die ersten Wochen an der Ostfront beschreiben, einer emotionssoziologischen Analyse unterzogen, wobei der Fokus auf einer
möglichst detaillierten Beschreibung der direkt und indirekt darin zum Ausdruck gebrachten Gefühle lag. Die verwendeten Quellen lassen mit teilweise korrespondierenden, teilweise unterschiedlichen Perspektivierungen erahnen, welche Auswirkungen die
Kriegserfahrungen der ersten Wochen auf den Affekthaushalt der Soldaten hatten, und
zeigen deutlich, wie lohnend eine möglichst umfangreiche emotionssoziologische Betrachtung sein kann, die einerseits unterschiedliche Quellengattungen (z.B. Regimentsgeschichten, Ad-hoc-Dokumente, Autobiografien, Belletristik, Feldpostkarten) heranzieht und andererseits unterschiedliche Einsatzorte (z.B. Ost-, Dolomiten-, Isonzofront
oder serbische Front) sowie die Differenz zwischen Bewegungs- und Stellungskrieg in
der Analyse berücksichtigt. Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Hinblick auf Zeit
und Raum könnten so ins Blickfeld rücken, die „Emotionsgeschichte“ von Soldaten in
ihrer Komplexität stärker erfasst werden.128
Sowohl die Regimentsgeschichte als auch die Aufzeichnungen Gottlieb Pombergers
erweisen sich für eine emotionssoziologische Untersuchung als fruchtbar. Beiden Quellen gemeinsam ist, dass die materiellen Rahmenbedingungen, insbesondere die Versorgung mit Nahrung und Wasser, die Wetterlage und der Zustand der Straßen und Wege
eine zentrale Rolle spielen und die Stimmungen der kämpfenden Soldaten stark beein-
125 Ebd., S. 44.
126 Ebd., S. 48.
127 Ebd., zitiert nach Leidinger – Moritz, In russischer Gefangenschaft, S. 49.
128 Im Hinblick auf Wir-Gefühle, Feinderfahrungen sowie Angst und Heldentum wird diese Vergleichsperspektive in Kuzmics – Haring, Emotion, Habitus und Erster Weltkrieg eingenommen.
K.u.k. Soldaten an der Ostfront im Sommer und Herbst 1914
flussen.129 Am Weg zur Front ist die Stimmung „froh“ und „heiter“ (Pomberger), doch
wird in beiden Quellen bereits vor dem ersten Gefecht ein „Spannungszustand“ und
„Nervosität“ beobachtet. Dahinter steht ein – in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen beobachtbares – Amalgam von Angst, Neugierde und bisweilen auch Angriffslust.
Dies spiegelt sich – so Fröhlich – selbst in den Gesichtszügen wider oder verursacht – so
Pomberger – ein „Frösteln“. Die Kampfhandlung selbst bedeutet zunächst eine Entlastung aus dem Zustand der Unsicherheit, doch führt das massive Artilleriefeuer zu einem
Gefühl der Ohnmacht und zu einer „seelischen Erschütterung“ nicht nur der einfachen
Soldaten, sondern bisweilen auch der Offiziere (Fröhlich).
Angst als Emotion wird in den analysierten Quellen kaum direkt angesprochen beziehungsweise thematisiert,130 jedoch finden sich zahlreiche indirekte Hinweise sowohl
in der Regimentsgeschichte (hier vorrangig anderen Einheiten oder Regimentern zugeschrieben) als auch im Manuskript von Pomberger. Gerade die Schilderungen von
Paniken bei Fröhlich weisen uns darauf hin, dass der Regimentsadjutant Fröhlich immer
wieder angstgesteuertes Verhalten beobachtet und in der von ihm verfassten Regimentsgeschichte festhält. Der „gute“ Soldat überwindet aber diese Angst und zeigt immer
wieder „Tapferkeit“, „(Opfer-)Mut“ und „Zähheit“. Die anderen, die Zurückweichenden, die Zweifelnden und schließlich die Selbstverstümmler, dienen als Kontrastfolie
zum „Heldentum“ der 27er, auch wenn Fröhlich insofern Verständnis für diese zu zeigen
scheint, als er die erschütternden Erfahrungen der ersten Kriegswochen für ihr Zögern
und Zweifeln verantwortlich macht. In beiden Quellen finden wir Szenen, die Rachegefühle thematisieren; in Wut und Zorn stürmen die Soldaten nach vorne und verursachen
beim Gegner ein „Gemetzel“.
129 Dieser Befund deckt sich auch mit jenem von Andexlinger und Ebner, die ebenfalls darauf hinwiesen,
dass die Stimmung der Kämpfenden stark mit der jeweiligen Versorgungssituation zusammenhing:
„So steigt sie, wenn etwas zu essen vorhanden ist und wird getrübt, wenn man vergeblich auf Nachschub wartet und einen der Hunger plagt. In allen analysierten Quellen wird im Zusammenhang mit
der schlechten Versorgungssituation Wut gegenüber der militärischen Führung geäußert. Auch das
Wetter hat maßgeblichen Einfluss auf den Gemütszustand der Soldaten. Immer wieder ist zu lesen,
dass bei schlechter Stimmung Alkohol und Zigaretten von großer Bedeutung sind. Durch diese kann
– wenn auch nur kurzfristig – die Stimmung etwas gehoben und Hunger und Durst für kurze Zeit überbrückt werden.“ (Andexlinger – Ebner, „Friedlich leuchtet die Sonne auf Tod und Leben“, S. 91).
130 Im Kriegsgeschehen nehmen Angst und Furcht einen zentralen Stellenwert ein, auch wenn diese vielfach nicht artikuliert werden. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts war Angst als Ursache von Nervenerkrankungen diskutiert worden, wobei der fachliche Diskurs von zwei unterschiedlichen Menschenbildern ausging: Entweder wurde Angst als naturgegebene menschliche Eigenschaft („realistische Doktrin“) oder als „unnatürliches“ Phänomen, als eine Abweichung von der Norm gedeutet („romantische
Doktrin“). Umgelegt auf Soldaten beschreibt die „realistische Doktrin“ den Soldaten als „konstitutionell ängstlich“. Jeder Soldat hat vor, während und oft auch nach der Schlacht Angst. Die „romantische
Doktrin“ geht von einem „konstitutionell“ angstfreien bzw. furchtlosen Soldaten aus. Unter anderem
die russische Militärpsychiatrie widmete der Beschreibung angstinduzierter Symptome große Aufmerksamkeit: Genannt wurden in diesem Zusammenhang Taubheit, Stummheit, Blindheit, Zittern
(Tremor) der Augenlider, Zunge und Extremitäten, fehlender Schluckreflex, Stottern, wirres Gerede,
Selbstgespräche, Tränenausbrüche, unkontrolliertes Gelächter, Halluzinationen, Alpträume, Schlaflosigkeit, Essensverweigerung, Katalepsie (das Verharren in Körperhaltungen), aber auch Aggression,
Selbstmordversuche, das Beschmieren mit eigenem Kot […] und Onanie. Siehe Michl – Plamper,
Soldatische Angst, S. 228, 234.
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Sabine A. Haring
Für Fröhlich ändert sich, insbesondere wenn sich die Soldaten zurückziehen müssen, die Stimmungslage: Enttäuschung, Verbitterung bis zur Verzweiflung lassen sich
beobachten.131 Vormarsch ist zumeist mit positiven Gefühlen konnotiert. Bei Pomberger
ist es weniger der Rückzug,132 der Verzweiflung verursacht, sondern vielmehr der Tod
der Kameraden, bisweilen auch jener der Feinde. Positive Gefühle tauchen vor allem im
Zusammenhang mit Freunden beziehungsweise Kameraden auf.133 In beiden Quellen
verwandelt sich die Vorfreude auf und positive Erwartung an den Krieg bereits in den
ersten Wochen in „Gleichmut“ (Fröhlich) beziehungsweise „Kälte“ und „Abgestumpftheit“ (Pomberger). Die Soldaten gewöhnen sich an das Grauen, nicht zuletzt eine „Überlebensstrategie“, wie dies Erich Maria Remarque in seinem weltberühmten Roman Im
Westen nichts Neues deutlich macht: „Solange wir hier im Felde sein müssen, sinken die
Fronttage, wenn sie vorbei sind, wie Steine in uns hinunter, weil sie zu schwer sind, um
sofort darüber nachdenken zu können. Täten wir es, sie würden uns hinterher erschlagen; denn soviel habe ich schon gemerkt: Das Grauen läßt sich ertragen, solange man
sich einfach duckt; aber es tötet, wenn man darüber nachdenkt. Genau wie wir zu Tieren
werden, wenn wir nach vorn gehen, weil es das einzige ist, was uns durchbringt, so werden wir zu oberflächlichen Witzbolden und Schlafmützen, wenn wir in Ruhe sind. Wir
können gar nicht anders, es ist förmlich ein Zwang. Wir wollen leben um jeden Preis; da
können wir uns nicht mit Gefühlen belasten, die für den Frieden dekorativ sein mögen,
hier aber falsch sind.“134
131 Vgl. dazu Fröhlichs Resümee des Einsatzes der 27er an der Ostfront im Herbst 1914: „Bitterer Enttäuschung Alpdruck lastete auf den Gemütern der kampfgestählten Streiter während ihres martervollen
ersten Rückzuges in das Karpathenvorland.“ (Fröhlich, Geschichte des k.u.k. Infanterie-Regimentes
Nr. 27, S. 389).
132 Ein Verweis findet sich jedoch, der die starken Belastungen des Rückzugs dokumentiert: „Vom 31.
August bis 6. September dauerte der Rückzug. Was wir bei diesem Rückzug mitzumachen hatten, lässt
sich kaum beschreiben.“ Siehe Pomberger, Wiedergabe, S. 19.
133 Bei Fröhlich wird zwar häufig von Kameradschaft gesprochen, auch werden einzelne Kameradschaftsdienste aufgezählt, doch erfährt die Leserin/der Leser wenig, was Kameradschaft eigentlich – auch in
emotionssoziologischer Perspektive – bedeutet.
134 Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues. Roman. Mit Materialien und einem Nachwort von
Tilman Westphalen. 19. Auflage. Köln 1996, S. 130.
Die Ostfront des „Großen Krieges“ – aus ungarischer
Perspektive
Ferenc Pollmann
Die ungarischen Männer, die im Ersten Weltkrieg an der Front dienten, wurden zum
überwiegenden Teil mehr oder minder lange Zeit hindurch auch an den Kriegsschauplätzen in Russland eingesetzt.1 Das Bewahren der Erinnerung an die Erfahrungen an
der Front war und ist Bestandteil ihres damaligen und späteren Lebens. Der Krieg, der
die Menschen gewaltsam voneinander trennte und neue, in Friedenszeiten unbekannte
Existenzräume und Daseinsformen wie Front, Hinterland, Kriegsgefangenenlager etc.
hervorbrachte, ließ bei allen Beteiligten vermehrt das Bedürfnis entstehen, diese Erlebnisse und Erfahrungen schriftlich festzuhalten und sich auf diesem Weg anderen mitzuteilen. Gleichzeitig war das Leben im Krieg – insbesondere der Alltag an der Front – viel
intensiver, „bewegter“ als in Friedenszeiten. Daher erinnert man sich eher an Kriegserlebnisse als an solche in Friedenszeiten. Was ist eigentlich aus all diesen Erinnerungen
geworden? Der unlängst verstorbene berühmte britische Militärhistoriker John Keegan
war der Ansicht, dass die Kriegserfahrungen der Frontkämpfer an den Kriegsschauplätzen des Ostens – und zwar sowohl die der Soldaten der österreichisch-ungarischen Monarchie als auch die des zarischen Russland – im Wesentlichen für die Nachwelt verloren
gegangen sind. Zwar verfügten jene, die ihren Dienst in den Truppen der Donaumonarchie leisteten, über ein höheres Bildungsniveau als die Massen an russischen Soldaten,
die mehrheitlich nicht lesen und schreiben konnten, nichtsdestotrotz sind auch von ihnen
kaum Erinnerungen an den Krieg überliefert. Keegan sieht den Grund dafür darin, dass
die belastenden Erinnerungen an den katastrophalen Krieg im subjektiven Gedächtnis
der einzelnen Soldaten von den Erinnerungen an die noch größere Katastrophe, nämlich
den Zerfall des Reiches respektive der Reiche gleichsam überlagert beziehungsweise
durch diese ersetzt wurden.2
1
2
Die überwiegende Mehrheit der Truppenverbände der Österreichisch-Ungarischen Monarchie kämpfte zumindest einmal im Laufe des Krieges an der russischen Front. Gemäß dem im Sommer 1914
­geltenden Aufmarschplan waren von Anfang an die 47 aus Ungarn ergänzenden k.u.k. Infanterie­
regimenter sowie die 32 Infanterieregimenter der ungarischen Honvéd im Kriegsfall „R“ im Osten
bestimmt.
John Keegan, The First World War. New York 1999, S. 161.
88
Ferenc Pollmann
Aber sind die Erinnerungen an die Ostfront tatsächlich in Vergessenheit geraten?
Wenn man Keegans Feststellung spezifiziert und den Teil, der sich auf Russland beziehungsweise auf den diesseits der Leitha gelegenen Teil der österreichisch-ungarischen
Monarchie (Cisleithanien) bezieht, außer Acht lässt, stellt sich heraus, dass die Worte
des britischen Militärhistorikers Keegan im Hinblick auf Ungarn keine Gültigkeit haben.
Zweifelsohne verhinderte wohl die Sprachbarriere, dass sich Sir John mit den „ungarischen“ Erinnerungen an den Großen Krieg beschäftigen konnte. Somit konnte er sich,
genauso wie der Großteil der Historiker im Westen, von der Vielschichtigkeit und dem
Reichtum dieses Quellenmaterials gar kein Bild machen. Und es zeigt sich auch hier:
Das „Unbekannte“ darf nicht mit dem „Nichtexistierenden“ gleichgesetzt werden. Es ist
eine bedauernswerte Tatsache, dass die historischen Quellen zahlenmäßig kleinerer Völker wie jene der Ungarn von den in den Weltsprachen miteinander kommunizierenden
Mitgliedern der internationalen Scientific Community häufig nicht in Betracht gezogen
werden.3 Im Hinblick auf die Erforschung der Geschichte des Ersten Weltkriegs und
insbesondere in Bezug auf die Erforschung der Rolle, die die österreichisch-ungarische
Monarchie dabei spielte, muss jedoch festgehalten werden, dass die Nichtberücksichtigung des „ungarischen Faktors“ besonders schwer ins Gewicht fällt. Zu bedenken ist,
dass es sich bei den Ungarn nicht um irgendeinen Volksstamm des Reiches, sondern um
eine den Staat konstituierende Nation handelte. Dennoch „vergisst“ die internationale
Geschichtsschreibung bei der wissenschaftlichen Diskussion der k.u.k. Doppelmonarchie regelmäßig auf Ungarn. Häufig wird sogar mit Vorliebe auf den zweiten Bestandteil
des sozusagen viel zu langen Namens des Reiches verzichtet, das heißt, man begnügt
sich beim Namen mit dem Hinweis auf Österreich. In Anbetracht des hohen Blutzolls,
den Ungarn im Ersten Weltkrieg zu entrichten hatte, kann gesagt werden, dass eine solche Vorgehensweise den Ungarn gegenüber zumindest nicht gerechtfertigt ist. Darüber
hinaus kann die Zuverlässigkeit der wissenschaftlichen Ergebnisse, die ohne die Verwendung eines Großteils des diesbezüglichen ungarischen historischen Quellenmaterials erzielt wurden, selbstverständlich nicht als optimal bezeichnet werden.
Erinnerungen an den „Großen Krieg“ aus ungarischer Perspektive
Die größte Fundgrube in Ungarn hinsichtlich historischer Erinnerungen an die beiden
Weltkriege ist das Institut und Museum für Militärgeschichte in Budapest.4 Jedoch lässt
sich wohl kaum abschätzen, welcher Anteil an tatsächlich erhalten gebliebenen Originaldokumenten in den Sammlungen dieses geschichtsträchtigen Gebäudes im Burgviertel in Buda (deutsch: Ofen) verwahrt wird. Es gilt als gesichert, dass sich noch heute
Dokumente aus dieser Zeit in großer Zahl im Eigentum von privaten Sammlern oder
3
4
Ferenc Pollmann, Nyugati szemmel a „keleti végekről“. A Halvány Folt szindróma, in: John Keegan,
The First World War c. könyvének apropóján. Hadtörténelmi Közlemények 1999. évf. 4. sz., S. 881–
883.
Das zum Ressort des ungarischen Verteidigungsministeriums gehörende Institut und Museum für Militärgeschichte in Budapest ist ein komplexes Gebilde. Zu seinen Institutionen gehören u.a. auch das
Archiv für Militärgeschichte sowie das Museum für Militärgeschichte.
Die Ostfront des „Großen Krieges“ – aus ungarischer Perspektive
Nachfahren ehemaliger Frontkämpfer befinden. Bemerkenswert ist der Umstand, dass in
den vergangenen zwei Jahrzehnten immer mehr aus familiären Nachlässen stammende
Andenken – darunter auch viele Schriftdokumente – unter die Obhut staatlicher Sammlungen in Ungarn kamen. Diese Entwicklung steht offenbar auch mit dem gestiegenen
Interesse für diese Materie angesichts des sich nähernden hundertjährigen Jubiläums
des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs im Zusammenhang. Vor der Wende 1990 wurden
derartige (vor allem in familiären Nachlässen erhalten gebliebene) Dokumente häufig
außerhalb Ungarns archiviert. Meistens landeten sie im Wiener Kriegsarchiv, vertrauten die Menschen ihre historischen Nachlässe und Dokumente aufgrund des politischen
Systems in Ungarn sogar eher ausländischen Sammlungen an. Heutzutage gibt es dafür jedoch kaum noch Beispiele. Gleichzeitig kommt es aber vor, dass nicht mehr das
Originaldokument, sondern dessen digitalisierte Version in den Besitz des Instituts und
Museums für Militärgeschichte gelangt.
Die Sammlung an handschriftlichem Quellenmaterial des Museums für Militärgeschichte ist eine beispiellos reichhaltige Fundstätte, sowohl, was verschiedenste persönliche Dokumente aus der Zeit des Ersten Weltkriegs (Tagebücher, Briefe, Postkarten
und Feldpost, Notizhefte, Logbücher, in denen Einnahmen und Ausgaben aufgelistet
wurden, sowie weitere bewahrte und erhalten gebliebene Aufzeichnungen), als auch,
was diverse, im Laufe des Krieges entstandene offizielle Schriftstücke und Dokumente
(Bescheinigungen verschiedener Auszeichnungen, Auszüge aus Befehlen, Dokumente,
in denen Beförderungen beziehungsweise Ernennungen bestätigt werden, Dokumente,
die über den Gesundheitszustand der jeweiligen Person(en) Auskunft geben, Traueranzeigen) anbelangt.5
Neben der Sammlung an handschriftlichem Quellenmaterial ist das Archiv für Militärgeschichte jedoch auch eine wichtige Fundstätte für ehemals nicht publizierte Studien
sowie Gedenkschriften und Memoiren. In dieser Abteilung sind sowohl im Nachlass
persönliche Schriftdokumente (Personalia)6 als auch in der Sammlung handschriftlicher
Studien Briefe beziehungsweise unveröffentlichte Dokumente in großer Zahl zu finden,
welche von Menschen verfasst wurden, die an den damaligen Kampfhandlungen beteiligt waren.
Neben diesen nie in gedruckter Form veröffentlichten Dokumenten ist natürlich
auch die Zahl jener, die im Laufe von knapp hundert Jahren publiziert wurden und unterschiedlichen Gattungen beziehungsweise Genres angehören, bedeutend. Allerdings variieren diese stark im Umfang ihrer Quellenangaben. Zu einem nicht unerheblichen Teil
handelt es sich hier um Material, das bereits in der Zwischenkriegszeit veröffentlicht
wurde. Die Autoren waren größtenteils ehemalige Stabsoffiziere, die ihre Memoiren und
damaligen Tagebücher – im Allgemeinen in nachträglich redigierter Form – veröffent5
6
Emese Szoleczky, A Nagy Háború kéziratos dokumentumai, in: A Nagy Háború írásban és képben
1918–2008. Kiállításvezető A Nagy Háború írásban és képben című vándorkiállításhoz. Budapest
2008, S. 6.
Zu dieser Sammlung gehören u.a. auch jene Briefe, die der k.u.k. Generaloberst Károly Tersztyánszky während des Krieges seinem Freund Ferenc Bolgár geschrieben hat. Honvédelmi Minisztérium
Hadtörténeti Intézet és Múzeum (Ungarisches Verteidigungsministerium) (HM HIM), Hadtörténelmi
Levéltár Personalia 187.sz.
89
90
Ferenc Pollmann
lichten.7 Eine zweite Gruppe derartiger Publikationen jedoch besteht aus Memoiren und
ehemaligen Kriegstagebüchern, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg, und zunehmend
ab der Zeit kurz vor der Wende 1990, erschienen sind.8
Erforschung der ungarischen Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg
Die unmittelbarste Form der Wahrung des Gedenkens an den Ersten Weltkrieg besteht
in der Auswertung der damaligen Privatkorrespondenz. Der Erste, der sich schon zu
Beginn der 1970er Jahre an diese Aufgabe heranwagte, war der Historiker Péter Hanák.9
Die Analyse der von ihm verwendeten Dokumente (20 Briefe, die aus der Heimat in die
Kriegsgefangenenlager versendet, aber letztendlich vom Netz der Zensur aufgefangen
wurden) hat aus Sicht des späteren, kritischen Beobachters nur wenig konkrete Ergebnisse zutage gebracht. Die Bedeutung dieser Forschungsarbeit besteht am ehesten darin,
dass die besagten Dokumente publiziert wurden.10
Spätere Autoren zollen Hanák insofern Anerkennung, als sie seine auf diesem Gebeit geleistete Pionierarbeit gebührend erwähnen. Später interessierten sich vor allem
Ethnografen für die Erinnerungskultur in Bezug auf die Weltkriege. So hat Tibor Szenti
beispielsweise in seinem 1988 publizierten Werk11 Kriegstagebücher, Memoiren, Gedichte, die an der Front geschrieben wurden, sowie verschiedene aus dem Feld verschickte Schriftstücke und an Familienangehörige adressierte Briefe analysiert. Die Publikationen von Sándor Oláh12, Orsolya Dimény Haszmann13, Emese-Gyöngyvér Veres14
und Juliána Kokó15 beweisen, dass die ungarischen Ethnografen aus Siebenbürgen die
7
8
9
10
11
12
13
14
15
An dieser Stelle zu erwähnen sind z.B. : József Főherceg, A világháború amilyennek én láttam. (Ös�szeállította Rubint Dezső). I-VII. kötet. Budapest 1926–1934; vitéz báró Roszner István, Katonák,
népek, események. Budapest 1938; Várady Géza, Feljegyzések a világháború vérzivataros napjaiból
1914–1918. Budapest 1925; Lajos Deseő, Harctéri naplója. Budapest 1937 etc.
Vgl. z.B. Samu Koszta, Katonai életrajzom. h.n., 2010; Hardy Kálmán, Az Adriától Amerikáig. Budapest 2008; A hadak útján. Hermann Antal első világháborús visszaemlékezései (részlet). Limes 1997.
év 3. sz., S. 87–104; László György, A Nagy Háború, ahogyan most látom. Melléklet a Hadtörténelmi
Közlemények 2000. évi 2. számához. Leider wird ein bedeutender Teil derartiger Publikationen nicht
in die Bestände der Bibliothek für Militärgeschichte aufgenommen, die als Hauptsammelstelle der
militärhistorischen Literatur in Ungarn gilt. Dasselbe trifft auch für die Széchényi Nationalbibliothek
(d. h. die ungarische Nationalbibliothek) zu. Somit kennen diese Werke auch die in dieser Disziplin
tätigen ForscherInnen zum Teil nicht.
Hanák Péter, Népi levelek az első világháborúból. Valóság XVI. (1973) 3, S. 62–87.
Kiss László, Hanák Péter „A Kert és a Műhely“ című kötetéről, in: Korall. 1, 2000 nyár, http://www.
korall.org/hu/node/1529, 9.12.2013, 14.15 Uhr, Mozilla Firefox.
Szenti Tibor, Vér és pezsgő. Budapest 1988.
Oláh Sándor, Nyelvi sztereotípiák egy házaspár első világháborús levelezésében. Nyelvünk és Kultúránk. A Magyar Nyelv és Kultúra Nemzetközi Társaságának folyóirata. XXXVI évf. 143f szám.
2006/1-2, S. 152–166 (http://olah.adatbank.transindex.ro/belso.php?k=54&p=5603, 9.12.2013, 14.55
Uhr, Mozilla Firefox).
Dimény Haszmann Orsolya, Írott emlékek az első világháborúból, in: Acta Siculica. 2007, S. 727–
738.
Veres Emese-Gyöngyvér, „Mikor Oláhország háborut izene …“, Budapest 2008.
Juliánna Kokó, Egy vargyasi család levelezése az első világháborúban. Kriza János Néprajzi Társaság
Évkönyve. 7. Írás, írott kultúra, folklór. Szerkesztette Keszeg Vilmos. Kolozsvár 1999, S. 240–265;
http://www.sulinet.hu/oroksegtar/data/kulhoni_magyarsag/2010/ro/kriza_tarsasag_evkonyv_07/pages/019_Koko_Julianna.htm, 1.12.2013, 11.15 Uhr, Mozilla Firefox.
Die Ostfront des „Großen Krieges“ – aus ungarischer Perspektive
Aufarbeitung der noch vorhandenen Quellen für besonders wichtig hielten. Gleichzeitig
zeigt die unlängst veröffentlichte Arbeit von Miklós Szilágyi16 ebenso, dass auch innerhalb Ungarns das Interesse für diese Thematik vorhanden ist.
Die Tatsache, dass die ungarische Historiografie im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Erinnerungen an die Weltkriege bis jetzt „das Feld“ größtenteils der Ethnografie überlassen hat, lässt sich wohl am ehesten mit der traditionalistischen Auffassung
der Vertreter des letzteren Faches erklären. Die Geschichte der materiellen und logistischen Voraussetzungen der Kriegsführung beziehungsweise der Kampfhandlungen (das
heißt die klassische Militärgeschichte) sowie die Erlebnisse und Erfahrungsberichte der
an den Kämpfen Beteiligten möchte man bei dieser Art der Forschung höchstens aus
militärisch-fachlicher Perspektive benutzen. Sie beschäftigt sich hingegen nicht mit den
mentalen beziehungsweise emotionalen Aspekten im Leben eines Soldaten, das heißt
damit, wie er sich an veränderte Lebensbedingungen anpasste und mit welchen moralischen Konflikten er sich auseinandersetzen musste. Selbstverständlich ist es jedoch
nur eine Frage der Zeit, bis die neuen Strömungen auch in der ungarischen Militärgeschichtsschreibung an Terrain gewinnen werden, zumal sich die Erforschung der „Sozialgeschichte des Kriegs“ zu jener wissenschaftlichen Disziplin entwickeln könnte, die in
der Lage ist, die relative Isolierung der Militärhistoriker zu beenden.17
Die Aufarbeitung der an der Front gemachten Erfahrungen beziehungsweise der Erinnerungen an den Fronteinsatz sind bereits bei einer ersten Annäherung mit zahlreichen
methodologischen Problemen verbunden. Es ist ganz offensichtlich, dass das aus seiner
„friedlichen Existenz“ herausgerissene und zu einem „Leben im Krieg“ gezwungene
Individuum Kriegserfahrungen macht, die eine verwirrende Vielschichtigkeit aufweisen
können, zumal ihre Entstehung von ausgesprochen vielen Faktoren beeinflusst wird.
Eine der wichtigsten Determinanten in diesem Zusammenhang ist der Platz, den der
jeweils Betreffende in der militärischen Hierarchie einnahm, da es ja zwischen der „Lebensqualität“ eines Offiziers und jener eines einfachen Soldaten einen hohen Unterschied
gab. Jedoch verlief selbst innerhalb des Offizierskorps das Leben der Betreffenden in
unterschiedlichen Bahnen, je nachdem, ob es sich um Berufs- oder Reserveoffiziere
handelte, ob sie zum Kommando gehörten oder für die Einsätze eingeteilt wurden, ganz
zu schweigen von dem Unterschied zwischen jenen, die dem Generalstab angehörten
beziehungsweise Stabsoffiziere waren. Auch gab es darüberhinaus Abweichungen in
Bezug auf die jeweiligen Waffengattungen sowie die Entfernung des Einsatzortes vom
jeweiligen Frontverlauf. Ein wichtiger Faktor war weiters die momentane Vorgehensweise bei den Kriegseinsätzen. Befand man sich gerade in einem Bewegungs- oder aber
in einem Stellungskrieg? In welcher Phase befand sich der Krieg überhaupt? Außerdem darf auch der Gesundheitszustand der Gewährsleute nicht unberücksichtigt bleiben.
Schließlich gab es sicherlich auch Unterschiede in Bezug auf die Kampfhandlungen und
Lebensbedingungen an den verschiedenen Kriegsschauplätzen in Abhängigkeit vom jeweiligen Gelände und Klima, von der jeweiligen Jahreszeit sowie dem aktuellen Wetter.
16 Szilágyi Miklós, Finesszel köll élni. A háború és a hadifogság a szóbeliségben. Budapest 2011.
17 Ferenc Pollmann, „Marcona“ történelem: hadtörténetírás határon innen és túl, in: Korall. 33, 2008,
S. 120–128.
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Ferenc Pollmann
Wird darüber hinaus auch noch der jeweils aktuelle „Feind“ berücksichtigt, ist es einfach
einzusehen, dass die Thematisierung des Erlebten beziehungsweise der Vergleich dieser
Erfahrungswerte kein einfaches Unterfangen darstellt.
Tibor Szenti versucht in seinem oben bereits angeführten Werk, die wichtigsten
Stationen im Leben eines Soldaten – wie er schreibt: die Stationen des „kriegerischen
Kreuzwegs“ – hervorzuheben und diese zu Kriterien seiner Analyse zu machen. Diese
Stationen vereinen in sich ziemlich heterogene Erlebnisse. So wird an der ersten Station
dieses Wegs, die den Titel „am Beginn des Krieges“ trägt, das Erlebnis der Einrückung
aufgearbeitet, und zwar angefangen vom feierlichen Aufmarsch über den Blumenteppich im Sommer 1914 bis hin zum späteren, weit weniger enthusiastischen Gang an
die Front. Außerdem werden die aus der schlechten Vorbereitung resultierenden, nahezu sofort auftretenden Versorgungsschwierigkeiten sowie die Anpassung an die äußerst
schwierigen Bedingungen beim Fronteinsatz geschildert. Die zweite Station wurde mit
„im Kampf“ betitelt. Wie der Name schon sagt, geht es hier um die Auswertung der
Erinnerungen von Soldaten an die alltäglichen Kampfhandlungen, um die Schilderung
der Begegnung mit dem Feind sowie um jenes moralische Dilemma, das bei solchen
Treffen aufgrund des Tötungsbefehls entsteht. Die dritte Station, das Kapitel „Blut
und Sekt“, beschäftigt sich mit den „Grabenkämpfen“ zwischen verschiedenen Gesellschaftsschichten an der Front wie z.B. dem Gegensatz zwischen Offizieren und einfachen Soldaten. Im vierten Kapitel mit dem Titel „das Leiden der Daheimgebliebenen“
werden die mit dem Hinterland aufrechterhaltenen, sensiblen Beziehungen analysiert.
An der darauffolgenden, der fünften Station, werden die zum Themenkreis „Verwundungen und Kriegsgefangenschaft“ gehörenden Erlebnisse vermittelt, während in Kapitel sechs, „Liebe und Traum“, die Gefühle beziehungsweise das sexuelle Verlangen der
Soldaten thematisiert werden. An der letzten Station schließlich geht es um den „Tod“,
der heldenhaft oder sogar selbst gewählt sein kann und für viele Soldaten die Erlösung
und endgültige Befreiung schlechthin bedeutet.18
Die von Szenti vorgenommene Kategorisierung entspricht natürlich dem von ihm
gewählten Quellenmaterial. Obwohl dadurch zweifelsohne wichtige Themenschwerpunkte gesetzt werden, ist es nicht angebracht, diese Klassifizierung ohne jegliche Veränderungen zu übernehmen. Jedenfalls kann bezweifelt werden, dass eine bloße Kategorisierung der Erinnerungen und Erlebnisse für sich genommen eine Vergleichbarkeit
derselben gewährleistet beziehungsweise ermöglicht, aus dem so aufbereiteten Quellenmaterial Schlüsse zu ziehen.
Die Ostfront des „Großen Krieges“
Eine Abgrenzung des aus überlieferten Erinnerungen und Erlebnissen bestehenden
Quellenmaterials, das sich auf die Ostfront bezieht, von den an anderen Schauplätzen
des Ersten Weltkriegs gewonnenen Informationen setzt voraus, dass wir jene Besonderheiten der jeweiligen Quellen berücksichtigen, welche eine derartige Unterscheidung
18 Tibor Szenti, Vér és pezsgő, S. 11–24.
Die Ostfront des „Großen Krieges“ – aus ungarischer Perspektive
sinnvoll erscheinen lassen. Unter den möglichen Schauplätzen für den von Soldaten der
Donaumonarchie – und damit auch von ungarischen Soldaten – geführten bewaffneten
Kampf nahm die Ostfront zweifelsohne von Anfang an eine herausragende Stellung ein,
und zwar ganz im Gegensatz zur Front am Balkan, welche nach der Generalmobilmachung am 31. Juli 1914 unwiderruflich zu einem Nebenschauplatz der Kampfhandlungen degradiert wurde. Der Eintritt Italiens in den Krieg im Mai 1915 führte alsbald ebenfalls zu einer vorrangigen Bedeutung dieser neuen Front. Die im Herbst 1916 eröffnete
rumänische Front wiederum verschmolz wenige Monate später mit der russischen. Somit wurden die Kampfhandlungen praktisch neben den beiden Hauptfronten, das heißt
neben der russischen und der italienischen Front, zu einem Nebenkriegsschauplatz. Jene
wenigen Formationen, welche das österreichisch-ungarische Heer an weiteren Kriegsschauplätzen des Weltkriegs vertraten, können hinsichtlich der Vergleichbarkeit offenbar außer Acht gelassen werden.
Worin liegen nun die Besonderheiten der Ostfront?
a) In der natürlichen Umgebung: Galizien, die Bukowina sowie Wolhynien brachten
– im Vergleich zu den anderen Kriegsschauplätzen – keine extremen Bedingungen
für die Soldaten der einander feindlich gegenüberstehenden Heere, wenngleich nicht
vergessen werden darf, dass um den Jahreswechsel 1914/1915 herum, als die Front
entlang der Karpaten verlief, das Gelände im Hochgebirge und das schlecht ausgebaute Verkehrsnetz die Lage der Kriegsparteien in besonderem Maße verschlechterte. Die sich auf den überlasteten Straßen drängelnden Marschkolonnen bedeuteten ein ernst zu nehmendes Problem, sowohl, was die Gewährung von Feuerschutz
durch die Artillerie, als auch, was die Sicherung des notwendigen Nachschubes für
die Truppen anbelangte. Das vorwiegend kontinentale Klima ging teils mit extremen Wetterbedingungen einher; so z.B. auch Anfang 1915, als binnen weniger Tage
frühsommerliche Hitze und klirrende Kälte einander ablösten. In der Folge wurde
die ohnehin schon beeinträchtigte Mobilität der Streitkräfte noch zusätzlich eingeschränkt.
b) In der einheimischen Bevölkerung: Das Bild, das sich die Soldaten von den Bewohnern der Gebiete machten, die durch die Kriegseinsätze betroffen waren – verschiedene slawische Volksgruppen (Polen, Slowaken, Ruthenen, Russen und Ukrainer)
sowie Juden –, spielt in irgendeiner Form immer eine Rolle in der Kriegskorrespondenz beziehungsweise in Kriegstagebüchern und Memoiren.
c) In der Streitmacht des Gegners: Ebenfalls viel schrieben die ungarischen Soldaten
der damaligen Zeit über die Kampftauglichkeit, das Verhalten und das äußere Erscheinungsbild der russischen, ab dem Herbst 1916 der rumänischen Truppen.
d) In den verbündeten Soldaten: Im Zuge der Kriegsführung der Bündnispartner treten
auch an den Frontabschnitten der Monarchie verbündete Truppen in Erscheinung.
Die in Formationen des österreichisch-ungarischen Heeres kämpfenden Ungarn
kommen vor allem mit deutschen und ab 1916 auch mit türkischen Einheiten in
Kontakt. Die Beurteilung der Deutschen fällt in der Regel positiv aus, obwohl es in
den oberen Rängen nicht selten zu Reibereien kommt.
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Ferenc Pollmann
Außer den Fragestellungen, die auf den oben genannten Kriterien beruhen, können in
diesem Zusammenhang natürlich auch weitere, an vorderster Front gemachte Erlebnisse
von herausragender Bedeutung angeführt werden, wie Verwundungen (und alles, was
damit einhergeht: die Angst vor Verletzungen, der Umgang mit den aus den eigenen
Reihen stammenden Verletzten sowie Verwundeten aus dem Lager des Feindes, die Auswirkungen einer Verletzung auf das weitere Leben des betroffenen Menschen usw.) auf
der einen Seite und die Kriegsgefangenschaft (die negative oder gegebenenfalls positive
Beurteilung der Möglichkeit, in Kriegsgefangenschaft zu geraten, die Gründe, weshalb
jemand bereits in Kriegsgefangenschaft geraten ist, der Umgang mit den Kriegsgefangenen) auf der anderen Seite.
Kriegsverletzungen
Um die im Leben eines Soldaten im Allgemeinen prägende Erfahrung der Verwundung
zu illustrieren, werden im Folgenden anhand von drei Originalauszügen die Erinnerungen dreier Soldaten, die verschiedenen Waffengattungen angehörten, vorgestellt. Der erste der drei Erfahrungsberichte ist dem Kriegstagebuch von Samu Koszta (1893–1962),
Angehöriger der Artillerie im ungarischen Heer, entnommen. Dieser Bericht wurde dank
seines Urenkels nunmehr auch in gedruckter Form veröffentlicht. Der den sogenannten
„Siebendörfer Tschangos“ angehörende Ungar wurde als junger Mann im Alter von 21
Jahren im August 1914 für den Heeresdienst rekrutiert. Er machte sich im März 1915 mit
dem 20. königlich-ungarischen Haubitzenregiment auf den Weg nach Galizien. Am 28.
Juni 1916 wurde er schwer verwundet, jedoch gelang es ihm, der Kriegsgefangenschaft
zu entgehen. Seine Verletzungen setzten seiner militärischen Laufbahn ein Ende. Sein
erhalten gebliebenes Kriegstagebuch dokumentiert das Geschehen, angefangen vom
Einrücken bis zum Juli des Jahres 1916:
„Kaum hatten wir einen Schuss abgegeben, kam schon prompt die Antwort darauf
zurück. Der Einschlag erfolgte in solcher Nähe, dass es regelrecht Erde auf uns herabregnete. Meine Ohren waren verstopft vom großen Kanonenfeuer. Einer meiner Untergebenen warnte mich stets aufs Neue: Herr Korporal, unsere kommt!
Hierauf gingen wir unter der Kanone in Deckung. Nach dem erfolgten Einschlag
des Geschosses schossen auch wir schnell zurück. Hierauf gingen wir schnell wieder
unter die Kanone in Deckung, weil bereits das zweite, schreckliche ‚Paket‘ auf dem
Weg war! So beschossen wir uns gegenseitig und gaben zirka sechs bis sieben Schüsse
ab, bis schließlich jene Granate kam, die ich nie vergessen werde und die mich zusammen mit meinen vier Untergebenen außer Gefecht setzte. Wir hatten uns ganz eng an
das Geschütz gelehnt, als uns der Volltreffer erwischte. In dem Moment, als ich mir
die Verletzung zuzog, befand ich mich in halb gebückter Stellung. Ich wusste nicht,
was eigentlich um mich herum geschehen war. Ich fühlte mich, als ob ich gar nicht auf
dieser Welt wäre. Alles verlangsamte sich. Auch das donnernde Geräusch der Geschütze
schien aus einer Entfernung von mehreren Kilometern zu kommen. Ich richtete mich
auf und spürte an meiner linken Seite einen dumpfen Schlag. Zunächst dachte ich, dass
ich von Erde getroffen worden war. Alsbald aber erkannte ich, dass dem nicht so war.
Die Ostfront des „Großen Krieges“ – aus ungarischer Perspektive
Ich erkannte, dass zwei Finger meiner rechten Hand, der Zeige- und der Mittelfinger,
zerfetzt waren. Damals spürte ich unmittelbar überhaupt keine Schmerzen. Ich drehte
mich um und wollte den Geschützstand verlassen. Nach ein paar Schritten jedoch spürte
ich, dass es um mich geschehen war. Beide Beine fühlten sich warm an. Ich konnte mich
nicht mehr bewegen und sackte noch an Ort und Stelle in mich zusammen. Jetzt wusste
ich schon, was hier los war. Wegen meiner Finger war ich sehr verzweifelt. Ich sammelte alle meine Kräfte, um aus dem Schützengraben zu kriechen. Mit Ach und Krach
und unter entsetzlichen Schmerzen gelang mir das auch. Ich rief um Hilfe, bekam aber
keine Antwort. Ich versuchte mich erneut aufzurichten. Irgendwie schaffte ich es und
ich machte mich auf den Weg in Richtung Protzenstellung. Ich hatte so ungefähr 15 bis
20 Schritte gemacht, als Simon und Hima, die ebenfalls verwundet, aber nicht schwer
verletzt waren, zu mir liefen, mich bei den Armen packten und so noch ein paar Schritte
geleiteten. Ich war völlig erschöpft. Ein warmes Gefühl durchlief meinen Körper. Ich
musste mich setzen. Simon holte Wasser, was meinen Zustand ein bisschen verbesserte.
Der Russe schoss ununterbrochen. Ein paar Geschosse schlugen in meiner unmittelbaren Nähe ein. Ich war sehr verzweifelt wegen meiner Finger und trauerte, dass ich verstümmelt sein und nicht mal schreiben können werde. Mehrmals sagte ich den Burschen,
als wieder einmal eine Granate in meiner Nähe einschlug, dass sie mich doch endlich
träfe, wenn ich schon zum Krüppel geworden bin. ‚Aber wie können Sie so etwas sagen,
Herr Korporal‘ – meinten die Burschen.“19
Der Autor des zweiten Originalauszugs ist Baron István Roszner (1896–1964), der
im 13. k.u.k. Husarenregiment als Kavallerie-Offizier diente:
„Ich bin umgeben von Sibiriern …
Die Pistole in meiner Hand … schieße ich auf sie … jener, der nach den Zügeln
griff, taucht auf … der andere auch … aber dann spüre ich einen gewaltigen Schlag auf
meinem Arm, die Waffe löst sich aus dem Griff meiner erstarrten Finger, ich bin wehrlos … vielleicht rettet mich noch mein Pferd und als letzten Versuch gebe ich ihm die
Sporen …
Trotzig bäumt es sich auf, schnell wie ein Pfeil. Dann springt es zwischen die vor
ihm stehenden Moskowiter. Plötzlich gibt es Platz und mein Pferd dreht sich bereits
schnell im Kreis … in diesem Moment schießt ein entsetzlicher Schmerz durch mein
Bein. Danach fühlt es sich so an, als ob eine Körperhälfte abgestorben wäre. Ich spüre
nichts mehr und habe keine Ahnung, was mit mir geschehen ist. Aber mir ist schwindlig.
Ich verliere das Gleichgewicht. Mit meinem unverletzten Arm kann ich mich gerade
noch an der Pausche des Sattels festhalten und als sich mein Blick auf mein linkes Bein
richtet, sehe ich nur Blut, überall Blut, der Sattel, mein Pferd alles ist rot […]
Die Zügel sind mir entglitten und mein Pferd reitet wie verrückt mit mir dahin zwischen Deutschen mit Helmen und hechtgrauen Husaren. Die gehören zu uns! Dann verlassen mich meine Kräfte und ich falle aus dem Sattel […]
Die Deutschen rennen an mir vorbei, sie helfen mir nicht, aber einige Husaren fangen mich auf und tragen mich davon […] wir müssen schnell sein und zu unserem Glück
19 Koszta István, Katonai életrajzom, S. 56–57.
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plündern die Sibirier gerade die weggeworfenen Rucksäcke – so bekommen wir wieder
Luft.“20
Über den Protagonisten des dritten Erfahrungsberichts, Korporal István Paksi, ist
nur so viel bekannt, dass er in der Infanterie diente und am 7. August 1917 verwundet
wurde und gleichzeitig in Kriegsgefangenschaft geriet:
„Während der Flucht gerieten wir an einen Ort, den der Feind gut einsehen konnte.
Wir hatten aber keine Wahl mehr, es sei denn […] es sei denn, wir können hier nicht
durchmarschieren, dann werden wir mit Sicherheit zu Gefangenen. Das Durchmarschieren wiederum ist mit großen Gefahren verbunden, aber egal, wir dachten, es sei besser
zurückzuflüchten, als in Gefangenschaft zu geraten.
Ich marschierte los, um den Durchbruch zu schaffen, geriet aber unter einen solchen
Beschuss, dass ich mich auf den Boden werfen musste. Während ich mich hinlegte, lief der
Korporal zu mir. So möchte ich, nachdem das Feuer eingestellt wird, weiterziehen. Gerade
in dem Moment als ich mich aufrichten wollte, explodierte hinter meinem Rücken ein
Schrapnell. Eine Kugel dieses Schrapnells hat mich so getroffen, dass ich keinen Schritt
mehr weitergehen konnte. Der Schuss war ungemein gefährlich, ja fast tödlich. […]
Ein paar Augenblicke lang war ich bewusstlos, [dann] bat ich den Korporal, mir
einen Verband anzulegen, aber er hörte meine Bitte gar nicht und setzte im nächsten Augenblick seine Flucht fort. Ich wiederum nahm alle meine Kraft zusammen. Es ging mir
wirklich schlecht. Ich nehme meine Fotografien zur Hand, darunter auch eine Fotografie
von meiner Familie. Der Reihe nach küsse ich die Abgebildeten und verabschiede mich
von meinen Eltern und Geschwistern. Ich habe sie neben mich hingelegt und warte auf
das, was da kommen möge.“21
Beobachtungen hinsichtlich der Kriegsführung und des Verhaltens
des Feindes
Unter den erhalten gebliebenen Dokumenten finden sich auch jene zusammenfassenden Erfahrungsberichte, welche das Verhalten des gegnerischen Heeres beschreiben. So
hielt es z.B. Aladár Bugsch (später Szepessy-Bugsch), der Kommandant des 20. k.u.k.
Infanterieregiments, für wichtig, Folgendes hinsichtlich seiner Erfahrungen mit den russischen Truppen schriftlich festzuhalten:
„Der russische Infanterist ist ein ausdauernder, hinterhältiger Kämpfer, der nur dann
angreift, wenn er dazu gezwungen wird. Wenn es um die Verteidigung geht, nutzt er
geschickt die Vorteile des Terrains aus. Den Kampf mit dem Bajonett schätzt er nicht.
In diesem Fall ergibt er sich leicht, um somit der Gefahr und dem Nahkampf auszuweichen. Was die Schaffung von Anlagen betrifft, die Schutz und Deckung bieten, ist er
ausgesprochen erfinderisch. Man kann sagen, darin ist er Meister. Sehr oft kämpft er
mit unerlaubten Mitteln der Kriegsführung. Er verkleidet sich als Gegner oder Zivilist.
Gefährliche Arbeiten lässt er von Bürgern verrichten.
20 István Roszner, Katonák, népek, események, S. 586f.
21 Ifj. Paksi István megsebesülését idézi Szenti Tibor, Vér és pezsgő, S. 327f.
Die Ostfront des „Großen Krieges“ – aus ungarischer Perspektive
Er ist raffgierig, plündert und brandschatzt, sobald er unter keiner höheren Befehlsgewalt bzw. keinem höheren Einfluss steht.“22
Aladár Bugsch äußerte sich anerkennend über die Bekleidung der Russen und hob
hervor, dass man sie mit bloßem Auge auf dem Gelände kaum erkennen konnte, da die
Farbe ihrer Kleidung mit jener der Deckung verschmolz. Der Mantel der Russen bot
mehr Wärme als jener der Soldaten der Monarchie. Die Uniform der Offiziere war identisch mit jener der einfachen Soldaten, daher konnte man sie während des Kampfes gar
nicht voneinander unterscheiden. Die russischen Offiziere marschieren übrigens nicht
vor, sondern hinter den ihnen unterstellten Truppenverbänden. Aus diesem Grund und
weil ihre Uniform die gleiche Farbe wie jene der einfachen Soldaten hatte, waren sie
weniger den Schüssen der feindlichen Scharfschützen ausgesetzt. Im übrigen Teil des
Berichts werden auch die Charakteristika der russischen Kavallerie und der Artillerie
einer detaillierten Analyse unterzogen.23
Ähnliche, nach fachlichen Gesichtspunkten erstellte, zusammenfassende Materialien wurden auch vom Oberkommando des österreichisch-ungarischen Heeres herausgegeben. Ein Beispiel dafür ist jene ungefähr 30 maschinengeschriebene Seiten lange
und auf den 31. August 1917 datierte Zusammenfassung, die von Generalstabschef General der Infanterie Arthur Arz von Straußenburg unterschrieben wurde. Darin werden
die Erfahrungen der im selben Jahr ausgetragenen Verteidigungsschlacht in Galizien im
Hinblick auf die russische Art der Kriegsführung überblicksmäßig dargestellt.24 Das in
80 Punkte gegliederte Dokument zeigt, dass es das Ziel der österreichisch-ungarischen
Heeresleitung war, die im Zuge der bewaffneten Auseinandersetzungen gewonnenen
Erfahrungen zu verwerten, zumal auch konkrete Handlungen aufgrund der daraus ableitbaren Erkenntnisse gesetzt wurden.25
Die Lebensumstände der Soldaten
Wetter
Über die extremen Temperaturschwankungen in den Karpaten wurde unter anderem in
den Memoiren von Erzherzog Joseph, dem damaligen Befehlshaber des VII. Korps, berichtet: „Während am 4. Februar das Thermometer –25° Celsius zeigte und starker Wind
und Schneefall vorherrschten, lag am 7. Februar die Temperatur schon bei 0° Celsius.
Am 12. Februar wiederum waren es schon +6° Celsius! Infolgedessen führte die rasche
Schneeschmelze dazu, dass die Schützengräben und Straßen von meterhohem Wasser
überflutet wurden. Das milde Wetter hielt bis Anfang März an. Die Straßen wurden zu
einem regelrechten Meer aus Schlamm. Am 7. März lag die Temperatur schon wieder
bei 13° Celsius unter dem Gefrierpunkt. Die plötzlich auftretende eisige Kälte wiederum
verwandelte den rutschigen Erdboden in eine Eisfläche.“26
22 Bugsch Aladár, Tapasztalatok. Orosz hadsereg. 1915 első negyedében szerkesztett emlékirat részlete.
HM HIM, Hadtörténelmi Levéltár, Tanulmánygyűjtemény 482. sz.
23Ebd.
24 Armeeoberkommando (AOK) Op. 400 Geheim. Az 1917. évi galíciai védelmi csata tapasztalatai (fordítás). HM HIM, Hadtörténelmi Levéltár Tanulmánygyűjtemény 371. sz.
25Ebd.
26 József főherceg, A világháború, I. kötet, S. 420–489.
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Schlafstätte
Anschaulich beschreibt György László den spartanischen Charakter der unter den Bedingungen des Stellungskrieges geschaffenen Schlafstätte im Quartier der Soldaten:
„Mit dem Schlafen verhält es sich so, dass ich meinen Regenmantel auf dem
Boden ausbreite. Unter meine Schultern lege ich einen, unter meinen Kopf den anderen meiner schlechten Stiefel. Mein Polster ist eine leere Kiste. Den Muff, den
ihr mir letztens geschickt habt, platziere ich unter meinem Allerwertesten, damit ich
bequem liege. Die Ausrüstung bedecke ich mit einem Stück Wachstuch. Über mich
hänge ich eine Zeltplane. Somit ist meine Decke am Ende nicht völlig durchnässt,
sondern nur feucht. Zwei Holzstücke in die Wand gehauen, darauf eine leere Kiste,
ein Haken und ein Schrank. Die Ausrüstung ist der Stuhl, meine Knie sind der Tisch.
Vor ein bisschen Schlamm braucht man natürlich keine Angst zu haben. Man muss
sich in den Schlamm legen und wenn der Mantel und die Stiefel bereits sehr schwer
sind vom vielen Schlamm, muss dieser mit dem Spaten bzw. Messer heruntergekratzt
werden.“27
Zum Jahr 1916 berichtet er weiter: „Wir gehen also in die russische Deckung, welche während unseres Aufenthaltes hier üblicherweise unser Zuhause ist. Bis jetzt hat es
noch nicht geregnet, aber wegen der Schneeschmelze tropft es bereits von der Decke,
und es sieht schon sehr nach Regen aus. Aber wir verschaffen uns Abhilfe. Die Regenmäntel haben wir über unseren Köpfen mit Nägeln befestigt. Von Zeit zu Zeit kann das
sich dort ansammelnde Wasser abgeschöpft oder angezapft werden.
Auch eine Pritsche haben wir gemacht. Vier Holzklötze, darüber zwei Balken, welche wir gestohlen hatten, darüber ein schönes Weidegeflecht, welches wir auf Pfähle
legten, darüber Zweige und Stroh. Die Bretter fürs Regal habe ich vom Dachboden
des Kompaniekommandos zusammen mit dem Weidegeflecht gestohlen, als ich Dienst
hatte.
Draht haben wir auch besorgt, und so haben wir, wenn es wieder anfängt zu tropfen,
eine 30cm hohe Pritsche und müssen nicht mehr im Schlamm liegen.“28
Das Baden
Die im Leben der Soldaten besonders wichtige Körperhygiene beschreibt György László in einem im Original erhalten gebliebenen Brief wie folgt:
„Vorgestern, am 12. Januar, waren wir baden. Das Baden erfolgte so wie ein Massenbad am Schlachtfeld eben erfolgen kann. Wir sind nach Korito, wo es in einem aus
drei Räumen bestehenden Haus auf der geschützten Seite einen Heizkessel für das Wasser gibt. Das ist das Bad. In einer Scheune wiederum gibt es ein Gerät für die Kleiderdesinfektion, welches die Läuse mit Wasserdampf abtötet. In einem Zimmer des Bades
zogen wir uns aus. Ein Barbier hat uns mit einer Schafschere die Haare sowie die Bartund die Schamhaare geschoren, und zwar die von allen mit der gleichen Schere, ohne
letztere zu desinfizieren. Im anderen Zimmer gab es zwei Wannen und zehn Bottiche. In
27 György László, A Nagy Háború, S. 29.
28 László György levele szüleihez, 1916. III. 19. (im Privateigentum).
Die Ostfront des „Großen Krieges“ – aus ungarischer Perspektive
den Wannen badeten die Chargen sowie die Freiwilligen, in den Bottichen die einfachen
Soldaten. Natürlich war das Warmwasser knapp. So bekamen nur die ersten Badenden
reines, aber wenig Wasser. Nach jedem Bad wurde zum Ausgleich warmes Wasser ins
Badewasser gegossen. Somit hatte derjenige, der als letzter badete, zwar genug, aber
dafür bereits schmutziges Wasser. Danach zogen wir uns im dritten Raum wieder an. Es
war ein warmes Zimmer. An den Wänden rundherum waren Bänke aufgestellt. Die vier
bis fünf Handtücher in der Mitte waren in ständigem Gebrauch. Darüber hinaus bekamen
wir auch noch ein ganz neues Handtuch aus feinem Stoff – es war ein ‚herrschaftliches‘
Handtuch –, ein Taschentuch sowie eine Hose und ein Hemd aus dem Heeresbestand.
Letztere habe ich auch sofort angezogen. Danach brachten sie die Kleider, die eineinviertelstunden lang mit Dampf behandelt worden waren. Wir zogen die Kleider an und
durften gehen.“29
Der Kampf gegen die Läuse
Ein weiteres Thema, das immer wieder vorkam, war der ständige Kampf gegen Parasiten – vor allem gegen die Läuse. Károly Kernetzky schreibt darüber in seinen Memoiren
wie folgt:
„Mit den Läusen hatte ich schon in der Kaserne in Brünn eine gewisse Bekanntschaft gemacht (wo ich solche Exemplare gesehen hatte, die, laut meinen Freunden,
Strohhalme in ihren Mäulern trugen), aber auf der eigenen Haut lernte ich sie erst jetzt
kennen.
Hierauf haben wir gemeinsam eine Treibjagd gegen sie veranstaltet, und diejenigen, die uns zum Opfer gefallen waren, mit Kerzenwachs beträufelt. Hier an der Front
herrschten andere Sitten. Ich imitierte die Erfahreneren und wenn das Wetter nicht gerade rauh war, und eventuell auch noch die Sonne zum Vorschein kam, kroch auch ich aus
der dunklen Deckung und zog mich draußen hinter der Schanze aus und entfernte [die
Läuse] aus den Bauchfalten meiner Unterhose sowie aus meinem Hemd von den unter
den Achselhöhlen gelegenen Stellen und aus anderen Falten und warf [die Läuse] in den
Schnee, natürlich nur die größeren Exemplare unter ihnen. Mit dieser Taktik konnten
wir uns zwar nicht gänzlich von ihnen befreien, aber ihre Zahl vermindern. Später –
aber mittlerweile nahm ich es gar nicht mehr so tragisch – konnte ich mich auch noch
davon überzeugen, dass sich die Läuse nicht nur in meiner Unterwäsche, sondern auch
in meinem aus Strickwolle bestehenden Handgelenkband eingenistet hatten. Mit diesen
hatte ich aber schon leichteres Spiel. Tagsüber, als ich mit wachsamen Augen durch
eine Schießscharte in Richtung russische Stellungen schielte, hatte ich auch Zeit dafür,
sie aus dem Muff und den Maschen meiner gestrickten Handschuhe hervorzuholen und
im Eis zu konservieren. Nachdem wir an einen solchen Rückzugsort gelangt waren, wo
man auch ein offenes Feuer machen konnte, erlernte ich auch eine radikalere Form des
Entlausens. Über den Flammen des offenen Feuers drehte ich meine Kleidungsstücke
bis die Parasiten aufgrund der Wärmeeinwirkung aus ihnen herausfielen. Im späteren
Verlauf des Krieges gab es noch perfektere (aber im Winter des Jahres 1915/1916 noch
29 György László, A Nagy Háború, S. 30.
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ziemlich primitive) Entlausungsstationen und es gab auch eigene Wäschereien für die
Unterwäsche, aber trotz aller Vorsichtsmaßnahmen blieben die Läuse treu und begleiteten nach dem Ende des Kriegs die Soldaten bis nach Hause.“30
Österliche Soldatenfreundschaften
Dieses Phänomen fand an der Ostfront insbesondere nach 1917 Verbreitung. Aus dem
Brief von György László kann man von einem Ereignis erfahren, das sich noch zu Ostern 1916 zugetragen hatte:
„Plötzlich läuft jemand herein, und sagt, wir sollen herauskommen, die Moskowiter kommen unbewaffnet. Und tatsächlich stellten sie sich in kleinen Gruppen an die
Spitze ihrer Stellungen, worauf auch bei uns ein paar, gefolgt von immer mehr Soldaten
dasselbe taten. Es wurde kein Schuss abgegeben. Die Russen verlassen ihre Stellungen,
klettern über den Stacheldrahtzaun und kommen in unsere Richtung. Auch bei uns gehen
ein paar wagemutige, abenteuerlustige Burschen hinaus vor den Stacheldrahtzaun und
warten. Die Russen rücken näher. Auf den Stellungen stehend beobachten wir sie.
Ein Russe tritt vor und salutiert, ein Ungar tut dasselbe. Hierauf geben sie sich die
Hand, umarmen einander, küssen sich und alsbald vermischt sich die gesamte Gesellschaft. Hunderte Soldaten stehen zwischen den beiden Stellungen herum, reden miteinander, umarmen sich … während die anderen oben stehend zuschauen.
Es beginnt das Telefonieren mit den in der Hierarchie höher stehenden Befehlshabern. Sie werden gefragt, ob sie dieses Verhalten duldeten und bereit seien, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Antwort: Die Verantwortung liegt beim Kompaniekommando, aber geschossen werden darf nicht. Sehe sich das mal einer an: Die Rekruten
sitzen auf dem Dach; das erste Mal seit sieben Monaten mussten wir nicht im Graben
stehen, sondern konnten uns auf der Erdoberfläche!! bewegen.
Der eine Zug wurde für alle Eventualitäten in Bereitschaft versetzt. Es kam der Befehl, dass selbst, wenn noch so viele Russen daherkommen sollten, sich von uns dagegen
nur eine begrenzte Zahl von Männern draußen aufhalten dürfe. Der Rest wurde wieder
zurückgeschickt. Bis dahin hatten unsere Leute schon Unmengen an rot gefärbten Eiern
und Weißbrot bekommen, währenddessen die Russen unseren schlechten Wein und unser Bier nur so in sich hineinschütteten. Es wurden Postkarten unterschrieben, es wurde
Geld gewechselt und eingekauft und später die Geschäftemacherei sogar noch vor dem
Eingang zu unseren als Wachtposten dienenden Gräben fortgesetzt. Dort setzten sich
dann die Rekruten sowie die Russen hin und waren die besten Kameraden. Herein ließen
wir natürlich niemanden und wer einmal drin war, den ließen wir auf gar keinen Fall
wieder hinaus.
Es gab eine Menge Polen und Juden, die hereinkamen. Die wurden verhaftet und
mit Wein und Zigarren, ja sogar beim Bataillonskommando vom Major mit Pogatschen
versorgt.
30 Kernetzky Károly, Ahogy én láttam és átéltem az első világháborút 1915–18 (ungedrucktes Manuskript), S. 9.
Die Ostfront des „Großen Krieges“ – aus ungarischer Perspektive
In unserer Kompanie wurden vier, beim Regiment einunddreißig und bei den 68ern
58 russische Gefangene gemacht. Von uns hat sich aber auch ein Serbe hinübergeschlichen und drei Mann, die ein- und ausgegangen waren, blieben schließlich im russischen
Graben. Auch der Kompaniekommandant Leutnant Varjú ging hinaus und es kamen
Russen sowie ein Fähnrich. Sie begrüßten einander.
Es ist interessant, dass die Russen nur Papiergeld und Briefmarken und kein anderes
Geld haben. Damit bezahlen sie. Keine Spur von Silber, Nickel oder Bronze. Ich habe
eine Menge Sonnenblumenkerne bekommen. Davon schicke ich euch etwas. Bewahrt
es gut auf.
Eine Unterschrift konnte ich leider nicht bekommen, leider.
Sie sagen, sie haben alles, außer Fleisch. Natürlich gab es zu diesem Zeitpunkt keinen Bereitschaftsdienst mehr bzw. nur um des schönen Scheins willen und der Major
sowie die Reserveoffiziere und unsere Nachbarn, die Angehörigen der Honved, gefolgt
von der Artillerie kamen alle zu unserer Stellung, um sich diese anzusehen. Es war ein
fantastischer Anblick 30 Schritt vor unserer Stellung die vielen Russen in ihren gelben
Uniformen und mit ihren großen Stiefeln zu sehen. Dazwischen waren die ungarischen
Rekruten.
Sie brachten ihr Bedauern darüber zum Ausdruck, dass sie zwar niemals, wir aber
– wie ich bereits schrieb – dennoch schießen würden. Siehe da, auch gestern gab es bei
ihnen einen Toten und einen Verletzten. Alsbald wird es hier wohl auch kein Schießen
mehr mit dem Gewehr geben. Die Russen sind ein wahrhaft frommes, braves Volk. Auch
bei ihnen gibt es 18-jährige sowie alte Menschen.
Diesen Brief schreibe ich oben auf der Stellung, während ich mich sonne und es für
völlig normal halte, dass mir gegenüber in einer Entfernung von 400 Schritten russische
Schützen auf der Lauer liegen und gähnend zu mir herüberschauen.
Später begannen die Russen und auch wir Lieder zu singen und setzten uns in bester
Laune und mit gutem Appetit zum Mittagessen hin, wobei wir uns auf Wiedersehen
sagten. Gegen Mittag wurde die Zahl der verhafteten Russen allgemein bekannt. Die
Russen kamen von da an, weil wir ihnen mitteilten, dass sie, wenn sie hereinkommen,
nicht mehr wieder hinausgehen dürften, auch nicht mehr wieder herein. Lediglich ein
paar Polen wären gerne hereingekommen. Auch ihnen sagten wir höflich, sie sollen am
Abend wiederkommen!“31
Die „Russen“
Beobachtungen, welche sich auf die auf der Gegenseite kämpfenden Soldaten beziehen,
spielen in vielen historischen Rückblicken eine wichtige Rolle. Der folgende Auszug
stammt aus dem Buch von Baron István Roszner:
„Wir haben die russischen Offiziere beobachtet. Ausgestattet mit Lackstiefeln, weißen Lederhandschuhen und in eleganter Aufmachung führten sie ihre Soldaten mit unglaublichem Fanatismus und Todesmut ins sichere Verderben. Später, als Verletzte von
ihnen hereingebracht wurden, fanden wir Schrotflinten für die Jagd gleichsam als Be31 László György levelei szüleihez 1916. IV. 22. Hervorhebung auch im Original (im Privateigentum).
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weis dafür, dass diese Männer vor dem Angriff von einem angenehmen Jagdausflug zu
diesem verhängnisvollen Kampf beordert wurden.“32
Die „Tschechen“
Ein ebenfalls immer wiederkehrendes Thema bei den Erinnerungen ist die Rolle der
tschechischen Formationen beziehungsweise Soldaten. Die aus der Zwischenkriegszeit
stammende ungarische Erinnerungsliteratur verurteilt einhellig das „verräterische, defätistische“ Verhalten der „Tschechen“. Grund für diese negative Haltung war die im Nachhinein erfolgte Verurteilung der tschechoslowakischen Politik, die als eine der „Hauptverantwortlichen“ für den im Hinblick auf Ungarn mit außerordentlich gravierenden
Konsequenzen einhergehenden Friedensvertrag von Trianon gesehen wurde. Gleichzeitig ist es aber ebenfalls eine Tatsache, dass der Topos der „verräterischen Tschechen“
auch in jenen Briefen zu finden ist, die während des Weltkriegs verfasst wurden:
„Überhaupt habe ich festgestellt, dass das Überlaufen stark die Phantasie unserer
Soldaten bewegte. Sie gingen mit einiger Sicherheit davon aus, dass sich ihre ruthenischen Nachbarn beim ersten Gewehrschuss ergeben oder im besten Fall die Flucht
ergreifen würden. Es ist wahr, dass es überall dort, wo es tschechische, ruthenische oder
ähnliche Völker gab, schnell zu Problemen kam. In vielen Fällen dienten diese Nationalitäten jedoch der ungarischen Heeresleitung als Sündenböcke, die man für alles verantwortlich machen konnte, weil man ihnen aber auch alles zutraute. Die Kunde von ihrer
Nichtsnutzigkeit, Feigheit und ihrem Verrätertum war in aller Munde und somit wurde
schon allein ihre Nachbarschaft als bedrückend empfunden.“33
„Nachdem ein tschechisches Regiment aufgelöst worden war, wurden uns Freiwilligen auch zwei tschechische Freiwillige zugeteilt, die ein wunderschönes Deutsch sprachen und uns mit ihrer außergewöhnlichen Intelligenz überraschten. Ich schloss Freundschaft mit ihnen und traute mich auch sie zu fragen, weshalb die Tschechen sich auf dem
Schlachtfeld ergeben. Ohne verstimmt zu sein, sah mich der Ältere von beiden an und
fragte, weshalb wir nicht auch jene italienischen Soldaten als Hochverräter betrachten
würden, die 1849 anlässlich der Belagerung von Buda den Ungarn geholfen hatten, die
Basteien zu erklimmen, sowie jene ungarischen Soldaten, die 1859 zu Garibaldi übergelaufen waren. Ich verstand.“34
„Barbaren“
Die Gnadenlosigkeit der Kriegsführung konnten insbesondere jene erfahren, die an vorderster Front ihren Dienst verrichteten, wenngleich schreckliche Erlebnisse an sämtlichen Kriegsschauplätzen vorkommen konnten. Nichtsdestotrotz haben die Verfasser der
zeitgenössischen Briefe verhältnismäßig selten diese Episoden niedergeschrieben. Der
bereits mehrfach zitierte Károly Kernetzky jedoch berichtet gleich über mehrere solcher
Ereignisse:
32 „Sodrában a szörnyű malomnak …“ Dr. Varjú Sándor ügyvéd I. világháborús naplói és levelei. Unge­
druckte Maschinenschrift, S. 46.
33 István Roszner, Katonák, S. 529.
34 György László, A világháború, S. 4.
Die Ostfront des „Großen Krieges“ – aus ungarischer Perspektive
„Die Nacht verbrachte unsere Kompanie in der zweiten Stellung. Die Morgensonne war bereits aufgegangen, als wir vor uns im ‚großen Gras‘ sahen, wie sich eine aus
ungefähr hundert Mann bestehende russische Truppe näherte. Dabei handelte es sich
wahrscheinlich um jene Leute, die kurz zuvor gerade verschwunden waren. Auf Befehl
eröffneten wir das Feuer … Nachdem sie erkannt hatten, dass kein Weg, weder nach vor
(von da waren sie ja eben vertrieben worden) noch zurück führte, warfen sie ihre Waffen
nieder und begannen mit erhobenen Händen auf uns zuzulaufen …
Entlang unserer Reihen donnerte der Befehl: FEUER EINSTELLEN!35 Aber meine
Gefährten, die noch ein paar Tage zuvor gottesfürchtig und das Kreuz schlagend in den
Kampf gezogen waren, zeigten nunmehr keine Gnade. In Verneinung ihrer Menschlichkeit und entgegen dem Befehl nahmen sie die Unglückseligen der Reihe nach ins Visier
und knallten sie ab. Die letzten von ihnen brachen unmittelbar vor unseren Reihen zusammen. Ich sehe das jetzt noch deutlich vor mir. Ich sehe ihre erschrockenen, verzerrten Gesichter, ihre zum Gebet gefalteten oder ein Kreuz schlagenden Hände. Ich höre ihr
verzweifeltes, flehendes Jammern … Später sammelten unsere Sanitäter diejenigen, die
nur verwundet waren, auf und brachten sie nach hinten.
Ich glaube daran, dass jemand von ihnen später wieder zu Kräften und den großen
Weltenbrand überlebend auch wieder nach Hause gekommen ist. Ich denke aber nicht,
dass, wenn er zu Hause über die tragischen Umstände seiner Gefangennahme und die
vandalenhafte Ermordung seiner Gefährten berichtete, ihm auch nur irgendwer Glauben
schenkte. Ich würde es ja auch nicht glauben, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte.“36
An anderer Stelle berichtet er, ohne dabei seine eigene Rolle zu verharmlosen, über
den Umgang mit den Verletzten:
„Unser Weg führte auch über eine Strecke, an der wir kurz vor unserer Ankunft in
einen Nahkampf verwickelt wurden; die unsrigen und die Russen. Am Boden des Laufgrabens an diesem Abschnitt, wo der Kampf bereits vorbei war, lagen hintereinander die
Toten und ‚auf ihnen‘ wiederum suchte eine Unmenge von Verletzten in der Sicherheit
bietenden Schanze Zuflucht. Ich marschierte – gemeinsam mit den anderen – von den
Leuten vor und hinter mir mitgerissen, ob ich wollte oder nicht, vorwärts. Und im Nachhinein kann ich mir meine Herzlosigkeit nicht verzeihen, mit der ich, während ich im
schmalen Graben dahinlief, über die dort befindlichen Verletzten trampelte. Während
wir so dahinliefen, erduldeten die Verstorbenen, die unabhängig von den Uniformen
ihrer Nation, auf dem Boden der Schanze auf dem Bauch, auf dem Rücken oder auf der
Seite lagen, stumm, dass wir ihnen gleichsam die letzte Ehre für ihren Heldentod erwiesen, indem wir mit unseren Stiefeln auf ihren warmen, weichen, verstümmelten und
blutigen Kadavern herumtrampelten. Die Verwundeten aber, sowohl Russen als auch
unsere Leute, die am Boden zwischen den Toten lagen oder auf diesen saßen, ihre Kleidung gelockert hatten und sich mit der Versorgung ihrer Wunden beschäftigten, blickten uns entsetzt an; uns, die Barbaren, die gnadenlos über sie hinwegfegten. Jammernd
flehten sie uns an, nicht auf ihren hilflosen Körpern herumzutrampeln. Wir aber mussten
35 Im ungarischen Originaldokument wird der Feuerbefehl zuerst auf Deutsch (FEIER [sic] EINSTELLEN!) und dann auf Ungarisch angeführt.
36 Károly Kernetzky, Ahogy én láttam és átéltem a világháborút, S. 29.
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Ferenc Pollmann
rücksichtslos weiterrennen, und zwar selbst auf die Gefahr hin, sie dabei zu zertrampeln,
weil wir noch nicht am Ziel waren. Mit der zwischen den Gefechtspausen herrschenden,
momentanen Stille vermischte sich ihr herzzerreißendes, nach Hilfe rufendes und ihren
Schmerz zum Ausdruck bringendes Geschrei … Sanitäter! ... Hilfe! ... Aiuto! ... Bozse
Bozse! ... jaj Istenem! Vai Mama mia! ... Wasser! Gebt mir nur einen Tropfen Wasser!
Meine Mutter! Wo bist du? … Oh weh! Treten Sie nicht auf mein gebrochenes Bein,
schrie mich ein Verwundeter in seinem Schmerz an, aber da war es schon geschehen und
ich trampelte weiter über die anderen …“37
Schlussbemerkungen
Obwohl es bereits Versuche gegeben hat, jene ungarischen historischen Dokumente aufzuarbeiten, die Erinnerungen an das Leben an der Ostfront im Großen Krieg enthalten,
gilt nach wie vor, dass diese Thematik noch nicht vollständig erfasst wurde. Im Hinblick
auf das nahende Jahrhundertjubiläum des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs wird die ungarische Militärgeschichtsschreibung zweifelsohne alles daransetzen, auch diese Lücken
allmählich zu schließen. Dazu ist allerdings erforderlich, dass sie mit den Experten der
verwandten Disziplinen auf möglichst vielen Gebieten zusammenarbeitet.
Deutsch von Michael Hutterer
37 Ebd., S. 24.
Ein großer Krieg, über den niemand spricht
Kroaten, bosnische Muslime und Serben an der russischen Front (1914–1918)
Tvrtko Jakovina
Historiografien ohne Antworten, Gesellschaften ohne Interesse
Die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen Serbiens mit der Europäischen Union und
die Festlegung des Datums für den Beginn dieses Prozesses ausgerechnet auf den 28.
Juni 2013, das heißt 99 Jahre nach der Ermordung Franz Ferdinands in Sarajevo, sei, so
der serbische Premierminister Ivica Dačić in einem Gespräch mit dem deutschen Außenminister Guido Westerwelle, von symbolischer Bedeutung. Sollte es wirklich dazu
kommen, dann hätte Serbien am Veitstag, an dem die Schlacht am Amselfeld stattfand,
schlussendlich doch noch etwas zu feiern.1 Nichtsdestotrotz verwiesen zahlreiche Kreise
in Europa darauf, dass es für die Region des europäischen Südostens die wohl schönste
Nachricht wäre, wenn 100 Jahre nach dem Ausbruch des „Großen Krieges“ sämtliche
Länder des Westbalkans auf irgendeine Weise in die Union integriert werden könnten.
Dies wird in nächster Zeit jedoch nur Kroatien gelingen. Im Zuge einer Regierungssitzung in Zagreb, der Hauptstadt eines Landes, das mit 1. Juli 2013 genau 99 Jahre und
zwei Tage nach dem Attentat von Sarajevo vollwertiges Mitglied der EU werden wird,
schlug am 18. April 2013 Kulturministerin Andrea Zlatar Violić die Gründung einer
nationalen Kommission, bestehend aus fünf Ministerien und einer bestimmten Zahl an
Untersuchungsausschüssen aus dem ganzen Land vor. Kroatien solle sich mit diesem
Akt in das vierjährige internationale Programm zur Erinnerung an den Ersten Weltkrieg
einbringen, wobei die Regierung im Verlauf dieser Jahre all jene Schritte setzen müsse,
die man bereits vor Jahrzehnten hätte unternehmen sollen: Erstellung eines Verzeichnisses aller Kriegsteilnehmer und -opfer, wozu eine Zusammenarbeit mit österreichischen
und ungarischen Archiven notwendig wäre, und Errichtung von Gedenkstätten auf den
Gräbern der Gefallenen, vor allem „in der östlichen Slowakei und in Weißrussland“,
appellierte die Ministerin an ihre Kollegen, wobei sie sich auf den Schriftsteller Miroslav Krleža berief. Es gebe nur wenige historiografische und politologische Studien,
1
Vlado Vurušić, „Legt das Datum für den Beginn der Verhandlungen auf den Veitstag, damit wir uns
endlich mit ihm versöhnen; Der serbische Premier in Erwartung guter Nachrichten aus der EU“, in:
Jutarnji list, 20.5.2013.
106
Tvrtko Jakovina
und auch einschlägige Literatur müsse erst verfasst werden. Dieses Fehlen an Literatur
und Quellen machte sich auch in der ministeriellen Aussage bezüglich der Grabstätten
in Weißrussland bemerkbar, denn diese liegen vielmehr in der Ukraine, was jedoch von
keiner Seite richtiggestellt wurde. Nach Beendigung der Abstimmung teilte der kroatische Regierungschef Zoran Milanović schließlich etwas unhistorisch, aber dennoch im
Geiste der vorherrschenden Meinung über diesen Abschnitt des 20. Jahrhunderts mit,
dass „[...] dies einer dieser alten Kriege sei, von dem man nicht weiß, ob wir ihn gewonnen oder verloren haben, was wohl auch in Zukunft der Fall sein wird“.2 Während
für den serbischen Premierminister Ivica Dačić die Wahl des Veitstages als Beginn des
Beitrittsprozesses ein prinzipiell positives Signal darstellt, handle es sich laut dem Präsidenten der Republika Srpska in Bosnien und Herzegowina, Milorad Dodik, bei den Feierlichkeiten anlässlich der hundertsten Wiederkehr des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges, auf denen vor allem Frankreich beharren würde, um einen „antiserbischen Plan der
EU“. Aus diesem Grund wandte sich Dodik an die Staatschefs der EU-Mitgliedsländer
und brachte seine Überzeugung zum Ausdruck, dass die Erinnerung an die Tat Gavrilo
Princips und den darauffolgenden Beginn des Ersten Weltkrieges wohl zu einer Diffamierung des Bildes über die Serben beitragen würden.3
Zahlreiche Aussagen von Spitzenpolitikern aus Bosnien und Herzegowina, Kroatien
und Serbien lassen eine aussagekräftige Collage über die heterogenen Sichtweisen zum
Großen Krieg in all jenen Staaten entstehen, die einstmals auf den Ruinen ÖsterreichUngarns einen gemeinsamen südslawischen Staat errichteten. Sie zeigen auch die Instrumentalisierung dieses Krieges zu allgemeinpolitischen Zwecken und werfen ein Bild
auf die Sorglosigkeit im Umgang mit den Opfern, wobei die ex-jugoslawischen Politiker
jüngerer Generationen die geringste Schuld trifft. Denn Manipulationen der Vergangenheit waren derart häufig, dass der Blick auf die Tatsachen in vielen Fällen nachhaltig getrübt wurde. So etwa errichtete man nach der Beendigung des Ersten Weltkrieges in Belgrad ein Denkmal zu Ehren der Franzosen, das vom berühmten kroatischen Bildhauer
Ivan Meštrović entworfen wurde. Bei den NATO-Angriffen auf Serbien im Jahre 1999
wurde dieses Denkmal mit einem schwarzen Tuch verhüllt, auf dem geschrieben stand,
dass es das einstmalige Frankreich heute „nicht mehr gibt“. Damit wurde symbolisch
das Ende einer Freundschaft proklamiert, die man im Ersten Weltkrieg dauerhaft errichtet zu haben glaubte.4 Beinahe gleichermaßen bizarr erscheint die während des Prozesses gegen den ehemaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milošević in Den Haag
vorgebrachte Argumentation eines „Freundes des Gerichts“, wie man die von Belgrad
bezahlten Verteidiger des ehemaligen Präsidenten nannte, der im Zuge seiner Verteidi2
3
4
86. Regierungssitzung der Republik Kroatien, 11. Punkt der Tagesordnung, 18. April 2013. Online
einsehbar unter: http://www.vlada.hr/hr/naslovnica/sjednice_i_odluke_vlade_rh/2013/86_sjednica_
vlade_republike_hrvatske/audiozapis_86_sjednice_vade_republike_hrvatske, 23.5.2013, 12.00 Uhr,
Microsoft Internet Explorer.
Dodik: Der antiserbische Plan der EU. http://www.b92.net/info/vesti/index.php?yyyy =2013&mm
=05&dd=14&nav_category=11&nav_id=713811, 23.5.2013, 12.15 Uhr, Microsoft Internet Explorer.
Tvrtko Jakovina, Yugoslavs at the Paris Peace Conference and the legacy of the First World War, in:
Robert A. Stradling (Hg.), Crossroads of European Histories. Multiple outlooks on five key moments
in the history of Europe. Straßburg 2006, S. 187–197, hier: S. 190.
Ein großer Krieg, über den niemand spricht
gung die Frage thematisierte, ob Josip Broz Tito, der nachmalige Staatschef des zweiten
Jugoslawien, an Kämpfen des Ersten Weltkrieges auf serbischen Kriegsschauplätzen
teilgenommen hatte, worüber seine offizielle Biografie nichts verriet. Der Richter unterbrach den Verteidiger, weil die Herstellung von Verbindungen zwischen Fakten in
Josip Broz Titos Biografie und der Politik Slobodan Miloševićs, das heißt zwischen Ereignissen, die 80 Jahre auseinander lagen, keinerlei Sinn ergebe. Diese beiden Episoden
lassen klar erkennen, welche dauerhafte Faszination von der Vergangenheit ausgeht, wie
diese missbraucht wird und wie die Geschehnisse des Ersten und Zweiten Weltkrieges
und auch die Erfahrungen von Nachkriegs-Jugoslawien gedeutet werden können. Derart
divergierende Sichtweisen erschwerten bislang nachhaltig eine Auseinandersetzung mit
dem Ersten Weltkrieg, wobei dies auch in zahlreichen anderen, reicheren Ländern mit
längerer demokratischer Tradition der Fall ist.5
Der Erste Weltkrieg hatte in historiografischer Hinsicht das Unglück, dass die Friedensperiode nach seinem Ende nur etwas mehr als 20 Jahre dauerte, wodurch er angesichts des Vergleichs mit dem Zweiten Weltkrieg als weniger blutig antizipiert und weniger bedeutend erachtet wurde. Die damals noch verhältnismäßig überschaubare Historiografie war primär mit früheren Epochen befasst, sodass dem später als „geschichtlichen
Wendepunkt“ erachteten Krieg noch nicht die gebührende Aufmerksamkeit beigemessen wurde. Dazu kam die nur geringe Zahl an schriftlich festgehaltenen Erinnerungen,
mit der auch eine Verschiebung des Machtzentrums einherging: Lag die einstmalige
Hauptstadt für Kroaten, Slowenen, bosnische Muslime und Serben aus der Vojvodina,
Kroatien sowie Bosnien und Herzegowina in Wien, so rückte nun Belgrad ins Zentrum,
wobei die nachmalige jugoslawische Hauptstadt angesichts der Kriegsgeschehnisse kein
geeignetes Forschungsumfeld bot. Serbien, das nach den Siegen in den Balkankriegen
1912 und 1913 die Oberhand in der Region behalten und sein Staatsgebiet erheblich
hatte ausweiten können, wurde 1914 zum ersten von Österreich-Ungarn angegriffenen Land, dem sodann Unterstützung seitens der Entente zuteilwurde. Der Krieg von
1914 bis 1918 war deshalb für Serbien von elementarer Wichtigkeit, nahm eine zentrale
Rolle in der wieder verstärkt tradierten Mythologie ein und führte dazu, dass serbische
Truppen die Staatsgrenzen um 600 Kilometer in Richtung Norden verschieben konnten,
sodass das Land nicht mehr über die gemeinsame Grenze mit Österreich-Ungarn bei
Semlin/Zemun verfügte, sondern ab 1919 auf der Nordseite der Karawanken „DeutschÖsterreich“ als Nachbarstaat hatte.
Der Krieg wurde indes nicht nur in der Geschichtsschreibung, sondern auch in
einigen anderen Bereichen umfassend sichtbar. So etwa lag im Hafen von Split jah5
Vgl. dazu den Text von Richard Stengel aus einer Spezialausgabe der Times International mit dem
Titel „Heroes and Icons of the 20th Century“, June 14, 1999, Vol. 153, No. 23: „What of the individual
who performed one small act that set in motion a great, grand tumult of actions that changed history?
Consider Gavrilo Princip. He is the 19 year-old Serbian student who assassinated Archduke Francis
Ferdinand in Sarajevo in 1914, which ignited the conflagration of WWI, which yielded the Treaty of
Versailles, which deeply embittered an Austrian corporal named Adolf Hitler, who in response booted
up the great horror of WWII, which yielded the Treaty at Yalta, which divided up Eastern Europe in
such a way that another Serb named Slobodan Milosevic felt the need to ethnically cleanse Kosovo.
Gavrilo Princip, Trigger of the Century.“
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Tvrtko Jakovina
relang die USS Olympia vor Anker, ein Schiff, das die Stadt vor den Italienern beschützte, dessen Besatzung aber auch für den Einzug eines Hauches an Moderne und
großer Welt in die Adriastadt verantwortlich zeichnete.6 Die größten Verdienste um
die Entstehung des neuen Staates hatten sich die sogenannten „Solunaši“ gemacht,
das heißt die mehrheitlich serbischen Teilnehmer an den Kämpfen im Raume Saloniki,
die ihre neu gegründeten Dörfer auf dem vormals österreichisch-ungarischen Staatsgebiet in Anlehnung an den Regenten Aleksandar Karađorđević oftmals Aleksandrovac (oder ähnlich) nannten. Auch nach dem US-amerikanischen Präsidenten Thomas
Woodrow Wilson wurden einige Straßen und Plätze benannt. Diese Namen wurden
jedoch spätestens nach dem Zerfall des Königreichs Jugoslawien mit dem Einmarsch
nationalsozialistischer Truppen im Jahre 1941 getilgt, sofern dies nicht zu einem bereits früheren Zeitpunkt geschehen war. So etwa trug der heutige Marschall-Tito-Platz
in Zagreb von 1919 bis 1927 den Namen des 28. Präsidenten der Vereinigten Staaten
von Amerika, ehe er schließlich von 1927 bis 1941 nach dem serbischen Regenten
benannt war. Heute gibt es in Kroatien nur noch in Šibenik eine Wilson-Straße, und es
sei angemerkt, dass der häufigste ausländische Namenspatron von Straßen und Plätzen
in Kroatien nach wie vor Tomáš G. Masaryk ist, wobei diese Benennungen erst nach
dem Ersten Weltkrieg vorgenommen wurden.
Die nachhaltigsten Ergebnisse des Ersten Weltkrieges auf der Balkanhalbinsel bildeten zweifelsfrei die Geburt eines neuen Staates namens Jugoslawien (auch wenn dieser
in seiner Anfangsphase anders hieß) und der Kampf gegen „fremde Elemente“ sowie
für die Befreiung des Landes, die sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg in ähnlicher
Weise gestalten sollte. Die offizielle Haltung dazu, die oftmals in Reden des jugoslawischen Staatsoberhaupts Josip Broz Tito und seiner engsten Mitarbeiter verkündet wurde,
lautete, dass mit der Entstehung des jugoslawischen Staates ein Schritt in die richtige
Richtung getan worden sei, dabei aber zahlreiche Probleme ungelöst geblieben seien.
Dazu zählte man vor allem den Charakter des neuen Staates, dessen System, die Frage
der Dynastie und die soziale Präeminenz, denen man sich allesamt unzureichend oder
gar nicht gewidmet habe.7 Aus eben diesen Gründen galt der Erste Weltkrieg sodann
auch stets als ein wenig „verdächtig“ und „politisch unkorrekt“, wie serbische Historiker schrieben, und ein bosnisch-herzegowinischer Autor ließ sich in seinem Vorwort zu
Krležas Kriegsnovellen sogar zu der Formulierung hinreißen, dass die Südslawen für
den „fremden“ und „feindlichen“ österreichisch-ungarischen Staat gestorben seien.8 Im
Zweiten Weltkrieg schließlich habe die Partisanenarmee all diese Dinge bekämpft, die
Staatsordnung und die herrschende Dynastie gestürzt und sich fortan für die Errichtung
6
7
8
Vjekoslav Perica, A City between the Global and the National. U.S. Navy’s Peacemaking Mission
in Split, 1918–1921, in: Ljubinka Trgovčević – Vukašin Pavlović – Ilija Vujačić (Hg.), 125 Years of
Diplomatic relations between the USA and Serbia. Belgrade 2008, S. 82–102, hier: S. 89–100.
Snježana Koren, Politika povijesti u Jugoslaviji (1945–1960). Komunistička partija Jugoslavije, nastava povijesti, historiografija. Zagreb 2013, S. 355.
Milan Ristović, Andrej Mitrović i htenje za istinom, in: Andrej Mitrovć (Hg.), Prodor na Balkan.
Srbija u planovima Austro-Ugarske i Nemačke 1908–1918. Belgrad, S. 658–681, hier: S. 664; Ivan
Lovrenović, Bog rata i njegove žrtve, in: Miroslav Krleža (Hg.), Hrvatski bog Mars. Sarajevo 1988, S.
5–9, hier: S. 6.
Ein großer Krieg, über den niemand spricht
der Prinzipien von Gleichheit und Brüderlichkeit eingesetzt. Auch auf symbolischer
Ebene kam es zu einer Neuausrichtung des Landes, indem der Kroate Josip Broz Tito,
ein Guerillakämpfer und ehemaliger Soldat der österreichisch-ungarischen Armee, ins
einstmals königliche Schloss im Belgrader Stadtteil Dedinje einzog. Gavrilo Princip,
der Mörder des Thronfolgers Franz Ferdinand und von dessen Frau Sophie Chotek, erhielt im Sarajevo der Nachkriegszeit ein kleines Museum, und auch seine Fußabdrücke
wurden an der Stelle, von der aus er seine verhängnisvollen Schüsse abgegeben hatte, symbolisch in den Boden gegossen, wobei man im ganzen Land keine Gelegenheit
ausließ, Princip als Angehörigen der mittellosen und unterjochten Massen darzustellen.
Andernorts sprach man auch davon, dass er ein Kämpfer für die nationale Befreiung
gewesen sei.9 Heute trägt die Brücke, an der das königliche Paar sein Leben ließ, wieder
den Namen Lateinerbrücke, wogegen das während des Krieges errichtete und gleich
danach zerstörte Denkmal zu Ehren von Sophie und Franz Ferdinand niemals wieder
aufgebaut werden sollte.
Genauso wie man auf ideologischer Ebene mit dem Kapitalismus, der Monarchie,
dem politischen System und der territorialen Gliederung des alten Jugoslawien brach,
fiel auch die Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg dem allgemeinen Paradigmenwechsel zum Opfer. Mit Ausnahme Serbiens, wo sich Historiker in größerem
Umfang Themenfeldern zum Ersten Weltkrieg widmeten, wurde in den übrigen Teilen
des Landes in erster Linie über die Entstehung Jugoslawiens geschrieben, da dieses Ereignis durchwegs positive Konnotationen aufwies. So verwundert es auch nicht, dass
zum Jugoslawischen Komitee, zu Fran Supilo, Ante Trumbić, Nikola Pašić und anderen umfangreiche Literatur vorliegt. Der Kampf aufseiten der k.u.k. Monarchie hingegen konnte und durfte keiner positiven Bewertung unterzogen werden, weswegen er
auch verschwiegen wurde. Letztendlich wurde auch über die Verlierer berichtet, über
die Kämpfer für ein volksfernes Regime und gegen Russland, was vor allem in einer
kurzen Periode nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall war. Die Helden aus diesen Tagen
wurden bereits im ersten Jugoslawien als Feinde angesehen, allen voran Feldmarschall
Svetozar Boroević,10 der zu Beginn des Krieges 1914 in Košice stationiert gewesen war
und als Befehlshaber der dritten Armee am 10. Oktober 1914 Przemyśl zurückerobert
hatte. Für diese militärische Leistung wurde er mit dem kaiserlichen Leopold-Orden mit
Großkreuz ausgezeichnet. Doch sollte Boroević später weder als Held der Schlacht gegen Italien (was zu Titos Zeiten durchaus opportun gewesen wäre) noch als Wegbereiter
im Sinne der identitätsstiftenden Parole „Brüderlichkeit und Einheit“ gefeiert werden,
da er Serbe und sein Vater Adam stellvertretender Vorsitzender der serbisch-orthodoxen
Kirchengemeinde in Petrinja war und sich zugleich als Kroate ausgab.11 Überaus wenig
geschrieben wurde auch über die österreichisch-ungarische Verwaltung in Serbien nach
dem Jahr 1915, während die Kriegsjahre in Kroatien, Bosnien und Herzegowina sowie
9 Jakovina, Yugoslavs at the Paris Peace Conference, S. 188.
10 Mira Kolar-Dimitrijević, Zašto vojskovođu Svetozara Boroevića do bojne treba zadržati u sjećanju,
in: Marino Manin (Hg.), Feldmaršal Svetozar barun Borojević od Bojne (1856–1920). Zagreb 2011,
S. 9–23, hier: S. 20–21.
11 Ebd., S. 20.
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Tvrtko Jakovina
Slowenien gänzlich unbehandelt blieben. Der Erste Weltkrieg wurde in der Historiografie auf einige wenige besondere und isolierte Episoden reduziert.
In der serbischen Geschichtsschreibung und in Serbien selbst waren kritische Auseinandersetzungen und Filmvorführungen über den Ersten Weltkrieg häufiger als im
übrigen, westlichen Teil der jugoslawischen Föderation. Einige der wesentlichsten und
besten Historiker des jugoslawischen Staates, wie etwa Andrej Mitrović, gaben wichtige
Abhandlungen über Serbien in den Plänen der k.u.k. Monarchie und Deutschlands von
1908 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs heraus, begleitet von Publikationen allgemeiner militärischer und kultureller Natur.12 Mit Beginn der 1980er Jahre kam es schließlich
zu einem „unbegreiflichen“ Sinken des Interesses an dieser Periode, doch gerade rechtzeitig zum hundertjährigen Jahrestag der Wiederkehr des Kriegsausbruches scheint der
Erste Weltkrieg wieder verstärkt in den Fokus zu rücken.13 Zeitgleich mit dem schwindenden Interesse am Ersten Weltkrieg trat jedoch Ende der 1980er Jahre ein anderes
Phänomen der serbischen Historiografie in den Vordergrund, wo es bis zum Ausbrechen
der jugoslawischen Erbfolgekriege verbleiben sollte.14 Zum damaligen Zeitpunkt kam es
nämlich zu einer umfassenden Diskussion betreffend die Entscheidung, dass nach dem
Ende des Ersten Weltkrieges einer Vereinigung zum Königreich der Serben, Kroaten
und Slowenen zugestimmt wurde, wo doch auch die Option für die Bildung eines „großserbischen“ Staatsgebildes bestanden habe, bei der sich nur ein kleiner Teil Kroatiens
und Sloweniens außerhalb der serbischen Grenzen wiedergefunden hätten. Diese, für
Serbien damals weitaus annehmbarere, Lösung hätte die Frage einer späteren Umgestaltung der Föderation Titos im Sinne von Slobodan Milošević erst gar nicht erforderlich
gemacht und Blutvergießen sowie neuerliche Kriege verhindert.
In Kroatien, so könnte man aufgrund der lokalen Geschichtsschreibung den Eindruck gewinnen, habe – abgesehen von der Gründung Jugoslawiens, dem Wirken des
Kroatischen und später Jugoslawischen Komitees sowie anderer diverser, damit verbundender Fragen – der Erste Weltkrieg überhaupt nicht stattgefunden. Denn anlässlich
des 50. Jahrestages des Attentates von Sarajevo erschien zwar eine Publikation über
die Tat von Gavrilo Princip, in der der Krieg jedoch weitgehend ausgeblendet blieb.15
12 Andrej Mitrović, Prodor na Balkan. Srbija u planovima Austro-Ugarske i Nemačke 1908–1918. Belgrad 2011, S. 663. Andrej Mitrović erweist sich mit „Prodor na Balkan. Srbija u planovima AustroUgarske i Nemačke 1908–1918“, Nolit. Belgrad 1981, „Ustaničke borbe u Srbiji 1916–1918“, CKZ.
Belgrad 1987, mit seinen 1983 veröffentlichten Studien über die Kunst zu Kriegszeiten und später mit
„Srbija u Prvom svetskom ratu“. Beograd 1984 (2007 als „Serbia’s Great War, 1914–1918. London
2007, auch auf Englisch veröffentlicht) als einer der produktivsten Autoren zu diesem Thema. Von
den anderen wichtigen serbischen Wissenschaftlern, die den Großen Krieg behandelten, sind Milorad
Ekmečić, Danica Milić und Dragoljub Živojinović zu nennen.
13 Milan Ristović, Andrej Mitrović i htenje za istinom, in: Andrej Mitrovć. Prodor na Balkan. Srbija u
planovima Austro-Ugarske i Nemačke 1908–1918. Belgrad 2011, S. 658–681, hier: S. 658–678.
14 Vgl. z.B.: Branko Petranović, Balkanska Federacija 1943–1948, Šabac 1990.
15 Slavko Mićanović, ein Journalist aus Bosnien und Herzegowina, veröffentlichte 1965 in der in Zagreb
erschienenen Publikation „Stvarnosti“ einen Text mit dem Titel „Sarajevski Atentat“, der in populärwissenschaftlicher Art und Weise auf 220 Seiten die Ereignisse des Jahres 1914 schildert. Ein Jahr
später erschien Vladimir Dedijers über 1000 Seiten umfassendes Werk „Sarajevo 1914“ (erschienen
im Belgrader Verlagshaus Prosvjeta). Eine etwas höhere Publikationstätigkeit konnte zum 50. Jahrestag des Kriegsausbruches verzeichnet werden.
Ein großer Krieg, über den niemand spricht
Vielmehr widmete sich die kroatische Geschichtswissenschaft den „Grünen Kadern“,
das heißt Deserteuren, die angeblich die Sicherheit im Hinterland und die Gründung des
neuen Staates ernsthaft gefährdeten und sich in der Rolle als Revolutionäre und Kämpfer
gegen soziale Missstände gefielen.16 Sowohl das (groß-)serbische als auch das soeben
geschilderte kroatische Phänomen wie auch Politiker, die für die Zerschlagung der k.u.k.
Monarchie eintraten, sollten Jahrzehnte später im Zuge des Zerfalls des zweiten Jugoslawien erneut in den Mittelpunkt rücken. „Eine Versailler Schöpfung“ lautete seinerzeit
das Schimpfwort für ein Land, das bereits vor dem Ende der Pariser Friedensverhandlungen als neuer Staat proklamiert worden war (das Königreich der Serben, Kroaten und
Slowenen war bereits am 1. Dezember 1918 ausgerufen worden), wobei solcherlei, als
Argumente getarnte Schmähungen noch Jahrzehnte später in den historischen Diskurs
eingebracht werden sollten.
Eine Bestätigung oben genannter Ausführungen bietet eine Durchsicht der von 1945
bis 1988 in kroatischen geschichtswissenschaftlichen Periodika erschienen Beiträge zum
Ersten Weltkrieg, die so gut wie nie Fragen der Wirtschaft, des Lebens der Menschen und
der Tätigkeit lokaler Verwaltungsorgane zum Thema haben. Häufig kommt es auch vor,
dass Arbeiten, die in chronologischer Hinsicht den Ersten Weltkrieg behandeln müssten,
diesen einfach überspringen.17 Im Jahre 1965 wurde das Standardwerk des französischen
Historikers Pierre Renouvin ins Kroatische übersetzt, dessen Neuauflage aus dem Jahr
2008 der Erstedition beinahe aufs Haar gleicht.18 Die einzigen Modifikationen betrafen
die Sprache, indem einige Wörter kroatisiert wurden, wie es etwa im Titel der Fall war,
wo im Wort Evropska der Konsonant v durch den hier kroatischeren Vokal u ersetzt wurde (Europska). Das grundlegende Problem der kroatischen Geschichtswissenschaft zu
dieser Epoche liegt jedoch darin, dass dieser, aus der Feder von Renouvin stammende,
systematische Überblick zum Großen Krieg bereits aus dem Jahre 1934 stammt und es
sich bei dieser Publikation um die einzige themenspezifische handelt, die ins Kroatische
übersetzt wurde19. Livija Kardum gab zwar das dreibändige Buch „Europäische Diplomatie und der Erste Weltkrieg“ heraus, doch erweist sich diese verweis- und fußnotenfreie Publikation als Zusammenschau der internationalen Literatur. Das umfassendste
und vorbildlichste kroatische Werk zum Ersten Weltkrieg wurde 1967 vom Publizisten
Josip Horvat vorgelegt. Und auch wenn die Bücher Horvats vielfach als publizistische
Editionen und Werke eines Laien verunglimpft werden und eine Durchsicht von Dokumenten aus ausländischen Archiven unterblieb, so bieten sie doch als einzige Schilderungen der Atmosphäre in Zagreb und beschreiben das Schicksal der zum Kriegsdienst
16 Vgl. z.B.: Ferdo Čulinović, Odjeci Oktobra u jugoslavenskim krajevima. Zagreb 1957, S. 91–147; zu
finden auch an vielen Stellen u.a. bei Miroslav Krleža.
17 Vijoleta Herman, Bibliografija radova o Prvom svjetskom ratu objavljenim u historijskim časopisima
u razdoblju 1945–1998. godine, in: Radovi – Zavod za hrvatsku povijest. Vol. 32–33. Zagreb 1999–
2000, S. 491–498.
18 Pierre Renouvin, „Evropska kriza i Prvi svjetski rat“. Zagreb 1965. Als Verfasser des Nachwortes
fungierte Miroslav Brandt. Für die Neuauflage „Europska kriza i Prvi svjetski rat“ (herausgegeben
von Golden marketing – Tehnička knjiga im Jahr 2008) verfasste Livija Kardum den Epilog.
19 Livija Kardum, Pogovor, in: Pierre Renouvin (Hg.), Europska kriza i prvi svjetski rat. Zagreb 2008,
S. 523–534, hier: S. 524.
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Tvrtko Jakovina
eingezogenen Menschen.20 Im Verlaufe der ersten Jahre des 21. Jahrhunderts wurden
einige wenige Dissertationen und Habilitationen verfasst, die jedoch meist enge, nebensächliche Themenbereiche oder rein militärische Aspekte behandeln.21
Die Jubiläumsjahre 2004 und 2014 verschafften den Forschungen keine neuen
Impulse und gingen beziehungsweise gehen sowohl in der Öffentlichkeit als auch in
geschichtswissenschaftlichen Kreisen beinahe unbemerkt vorüber. Erst die vom Kroatischen Geschichtsmuseum im Jahre 2007 ausgerichtete Ausstellung „Dadoh zlato za
željezo“ [Ich gab Gold für Eisen] stellte eine größere Veranstaltung dar, mit der sich
Kroatien verspätet in den Reigen der internationalen Jubiläumsmanifestationen zum 90.
Jahrestag des Kriegsbeginns eingliederte.22 In dieser Ausstellung wurde ersichtlich, dass
die in Zagreb aufbewahrten Exponate beinahe allesamt aus der einstmals zur ungarischen Reichshälfte gehörenden Banschaft Kroatien stammen, wogegen aus Dalmatien
und Istrien kaum Dokumente erhalten blieben. Das im weiteren Umkreis vorbildlichste
und auch erfolgreichste Museum zum Ersten Weltkrieg befindet sich im slowenischen
Kobarid/Karfreit/Caporetto und erinnert bereits seit mehr als 20 Jahren an die Kämpfe
im Gebiet des Isonzo/der Soča.23
Trotz allem scheint sich im Vorfeld des 100. Jahrestages des Kriegsausbruchs das
Interesse an dieser Epoche ein wenig zu erhöhen. Im Jahre 2009 wurde in Serbien in
Kooperation mit Bulgarien und Bosnien und Herzegowina ein Historienspektakel mit
dem Titel „Sveti Georgije ubiva aždahu“ [Der heilige Georg tötet den Drachen] unter
der Regie von Srđan Dragojević produziert. Der kroatische Regisseur Stanislav Tomić
fungierte 2011 als Regisseur des Films „Josef“, dessen Handlung sich im Jahre 1915
auf den galizischen Schlachtfeldern zuträgt und in dem das Schicksal eines Soldaten
gezeigt wird, der die Uniform eines gefallenen (feindlichen) Zugsführers trägt. Obwohl
der Film eigentlich zur Gänze vom Ersten Weltkrieg handelt, nährt er doch mit unverhohlenem rechtslastigem Unterton das Gerücht, wonach der echte Josip Broz Tito auf einem Schlachtfeld im Osten gefallen sei und ihm ein Finger gefehlt habe. Dieses Gerücht
entstand vor allem deshalb, weil man meinte, dass der spätere jugoslawische Staatschef,
das heißt der falsche Marschall Tito, für einen Bauernjungen namens Josip aus dem Dorf
Kumrovec im kroatischen Zagorje eine ungewöhnlich hohe Bildung besessen habe und
er daher eigentlich ein russischer Graf oder vielleicht auch Jude gewesen sei. Hieraus
20 Josip Horvat, Prvi svjetski rat, Panorama zbivanja 1914–1918. Zagreb 1967; Ders. Zapisci iz nepovrata (Kronika okradene mladosti 1900–1919). Zagreb 1983; und: Ders. Hrvatski mikrokozam između
dva rata (1919–1941). Zagreb 1983. Letztgenannte Publikation wurde 1984 im Universitätsverlag
Liber gedruckt, mit dem Titel „Živjeti u Hrvatskoj, 1900–1941.“ und mit einem Vorwort von Marijan
Matković versehen. Auch in anderen Editionen setzte sich Horvat mit dem Thema des Großen Krieges
auseinander.
21 Violeta Herman Kaurić habilitierte sich im Jahre 2007 am Institut für Geschichte der Philosophischen
Fakultät der Universität Zagreb mit der Arbeit „Za naše junake … rad dobrotvornih humanitarnih
društava u gradu Zagrebu 1914–1918“. Dino Čutura promovierte 2003 mit der Arbeit „Hrvatske postrojbe u Prvom svjetskom ratu i vojni raspad Austro-Ugarske“, gefolgt von einer 2012 fertiggestellten
Habilitationsschrift über Stjepan Sarkotić, dessen militärische Karriere während des Ersten Weltkrieges ihren Höhepunkt erreichte.
22 Tvrtko Jakovina, Trenuci katarze. Prijelomi događaji XX. stoljeća. Zaprešić 2013, S. 11–40.
23 http://www.kobariski-muzej.si/slo, 24.5.2013, 15.30 Uhr, Microsoft Windows Explorer.
Ein großer Krieg, über den niemand spricht
wird ersichtlich, dass auch im Falle dieses Films der Zweite Weltkrieg und die späteren
jugoslawischen Konflikte den Ersten Weltkrieg in den Hintergrund rücken ließen.
Südslawische k.u.k. Soldaten an der Ostfront
„Das russische Volk mochte ich, denn ich wusste, dass die Russen unsere slawischen
Brüder sind, die die Türken besiegt haben, die Unterdrücker unseres Volkes auf dem
Balkan […]“, berichtete Josip Smodlaka, ein kroatischer Politiker aus Split und ehemaliges Mitglied des Kaiserlichen Rates, über seine jugendlichen Gefühle.24 Der Hass
gegen Österreich wog in den 1880er Jahren vielfach schwer, während gleichzeitig eine
Faszination von Russland ausging, die mit der Niederlage des Zarenreiches gegen Japan
im Jahre 1905 in Verzweiflung umschlug. Die Vorstellung, worum es sich bei Russland
abgesehen vom Gefühl der slawischen Verbundenheit aber wirklich handelte, stellte sich
in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in den zwischen zwei Teilen einer Monarchie
aufgeteilten kroatischen Ländern nur diffus und romantisch verklärt dar. Der Kampfgeist
und der Glaube an einen Sieg über Österreich unter der anti-österreichisch geprägten
schulpflichtigen Jugend wuchs nach den Balkankriegen erheblich an und man ging davon aus, dass Serbien mit der Hilfe Russlands die Habsburgermonarchie blitzartig besiegen und die slawischen Völker befreien würde.25 In der Monarchie gärte es, aber an
den Ausbruch eines Konfliktes und den baldigen Zerfall des Staates dachte letztendlich
kaum jemand. Österreich-Ungarn mit seinen zahllosen Völkern und Sprachen, von denen Kroatisch als Kommandosprache für die kroatischen Domobranzen im Verbund der
ungarischen Landwehr (Honvéd) fungierte, wurde zusehends schwerer regier- und kontrollierbar. „Die Deutschen betrachteten uns von oben herab […]. Die Ungarn schrien
immerfort, sodass wir uns dachten, dass sie sich unentwegt stritten, bis uns einer ihrer
Kollegen aufklärte, dass dieser Lärm charakteristisch für ihre Sprache sei. Sie gaben
sich nur mit ihren eigenen Landsleuten ab, deshalb nannten wir sie auch die Gobi-Oase
in Europa […] Es schien uns, als würden sie die Deutschen gar nicht bemerken, uns
Kroaten sahen sie als Halbbrüder, und wenn sie Tschechen erblickten, schienen sie sich
übergeben zu wollen […]“, schrieb ein Kroate aus Bosnien über seine Ausbildungszeit
in einer Schule für Unteroffiziere. „Die Tschechen und uns verband nur die Empfindung,
dass die Deutschen und Ungarn in der k.u.k. Monarchie den Nominativ darstellten, wir
Slawen den Genitiv; die Italiener und Rumänen hingegen waren gar kein Kasus, sondern
bloß die dritte Person Plural […]“26
Österreich-Ungarn erklärte Russland am 5. August den Krieg, das heißt am selben
Tag, an dem auch das Vereinigte Königreich gegenüber Deutschland die Kriegserklärung aussprach. Die mitten im Winter erfolgte Verlegung der kroatischen Domobranzen
nach Galizien erwies sich als eine katastrophale Fehlentscheidung des unentschlossenen
Feldmarschalls Franz Conrad von Hötzendorf, aufgrund derer zahlreiche Einheiten viel
24 Gary Shefield, Forgotten Victory. The First World War: Myths and Realities. London 2002, S. 1.
25 Josip Smodlaka, Izabrani spisi. Split 1989, S. 23.
26 Vgl. Horvat, „Zapisci iz nepovrata“.
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Tvrtko Jakovina
zu lange tatenlos in Syrmien verharren mussten.27 Auf diese Weise sollten sich die im
Jahre 1912 vom russischen Großfürsten Nikolaj Nikolaevič, des Oberkommandierenden der russischen Armee und Ehemanns einer Tochter des montenegrinischen Königs
Nikola, ausgearbeiteten militärischen Pläne Russlands, die offensive Kriegsoperationen
anstelle von Stillstand und Abwarten vorsahen, als ernsthafte Bedrohung für ÖsterreichUngarn herausstellen.28
Das Schicksal von Josip Broz Tito in den Jahren des Krieges stellt sich – sieht
man von den konkret-fiktiven Erlebnissen literarischer Figuren ab – verhältnismäßig
gut dokumentiert dar, auch wenn einige Aspekte seines Leben nie zur Gänze gelüftet
wurden, indem man sie in opportuner Art und Weise verschwieg oder in „marxistischleninistischem Geiste“ darlegte.29 Josip Broz wurde nicht wie von ihm angestrebt in
das 53. Infanterieregiment aufgenommen, sondern versah seinen Dienst gemeinsam mit
Angehörigen der Honvéd im 25. Infanterieregiment der Domobranzen in der Zagreber
Rudolfs-Kaserne. Bereits im Mai 1914 errang er beim ersten in Österreich-Ungarn ausgetragenen Fechtturnier unter 600 Teilnehmern die Silbermedaille und platzierte sich als
einer der 16 Besten des Landes noch vor Erzherzog Josef. Nach dem Turnier reichte der
Prinz dem einfachen Soldaten die Hand, wovon Tito noch Jahre später mit besonderem
Stolz erzählen sollte.
Zur Zeit des Attentats in Sarajevo und der österreichisch-ungarischen Kriegserklärung an Serbien befand sich Josip Broz in Zagreb. Diejenigen, die vor nicht allzu langer
Zeit voller Sympathie die serbischen Siegeszüge in den Balkankriegen verfolgt und die
slawische Bruderschaft beschworen hatten, konnten nun folgende Gesänge vernehmen
oder gaben sie auch selbst zum Besten: „Oh mein tapferer kroatischer Sohn, führe mich
über die Drina! Noch ist das Blut von Ferdinand und Sophie nicht gerächt […].“ Wie
auch in den anderen Teilen Europas breitete sich die Begeisterung für den Krieg im ganzen Land aus, wobei die dunklen Seiten eines Waffenganges ausgeblendet wurden und
vielfach Unkenntnis über die tatsächlichen Kriegsgründe bestand. Dieses allgemeine
Unwissen, aber auch das Unverständnis bezüglich der Kriegsmotive brachte General
Aleksej Brusilov mit folgenden Worten zu Papier: „Ich hörte stets die dumme Antwort,
dass ein Erzherzog mit seiner Frau getötet worden sei und die Österreicher Serbien deshalb zur Verantwortung ziehen wollen. Aber fast keiner meiner Soldaten hatte eine Vorstellung darüber, wer denn diese Serben waren. Es war ihnen meist auch unbekannt, dass
sie Slawen waren. Niemand wusste, warum uns wegen dieser Serben die Deutschen den
Krieg erklärt hatten.“30 Der Krieg bedeutete für den kleinen Mann offenkundig etwas
anderes als für ein Kaiserreich.
Als in Kroatien die Mobilisierung begann, trafen in den Kasernen Menschen zusammen, die zwar dem gleichen Land und dem gleichen Volk angehörten, zwischen
27 Vgl. ebd.
28 David Stevenson, 1914–1918. The History of the First World War. London 2005, S. 42; Norman
Stone, The Eastern Front 1914–1917. London 1998, S. 76; John Keegan, The First World War. London
1999, S. 165f.
29 Ante Neimarević, 1914. Zagreb 1937, S. 162f.
30 Jasper Ridley, Tito. Biografija. Zagreb 2000, S. 71.
Ein großer Krieg, über den niemand spricht
denen aber dennoch Welten lagen. Während die einen ein modernes Leben gelebt hatten, befanden sich die anderen noch im Mittelalter. Dies konnte man auch an der Sprache erkennen, indem einige Rekruten eine primitive Grammatik und slawische Nasale
gebrauchten, die man in den Städten schon lange nicht mehr gehört hatte. Die Angst,
für eine gewisse Zeit Familie, Land und Vieh zurücklassen zu müssen, verwandelte
sich in blankes Entsetzen, als sich der geplante kurze Waffengang zu einem langen und
blutigen Gemetzel entwickelte. Der spätere tschechische Präsident Tomáš G. Masaryk befand sich zum Zeitpunkt der Mobilisierung in Deutschland, wo er längere Zeit
auf seine Heimreise warten musste, weil die Züge allesamt für militärische Zwecke
rekrutiert worden waren. Während die Mobilmachung auf deutscher Seite organisiert,
ordentlich und nüchtern verlaufe, so die Beobachtungen Masaryks, sprach man in den
österreichisch-ungarischen Zügen im Übermaß dem Alkohol zu, was meist aus Verzweiflung geschah. „An diesem Verhalten kann man das Herkunftsland erkennen“,
fügte Masaryk hinzu, vielleicht noch nicht ahnend, mit welchen Maßnahmen die Disziplin im Heer gewahrt wurde.31
Eigeninitiative unter den Soldaten wurde aufseiten der k.u.k. Armee nur ungern
gesehen, aber dennoch hatte Josip Broz schon bald den Rang eines Feldwebels inne
und stieg die militärische Leiter weiter empor.32 Sein (aus späterer Sicht ideologisch
verbrämtes) Vorwärtskommen in dieser Armee erklärte er mit dem Wunsch, dass er,
wenn er nun schon Soldat war, „das militärische Handwerk gut erlernen wollte“, um
sein Wissen später gegen die Unterdrücker einsetzen zu können.33 Mit Ausbruch des
Krieges wurde er an die serbische Front, nach Ruma in die Vojvodina versetzt. Anfangs
berichtete er darüber, wie tief alle Bauern und Arbeiter Österreich-Ungarn verachteten
und einzig den Wunsch hegten, dass die Kämpfe zur „schlussendlichen Befreiung vom
Budapester und Wiener Joch“ führen mögen. Es war, wie Titos Biograf in typisch sozialistisch-jugoslawischer Manier später notierte, ein „Bruderkrieg“. Nichtsdestotrotz
konnte sich der Krieg dennoch einer gewissen Popularität erfreuen, und auch manche
Serben aus der Monarchie waren nicht unglücklich darüber, in der k.u.k. Monarchie
kämpfen zu können.
Josip Broz erachtete die österreichisch-ungarische Armee als schlecht und unklug
konzipiert; er bezeichnete sie als eine Armee des Drills, der Gesetze, der strengen Disziplin und der harten Strafen. Miroslav Krleža, Titos Zeitgenosse und späterer Freund,
sprach vor allem darüber, wie „man sich sowohl in den Kasernen als auch auf dem
Schlachtfeld prügelte. Mit dem Säbel, Stiefel oder mit der Faust. Es wurde gefesselt
[„Anbinden“]. Denn es war eine schwere körperliche Strafe, gefesselt zu sein: Dabei
hing der Mensch mit seinem gesamten Gewicht an den gefesselten Unterarmen von
der Decke herab, wobei die Zehen die Erde nur ein klein wenig berührten, sodass man
schon bald ohnmächtig wurde. Man band die Soldaten wie Hunde zu Knäueln zusammen [„Schließen in Spangen“], die linke Hand dabei an das Gelenk des rechten Fußes
31 Horvat, Prvi svjetski rat, S. 158.
32 Karel Čapek, Razgovori s T. G. Masarykom. Zagreb [1938], S. 165f.
33 Dedijer, Sarajevo 1914, S. 56; Neil Barnett, Tito. London 2006, S. 24; Jože Pirjevec, Tito in tovariši.
Ljubljana 2012, S. 28.
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Tvrtko Jakovina
gebunden und beließ sie in dieser Haltung rund zehn Stunden lang, wobei dies oft auch
noch in einem Schacht geschah, und all das nur deshalb, weil einer von ihnen nicht
genug Respekt gegenüber einem höheren Rang gezeigt hatte.“34
Andere wiederum brachten angesichts wahrhaft banaler Dinge Beschwerden vor.
Der Kolonnenduft beziehungsweise das „Oleum aeterum militum sudanitium“ [duftendes ätherisches Öl für schwitzende Soldaten] sei aufgrund des hefelosen sauren Brotes,
der Unmöglichkeit, sich regelmäßig zu waschen, und der starken Schweißproduktion
unbrauchbar geworden, schrieb Antun Vrgoč, ein ehemaliger Offizier und späterer Professor an der Fakultät für Pharmazie, in seinen Memoiren.35 Das Badeverbot in der Save
entlang des Frontverlaufes zu Serbien wurde aufgrund eines Gerüchtes verhängt, das
von der anderen Seite des Flusses neue Nahrung erhielt: „Brüder! Die österreichische
Armee ist in Galizien vernichtend geschlagen. Die Russen haben Lemberg eingenommen. Kämpft nicht weiter!“, riefen die Serben.36 Lemberg/L’viv war tatsächlich bereits
am 4. September 1914 erobert worden, und nur zwei Tage später standen russische Truppen bereits am Fluss San.
Während seines Aufenthalts in Serbien verbrachte Josip Broz auch kurze Zeit im
Militärgefängnis von Petrovaradin/Peterwardein. Seinem ersten Biografen Vladimir
Dedijer erzählte er, dass man ihn deshalb bestraft habe, weil sich in seinem Regiment
„ungewöhnlich schnell eine Anti-Kriegs-Haltung entwickelte“ und er sich als Sozialist gegen einen Krieg mit den Serben und dem russischen Reich ausgesprochen hatte.
In einer anderen Version von Titos Biografie wurde die Hoffnung auf eine Niederlage
Österreich-Ungarns durch den Wunsch nach einer möglichst schnellen Versetzung an
die russische Front ersetzt, weil er sich auf diese Art und Weise unter Verweis auf
sein Eintreten für den Panslawismus den Russen hätte ergeben können.37 Aber wahrscheinlich trugen sich diese Tage in Titos Leben gänzlich anders als in den Biografien festgehalten zu. Der nachmalige jugoslawische Staatschef berichtete später davon,
dass er aufgrund seiner Kenntnisse der deutschen Sprache als Ordonanz in der 42.
Division eingesetzt worden sei. Er habe sich um das Gepäck und die Paradeuniformen der Offiziere kümmern müssen, weshalb er oft Lager aufzusuchen gehabt habe.
Während seines Aufenthaltes in Petrovaradin sei ihm ein Fehler unterlaufen, weshalb
er, der Stabsfeldwebel, von einem Feldwebel ins Gefängnis gesteckt worden sei, das
er jedoch bereits nach einigen Stunden und einer Entschuldigung wieder verlassen
habe können.38 Aus diesen Erzählungen sollten einige später den Schluss ziehen, dass
Tito seine Rolle bei der Besetzung Serbiens bewusst zu verheimlichen trachtete, weil
die 42. Division in Serbien besonders grausam gewütet hatte. Ihr Kommandant, ein
späterer General des Ustaša-Marionettenstaates und nach dem Zweiten Weltkrieg zum
34 Dedijer, Sarajevo 1914, S. 58.
35 Predrag Matvejević, Razgovori s Miroslavom Krležom. Zagreb 1969, S. 90f.; Horvat, Prvi svjetski rat,
S. 150.
36 Antun Vrgoč, Moje uspomene na svjetski rat (godina 1914–1920) : sa 50 slika i jednom zemljopisnom
kartom. Zagreb 1937, S. 33f.
37 Paul Robert Magocsi, A History of Ukraine. Toronto 1996, S. 464–465; Keegan, The First World War,
S. 168–173; Horvat, „Zapisci iz nepovrata“, S. 173–175.
38 Ridley, Tito, S. 72.
Ein großer Krieg, über den niemand spricht
Tode verurteilter Kriegsverbrecher, hatte in der Manier eines klassisch-strengen k.u.k.
Offiziers ein Drittel seines Bataillons und seine rechte Hand verloren, weil er selbst
noch unter Beschuss seinen Soldaten befohlen hatte, die Mäntel vorschriftsgemäß einzurollen und sich trotz des Feuers aus serbischen Stellungen weigerte, von seinem
Pferd zu steigen.39
Zu Beginn des Krieges, während die 3. Armee von Svetozar Boroević den Auftrag hatte, die am 12. September 1914 über die Karpaten vorgedrungenen Kosaken
zurückzuwerfen, war auch Josip Broz bereits an der Ostfront. Er hatte unter seinen
Soldaten noch nie ein Opfer zu beklagen, meldete sich mit seiner Einheit freiwillig
zum Streifendienst, wobei ihm der kroatische Baron und Oberleutnant Pongratz zur
Seite gestellt wurde, dessen Zagreber Villa nach dem Krieg in Titos Besitz überging
und die heute den kroatischen Präsidenten beheimatet. Die Spähtruppe des jungen
Broz stieß – auf Skiern und ganz in Weiß gekleidet – schon bald auf rund 200 Leute,
die einer abgeschnittenen k.u.k. Einheit angehörten. Broz konnte zahlreiche wichtige
Informationen in Erfahrung bringen, wie etwa die Nachricht, dass die „Österreicher“
(wie von russischer Seite ungeachtet der Nationalität die Angehörigen aller k.u.k. Einheiten bezeichnet wurden) von den Russen in Jarosław zu einem raschen Rückzug
gezwungen worden seien. Daraufhin wurden die Domobranzen aus Galizien in die
Bukowina versetzt, wobei die Truppenbewegungen darauf ausgelegt waren, Przemyśl
einzunehmen. Josip Broz gelang es, mit seiner Patrouille in einem Dorf unweit von
Zamość zwölf russische Soldaten gefangen zu nehmen, von denen er Einzelheiten über
russische Truppenbewegungen in Erfahrung brachte. Am 4. April 1915 schließlich
(nach russischem Kalender der 22. März 1915, auf den in diesem Jahr der orthodoxe
Ostersonntag fiel) ertönte bereits um drei Uhr morgens das Trommelfeuer entlang
der Reihen des 3. Bataillons, und wenig später wurde Josip Broz unweit der heutigen
ukrainischen Ortschaft Vikno gefangen genommen und verwundet. „Ich wollte mich
ergeben. Aber hinter den Russen marschierten Tscherkessen, die die gegnerischen Soldaten mit Speeren kampfunfähig machten. Zwei von ihnen umkreisten mich, aber ich
verteidigte mich mit meinem Gewehr und konnte sie abwehren. Ich war ein guter
Fechter und wäre auch im Stande gewesen, sie zu töten, aber das wollte ich nicht.
Plötzlich stieß mir ein Tscherkesse seine Lanze in den Brustkorb, unweit des Herzens.
Ich brach zusammen und kann mich nur noch erinnern, dass sich ein Russe auf den
Tscherkessen warf, der mir noch einen Stoß versetzen wollte. Ich gelangte erst im
Krankenhaus wieder zu Bewusstsein. Ich dachte, dass ich sterben müsste. Eineinhalb
Jahre lang verheilte die Wunde nicht. Ständig eiterte sie […]“40
Josip Broz wurde zunächst nach Kiew und dann ins orthodoxe Kloster Svijažsk
verlegt, wo er aufgrund der guten Fürsorge, die ihm der aus Graz stammende Primararzt Kralj angedeihen ließ, schon bald zu Kräften kam. Nach der Niederlage der österreichisch-ungarischen Armee kehrte er nach Kroatien zurück, verschrieb sich den
Maximen der Oktoberrevolution und heiratete eine Russin. Im Unterschied zu vielen
39 Pirjevec, Tito in tovariši, S. 28; Dedijer, Sarajevo 1914, S. 60; Ridley, Tito, S. 72; Barnett, Tito,
S. 24.
40 Horvat, „Zapisci iz nepovrata“, S. 162f.
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anderen, die nach ihrer Rückkehr aus Russland aufgrund der Angst der Staatsmacht vor
einer Ausbreitung des Bolschewismus in Lagern verhört wurden, konnte Josip Broz im
Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen als Arbeiter sogleich ins Zivilleben zurückkehren.41
Insgesamt hatten sich Zehntausende Südslawen in Kriegsgefangenschaft befunden
oder an der Ostfront ergeben, von denen ein Teil bereit war, gegen die k.u.k. Armee
zu kämpfen. Die Vorschläge, aus diesen Menschen eine jugoslawische Legion aufzustellen, trafen jedoch schon bald auf erste Hindernisse, weil dies geheißen hätte, nicht
mehr unter der serbischen Flagge kämpfen zu können. Es brachen Konflikte aus, die
vor allem im fernen Odessa heftig ausfielen und bereits die späteren Bruchlinien des
jugoslawischen Staates aufzeigten.42 Während manche auf der Seite Wiens in der k.u.k.
Armee ihren Kriegsdienst versahen, legten die aus der Monarchie geflohenen Politiker
in Italien, Paris und später auch in London den Grundstein für die Gründung des Jugoslawischen Komitees (das zuerst Kroatisches Komitee genannt wurde). Erwähnung
verdient an dieser Stelle vor allem Frano Supilo, der geschickteste Politiker der Südslawen, der mit seinen Weggefährten aus dem Komitee Gespräche mit der russischen Seite
führte, um nach dem Krieg eine bestmögliche Lösung für die im Zarenreich lebenden
Kroaten, Slowenen, Serben und Bosnier zu erlangen. Einen Schock rief bei Supilo und
seinen Kollegen sodann die Nachricht hervor, dass Russland dem Vertrag von London
zugestimmt hatte, mit dem Italien seitens der Entente das Recht auf die von Slawen
besiedelten österreichisch-ungarischen Gebiete und Länder zugesprochen bekam. Seine
Enttäuschung darüber brachte Supilo in einem Gespräch mit einem russischen Minister
wie folgt zum Ausdruck: „Eure Exzellenz hat uns verraten […] Das ist die Wahrheit,
wollen Sie, dass ich es Ihnen beweise […]“ Die russische Seite wies die Anschuldigungen zurück, woraufhin Supilo seine Ausführungen fortsetzte: „[…] das ist nicht der
letzte Krieg; es hat sich noch kein Volk mit einem einzigen Schlag befreit, und Russland
bleibt auch weiterhin die Mutter aller Slawen.“ Auch wenn unablässig vom Panslawismus die Rede war, so erwies sich dieser in der Theorie stärker als in der Praxis, denn
letztendlich schienen alle Staaten doch wieder ihre eigenen Interessen in den Mittelpunkt ihrer Politik zu rücken. Für die kroatische und slowenische Seite schienen all die
für Österreich-Ungarn erbrachten Opfer, die nicht zuletzt die Hoffnung genährt hatten,
dass sich Italien nicht auf die Ostküste der Adria ausbreiten möge, mit der Oktoberrevolution, dem russischen Kriegsaus- und dem US-amerikanischen Kriegseintritt mit einem
Schlag sinnlos geworden zu sein.43
41 Dobrica Ćosić, Piščevi zapisi (1951–1968). Belgrad 2001, S. 93; Pirjevec, Tito in tovariši, S. 28f.;
Barnett, Tito, S. 25; Ridley, Tito, S. 73f.; Dedijer, Sarajevo 1914, S. 62–64.
42 Goran Miloradović, Karantin za ideje. Logori za izoaciju „sumnjivih elemenata“ u Kraljevini Srba,
Hrvata i Slovenaca 1919–1933. Belgrad 2004.
43 Borislav Kiš-Šaulovečki, Veliki dani. Zagreb 1935, S. 40–56; Ivan Meštrović, Uspomene na političke
ljude i događaje. Zagreb 1969, S. 60–62; Horvat, „Zapisci iz nepovrata“.
Ein großer Krieg, über den niemand spricht
Ein Krieg, von dem alle betroffen waren
„Mein Bruder Srećko wurde an die russische Front geschickt. Das war schlimmer für
ihn, als wenn er ins Gefängnis gesteckt worden wäre“, schrieb der istrische Priester
Božo Milanović, ein Kämpfer für ein slawisches Istrien, in seinen Erinnerungen.44 Sein
Bruder wurde gefangen genommen und kehrte nach der Oktoberrevolution wieder in
seine Heimat zurück, wo er von nun an vorgab, krank zu sein, um bloß nicht an die
Front mit Italien geschickt zu werden. Als die Fronten jedoch zusammenbrachen und
der Krieg ein Ende nahm, leerten sich die Krankenhäuser gleichsam über Nacht, und
alle plötzlich wie durch ein Wunder genesenen Patienten eilten auf schnellstem Wege
nach Hause.45 Diejenigen in Istrien, die zurückgeblieben waren oder an der italienischen
Front gekämpft hatten, sollten Schreckliches erleiden, obwohl sie sich fernab der militärischen Operationen befanden. Pula, der Hauptkriegshafen der Monarchie, hatte vor
den Evakuierungen 100.000 Einwohner, davon 33.736 Seeleute und Soldaten. Zivilisten
hatten die Stadt sukzessive zu verlassen, was auch in anderen Städten und Ortschaften
des südlichen Istriens der Fall war. So etwa blieben von den ursprünglich 179 Familien
in Medulin nur 41 zurück. Insgesamt wurden aus Istrien 60.000 Personen evakuiert,
von denen 10.000 nicht mehr zurückkehrten. Nimmt man eine Gegenüberstellung dieser
Zahlen mit den 3.500 auf den Schlachtfeldern gefallenen Istrianern vor, so kann man
erkennen, dass der Krieg neben dem soldatischen auch umfassendes und unfassbares
Leid für alle Bevölkerungsgruppen nach sich zog.46
Auf der kleinen Insel Rava im Archipel von Zadar, auf der vor dem Krieg rund
500 Menschen lebten (was für eine Insel mit bloß 3,6 Quadratkilometern nicht wenig
war), hatte man zwei Kriegstote zu beklagen. Einer von ihnen war Stipan Šimičić, der
bei der Ausübung seines Dienstes in der österreichisch-ungarischen Armee sein Leben
ließ. Krsto Škifić war unmittelbar vor dem Krieg in die USA ausgewandert, wurde zu
den Streitkräften eingezogen und sollte nicht mehr zurückkehren.47 Šimičić und Škifić
waren beide zu Opfern des Krieges geworden, doch die Folgen für ihre Familien waren
unterschiedlich. Die Familie Šimičić erhielt weder Rente noch Entschädigung. Škifić
erstickte in einem von einem deutschen Schiff getroffenen amerikanischen U-Boot, was
von Washington nicht vergessen wurde. Die Familie des Gefallenen bekam eine Kriegsrente, mit der sie sich Land und Schiffe kaufen konnte und zu einer der wohlhabendsten
Familien der Insel wurde.48
Zahllose andere Getötete fanden ihre letzte Ruhestätte in namenlosen Gräbern entlang des Isonzo/der Soča oder in der Ukraine. Nach der Brusilov-Offensive im Jahre
1916, die vorzeitig beginnen musste, um die durch Svetozar Boroević bedrängten Italiener entlasten zu können, gerieten bei der Stadt Luck und am Dnjestr rund 100.000 Soldaten in Gefangenschaft, darunter zahlreiche Kroaten und Serben. Viele ließen ihr Leben
44
45
46
47
48
Živorad Kovačević, Međunarodno pregovaranje. Belgrad 2004, S. 223.
Božo Milanović, Moje uspomene (1900–1976). Pazin 1976, S. 20.
Ebd., S. 26.
Andrej Bader, Zaboravljeni egzodus 1915–1918. Pula 2011, S. 31.
Ante Batović, Rava u prvoj polovici 20. stoljeća (1900–1941), in: Josip Faričić (Hg.), Otok Rava.
Zadar 2008, S. 331–339, hier: S. 338.
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in „elendiglichen“ Schlachten, schrieb später der Journalist Josip Horvat in der Zeitung
Jutarnji List.49 Horvat fügte seinen Ausführungen einige Auszüge aus dem Tagebuch eines Soldaten bei und rief dazu auf, die „über 2000 zwischen Dnjestr und Prut verstreuten
Gräber unserer Landsleute“ in Ordnung zu bringen und den herumliegenden Knochen
eine „würdige Ruhestätte“ zu geben. Soldaten waren gegenüber solchen Orten schon zu
allen Zeiten besonders feinfühlig und legten Pietät an den Tag, aber die ins Land gezogene Zeit sowie die fehlenden diplomatischen Beziehungen zwischen der UdSSR und dem
Königreich Jugoslawien bis zum Jahre 1940 sollten ein würdiges Gedenken an diesen
Orten unmöglich machen.
Hundert Jahre später steht vieles noch immer am Anfang. Auch weiterhin werden ideologische Kämpfe meist sinn- und fruchtloser Natur ausgetragen und auch der
Verbleib vieler sterblicher Überreste und der Kriegsalltag sind zu einem großen Teil
unbekannt. Gänzlich anders stellen sich die Dinge bei den Kriegen aus der jüngeren
Vergangenheit dar, die ideologisch aufgeheizter sind und sich deshalb auch besser für
eine Instrumentalisierung durch die Politik eignen. Und nur allzu oft war eine schlechte
Geschichtsschreibung willfähriges Vollzugsorgan. Sie trägt dazu bei, dass sich unser belastetes Verhältnis zur Vergangenheit nicht verbessert. Wäre dem jedoch nicht so, würde es heute in Zagreb Archive geben, in denen man einige der Phänomene des Ersten
Weltkriegs, die mit Kroaten, Serben oder Bosniaken in Verbindung stehen, analysieren
könnte. Doch das ist kaum oder gar nicht der Fall.
Deutsch von Arno Wonisch
49 „Hiljade hrvatskih grobova između Dnjestra i Pruta“; „Prije 20 godina, nevine žrtve sukoba historijskih sila“; „Grobovi koji propadaju i za koje se nitko ne brine … 251936“, Jutarnji list. Nr. 8753,
10.6.1936.
Entbehrung und Nationalismus
Die Erfahrung tschechischer Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee
1914–1918
Rudolf Kučera
Im Herbst 1914, während der ersten österreichisch-ungarischen Balkanoffensive, geriet
Cyril Krč, ein tschechisch sprechender Soldat des 8. Brünner Infanterie-Regiments, in
unmittelbare Todesgefahr. In einer unübersichtlichen Situation auf dem Schlachtfeld
wurde er verletzt und seine schnell schwindenden Kräfte erlaubten ihm nur mehr, in
einen naheliegenden Graben zu kriechen. Als er entkräftet zu Boden fiel, stellte er
fest, dass er dort nicht alleine war. Dieses Versteck teilte er mit einem ungarischen
Soldaten, der sich wegen seiner Verletzungen ähnlich wie Krč kaum bewegen konnte.
Abgeschnitten von ihren Truppen und außer Stande mit eigener Kraft aus dieser Situation zu kommen, blieb beiden Soldaten nichts mehr übrig, als nervös abzuwarten, wer
sie finden würde. Das Warten dauerte nicht lange. Unglücklicherweise für die beiden
waren es aber serbische Uniformen, die sie nach einer Weile am Rande der Schlucht
bemerkten. Als die serbischen Soldaten zu den Verletzten herunterstiegen, folgte ein
Augenblick, den Cyril Krč für den Rest seines Lebens nicht mehr vergaß. Er wurde
von den Feinden serbisch angesprochen. Er verstand nicht viel, konnte aber trotzdem
in seiner Muttersprache etwas erwidern. Danach gingen die serbischen Soldaten zu
seinem Kampfgefährten und sprachen ihn gleich wie Krč an. Der ungarische Soldat,
dessen Namen wir leider nicht kennen, verstand nichts und antwortete sehr kurz auf
Ungarisch. Während dieser Episode, die nicht mehr als eine Minute dauern konnte,
war somit das Schicksal der beiden verwundeten Soldaten besiegelt. Der ungarische
Soldat wurde, immer noch auf dem Boden liegend, gnadenlos erschossen. Krč dagegen wurde in das serbische Hinterland transportiert, hier ärztlich behandelt und einem
der Gefangenenlager zugeteilt.1
Diese kurze Kampfgeschichte illustriert, wie wichtig die Frage der Nationalität an
den Fronten des Ersten Weltkrieges werden konnte. Ein paar Worte auf Tschechisch bedeuteten eine haarfeine Trennlinie zwischen Leben und Tod. Die verwickelten nationalen Verhältnisse innerhalb der österreichisch-ungarischen Armee teilten die Mannschaft
1
Ivan Šedivý, Češi, české země a velká válka 1914–1918. Praha 2001, S. 91.
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Rudolf Kučera
sowohl in den Augen vieler Feinden als auch in den Augen der österreichisch-ungarischen Soldaten und Offiziere in verschiedene nationale Gruppen, und es war gerade die
Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen, die unter gewissen Umständen nicht nur das
Leben retten oder kosten konnte, sondern die die ganze Kriegserfahrung einer Mehrheit
der Soldaten prägte.
Die nationalen Verhältnisse innerhalb der österreichisch-ungarischen Armee und deren Einfluss auf die eigene Kriegsführung wurden dementsprechend auch zu einem der
Hauptthemen der bisherigen Geschichtsschreibung. In Bezug auf die tschechisch sprechenden Soldaten wurde schon unmittelbar nach dem Kriegsende von der tschechischen
nationalen Historiografie ihr allgemeiner Widerstand postuliert, der sich durch massive
Dienstverweigerungen und Desertionen manifestieren sollte.2
Nach dieser Interpretation erkannten die tschechischen Soldaten der k.u.k. Armee
schnell das mit dem habsburgischen unvereinbare nationale Interesse und folgten dem
politischen Widerstand, indem sie den österreichischen Staat absichtlich zu schädigen
versuchten. Beispielhaft wurde dies an der Geschichte des 28. Regiments demonstriert,
das im April 1915 an der karpatischen Front ohne Widerstand und sogar mit Trommeln
und Musik zur russischen Seite übergelaufen sei.3 Diese Sichtweise wurde auch von der
kommunistischen Historiografie der Nachkriegszeit übernommen, die zwar die materielle Not und die Klassengegensätze nicht nur innerhalb der Armee, sondern in der ganzen altösterreichischen Gesellschaft betonte, der allgemeine nationale Widerstand im
Ersten Weltkrieg blieb jedoch als wichtige Legitimierungskomponente der nationalen
Unabhängigkeit fortwährend bestehen.4
Auch wenn die Erfahrung tschechischer Soldaten selbst nach der Wende 1989/90
zum Teil national kodiert bleibt, entstanden in den letzten zwanzig Jahren doch Arbeiten,
die einen weiter gefassten Zugang ermöglichen. Ivan Šedivý argumentiert in der zurzeit
neuesten tschechischen Synthese der Geschichte des Ersten Weltkriegs, dass die Ablehnung des österreichisch-ungarischen Staates in der tschechischen Gesellschaft mindestens in den ersten drei Jahren des Krieges keineswegs so verbreitet war, wie die bisherige Forschung das behauptete, die diese Ablehnung oft mit der allgemeinen Ablehnung
des Krieges verwechselte, die auf die katastrophale materielle Lage der Bevölkerung
zurückgeführt werden konnte.5 Richard Lein rekonstruiert in seinem 2011 erschiene2
3
4
5
Zur älteren tschechischen Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg siehe zusammenfassend:
Martin Zückert, Der Erste Weltkrieg in der tschechischen Geschichtsschreibung 1918–1945, in: Christiane Brenner – Erik K. Franzen – Peter Haslinger – Robert Luft (Hg.), Geschichtsschreibung zu den
böhmischen Ländern im 20. Jahrhundert. Wissenschaftstraditionen, Institutionen, Diskurse. München
2006, S. 61–75.
Siehe zusammenfassend: Josef Fučík, Osmadvacátníci: Spor o českého vojáka velké války. Praha
2006.
Vgl. zum Beispiel: Jaroslav Křížek, Čeští a sovětští rudoarmějci v sovětském Rusku 1917–1920.
Praha 1955. Karel Pichlík, Čeští vojáci proti válce (1914–1915). Praha 1961. Zur kommunistischen
Geschichtsschreibung siehe neulich: Vítězslav Sommer, Angažované dějepisectví. Stranická historiografie mezi stalinismem a reformním komunismem (1950–1970). Praha 2011.
Šedivý, Češi. Für eine Übersicht der tschechischen Geschichtsschreibung nach 1989 siehe: Pavel
Kolář – Michal Kopeček, A Difficult Quest for New Paradigms: Czech Historiography After 1989,
in: Sórin Antohi – Balász Trencsényi – Peter Apor (Hg.), Narratives Unbound. Historical Studies in
Post-Communist Eastern Europe. Budapest – New York 2006, S. 173–248, hier: S. 199f.
Entbehrung und Nationalismus
nen Buch „Pflichterfüllung oder Hochverrat?“ nah an den Quellen die Kriegsgeschichte
des 28. Regiments und einiger anderer Truppen, in denen die Tschechen zahlenmäßig
dominierten, und lässt den Mythos der ungehorsamen und verratenden tschechischen
Soldaten überzeugend fallen.6
Wenngleich die neuen Arbeiten dadurch, dass sie die kämpfende multinationale
Armee differenzierter betrachteten und quellennah arbeiten, inspirierend sein können,
knüpfen alle diese Arbeiten mehr oder weniger an die ältere Forschung an. Das österreich-ungarische Heer wird als ein Heer gesehen, das aus klar definierten und voneinander abgegrenzten nationalen Einheiten besteht, die miteinander und mit dem Armeekommando verbunden sind. Die Nationalität wird als eine stabile Komponente betrachtet, die keinem Wandel unterliegt, das Agieren der Individuen prägt, die unterschiedliche
Kriegserfahrung entstehen lässt und der letzten Endes in keinem Moment des Krieges
zu entkommen ist.
Einige neuere Studien der letzten Jahre zeigten jedoch die Grenzen der Nationalisierung der österreichisch-ungarischen Gesellschaft während des späten 19. Jahrhunderts. Nationalismus und Nationalität werden nicht mehr als eindeutige und wichtigste
Triebkräfte der gesellschaftlichen Dynamik Zentraleuropas gesehen.7 Die Perspektive,
die die Nationen als geschlossene, kollektive historische Akteure sieht, wird zunehmend
kritisiert, indem sie eine praktische Kategorie der alltäglichen Performanz nationaler
Zugehörigkeit (wie etwa Mitgliedschaft in nationalen Vereinen, Spenden für nationale
Interessen usw.) mit einer Kategorie der geschichtswissenschaftlichen Analyse verwechselt und die Nationalität als ein „Ding in der Welt“ sieht, anstatt sie als eine „Perspektive
auf die Welt“ zu betrachten.8
In den Fokus gerät hingegen zunehmend die Nationalität als Kategorie, die sich
ständig in Bewegung befindet, fortwährend ausverhandelt wird, mit verschiedenen
Inhalten aufgeladen werden kann und die sogar noch um die Mitte des 20. Jahrhunderts umstandslos gewechselt werden konnte,9 auf der anderen Seite aber auch die
Kategorie der nationalen Indifferenz, die jenseits der national definierten Kollektiven existierte. Wie neulich Tara Zahra bemerkte, konzentrierte sich die bisherige
Forschung des modernen Nationalismus auf die Analyse kultureller, politischer und
sozialer Inhalte der nationalistischen Ideologien und Diskurse, wobei die äußerlichen
Grenzen dieser Ideologien und Diskurse kaum diskutiert wurden. Es stehe jetzt also
eine Forschung offen, die über die „Imagined Communities“ hinausgehe und auch die
6
7
8
9
Richard Lein, Pflichterfüllung oder Hochverrat? Die tschechischen Soldaten Österreich-Ungarns im
Ersten Weltkrieg. Wien – Berlin 2011. Aus der tschechischen Historiografie zum Vergleich neulich:
Jitka Zabloudilová, Příspěvek k tematice propagandy v čs. vojsku v Rusku v letech 1914–1920, in:
Historie a Vojenství. Jg. 49, Nr. 1, 2000, S. 56–66.
Siehe z.B.: Jeremy King, Budweisers into Czechs and Germans. A Local History of Bohemian Politics, 1848–1948. Princeton 2002; Pieter Judson, Guardians of the Nation: Activists on the Language
Frontiers of Imperial Austria. Cambridge/Mass. 2006; Tara Zahra, Kidnapped Souls: National Indifference and the Battle for Children in the Bohemian Lands, 1900–1948. Ithaca 2008; Chad Bryant,
Prague in Black. Nazi Rule and Czech Nationalism. Cambridge/Mass. 2007.
Rogers Brubaker, Ethnicity without Groups. Cambridge/Mass., S. 17.
Tara Zahra, Imagined Noncommunities: National Indifference as a Category of Analysis, in: Slavic
Review. Jg. 69, Nr. 1, Spring 2010, S. 93–119, hier: S. 100.
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Rudolf Kučera
Erfahrung derjenigen thematisiere, die außerhalb oder an den Grenzen dieser „Communities“ standen.10
Ein geeignetes Beispiel für diese beiden Forschungsrichtungen gibt gerade die österreichisch-ungarische Armee während des Ersten Weltkrieges ab. In den Jahren 1914–
1917 bekamen mehr als 8,4 Millionen Männer den Einrückungsbefehl, was mehr als
zwei Drittel der ganzen männlichen Population zwischen 18 und 50 Jahren ausmachte.11
In den Kriegsjahren wurde somit die Armee zum wichtigsten Schauplatz, wo der männliche Teil der österreichisch-ungarischen Bevölkerung im Kontext des totalen Krieges
und der allgegenwärtigen materiellen Entbehrung seine nationale Identität aushandelte,
demonstrierte, aber auch wählte und tauschte. Im Laufe der Zeit war es dabei angesichts der nationalen Polarisierung und der steigenden materiellen Entbehrung immer
schwieriger, national indifferent zu bleiben oder die Nationalität mit anderen als negativ
ausgrenzenden Inhalten aufzuladen.
Die interne Organisierung der Armee bot dabei viele Felder, in denen es zu Umdefinierungen und neuen Aufladungen der nationalen Identitäten kommen konnte. Nach
den offiziellen Regeln wurde bei jedem Regiment in all jenen Sprachen kommuniziert,
die mindestens 20 Prozent aller Soldaten dieses Regiments als ihre Umgangssprache
anführten. Neben diesen „Regimentssprachen“ fungierte Deutsch als Verständigungssprache unter den Regimentern sowie für die elementaren Befehle in den Regimentern
selbst. Das professionelle Offizierskorps wurde jedoch schon am Anfang des Krieges
stark dezimiert und das Kommando ging in vielen Regimenten auf die Reserveoffiziere
über. Schon Ende des Jahres 1914 hatte Österreich-Ungarn mehr als die Hälfte seines
Offizierskorps verloren und im Herbst 1918 registrierte das k.u.k. Armeeoberkommando
unter der Gesamtzahl von 188.888 Offizieren nur 35.000 professionelle.12
Da die Mehrzahl dieser Reserveoffiziere nicht über die klassische militärische
Ausbildung verfügte, sank auch das Niveau der Sprachkenntnisse. Es kam daher immer häufiger vor, dass die Offiziere die Sprachen der Mannschaft nicht beherrschten. Die Situation wurde aber auch dadurch schwieriger, dass zunehmend Soldaten
unterschiedlicher Muttersprachen in einem Regiment vereint wurden. Im Jahr 1914
erfasste zum Beispiel die österreichisch-ungarische Infanteriegeneralität tschechisch
sprechende Soldaten in 29 Infanterieformationen. Vier Jahre später waren es schon
110 Formationen.13
Dieses Durchmischen von Sprachen in den einzelnen Truppen und die sinkende
Sprachkompetenz des Offizierskorps trugen enorm zur Verknappung des Raumes für
die nationale Indifferenz, zur Verschärfung der nationalen Identitäten und letzten Endes
zu einer nationalen Polarisierung der Mannschaft bei. Wenn wir uns auf die Erfahrungen
der tschechisch sprechenden Soldaten konzentrieren möchten und auf die Kontexte, in
10 Siehe z.B.: Zahra, Imagined Noncommunities, S. 96f. Für die klassische Arbeit über den modernen
europäischen Nationalismus siehe: Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the
Origin and Spread of Nationalism. London 1991.
11 Maureen Healey, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire. Total War and Everyday Life in World
War I. Cambridge – New York 2007, S. 264–266.
12 Šedivý, Češi, S. 65.
13 Ebd., S. 70.
Entbehrung und Nationalismus
denen es zur Ausverhandlung und Aufladung ihrer Nationalität kam, müssen wir unsere Aufmerksamkeit vor allem auf zwei von den sechzehn Armeebezirken konzentrieren, aus welchen die k.u.k. Armeekorps formiert wurden. Eine entscheidende Mehrheit
tschechisch sprechender Soldaten wurde dem VIII. und IX. Armeekorps mit Hauptsitz
in Prag und Leitmeritz zugeteilt.14
Keine von diesen Heeresgruppen war aber ausschließlich tschechisch sprechend und
in beiden trafen die tschechisch sprechenden Soldaten vor allem auf Deutsch sprechende
Kampfgefährten. Die sprachliche Durchmischung ging dabei sehr tief. Wie ein Rekrut,
der südböhmische Zimmerer Vojtěch Berger, bei der Einrückung zum 91. Infanterieregiment in Budweis im Sommer 1914 bemerkte: „Der Kompaniekommandant ist Leutnant
Fuchs (Deutscher). Der Zugsführer ist Praporschtschik [Fähnrich] Baumeister Králíček
(Tscheche). I. und II. Zug sind gemischt, beim III. gibt es nur Deutsche, beim IV. wiederum nur Tschechen.“15
Eine ähnliche Situation lag auch beim 11. Infanterieregiment in Písek vor, wo der
damals 29-jährige Egon Erwin Kisch diese sprachliche Durchmischung beim militärischen Schwur erfasste: „Nach kurzer Messe las Hauptmann Turner mit Schwung, Pathos und erstaunlichem Organ den Schwur deutsch für die deutsche Mannschaft, die ihn
wiederholte; dann kam der tschechische Schwur. [...] So stand bei jedem Schwur die
Mannschaft der nichtbeteiligten Nation bedeckten Hauptes in ,Ruht‘-Stellung dabei.“16
Die sprachliche Durchmischung der in Böhmen stationierten Armeekorps war für
die Mehrheit der eingerückten Soldaten nichts Neues, im Gegenteil. Viele hatten an
den regelmäßigen Manövern schon in der Vorkriegszeit teilgenommen, hatten die Wehrpflicht hinter sich und waren also in einer mehrsprachigen Umgebung der Armee schon
vor dem Krieg vielfältig sozialisiert. Während der ersten Wochen, als sich die Mehrheit
der Truppen noch im Hinterland für den Fronteinsatz bereitmachte, war es daher in der
Regel nicht die ethnische Heterogenität der männlichen Kollektive, die die alltägliche
Erfahrung der eingerückten Soldaten prägte. Vielmehr überwogen der Schock aufgrund
des plötzlichen Herausreißens aus dem Zivilleben, die allgegenwärtige Präsenz der
strengen militärischen Disziplin sowie die teilweise katastrophale materielle Versorgung
einzelner Truppen.17
Was für einen Bruch die ersten Stunden und Tage innerhalb eines Regimentes bedeuten konnten, konstatierte der tschechische Schriftsteller Karel Poláček: „In der Mitte
der Kaserne stand ein Tisch und hinter ihm ein fetter Feldwebel, der durch Schriften
blätterte. Der Korporal mit einem Zwicker auf der langen Nase rief Namen auf und
reihte die Aufgerufenen in Haufen ... Das ganze natürlich mit einem unnötigen Geschrei
14 Zur Verteilung der tschechischen Sprache im k.u.k. Heer siehe: Libor Nedorost, Češi v první světové
válce. Díl 1. Mým národům. Praha 2006, S. 100–169.
15 „Velitelem setniny je poručík Fuchs (Němec). Velitelem čety je praporčík stavitel Králíček (Čech). I.
a II. četa jsou smíšené, u III. jsou samí Němci, u IV. zase samí Češi.“ Archiv hlavního města Prahy
(Archiv der Hauptstadt Prag), Paměti Vojtěcha Bergera, Kniha I., od 28. června 1914 do 24. července
1915, S. 16.
16 Egon Erwin Kisch, Soldat im Prager Korps. Leipzig – Prag 1922, S. 14.
17 Vgl.: Jan Galandauer, Wacht Am Rhein a Kde domov můj. Válečné nadšení v Čechách v létě 1914, in:
Historie a Vojenství. Jg. 45, Nr. 5, 1996, S. 22–43.
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Rudolf Kučera
und Eile, wie es immer an Orten ist, wo man keinen Grund zu eilen und auch nichts zu
sagen hat.“18
Die materielle Versorgung der Truppen war schon am Anfang des Krieges so
schlecht, dass es zum Beispiel beim 35. Infanterieregiment in Pilsen im Herbst 1914 für
die Rekruten nicht einmal genug Uniformen gab, sodass sie die Übungen in ihren Zivilkleidungen absolvieren mussten. Wie ein Pilsner Rekrut bemerkte, wurde die Situation
auch später nicht besser: „Erst nach ein paar Tagen haben sie uns eine Menge an zerrissenen und schmutzigen Hadern gegeben, die wir anziehen sollten. Ich habe mich bei der
Auswahl überhaupt nicht beeilt, in jedem Stück sah ich Tausende Infektionskrankheiten,
und so ist es gekommen, dass mir nur ganz kleine Kleider geblieben sind – die Hosenbeine nur bis zu Knien, Ärmel ebenso kurz und von einem Verschluss konnte keine Rede
sein. Deswegen habe ich es mit Faden dort verlängert, wo es keinen Stoff gab – einzig,
dass ich nicht der einzige Betroffene war, hat mich gefreut.“19
Es war hauptsächlich die sich sehr schnell und weit verbreitende Erfahrung mit der
materiellen Entbehrung, die am Anfang des Krieges die wichtigsten Trennlinien innerhalb der in Böhmen stationierten Truppen entstehen ließ. „Mittag- und Abendessen […]
kochte so ein schlechter Koch, dass trotz des grausamen Hungers keiner von uns wegen
des schrecklichen Gestanks etwas essen konnte. So ging es Tag für Tag, wir sind alle
verkümmert, daneben hat uns auch ein blutiger Durchfall gequält […]“20, schilderte der
26-jährige Rekrut Josef Hodek die Situation in den Pilsner Kasernen. Bei einigen Regimentern führten die Versorgungsschwierigkeiten sogar schon vor dem Kampfeinsatz zu
kleinen Unruhen. Die Offiziere eines Prager Infanterieregimentes mussten zum Beispiel
die einsetzende Unruhe unter den Soldaten schon während des Regimentstransports ostwärts im Herbst 1914 zähmen: „Es quält uns ein großer Hunger, wir haben kein Geld
und können uns nichts zum Essen besorgen. Endlich kommen wir nach Přerov, wo jeder
ein Stück Brot mit Kaffee bekommt, aber das ist für uns, verhungerte Soldaten, wenig.
Auf dem Bahnhof murren wir, dass wir hungrig sind“21, schilderte die Situation der Infanterist Augustin Mudrák.
18 „Uprostřed kasáren stál stůl a za ním seděl tučný šikovatel a probíral se ve spisech. Desátník se
skřipcem na tenkém nose vyvolával jména a volané řadí do houfu... To vše samozřejmě za doprovodu
spousty zbytečného křiku a spěchu, jak tomu bývá v místech, kde není proč pospíchat a kde není co
mluvit.“ Karel Poláček, Hrdinové táhnou do boje. Praha 1954, S. 45.
19 „Teprve po několika dnech nám přinesli hromady hadrů roztrhaných a ušpiněných, do nichž jsme se
měli obléci. Nespěchal jsem příliš s vybíráním, v každém kousku viděl jsem tisíce nakažlivých nemocí, a jen tím se stalo, že zbyly na mě docela maličké šaty - nohavice jen po kolena, rukávy rovněž
krátké a o jakémkoliv zapnutí nebylo řeči, proto jsem to nastavil provázky tam, kde se látky nedostávalo – jenom to mě těšilo při tom, že nebyl jsem sám postižen.“ Josef Hodek, Hrst vzpomínek z první
světové války. Plzeň 2004, S. 2.
20 „Oběd i večeři […] vařil tak špinavý kuchař, že i přes ten náš ukrutný hlad nikdo z nás pro odporný
zápach nemohl ničeho snísti. Tak to šlo den za dnem, všichni jsme vůčihledně chřadli, vedle toho i
krvavý průjem nás trápil […].“ Ebd., S. 8.
21 „Trápí nás velký hlad, žádné peníze nemáme a nic k jídlu nemůžeme sehnat. Konečně přijíždíme do
Přerova, kde dostáváme každý kávu a kousek chleba, ale to je pro nás, vyhladovělé vojáky málo. Na
nádraží reptáme, že máme hlad.“ Augustin Mudrák – Jiří Červenka, Bojoval jsem za císaře pána. Nové
Strašecí 2011, S. 24.
Entbehrung und Nationalismus
Die materielle Entbehrung betraf nicht alle gleichermaßen, sondern hauptsächlich
die ordentliche, in den Kasernen stationierte Mannschaft, deren schwierige Lage in vielen Fällen zur Ausgrenzung gegenüber den Offizieren führte. Die wichtigsten Trennlinien innerhalb der böhmischen Truppen befanden sich am Anfang des Krieges also nicht
entlang der sprachlichen Grenzen, sondern entlang der klassischen militärischen Hierarchien zwischen dem Offizierskorps und der Mannschaft. Eine andere Erinnerung an die
Situation, als ein Teil der Mannschaft während der Transporte Richtung Ostfront kaum
etwas zu essen hatte, hielt zum Beispiel der tschechische Zugsführer Bohuslav Bouček
in seinem Fronttagebuch fest: „Wir, ich, Naftalovič (Rumänisch), Meslim (Polnisch)
und Hilman (Deutsch) […] haben wunderbare Teigtaschen mit Sauerrahm bekommen.
[…] Jeden Tag trinke ich einen Liter guter Milch. […] Ich besuche Naftalovič, mit dem
ich mich anfreundete.“22
In diesem Kontext des ungleichmäßig verteilten Mangels und der Pflicht, sich unter allen Umständen der strengen Militärdisziplin zu unterwerfen, spielte die nationale Pluralität der Mannschaft nur eine untergeordnete Rolle. Bei vielen Truppen war es
zudem immer noch durchaus möglich, sich aktiv zur nationalen Indifferenz zu äußern.
So vermerkte der 20-jährige Iglauer Rekrut František Kubík in seinem Kriegstagebuch
zum Beispiel auch folgende Geschichte: „Einmal in der Woche wird bei der Hölzernen
Mühle gebadet. Wir gehen gerne dorthin. Entlang des Weges singen wir: ´jede sedlák do
mlejna, župajdá župajdá, čtyřma koňma vranejma, župajdá žup. Když do mlejna přijeli,
župajdá župajdá, na mlynáře se ptali, župajdija žup. Hej pane mlynáři, kam to žito se
složí. Složte ho do mlejnice k Andulčině postýlce. A když bylo po půlnoci žito se v
pytli točí a když bylo po roce žito se chová na ruce. Oder: Wenn die Soldaten durch die
Stadt maschieren, öffnen die Mädchen Fenster und die Türen ai warum und darum bloß
schwingen bumarasa bumarasa bum. Eine Flasche Rum, ein Stückel Braten schenken
die Mädchen unseren Soldaten.“23 Für viele Iglauer Rekruten war es also noch während
des Krieges üblich, sich in einem Kollektiv zu versammeln, wobei beide Landessprachen frei und alltäglich gewechselt werden konnten, ohne dass es zu irgendwelchen
Problemen geführt hätte.
Eine ähnliche Erfahrung machte auch der schon erwähnte südböhmische Zimmerer
Vojtěch Berger, dessen Zug im September 1914 auf dem Budweiser Exerzierplatz die
Ausgrabung von Frontgräben übte: „Heute gruben wir einen einfachen Schützengraben.
Der Befehlshaber ist der Zugsführer Kozel, der zweite Alois Žižka. Die Mannschaft besteht aus den Tschechen: mir, Haba Frant., Toman, Vojtěch Franta, Zavadil Matěj. Pešek
22 „Dostali jsme tři, já, Naftalovič (Rumun), Meslim (Polák) a Hilman (Němec) […] báječné pirohy s
kyselou smetanou. […] Každý den piji litr dobrého mléka […] navštěvuji Naftaloviče, s kterým jsem
se hodně spřátelil.“ Vladislav Květoň, Vzpomínky z první světové války. Praha 1996, S. 15.
23 „Jednou týdně se koupeme v Dřevěných mlýnech. Rádi tam chodíme. Cestou si zpíváme: ´jede sedlák
do mlejna, župajdá župajdá, čtyřma koňma vranejma, župajdá žup. Když do mlejna přijeli,župajdá
župajdá, na mlynáře se ptali, župajdija žup. Hej pane mlynáři, kam to žito se složí. Složte ho do mlejnice k Andulčině postýlce. A když bylo po půlnoci žito se v pytli točí a když bylo po roce žito se chová
na ruce. Nebo: Wenn die Soldaten durch die Stadt maschieren, öffnen die Mädchen Fenster und die
Türen ai warum und darum bloss schwingen bumarasa bumarasa bum. Eine Flasche Rum, ein Stückel
Braten schenken die Mädchen unseren Soldaten.“ Zdeněk Vyhlídal (Hg.), František Kubík. Přežil
jsem. Frontový deník z 1. světové války. Nové Město na Moravě 2005, S. 10.
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Rudolf Kučera
Frant, Krlín Jan, Dráb Jakub, durchwegs Zimmermänner. Von den Deutschen sind hier:
Pubal, ein Bergmann, Edelbauer, ein Radmacher, Bartl, ein Zimmerman, und Prinz, ein
Hafner. Bei dieser Tätigkeit gibt es mehr Spaß als bei Ordnungs- oder Feldübungen.
Dort muss man Maul halten. Hier kann man reden, auch rauchen und muss sein Gerippe
nicht so schinden.“24
Der damals 32-jährige Berger konnte in diesem Umfeld seine sprachlichen Kompetenzen einsetzen, die er schon als kleines Kind erworben hatte. Wie er sich erinnert,
begleitete er während der Kindheit seine alleinstehende Mutter auf ihren Reisen nach
Wien, wo sie alljährlich Arbeit suchte. Er gab dabei zu, dass er damals zumindest jeden
Sommer mehr Deutsch als Tschechisch sprach und sich nach der Rückkehr in seinen
südböhmischen Geburtsort an die tschechische Sprache immer wieder neu gewöhnen
musste.25
Die vorkriegszeitliche Sozialisierung in einem Wiener tschechischen Arbeiterkollektiv nach 1900 brachte ihn aber der tschechischen nationalen Agitation immer näher.
Wie aus der oben angeführten Erinnerung ersichtlich, war seine nationale Identität bei
Ausbruch des Krieges schon mehr oder weniger ausformuliert. Jedem seiner Kampfgefährten und jedem Offizier teilte er in seinen Aufzeichnungen eine Nationalität zu. Sich
selbst schrieb er dann eindeutig den tschechischen Soldaten zu. Auf der anderen Seite
generierte diese Zuschreibung in den ersten Wochen des Krieges in dem multisprachigen
Milieu des Budweiser Bataillons kaum Anspannungen. Er meldete sich freiwillig in einen sprachlich gemischten Zug, dessen Übungsphase nicht problematischer war als die
der sprachlich einheitlichen Truppen.
Die Gemeinsamkeit der bedrückenden materiellen Verhältnisse und der allgemeine Zwang, sich der strengen Militärdisziplin zu unterwerfen, hatte also zumindest am
Anfang des Krieges, vor dem eigentlichen Fronteinsatz, das Potenzial, Kollektive zu
bilden, die quer durch die sprachlichen Trennlinien entstanden und die sich nicht von
anderen Nationalitäten, sondern mehr vom relativ gut versorgten und mit militärischer
Autorität ausgestatteten Offizierskorps abgrenzten.
Diese Situation änderte sich jedoch bei vielen Truppen allmählich mit dem eigentlichen Kriegseinsatz. Je mehr die einzelnen Truppen an der Front eingesetzt wurden, desto mehr kam es zur nationalen Ausdifferenzierung. Ein erster Bruch war schon die Winteroffensive 1914 an der Ostfront. Im November desertierten beziehungsweise gaben
ungefähr 5500 Soldaten des IX. Armeekorps auf.26 Nach der Überzeugung der österreichisch-ungarischen Generalität handelte es sich hauptsächlich um tschechische Soldaten und schon im Dezember wurden erste Maßnahmen getroffen, die solchen Verlusten
24 „Dnes jsme kopali jednoduchý střelecký zákop. Velitelem je četař Kozel, druhý Alois Žižka. Mužstvo
sestává z Čechů: já, Haba Frant., Toman, Vojtěch Franta, Zavadil Matěj. Pešek Frant., Krlín Jan, Dráb
Jakub, vesměs tesaři. Dále Kamlach Karel, bednář, Mráz Martin, rolník. [...] Z Němců jsou: Pubal,
horník, Edelbauer, kolář, Bartl, tesař a Prinz, kamnář. Při tomto jest lepší zábava než při pořadovém
a polním cvičení. Tam musí mít hubu na zámku. Tady si už může povídat, také zakouřit a nemusí tak
honit kostru.“ Archiv hlavního města Prahy (Archiv der Hauptstadt Prag), Paměti Vojtěcha Bergera,
Kniha I., od 28. června 1914 do 24. července 1915, S. 21.
25 Ebd., S. 10.
26 Libor Nedorost, Češi v 1. světové válce. Díl. 2. Na frontách velké války. Praha 2006, S. 172.
Entbehrung und Nationalismus
vorbeugen sollten. Diese Maßnahmen bestanden grundsätzlich aus zwei widersprüchlichen Strategien: Einerseits sollten den mehrheitlich tschechisch sprechenden Truppen
auch vermehrt tschechische Befehlshaber zugeteilt werden. Im Fall des IX. Armeekorps
geschah das auf der höchsten Ebene vor dem Jahresende, als das Oberkommando von
Feldzeugmeister Johann von Friedel auf den fließend tschechisch sprechenden Feldmarschallleutnant Rudolf Králíček überging.27
Auf der anderen Seite verstärkte sich die Tendenz, die tschechisch sprechenden
Soldaten mit anderen Sprachgruppen zu vermischen. Vielen ausschließlich tschechisch
sprechenden Truppen wurden Soldaten anderer Sprachen zugewiesen, und viele tschechisch Sprechende wurden rasch anderen, vorwiegend deutsch sprechenden Truppen
zugeteilt. Die Anzahl rein tschechischer Regimenter sank rapide.28
In der Situation der ständig zunehmenden materiellen Entbehrung sowie des unmittelbaren Kampfeinsatzes kam es daher an vielen Orten und bei vielen Anlässen zur kontrastiven nationalen Ausgrenzung. Nachdem zwar das Oberkommando tschechischen Offizieren anvertraut worden, die eigentlichen Kompanien und Regimente jedoch immer
häufiger gemischtsprachig waren, blieb den kommandierenden niedrigeren Offizieren
oft nichts anderes übrig, als die gesamte Mannschaft auf Deutsch anzusprechen.
Die Fragen der Sprache und damit auch der Nationalität wurden somit allmählich
emotional aufgeladen, diskursiv mit moralischen Eigenschaften verbunden und die frühere nationale Indifferenz, wie sie zum Beispiel in Iglau zu finden war, oder das ruhige
Zusammenleben der ethnisch schon ausdifferenzierten Identitäten, wie es in den Budweiser Kasernen Vojtěch Berger erfasste, verloren langsam den Raum, wo sie artikuliert
werden konnten. „Ich wurde mit weiteren ungefähr 300 Männern zum Wiener Infanterieregiment befohlen. Man brachte uns am 28. Juni nach Wien und nach dem Anziehen
der Uniform führte man uns in den II. Bezirk, wo ein Teil des Regimentes in der Schule
untergebracht war. Herr Hauptmann […] wies darauf hin, dass unsere Landsmänner
eine Schande am Landesherren begangen haben und machte darauf aufmerksam, dass
uns alle, sobald wir zurück vom Krieg zurück sind, die verdiente Strafe erwarte, genau
wie all diejenigen, die uns nachahmen wollen. Die ganze achtwöchige Übungszeit wurde uns Tschechen auf verschiedene Art und Weise angenehm gemacht. Zu diesen Annehmlichkeiten gehörte das Verbot tschechischer Gespräche, ständige Beschimpfungen
wie ,Hochverräter‘ und sehr häufige, erniedrigende Untersuchungen unserer Taschen,
wenn einem Deutschen etwas verschwand […]“29, schildert der tschechische Infante27 Vgl. z.B.: Richard L. DiNardo, Breakthrough. The Gorlice-Tarnow Campaign 1915. Santa Barbara
2010, S. 53–69.
28 Šedivý, Češi, S. 97f.
29 „Byl jsem určen se skupinou asi 300 mužů k vídeňskému pěšímu pluku. Přivezli nás 28. června do
Vídně a po obléknutí vojenského munduru nás zavedli do II. okresu, kde ve škole byla ubytována část
pluku. Pan hejtman... poukázal na to, že naši krajané se dopustili hanebnosti na nejjasnějším zeměpánu
a upozornil nás, že všechny, až se vrátí po válce, čeká zasloužený trest, a stejně tak i nás, kdybychom
měli chuť je napodobit... celá doba osminedělního výcviku byla nám Čechům všelijak zpříjemňována.
K příjemnostem oněm náleželo zakazování českého hovoru, ustavičné nadávky „hochverrätři“ a velmi časté ponižující prohlídky kapes, ztratilo-li se něco některému Němci. […]“ František Zajíček,
Pražské děti u vídeňského 84. pěšího pluku, in: Alois Žipek (Hg.), Domov za války. Díl II. Praha 1930,
S. 128f.
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Rudolf Kučera
rist František Zajíček 1915 seine Erfahrung mit der zunehmenden nationalen Durchmischung der österreichisch-ungarischen Truppen und der sich verschärfenden nationalen
Spannungen.
Wie die Erfahrung Zajíčeks illustriert, wurden viele Aspekte des alltäglichen Lebens, die vor dem Kampfeinsatz kaum nationale Komponenten besaßen, zunehmend
in nationalen Kategorien kodiert und wahrgenommen. Auch ganz banale Geschichten,
wie etwa kleine Diebstähle, wurden nationalistisch gedeutet. Der Feldarzt Bohuslav
Bouček verknüpfte zum Beispiel die Nationalität mit unterschiedlichem Interesse an
den verwundeten Patienten sowie mit weiteren moralischen Kategorien. Die Trennlinie war dabei klar. Moralisch und ethisch problematische Handlungen wurden lediglich
seinen deutsch sprechenden Kollegen zugeeignet: „Überhaupt sind die Wiener Kollegen schrecklich. Die Medizin sorgt sie gar nicht, nicht mal die Verwundeten. ,Das ist
die Kriegszeit – es gibt Verwundete, also kein Wunder, dass sie auch sterben.‘ Umso
mehr kümmern sie sich um ihr eigenes Leibeswohl; überall steht das Essen an erster
Stelle, dann ist die nächste Sorge, wo man am besten zu Geld kommt, und drittens,
wie man am Wenigsten arbeiten kann. Ansonsten reiben sie sich noch irgendwo an den
Krankenschwestern.“30
Eine ähnliche Sicht wie der tschechisch sprechende Arzt vertrat auch ein verwundeter
Sprachgenosse. Als der schon erwähnte Augustin Mudrák während der Kämpfe an der
Ostfront im Herbst 1915 verwundet wurde, kam er zuerst in ein Militärkrankenhaus in
Brünn, ein paar Wochen später wurde er für eine längere Kur nach Prag versetzt. Hier
wurde er im Unterschied zu Brünn vorwiegend von tschechischen Ärzten behandelt. Der
Unterschied zwischen der Pflege in Brünn und Prag war auch für ihn eindeutig national
kodiert und bedingt: „Es gibt hier nur tschechische Ärzte, die uns ganz anders als die
Deutschen in Brünn behandeln. [...] Das Essen ist hier sehr gut, zum Mittagessen bekommt jeder einen Liter Bier. Wir sind alle schon gesund und bei solch gutem Essen nehmen wir auch zu. Ich wiege schon 89 kg, was das höchste Gewicht meines Lebens ist.“31
Noch deutlicher als in Bezug auf die Heeresärzte im Hinterland kam die nationale
Ausgrenzung hinsichtlich der an der Front direkt eingesetzten Truppen zum Vorschein.
Die laufenden Entscheidungen wer, wann und wie angreifen sollte, welche Vorbereitungsarbeiten durchzuführen waren oder auch nur, wie sich die Soldaten jeden Tag bei
ihren Vorgesetzten melden sollten, wurden zunehmend in nationalen Kategorien interpretiert. Beim Pilsener 35. Infanterieregiment trat dieser Wandel zutage, unmittelbar nachdem es an die Front gekommen war, und zwar als die Mannschaft von einem
30 „Vůbec jsou strašní ti vídeňští kolegové. Medicína je vůbec netrápí, ba ani ranění. ,Das ist die Kriegszeit – jsou ranění, tož co divného, že umírají!´ Zato víc se starají o své tělesné blaho; vždy a všude je na
řadě jídlo, to vědi akorát, kde se co dobrého najde, pak je hlavní starostí, kde se dá z čeho nejvíc peněz
vyždímat, a třetí, jak a kterým způsobem lze co nejméně pracovat. Ještě tak někde se otřít o některou
z těch ošetřovatelek“ Bohuslav Bouček, Prosím, aby zápisník byl odevzdán mé ženě jako pozůstalost.
Praha 1998, S. 25f.
31 „Jsou zde samí čeští lékaři, kteří s námi jednají úplně jinak než ti němečtí v Brně. [...] Strava je zde
velmi dobrá, k obědu navíc dostáváme každý litr piva. Všichni už jsme zde velmi zdraví a při dobré
stravě přibíráme na váze. Já už vážím 89 kg, což je nejvíc v životě.“ Mudrák –Červenka, Bojoval jsem
za císaře pána, S. 27.
Entbehrung und Nationalismus
deutsch sprechenden Hauptmann inspiziert wurde: „Herr Leutnant Hoch stellte uns in
einer Reihe auf und wollte mit uns ganz schnell ,die Meldung‘ üben, mit der wir uns
beim Herrn Hauptmann melden sollten. Leider sprachen nur wenige von uns Deutsch
und auch diejenigen, die Deutsch konnten, wurden von der strikten militärischen Ordnung verwirrt. Die Meldung gelang uns also sehr schlecht, oder besser gesagt gar nicht.
[…] Als erster war der Kamerad Sokol dran, im Zivilleben ein Ingenieur, und hat sich
bei der Meldung auch zu verhaspeln begonnen. Der Hauptmann fing an: ,Wie heißen
Sie?‘ ,Sokol.‘ ,Was sind Sie in Zivil?‘ usw. Dabei merkte der Hauptmann, wie ungelenk sich Sokol ausdrückte. ‚Warum können Sie kein Deutsch? Was studierten Sie? Wo?
In Prag? Prag ist doch eine deutsche Stadt, dort sprechen nur die Dienstmädchen und
die Pepis Tschechisch. Sie mussten sich in einer schönen Gesellschaft befunden haben,
wenn Sie dort kein Deutsch lernten! […]‘, … so ging es weiter – alle Städte in Böhmen
waren dem Herrn Hauptmann nach deutsch – tschechisch spricht dort nur der Pöbel.“32
So schilderte der Pilsener Infanterist Josef Hodek seine erste Erfahrung mit der eigenen
Front. Seine Erfahrung mit der materiellen Entbehrung in den Pilsener Kasernen wurde
somit sehr schnell nach der Frontankunft um die Erfahrung einer Welt ergänzt, in der fast
alles einer nationalen Sichtweise unterliegt.
Auch diejenigen Heereseinheiten, die noch vor dem Kriegseinsatz Schauplatz nationaler Indifferenz waren, wie etwa das schon erwähnte Iglauer Regiment, zerfielen in
national definierte, sich voneinander abgrenzende Gruppen. Die früheren Trennlinien
zwischen der Mannschaft und dem Offizierskorps wurden nicht mehr nur in den Kategorien der militärischen Hierarchie und Disziplin wahrgenommen, sondern verwoben sich
mit den sprachlichen und damit auch nationalen Grenzen.
So notierte der gleiche Iglauer Artillerist František Kubík, der noch im Herbst 1914
sowohl tschechische als auch deutsche Lieder gesungen hatte, im Sommer 1915 während seines Kriegseinsatzes in den Karpaten Folgendes in sein Fronttagebuch: „Zur
Abwechslung graben wir auch am Sonntag neue Übungsstellungen als Strafe. Das ist
Militärdienst. Gemeiner, niedriger Pöbel hat das letzte Wort. Der Zugsführer Kirschner,
ein Wiener, gibt sich besonders Mühe. Im Zivil ist er ein Knecht, seine Manieren würden
dem entsprechen.“33 Während vor dem Fronteinsatz solche angespannten Situationen in
Iglau kaum mit nationalen Inhalten versehen worden waren, sah die Situation weniger
als ein Jahr später anders aus. Kubík verknüpfte die streng erzwungene Disziplin, die
32 „Pan poručík Hoch nás sestavil a narychlo chtěl nás naučiti ,meldung‘, jímž jsme se měli panu hejtmanovi hlásit. Žel, že málo kdo z nás uměl německy a i ten, který dobře německy uměl, mátl se přísně
vojenským pořádkem. Hlášení tedy šlo to těžko panu poručíkovi s námi, nebo lépe řečeno vůbec nešlo.
[...] Hned první kamarád Sokol, v občanském životě inženýr, začal a také začal to motat. Pan hejtman
také začal: ,Wie heissen Sie?‘ ,Sokol.‘ ,Was sind Sie in Zivil?‘ atd. v tom zpozoroval hejtman, jak
těžko se Sokol vyjadřuje. ,Proč neumíte německy? Co jste studoval? Kde? V Praze? Praha je přece
německé město, tam mluví česky jen služky a pepíci. To jste se pohyboval v pěkné společnosti, když
jste se ani německy nenaučil!‘ […] !,... tak to šlo dál – všechna města v Čechách po názoru pana setníka jsou německá – česky v nich mluví jenom chamrad‘.“ Hodek, Hrst vzpomínek z první světové
války, S. 2.
33 „Pro změnu kopeme nové cvičební štelunky a třeba za trest i v neděli. To je vojna. Sprostá, nízká
čeládka má hlavní slovo. Cuksfíra Kirschner, Vídeňák, si dává záležet, V civilu je prý čeledínem,
manýry na to má.“ Vyhlídal, František Kubík, S. 22.
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Rudolf Kučera
in seinen Augen an Schikane grenzte, nicht nur mit dem Militärrang oder der sozialen
Herkunft, sondern noch mit der deutschen Nationalität seines Vorgesetzten.
Das „Deutsche“ in seinem Zugsführer brachte er direkt in ein Verhältnis mit dessen schlechtem Benehmen. Dies stand dann in klarer Opposition zum Benehmen der
tschechischen Offiziere, egal wie hoch sie sich in der Heereshierarchie befanden. Wenn
sein Regiment bei der Überquerung der Karpaten zum Beispiel persönlich von Feldmarschallleutnant Rudolf Králíček besucht wurde, repräsentierte für ihn der tschechische
Hochoffizier eigentlich das absolute Gegenteil von seinem deutsch sprechenden Zugsführer: „Wir hatten auch Besuch von Herrn Feldmarschall. Er endete feierlich, sprach tschechisch, unterhielt sich mit den Soldaten und machte sogar Witze.“34
Die Essenzialisierung der Nationalitäten, in der die jeweilige Nation mit universalistischen moralischen Kategorien verbunden wurde, ging über die alten Grenzen zwischen
Mannschaft und Offizierskorps hinaus. Ein tschechischer Offizier, auch wenn er ganz oben
in der Armeehierarchie stand, zeichnete sich durch Freundlichkeit und allgemein durch viel
menschlichere Eigenschaften aus als seine deutschen Gegenstücke, denen im Gegenteil
schlechtes Benehmen zugesprochen wurde. In nur einem Jahr reformulierte sich Kubíks
Identität von einem national relativ indifferenten Rekruten zu einem klar ausgegrenzten
Soldaten, der die Nationalität als Grundordnungsprinzip in jeden Aspekt der menschlichen
Interaktionen in seinem Umfeld projizierte.
Diese neuen, national essenzialistischen Trennlinien blieben dabei keineswegs auf das
Iglauer Regiment begrenzt, sondern begannen sich auch an vielen anderen Orten zu entfalten. Viktor Fleišer, ein Soldat des 30. Schützenregiments, schildert diese Entfaltung zum
Beispiel wie folgt: „Das Offizierskorps teilte sich ganz offensichtlich in zwei Gruppen:
in diejenigen Offiziere, die sowohl auf ,Herr Leutnant‘ als auf ,pane poručíku‘ hörten,
und in die zweite Gruppe mit denjenigen ,Herren Offizieren‘, die die tschechische Benennung nicht verstanden, nicht verstehen wollten oder sie sogar gehasst haben […]
[diese] gingen nur selten in die Schützengräben und wenn, dann nur, wenn sie absolut fest
und sicher gebaut waren.“35 Auch für Fleišer wurden also die alten militärischen Hierarchien während des Fronteinsatzes um national scharf definierte Grenzen ergänzt, die sich
häufig mit moralischen Urteilen verwoben und damit nur schwer zu überwindende Gräben
zwischen den beiden Nationalitäten entstehen ließen.
Eine ähnliche Situation herrschte auch bei den auf dem Balkan eingesetzten tschechischen Truppen. Auch hier wurde das gemeinsame Zusammenleben beider Sprachgruppen
sehr schnell durch die sich rigoros durchsetzenden, negativ ausdifferenzierenden nationalen Identitäten geprägt. Wenn zum Beispiel beim 91. Budweiser Infanterieregiment im
Hinterland national gemischte Kollektive entstanden, wie sie zum Beispiel auch Vojtěch
34 „Odbyli jsme si také vizitu pana feldmaršála. Končí slavnostně, mluví česky, baví se s vojáky a dokonce dělá vtipy.“ Ebd., S. 29.
35 „Důstojnický sbor dělil se docela zřejmě na dvě skupiny: na důstojníky, t. j. ty, kteří stejně rádi slyšeli
na ‚Herr Lieutenant‘ jako na ‚pane poručíku‘, případně to druhé pojmenování slyšeli raději, a druhá
skupina to byli ‚Die Herren Offiziere‘, již českému pojmenování nerozuměli, rozumět nechtěli anebo
je přímo nesnášeli … [tito] do zákopů chodili jen když byly bezpečně vystavěny, a to ještě velmi
zřídka.“ Viktor Flaišer, Důstojníci a oficíři u 30. střel. pluku, in: Alois Žipek (Hg.), Domov za války.
Díl IV. Praha 1931, S. 104.
Entbehrung und Nationalismus
Berger erfasste, grub der sich wiederholende Kampfeinsatz zwischen vielen Soldaten tiefe
Gräben, die neulich sehr scharf entlang der nationalen Trennlinien verliefen. So zeichnete
Berger während seines Fronteinsatzes auch folgende Geschichte vom Herbst 1914 auf:
„Das Kommando übernahm der Leutnant Fitzinger (Deutsche), ein Grobian erster Klasse. Wenn wir mit seiner Kompanie in den Schützengräben sind, misst er unsere Arbeit
mit Schritten aus und wenn es zu wenig ist, schimpft er uns gleich wie ein Dienstknecht
einen Lümmel. Einem Soldaten, beruflich Lehrer, gab er eine ordentliche Ohrfeige, weil
er bei der Arbeit stehen blieb. Der Lehrer ist ein Deutscher und vielleicht noch dankbar,
dass er die Ohrfeige auch von einem Deutschen bekam.“36
Nach weniger als zwei Monaten an der Front fing also auch Berger an, die Nationalität der Soldaten und Offiziere mit konkreten Charakterzügen zu verknüpfen. Die deutsch
sprechenden Kampfgefährten stellten für ihn eine Verkörperung von Grobheit und Gewalt
dar, die quer durch die Ranghierarchien gingen. Wie er an dieser Geschichte beispielhaft
demonstrieren wollte, gingen die Fesseln der Nationalität so weit, dass sie auch rohe Gewalt und Erniedrigung überlagern konnten. Eine Ohrfeige von einem Deutschen konnte der
deutsch sprechende Lehrer noch eher hinnehmen als eine Ohrfeige von einem Tschechen.
Diese sich schnell entwickelnden nationalen Trennlinien innerhalb des 91. Infanterieregiments prägten den militärischen Alltag schon während des Balkaneinsatzes, wurden
jedoch nach der Versetzung des Regimentes an die russische Front im Frühling 1915 noch
wesentlich deutlicher. Die fortbestehende, unmittelbare Nähe eines slawischen Feindes und
die sich vertiefende materielle Krise verursachten bei vielen Offizieren steigende Ängste
vor den potenziellen Desertionen der tschechischen Soldaten. Die überaus strenge Disziplin, die als Reaktion auf diese Ängste speziell von den tschechisch sprechenden Soldaten
verlangt wurde, trieb die nationale Spaltung weiter voran.
Nicht nur hier, auch bei vielen anderen Truppen verschwand allmählich die Trennlinie zwischen den deutsch sprechenden österreichischen Soldaten und den reichsdeutschen
Verbündeten, die in den Augen vieler tschechischer Soldaten zusammen eine einheitliche Gruppe bildeten, gegen die sich die tschechische Identität umzustrukturieren begann.
„Unsere Deutschen bevettern sich ständig und überall mit den Reichsdeutschen. Kein
Wunder, jeder Deutsche wird im Krieg zum Tier“37, fasste Berger diese national bedingte
Ausgrenzung zusammen. Er perpetuierte damit das Bild einer einheitlichen, deutsch sprechenden Gruppe von Soldaten, die als kontrastive Folie zur Definition eigener – auf Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit basierter –, tschechischer Identität diente.
Bei Berger besiegelte also der Krieg die schon lange vor 1915 einsetzende nationale
Ausdifferenzierung. Während er als kleines Kind in den 1880er und 1890er Jahren sowohl
tschechisch als auch deutsch sprechen konnte, deutsch sogar unter Umständen besser, sich
36 „Velení převzal poručík Fitzinger (Němec), krobián první třídy. Když jsme s jeho setninou v zákopech,
tak nám odměřuje práci na kroky a když jest jí málo, tak nám nadává víc než pacholek od rasa. Jednomu vojáku, povoláním učitel, dal pořádnou facku, že stál u práce. Učitel je Němec a je asi povděčen,
že dostal facku také od Němce.“ Archiv hlavního města Prahy (Archiv der Hauptstadt Prag), Paměti
Vojtěcha Bergera, Kniha I., od 28. června 1914 do 24. července 1915, S. 31.
37 „Naši Němčouři se s říšskými Němci hned všude bratříčkují. Není divu, co jest Němec, to je ve válce
zvíře.“ Archiv hlavního města Prahy (Archiv der Hauptstadt Prag), Paměti Vojtěcha Bergera, Kniha
II., od 25. června 1915 do 11. února 1917, S. 51f.
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Rudolf Kučera
im Herbst 1914 schon zwar als Tscheche fühlte, der jedoch in national gemischten Militärkollektiven gar keine Spannungen sah, grenzte er sich während des Fronteinsatzes gegenüber seinen deutsch sprechenden Kampfgefährten schon klar und aggressiv ab.
Seine frühere Zweisprachigkeit und nationale Indifferenz, die ihn während seiner Kindheit geprägt hatten, setzte er nie wieder ein, und zwar auch dann nicht, wenn ihm diese nach
seiner eigenen Meinung wesentlich helfen hätten können. Im Sommer 1915 wurde er zum
Beispiel verwundet und kam in ein Feldspital im Hinterland, wo er ungefähr einen Monat
verblieb. Als er nach diesem Monat von dem zuständigen Personal untersucht wurde, wurde er dank seines Namens und administrativer Unordnung von dem Hauptarzt für einen
deutsch sprechenden Soldaten gehalten. Nach Bergers eigener Überzeugung hätte ihm diese Verwechselung seinen Aufenthalt im Spital verlängern können. Beim Gespräch mit dem
zuständigen Arzt verweigerte er aber die deutsche Sprache eindeutig und bekannte sich
einzig zur tschechischen Sprache und zur damit einhergehenden tschechischen Nationalität, auch wenn ihm das nach seiner Einschätzung den Aufenthalt im Hinterland verkürzte:
„Ich wurde für weitere 14 Tage hier belassen. Als sie weiter zu den anderen gingen,
dachte ich mir, dass sie mich mit dem deutschen Berger am Arsch lecken können. Hätte
ich gesagt, dass ich deutscher Nationalität bin, könnte ich vielleicht länger hier bleiben.
So werden die Idioten von allem Tschechischen gereizt, deswegen weg mit ihnen, lass
sie ins Feld kommen und einer Kugel in den Weg treten.“38
Ähnliche scharf nationalisierte Inhalte wurden auch der früher gemeinsam geteilten
materiellen Entbehrung zugeschrieben. Der allgegenwärtige Mangel an Lebensmitteln
wurde einer ungerechten Verteilung derselben zugeschrieben, wobei die Hauptlinie der
Ungerechtigkeit oft nicht mehr entlang der Linie Offizierskorps–Mannschaft, sondern eben
entlang der Linie tschechisch–nicht tschechisch verlief. Die materielle Not wurde damit
weiter nationalisiert. Als das deutsch-tschechische 102. Infanterie-Regiment im Sommer
1917 in die unmittelbare Nähe der reichsdeutschen Truppen geriet, zeichnete sich zum Beispiel das Verhalten der reichsdeutschen Soldaten in den Augen vieler tschechischer Soldaten durch ähnliche Merkmale aus, wie sie auch ihre deutsch sprechenden Kampfgefährten
in der k.u.k. Armee zeigten.
Im Kontext des materiellen Mangels wurde diese einheitliche, deutsche Soldatengruppe in der tschechischen Imagination nicht nur durch ihr gnadenloses Verhalten gegenüber der Zivilbevölkerung, sondern auch durch ihren unverantwortlichen Umgang
mit den knappen Lebensmitteln charakterisiert: „Deutsche Truppen lagen an den vordersten Linien. Sie haben alle Dörfer besetzt, alle Geschäfte geplündert. […] Die siegreichen, vorrückenden Mannschaften hatten keine Disziplin mehr. Sie verließen ihre Regimenter und betranken sich bis zur Besinnungslosigkeit. Sie plünderten alles, was man
nur klauen konnte. Tauchte irgendwo Vieh auf, Kühe, Schweine, Gänse, wurde es sofort
getötet. Und sie haben nichts verschont. Aus einem getöteten Stück haben sie das Beste
genommen und den Rest in den Graben geworfen. Auf allen Seiten brannten Dörfer.
38 „Určili mě tak přibližně ještě 14 dní zde ponechat. Když šli dále k jiným, myslel jsem si, že by mě
mohli i s tím německým Bergrem vylízat prdel. Kdybych byl řekl, že jsem německé národnosti, mohl
jsem tu třeba zůstat déle. Takhle všechno české ty pitomce na nervech dráždí, proto pryč s nimi, ať
zase přijdou do pole, nějaké té kulce na ránu.“ Ebd., S. 40.
Entbehrung und Nationalismus
Erschrockene Einwohner, die keine Zeit zum Fliehen hatten, waren in den Häusern und
gingen gar nicht nach draußen.“39
Ähnliche, national scharf aufgeladene Inhalte erteilte der materiellen Entbehrung auch
der Soldat des 88. Regiments Rudolf Homolka-Beran. Auch für ihn war der verschwenderische Umgang mit den raren Lebensmitteln an der Ostfront während des Sommers 1917
klar national bedingt: „Fleißig wurde Munition an die Preußen, die sich nah an unserem Verbandplatz gelagert haben, geliefert. Damals habe ich am besten gelernt, warum
von unseren Soldaten die Preußen ,Kamerad, hast Du Marmelad‘ gerufen wurden. Sie haben nämlich täglich Büchsen mit Marmelade und Brot gefasst, während wir nur Hunger
hatten.“40
Je länger der Krieg und der damit verknüpfte Fronteinsatz dauerten, desto mehr
führten die neuen Inhalte der tschechischen Identität zu einer Abgrenzung gegenüber
den anderen Kampfgefährten und desto weniger Platz wurde auch einer Artikulierung
nationaler Indifferenz gegeben. Die deutsch sprechenden Soldaten der österreichischungarischen Armee nahmen am häufigsten die Rolle der kontrastiven Folie für solche
Ausgrenzung ein, auf keinen Fall basierte diese Ausgrenzung aber nur auf dem tschechisch-deutschen Gegensatz. In vielen Kontexten dynamisierte der Krieg eine breitere
Verankerung des tschechischen nationalen Narratives im slawischen Rahmen und die
deutschen Soldaten konnten als das symbolische „Andere“ durch jede andere, nichtslawische Nation ersetzt werden. Sehr häufig kam dies vor allem dort zum Vorschein,
wo die tschechischen Einheiten nicht so sehr in Kontakt mit deutsch, sondern mit ungarisch sprechenden Kampfgefährten kamen. Auch hier verwob sich oft die materielle Entbehrung mit nationalen Inhalten und die ungarischen Soldaten dienten, ähnlich wie die
deutschen, der Bestätigung der tschechischen Identität, die zunehmend auf dem Topos
des Opfers und damit auf der allgemeinen Tendenz zur Selbstviktimisierung baute.
Diese Identität konnte dann praktisch vielfältig umgesetzt werden. Bergers kurze
Geschichte aus dem Feldspital demonstriert, wie eine solche praktische Umsetzung auch
über den Horizont des eigenen, individuellen Gewinnes hinausgehen konnte. Diese Momente, in denen die nationale Zugehörigkeit zum Grundprinzip für die Ordnung der
sozialen Welt erhoben wurde und damit andere Motivationen menschlichen Handelns
überlagerte, beschränkten sich jedoch nicht nur auf das Hinterland, sondern nahmen
auch an der Front viele Formen an.
Augustin Mudrák erinnert sich zum Beispiel an eine angespannte Situation, in die er
1917 an der Ostfront geriet. Nach zwei Tagen, an denen sie hungern mussten, wurde sei39 „V předních liniích šlo německé vojsko. Okupovalo kdejakou vesnici, kdejaký krám vyrabovalo […]
Vítězné, postupující vojsko již nedbalo kázně. Opouštělo své pluky a spíjelo se do němoty. Kradlo, na
co přišlo. Objevil-li se někde dobytek, krávy, vepři, husy, zabíjelo jej na potkání. A nešetřilo s ničím.
Ze zabitého kusu vzalo si nejlepší část a ostatní zahodilo do příkopu. Na všech stranách hořeli vesnice.
Uděšení obyvatelé, kteří neměli času prchnouti, byli zalezlí v barácích a hlavy nevystrčili.” Antonín
Mádl, U 102. pěšího pluku, in: Alois Žipek (Hg.), Domov za války. Díl IV. Praha 1931, S. 404.
40 „Pilně se dovážela munice a Prušáci, kteří se utábořili poblíž našeho obvaziště. Tehdy jsem nejlépe
poznal, proč na Prušáky bylo našimi vojíny pokřikováno ,Kamarád, máš marmelád?‘ Oni totiž fasovali denně v plechovkách dost marmelády a chleba, zatím co my jsme měli dost hladu.“ Rudolf
Homolka-Beran, U Koňuch při Sborově, in: Alois Žipek (Hg.), Domov za války. Díl V. Praha 1931,
S. 33.
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Rudolf Kučera
nem Zug ein Angriff auf die russischen Positionen befohlen. Als die russischen Maschinengewehre aber die angreifenden Soldaten zu mähen anfingen, verwandelte sich dieser
Angriff in einen spontanen und chaotischen Rückzug. Mudrák entfernte sich dabei von
seinem Zug und verirrte sich. Nach ein paar Minuten einer instinktiven Flucht geriet er
plötzlich an den Rand eines Waldes, wo er eine ungarische Einheit traf.
Trotz des Hungers, der ihn schon seit zwei Tagen quälte, weigerte er sich aber, bei
den ungarischen Soldaten um Hilfe zu bitten. Diese Weigerung beruhte auf der klar
definierten, auf kontrastiven Zuschreibungen beruhenden Nationalität. Der tschechischdeutsche Gegensatz wurde hier zwar durch eine tschechisch-ungarische Variante ersetzt,
die wichtigste Trennlinie blieb aber bestehen. Ähnlich wie Berger in dem Feldspital
lehnte auch Mudrák an der Front jegliche nicht-nationalen Handlungsmotive ab und
ließ sich lieber auch weiterhin von Hunger quälen, als bei den verhassten ungarischen
Kampfgefährten um ein paar Happen zu bitten: „Wir rennen in den Wald, wo die ungarischen Honved sich ausruhen […] Ich spreche Ungarisch. Aber auch trotz des großen
Hungers will ich von denen nichts.“41
Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass die Erfahrung tschechischer Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee während des Ersten Weltkrieges von mehreren Faktoren geprägt wurde, wobei diese im Laufe der Zeit unterschiedlich an Intensität gewannen. Am Beginn des Krieges war es hauptsächlich die materielle Entbehrung,
die den Alltag tschechischer Soldaten nach ihrer Einrückung an vielen Orten bestimmte,
wobei nationalen Fragen nur wenig Bedeutung zugemessen wurde. In der mobilisierten
Armee bestanden auch weiterhin Räume, wo nicht nur die schon ausdefinierten nationalen Gruppen gemischt existieren konnten, sondern es gab auch Räume, wo auch die nationale Indifferenz, also eine Identität, die jenseits der jeweiligen nationalen Agitationen
stand, artikuliert werden konnte. Die ersten Monate des Krieges, in denen die Mehrheit
der Truppen noch im Hinterland stationiert war, perpetuierte in vielerlei Hinsicht den
vorkriegszeitlichen Zustand, in dem die österreichisch-ungarische Armee die nationalen
Spannungen relativ erfolgreich zähmen konnte.42 Die bedeutendsten Trennlinien entstanden nicht entlang der nationalen und sprachlichen, sondern entlang der materiellen
Grenzen, die die Gruppe von gut versorgten und gepflegten Offizieren auf der einen
Seite und die der materiell darbenden Soldaten auf der anderen Seite entstehen ließ.
Die allgegenwärtige Entbehrung überdeckte bei vielen Regimentern die sprachlichen
Unterschiede.
Je mehr aber die österreichisch-ungarischen Truppen an der Front eingesetzt wurden, desto mehr kam es zur scharfen Nationalisierung des Alltags vieler tschechischer
Soldaten. Die nationale Perspektive gewann an Wichtigkeit in vielen, früher national
neutralen alltäglichen Situationen und die Nation wurden zunehmend zu einem universalen Paradigma erhoben, mithilfe dessen alle Aspekte der umliegenden sozialen Welt
interpretiert wurden. Die Räume zur Artikulierung der nationalen Indifferenz wurden
41 „Dobíháme do lesa, kde odpočívají maďarští honvédi... Ovládám maďarštinu. Ale i přes velký hlad od
nich nic nechci.“ Augustin Mudrák – Jiří Červenka, Bojoval jsem za císaře pána. Nové Strašecí 2011,
S. 46.
42 Dazu vgl. klassisch: István Deák, Der k.u.k. Offizier 1848–1918. Wien – Köln 1991.
Entbehrung und Nationalismus
radikal verengt und das tschechische nationale Bewusstsein wurde auch im Alltag immer mehr in ein kontrastives Verhältnis mit den anderen, im k.u.k. Heer repräsentierten
Nationalitäten gebracht. Tschechisch zu sein bedeutete für die Soldaten zunehmend auch
antideutsch und antiungarisch zu werden.
Die frühere Trennlinie zwischen der materiell unterversorgten Mannschaft und den
gut verpflegten Offizieren wandelte sich in eine neue Trennlinie, die zwar diese materielle Komponente nicht verschwinden ließ, sie jedoch weitgehend mit nationalen Inhalten auflud. Auch die Entbehrung, die den Frontalltag fast aller Soldaten am deutlichsten
prägte, wurde mit nationalen Inhalten versehen und diente zur Etablierung neuer, national streng getrennter Kollektive. Der Gegensatz Soldat–Offizier wurde um jenen von
tschechisch–nicht tschechisch ergänzt, manchmal durch diesen sogar ersetzt.
Wenn wir eingangs Nationalität nicht als stabile, sondern als sich ständig in Bewegung befindende Komponente menschlichen Handelns erwähnten, können wir abschließen, dass der Kriegsalltag tschechischer Soldaten in der multinationalen Armee deren
nationales Selbstverständnis vielfältig veränderte. In vielen Fällen trug er zur Dynamisierung der schon bestehenden nationalen Ausdifferenzierung bei und bedeutete für
manche Soldaten einen letzten Schritt im längeren Prozess ihrer Hinwendung zu einer
der in Böhmen möglichen nationalen Identitäten. Der Raum, jenseits der nationalen Agitation zu bleiben, verringerte sich zunehmend.
Auf der anderen Seite ging aber diese Entwicklung in vielerlei Hinsicht noch einen Schritt weiter. Der Krieg förderte nicht nur die festen nationalen Zuschreibungen,
sondern auch eine radikale Umdefinierung dessen, wozu man sich bekannte. Die starke
Verwebung partikulärer nationaler Inhalte mit universalistischen moralischen Werten
ließ nicht nur Räume für nationale Indifferenz weitgehend verschwinden, sondern trug
auch wesentlich dazu bei, dass die jeweiligen Nationalitäten nicht anders als kontrastiv
gesehen werden konnten. Wenn wir die klassische Definition von Ernst Gellner benutzen wollen, nach der der Nationalismus nichts anderes ist als ein Verlangen nach der
Übereinstimmung der politischen und nationalen Einheiten,43 können wir sagen, dass
der Kriegsalltag tschechischer Soldaten eigentlich ihre Nationalität selbst nationalisierte. Das Bekenntnis zur tschechischen Nationalität generierte zusammen mit dem eigentlichen Inhalt, den das tschechische nationale Bewusstsein während der Kriegsjahre zunehmend erhielt, in den letzten Kriegsmonaten gerade diejenigen Forderungen, die eine
nationalstaatliche Unabhängigkeit proklamierten und die letzten Endes im Herbst 1918
auch erhört wurden.
43 Ernst Gellner, Nations and Nationalism. Oxford 1983, S. 1.
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Unter dem sinkenden Stern der Habsburger
Die Ostfronterfahrung polnischer k.u.k. Soldaten1
Piotr Szlanta
Methodologische Probleme
Bisher haben sich polnische Historiker, die sich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigten, eher auf den Verlauf der militärischen Handlungen (insbesondere der „polnischen“
Einheiten) und auf den politischen Prozess der staatlichen Wiedergeburt Polens konzentriert. Dagegen hat man sich nur selten mit den Polen in den Armeen der Teilungsmächte
befasst. Erst seit relativ kurzer Zeit beginnt sich dies zu ändern.2 Auch international
scheint das Thema „Fronterfahrung“ in den letzten Jahren auf wachsendes Forschungsinteresse zu stoßen.3
1
2
3
Zu Beginn möchte ich mich bei Michał Janik, Stephan Lehnstaedt, Wacław Szczepanik und Alex Watson bedanken, die mir die Ergebnisse ihrer Archiv- und Bibliotheksrecherchen zugänglich gemacht
haben, wodurch die Quellengrundlage dieses Artikels erheblich erweitert wurde.
Marian Zgórniak, Polacy w armii monarchii austro-węgierskiej w czasie I wojny światowej [Polen
in der Armee der Österreichisch-Ungarischen Monarchie während des Ersten Weltkriegs], in: Studia
i Materiały do Historii Wojskowości. Bd. 30. Warszawa 1988, S. 227–246; Jan Rydel, W służbie
cesarza i króla. Generałowie i admirałowie narodowości polskiej w siłach zbrojnych Austro-Węgier
w latach 1868–1918 [Im Dienste des Kaisers und des Königs. Generäle und Admirale polnischer
Nationalität in den Streitkräften Österreich-Ungarns 1868–1918]. Kraków 2001; Michał Baczkowski,
Pod czarno-żółtymi sztandarami. Galicja i jej mieszkańcy wobec austro-węgierskich struktur militarnych 1868–1914 [Unter schwarz-gelber Fahne. Galizien und seine Bewohner gegenüber den österreichisch-ungarischen Militärstrukturen 1868–1914]. Kraków 2003; Mariusz Kulik, Polacy wśród
wyższych oficerów armii rosyjskiej Warszawskiego Okręgu Wojskowego (1865–1914) [Polen unter
den höheren Offizieren der russischen Armee des Warschauer Militärbezirks (1865–1914)]. Warszawa
2008; Michał Baczkowski, Żołnierze polscy w armii austro-węgierskiej w przededniu odzyskania
przez Polskę niepodległości [Polnische Soldaten in der österreichisch-ungarischen Armee am Vortag
der wiedererlangten Unabhängigkeit Polens], in: Studia Historyczne. Nr. 52, 2009, S. 19–32; Alex
Watson, Fighting for Another Fatherland. The Polish Minority in the German Army, 1914–1918, in:
English Historical Review. Bd. CXXVI, Nr. 522, 2011, S. 1137–1166.
Nikolaus Buschmann – Horst Carl (Hg.), Die Erfahrung des Krieges: erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg. Paderborn 2001. Wissenschaftliche Einzeldarstellungen, die diese Erfahrung im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg
analysieren, siehe z.B. Anne Lipp, Meinungslenkung im Krieg: Kriegserfahrungen deutscher Soldaten
und ihre Deutungen 1914–1918. Göttingen 2003; Bernd Ulrich – Benjamin Ziemann (Hg.), Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Ein historisches Lesebuch. Essen 2008; Alexander Watson, Enduring the
Great War: Combat, Morale and Collapse in the German and British Armies 1914–1918. Cambridge
140
Piotr Szlanta
Im vorliegenden Artikel möchte ich die Ostfronterfahrung polnischer k.u.k. Soldaten
näher betrachten. Was ist das für eine Erfahrung? Und wie untersucht man sie? Erfahrungsähnliche Begriffe sind das Erlebnis, das Gedächtnis und die Erinnerung. Erfahrung
ist auch eine philosophische Erkenntniskategorie. In diesem Text habe ich Erfahrung
definiert als ein Erlebnis, das intellektuell reflektiert wird.
Wobei wir sofort beim nächsten methodologischen Problem wären. Existiert so etwas wie eine einheitliche, standardisierte Gruppenerfahrung? Inwieweit lässt sich die
Fronterfahrung verallgemeinern? Zumal der Krieg von jedem anders, individuell erfahren wird, für jeden ein einzigartiges Erlebnis ist. Aber schließlich existieren universelle,
transnationale Fronterfahrungen, wie z.B. die Angst vor dem Tod und der Verstümmelung, die Sehnsucht nach der Familie, der Hunger, die Kälte, die Erschöpfung und der
Stumpfsinn.4
Die persönliche Fronterfahrung hängt von vielen Variablen ab, z.B. von der Stellung,
die man bekleidet, dem Dienstgrad, der Waffengattung, in der man dient, der personellen
– auch ethnischen – Zusammensetzung der eigenen Einheit, den Dienstbedingungen,
dem Grad des Risikos und der Lebensgefahr. Die Wahrnehmung eines Soldaten in einer
Sturm-Kompanie unterscheidet sich von der eines Soldaten in einer Intendantur, der
Fußsoldat sieht den Krieg anders als der Artillerist, und die Erfahrungen eines Frontoffiziers wiederum sind nicht mit denen eines Stabsoffiziers vergleichbar. Einen nicht unerheblichen Einfluss haben nicht zuletzt auch die Persönlichkeit des Soldaten und seine
psychische Konstitution, die sich durch den Krieg und die Kriegserlebnisse wandelt.
Wer sind die im Titel erwähnten Polen? In diesem Beitrag sind sie nach dem subjektiven Identitätskriterium definiert – Pole ist, wer sich für einen Polen hält.5 Nach
offiziellen Statistiken waren acht Prozent der k.u.k. Soldaten polnischer Nationalität.
Bei den Berufsoffizieren betrug der Anteil nicht ganz drei Prozent.6 Nach Angaben einer
Kommission, die in der Zweiten Polnischen Republik die polnischen Verluste im Ersten
Weltkrieg schätzte, wurden 1,4 Millionen Polen in die k.u.k. Armee eingezogen, von
denen 220.000 starben und 311.000 verletzt wurden.7
4
5
6
7
2008; Igor Narskij, Kriegswirklichkeit und Kriegserfahrung russischer Soldaten, in: Gerhard P. Groß
(Hg.), Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung. Paderborn 2006,
S. 249–261; Gerhard Hirschfeld – Gerd Krumeich – Dieter Langewiesche – Hans-Peter Ullmann
(Hg.), Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkrieges. Essen 1997.
Siehe z.B. Andrzej Zaręba, Los piechura w Wielkiej Wojnie w Galicji 1914–1915 [Das Schicksal eines
Fußsoldaten im Großen Krieg in Galizien 1914–1915], in: Małopolskie i Podhale w latach Wielkiej
Wojny 1914–1918 [Kleinpolen und Podhale während des Großen Krieges 1914–1918]. Teil 1. Nowy
Targ 2005, S. 225–260. Über die unterschiedlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen des Krieges
siehe z.B. Janet Watson, Fighting different wars. Experience, memory and the First World War in Britain. Cambridge 2004; Jennifer D. Keene – Michael Neiberg (Hg.), Finding Common Ground. New
Directions in First World War Studies. Leiden – Boston 2011.
Einen guten Einblick in die komplexe Thematik des Nationalbewusstseins gibt u.a. Marek Gałęzowski,
Na wzór Berka Joselewicza. Żołnierze i oficerowie pochodzenia żydowskiego w Legionach Polskich
[Nach dem Vorbild von Berek Joselewicz. Soldaten und Offiziere jüdischer Herkunft in den Polnischen Legionen]. Warszawa 2010.
Baczkowski, Żołnierze polscy, S. 19–21; Zgórniak, Polacy w armii, S. 233–236.
Stanisław Czerep, Straty polskie podczas I wojny światowej [Die polnischen Verluste während des
Ersten Weltkriegs], in: Daniel Grinberg – Jan Snopko – Grzegorz Zackiewicz (Hg.), Lata Wielkiej
Unter dem sinkenden Stern der Habsburger
Große Teile des I. (Krakauer), des X. (Jaroslauer) und des XI. (Lemberger) Korps,
in denen vorwiegend polnische Soldaten dienten,8 wurden gegen die Russen eingesetzt.
Einige Einheiten, die diesen Korps angehörten, seien hier stellvertretend genannt. Die
2. Infanteriedivision begann ihre Kämpfe mit der Schlacht von Kraśnik und wurde erst
im Juli 1918 an die Isonzofront verlegt. Die 12. Infanteriedivision gelangte im Juni 1917
von der Ostfront dorthin, nachdem sie in der Lubliner Gegend Krieg geführt und an
den Schlachten von Łapanów und Gorlice sowie Kämpfen in Wolhynien teilgenommen
hatte. Einzelne Einheiten der 30. Infanteriedivision kamen erst im Herbst 1918 nach Serbien, während die 11. Infanteriedivision den ganzen Krieg über an der Ostfront kämpfte.
Die 45. Schützendivision wurde im April 1918 von der Ostfront nach Bosnien und die
46. Schützendivision im März 1918 vom Osten an die italienische Front verlegt.9 Aus
den genannten Beispielen lässt sich die These ableiten, dass die Mehrheit der polnischen
k.u.k. Soldaten eher länger an der Ostfront gekämpft hat.
Des Weiteren stellt sich die Frage, wie man die Kriegsfront definiert und wie groß
deren Tiefenausdehnung ist. Außer der unmittelbaren Kampfzone muss auch das Hinterland dazugezählt werden, das unter den Bedingungen des totalen Krieges wesentlich
breiter geworden ist, wobei die Trennung zwischen Front und Hinterland sich mehr und
mehr verwischt. Auch der Kontakt zur Familie, in Form von Briefen und Heimaturlaub,
hatte Einfluss auf die persönliche Fronterfahrung.10
Was die kollektive, nationalspezifische Fronterfahrung betrifft, so gehe ich davon
aus, dass eine solche existiert haben muss und dass man anhand von Quellen ihre gemeinsamen Wesenszüge erkennen und in den Biografien der Soldaten ähnliche Charakteristika identifizieren kann. Quellengrundlage des vorliegenden Textes sind Erinnerungen, Presseberichte, Gedichte, Lieder, Gelegenheitsschriften (darunter Propagandaflugblätter) sowie mehrere Archivdokumente.
Reaktionen auf den Kriegsausbruch
In den ersten Kriegswochen war die Idee, gegen Russland zu kämpfen, in der polnischen
Gesellschaft in Galizien und im Teschener Schlesien sehr populär.11 Am 18. August 1914
schrieb der nationaldemokratische Politiker und Lemberger Reichsratsabgeordnete Jan
Wojny.­ Dojrzewanie do niepodległości 1914–1918 [Die Jahre des Großen Krieges. Heranreifen zur Unabhängigkeit 1914–1918]. Białystok 2007, S. 180–197. Michał Baczkowski wiederum schätzt die Zahl
der polnischen Gefallenen in der k.u.k. Armee auf etwa 80.000.
8 Baczkowski, Żołnierze polscy, S. 22f.; Zgórniak, Polacy w armii, S. 236–244.
9 Österreichisches Bundesministerium für Heerwesen und vom Kriegsarchiv (Hg.), Österreich-Ungarns
letzter Krieg. Registerband. Wien 1938, S. 173f., 184–186, 206 und 223f.
10 Zur Kriegszensur in der Habsburgermonarchie siehe Tamara Scheer, Die Ringstraßenfront: Österreich-Ungarn, das Kriegsüberwachungsamt und der Ausnahmezustand während des Ersten Weltkrieges. Wien 2010.
11 Manifestacye wojenne [Kriegsdemonstrationen], in: Czas. 30.7.1914; Wczorajsze manifestacye we
Lwowie [Die gestrigen Demonstrationen in Lemberg], in: Gazeta Lwowska. 1.8.1914; Nastrój w Galicji [Die Stimmung in Galizien], in: Gazeta Warszawska. 29.7.1914; Jan Szuścik, Pamiętnik z wojny
i niedoli 1914–1918 [Erinnerungen aus dem Krieg und der Not]. Cieszyn 1925, S. 7–9; Józef Białynia
Chołodecki, Lwów w czasie okupacji rosyjskiej (3 września 1914 – 22 czerwca 1915). Z własnych
przeżyć i spostrzeżeń [Lemberg während der russischen Besatzung (3. September 1914 – 22. Juni
1915). Eigene Erlebnisse und Beobachtungen]. Lwów 1930, S. 11–34.
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Piotr Szlanta
Zamorski, der stets bestrebt war, der österreichfreundlichen Stimmung in Galizien entgegenzuwirken: „Der Krieg selbst ist überaus beliebt […] Ich weiß nicht, ob sich ein
paar Dutzend Polen fänden, die diesen Krieg für etwas anderes hielten als einen Krieg
um die Angliederung Kongresspolens an Galizien, das heißt für einen Krieg um die
Wiedererweckung Polens.“12 Reservisten, die nicht einberufen worden waren, meldeten
sich freiwillig zum Armeedienst. Manch einer kehrte zu diesem Zweck eigens aus dem
Ausland zurück.13
Die Polen in Galizien hatten im Vergleich zu ihren Landsleuten in den beiden anderen Teilungsgebieten die stärkste Bindung zum Staat, was sich auch in ihrem Verhältnis
zur Armee bemerkbar machte. Auf den Straßen der galizischen Städte kam es Ende Juli,
Anfang August 1914 zu zahlreichen patriotischen Kundgebungen, die marschierenden
Soldaten wurden mit Blumen überschüttet und kleinen Geschenken bedacht. Zum Beispiel marschierten am Abend des 30. Juli in Lemberg zwanzigtausend Menschen zu den
Klängen österreichischer und polnischer patriotischer Lieder, die ein Militärorchester
spielte, zum Mickiewicz-Denkmal, zum Sitz des Statthalters, zum Stab des Korps und
zum Offizierskasino. Man jubelte unterwegs angetroffenen Offizieren zu oder trug sie
durch die Menge und brachte Hochrufe auf den Staat aus.14
Über den Kriegsbeginn schrieb Wincenty Witos Jahre später: „Betrachtete man all
das, was damals geschah, war man zwangsläufig davon überzeugt, dass die gesamte
Gesellschaft nur von einem einzigen Gedanken besessen war, und dass Österreich noch
über ein riesiges Begeisterungs- und Vertrauenskapital verfügte.“15 Der Legionär Henryk Pietrzak drückte es noch deutlicher aus: „Eine wilde Kriegssehnsucht hat von den
Menschen Besitz ergriffen. Unbegreifliche Freude strahlt aus ihren Gesichtern.“ „Die
polnische Gesellschaft in Galizien sah in ihm [dem Krieg] den Vorboten der Befreiung
des Vaterlands. Das zu den Waffen gerufene Volk, ob Bauer oder Bürger, zog mit einem
patriotischen Lied und der Überzeugung, dass man sich für Polen schlagen werde, in den
Krieg“16, urteilte einige Jahre später Michał Bobrzyński.
Natürlich war unter den Soldaten, die an die Front geschickt wurden, die Angst vor
dem Tod präsent.17 Mit dem Ausbruch des Krieges ließ sich eine wachsende Religiosität beobachten, was wohl auch der Versuch war, der Extremsituation einen Sinn zu
verleihen. Dies ist sicherlich kein typisch polnisches Phänomen. Während der Mobilisierung zogen die Soldaten durch die galizischen Straßen mit Bildern der Mutter Gottes
12 Zitiert nach: Adam Wątor, Narodowa Demokracja w Galicji do 1918 roku [Die Nationaldemokratie in
Galizien bis 1918]. Szczecin 2002, S. 303f.
13 Staatsarchiv Krakau, DPKr 96: 2959/14, S. 495, Brief des Innenministers an den Statthalter Galiziens,
8.8.1914; August Krasicki, Dziennik z kampanii rosyjskiej 1914–1916 [Tagebuch aus dem Russlandfeldzug 1914–1916]. Warszawa 1988, S. 61 und 71.
14 Lwów i kraj wobec wojny [Lemberg und das Land angesichts des Krieges], in: Gazeta Lwowska.
1.8.1914.
15 Wincenty Witos, Moje wspomnienia [Meine Erinnerungen]. Teil 1. Warszawa 1988, S. 291.
16 Michał Bobrzyński, Wskrzeszenie państwa polskiego. Szkic historyczny [Die Wiedergeburt des polnischen Staates. Eine historische Skizze]. Bd. 1. Kraków 1920, S. 22–23.
17 Dominik Ściskała, Z dziennika kapelana wojskowego 1914–1918 [Aus dem Tagebuch eines Militärseelsorgers 1914–1918]. Cieszyn 1926, S. 7–9.
Unter dem sinkenden Stern der Habsburger
an der Spitze.18 Der Ethnograf und Lehrer Sebastian Flizak beschrieb die Stimmung,
die auf dem Bahnhof in Mszana Dolna herrschte, von wo aus ein Zug mit einberufenen
Reservisten nach Nowy Sącz/Neusandez fuhr, wie folgt: „So viel Gram und Verzweiflung traten hier zu Tage, als wäre die Stunde der allgemeinen Vernichtung, das Ende
der Welt, gekommen.“19 Als wiederum Einheiten des 32. Landwehrinfanterieregiments
Nowy Sącz durch das nördlich von Rzeszów gelegene Dorf Niwiska zogen, baten die
rastenden Soldaten darum, die Kirche aufzuschließen und beichteten in Massen bis spät
in die Nacht. Ihr kroatischer Befehlshaber zeigte sich gegenüber dem Gutsherrn Jan
Hupka ob des religiösen Eifers seiner Untergebenen verwundert.20
Aspekte der polnischen Fronterfahrung
Der wichtigste Aspekt der polnischen Ostfronterfahrung – zumindest legen die mir
zugänglichen Quellen diesen Schluss nahe – ist der brudermörderische Charakter der
Kämpfe. Denn der Erste Weltkrieg war dem Wesen nach auch ein polnischer Bürgerkrieg. Dessen waren sich die von den drei Teilungsmächten einberufenen Soldaten von
Anfang an bewusst.21
An der Front kam es häufig zu polnisch-polnischen Begegnungen. Der Amerikanist
Roman Dyboski, Professor an der Jagiellonen-Universität, erzählt folgende Begebenheit: „Am 21. Dezember [1914] setzte ich bei Morgengrauen an der Spitze einer Kompanie des 16. Landwehrinfanterieregiments Krakau vom sumpfigen Ufer des Flusses Nida
zum Sturm an auf eine Anhöhe südlich des Städtchens Pińczów, die von den Moskowitern besetzt wurde. Als wir endlich zu den feindlichen Schützengräben vorgedrungen
waren, […] stieß ich dort auf einen russischen Offizier, der neben seinem Maschinengewehr lag, mit dem er den ganzen Morgen über auf uns gefeuert hatte. Unsere Sanitäter
waren bereits über den Offizier hergefallen und hatten sich wie gewöhnlich zunächst
18 Jerzy Z. Pająk, Od autonomii do niepodległości. Kształtowanie się postaw politycznych i narodowych
społeczeńswta Galicji w warunkach Wielkiej Wojny 1914–1918 [Von der Automie zur Unabhängikeit. Die Herausbildung der politischen und nationalen Haltung der Gesellschaft Galiziens während
des Großen Krieges 1914–1918]. Kielce 2012, S.55-60; Christoph Mick, Kriegserfahrungen in einer
multiethnischen Stadt. Lemberg 1914–1947. Wiesbaden 2010, S. 79; Białynia Chołodecki, Lwów w
czasie, S. 7f .
19 Zitiert nach: Henryk Kramarz, Miasto w latach wielkiej wojny 1914–1918 [Die Stadt in den Jahren
des Großen Krieges 1914–1918], in: Feliks Kiryk – Stanisław Płaza (Hg.), Dzieje miasta Nowego
Sącza [Die Geschichte der Stadt Nowy Sącz]. Bd. 2. Kraków 1993, S. 607. Literarisch verarbeitet
wurde das Thema z.B. in Józef Wittlin, Sól ziemi. Powieść o cierpliwym piechurze [Das Salz der Erde.
Die Geschichte vom geduldigen Infanteristen]. Warszawa 1979, S. 130–135.
20 Jan Hupka, Z czasów Wielkiej Wojny. Pamiętnik nie kombatanta [Aus den Zeiten des Großen Krieges.
Tagebuch eines Nicht-Kombattanten]. Lwów 1937, S. 12. Eine wachsende Religiosität lässt sich auch
in späteren Kriegsjahren beobachten, u.a. in den Briefen von Bauernsoldaten an die Redaktion der
Zeitschrift „Piast“. Siehe: Witos, Moje wspomnienia, S. 346; Stefan Kapusta, Kronika życia Kapusty
Stefana sierżanta Policji Państwowej. Od roku 1895 do roku 1939 [Die Lebenschronik des Stefan
Kapusta, seines Zeichens Wachtmeister der Staatspolizei. Von 1895 bis 1939]. Warszawa 2010.
21 Siehe z.B.: Za kilka godzin [In einigen Stunden], in: Dziennik Poznański. 2.8.1914; Nastrój w Galicji [Die Stimmung in Galizien], in: Gazeta Warszawska. 29.7.1914; Niespokojne czasy [Unruhige
Zeiten], in: Gazeta Grudziądzka. 27.6.1914; Wojna Europejska [Der Europäische Krieg], in: Gazeta
Grudziądzka. 11.8.1914.
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seiner Uhr angenommen, bevor sie die Wunde versorgten. Als der Verletzte das polnische Gefluche unserer alten Kämpen hörte und meine Offiziersabzeichen erblickte, rief
er: ,Retten Sie mich, mein Herr! Ich bin Pole!‘“ Einige Stunden später geriet Dyboski
infolge eines Gegenangriffs in russische Kriegsgefangenschaft.22
Hier ein Auszug aus den Erinnerungen des Ulanenrittmeisters Wojciech Kossak aus
der zweiten Augusthälfte 1914, als er zusammen mit der 1. Armee von General Viktor
Dankl Richtung Lublin marschierte: „Wir saßen ab und schlangen zur Begleitmusik
russischer Kartätschen rasch unsere Soldatenkost hinunter. Während wir zu den Pferden
zurückgingen und darauf achteten, dass wir nicht auf die am Boden liegenden ,Moskowiter‘ traten, unterhielten wir uns auf Polnisch. In der Toreinfahrt bemerkten wir eine
Gruppe deutscher Kanoniere, die sich aufrichteten, als sie Polnisch hörten, und ihr Kommandant, ein Unteroffizier, sprach uns in reinstem großpolnischem Dialekt an: ,Gütiger
Himmel, wir bitten die hochwohlgeborenen Herren um ein Stückchen Brot, da wir seit
gestern nichts mehr zum Essen gehabt haben!‘ Daraufhin griffen wir alle in die Tasche,
aber der deutsche Kanonier hielt uns zurück: ,Geld haben wir genug, aber kein Brot,
um Gottes willen, Brot.‘ Ich wandte mich an einen meiner jüngeren Offiziere: ,Mein
Lieber, lauf zum Verpflegungsoffizier und hol ein paar Laib Brot.‘ Woraufhin sich die
nebenan ruhenden russischen ,Kommissköpfe‘ erhoben, russisch salutierten und ebenso
flehentlich, aber in masurischem [masowischem] Polnisch, baten: ,Erbarmt euch, meine
Herren, und gebt auch uns wenigstens ein Stück.‘ Diese ,Moskowiter‘, das waren in letzter Minute mobilisierte Reservisten aus der Gegend von Lublin. Und da diese Kriegsgefangenen von Infanteristen des 13. Krakauer Regiments bewacht wurden, waren wir
in diesem schrecklichen Kriegselend alle ohne Ausnahme Söhne derselben Erde.“23 Der
russische Offizier Eugeniusz de Henning-Michaelis wiederum forderte eingekesselte
k.u.k. Soldaten auf Polnisch auf, sich zu ergeben, und sprach mit den Kriegsgefangenen
in dieser Sprache.24 Derartige Erfahrungen wurden in der damaligen Lyrik und Ikonografie wiederholt thematisiert.25
Diese etwas längeren Zitate verweisen auf einen weiteren wichtigen Aspekt. Der
Krieg spielte sich zum großen Teil auf polnischem Boden ab. Lassen wir noch einmal
Kossak zu Wort kommen: „Ich fuhr also mit allen nötigen Dokumenten versehen nach
Warschau, ich fuhr durch ein Land aus Trümmern und Elend. Ich sah die tragischen
Masken verrohter Menschen, die beim Geräusch eines Motors für einen kurzen Moment
22 Roman Dyboski, Siedem lat w Rosji i na Syberii (1915–1921). Przygody i wrażenia [Sieben Jahre in
Russland und Sibirien (1915–1921). Abenteuer und Eindrücke]. Warszawa 2007, S. 39.
23 Wojciech Kossak, Wspomnienia. Warszawa 1971, S. 290.
24 Eugeniusz de Henning-Michaelis, Burza dziejowa. Pamiętnik z wojny światowej 1914–1917 [Sturm
der Geschichte. Erinnerungen aus dem Weltkrieg 1914–1917]. Bd. 1. Warszawa 1928, S. 58 und 76.
25 Ta, co nie zginęła … Poezye Zdzisława Dębickiego i Edwarda Słońskiego [Dies Land, das nicht
gestorben ist … Lyrik von Zdzisław Dębicki und Edward Słoński]. Warszawa 1915; Gedichte: Ta,
co nie zginęła [Dies Land, das nicht gestorben ist], Rozmowa [Das Gespräch], Na armacie [Auf der
Kanone], Nad Twą mogiłą [An Deinem Grab], Kiedy zginę … [Wenn ich sterbe …], Sen o szpadzie
[Der Traum vom Degen], Czy ty wyrośniesz … [Wirst du entwachsen …]; Edward Słoński, Poezje
wybrane [Ausgewählte Lyrik]. Warszawa 1988, Gedicht: Rozdziobią nas [Sie werden uns zerpicken];
Mikołaj Berczenko, I wojna światowa i sprawa polska na dawnych kartach pocztowych [Der Erste
Weltkrieg und die Polnische Frage auf alten Postkarten]. Rzeszów 2009, S. 17.
Unter dem sinkenden Stern der Habsburger
entsetzt aus den Ruinen ihrer Bauernhütten sahen, um sogleich wieder wie Gespenster
zu verschwinden; ich sah in den Wäldern ausgemergelte Frauen, die nicht einmal auf
menschlichen Zuruf reagierten, während sie etwas im Nadellaub suchten.“26
In dieselbe Kerbe schlug der Zivilist Wincenty Witos: „Die schon seit sechs Monaten wütenden, so nie dagewesenen Kriegswirren […] brachen mit voller Wucht über
unser Land herein und vernichteten alles, was ihnen begegnete. Ganze Landstriche, hunderte einst blühende Dörfer und Städte bieten heute einen äußerst kläglichen, herzzerreißenden Anblick. Vereinzelt noch stehen gebliebene angesengte Schornsteine, überall
Kohle und Asche, Splitter, Schutthaufen – das ist alles, was das Feuer und die Kugeln
übriggelassen haben […] Was ist das aber für eine Erde? Es ist die heilige polnische
Erde, unsere geliebte Ernährerin, voller Löcher und Gruben, zerfurcht von Kugeln und
Pferdehufen …“27
Trotz der Härten und des Grauens gab der Krieg an der Ostfront den polnischen
k.u.k. Soldaten die Möglichkeit, der polnischen Natur und der heimischen Landschaft
nahe zu sein.28 Der Krieg gab bestimmten gesellschaftlichen Gruppen Chancen, die sie
nicht zuvor hatten. So hatten vor allem die Bauernsoldaten die einmalige Gelegenheit,
die Welt kennenzulernen, mit anderen Bräuchen, Dialekten und Sprachen in Berührung
zu kommen.29
Die österreichisch-ungarischen Stellungen an der Ostfront befanden sich entweder
direkt in Galizien oder nicht weit davon entfernt (Kongresspolen, Wolhynien, Bukowina, Podolien). Dies bedeutete, dass die polnischen k.u.k. Soldaten ihr eigenes Land,
ihre Familien und ihren Besitz verteidigten. Der Krieg war für sie – zumindest zum
Teil – auch ein Befreiungskampf. In dem anonymen Lied „Fließt die Weichsel, fließt sie
…“, das die Tapferkeit der „polnischen“ k.u.k. Regimenter besingt, heißt es: „Da siehst
du, Kaiser, was du für Polen hast / Auf dass du, so Gott will, Warschau und Krakau
vereinst.“30 Allerdings endete die Verteidigung der Heimat de facto mit einem Fiasko, da
nur fünf westliche Kreise Galiziens von russischer Besatzung verschont blieben. Dies
beeinträchtigte zwangsläufig die Moral der Polen in den grau-blauen Uniformen und
beeinflusste auch ihre Wahrnehmung der Front und Österreich-Ungarns.
26 Kossak, Wspomnienia, S. 298.
27 Wincenty Witos, Co nas czeka [Was uns erwartet], in: Piast. 31.1.1915. Zum Thema Kriegsschaden in
Galizien vgl.: Tomasz Kargol, Odbudowa Galicji ze zniszczeń wojennych w latach 1914–1918 [Der
Wiederaufbau der Kriegszerstörungen in Galizien 1914–1918]. Kraków 2012, S. 21–47.
28 Henryk Tomza, Dziennik legionisty 1914–1915. Walki II Brygady Legionów w Karpatach Wschodnich [Tagebuch eines Legionärs 1914–1915. Die Kämpfe der II. Brigade der Legionen in den Ostkarpaten]. Warszawa 2008, S. 41 und 108; Władysław Orkan, Drogą czwartaków i inne wspomnienia wojenne [Mit dem vierten Infanterieregiment der Legionen im Kampf und andere Kriegserinnerungen].
Kraków 1972, S. 22f., 25, 39, 58, 65f., 106, und 111–114.
29 Katarzyna Rusinow, Wieś pozagalicyjska w oczach żołnierzy Polaków w armii austro-wegierskiej w
świetle korespondencji z lat 1914–1918 na łamach „Piasta“ [Das außerhalb Galiziens gelegene Dorf
aus Sicht polnischer k.u.k. Soldaten im Spiegel der Kriegsberichterstattung in der Zeitschrift „Piast“
1914–1918], in: Dzieje Najnowsze. 2007, Nr. 2, S. 5–38; Wittlin, Sól ziemi, S. 136f.
30 Adam Roliński (Hg.), A gdy na wojenkę szli ojczyźnie służyć. Pieśni i piosenki żołnierskie z lat 1914–
1918. Antologia [Als sie in den Krieg zogen, dem Vaterland zu dienen. Soldatengesänge und -lieder
aus den Jahren 1914–1918. Eine Anthologie]. Kraków 1989, S. 192 auch S. 62f. und 193–200.
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Teil der polnischen Ostfronterfahrung war es auch, in der Gegend von Kielce und
Lublin sowie in den südwestlichen Gouvernements Russlands, in denen zahlreiche polnische Gutsbesitzer und Bauern lebten, Besatzer zu sein.31 Polnische Okkupanten begegneten Polen, die sich unter ihrer Besatzung befanden. Zum Beispiel dienten in der
Gendarmerie des österreichisch-ungarischen Militärgouvernements Lublin im Frühjahr
1916 ungefähr 400 Polen.32 Im Übrigen wurden die polnischen Beamten in Galizien, die
mit der Sprache und Mentalität der lokalen Bevölkerung vertraut waren, den Aufgaben
nicht immer gerecht – zumindest wenn man ihren Vorgesetzten Glauben schenkt. Es
wurde ihnen vorgeworfen, einen schlechten Einfluss auf die Bevölkerung auszuüben,
faul, habgierig und unehrlich zu sein.33 Die Beziehungen zwischen den polnischen Besatzern und den polnischen Besetzten gestalteten sich unterschiedlich. Zum Beispiel
berichtete der Befehlshaber der österreichisch-ungarischen Enklave Jasna Góra, dass die
polnischen Bewohner Kongresspolens ihre galizischen Landsleute für schlechtere Polen
hielten, was sich sicherlich auch in ihrem Verhältnis zur Besatzungsmacht niederschlug.
Der Polenreferent beim k.u.k. Armeeoberkommando Major Rudolf Mitzka hielt dagegen
die Beamten, die die Sprache und Mentalität der ihnen unterstellten Menschen kannten,
für vertrauenswürdig, er war davon überzeugt, dass sie einen positiven Einfluss auf die
Beziehungen der Besatzungsmacht zur örtlichen Bevölkerung hatten.34 Eine ähnliche
Erfahrung, Besatzer gegenüber Angehörigen der eigenen Nation zu sein, machten in der
k.u.k. Armee an der Ostfront ansonsten nur die Ukrainer35 und bis zu einem gewissen
Grad die Juden.36
Die Fronterfahrung war eng mit der Erfahrung von Kriegsgefangenschaft verbunden. Nach Schätzungen von Michał Janik gerieten 100.000 bis 200.000 polnische
Soldaten der k.u.k. Armee in russische Gefangenschaft. Auch dies zeigt den brudermörderischen Charakter des Krieges. Für die gefangen genommenen polnischen k.u.k.
Soldaten, die im Herbst 1914 von Warschau aus ins Landesinnere Russlands deportiert
31 Tamara Scheer, Österreich-Ungarns Besatzungsmacht in Russisch-Polen während des Ersten Weltkriegs (1914–1918), in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung. Jg. 58, 2009, S. 549f.; Stephan
Lehnstaedt, Das Militärgouvernement Lublin. Die „Nutzbarmachung“ Polens durch Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung. Jg. 61, H. 1, 2012, S. 1–26;
Stanisław Sosabowski, Droga wiodła ugorem. Wspomnienia [Der Weg führte durch Brachland. Erinnerungen]. Kraków 2011, S. 31; Kazimierz Kumaniecki, Czasy lubelskie. Wspomnienia i dokumenty
(18.IV.1916–2.XI.1918) [Die Lubliner Zeit. Erinnerungen und Dokumente (18.4.1916–2.11.1918)].
Kraków 1927.
32 Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Adrian/78 [alt: 3957], Protokoll der Besprechung zwischen Vertretern des Armeeoberkommandos und des Außenministeriums, 3.6.1916.
33 Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, 1064, PA I, Vertreter des Ministeriums des Äußern beim AOK
1914–1915, Brief von Leopold Andrian an Alexander Hoyos, 17.3.1915.
34 Tamara Scheer, Zwischen Front und Heimat. Österreich-Ungarns Militärverwaltungen im Ersten
Weltkrieg. Frankfurt am Main 2009, S. 79.
35 Siehe z.B. Wolfram Dornik et al. (Hg.), Die Ukraine. Zwischen Selbstbestimmung und Fremdherrschaft 1917–22. Graz 2011; Wolfram Dornik – Stefan Karner (Hg.), Die Besatzung der Ukraine 1918.
Historischer Kontext – Forschungsstand – wirtschaftliche und soziale Folgen. Graz 2008; Włodzimierz
Mędrzecki, Niemiecka interwencja militarna na Ukrainie w 1918 roku [Die deutsche Militärintervention in der Ukraine 1918]. Warszawa 2000.
36 Marsha L. Rozenblit, Reconstructing a National Identity: The Jews of Habsburg Austria during World
War I. Oxford 2001, S. 81–105.
Unter dem sinkenden Stern der Habsburger
wurden, organisierten die Warschauer Messen und – was nicht weniger wichtig gewesen sein dürfte – sammelten warme Kleidung und Schuhe.37 Die polnischen Kriegsgefangenen arbeiteten unter anderem in Podolien, wo viele Güter sich weiterhin in
polnischen Händen befanden.38 Mit den russischen Polen kamen sie auch in anderen
Regionen und unter anderen Umständen in Berührung.39 Das Schicksal der Kriegsgefangenen ist ein Thema für sich, zu dem in den letzten Jahren immer mehr geforscht
wurde.40
Einen negativen Einfluss auf die Moral – nicht nur auf die der Polen – hatten die
eigenen Niederlagen und das schwindende Vertrauen in die Kompetenzen der militärischen Führung. Oder mit den Worten des damaligen österreichisch-ungarischen Kavallerieoffiziers Juliusz Kleeberg: „Die Verluste Österreich-Ungarns drückten sich nicht
nur durch die Verluste an Menschenleben, Geschützen und anderem Material aus; in
großem Maße verschwand auch die Ordnung, die Disziplin, das Vertrauen und zuletzt
jegliches planmäßige und zielgerichtete Handeln der militärischen Führung. […] Trotz
ausreichender Ressourcen an Menschen, waren die leitenden österreichisch-ungarischen
Militärs nicht imstande – trotz des seit mehreren Monaten dauernden Krieges – einheitliche, vollwertige Reserveeinheiten aufzustellen, noch konnten sie entsprechend vorbereiteten Ersatz für die an der Front kämpfenden Einheiten gewährleisten.“41 Diese
Einschätzung wurde vom Offizier des 58. Infanterieregiments Stanisław Sosabowski
bestätigt, der den Rückzug von der San-Linie im November 1914 folgendermaßen beschreibt: „Schneidende Herbstkälte. Schneeregen. Aufgeweichte Wege, von Tausenden
Soldatenstiefeln zertreten, von Wagenrädern und Artilleriegespannen zerfurcht. Marsch
mit vollem Gepäck. Die Ruhr grassierte. Übernachtet wurde auf freiem Feld oder in
Schuppen, durch die der Wind pfiff. Unerträgliche Müdigkeit – Rast in feuchten Gräben
am Wegesrand, wo man auf der Stelle einschlief. Essen in der Nacht, sobald die Feldküche zur Kompanie gestoßen war. Und schließlich die schlimmste Soldatenplage – Läuse,
Läuse und noch einmal Läuse … Es gab weder Platz noch Zeit sie zu vernichten.“42 „Die
Soldatenschaft ist erschöpft und demotiviert. Was die Zeitungen über den Kriegseifer
37 Marian Kurman, Z wojny 1914–1921. Przeżycia, wrażenia i refleksje mieszkańca Warszawy [Aus
dem Krieg 1914–1921. Erlebnisse, Eindrücke und Reflexionen eines Warschauers]. Warszawa 1923,
S. 42.
38 Katarzyna Sayn-Wittgenstein, Koniec mojej Rosji. Dzienniki 1914–1919 [Das Ende meines Russlands. Tagebücher 1914–1919]. Warszawa 1998, S. 97f., 120, 145, und 178f.
39 Franciszek Grzesiowski, Wspomnienia z niewoli rosyjskiej 1915–1921 [Erinnerungen aus der russischen Gefangenschaft]. Lwów 1931, S. 16f.; Dybowski, Siedem lat, S. 40f., 59f.; Szuścik, Pamiętnik
z wojny, S. 77f., 97, 101f. und 106f.
40 Siehe z.B. Reinhard Nachtigal, Rußland und seine österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen
(1914–1918). Remshalden 2003; Reinhard Nachtigal, Kriegsgefangenschaft an der Ostfront 1914
bis 1918. Literaturbericht zu einem neuen Forschungsfeld. Frankfurt am Main 2005; Verena Moritz,
Zwischen Nutzen und Bedrohung. Die russischen Kriegsgefangenen in Österreich 1914–1921. Bonn
2005; Oksana Nagornaja, Drugoj voennyj opyt. Rossijskie voennoplennye Pervoj mirovoj vojny v
Germanii 1914–1922 [Die andere Kriegserfahrung. Russische Kriegsgefangene des Ersten Weltkriegs
in Deutschland 1914–1922]. Moskau 2010.
41 Juliusz Kleeberg, Geneza bitwy pod Gorlicami [Die Genese der Schlacht von Görlitz]. Warszawa
1930, S. 8, 10.
42 Sosabowski, Droga wiodła ugorem, S. 26.
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Piotr Szlanta
schreiben, ist jetzt eine Lüge“43, urteilte zur gleichen Zeit der Rzeszower Rechtsanwalt
Wincenty Daniec.
Die Wahrnehmung der Front änderte sich bei den polnischen Soldaten auch unter
dem Einfluss der „psychischen Scheidung“, die die Polen von der Habsburgermonarchie vollzogen. Daher auch das Zitat im Titel des Textes. Vom sinkenden Stern der
Habsburger am polnischen Himmel sprach am 20. Februar 1918 der sozialistische
Abgeordnete Ignacy Daszyński in seiner Rede vor dem Reichsrat, in der er den kurz
zuvor mit der Ukraine geschlossenen Friedensvertrag scharf kritisierte.44 Es gibt eine
ganze Reihe von Gründen für das gewandelte Verhältnis der Polen zur Habsburgermonarchie. Zu nennen wären unter anderem die Repressionen gegen die Zivilbevölkerung
nach der Befreiung Galiziens von der russischen Besatzung im Frühjahr 1915, die viele Polen als eine zweite Besatzung erlebten; die faktische Abschaffung der Autonomie
Galiziens und die Einrichtung einer Militärverwaltung („Militärstatthalterschaft“);45
die wachsende Abhängigkeit vom mächtigen, den polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen ablehnend gegenüberstehenden Deutschland; die von Kriegsbeginn an zunehmenden Versorgungsprobleme und das fortschreitende Schwinden staatlicher Strukturen. Das Fass zum Überlaufen brachte die Abtretung des Bezirks Chełm an die Ukraine im sogenannten „Brotfrieden“, der im Februar 1918 in Brest-Litowsk unterzeichnet
wurde.46 Dies alles untergrub die Autorität des Staates in den Augen seiner polnischen
Untertanen und musste einen destruktiven Einfluss auf die Moral der polnischen Soldaten und Offiziere haben.
Mit wachsender Kriegsdauer verschärften sich die Nationalitätenprobleme in den
Fronteinheiten – wobei vorschnelle Verallgemeinerungen sich hier verbieten.47 Wie wurden die Polen von den anderen Nationalitäten der Donaumonarchie wahrgenommen?
Laut Josef Schreiber, einem Sudetendeutschen, der mit vielen Polen gedient hatte, waren
43 Wincenty Daniec, Pamiętnik z przeżyć wielkiej wojny [Tagebuch von den Erlebnissen des Großen
Krieges]. Teil 1. Rzeszów 1926, S. 79.
44 Rede des Abgeordneten Ignacy Daszyński vom 20.2.1918, in: Stenographische Protokolle über die
Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des österreichischen Reichsrates im Jahre 1918. Bd. 3. Wien
1918, S. 3193.
45 Ein gutes Beispiel für die Vorwürfe, die in der polnischen Öffentlichkeit gegen die Habsburgermonarchie vorgebracht wurden, liefert z.B. die Reichsratsrede des Abgeordneten Stanisław Łazarski vom
13.6.1917. Siehe: Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des
österreichischen Reichsrates im Jahre 1917. Bd. 1. Wien 1917, S. 213–220.
46 Ausführlicher dazu z.B. Piotr Szlanta, „Najgorsze bestie to są Honwedy“. Ewolucja stosunku polskich
mieszkańców Galicji do monarchii habsburskiej podczas pierwszej wojny światowej [„Die schlimmsten Bestien sind die Honveden“. Die Entwicklung des Verhältnisses der polnischen Bevölkerung
Galiziens zur Habsburgermonarchie während des Ersten Weltkriegs], in: Urszula Jakubowska (Hg.),
Galicyjskie spotkania 2011. Sammelband. Zabrze 2012, S. 161–179; Ludwik Mroczka, Rozstanie Galicji z Austrią. Zarys monograficzny [Der Bruch Galiziens mit Österreich. Ein Abriss]. Kraków 1990;
Tomasz Kargol, Sytuacja gospodarcza na terenie byłej zachodniej Galicji u progu niepodległości (na
przełomie 1918 i 1919 r.) [Die wirtschaftliche Situation im ehemaligen Westgalizien an der Schwelle
zur Unabhängigkeit (Ende 1918, Anfang 1919)], in: Studia Historyczne. Nr. 3–4, 2011, S. 309–323;
Pająk, Od autonomii, S. 201–227.
47 Mark Cornwall, Morale and patriotism in the Austro-Hungarian Army 1914–1918, in: John Horn
(Hg.), State, Society and Mobilisation in Europe during the First World War. Cambridge 1997, S.
173–192.
Unter dem sinkenden Stern der Habsburger
die polnischen Soldaten im Herbst 1918 ein undisziplinierter Haufen, benahmen sich
wie wilde Horden, und selbst die Offiziere und Unteroffiziere der Garnison Przemyśl
trugen auf Kasernengängen aus Furcht vor ihnen immer eine geladene Waffe bei sich.48
Die Tschechen hielten die Polen für allzu dienstbeflissen, hieß es, während deutsche
und ungarische Offiziere ihnen häufig fehlenden Eifer bei der Ausübung des Dienstes
vorwarfen und sie mit raffinierter Grausamkeit traktierten.49 Von dem in Ilkowice auf
Heimaturlaub weilenden Wojciech Rzęsa hörte Witos, dass die von ihren Vorgesetzten
terrorisierten polnischen Soldaten ans Desertieren denken würden, sich drückten, wo es
nur gehe, und auf eine Niederlage der Mittelmächte hofften.50 Der Offizier des 80. Infanterieregiments Józef Błoński schreibt in seinen Erinnerungen, es habe gegen Ende des
Krieges in seiner Einheit keinen österreichischen Staatspatriotismus mehr gegeben, das
Einzige, was die Soldaten unterschiedlicher Nationalität verbunden habe, seien das Singen von Liedern und Erinnerungen aus der Schulzeit gewesen.51 Mikołaj Hercuń, Soldat
des 13. Infanterieregiments, notierte im Frühjahr 1915: „Pflicht, Dienst, Soldatenehre,
Verdienst vor Gott und dem Kaiser. Für uns alte, abgedroschene und leere Phrasen, mit
ihnen wurden wir häufiger gefüttert als mit täglichem Brot. Durch die Sinnentfremdung
verloren sie ihre Tiefe und Heiligkeit und riefen nur ein mitleidiges Lächeln oder einen
derben Fluch hervor […].“52
Fronterfahrung machte auch eine große Gruppe Zivilkutscher, die von den Deutschen und deutschsprachigen Österreichern „Panije“ (vom Wort „pan“, deutsch „Herr“)
oder „Hajtasch“ (von „hejta, wio“, deutsch „hüh, hott“) genannt wurden.53 Sie wurden
mit ihren Fuhrwerken einberufen und sollten helfen, den Mangel an Transportmitteln
auszugleichen. Sie teilten die Mühen des Frontlebens mit den Soldaten und bezahlten
dafür häufig mit ihrem eigenen Blut. Es ist schwierig, die zahlenmäßige Stärke dieser
Gruppe zu schätzen, aber es waren sicherlich Zehntausende.54
Deserteure
Ein wichtiger – natürlich nicht spezifisch polnischer – Aspekt des Daseins an der Ostfront war die Erfahrung, fahnenflüchtig zu sein, die gegen Ende des Krieges immer
mehr Soldaten zuteilwurde, zumal sich den Deserteuren ehemalige Kriegsgefangene
anschlossen, die, aus russischer Gefangenschaft freigelassen, alles taten, um nicht erneut zur Armee eingezogen zu werden. Unter diesen Rückkehrern kam es im April und
im Mai 1918 sowohl in Galizien als auch auf dem Gebiet des Militärgouvernements
48 Josef Schreiber, Vier Jahre als Infanterist im I. Weltkrieg. Ein Tagebuch. Freiberg/Sachsen 1998,
S. 242f. und 251f.
49 Witos, Moje wspomnienia, S. 345.
50 Ebd., S. 385.
51 Józef Błoński, Pamiętniki 1891–1939 [Erinnerungen 1891–1939]. Kraków 1981, S. 80f., 95 und 98.
52 Mikołaj Hercuń, Rakiety nad frontami [Raketen über den Fronten]. Warszawa 1931, S. 33f.
53 Schreiber, Vier Jahre, S. 29; Erich Ludendorff, Meine Kriegserinnerungen 1914–1918. Berlin 1919,
S. 61.
54 Daniec, Pamiętnik z przeżyć, S. 20 und 90; Józef Bieniasz, Narodziny bestji. Powieść [Die Geburt der
Bestie. Roman]. Lwów 1934, S. 41; Krasicki, Dziennik z kampanii, S. 27 und 38.
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Piotr Szlanta
Lublin zu zahlreichen Rebellionen und Unruhen.55 Die Soldaten fragten offen nach dem
Sinn des Weiterkämpfens und der Dauer des Krieges.56 Der sozialistische Politiker und
Reichsratsabgeordnete Jędrzej Moraczewski beschrieb das Problem der fehlenden Sicherheit in Galizien wie folgt: „Es kam zu Desertionen in nie dagewesenem Ausmaß.
Der Begriff ,polnischer Urlaub‘ erlangte in der Armee traurige Berühmtheit und eine
riesige Anzahl von Deserteuren überflutete das Land. In den Wäldern rund um Bochnia,
Rzeszów, Jarosław und Kalwaria, im gesamten Karpatenvorland, von Żywiec bis nach
Sanok, entstanden ‚Grüne Kader‘. So wurden die Lager der Deserteure genannt. Mehrere Strafexpeditionen der österreichisch[-ungarisch]en Armee blieben erfolglos.“57 Eine
solche Aktion fand unter anderem in den ersten Julitagen 1918 statt – mit begrenztem
Erfolg. Während der Aktion kam es zu Exzessen gegen die örtliche Bevölkerung. Dörfer, die verdächtigt wurden, Deserteuren Unterschlupf zu gewähren, wurden von einem
dichten Kordon umschlossen und anschließend systematisch durchkämmt. Dabei kam
es zu zahlreichen Übergriffen auf die Zivilbevölkerung (Raubüberfälle, Körperverletzungen, Vergewaltigungen). Am 18. Oktober 1918 teilte der Starost von Tarnów dem
Statthalter mit, dass die Kriminalität in dem ihm unterstehenden Bezirk zugenommen
habe und die Gendarmerie, aufgrund der personellen Knappheit, mit den bewaffneten
Banden nicht fertig werde. Die terrorisierte Bevölkerung würde den Behörden die Verstecke der Deserteure nicht preisgeben.58 In der Nähe großer Waldgebiete, z.B. der Puszcza Niepołomicka, fürchteten die Gendarmen, Dienst zu tun, da sie ihr Leben nicht aufs
Spiel setzen wollten.59 Es kam auch vor, dass die örtliche Bevölkerung mit den Deserteuren zusammenarbeitete, sie vor Armeebewegungen warnte und im Gegenzug an der
Beute beteiligt wurde, die aus kriminellen Machenschaften stammte, z.B. aus Zugüberfällen. Zu Desertionen kam es auch in den Einheiten, die zur Bekämpfung der Deserteure ausgesandt wurden (z.B. im hauptsächlich aus polnischen Soldaten bestehenden
Reservebataillon des 16. Schützenregiments).60 In der Garnison in Rzeszów mussten die
Offiziere schließlich selbst den Wachdienst übernehmen, um die Flucht ihrer Untergebenen in die Wälder der Umgebung von Budziwój und Łańcut zu verhindern.61 Gegen
Ende des Krieges (im Sommer 1918) betrug die Zahl der Deserteure in Galizien etwa
40.000, das heißt, sie war zehnmal größer als die Zahl der Ordnungskräfte, die in dieser
Provinz stationiert waren.62 Es hieß, die Polen würden von Angehörigen der Intelligenz
55 Richard Georg Plaschka – Horst Haselsteiner – Arnold Suppan, Innere Front. Militärassistenz, Widerstand und Umsturz in der Donaumonarchie 1918. Bd. 1. München 1974, S. 299–315.
56 Rede des Abgeordneten Aleksander Skarbek vom 23.7.1918, in: Stenographische Protokolle über die
Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des österreichischen Reichsrates im Jahre 1918. Bd. 3. Wien
1918, S. 4201.
57 E. K., Przewrót w Polsce [Umsturz in Polen]. Teil 1. Rządy ludowe. Szkic wypadków z czasów wyzwolenia Polski do 16 stycznia 1919 roku [Die Volksregierungen. Eine Skizze der Ereignisse aus der
Zeit der Befreiung Polens bis zum 16. Januar 1919]. Warszawa – Kraków 1919, S. 10.
58 Marek Przeniosło (Hg.), Narodziny niepodległości w Galicji (1918–1919). Wybór tekstów z archiwów lwowskich [Der Beginn der Unabhängigkeit in Galizien (1918–1919). Eine Textauswahl aus
Lemberger Archiven]. Kielce 2007, S. 134f.
59 Ignacy Daszyński, Pamiętniki [Erinnerungen]. Bd. 2. Kraków 1926, S. 302.
60 Plaschka – Haselsteiner – Suppan, Innere Front. Bd. 2, S. 89–94.
61 Feliks Kiryk (Hg.), Dzieje Rzeszowa [Die Geschichte von Rzeszów]. Bd. 2. Rzeszów 1998, S. 697.
62 Plaschka – Haselsteiner – Suppan, Innere Front. Bd. 2, S. 92.
Unter dem sinkenden Stern der Habsburger
und auch von Priestern – bei der Beichte – zur Fahnenflucht angestiftet.63 Die staatlichen Organe waren machtlos, und das Ansehen der Monarchie litt darunter, ähnlich wie
unter dem Anblick ausgezehrter, sich kaum auf den Beinen haltender, bettelnder oder
Müll durchsuchender Marodeure.64 Ab 1917 setzte in den rückwärtigen Einheiten eine
Lockerung beziehungsweise ein Verfall der Disziplin ein, was sich unter anderem in der
wachsenden Zahl von Simulanten und eigenmächtig verlängerten Urlauben widerspiegelte65, aber auch in der Aufnahme von Kontakten zu Mitgliedern der geheimen Polnischen Militärorganisation und zu ehemaligen Legionären, mit dem Ziel, zu gegebener
Zeit einen Umsturz zu wagen.66
Die Perspektive der Legionäre
Etwas anders sieht die Erfahrung der k.k. Legionäre aus. Sie blickten, wenn nicht mit
offener Verachtung, so doch zumindest mit einem Gefühl der Überlegenheit, auf die
„Schwarzgelben“ und nannten die k.u.k. Soldaten „Kommisköpfe“ oder „Penner“, denn
„außer der Uniform und des grausamen Drills haben sie in sich keine soldatischen Eigenschaften, auf die man sich verlassen kann, und wenn sie an der Front irgendwo in der
Nähe sind, muss man die eigenen Stellungen befestigen und mit Draht absichern. Andernfalls, wenn man diese Vorsichtsmaßnahmen nicht beachtet, muss man von ihrer Seite jederzeit mit Überraschungen rechnen.“67 Die regulären österreichisch-ungarischen
Einheiten standen unter dem Ruf, defätistische Stimmung zu verbreiten und schnell die
Flucht zu ergreifen.68 Man mochte die ungarischen Gendarmen nicht, die aufgrund ihres
Hutes mit den charakteristischen schwarzen Federn „Kikeriki“ genannt wurden.69 Die
Legionäre fürchteten sie, vor allem an der Front, wenn sie als Reserve eingesetzt wurden, um Lücken zu schließen, da dies sehr hohe eigene Verluste nach sich zog. Zwischen
den Legionären und den k.u.k. Soldaten kam es zu zahlreichen Schlägereien, Streitigkeiten um Unterkünfte, Diebstählen, Fauxpas und Missverständnissen. Zum Beispiel war
das Orchester der Legionen beim Inspektionsbesuch eines Generals nicht in der Lage,
die österreichische Hymne zu spielen.70 Ein anderes Mal kam es zu einem Zwischenfall
63 Mick, Kriegserfahrungen, S. 190; Feliks Kiryk – Stanisław Płaza (Hg.), Dzieje miasta Nowego Sącza
[Die Geschichte der Stadt Nowy Sącz]. Bd. 2. Kraków 1993, S. 621.
64 Witos, Moje wspomnienia, S. 413.
65 Baczkowski, Żołnierze polscy, S. 28f.
66 Siehe z.B.: Jerzy Giza, Organizacja „Wolność“ 1918 [Die Organisation „Freiheit“]. Kraków 2011.
67 Adolf Kotarba, Pamiętnik żołnierski [Soldatenerinnerungen]. Warszawa 1938, S. 202.
68 Bolesław Wieniawa-Długoszowski, Wymarsz i inne wspomnienia [Der Ausmarsch und andere Erinnerungen]. Warszawa 1992, S. 104–106 und 109f. Eine ähnliche Ansicht über die k.u.k. Armee
hatten viele Polen, die in der Zarenarmee dienten. Henning-Michaelis schrieb in seinen Erinnerungen: „Unsere Gegner waren die Österreicher, was mir in diesem Moment sehr recht war, da sie, im
Vergleich zu den Deutschen, weniger Initiative und Verbissenheit zeigten, aber die für uns wertvollen
Charaktereigenschaften besaßen, mit Geschossen sparsam umzugehen und keine Freunde des Gegenangriffs zu sein.“ Siehe: Henning-Michaelis, Burza dziejowa, S. 218, sowie Józef Dowbor-Muśnicki,
Wspomnienia [Erinnerungen]. Warszawa 2003, S. 101f. und 113.
69 Józef Panaś, Pamiętniki kapelan legionów [Erinnerungen eines Kaplans der Legionen]. Lwów 1920,
S. 154.
70 Ferdynand Pawłowski, Wspomnienia legionowe [Legionärserinnerungen]. Kraków 1994, S. 71f.
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Piotr Szlanta
zwischen Legionären und Honved-Truppen, bei dem beide Seiten Waffen gebrauchten
und sich in ihren Stellungen verschanzten.71 Dagegen herrschten zwischen den Legionären und den deutschen Militärs im Allgemeinen gute Beziehungen und gegenseitiger
Respekt. Die Deutschen schätzten die Legionäre für ihre Tapferkeit, diese wiederum die
Deutschen für ihre effektive Kriegsführung.72
Die ab 1914 existierenden polnischen Freiwilligeneinheiten, die an der Seite der
Mittelmächte gegen Russland kämpften, gaben den Polen die einmalige Möglichkeit,
um eine Versetzung von der regulären k.u.k. Armee in die Legionen zu ersuchen. Vor
allem viele Offiziere erwirkten eine solche Versetzung. Mehr noch, mit zunehmendem
Verfall der Disziplin und dem Verlust des Glaubens an den endgültigen Sieg nach der
Februarrevolution in Russland 1917 bot sich die Alternative, die Fronten zu wechseln,
um sich den polnischen Armeeeinheiten anzuschließen, die sich dort an der Seite der
russischen republikanischen Armee formierten.73 Das durch den Bürgerkrieg nach dem
bolschewistischen Umsturz in Russland verursachte Chaos begünstigte diese Entwicklung. Gebrauch von dieser Möglichkeit machten die über den Brester Frieden empörten
Soldaten des Polnischen Hilfskorps unter Führung von General Józef Haller.74 Ein Teil
von ihnen wurde jedoch gefangen genommen und in Lagern in Ungarn interniert. Die
polnische Gesellschaft unterstützte Flüchtlinge aus diesen Lagern.75 Andererseits verachtete und hasste ein Teil der polnischen k.u.k. Soldaten die k.k. Legionäre, weil man nicht
verstand, wie man freiwillig in den Krieg ziehen konnte.76 Die zahlenmäßige Stärke der
polnischen Legionen betrug jedoch zu keiner Zeit mehr als 30.000 Soldaten. Es war also
eine im Vergleich zu den polnischen k.u.k. Soldaten kleine und elitäre Gruppe.77
71 Jakub Krzemiński, Sądownictwo [Das Gerichtswesen], in: Wspomnienia legionowe [Legionärserinnerungen]. Bd. 1. Warszawa 1924, S. 204.
72 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. Berlin-Dahlem, Rep. 77, Ministerium des Innern,
Tit. 863a, Nr. 12, Die Polnische Legion, S. 257f., Hans Delbrücks Bericht, Juni 1915; Krasicki, Dziennik z kampanii, S. 473–475; Wacław Lipiński, Szlakiem Pierwszej Brygady [Mit der Ersten Brigade
im Kampf]. Warszawa 1935, S. 281; Tomza, Dziennik legionisty, S. 150.
73 Henryk Bagiński, Wojsko Polskie na wschodzie 1914–1920 [Die Polnische Armee im Osten 1914–
1920]. Warszawa 1921; Leon Grosfeld, Polskie reakcyjne formacje wojskowe w Rosji 1917–1919
[Reaktionäre polnische Militärformationen in Russland 1917–1919]. Warszawa 1956; Dariusz
Radziwiłłowicz, Polskie formacje zbrojne we wschodniej Rosji oraz na Syberii i Dalekim Wschodzie
w latach 1918–1920 [Bewaffnete polnische Formationen im östlichen Russland sowie in Sibirien und
im Fernen Osten 1918–1920]. Olsztyn 2009.
74 Jan Snopko, Finał epopei Legionów Polskich [Das Ende des Heldenepos der Polnischen Legionen].
Białystok 2008.
75 Zur Empörung der Behörden nahmen auch polnische k.u.k. Offiziere an den Sammlungen für die Legionäre teil, die am 30. Juni 1918 in Lemberg durchgeführt wurden. Siehe: Mick, Kriegserfahrungen,
S. 197.
76 Szuścik, Pamiętnik z wojny, S. 40–42.
77 Wacław Lipiński, Walka zbrojna o niepodległość Polski w latach 1905–1918 [Der bewaffnete Kampf
um Polens Unabhängigkeit 1905–1918]. Warszawa 1990, S. 66–141; Mieczysław Wrzosek, Polski
czyn zbrojny podczas pierwszej wojny światowej 1914–1918 [Polens Kampf während des Ersten
Weltkriegs 1914–1918]. Warszawa 1990, S. 71–174 und 203–273; Stanisław Czerep, II Brygada Legionów Polskich [Die II. Brigade der Polnischen Legionen]. Warszawa 1990; Damian Szymczak, Die
Rolle des „militärischen Faktors“ im österreichisch-deutschen Konflikt in der polnischen Frage während des Ersten Weltkrieges, in: Heeresgeschichtliches Museum Wien (Hg.), Österreichisch-polnische
militärische Beziehungen im 20. Jahrhundert. Wien 2010, S. 51–66.
Unter dem sinkenden Stern der Habsburger
Zusammenfassung
Die oben beschriebenen Aspekte der Ostfronterfahrung hatten eine negative Wirkung
auf die Moral der polnischen k.u.k. Soldaten und schwächten oder lösten die psychischen Bande, die sie zu Beginn des Großen Krieges zum Staat gehabt hatten, sodass
dieser bei seinen formal Untergebenen jäh seine bisherige Legitimität verlor. Dies führte
zu einer Radikalisierung der Einstellungen.
Aus der Tatsache, dass die polnischen Soldaten in den Armeen der Teilungsmächte
loyal ihre Pflicht erfüllen, lasse sich nicht ableiten, dass man sie für die nationalen Ideen dieser Staaten gewinnen könne, schrieb in einem Memorandum für das preußische
Ministerium des Innern im November 1915 der Polen-Kenner und langjährige Verwaltungsbeamte der Provinz Posen von Hellmann. Die polnischen Soldaten befänden sich
einerseits in einer Zwangslage, andererseits erscheine ihnen die Teilnahme am Krieg als
eine Möglichkeit, die eigenen nationalen Ideale zu verwirklichen. Dies treffe vor allem
auf die gebildeten Polen zu.78 Diese Einschätzung kann ich nur teilen.
Und was war mit den ungebildeten Polen? Ich bin versucht, zu behaupten, dass
der brudermörderische Charakter der Kämpfe an der Ostfront, die größtenteils auf polnischem beziehungsweise von den Polen beanspruchtem Boden ausgetragen wurden,
auch auf sie einen enormen Einfluss hatte. Das Aufeinandertreffen mit Landsleuten, die
auf der anderen Seite der Front kämpften, ließ nach dem Sinn des Krieges fragen, aber
auch nach dem eigenen Verhältnis zu ihm. Dabei wurden die Grenzen zwischen „wir“
und „sie“ neu festgelegt und Begriffe wie „Vaterland“, „Nation“ und „Patriotismus“
umdefiniert. Dies führte zwangsläufig zu einer Stärkung des nationalen Bewusstseins
der polnischen Soldaten, selbst bei denjenigen, die es bisher vermieden hatten, sich mit
ethnischen Kategorien zu identifizieren. Vertieft wurde dies durch die feindliche Propaganda, unter anderem durch die an die Polen gerichteten Flugblätter, die über der Front
abgeworfen wurden.79
Dieser Einstellungswechsel, der eine Folge der Ostfronterfahrung war, bedeutete nicht automatisch, dass man bereit war, sich aktiv für die Unabhängigkeit Polens
einzusetzen. Das Verhalten wurde nämlich vorrangig durch den Selbsterhaltungstrieb
(den Überlebenswillen, die extreme Kriegsmüdigkeit) bestimmt sowie durch die über
den Herbst 1918 hinaus bestehenden österreichisch-ungarischen politisch-militärischen
Strukturen. Davon zeugt allein schon die Tatsache, dass die Ende Oktober, Anfang November 1918 zurückkehrenden galizischen k.u.k. Regimenter sich sofort auflösten, obwohl sie von den neuen Machthabern als Einheiten der polnischen Armee anerkannt
78 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem, Rep. 77, Tit. 863a, Nr. 6, Ministerium des Innern. Preußische Polenpolitik. Verhalten der Polen im Kriege 1914/18, k. 375f.
79 Eine große Sammlung solcher Flugblätter befindet sich z.B. im Staatsarchiv Krakau, Zweigstelle
Tarnów, Sammlung Nr. 1, Akten der Stadt Tarnów, Sign. MT-47. In einem Flugblatt vom Juli 1916
lesen wir: „Soldaten aus Galizien! Der größere Teil eurer schönen Heimat wurde schon von der mächtigen russischen Armee besetzt, die ihren Siegeszug fortsetzt und 270.000 Österreicher gefangen genommen hat. Euer Land ist bereits Teil des großen Russlands! Wozu also kämpfen und sterben für
das verhasste Österreich? Kommt zu uns, kommt, wir warten mit offenen Armen auf euch. Kommt,
Brüder, kommt. Wir schicken euch zurück zu euren Gehöften, wir geben euch euren Familien zurück,
von denen ihr schon so lange getrennt seid.“
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154
Piotr Szlanta
wurden80 und damals der Kampf um die polnischen Grenzen begann, unter anderem
der Krieg mit der Ukraine um Lemberg und Ostgalizien. Jędrzej Moraczewski schrieb
über diese Tage: „Inzwischen strömten aus allen Richtungen polnische Einheiten der
ehemals österreichischen Armee in Italien, der Ukraine und Polen ins Land. […] Sobald
der Soldat galizischen Boden erreichte, ließ er seine Einheit zurück und eilte nach Hause. Die eigenmächtige, wilde Demobilisierung überflutete das ganze Land mit Banden
von Soldaten, die auf gut Glück nach Hause hasteten und unterwegs Städte und Dörfer
ausraubten. […] Das Chaos, das in Galizien herrschte, war unbeschreiblich.“81
Deutsch von Andreas Volk
„Polnisches Augusterlebnis“. Soldaten des 13. Infanterieregiments Krakau präsentieren vor
dem Auf­bruch an die Front ein polnisches Wappen mit der Aufschrift „Gegen die Moskowiter“,
­August 1914 (Jan Dąbrowski, Wielka Wojna 1914–1918. Warszawa 1929, S. 137).
80 Przeniosło, Narodziny niepodległości, S. 104–115; Orkan, Drogą czwartaków, S. 172f.; Baczkowski,
Żołnierze polscy, S. 28–31.
81 E. K., Przewrót w Polsce, S. 15–16.
Unter dem sinkenden Stern der Habsburger
„Den Bruder erkennt man auf dem
Schlachtfeld“. Ansichtskarte von
1915, die den brudermörderischen
Aspekt des Ersten Weltkriegs aus
polnischer Perspektive zeigt (zeitgenössische Ansichtskarte).
Eine k.u.k. Artilleriebatterie durchquert einen sumpfigen Flussarm
des Dunajec, Frühling 1915 (The
Times History of the War, Vol. 4.
London 1915, S. 414).
155
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Piotr Szlanta
Die österreichisch-ungarische Kavallerie reitet
in das besetzte Lublin in Russisch-Polen ein,
Sommer 1915 (Der Völkerkrieg. Eine Chronik­
der Ereignisse seit dem 1. Juli 1914, Bd. 9.
Stuttgart o. J., Fotoeinlage zw. S. 140 und 141).
Grabstein eines Zivilkutschers in der Ortschaft
Dębno bei Tarnów (Piotr Szlanta).
Nervenschlacht
„Hysterie“, „Trauma“ und „Neurosen“ am Beispiel der Ostfront 1914–1918
Hannes Leidinger, Verena Moritz
Behauptungen
„Im Kriege nimmt die Zahl der Neurosen und der Selbstmorde ab. Das stellt den ersten
Hinweis auf die Richtigkeit jener These dar, die wir in diesen Ausführungen herausarbeiten wollen: Daß nämlich Neurose und Suicid zusammengehören, insoferne, als der
Selbstmord den Abschluß einer neurotischen Entwicklung darstellt. […] Gerade die
Neurose aber wird in Kriegszeiten bei vielen abgeschwächt oder gar zum Verschwinden
gebracht. Es ist eine alte Erfahrungstatsache, dass sich die Neurotiker, wenn sie einrücken müssen, subjektiv besser fühlen. Die Verantwortung ist dann von ihnen genommen,
sie haben zu tun, was man ihnen befiehlt, können sich auf den ‚Zwang‘ berufen und so
allen Entscheidungs- und Entschließungsschwierigkeiten ausweichen.“1
Diese, speziell auf die Entwicklungen von 1914 bis 1918 bezogenen Ausführungen
des österreichischen Neurologen und Psychiaters Erwin Ringel stammen aus dem Jahr
1953 und müssen mit einiger Skepsis vermerkt werden. Sein Versuch, mittels älterer
Fachliteratur auch statistisch ein Sinken der „Lebensmüdigkeiten“ während des „blutigen Kräftemessens“ feststellen zu können, beruht auf zweifelhaften Erhebungsmethoden. Bei genauerer Betrachtung lieferten viele quantitative Untersuchungen widersprüchliche Resultate, einmal abgesehen von der Tatsache, dass die hierfür notwendige
Datenbasis äußert lückenhaft blieb. Seitens der Behörden mangelte es nicht bloß an
Sorgfalt, sondern etwa im Fall der Habsburgerarmee bisweilen auch an echtem Interesse. Zusammenstellungen über die Mortalität der Mannschaft und ihre Ursachen sollten
laut k.u.k. Kriegministerium zumindest gegen Ende des „Massenschlachtens“ unter anderem keine Zahlen über „Selbstmorde“ oder „Verunglückungen mit tödlichem Ausgange“ enthalten.2
Abgesehen von der bewussten Missachtung durch die Heeresverwaltung war die
Registrierung von Suiziden vor allem auf den Kampfschauplätzen zudem kaum zu be1
2
Erwin Ringel, Der Selbstmord. Abschluß einer krankhaften psychischen Entwicklung. Wien – Düsseldorf 1953, S. 2f.
Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv (ÖStA, KA), Kriegsministerium/Abt. 14, 1917, Karton
2254, Zl. 42–33 v. 2.1.1918.
158
Hannes Leidinger, Verena Moritz
werkstelligen. Wer behielt den Überblick im Verlauf der Gefechte? Und wer vermochte
zwischen einem „schneidigen Angriff“ und der „bewussten Todessuche“ im gegnerischen Feuer zu unterscheiden? Durchaus plausibel erscheinende Theorien über die „Absorption“ des männlichen „Destruktionspotenzials“, das sich nach ärztlichen Befunden
in Friedenszeiten häufiger als bei den Frauen in „vollzogenen Selbsttötungen“ äußerte,
bleiben solcherart Spekulation.3
Erwin Ringel, der davon sprach, dass „es der Krieg dem Manne“ gestatte, seine
„Aggression“ auszuleben4, ignorierte aber auch medizinisches Fachwissen, das hinsichtlich der Nervenerkrankungen grundsätzlich zu konträren Auffassungen gelangte.
Die „Wiener Medizinische Wochenschrift“ konstatierte immerhin 1915 in einer Kurznotiz, dass zumindest bezüglich „schwerer Psychosen chronischen Charakters“ keine
„Anhaltspunkte“ für veränderte „Beobachtungen“ als „Konsequenz des Waffengangs“
vorlägen.5 Völlig im Widerspruch zu Ringels Urteil standen überdies Abhandlungen in
Fachmagazinen, die im darauffolgenden Jahr zu der Überzeugung gelangten, dass die
„im und durch den Krieg nervös Erkrankten“ schon „wegen ihrer großen Zahl“ Gegenstand mehrerer Fachdebatten seien.6 1921 resümierte diesbezüglich die deutsche
„Monatsschrift fuer Psychiatrie und Neurologie“: „Der Weltkrieg, der so tief und vielgestaltig in die Lebensverhältnisse des einzelnen eingriff, musste auf den körperlichen
und geistigen Gesundheitszustand des ganzen deutschen Volkes in weitgehendem Maße
seinen Einfluß ausüben. […] Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet sind die Zahlen
der Hysterie geradezu erschreckend angewachsen.“7
Definitionsversuche
Schon angesichts dieser Stellungnahmen wird deutlich, dass sich selbst Experten sowohl während als auch nach der „europäischen Urkatastrophe“ mit einem einigermaßen
diffusen Wortschatz der Problematik näherten. Der Fachwelt blieb dieser Mangel allerdings nicht lange verborgen. „Ist es nicht möglich, mit neuen Fällen“ den Meinungskontrahenten „zu belehren, gehen die Auffassungen aneinander vorbei, dann scheint die
Zeit gekommen, durch Schärfung der Kritik, durch bessere Fassung und Einengung von
Begriffen, Vereinbarung über Voraussetzungen, Vereinheitlichung der Sprache, Brücken
für die Verständigung zu schaffen“, verlangte in diesem Zusammenhang Emil Raimann
1916 in der „Wiener Medizinischen Wochenschrift“.8
Die Aufforderung erfolgte vor dem Hintergrund eines regen wissenschaftlichen Meinungsaustausches. Der Berliner Neurologe Hermann Oppenheim plädierte dabei für die
3
4
5
6
7
8
Hannes Leidinger, Die BeDeutung der SelbstAuslöschung. Aspekte der Suizidproblematik in Österreich von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Zweiten Republik. Innsbruck – Wien – Bozen 2012,
S. 183–187.
Ringel, Der Selbstmord, S. 2.
Wiener Medizinische Wochenschrift. Nr. 30, 1915, S. 1157.
Ebd., Nr. 25, 1916, S. 944.
Zit. nach Julia Barbara Köhne, Kriegshysteriker. Strategische Bilder und mediale Techniken militärpsychiatrischen Wissens (1914–1920). Husum 2009, S. 39.
Emil Raimann, Über Neurosen im Kriege, in: Wiener Medizinische Wochenschrift. Nr. 36, 1916,
S. 1364–1367, hier: S. 1364.
Nervenschlacht
Untergliederung der „Verletzungen“. Die vor 1914 hauptsächlich bei Männern aus den
Bildungs- und Oberschichten konstatierte Anspannung in Form der „Neurasthenie“, ein
Terminus, der angesichts seiner Ungenauigkeit allerdings bereits in Verruf geriet, wollte er
von der bislang schwerpunktmäßig bei Frauen diagnostizierten „Hysterie“ trennen, ebenso
andere „selbständige Affektionen“ wie den „Tic“. Unter diesen verschiedenen „Gruppen
von Neurosen“ konzentrierte sich Oppenheim vornehmlich auf jene Phänomene, die sich
„im Gefolge eines Traumas“ entwickeln, das die „psychische und mechanische Erschütterung“ mit einschließe. „Die psycho-traumatische Ätiologie schafft nicht nur psychische
Krankheitsbilder“, ergänzte demgemäß Oppenheim, der sich allerdings diesbezüglich insbesondere für die „Schreckneurose“ eine schärfere Begriffsbestimmung wünschte.9
Eine auch von ihm angestrebte Wiederherstellung der „Wehrkraft“ veranlasste den
österreichischen Kollegen Emil Redlich hingegen dazu, von der Diagnose einer „traumatischen Neurose“ abzuraten, „weil“, so seine Begründung, mit ihr „vielfach ganz irrige
Vorstellungen über die Schwere, selbst Unheilbarkeit des Leidens verknüpft werden“.10
Obwohl fast alle Nervenärzte auf die Fronttauglichkeit der Soldaten abzielten, gelangten sie bei der Beschreibung der Leiden zu keiner gemeinsamen Auffassung. Gegen
Oppenheim gerichtet, erklärte Redlich, beim „Zustandekommen“ von „nervösen Symptomen“ gehe es „in erster Linie“ um „psychische Momente“11, während der Hamburger
Mediziner Max Nonne im Unterschied zur „traumatischen Neurose“ zu bedenken gab,
dass die „Auffassung von einer mechanischen Erschütterung der peripheren Nerven und
von da ausgehendem Reiz auf die zerebralen oder spinalen Zentren“ sich mindestens
„nicht beweisen und nicht bindend widerlegen“ lasse.12
Darauf basierten zudem die entsprechenden Überlegungen von Emil Raimann und
anderen Mitgliedern des Wiener Vereines für Psychiatrie und Neurologie. Raimann trat
dann auch mit einer eigenen Veröffentlichung hervor, in der er zunächst den Ausdruck
„psychogen“, insbesondere in Verbindung mit „Schockerlebnissen“, behandelte. Dieser,
notierte er, werde erstens als „primäre unmittelbare Wirkung einer Gemütserschütterung auf das Nervensystem nach physiologisch-biologischen Gesetzen“ und zweitens
als „Verarbeitung eines erlittenen Traumas nach psychologischen Gesetzen“ verstanden. In weiterer Folge auf der Suche nach bislang mit den „derzeitigen Mitteln“ nicht
„nachweisbaren Veränderungen an den Geweben des Organismus“, war Emil Raimann
dann vor allem um Abgrenzung von Hermann Oppenheim bemüht. Ihm könne er, wie er
schrieb, „nicht folgen, wenn er gar eine Dreiteilung“ vorschlage und neben „seelischen
Effekten“ sowie „dem, was man organisch, d.h. pathologisch-anatomisch verursacht
nennt“, noch einen dritten Faktor einmahne, „eben das, was einer traumatischen Neurose zugrunde liegen soll“.13
Das weite Feld der psychosomatischen Phänomene schied solcherart die Geister.
Professor Erwin Stransky, während des Weltkrieges k.u.k. Stabsarzt und zeitweilig „im
9 Wiener Medizinische Wochenschrift. Nr. 48, 1916, S. 1813f.
10 Ebd., Nr. 25, 1916, S. 944.
11Ebd.
12 Ebd., Nr. 48, 1916, S. 1814.
13 Raimann, Über Neurosen im Kriege, S. 1365f.
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Hannes Leidinger, Verena Moritz
Felde“, ging darauf 1918 ein, als er an „die lebhaften Aussprachen“ über das Thema
„Kriegsneurosen“ beziehungsweise „Granatneurosen“ erinnerte. Schließlich, fügte er
hinzu, war für viele „nicht einzusehen, wie denn ein Trauma von einer Gewalt gleich
der Wegschleuderung durch den Luftdruck einer krepierenden Granate oder Mine oder
gar der Verschüttung durch dieselbe, ganz abgesehen von der dadurch gesetzten gewiss absolut unleugbaren seelischen Gleichgewichtserschütterung, ohne mechanische
Erschütterung des Gehirns und Rückenmarks und ohne deren eventuell auch gröber
greifbare Folgeerscheinungen“ bleiben könne. Unter den Medizinern der Mittelmächte
habe man daher wenigstens eine „physikalisch-funktionelle, molekulare Affektion im
Zentralnervensystem“ beziehungsweise „mikroorganische Veränderungen“, „kleinste
Läsionen“, ins Auge gefasst. „Der erste und bedeutendste, vor allem konsequenteste
Vertreter dieser das Physikalische vor dem Psychischen betonenden Richtung aber ist,
getreu seiner Stellungnahme in der Frage der traumatischen Neurosen des Friedens, Oppenheim“, bemerkte Stransky, der sich als dessen Gegner bezeichnete und „nicht organische“ Theorien befürwortete. Gemeinsam mit Redlich zählte sich „Stabsarzt Stransky“
damit zu einer von Max Nonne angeführten „Mehrzahl der Fachmänner Deutschlands
und Österreichs“.14
Die schwere Zerwürfnisse und persönliche Kränkungen nach sich ziehenden Kontroversen der Experten brachten indes keine Klärung des Streits. „Das schier grenzenlose Land der Hysterie lässt sich von verschiedener Warte her überschauen, lässt sich
auf ungezählten Pfaden durchforsten“, bekannte Stransky noch 1924.15 „Seit zwei Jahrtausenden“ werde die Frage „Was ist Hysterie?“ immer wieder gestellt, konstatierte er
obendrein und regte damit epochenspezifische Betrachtungsweisen implizit an. Wilhelm
Stekel, einer der ersten Mitstreiter Sigmund Freunds, nahm diesen Blickwinkel ansatzweise ein, als er schon 1916 auf die „altbekannte Tatsache“ verwies, „daß alle Zeitereignisse sich zu einem Inhalt der Neurosen und Psychosen umformen“. Demgemäß, setzte
Stekel fort, überrasche es auch nicht, dass Ängste und Befindlichkeiten aller Art mit
dem „großen Waffengang“ verknüpft würden. Er sei ein „wohlfeiler“ Erklärungs- und
Entschuldigungsversuch für vieles, das eigentlich gar nichts mit den gegenwärtigen Geschehnissen zu tun habe: Es gehe „mit den Neurosen wie mit den Preisen der Kaufleute.
Für alle Steigerungen wird der Krieg als willkommener Vorwand genommen“.16
Sich damit von „realem Leiden“ weit entfernend, dienten derartige Darlegungen
immerhin einer spezifischen Tendenz, den „Zeitgeist“ zu erfassen und die medizinischpsychologischen Erklärungsmuster differenzierter zu betrachten. Die Forschung hat sie
jüngst aufgegriffen, wenn es etwa um „das Trauma“ ging, welches im Zuge der Industrialisierung und des „Maschinenkriegs“ nicht zuletzt eine neue technische Gewalt
anzeigte. Dass sich dieses als „körperliche Einschreibung der Überführung in Sprache
und Reflexion“ entzog und mit seinen Ausdrucksformen schwer bestimmbarer Folge14 Erwin Stransky, Krieg und Geistesstörung. Feststellungen und Erwägungen zu diesem Thema vom
Standpunkte angewandter Psychiatrie. Wiesbaden 1918, S. 70f.
15 Zit. nach Köhne, Kriegshysteriker, S. 44.
16 Wilhelm Stekel, Unser Seelenleben im Kriege. Psychologische Betrachtungen eines Nervenarztes.
Berlin 1916, S. 96f. und 100.
Nervenschlacht
erscheinungen den Charakter der „Nachträglichkeit“ oder der „lange nicht verbalisierbaren Erinnerung“ trug, schien auf eine „überzeitliche“, konstante „Größe“ zu verweisen.17 Seit die „American Psychiatric Association“ die „Posttraumatische Belastungsstörung“ (PTSD) 1980 als Erkrankung anerkannte und beschrieb18, bestand die Gefahr,
ein vermeintlich „unwandelbares“ Phänomen auf die Vergangenheit zu projizieren. Der
Medizinhistoriker Hans-Georg Hofer dazu: „Die ‚Trauma Studies‘ zerfallen in unterschiedliche Bereiche mit jeweils unterschiedlichen Vorannahmen, Herangehensweisen,
Begründungszusammenhängen und Vorstellungen, wie Trauma als ‚Explanandum‘ und
‚Explanans‘ zu setzen ist. Darüber hinaus ist es wichtig zu sehen, dass Traumakonzepte
unterschiedlicher wissenschaftlicher Provenienz und Gestalt sein können sowie durch
spezifische historische Entstehungskontexte bedingt sind. Bei einer Annäherung an die
psychischen Folgewirkungen des Ersten Weltkriegs gibt es somit keinen hinreichend
plausiblen Grund, PTSD als privilegiertes analytisches ,Tool‘ zu benutzen. Sinnvoller ist
es, medizinisch-psychiatrische Konzepte als kontingente Kulturleistungen zu verstehen,
die in einem bestimmten historischen Kontext und innerhalb bestimmter wissenschaftlicher Erklärungssysteme erbracht wurden.“19
Unter solchen Bedingungen betont Hofer, dass das „Trauma“ im Sinn Hermann Oppenheims als „traumatische Neurose“, die man von Unfallereignissen der Friedenszeit
vor 1914 kannte und mit der Vorstellung von feinsten Schädigungen des Gehirns, des
Rückenmarks beziehungsweise des Nervensystems verband, immer offener abgelehnt
wurde und dass die Fachwelt bis 1918 eine „Wende zur Hysterie“ vollzog.20 Eine jüngere Generation von Wissenschaftlern arbeitete diesen Sachverhalt heraus, darunter Julia
Köhne, die hinsichtlich der Festlegung verschiedener Symptome zudem schreibt: „Im
Weiteren verwende ich die Begriffe der Kriegshysterie stellvertretend für differenziertere medizinische Begriffe wie […] Psychopathie, Psychose, Neurose, traumatische Neurose, Neurasthenie, Angstzustände, Granatschock und auch für internationale Begriffe
wie ,traumatique de guerre‘, ,war neurosis‘ und ‚shell shock‘. Hysterie ist in der medizinischen Terminologie keineswegs ein Sammelbegriff für die obigen Krankheiten. Er
taucht aber in Verbindung mit allen auf.“21
17 Aleida Assmann,Trauma des Krieges und Literatur, in: Elisabeth Bronfen – Birgit R. Erdle – Sigrid
Weigel (Hg.), Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster. Köln – Weimar
– Wien 1999, S. 95–118, hier: S. 95; Ulrich A. Müller, Wunden der Geschichte. Erinnern und Erinnerung, in: Marianne Leuzinger-Bohleber – Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), „Gedenk und vergiß
– im Abschaum der Geschichte …“ Trauma und Erinnern. Tübingen 2001, S. 87–104, hier: S. 93f.;
Esther Fischer-Homberger, Die traumatische Neurose. Vom somatischen zum sozialen Leiden. Bern
1975.
18 Inka Mülder-Bach, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des
Ersten Weltkrieges. Wien 2000, S. 7–18, hier: S. 8.
19 Hans-Georg Hofer, Gewalterfahrung. „Trauma“ und psychiatrisches Wissen im Umfeld des Ersten
Weltkriegs, in: Helmut Konrad – Gerhard Botz – Stefan Karner – Siegfried Mattl (Hg.), Terror und
Geschichte. Wien – Köln – Weimar 2012, S. 205–221, hier: S. 208f.
20 Ebd., S. 209f.
21 Köhne, Kriegshysteriker, S. 19.
161
162
Hannes Leidinger, Verena Moritz
„Ursachen der Seelenkrise“
Ohne es ganz klar auszusprechen, hatte Erwin Stransky 1918 in seiner Schrift „Krieg
und Geistesstörung“ das ihm zugängliche „Material“ nach „abweichenden Seelenzuständen“ mit verschiedener zeitlicher Erstreckung gegliedert. Unter anderem glaubte er
fast eher beiläufig darauf hinweisen zu müssen, dass ihm bei seinen Untersuchungen oftmals das „Moment der schon früher gegebenen Veranlagung“ unterkam.22 Andere Ärzte,
etwa jene in der Nervenheilanstalt Rosenhügel, gelangten zu vergleichbaren Resultaten.
Im letzten Kriegsjahr attestierten sie Patienten, die als auffallend „neurasthenisch“, „aufgeregt“ und „hysterisch“ beschrieben wurden, wiederholt eine „nervöse Veranlagung“.23
Die Hysterie sei eine „Konstitutionsanomalie“, Krieg und Frieden könnten in diesem
Zusammenhang also nicht unterschieden werden, hieß es 1917 in der „Wiener Medizinischen Wochenschrift“, die kurze Zeit später auch verlautbarte, dass sich beispielsweise die „Kriegsepilepsien der Mehrzahl nach“ schon vorher als „epileptoid veranlagt“
erwiesen hätten.24 Die Befunde entsprachen dabei oftmals den Erwartungshaltungen.
„Hereditätsfaktoren“ wurden im Vorhinein hervorgehoben, in mehreren Heilanstalten
nahmen die Fragen über „erbliche Belastungen“ in den „Vorlagen für die Krankenblätter“ unverhältnismäßig viel Platz ein.25
Größere Aufmerksamkeit schenkte man außerdem den besonderen „psychischen
Rahmenbedingungen“ des „Völkerringens“. „Wir befinden uns jetzt alle in einem Zustande gesteigerter Affektivität. Die soziale Welle der Erregung reißt uns mit“, „verschlingt das Individuum“ und „schafft die Grundlage für Massensuggestion“, schrieb
Wilhelm Stekel 1916.26 Wie sehr das unmittelbar für den Einsatz im Frontgebiet galt,
versuchte Erwin Stransky aufgrund seiner „Ostfronterfahrungen“ zu exemplifizieren:
„Ich selbst habe bei meiner Feuertaufe, einem recht bösen nächtlichen Kosakenüberfall
auf die gerade auf dem Marsche befindliche mobile Sanitätsanstalt, der ich damals zugeteilt war, in einem Hohlwege südöstlich von Lemberg, während des Rückzuges in Ostgalizien Ende August 1914, Gelegenheit gehabt, mich von der Wahrheit dieser psychologischen Gesetze an mir selbst zu überzeugen: die Spannung und Erregung bei Beginn der
Schiesserei und der panikartigen Einwirkung auf einen Teil unserer Sanitätsmannschaft
wich alsbald einer gewissen Ruhe, in der meine Kameraden und ich, ohne an unsere
Deckung auch nur zu denken, ganz kühl über unsere Maßnahmen für den Fall berieten,
dass der Feind uns Ärzte im Nahkampf attackieren wollte; wie dann die Kugeln schon
um unsere Köpfe einschlugen […], war in mir […] keine andere Idee vorherrschend als
die, wie schön es nun eigentlich wäre, so hier einschlafen zu können; nachdem aber dann
die unmittelbare Gefahr sich verzogen hatte, bemächtigte sich meiner freilich eine recht
starke nervöse Erregung: es war jene ,Reaktion‘ nach solchen Zuständen, wie sie auch
von anderen Autoren beschrieben worden ist.“27
22 Stransky, Krieg und Geistesstörung, S. 66.
23 Vgl. etwa: ÖStA, KA, Nervenheilanstalt Rosenhügel, Karton 14, Krankheitsprotokoll Nr. 3192/1918,
Nr. 3195/1918 und Nr. 3224/1918.
24 Wiener Medizinische Wochenschrift. Nr. 22, 1917, S. 982 und Nr. 45, 1917, S. 1996.
25 Köhne, Kriegshysteriker, S. 97.
26 Stekel, Seelenleben im Kriege, S. 1.
27 Stransky, Krieg und Geistesstörung, S. 62.
Nervenschlacht
Obwohl der Einsatz in den vordersten Linien nicht die oft stilisierte Kameradschaft
und „klassenlose Kampfgemeinschaft“ hervorbrachte, einte die Erfahrung des „Angespanntseins“ und der schwankenden Gefühlslage in der Gefechtssituation wenigstens
vorübergehend alle sozialen Schichten. Anders als zahlreiche Ranghöhere und besser
Gebildete aus „feinerem Haus“ hielten „einfache“ Mannschaftsangehörige in ihren zumindest bis 1918 meist nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Aufzeichnungen aber
auch eine ganz „unmilitärische“ Existenzangst fest, welche sie angesichts des „Massensterbens“ an Kapitulation, Flucht oder zumindest ein Zurückweichen denken ließ. Der
Tapeziererlehrling Alexander Hahn notierte beispielweise retrospektiv: „So kam es einmal, bei einem Angriff […], als ich schon einviertel Jahre an der [galizischen] Front war,
da ging es uns sehr schlecht. Es fielen sehr viele. Zum Schluß waren wir nur mehr“ einige wenige Männer „im Schützengraben. Wir wollten auch gerne zurück, aber neben uns
saß ein Leutnant, und der schaffte uns immer wieder an, wie wir schießen mussten.“28
Johann Herz, unehelicher Sohn einer Köchin, vermerkte in seinem Tagebuch, dass er
im Kampf „mit den Russen“ gleichfalls an den Rückmarsch und sogar an die Ankunft
„in der Heimat“ dachte, jedoch nicht mehr glaubte, der „Hölle“ lebend zu entkommen.
„Man sieht nur Tote und Verwundete“, hielt Herz am 30. August 1914 fest, um fortzusetzen: „Nur hie und da sieht man Soldaten zurücklaufen – alle, die noch laufen können.
So bemühte ich mich, auf dem Boden kriechend, nach hinten zu kommen, was mir auch
gelang. Mit Gottes Hilfe erreichte ich eine Deckung […]. Nun eröffneten wir das Feuer
von neuem, was jedoch vom Gegner durch […] Maschinengewehr- und Gewehrfeuer
hundertfach erwidert wurde. Nach und nach verstummt unser Gewehrfeuer. Wir verbleiben einstweilen in der Deckung und warten auf Hilfe, aber vergebens.“29
Auch der „gesündesten Konstitution“ bescheinigten die Mediziner in Anbetracht
des Erlebten eine „verständliche Nervosität“.30 Gefährlich aber seien jene, bei denen
sich schon in Friedenszeiten „neurotische Störungen“ bemerkbar gemacht hätten. Sie
könnten, hieß es, in kurzer Zeit die übrigen Soldaten „infizieren“ und eine „nervöse Epidemie“ auslösen. Nicht ohne Klassendünkel sahen die „bürgerlichen“ Fachleute dabei
auf eine schwache, oft als „weiblich“ und „verführbar“ beschriebene Masse herab, die
es galt, vor „Degenerationen“ zu schützen.31
Unter solchen Umständen deuteten manche auch den zunehmenden Pazifismus, die
soziale Unzufriedenheit und die „revolutionären Gärungen“ als „psychische Zerrüttung“
eines „minderen Teils“ der Kriegsgesellschaft. „Hunderttausende von Frontkämpfern“
hätten „durch Monate und Jahre körperliche und seelische Strapazen ausgehalten und
Leistungen vollbracht“, wie „sie noch kein Heer jemals vollbracht hat“, würdigte der
Tübinger Professor und Generaloberarzt Robert Gaupp rückblickend das Gros der „Feld28 Zit. nach Hannes Leidinger – Verena Moritz (Hg.), In russischer Gefangenschaft. Erlebnisse österreichischer Soldaten im Ersten Weltkrieg. Wien – Köln – Weimar 2008, S. 49.
29 Zit. nach ebd., S. 105.
30 Stransky, Krieg und Geistesstörung, S. 63. Siehe außerdem: Wiener Medizinische Wochenschrift.
Nr. 48, 1916, S. 1814 und Nr. 22, 1917, S. 982.
31 Paul Lerner, An Economy of Memory: Psychiatrists, Veterans and Traumatic Narratives in Weimar
Germany, in: Inka Mülder-Bach (Hg.), Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten
Weltkrieges. Wien 2000, S. 79–103, hier: S. 83.
163
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Hannes Leidinger, Verena Moritz
grauen“, schränkte jedoch ein: Vieles, „was wir in den letzten 2 Kriegsjahren und in den
trüben Zeiten seither erleben mussten, erklärt sich schließlich, wenigstens zum Teile,
aus der neurasthenischen Veränderung des zermürbten und erschöpften, des überreizten
und maßlos erregten Heeres. Die Soldatenrevolte des 6. bis 9. November 1918 ging zwar
nicht von erschöpften und durch Erschöpfung erkrankten Truppen aus; dass sie aber fast
die ganze Armee in wenigen Tagen disziplinlos und widerstandsunfähig machen konnte,
ist doch nur aus der vorangegangenen nervösen Umwandlung eines großen Teiles der
Armee verständlich gewesen“.32
Für manchen österreichischen Facharzt war jedoch nicht erst die letzte Phase des
„Massenschlachtens“ mit „Neurasthenisierungs“-Erscheinungen verbunden. Walter
Fuchs betonte etwa bereits eine „Mobilmachungspsychose“, auch wenn diese vor allem
bei labilen Charakteren, zum Beispiel mit „kongenitaler Entartung“, auftrat.33 Dass das
„psychisch Wurmstichige“ durch ein „Stahlbad ausgemerzt“ oder geheilt werde, wie
von Verfechtern der „Volks- und Rassenhygiene“ angedacht und erhofft, galt hingegen
bald als fragwürdig. „Die in Gefahr sind, die fallen oder geschädigt werden, sind die
Mutigsten und Kräftigsten, die Besten; die ohne Gefahr zu Hause bleiben, am Leben
bleiben, nicht geschädigt werden, sind die für den Kampf ums Dasein Untauglichsten“,
lautete eine „Zeitdiagnose“, der sich viele Mediziner anschlossen.34 In Anlehnung an eugenische Konzepte war von einer „negativen Auslese“ die Rede, von der „Selbstbewahrung des Schwächlings“, wie sie unter anderem der Berliner Neurologe Karl Bonhoeffer
wiederholt beobachtet haben wollte.35
Zwischen der „krankhaften Abweichung“ und der „verständlichen Belastung“ des
„Normalen“ existierte folglich eine „Grauzone“, zumal die Nervosität speziell dann
entschuldigt wurde, wenn sie als Phänomen der „Zeitumstände“ oder des „Kollektivs“
aufgefasst und vom einzelnen Heeresangehörigen „mannhaft ertragen“ wurde. Allein
„die wachsende Sorge um die wirtschaftliche Existenz und das Ergehen der Familie“,
„die körperlichen Anstrengungen in überlangen Märschen, bei großer Hitze und schneidender Kälte, die häufigen Durchnässungen mit ihrem Gefolge an Erkältungskrankheiten“ und „die Unregelmäßigkeiten der Ernährung“ trugen in diesem Kontext laut Robert
Gaupp zur nervlichen „Destabilisierung“ der meisten Soldaten bei36, ein Aspekt, den
Erwin Stransky „Erschöpfungsneurasthenie“ nannte.37
Hinzu kamen die unmittelbaren Fronterlebnisse. Gaupp lieferte dazu eine Aufzählung: Der „oft ganz unzureichende Schlaf im Bewegungskrieg, die andauernden Störungen des Schlafes durch die stetigen und gefährlichen Feuerüberfälle im Stellungskriege“, „die gespannte Erwartung auf die kommenden Einschläge im artilleristischen
32 Robert Gaupp, Schreckneurosen und Neurasthenie, in: Karl Bonhoeffer (Hg.), Geistes- und Nervenkrankheiten. Handbuch der Ärztlichen Erfahrungen im Weltkriege 1914/18. Bd. 4/Teil 1. Leipzig
1922, S. 68–101, hier: S. 88.
33 Wiener Medizinische Wochenschrift. Nr. 30, 1917, S. 1158.
34 Hans-Georg Hofer, Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der
­österreichischen Psychiatrie (1880–1920). Wien – Köln – Weimar 2004, S. 354.
35 Leidinger, Die BeDeutung der SelbstAuslöschung, S. 193f.
36 Gaupp, Schreckneurosen und Neurasthenie, S. 89.
37 Stransky, Krieg und Geistesstörung, S. 63.
Nervenschlacht
Trommelfeuer“, „häufigere leichte Verwundungen mit Blutverlusten“, „der Zwang zu
grauenvollen Kampfmethoden (Flammenwerfer u.a.), der Anblick der zerrissenen und
grässlich entstellten Kampfgenossen, dann der geistige Stumpfsinn des nie endenden
Grabenkrieges mit all seiner monotonen und primitiven Lebensweise“.38
Unter solchen Umständen glaubte Erwin Stransky die besondere Herausforderung
speziell der Militärpersonen als Auslöser für die Entstehung einer „Kriegsseele“ deuten
zu müssen. Die „Psyche des Kriegers“, vermutete er, sei „vielleicht“ durch die permanente „Willensanspannung doch nicht so sehr erschöpfungsanfällig wie jene des Friedensmenschen“. Ungeachtet dessen bemerkte aber auch Stransky eine weite Verbreitung
von „psychischen Störungen“ unter den Heeresangehörigen, unter anderem von „akutester Manie“ im „Granatfeuer“, von „depressiver Erregung in Rückzugssituationen“
oder von „Wahrnehmungs- und Urteilsverfälschungen“. In letzterer Hinsicht wartete er
neuerlich mit eigenen Erfahrungen am galizischen Kampfschauplatz auf. „Wir mussten
damals“, im August 1914, „mit unserem Spital den Rückzug mitmachen; während der
Fahrt auf der Strasse sahen wir vielleicht zweihundert Schritte vor uns, notabene bei
helllichtem Tage, eine kleine Stockung in der Kolonne und daneben ein paar Reiter; und
im Nu flog irgendwo die Kombination auf: ‚Dort vorne stehen schon die Russen und
konfiszieren unsere Fuhrwerke!‘ Dabei war die feindliche Schlachtlinie, wenn auch in
Vorwärtsbewegung, so doch noch etliche Kilometer von uns entfernt, und zwischen uns
und ihr konnte man noch Kolonnen, wenn auch eilig, so doch in Ordnung aus Seiten­
strassen heranfahren sehen, so dass der Unsinn der famosen Kombination handgreiflich
war; aber, wie wir schon früher gelegentlich bei Besprechung der Legendenbildung sagten: Gegen ein seelisches Reagieren, das ans Psychotische grenzt, ist episodisch und
gelegentlich im Felde niemand ganz gefeit!“39
Von solchen „Gemeinschaftserlebnissen“ abgesehen, hatte Stransky aber noch eine
andere „Situationspsychose“ ausgemacht, nämlich den sogenannten „Kriegsknall“, ein
Ausdruck, den er selbst geprägt hatte und folgendermaßen beschrieb: Dabei „handelt es
sich um Ausbrüche sinnlos zornmütiger Erregung übrigens ohne tiefere Bewusstseinstrübung und darum auch ohne wesentlich beeinträchtigte Rückerinnerung […]. So entsinne ich mich eines als Motorfahrer verwendeten einjährig-freiwilligen Unteroffiziers,
der nach einem der ersten schweren Rückzugsgefechte im August 1914 an einer Strassenkreuzung, wo er als Ordonnanzposten aufgestellt war, ganz sinnlos herumbrüllte und
herumschrie, über die ihn umgebenden Personen, aber auch über abwesende ohne Unterschied des Ranges in der ungeheuerlichsten Weise und in gar nicht wiederzugebenden
Worten fluchte […]; zum Glück ward der Erregungszustand von einigen hinzugekommenen Offizieren, die den Mann kannten, richtig erfasst und bewertet und klang, wie ich
später erfuhr, alsbald wieder ab.“40
Nachdem er vorher mittel- und langfristige Phänomene betrachtet hatte, wandte sich
Professor Stransky nunmehr also diversen „Seelenstörungen“ von kurzer Dauer zu. In
diesem Zusammenhang war es ihm zunächst um „Situationspsychosen“ als zeitlich be38 Gaupp, Schreckneurosen und Neurasthenie, S. 89.
39 Stransky, Krieg und Geistesstörung, S. 66f.
40 Ebd., S. 67f.
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Hannes Leidinger, Verena Moritz
grenzte Folgeerscheinungen gegangen, während er daran anschließend „ereignishafte
Auslöser“ verschiedener „Verhaltensauffälligkeiten“ behandelte und dabei hervorhob:
„Unter alldem, was uns an Kriegsneurosen entgegentritt“, stammt „das weitaus meiste“
aus „dem Frontbereich und vor allem aus dem Bereiche der feindlichen Artilleriegeschosswirkung, vornehmlich der Granaten und Minen. Wer kennt nicht die ,Jammergestalten‘, welche in unseren Städten im Hinterlande so gewöhnlich zu sehen sind, die
Leute mit schweren […] Schüttelkrämpfen“.41
Robert Gaupp versuchte diese Phänomene präziser zu fassen. Im Gegensatz zur
Neurasthenie als „nervöse Erschöpfung des von Haus aus gesunden Menschen“ und zu
„allen Formen angeborener, konstitutioneller Nervosität und Psychopathie“ behandelte
er Schreckerlebnisse gesondert, auch wenn, wie er betonte, in dieser Hinsicht sehr viele unterschiedliche Einzelformen existierten und dem „Schreck […] häufig eine Zeit
der körperlichen Schwächung, der seelischen Zermürbung, der angstvollen Erwartung“
vorausgegangen sei.42 Das „Schock-Symptom“, das mit seinen Begleiterscheinungen –
Schütteln, Zittern, Angst, Schwindel, Müdigkeit und Schwäche – bis 1914 des Öfteren
bei Unfällen diagnostiziert worden war und langfristig zur Etablierung des Trauma-Begriffs beitrug43, wollten zahlreiche Ärzte jedoch nach wie vor als „reine“ Konsequenz
„biologisch-physikalischer“, anatomischer beziehungsweise „organischer“ Schäden
verstehen. Von „lupenreinen“ psychologischen Erklärungsmustern, aber auch von Hermann Oppenheims „traumatischer Neurose“ abrückend, suchten solcherart Ärzte in der
Habsburgermonarchie gleichfalls nach den „nervösen Reaktionen auf Drogen unter Einschluss des Nikotins“, nach direkten (Schuss-)Verletzungen des „zentralen und peripheren Nervensystems“ sowie „Schrumpfungsvorgängen in der Umgebung der Nerven“,
nach „schwächlichen Konstitutionen“ und körperlichen Voraussetzungen seelischer
„Invalidität“.44
Verschiedene Kampfschauplätze
Da die Mediziner noch nicht einmal übereinstimmten, ob und in welchem Ausmaß
Fronterlebnisse Verhaltensstörungen und -auffälligkeiten ihrer Patienten hervorriefen,
überrascht es nicht, dass man in den „Krankheitsprotokollen“ nur rudimentäre Angaben
über etwaige Einwirkungen des Kampfgeschehens und speziell der modernen Waffentechnologie findet. In der Wiener Nervenheilanstalt Rosenhügel blieb ein möglicher Zusammenhang nicht ausgeblendet, wurde aber andererseits nicht eingehender behandelt.
Demgemäß sind Erklärungsversuche für „grobes und hysterisches Zittern“, „Muskelzuckungen“ und „Schütteltremor“, Aufgeregtheit, Vergesslichkeit, Migräne, „Lähmungen“
und „Gehstörungen“ wiederholt auf erbliche beziehungsweise konstitutionelle Schwä41 Ebd., S. 69.
42 Gaupp, Schreckneurosen und Neurasthenie, S. 77.
43 Inka Mülder-Bach, Einleitung, in: Dies.: (Hg.), Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch
des Ersten Weltkrieges. Wien 2000, S. 7–18, hier: S. 7.
44 Vgl. Wiener Medizinische Wochenschrift. Nr. 8, 1915, S. 390–393; Nr. 18, 1915, S. 746; Nr. 25, 1916,
S. 944 und Nr. 36, 1916, S. 1366.
Nervenschlacht
chen zurückgeführt, andererseits aber auch regelmäßig mit Erlebnissen „in der Feuerlinie“ und vorrangig mit Granatexplosionen, -erschütterungen und -verschüttungen
verknüpft worden. Präzisere ätiologische Abhandlungen fehlen jedoch zumeist, ebenso
wie der Versuch, die Symptome mit einer bestimmten Kriegsführung in den jeweiligen
Operationsgebieten der Habsburgerarmee in Verbindung zu bringen.45
Schwerpunktmäßig lässt sich allerdings bei nochmaliger Prüfung von Unterlagen
aus dem Jahr 1918 feststellen, dass beispielsweise am Rosenhügel die meisten „Hysterie-Befunde“ nach Einsätzen an der Italienfront erstellt wurden. Lediglich in einem Fall
vermerkten die Ärzte, dass ein „Zitterer“ als Infanterist in Gefechte am galizischen und
rumänischen Kriegsschauplatz verwickelt gewesen war. Darüber hinaus befinden sich
nur in zwei weiteren Akten über „Hysteriker“ Hinweise auf eine Stationierung am Balkan beziehungsweise an der nordöstlichen Grenze der Donaumonarchie.46
Außerhalb Österreich-Ungarns wurde der Zusammenhang zwischen den psychischen
oder psychosomatischen Leiden und jenen Schlachtfeldern, auf denen das „Völkerringen“ in besonderem Maße den Charakter eines industriellen Kräftemessens, eines „Maschinenkrieges“ mit gesteigerter „Vernichtungseffizienz“, annahm, allerdings explizit
thematisiert. In deutschen Fachpublikationen hieß es daher: „Die ungeheure Steigerung
der Kriegstechnik, die furchtbare Zerstörungskraft der modernen Artilleriegeschosse,
das Trommelfeuer, die Gasgranaten, Fliegerbomben, Flammenwerfer und all die anderen Formen überraschender Schädigung aus nächster Nähe und weiter Ferne haben zu
einer Häufung heftigster Schreckwirkungen geführt, wie sie sicher noch kein Krieg auf
der Erde gesehen hat.“47 Geradezu idealtypisch versinnbildlichten sich diese veränderten
Erfahrungen militärischer Gewalt, welche nicht zuletzt auch einen akustischen Schock
im Zuge der dauernden „Belagerung des Ohres“ auslösten, an der Westfront mit ihrer
hohen Konzentration an Mannschaft und Material sowie den besonderen Belastungen
des Graben- und Stellungskrieges. Generaloberarzt Robert Gaupp dazu: „Wir haben bei
uns in Tübingen erstmals zwischen Weihnachten 1914 und Neujahr 1915 eine größere
Zahl von Schreckneurotikern aus dem westlichen Kampfgebiet aufgenommen, die im
Trommelfeuer der Champagneschlacht durch Angst und Schreck überwältigt worden
waren.“48 Solange die Hohenzollernarmee auf dem Vormarsch war, so das Urteil vieler
deutscher Fachleute, habe man keine vergleichbaren Symptome wahrgenommen. „Der
Bewegungskrieg der ersten Monate“, konstatierte folglich ein Kollege Gaupps, „zeitigte
weniger pathologische Schreckwirkungen als der Stellungskrieg mit seinen „andauernden Zwangssituationen ohne Betätigung“.49
K.u.k. Stabsarzt Erwin Stransky vermochte diesen Bewertungen seine eigenen Beobachtungen in Galizien gegenüberzustellen, wobei er in den bereits zitierten Schilderungen
Umfassungsmanöver und „Terrainverluste an der Russenfront“ allerdings bisweilen als
ebenso beklemmendes und daher nervenaufreibendes Erlebnis beschrieb wie das „Weiß45 ÖStA, KA, Nervenheilanstalt Rosenhügel, Karton 14, Krankheitsprotokoll Nr. 3170-3299/1918.
46 Ebd., Krankheitsprotokoll Nr. 3176/1918, 3184/1918 und 3295/1918.
47 Gaupp, Schreckneurosen und Neurasthenie, S. 69.
48 Ebd., S. 69f,
49Ebd.
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Hannes Leidinger, Verena Moritz
bluten im Westen“. Speziell in „Rückzugssituationen“ breitete sich nicht nur seiner Meinung nach eine „Panikstimmung“ aus, die – soweit herrschte Einigkeit – selbst bei „gesunden Individuen vorübergehende psychotische Reaktionen“ erzeugen konnte.50
Gesteigert wurde die psychische Belastung noch durch die Vorstellung eines besonders barbarischen Feindes, Erwartungshaltungen, die in einem „Hygienediskurs“ über
den „verdreckten“, Epidemien verbreitenden und zu „entlausenden“ Osten gipfelten
und gleichzeitig ältere Stereotypien über das „rückständige, despotische und asiatische
Moskowiterreich“ festigten.51 Wilhelm Stekel wandte sich vor diesem Hintergrund dem
oft thematisierten Alkoholkonsum im Zarenimperium zu, um schließlich die dadurch
hervorgerufenen „Psychosen“ beziehungsweise „Geisteskrankheiten“ hervorzuheben.
Bemühungen St. Petersburgs, durch Verordnungen und Maßregelungen der Trunksucht
in den eigenen Reihen Herr zu werden, kommentierte Stekel schließlich 1916 wie folgt:
„Zuverlässige Berichte besagen, dass das Alkoholverbot fast gar nicht mehr beachtet
wird und dass sich die Zahl der Betrunkenen in den Städten auffallend steigert. Erschreckend groß war“ außerdem „im russischen Heere, besonders unter den Offizieren, die
Zahl der Paralytiker. Viele Offiziere rückten schon krank ein, und ihr Leiden wurde erst
im Feldzuge festgestellt, nachdem sie sich durch allerlei Torheiten und Grausamkeiten
bemerkbar gemacht hatten. Es ist immer zu berücksichtigten, dass raffinierte Grausamkeiten meist von Geisteskranken begangen werden. Viele unglaubliche Vorkommnisse,
von denen wir mit Entsetzen vernommen haben, werden dadurch verständlich und dürfen keineswegs der Gesamtheit angerechnet werden.“52
Stekel sah offensichtlich die Gefahr einer Verallgemeinerung, welche durch die
„Gräuelpropaganda“ der Streitparteien noch erhöht wurde. Im Hohenzollerreich machten vor allem Geschichten über die „Kriegerkaste“ der Kosaken die Runde. In Ostpreußen seien sie für ungeheure Übergriffe verantwortlich gewesen. Von „Mordbrennern“
und „Galgenvögeln“ war die Rede, von rücksichtslosen „Steppenreitern“, die ihren Opfern Hände und Beine abgehackt, Nasen und Ohren abgeschnitten hätten. Eine eigene
bayerische Untersuchungskommission gelangte zwar noch im Herbst 1914 zu der Überzeugung, dass die gemeldeten Verwüstungen und Verstümmelungen „auf Unwahrheit
beruhten“. Sowohl die deutsche als auch die österreichisch-ungarische Öffentlichkeit
zeigte sich jedoch zunächst weiterhin verängstigt, zumal die zarischen Propagandisten
Öl ins Feuer gossen und von „ihren Kavalleristen“ behaupteten, Dutzende Gegner gefangen genommen oder mit Lanzen aufgespießt zu haben.53
50 Stransky, Krieg und Geistesstörung, S. 66.
51 Wolfgang U. Eckart, Aesculap in the Trenches: Aspects of German Medicine in the First World War,
in: Bernd Hüppauf (Hg.), War, Violence and the Modern Condition. Berlin – New York 1997, S. 177–
193, hier: S. 182; Peter Hoeres, Die Slawen. Perzeptionen des Kriegsgegners bei den Mittelmächten.
Selbst- und Feindbild, in: Gerhard P. Groß (Hg.), Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis,
Wirkung, Nachwirkung. Paderborn – München – Wien – Zürich 2006, S. 179–200; Hannes Leidinger
– Verena Moritz, Russisches Wien. Begegnungen aus vier Jahrhunderten. Wien – Köln – Weimar
2004, S. 23–30.
52 Stekel, Unser Seelenleben im Kriege, S. 83f.
53 Matthias Uhl, Die Kosaken im Ersten Weltkrieg 1914–1917, in: Harald Stadler – Rolf Steininger –
Karl C. Berger (Hg.), Die Kosaken im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Innsbruck – Wien – Bozen,
S. 69–91, hier: S. 74f. und S. 78–81.
Nervenschlacht
Soldaten der Mittelmächte, die sich den Russen ergeben mussten, trugen ihrerseits
zur Verstärkung der Feindbilder bei. Noch Jahrzehnte später nahmen etwa deutsche und
österreichische Offiziere in Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft darauf Bezug.
Die vereinzelt verfassten Memoiren von Mannschaftsangehörigen wichen dabei nicht
von den Eindrücken der Vorgesetzten ab, wie etwa die in hohem Alter entstandenen Aufzeichnungen des Kleinhäuslersohnes und Schlosserlehrlings Julius Schaidl bestätigen.
„Wir mussten“, notierte Schaidl, „die Verwundeten mitschleppen. Ich selbst hatte nach
einer Verletzung am 15. November 1914 einen geschwollenen Fuß, der durch die Strapazen und die Kälte nicht heilen wollte. Ich schrie den berittenen Kosaken an. Immer
nahm er uns Kleine in den letzten Reihen zum Verwundeten-Schleppen. Ich riß meinem
Kameraden die Kappe herunter: ,Schau her, wie wir beide schon schwitzen!‘ Der Kosak
erwiderte kein Wort und ritt einige Reihen nach vor. In der Mitte ging ein großer, starker
Mann, ein Feldwebel. Der Kosak deutete nach hinten und sagte: ,Kamerad, ziehen!‘ Der
Feldwebel legte seinen Mantelkragen um und zeigte seine Sterne und die gelbe Borte.
Daraufhin schlug der Kosak den Feldwebel spitalsreif, und der schrie entsetzlich: ,Au
weh, au weh!‘ Bis Sibirien bekamen viele Kameraden unschuldig Kosakenhiebe …“54
Im Unterschied dazu schien sich bei jenen Staatsangehörigen des Habsburger- und
des Hohenzollerreiches, die nicht in die „Hände der Russen“ fielen, ein grundlegender
Einstellungswandel gegenüber den „Steppenreitern des Zaren“ zu vollziehen. Immer
öfter machte sich hier nun Respekt vor den militärischen Leistungen bemerkbar. Sogar
in der Presse wechselte der Ton in der „Kosaken-Berichterstattung“55, ein Aspekt, der
sich in den ambivalenten Darlegungen von Erwin Stransky widerspiegelt. Manche „urteilsverfälschende Wahrnehmung“ empfand er nämlich als zeitlich begrenztes Phänomen, wenn er schrieb: „Zu Beginn spielten bekanntlich die damals noch einigermaßen
gefürchteten ,Kosaken‘ eine grosse Rolle, wirkten sie selbst auf manches sonst mutiges
Soldatenherz.“56
Keine Erwähnung fanden bei Stransky und seinen Kollegen hingegen die psychischen Belastungen, die sich aufgrund einer Mischung aus unterschiedlichen Erfahrungen – Gefechtssituationen, dem Elend der Verwundeten, aber auch den Gewaltmaßnahmen gegenüber Zivilisten – ergaben. In letzterer Hinsicht ließ sich etwa eine schrittweise
Ethnisierung des „großen Waffengangs“ in Galizien erkennen: Der Nationalitätenstreit,
vor allem zwischen Polen und Ruthenen, erlebte im Gefolge der Militärjustiz einen ungeheuren Brutalisierungsschub. Die Angst vor Kollaborateuren und Spionen des Feindes
äußerte sich in drakonischen Maßnahmen der k.u.k. Armee, in Massendeportationen und
-exekutionen vermeintlich „illoyaler Elemente“ unter den ukrainischen „Untertanen“ der
Habsburger.57 Das Mitansehen eines blutigen Kampfes an mehreren, inneren und äußeren Fronten ging schließlich über die Kräfte des Dichters Georg Trakl. Einer Sanitätsko54
55
56
57
Zit. nach Leidinger – Moritz, In russischer Gefangenschaft, S. 139.
Uhl, Die Kosaken im Ersten Weltkrieg, S. 82.
Stransky, Krieg und Geistesstörung, S. 66.
Dazu: Hannes Leidinger, „Der Einzug des Galgens und des Mordes“. Die parlamentarischen Stellungnahmen polnischer und ruthenischer Reichsratsabgeordneter zu den Massenhinrichtungen in Galizien
1914/15, in: Zeitgeschichte. Jg. 33, H. 5, September/Oktober 2006, S. 235–260.
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lonne zugeteilt, musste er ohne fachärztlichen Beistand an die hundert Schwerverletzte
versorgen. „Einer, den ein Schuß durch die Blase getroffen, jagte sich die erlösende Kugel durch den Kopf.“ Blutige Gehirnteile klebten an der Wand. Trakl wurde schwarz vor
Augen. Er eilte ins Freie, um von einem Inferno ins andere zu geraten. An einer „Gruppe
unheimlich regungslos beisammenstehender Bäume“, so seine Worte, sah er „Gehenkte
baumeln“, „justifizierte Ortsansässige“, getötet von den eigenen österreichisch-ungarischen Truppen. Auf dem Rückmarsch in „tief pessimistischer Stimmung“ versuchte er,
die Waffe gegen sich selbst zu richten. Die Kameraden verhinderten den Suizid, jedoch
nur vorübergehend. Am Morgen des 3. November 1914 starb der „Medikamentenakzessist“ Georg Trakl an einer Überdosis Kokain, die er sich in der vorhergehenden Nacht
verabreicht hatte.58
Behandelnde Ärzte, Bekannte und Freunde mochten im Falle Trakls wohl auch an
seine bereits in Friedenszeiten mehr als fragile „seelische Verfassung“ denken, ein Urteil, das – wie erwähnt – nur zu gerne Verwendung fand, um den Krieg als Einflussfaktor
zu verharmlosen oder überhaupt zu ignorieren. Oft traf es jene Heeresangehörigen, die
sich in Gewahrsam des Feindes befanden. Karl Bonhoeffer hielt es demgemäß für auffallend, dass bei Schwerverletzten und Kriegsgefangenen gleichermaßen die „nervliche
Zerrüttung“ selten oder gar nicht auftrete. Für sie, urteilte Bonhoeffer, sei der Krieg eben
vorbei und eine unmittelbare Lebensbedrohung nicht mehr gegeben.59
Unter solchen Umständen – und unter besonderer Beachtung der „Gefangenenschicksale“ – repräsentierten die Kampfschauplätze „des Ostens“ in der Fachliteratur
nicht jenen Erfahrungsraum, der zur Entstehung der Kriegsneurosen, -psychosen, -hysterien und -traumata in besonderer Weise beitrug. Die Beklemmungen im Rahmen von
Rückzugsoperationen, die Gewaltexzesse gegen eigene und fremde Bürger, die psychischen Konsequenzen der Gräuelpropaganda änderten an diesem Gesamtbild ebenso wenig wie die Tatsache, dass auch das „Kräftemessen“ zwischen den Truppen des Zaren
einerseits und den Kampfverbänden des Habsburger- und Hohenzollerreichs andererseits vorwiegend mit neuer Technologie und nicht selten im Graben- und Stellungskrieg
ausgetragen wurde. Der „modernere Waffengang“ im Westen als Inbegriff des „maschinellen Massentötens“ bildete solcherart einen Kontrast zu den Gebietseroberungen und
Einkreisungsoperation im Osten, die sich unter anderem in der Gefangennahme von
etwa fünf Millionen Feindsoldaten – gegenüber rund zwei Millionen an allen anderen
Fronten – manifestierte.60
58 Leidinger, Die BeDeutung der SelbstAuslöschung, S. 181f.
59 Paul Lerner, Hysterical Men. War, Psychiatry, and the Politics of Trauma in Germany, 1890–1930.
Ithaca – London 2003, S. 67–69.
60 Hannes Leidinger – Verena Moritz, Die Repatriierung der k.u.k. Kriegsgefangenen 1918 bis 1922, in:
politicum 102: 1918 – Der Beginn der Republik, S. 53–56, hier S. 53.
Nervenschlacht
„Therapien“
Auch in der aktuellen Literatur wird konstatiert, dass aus Kriegsgefangenenlagern „keinerlei Fälle von Kriegsneurosen“ bekannt seien. Immerhin heißt es aber einschränkend,
dass „auch dort eine größere Anzahl von Soldaten versammelt war, die schreckliche
Fronterlebnisse zu ertragen gehabt hatte“.61 Angesichts dessen dürfte es angebracht sein,
Symptome der sogenannten „Stacheldrahtkrankheit“ – etwa Gleichgültigkeit, Lethargie und Schlafsucht, gefolgt von Ausbrüchen unbegrenzter Emphase und aufbrausender
Feindseligkeit – nicht mehr nur von den negativen Konsequenzen des Lagerlebens, der
eingeschränkten Bewegungsfreiheit und ständigen Eingliederung in die Gemeinschaft,
herzuleiten, wie das bisher für gewöhnlich geschah.62 Eine Neubewertung erscheint
umso ratsamer, als es schon in den Fachdebatten bis 1918 durchaus nicht an Kritikern
der Diagnose Bonhoeffers fehlte. Sein Widersacher Hermann Oppenheim blieb mit der
Bemerkung, „traumatische Neurosen“ kämen – wenn auch seltener – „in Lazaretten
der Gefangenenlager“ gleichfalls vor63, nämlich nicht allein. Regimentsarzt Martin Pappenheim veröffentlichte zum Beispiel in der „Wiener Medizinischen Wochenschrift“
1916 Ergebnisse seiner Untersuchungen von „Geisteskrankheiten bei kriegsgefangenen
Russen“, die vergleichbare Forschungen unter ihren Schicksalsgenossen aus Belgien
und Frankreich bestätigten. Demzufolge seien auch an den Internierungsorten „geradezu
klassische Fälle von rein hysterischer Mono-, Hemi- und Paraplegie zur Beobachtung“
gekommen. Pappenheim sah des Weiteren „einen Fall von starkem Stottern“, möglicherweise aufgrund eines „Gewehrschusses durch den Nacken mit leichten spinalen Folgeerscheinungen“, sowie einen 36-jährigen Mann, über den er ausführlicher berichtete:
Bei dem Betreffenden „kam es im Anschlusse an eine Granatexplosion, nach welcher
er angeblich zwanzig Minuten bewusstlos gewesen sein soll, […] zu heftigen Kopfschmerzen, Erschwerung der Konzentrationsfähigkeit, Sausen im Kopfe, Schmerzen in
der Herzgegend, Herzklopfen, grübelnden Besorgnissen wegen seines Zustandes, Pulsbeschleunigung, Augenblinzeln und einen Monat später zu hysterischen Krampfanfällen, die seither – fast ein Jahr – sich wiederholen.“64
Das sei allerdings der einzige Fall von Neurose nach Granatschock, hieß es in dem
Bericht: Verschiedene „Formen grotesker Gangstörungen und Zittererscheinungen“ seien nicht wahrgenommen worden.65 Im Unterschied dazu wollten Kollegen Pappenheims
jedoch nicht einmal „leichtere und andersartige Schädigungen des Nervensystems“ gelten lassen. Dr. Julius Flesch erinnerte in einem Artikel aus dem Jahr 1917 vielmehr an
„jene Ärzte“, „die auch in Gefangenenlagern wirkten“ und „reichlich Gelegenheit“ hatten, „Erfahrungen und Informationen darüber zu sammeln, wie raffiniert die organisierte
Militärbefreiungsindustrie die modernste medizinische Errungenschaft in ihren Kreis
61 Hofer, Gewalterfahrung, S. 212.
62 Hannes Leidinger – Verena Moritz, Gefangenschaft, Revolution, Heimkehr. Die Bedeutung der Kriegsgefangenenproblematik für die Geschichte des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa 1917–1920.
Wien – Köln – Weimar 2003, S. 185.
63 Wiener Medizinische Wochenschrift. Nr. 48, 1916, S. 1814.
64 Ebd., Nr. 36, 1916, S. 1402.
65Ebd.
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gezogen und sich ihrer dienstbar gemacht hat. Es ist mir“, so Flesch weiter, „gelungen,
mit einigen russischen intelligenten Feldschern eingehend dieses Thema zu besprechen,
und ich habe von ihnen gehört, dass der Militärbefreiungsschwindel“ – beispielsweise
die „Vortäuschung“ von Fieber oder Hautgeschwüren – „in russischen Kreisen blüht und
gedeiht“.66
Damit war ein Lieblingsthema der Ärzteschaft angesprochen, die „Simulation“67,
der sie im Bund mit der militärischen Führung durchaus im wörtlichen Sinne zu Leibe
rücken wollte, um die „Wehrkraft der Truppe“ zu erhalten und parallel dazu dem Staat
ein Übermaß an Invalidenrenten zu ersparen. Vor dem Hintergrund einer weitverbreiteten Diffamierung „femininer Hysteriker“ als „geldgierige Defraudanten“ verabreichten
in diesem Sinne Mediziner „kalmierende Mittel“ wie Brom und Baldrian „zur Erlangung
der Kampffähigkeit“, während andere „Diäten“ mit „Strafcharakter“ oder noch unbarmherzigere „Therapien“ verordneten. Diverse Disziplinierungsmaßnahmen setzten etwa
auf „Zwang, Einschüchterung und Abschreckung“. Der deutsche Arzt Fritz Kaufmann
riet zur „Überrumpelung“ des „Hysterikers“ mit „Wortsuggestion in Befehlsform“ und
„kräftigen elektrischen Strömen“. Mit deren Hilfe sollten die „verbrauchten Nervenenergien“ der Soldaten wieder „aufgeladen“ werden, eine Vorgehensweise, die laut einer
Fachkonferenz im Jahr 1916 mehrere Todesfälle verursachte.68
Dennoch kamen dadurch auch in der Donaumonarchie weiterhin Patienten ums Leben, beispielsweise in der von Emil Redlich geleiteten Nervenheilanstalt oder in der
neurologischen Abteilung des Kriegsspitals Grinzing. Ihr stand Martin Pappenheim vor,
der zuvor auch bei Kriegsgefangenen wenigstens leichtere psychische Beeinträchtigungen gelten hatte lassen. Im Großen und Ganzen wollte er jedoch gleichfalls das Gros der
Patienten mit „hysterischen Lähmungen“ durch die „faradische Therapie“ frontdiensttauglich machen. Konsequenz war der Suizid eines „mehrfach elektrisierten Soldaten“
im Juli 1917. Als sich einer von dessen Kameraden daraufhin entschloss, das Weite
zu suchen, gelangte die Causa in die Öffentlichkeit. Gegner der „Kaufmann-Methode“
formierten sich, die Sozialdemokratie brachte eine Interpellation im Parlament in Wien
ein. Die Geisteshaltung wissenschaftlicher und militärischer Eliten ließ sich an den
nachfolgenden Reaktionen von Generalstabsarzt Johann Jakob Frisch in seiner Funktion
als Leiter der 14. Abteilung des k.u.k. Kriegsministeriums, der höchsten medizinischen
Heeresbehörde, ablesen. Nach oberflächlicher Inspektion hielt er es für ratsam, „alle
Nervenkranken in einen großen Caisson“ zu „sperren und zwei bis drei Stunden dem
wütenden Trommelfeuer auszusetzen“. Dann „würden rasch alle gesund werden“ und
66 Ebd., Nr. 44, 1917, S. 1940.
67 Diesbezüglich etwa: G. Voss, Zur Frage der Simulation bei Soldaten, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift. 42, 1916, S. 1476f.; J. Flesch, Über Simulation in ärztlicher und über Dissimulation in
versicherungsärztlicher Hinsicht, in: Münchner Medizinische Wochenschrift. 64, 1917, S. 1940–1942;
K. Singer, Allgemeines zur Frage der Simulation, in: Würzburger Abhandlungen aus dem Gesamtgebiet der praktischen Medizin. 16, 1916, S. 139–156. Als besonderer österreichischer Beitrag mit einzelnen Beispielen für vermeintliche „Spitalsneurosen“ und „hysterische Schwindler“: Emil Raimann,
Über Neurosen im Kriege, in: Wiener Medizinische Wochenschrift. 37, 1916, S. 1421–1425.
68 Brigitte Biwald, Von Helden und Krüppeln. Das österreichisch-ungarische Militärsanitätswesen im
Ersten Weltkrieg. Wien 2002, Teil 2, S. 583; Hofer, Nervenschwäche und Krieg, S. 384.
Nervenschlacht
ins Feld abmarschieren, ergänzte Frisch, der die erhobenen Vorwürfe unter anderem
gegen Pappenheim ausgerechnet von Emil Redlich und Julius Wagner-Jauregg – beide
Exponenten der „Elektrotherapie“ – untersuchen ließ.69
Die Angelegenheit hatte im Zuge der Erhebung militärischer Pflichtverletzungen bis
zum Beginn der 1920er Jahre ein juristisches Nachspiel. Zudem musste sich die junge
österreichische Republik weiter mit den rentenrechtlichen Folgen des Ersten Weltkrieges befassen.70 „Neurosen“ und „Traumata“ blieben gerade deshalb allerdings umstrittene Krankheitsbilder beziehungsweise Fachbegriffe. Unverändert stand der Verdacht der
Simulation im Raum.71
Konsequenzen?
Abgewandt hatte man sich vom „gefährlichen Sinusstrom“ hingegen schon in den letzten Kriegsjahren. Ein entsprechender Erlass des k.u.k. Kriegsministeriums vom Oktober 1917 fiel in eine Phase der vermehrten Experten-Kritik an den „Heilpraktiken“
Kaufmanns. Obwohl fast zeitgleich auf einer Konferenz deutscher, österreichischer und
ungarischer Ärzte noch einmal die „triumphalen Erfolge“ der „elektrischen Behandlungsverfahren“ gefeiert wurden, überwog hinter den Kulissen schon der Zweifel. Die
Fachleute der Heeresverwaltung begannen „milderen Therapien“ zuzuneigen.72
Die junge Vereinigung der Psychoanalytiker witterte nun ihre Chance. Neue Kontroversen folgten umgehend. Erwin Stransky bemängelte bereits 1916 in der „Wiener
Medizinischen Wochenschrift“, dass vor allem die ganz jungen Autoren unter den „Jüngern“ von Sigmund Freud „rasch aburteilen“ und beinahe systematisch die „klinischen
Studien missachten“.73 Sich einer durchaus untergriffigen Argumentation befleißigend,
meinte er schließlich 1918: „Eine Richtung ist […] im Kriege ganz besonders schwer
torpediert worden: die ,psychoanalytische‘ mit ihrer Übertreibung des Sexualfaktors;
denn von einer ,erotischen‘ Ätiologie der Kriegsneurosen und -psychosen kann man
doch gewiss ganz und gar nicht sprechen; ein ehemaliger Anhänger dieser Richtung,
Stekel, gibt dies denn auch ganz offen zu. Das wäre immerhin ein, wenn auch bescheidener ,Kriegsgewinn‘.“74
Tatsächlich hatte Wilhelm Stekel in diesem Sinn 1916 festgestellt: „Freud behauptete bekanntlich, die Ursache aller Neurosen sei in der Verdrängung der Sexualtriebe zu
suchen. – Diese Ansicht lässt sich nach den Erfahrungen des Krieges nicht mehr aufrecht
69 Hofer, Nervenschwäche und Krieg, S. 324f. Zur „Elektrotherapie“ auch: Peter Riedesser – Axel
Verderber, „Maschinengewehre hinter der Front“. Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie.
Frankfurt am Main 1996, S. 23–74; Stefan Kaufmann, Kriegführung im Zeitalter technischer Systeme – Zur Maschinisierung militärischer Operationen im Ersten Weltkrieg, in: Militärgeschichtliche
Zeitschrift. 61, 2002, S. 337–367, hier: S. 363.
70 Vgl. K. R. Eissler, Freud und Wagner-Jauregg vor der Kommission zur Erhebung militärischer Pflichtverletzungen. Wien 2007, S. 124.
71 Leidinger, Die BeDeutung der SelbstAuslöschung, S. 206–208.
72 Ebd., S. 196.
73 Erwin Stransky, Kurze Bemerkung zu dem Aufsatze Tausks in den Nummern vom 9. und 16. September l. J., dieser Wochenschrift, in: Wiener Medizinische Wochenschrift. Nr. 42, 1916, S. 1583.
74 Stransky, Krieg und Geistesstörung, S. 76.
173
174
Hannes Leidinger, Verena Moritz
erhalten.“75 Die „Gründerväter“ der Psychoanalyse gingen getrennte Wege, wobei Sigmund Freud nicht bloß seine bisherigen Überlegungen besser strukturierte und damit
in gewisser Weise erst nach 1914 ein „Gedankengebäude“ schuf. Darüber hinaus ging
er angesichts des Massensterbens vielmehr selbst keineswegs von Erklärungsmodellen
aus, welche ausschließlich die „Libido“ und die daraus erwachsenden Enttäuschungen
der „Ichmotive“ fokussierten. „Wer sich die Schrecken des letzten Weltkriegs in Erinnerung ruft“, so seine neue Einschätzung, „wird die Existenz einer primären ‚Aggressionsneigung‘ schwerlich leugnen“. Es sei daher der Schluss zu ziehen, dass es „außer
dem Trieb, die lebende Substanz zu erhalten und zu immer größeren Einheiten zusammenzufassen, einen anderen, ihm gegensätzlichen geben“ müsse, „der diese Einheiten
aufzulösen und in den uranfänglichen, anorganischen Zustand zurückzuführen strebe“.76
Sigmund Freud prägte dafür den „Thanatos-Begriff“, der erstmals in der 1920 erschienenen Arbeit „Jenseits des Lustprinzips“ verwendet, in der Therapie aber kaum beachtet
wurde. Trotz des spekulativen Charakters seiner Überlegungen knüpfte Freud 1930 in
der Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ daran an. „Ich weiß“, hieß es hier, „dass
vielfach die Neigung besteht, alles was an der Liebe gefährlich und feindselig gefunden
wird, lieber einer ursprünglichen Bipolarität ihres eigenen Wesens zuzuschreiben“. Dennoch bestand er fortan auf der Existenz eines Destruktions- oder Todestriebes.77
Während in den Reihen der Psychoanalytiker überdies der Zusammenbruch der
mittel- und osteuropäischen Monarchien als Zerstörung einer auf Reue und Strafe basierenden patriarchalischen Gemeinschaft und als Anbruch einer „vaterlosen Epoche“
begriffen wurde, stellte sich für manchen Beobachter die Frage, wie im Allgemeinen die „Urkatastrophe“ von 1914 bis 1918 auf die folgende Entwicklung einwirkte.
Der „Trauma-Begriff“ fungierte unter derartigen Bedingungen eher als Metapher, als
empirisch schwer fassbare Spätwirkung des „Massenschlachtens“, dessen Erfassung
überhaupt erst rund eine Dekade später erfolgt sei. Eine erste Erinnerungswelle gehe,
so die Argumentation, mit Veröffentlichungen einher, die – wie Freuds Darlegungen
oder auch Martin Heideggers „Sein und Zeit“ – ein „Ende des neuzeitlichen Subjekts
implizit“ postulierten. Das Erleben individueller Kohärenz erlosch für die Vertreter
solcher Interpretationen mit einer Gewalt, die zur „massenhaften Zerstückelung von
Menschenkörpern“ und zu den „psychischen Trümmerfeldern zerbrochener Seelen“
geführt habe.78
Freilich fehlte es nicht an Beispielen, in denen das „vierjährige Inferno“ zwar für
die Beseitigung des „kalkulierenden“ und „zweckrationalen Akteurs“ stand, gleichzeitig
aber das „Ich“ eigentlich erst in „Stahlgewittern“ beziehungsweise durch die „absolute
Selbstaufgabe“ und die „Freiheit zum Tode“ konstituiert wurde.79
75 Stekel, Unser Seelenleben im Kriege, S. 89.
76 Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften. Einleitung
von Alfred Lorenzer und Bernard Görlich. Frankfurt am Main 2009, S. 82.
77 Ebd., S. 83.
78 Toni Tholen, Im Angesicht des Todes. Die Anwesenheit des Ersten Weltkriegs im postmodernen Denken, in: Petra Ernst – Sabine A. Haring – Werner Suppanz (Hg.), Aggression und Katharsis. Der Erste
Weltkrieg im Diskurs der Moderne. Wien 2004, S. 387–401, hier: S. 396f.
79 Ebd., S. 389–393.
Nervenschlacht
Auf der Ebene abstrakt-wissenschaftlicher und metaphorisch-künstlerischer Auseinandersetzungen deuten sich auch die unterschiedlichen Frontwahrnehmungen an: „Im
Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque zeigt den „Krieg an sich“ aus der
Perspektive der „Muschkoten“, die – so der Schriftsteller Ernst Toller in einer Rezension
des Remarque-Buches – „verlaust und verdreckt waren“, die „schossen und erschossen
wurden“.80 Das „menschliche Augenmaß“ der Betroffenen machte den Schützengraben
zum eigentlichen Schauplatz des „großen Waffenganges“. Der „Osten“ hingegen rief
andere Assoziationen hervor. Victor Klemperer betonte hier etwa die „weiten Strecken
siedlungslosen Landes“81, Franz Schauwecker in seinem Werk über „Die deutsche Seele im Weltkriege“ wiederum die „wochenlangen, ununterbrochenen Marschleistungen“,
den „Schlamm der Wegelosigkeit“, die „Ungezieferpein“ und „trostlose Unkultur des
Landes“. Schauwecker dazu resümierend: „Eine Sommerfrische war Russlands Front
nicht, im Vergleich zur Westfront war sie nur weniger lebensgefährlich“.82 Die dortige „Zone der äußersten Zusammenballung aller verfügbaren Destruktivkräfte“ ließ das
„Aufmarsch- und Kampfgebiet im Osten“ bisweilen als „Regenerationsraum verwundeter Westkämpfer“ in den Hintergrund treten. Darüber hinaus führte der Mangel an
kanonisierten Erinnerungen zur Aufsplitterung in unterschiedliche Sichtweisen und
Wahrnehmungen.83 Anders als bei Klemperer und Schauwecker vollzieht beispielsweise
Arnold Zweig in „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ einen Perspektivenwechsel.
Die Repräsentanten der Armeeführung sind es nun, die das „gesamte Gebiet zwischen
Ostsee und Karpaten in sich tragen“. Da sie „auf jeder Karte jedes Materialdepot, jede
Lazarettstation, jede neu zu legende Bahn oder Straße vorausbestimmt“ hatten, „beherrschen“ sie „diese Einzelheiten, wie man auf geistigem Eigentum spielt“.84
In Zweigs Werk wurde die Raumerfahrung gleichzeitig zur Raumkonzeption und
-aneignung, eine „Umstrukturierung“, die bei Ludwig Wittgenstein die Neuordnung
des Gefühls- und Gedankenraumes bedeutete. Wittgenstein, als k.u.k. Freiwilliger „zur
Fahne“ geeilt und im Herbst 1914 vergeblich damit befasst, Georg Trakl im Krakauer
Garnisonspital aufzusuchen, integrierte die „klinischen Erfahrungen mit traumatischen
Schocks“ in Reflexionen über „Schmerzempfindungen“. Seine spätere Kritik an der
Abbildtheorie implizierte dabei eine Distanz zu jenen Traumabegriffen, die „den Differenzierungen von Ursache und Wirkung, Innen und Außen, unbewusst und bewusst
entspringen“. Das einzige „Trauma“ hätte solcherart das eigene sein können: „nämlich
die unerschütterliche Opazität von Selbstbeziehungen, die scheinbar aus allen Sprach80 Zit. nach Verena Moritz – Hannes Leidinger, Die Nacht des Kirpitschnikow. Eine andere Geschichte
des Ersten Weltkrieges. München 2008, S. 252.
81 Matthias Schöning, Moderne Kehrseiten des modernen Krieges. Die Ostfront im Roman der Weimarer
Republik, in: Beate Störtkuhl – Jens Stüben –
­ Tobias Weger (Hg.), Aufbruch und Krise. Das östliche
Europa und die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg. München 2010, S. 523–541, hier: S. 525.
82 Franz Schauwecker, Im Todesrachen. Die deutsche Seele im Weltkriege. Halle an der Saale 1919,
S. 271f.
83 Schöning, Moderne Kehrseiten, S. 526f. und S. 534f.
84 Zit. nach Eva Horn, Erlebnis und Trauma. Die narrative Konstruktion des Ereignisses in Psychiatrie
und Kriegsroman, in: Inka Mülder-Bach (Hg.), Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des
Ersten Weltkrieges. Wien 2000, S. 131–162, hier: S. 152.
175
176
Hannes Leidinger, Verena Moritz
spielen herausfallen“.85 In diese „Einsamkeitstechnik“, diese „Disziplinierung“ und
„Kultivierung“ des „Selbstgesprächs“ der „Fragen und Antworten“, sind Dichotomien
eingeschrieben. Im schweren Artilleriefeuer an der „Russenfront“ wirkte seine „Entrücktheit“, nicht in Deckung zu gehen, auf „seine Kameraden“ gleichermaßen befremdend wie beruhigend. „Unter lauter Larven“ und „den widerlichsten Umständen“, in der
„Feuerlinie“ und angetrieben von dem Wunsch, „noch weiter zu leben“, ist die Trennung
von der ihn umgebenden Welt zugleich die Unmöglichkeit, das Erlebte und Gedachte
mit den eigenen „mathematischen Gedankengängen“ zu verbinden. Diese Empfindung
wird im Gefecht mit der Zarenarmee vertieft: Todesangst und „traumatische Kriegsneurose“ sind „durch sprachliche Darstellung, durch logische Abbildung in einem Modell,
nicht ersetzt“. Sie können „nicht ausgesagt werden, auch nicht durch ein ,Urbild‘“.86
Im „vorsprachlichen“ Phänomen des Schreckens und im schwierigen Prozess der
Verbalisierung des Grauens und des Wunsches nach „Selbstbewahrung“ können im Gegensatz dazu zunächst viele Forscher kaum wissenschaftliches Neuland betreten. Selbst
Sigmund Freud teilte mit zahlreichen anderen Experten die Überzeugung, dass „mit dem
Krieg auch die Kriegsneurotiker“ verschwinden würden. Die Ansichten etwa von Karl
Bonhoeffer in eine psychoanalytische Terminologie kleidend, meinte Freud, dass sich
das „alte Friedens-Ich“ vor der tödlichen Gefahr durch eine „Flucht in die traumatische
Neurose“ schütze. Mit dem Ende der Kampfhandlungen lege dann, so seine Überzeugung, der „innere Feind“ ebenfalls die Waffen nieder.87
Unter solchen Gesichtspunkten nahmen die Mediziner mehrheitlich den Standpunkt
ein, dass den nervlichen Zerrüttungen seit 1914 nichts anhafte, was man nicht bereits
aus der Zeit davor beobachtet habe. Eine „ärztliche Zusammenkunft in Zagreb“ gelangte
daher im November 1916 zu der Auffassung, dass „die Kriegshysterie durch nichts von
der Friedenshysterie“ getrennt sei: Die „unterschiedliche Nomenklatur“ erweise sich
daher als „überflüssig“.88 Erwin Stransky, der bei seinen Wortmeldungen gern auf eigene Erfahrungen an der galizischen Front zurückgriff, bezog sich darauf, wenn er 1918
resümierte: „Wir kennen die Verkettungen von scheinbarer Lähmung mit Krampferscheinungen, namentlich solchen des Schüttelkrampfs und einer gewissen Gliederstarre,
schon genugsam aus unserer Friedens-, namentlich aus der Unfallpraxis. […] Sicher
kann man“ deshalb „eines sagen: nämlich, dass selbst diese so auffälligen Bilder allgesamt nichts für den Krieg Spezifisches an sich haben. Man kann ebenso wenig von einer
Kriegsneurose sui generis reden, wie von einer Kriegspsychose.“89
Anders als etwa Bonhoeffer und Freud vermuteten, verschwanden die „Zitterer“ und
„seelischen Krüppel“ allerdings nicht aus dem Alltag der Nachkriegszeit. In der „Wiener Medizinischen Wochenschrift“ hatten sich Fachkreise diesbezüglich bereits vor der
Waffenruhe pessimistisch gezeigt. „Die Prognose der akuten hysterischen Symptome
85 Thomas Macho, Trauma und Kriegserfahrung in Wittgensteins Philosophie, in: Inka Mülder-Bach
(Hg.), Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkrieges. Wien 2000, S. 46–
62, hier: S. 46, S. 49 und S. 58f.
86 Ebd., S. 52f.
87 Leidinger, Die BeDeutung der SelbstAuslöschung, S. 205.
88 Wiener Medizinische Wochenschrift. Nr. 22, 1917, S. 982.
89 Stransky, Krieg und Geistesstörung, S. 70 und 75f.
Nervenschlacht
ist eine äußerst günstige, die Behandlung des Grundleidens nahezu aussichtslos“, lautete der Befund. Mit Blick auf die „militärischen Erfordernisse“ und die Bemühungen
um die Erhaltung der „Wehrkraft“ ergänzte man aber: „Bei der traumatischen Neurose
hingegen gewinnt der Kranke durch Heilung der Symptome und unter entsprechender
psychischer Beeinflussung wieder sein Selbstvertrauen und wird gesund. Daher ist der
Hysteriker sicher frontdienstuntauglich, der Kranke mit traumatischer Neurose kann sicher wieder an die Front.“90
Realiter waren folglich gerade Gefechtseinwirkungen Anlass, daraus abgeleitete „Nervenleiden“ mit verschiedenen „Therapien“ behandeln zu wollen und dauerhaft
Kriegsgeschädigte als „Tachinierer“ abzustempeln. Es bedurfte einer veränderten Diskussionskultur ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, um Gewalt- und Missbrauchserfahrungen neu zu bewerten.91
Wissenschaftliche Forschungen aber warteten bis dahin mit wenigen Innovationen
auf. Damit blieben die Jahre 1914 bis 1918 vielfach ein Richtmaß, obwohl die damaligen Geschehnisse selbst wiederum weder Zäsuren noch Entwicklungsschübe im Bereich der „Nervenheilkunde“ verursacht hatten: „Die Psychiatrie des Ersten Weltkrieges
generierte“ – wie unter anderem Stransky betont hatte – „kaum neues Wissen […]. Die
Kontroverse über die ,richtige‘ Deutung von Kriegsneurosen verhalf nicht genuin neuen wissenschaftlichen Methoden oder diagnostischen Instrumentarien zum Durchbruch,
sondern reaktivierte, modifizierte und privilegierte“ für gewöhnlich psychiatrische und
psychologische „Wissensbestände, Techniken und Praktiken, die bereits vor dem Krieg
existierten“.92
90 Wiener Medizinische Wochenschrift. Nr. 22, 1917, S. 982.
91 Leidinger, Die BeDeutung der SelbstAuslöschung, S. 209f.
92 Hofer, Gewalterfahrung, S. 210f.
177
Verlust und Zerstörung in der Kriegserfahrung
ungarischer Soldaten an der Ostfront
Éva Kósa
Einleitung
Das Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, die Erfahrungen, die ungarische Soldaten mit
den Themen Verlust und Zerstörung im Ersten Weltkrieg an der Ostfront gemacht haben,
zu untersuchen. Er möchte darin einen Einblick geben, was fünf ausgewählte Autoren zu
Beginn des Krieges beziehungsweise in der ersten Kriegshälfte als Verlust und Zerstörung wahrnahmen. In diesen Selbstzeugnissen beschreiben sie, wie diese Erfahrungen
Teil des Lebens der Soldaten wurden, wie sie mit ihnen allmählich – oder manchmal
auch ganz plötzlich – konfrontiert wurden und wie sie diese begriffen.
Der Begriff der Kriegserfahrung steht in der Forschung zunehmend im Zentrum
der Diskussionen. Selbstzeugnisse, die auch als Grundlage der vorliegenden Analyse
dienten, sind ein wichtiges Quellenmaterial für die Vermittlung von Kriegserfahrungen.
Ein wesentlicher Punkt bei der Auseinandersetzung mit diesem Thema ist das Problem
der Authentizität. Bei den hier gewählten Aspekten Verlust und Zerstörung gestaltet sich
eine Aufarbeitung besonders schwierig, da deren Wahrnehmung sehr subjektiv ist. Das
Ziel ist, zu untersuchen, inwiefern die erzählten Ereignisse den Krieg objektiv dokumentieren. Das Individuum kann zwar von seinem Eingebettetsein in gesellschaftliche
und geschichtliche1 Zusammenhänge nicht getrennt werden, jeder schildert aber seine
Erfahrungen von seinem je eigenen Gesichtspunkt aus. Fritsche2 weist darauf hin, dass
diese subjektive Wahrnehmung von Erfahrungen vom eigenen Verständnis und den eigenen Vorerfahrungen geprägt ist, die wiederum von verschiedenen Faktoren beeinflusst
werden.3 Durch das Wahrnehmen und Erzählen der Kriegserfahrungen vom eigenen
1
2
3
Manfred Jurgensen, Das fiktionale Ich. Untersuchungen zum Tagebuch. Bern–München 1979, S. 12.
Gerd-Walter Fritsche, Bedingungen des individuellen Kriegserlebnisses, in: Peter Knoch (Hg.), Kriegsalltag. Die Rekonstruktion des Kriegsalltags als Aufgabe der historischen Forschung und der Friedenserziehung. Didaktische Reihe der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg.
Stuttgart 1989, S. 114–151.
Wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Themenkomplex verfassten u.a. Nikolaus Buschmann – Horst
Carl (Hg.), Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen
Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg. Krieg in der Geschichte Bd. 9. Paderborn u.a. 2001; Michael
Epkenhans – Stig Förster – Karen Hagemann (Hg.), Militärische Erinnerungskultur. Soldaten im Spie-
180
Éva Kósa
Standpunkt aus gewinnen Selbstzeugnisse einen subjektiv-reflexiven Charakter, der Leser begegnet einer individuellen historischen Existenz.4 Mithilfe der Berichte versucht
der Autor seine Erlebnisse zu objektivieren5 und seinen Erfahrungen somit einen Sinn
zu geben. Die Suche nach dem Sinn des Erfahrenen spielt im Krieg eine wesentliche
Rolle, was auch Vondung betont.6 Die vorliegende Arbeit untersucht, mit welchen Gedanken und Gefühlen die ausgewählten Soldaten von ihrer Erfahrungen mit Verlust und
Zerstörung erzählen und wie sie diese in Worte fassen. Damit soll ein Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs über die Kriegserfahrung von Soldaten geleistet werden.
Die Untersuchung konzentriert sich auf folgende Aspekte von Verlust und Zerstörung: Verlust der früheren Existenz, auch die Zivilbevölkerung betreffend; Verlust von
Kameraden, also Tod und Verwundung; und schließlich die Zerstörung von Siedlungen,
der Landschaft und der Natur.7 Diese Aspekte sind jedoch nicht immer eindeutig voneinander zu trennen. In den hier untersuchten Büchern werden Verlust und Zerstörung
nicht nur per se beschrieben, sondern sie werden auch durch das Aufzeigen von Gegensätzen oder Parallelen deutlich gemacht. So wird zum Beispiel die Zerstörung von
Menschenleben mit jener von Landschaften oder der Natur verglichen. Oder es wird ein
Kontrapunkt gesetzt, indem den ermordeten Menschen oder zerstörten Siedlungen eine
schöne, reiche Landschaft oder die üppige Natur gegenübergestellt wird. Die schlechte
Wetterlage in den Karpaten hilft oft dabei, Gegensätze oder Parallelen hinsichtlich von
Verlust und Zerstörung hervorzuheben, sie übt aber auch Einfluss auf die Erfahrung mit
Verlust und Zerstörung aus.
Über die Soldaten, die hier zu Wort kommen, stehen nur wenige Informationen
zur Verfügung. Emil Benkóczy, ein Offizier im 10er Honvéd Infanterieregiment aus
Miskolc,8 berichtet in seinem Buch „A tizes honvédek Galicziában“ [Die zehner Honvéds
in Galizien],9 wie schon der Titel verrät, von den Kämpfen in Galizien: bei Limanova,10
gel von Biographien, Memoiren und Selbstzeugnissen. Krieg in der Geschichte Bd. 29. Paderborn u.a.
2006; Paul Fussel, Der Einfluss kultureller Paradigmen auf die literarische Wiedergabe traumatischer
Erfahrung, in: Klaus Vondung (Hg.), Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestalt
und symbolischen Deutung der Nationen. Göttingen 1980, S. 175–187.
4 Jurgensen, Das fiktionale Ich, S. 12.
5Ebd.
6 Vgl. Klaus Vondung, Propaganda oder Sinndeutung, in: ders. (Hg.), Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestalt und symbolischen Deutung der Nationen. Göttingen 1980, S. 11–
37.
7 Es hätten auch die Aspekte näher beleuchtet werden können, welche Auswirkung der Krieg auf die
Gesellschaft oder auf die zwischenmenschlichen Beziehungen hatte, darüber ist in den hier behandelten Quellen jedoch nichts zu lesen; es ist aber aus einigen Hinweisen doch zu erahnen. Der Mangel solcher Aspekte steht auch damit in engem Zusammenhang, was am Anfang der Arbeit als Ziel
formuliert wurde; dass sie nämlich auf die Frage nach den ersten Kriegserfahrungen mit Verlust und
Zerstörung beziehungsweise nach den Erfahrungen in der ersten Kriegshälfte eine Antwort geben
möchte. So konnten zum Beispiel die Aspekte des Verlustes der Arbeit, des Nicht-mehr-zurückfindenKönnens ins „Alltagsleben“ oder auch der Zerfall von Familien, in den hier ausgewählten Texten nicht
angesprochen werden.
8 Vgl. Emil Benkóczy, A tizes honvédek Galicziában. [Die zehner Honvéds in Galizien.] Bárd J. és Fia
Könyvnyomda Budapest [1931?], S. 6 und 11.
9 Alle fünf Bücher erschienen auf Ungarisch ohne deutsche Übersetzung. Die zitierten Textteile wurden
von der Verfasserin der Arbeit übersetzt.
10 Bei den Ortsnamen wird die Schreibweise übernommen, die auch im Originaltext steht.
Verlust und Zerstörung in der Kriegserfahrung ungarischer Soldaten an der Ostfront
Gorlice sowie Jaslo im Zeitraum zwischen Herbst 1914 und Frühling 1915. Im Buch
von Imre Berkes, „Vérző falvakon át“ [Durch blutende Dörfer],11 ist über die Kämpfe
in mehreren kleinen Ortschaften in den Karpaten und in Galizien in der Zeit zwischen
März und Dezember 1915 zu lesen. Berkes stammt aus Pécs12 oder der Gegend um
Pécs und war Landsturmoffizier. Lajos Pilisi schreibt in „A kárpáti harcokból“ [Aus den
Karpatenkämpfen]13 über die Zeitspanne zwischen Dezember 1914 und April 1915. Im
Buch von Kázmér Pogány, „A rokitnói mocsarakban“ [In den Rokitnoer Sümpfen],14
ist über Galizien und Wolhynien zu lesen, und zwar im Zeitraum vom Sommer 1915
bis zum März 1916. Bei Aurél Székely erzählt nur der zweite Teil des Buches „A 38as zászló alatt“ [Unter der 38er Fahne]15 von der Ostfront zwischen Januar 1915 und
Frühling 1916, der erste Teil seines Buches handelt vom Krieg in Serbien. Székely war
Hauptmann im 38. k.u.k. Infanterieregiment.16
Verlust der früheren Existenz
Wie in der Einleitung bereits angesprochen, sucht die vorliegende Analyse in den Schriften Aspekte, die auf die ersten Verlusterfahrungen der Soldaten im Krieg hindeuten.
Es ist interessant, wie am Anfang des Buches von Benkóczy und Berkes bereits beim
Abschied von den Daheimgebliebenen die möglichen Verluste im Krieg angesprochen
werden. Während der Fahrt an die Front scheint auch die Landschaft von den Soldaten
Abschied zu nehmen und dabei ist eine gewisse Vorahnung des Verlustes der früheren
Existenz und vielleicht sogar des Lebens zu spüren. Benkóczy beschreibt gleich am Anfang seines Buches pathetisch, wie der einrückende ungarische Soldat seine bisherige
Existenz zurücklässt: „Er verließ den Boden, auf dem er geboren ist, und die Erde, in der
seine Väter vermodern; er verließ sein kleines Stück Boden […]; er verließ sein kleines
11 Vgl. Imre Berkes, Vérző falvakon át. Egy népfölkelő tiszt harctéri emlékeiből. [Durch blutende Dörfer. Aus den Erinnerungen eines Landsturmoffiziers.] A Magyar Kereskedelmi Közlöny Hírlap- és
Könyvkiadó Vállalat Kiadása Budapest [1916?].
12Fünfkirchen.
13 Vgl. Lajos Pilisi, A kárpáti harcokból. [Aus den Karpatenkämpfen.] Athenaeum, [Budapest] [1915?].
14 Vgl. Kázmér Pogány, A rokitnói mocsarakban. [In den Rokitnoer Sümpfen.] „Élet“-Kiadás Budapest
1916.
15 Vgl. Aurél Székely, A 38-as zászló alatt. [Unter der 38er Fahne.] Légrády Testvérek Kiadása Budapest
[1916?].
16 Die hier behandelten Selbstzeugnisse sind alle als Buch erschienen. Sie sind in Kapitel gegliedert und
bereits der Titel weist oft auf den dort beschriebenen Verlust oder die Zerstörung hin. Nur bei Pogány
ist das Erscheinungsjahr des Buches zu finden: 1916. Bei Székely ist unter der dem Buch vorangestellten Einleitung „An den Leser“ das Datum „September 1916“ zu lesen. Bei Berkes und Pilisi ist
kein Erscheinungsjahr angegeben. Das Buch von Benkóczy erschien zwar ebenfalls ohne die Angabe
des Jahres, aber es sind darin einige Verweise darauf zu lesen, dass es ungefähr zehn Jahre nach dem
Krieg publiziert wurde. Vgl. Benkóczy, A tizes, S. 4, 146, 151.
Inwieweit diese Selbstzeugnisse für die Edition überarbeitet wurden beziehungsweise auf den unmittelbar an der Front gemachten Notizen der Autoren beruhen, ist nicht eindeutig zu sagen, es sind
jedoch einige Verweise in den Büchern zu finden, die darauf schließen lassen. Bei Benkóczy ist mehrmals zu lesen, dass er sein Buch anhand seines Kriegstagebuches später schrieb. Vgl. Benkóczy, A tizes, S. 89, 146, 151. Bei Székely erfährt man aus der Einleitung des Buches „An den Leser“, inwiefern
seine Tagebuchaufzeichnungen an der Front für die Publikation überarbeitet wurden. Vgl. Székely, A
38-as, S. 4–6.
181
182
Éva Kósa
rohrbedecktes Haus, das ihm ein glückliches und ruhiges Zuhause war; er verließ seine
Eltern, Geschwister und seine Geliebte […].“17
Beim Abschied von der Heimat, als der Zug durch Ungarn fährt, sieht der Autor
sogar im qualmenden Rauch einer Fabrik einen letzten Gruß. Auch die Soldaten nehmen Abschied von der Heimat: Nachdem sie die ungarische Hymne gesungen haben,
sitzen sie still, mit bewegtem Gemüt und glänzenden Augen nebeneinander.18 Wie schon
erwähnt, werden die Erfahrungen von Verlust und Zerstörung auch durch Gegensätze dargestellt, so zum Beispiel, wenn die Soldaten den Verlust ihrer früheren Existenz
mit einer (zumindest anfänglich vorhandenen) Kriegsbegeisterung kompensieren. Oder
wenn die Autoren die ungarischen Soldaten verehren, mitunter preisen: Wie tapfer und
ehrlich sie alle im Krieg gekämpft und wie heldenhaft sie ihr Leben dem Vaterland geopfert haben.19
Berkes erzählt im ersten Kapitel – aber auch später im Buch – ausführlich, was er
alles zurücklässt und was der Verlust der früheren Existenz für ihn bedeutet. Er denkt
lange darüber nach, was er im Krieg alles verlieren könnte20 und beschreibt detailreich
den Abschied der einrückenden Soldaten.21 Am schwersten fällt es ihnen, ihre Kinder zurückzulassen. Sie bedeuten auch im Krieg eine Hoffnung, sie bedeuten die Zukunft. Für
die Soldaten, die im Krieg sterben, würde es zwar keine Zukunft mehr geben, sie würden
auch ihre Kinder nicht mehr sehen. Aber die Hoffnung beziehungsweise das Bewusstsein dessen, dass ihre Kinder weiterleben werden, spendet ihnen eine Art Trost. Diesen
Gedanken beschreibt Berkes mit Worten, die die Freude an den Kindern gut ausdrücken:
Die Kinder sind „schön“, „rein“ und „gut“, sie haben „weiße Füßchen“ und „singen“ mit
ihren „roten Lippen“.22 Die möglichen Verluste im Krieg werden dadurch hervorgehoben, dass er sich lange auf seine Vergangenheit und Heimat besinnt: Das alles würde er
vielleicht im Krieg verlieren. Er wird von ambivalenten Gefühlen ergriffen. Er möchte
„noch einmal über das Leben, die Vergangenheit, die alten Ostertage, die Schule“, über
die Heimatstadt „und über den ersten Kuss erzählen, weil sie morgen vielleicht keine
Stimme mehr haben würden“.23 Er fügt hinzu, dass sie, die Soldaten, nichts mehr haben
und dass sie niemand mehr sind, weil sie dadurch, dass sie in den Krieg zogen, bereits
alles verloren haben.24 Später möchte er sich gar nicht mehr daran erinnern, er würde
gern alles vergessen können. Ihn plagen auch die Gedanken daran, was er im Leben noch
alles hätte erreichen oder tun können.25
Im Kapitel „Hat hetes férj“ [Sechs Wochen alter Ehemann] erzählt Berkes von einem 25-jährigen Soldaten, der erst seit sechs Wochen verheiratet ist. Diese sechs Wochen sind für ihn der Sinn seines Lebens, das erst jetzt begonnen hat, er will unbedingt
17 Benkóczy, A tizes, S. 3.
18 Vgl. ebd., S. 8.
19 Vgl. Benkóczy, A tizes, S. 4, 146; Székely, A 38-as, S. 118; Berkes, Vérző, S. 147.
20 Vgl. Berkes, Vérző, S. 5.
21 Vgl. ebd., S. 8.
22Ebd.
23 Ebd., S. 16.
24 Vgl. ebd., S. 17.
25 Vgl. ebd., S. 22.
Verlust und Zerstörung in der Kriegserfahrung ungarischer Soldaten an der Ostfront
zurück nach Hause, auch wenn er verwundet oder ein Krüppel sein sollte.26 Dieser junge
Ehemann nimmt die Schrecken und die Verwüstungen des Krieges um ihn herum nicht
wahr, weil er sein Herz zu Hause gelassen hat.27 Beim Anblick eines Eherings am Finger
eines verwundeten oder gefallenen Soldaten denkt der Autor auch oft an die Familie des
Soldaten, aber auch daran, welch Unglück sein eigener Tod über seine Familie zu Hause
bringen würde.28
Verlust und Zerstörung durch den Krieg betrafen natürlich auch die Zivilbevölkerung.
Darüber ist in den für diese Arbeit verwendeten Büchern ebenfalls zu lesen. Benkóczy beschreibt zum Beispiel, wie zu Beginn des Krieges die Menschen nach kurzer Flucht in ihr
Dorf zurückkehren können, er nennt es „ein glückliches Erwachen nach einem schlechten
Traum“.29 Für ein anderes Dorf gibt es kein so glimpfliches Ende, es wird zerstört: „Der
furchtbare Anblick wächst von Augenblick zu Augenblick. Diejenigen, die hier geblieben sind, fliehen Hals über Kopf, in wenigem Nachtkleid, sie stehen weinend, schreiend,
heulend […] herum, andere tragen ihre Kinder in der brennenden Glut oder rennen mit
Pferden, ihren einzigen Kühen auf den Platz, wo das schreckliche Unheil kleiner ist.“30
Benkóczy kommt immer wieder auf Elend und Verwundung der Zivilbevölkerung
zurück. Auch Kinder bleiben vom Krieg nicht verschont: „[…] eine elende, polnische
Frau trägt ihren kleinen Sohn aus dem Haus und bittet uns, ob wir sein Bein verbinden
würden. Das arme Kind wurde von einer Kugel getroffen, die die Mauer des Hauses
durchschlug, während es im Zimmer spielte. […] Es ist der kleinste und unschuldigste
Verwundete dieser Schlacht.“31
Berkes schreibt viel über die Zivilbevölkerung, ihre Vertreibung und die Zerstörung
ihrer Häuser. So schreibt er über die Stadt Stary-Sambor: Nur die ärmste und elendste
Schicht der Bevölkerung ist hier geblieben. Berkes entdeckt auf den Gesichtern der polnischen Bauern kein Zeichen der Freude, keinen freundlichen Gruß, er sieht nur Leid
und Enttäuschung, die sie unter den Russen erfahren haben.32 Einen Juden lässt er über
mehrere Seiten davon erzählen, welche Leiden er und die anderen Juden überstehen
mussten.33 Mit einer Frau führt Berkes ein Gespräch über ihren verstorbenen Ehemann,
der zum Tod verurteilt worden war. Er widmet der Geschichte dieser Frau ein ganzes
Kapitel:34 Sie hatten fünf Kinder, zwei von ihnen starben an der Cholera. Und obwohl sie
keine gute Beziehung zu ihrem Mann hatte – er prügelte sie einige Mal –, trauert sie um
ihn, denn sie konnte sich von ihrem Mann nicht verabschieden und auch seine Leiche
sah sie nicht, nur sein Grab hat sie gefunden. Es gibt kein Kreuz auf seinem Grab und
sie will auch keines aufstellen lassen. Dass sie trauert, sieht man nur an ihrem Tuch. Sie
steht dem Tod ihres Mannes apathisch gegenüber. Sie will weg von diesem Ort, wo sie
26
27
28
29
30
31
32
33
34
Vgl. ebd., S. 113f.
Vgl. ebd., S. 114f.
Vgl. Pilisi, A kárpáti, S. 105f.
Benkóczy, A tizes, S. 12.
Ebd., S. 121.
Ebd., S. 129.
Vgl. Berkes, Vérző, S. 66f.
Vgl. ebd., S. 68–74.
Vgl. ebd., S. 154–160.
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Éva Kósa
die Zerstörung ihres Hauses und die Ermordung ihres Mannes erleiden musste, sie will
dorthin, wo auch ihre Geschwister leben.
Eine andere, „müde, gebrochene Frau“, die neben einem Friedhof wohnt, symbolisiert für Berkes den Krieg. Er weiß selber nicht, wie er auf diesen Gedanken kommt, er
schaut aber der alten Frau, „ihren gelben Falten, ihrem verwelkten Gesicht, ihren spärlichen weißen Haaren, ihrem sich zum Grabe beugenden verkalkten Alter“35 lange nach.
Gegen Ende seines Buches stellt Berkes das Schicksal fliehender Zivilisten, die
gerade an einem Bahnhof angekommen sind, bildhaft dar. Er selbst kann nur schwer
glauben, dass es so etwas wirklich gibt: „Hier sind die Fremden, […] sie sind abgerissen, müde, schmutzig, die meisten sind Greise und Frauen und kleine Kinder mit
verzerrtem Gesicht, mit Falten der Furcht, der Bedrücktheit, der Unsicherheit, mit den
düsteren Erinnerungen von gestern, […] und mit dem grausigen Gespenst von morgen […]. Entsetzlich! […] Diese sind die elendsten Menschen der Bevölkerung, auch
zu Friedenszeiten die letzten, freudlosen Wanderer des irdischen Lebens, die jetzt auch
noch vom Krieg zerzupft, zerzaust wurden. Alte Leute, deren dünne Leiber zittern […],
blasse, dürre Frauengesichter, sie sind bitter und nichtssagend; wunde, hässliche Beine,
die aus Feuerbrand geflohen sind, struppiger Bärte, zerrissene Röcke, verblühte Brüste,
schreiende Säuglinge, es ist wirklich ein entsetzlicher Anblick. […] es werden auch die
im Krieg abgestumpften Nerven davon erschüttert, man begegnet hier dieser rohen, brutalen Wirklichkeit, die man kaum glauben, darüber nur staunen kann.“36
Wie der Krieg die Zivilbevölkerung sowohl körperlich als auch seelisch zugrunde
richtet, ist auch bei Pilisi zu lesen, allerdings nicht so ausführlich wie bei Berkes. So gibt
er die Geschichte von zwei Mädchen wieder, die von russischen Offizieren missbraucht
wurden.37 Auch Székely erzählt davon, dass im galizischen Borjsláv die schönsten Mädchen und Frauen gesammelt und wegtransportiert wurden. Székely hielt früher solche
Nachrichten für Trugbilder, jetzt aber sieht er die Zerstörung mit seinen eigenen Augen.
Er spricht auch von einer Verwüstung der Moral.38
Verwundung und Tod
Die Vorahnung des Todes ist unter den Soldaten immer präsent. Gedanken, wie „wer
weiß, ob es unsere letzte Messe“ oder „ob es unser letzter Brief sein wird“, lassen darauf
schließen.39 Auch eine gewisse Unsicherheit ist unter den Soldaten präsent. Sie fragen
sich, ob der Angriff gelingen wird, „ob es Leben oder Tod geben würde?“40 Székely
sinniert darüber, ob es überhaupt so etwas wie eine Vorahnung des Todes gibt. Ihm
scheint es so etwas zu geben, weil ein Oberstleutnant, der von seinen Kameraden „auffallend sensibel Abschied nimmt“, nach einigen Schritten tot zu Boden fällt.41 Auch der
35
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40
41
Ebd., S. 152.
Ebd., S. 211–213.
Vgl. Pilisi, A kárpáti, S. 93.
Vgl. Székely, A 38-as, S. 108f.
Vgl. Benkóczy, A tizes, S. 12.
Ebd., S. 15.
Vgl. Székely, A 38-as, S. 133.
Verlust und Zerstörung in der Kriegserfahrung ungarischer Soldaten an der Ostfront
Sprachgebrauch drückt die Todesahnung aus. Pilisi nennt die Verwundeten „die Verlobten des Todes“.42 Auf den möglichen Tod verweisen einige Formulierungen im Text,
zum Beispiel: „und die Erde ist blutig“,43 „auf der blutigen Landstraße des Krieges“,44
„die blutige Sendung [einer Schlacht]“.45 Eine Vorahnung des Todes spürt man auch in
der Textstelle von Pogány, in der er über einen Offizier schreibt, wonach dieser vielleicht
„an diejenigen dachte, die er [nach dem Angriff] nicht mehr aus dem Wald zurückholen
würde“.46
Verwundete und Tote werden in den Texten meistens nur kurz erwähnt, manchmal
aber auch ausführlich beschrieben. Die einfachsten Erwähnungen sind folgendermaßen
formuliert: „ohne Verlust“,47 „mit geringem Verlust“,48 „große Verluste“,49 wobei „Verlust“ wahrscheinlich sowohl Verwundete als auch Tote bezeichnet, diese Wörter werden
jedoch nicht genannt. Solche kurzen Sätze kommen aber selten vor. In den meisten Beispielen wird genau benannt, was als „Verlust“ zu verstehen ist: „Schon damals hatten
wir mehrere Verwundete, sogar Tote …“50 Oder: „In der Nacht gab es kleinere Kämpfe.
Vierundfünfzig Verwundete.“51 Bei Székely: „[…] sie ließen viele Verwundete und Tote
im Graben“;52 sowie „Wir haben auch achtzehn Tote […].“53
Die Verwundeten und Toten werden nicht nur oft lediglich kurz erwähnt, sondern es
wird manchmal mit „Erleichterung“ konstatiert, dass der Verwundete nur leichte Verletzungen erlitt oder dass es nur wenige Verwundete gibt: „Zum Glück hatten wir nur einen
Verwundeten, einer unserer Kameraden wurde an seinem Arm leicht verwundet.“54 Oder
„Das Regiment hat sechs Tote, achtzig Verwundete. Gott sei Dank sind die meisten nur
leicht verwundet.“55 Bei Pilisi: „Wir haben nur wenige Verwundete.“56 An einer weiteren Stelle: „Bei uns fiel nur ein Pferd […].“57 Bei Berkes ist in einer Passage darüber zu
lesen, welche großen Verluste die Russen erlitten hatten, das eigene Regiment dagegen
nicht: „[…] die Russen brachten ihre Toten auf mehreren Wagen mit sich. […] wir hatten kaum Verluste.“58 Wenn Székely von der furchtbaren Verwüstung, die das eigene
Regiment anrichtet, erzählt, schreibt er dazu nur vier Sätze: „Unsere Artillerie verwüstet
diese Stelle furchtbar. Die Granaten reißen ganze Felsen vom Berg aus. Sie reißen aber
manchmal auch anderes ab. Vor Kurzem flog der abgerissene rechte Arm eines Russen
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Pilisi, A kárpáti, S. 92.
Ebd., S. 109.
Benkóczy, A tizes, S. 70.
Ebd., S. 119.
Pogány, A rokitnói, S. 15.
Benkóczy, A tizes, S. 14.
Ebd., S. 23.
Ebd., S. 145.
Ebd., S. 22.
Pilisi, A kárpáti, S. 35.
Székely, A 38-as, S. 141.
Ebd., S. 133.
Benkóczy, A tizes, S. 80.
Székely, A 38-as, S. 117.
Pilisi, A kárpáti, S. 40.
Ebd., S. 46.
Berkes, Vérző, S. 130f.
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Éva Kósa
hierher.“59 Später erzählt er von den personellen Verlusten des Regiments ebenfalls nur
kurz, obwohl auch einer seiner Freunde unter den Opfern ist. Er gibt die Zahl der Toten
und Verwundeten an und den Tod seines Freundes erwähnt er nur kurz: „Der Verlust
unseres Regiments: 50 Tote, 110 Verwundete. Ein Kadett fiel, vier Offiziere wurden verwundet. Ich höre mit Entsetzen, dass auch Haltenberger, ein 68er Hauptmann, fiel, mit
dem ich seit Serbien gut befreundet war.“60 Inmitten des Angriffs werden die Verwundeten und Toten oft gar nicht wirklich wahrgenommen, sondern erst nach dessen Ende:
„Wir sehen die Folgen des gestrigen Kampfes erst jetzt klar. Das schrecklichste, echteste
Schlachtfeld zwischen den beiden Schwarmlinien, 30–40 Tote auf einem Haufen. Und
wie viele solcher furchtbaren Haufen es gibt! Mehrere hundert Tote in einer knappen
halben Stunde. Die meisten sind Russen.“61
Pilisi berichtet viel über Verwundete und Tote. So schreibt er über einen Verwundeten, der sich wegen seiner Verletzung schämt und nicht zugeben will, dass er verwundet
wurde.62 An einer weiteren Stelle schreibt er kurz über unbestattete russische Leichen,
Soldaten, die am vorhergehenden Tag noch alle am Leben gewesen waren.63 Obwohl
die Autoren oft nur knappe Beschreibungen der Toten liefern, enthalten diese manchmal
viele Informationen: über die Umstände wie sie starben, über ihre Begräbnisse, über ihre
Familie oder darüber, was für Menschen sie waren.
In den Texten sind auch längere und manchmal grausame Beschreibungen von Verwundeten und Toten zu lesen, so im Kapitel „Borzalmak napja“ [Tag der Schrecken] bei
Benkóczy. Er beschreibt, wie sie am Ort der Schlacht vom vergangenen Tag vorbeimarschieren: Als wäre es nicht die Wahrheit, sondern ein Märchen.64 Es ist für Benkóczy einer der furchtbarsten Augenblicke des Krieges.65 Es geht dabei nicht „einfach“ um Tod,
sondern um eine schreckliche und grausame Verwüstung.66 Er stellt die zerschmetterten
Leichen grausam dar: Sie haben keine menschliche Form mehr, sie sind eine formlose
Masse, die keinen Kopf hat, die Därme quellen heraus und es riecht furchtbar, hier und
dort liegt Gehirnmasse auf dem Boden. Als der Autor in Gehirnmasse tritt, wischt er
sie sich schnell von der Schuhsohle ab, denn er hat das Gefühl, dass sie wie Feuer an
seinem ganzen Körper ist. Zwei anderen Leichen ist der Brustkorb aufgerissen und ihre
Köpfe sind zerschmettert.67 Am Ende dieser Beschreibung erscheint auch der einzelne
Mensch – mit seiner Familie – inmitten des Massensterbens: Benkóczy erzählt hier von
einem Brief eines vermissten russischen Soldaten. Der Autor bringt seinen Lesern diesen russischen Soldaten als Menschen dadurch näher, dass er seinen Namen sowie den
Namen seines Sohnes nennt. Wer sonst, außer seinem kleinen Sohn Vazul und seiner
59
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67
Székely, A 38-as, S. 104.
Ebd., S. 112.
Ebd., S. 170.
Vgl. Pilisi, A kárpáti, S. 81.
Vgl. ebd., S. 14.
Vgl. Benkóczy, A tizes, S. 92.
Vgl. ebd., S. 89.
Vgl. ebd., S. 92–94.
Vgl. ebd., S. 93.
Verlust und Zerstörung in der Kriegserfahrung ungarischer Soldaten an der Ostfront
Frau, kennt ihn, Petrov Vaszilij.68 Als Soldat ist er nur einer der unzähligen Soldaten des
russischen Zaren, aber als Menschen kennt ihn nur seine Familie, als „Einzelner“ ist er
lediglich ihr wichtig.69
Von gefallenen Kameraden werden manchmal auch längere Geschichten erzählt.
Das letzte Kapitel von Berkes, „A népfelkelő utolsó éjszakája“ [Die letzte Nacht des
Landsturms], ist die Erinnerung an einen Toten. Der Autor widmet das ganze Kapitel
diesem Kameraden.70 Obwohl sehr viele Tote zu beklagen sind, denkt Berkes immer
wieder an diesen einen: „Wir haben so viele Tote, mein Gott, wer kann sie alle zählen und sie beweinen, ich denke trotzdem Tag und Nacht nur an einen einzigen Toten
[…].“71 Er beschreibt sehr genau, wer dieser Tote war: seinen Namen, woher er stammte,
wann er einrückte und dass er genau am Heiligen Abend starb. Er erzählt davon, wie
sie sich zum letzten Mal vor seinem Tod trafen: was er machte, was er sagte. Er erzählt
auch, wie er starb: Er ging eine Kuh suchen, die durchgegangen war, er verlief sich und
sank schließlich müde, verschwitzt und durchgefroren in den Schnee und starb. Berkes
schreibt, dass der Soldat sicher an seine Familie, an seine Frau und Kinder gedacht haben wird, bevor er starb.
Im Zusammenhang mit den Toten ist in den Texten auch von Bestattungen, Gräbern
sowie Friedhöfen zu lesen. Dabei handelt es sich manchmal auch nur um kurze Erwähnungen, manchmal aber auch um längere Beschreibungen. Bei Berkes ist ein ganzes
Kapitel einem Friedhof gewidmet: „Magyar temetőben“ [Auf einem ungarischen Friedhof]. Was hier interessant ist, ist, dass Berkes von einer Verordnung über die Pflege von
Soldatengräbern in Galizien erzählt. Diese Verordnung ist deshalb wichtig, weil auf diesem Gebiet, wegen der vielen hier gefallenen ungarischen Soldaten, „ein kleines Stück
Ungarn liegt: Welchen unermesslichen Schatz haben wir in der zerrupften, traurigen
Erde Galiziens begraben“!72
Székely erwähnt, dass jemand ihnen Geschichten zu einigen Gräbern erzählt, er aber
nichts davon niederschreibt.73 Über Gräber und Bestattungen erzählt er meistens auch
sonst nur in einigen wenigen Zeilen.74 Neben diesen kurzen Hinweisen auf Bestattungen widmet er ein ganzes Kapitel diesem Thema: „Temetés a front mögött“ [Bestattung
hinter der Front], in dem er ausführlich erzählt, wie eine Bestattung vor sich geht. Er
berichtet über die Predigt des Feldgeistlichen, der über den Sinn und das Ziel des Sterbens und über den Trost spricht. Er betont, dass die Soldaten als große Helden für ihr
Vaterland kämpften und starben und dass nur ihre Körper, aber nicht ihre Seelen gestorben sind. Székely gibt auch eine kurze Darstellung von der Trauer der Kameraden
beziehungsweise von der Art und Weise, wie sie vom Verstorbenen Abschied nehmen:
Einige weinen und am Ende wird gesungen. Danach schauen sie sich ein Foto an, das sie
beim verstorbenen Soldaten fanden. Auf dem Bild ist der verstorbene Soldat mit seiner
68
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73
74
Die beiden Namen sind hier so geschrieben wie im Originaltext.
Vgl. Benkóczy, A tizes, S. 94.
Vgl. Berkes, Vérző, S. 216–221.
Ebd., S. 216.
Ebd., S. 150.
Vgl. Székely, A 38-as, S. 73.
Vgl. ebd., S. 104, 213, 219.
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Braut zu sehen. In einer späteren Passage, wo Székely kurz über ein Grab schreibt, erzählt er auch von der Trauer eines Angehörigen. Unter den vielen kleinen Gräbern fällt
ihm eines auf, das schön gepflegt ist: „Es ist mit Birken eingehegt und der Sand auf dem
Grab wird jeden Tag eingeebnet. Am kleinen Kreuz steckt ein Tannenzweig, auf dem
Kreuz hängen kleine Heiligenbilder.“ In diesem Grab liegt ein Korporal, dessen Bruder
das Grab so schön pflegt.75 Die Trauer der Angehörigen zu Hause beziehungsweise die
Ehre der gefallenen Soldaten als Helden kommt auch bei Berkes gut zum Vorschein,
wenn er über einen Friedhof schreibt.76 Er listet die Namen der hier begrabenen gefallenen Helden auf. Während er diese ungarischen Namen anschaut, denkt er auch über
die vielen trauernden ungarischen Familien zu Hause nach. Ähnliches ist auch bei Pilisi
zu lesen, der über den Andachtsort der Russen im Ungtal schreibt, wo sie zu Tausenden
begraben liegen.77
In den vorliegenden Texten finden sich auch Informationen über die Auswirkungen
der Erfahrung mit Verwundung und Tod und die damit in Zusammenhang stehenden
Gefühle der Soldaten. Pogány schildert seine Trauer um einen jungen Soldaten: „Wo ich
über den Graben sprang, lag ein toter Soldat darin, jung, mit blondem Schnurrbart, sein
rechter Arm lag auf seiner Brust, seine beiden Knie hatte er zu sich gezogen, als wäre er
geknebelt, und seine offenen Augen starrten Richtung Himmel. Mein Herz tat weh um
ihn.“78 Nach einem Vorstoß berichtet Benkóczy über Verwundete und Tote: Er schreibt,
dass ihre Herzen sich zusammenschnürten und die Tränen ihnen in die Augen traten, als
sie die traurige Nachricht erhielten, dass auch einer ihren lieben Kameraden, ein tapferer
Held, unter den Toten ist. Er betont, dass er ein gutherziger, lieber Kamerad war, den sie
alle bewundert hatten. Benkóczy erzählt hier auch von dessen Bestattung und schreibt,
dass diese „nicht die angenehmsten Gefühle“ in den Soldaten auslöste, weil sie dabei an
ihren eigenen Tod dachten.79
Dass die Soldaten weinen, wenn sie mit toten Kameraden konfrontiert werden, ist
mehrmals Thema. Dort, wo man dem Tod und der Verwüstung begegnet und viele Verwundete herumliegen, weint ein Artillerieoberleutnant, als er diese sieht; ist bei Pilisi zu
lesen.80 An einer weiteren Stelle erzählt Pilisi von einem gefallenen Oberst. Er beschreibt,
wie sich der Todesfall auf die Kameraden auswirkte: Als sie gemeinsam saßen und aßen,
ging ein Foto des Offiziers herum, die Soldaten schauten es sich an, aber keiner sagte ein
Wort, alle waren still. Dann lässt Pilisi einen erzählen, wie der Oberst starb.81
Pilisi bemerkt zum Schreiben über die Kriegserfahrungen, dass es ihm weh tut, über
einen Todesfall zu berichten.82 Er stellt fest, dass man sich auf die Erfahrungen im Krieg
weder seelisch noch körperlich vorbereiten kann, egal, wie viel man vorher vom Krieg
75
76
77
78
79
80
81
82
Vgl. ebd., S. 208.
Vgl. Berkes, Vérző, S. 146–152.
Vgl. Pilisi, A kárpáti, S. 41.
Pogány, A rokitnói, S. 17.
Vgl. Benkóczy, A tizes, S. 78.
Vgl. Pilisi, A kárpáti, S. 17f.
Vgl. ebd., S. 36f.
Vgl. ebd., S. 32.
Verlust und Zerstörung in der Kriegserfahrung ungarischer Soldaten an der Ostfront
gehört hat.83 Nach einem Angriff will er vom Schlachtfeld, vor dem Tod fliehen. Er
muss dabei über russische Leichen laufen. Aber egal wie weit er läuft, er fühlt den Tod
ständig in seiner Nähe. Wenn seine Kameraden ihn später fragen, was er gesehen habe,
antwortet er einfach, dass er den Krieg gesehen hat, „und das nicht zum ersten Mal“. Danach schreibt er über seine Auseinandersetzung mit dem Begriff des Krieges. Er ist der
Meinung, dass „es den Krieg nur in der Mappe, in den Köpfen und im Zimmer gibt; […]
in den Berichten und in den Zeitungen. Den Krieg gibt es nur dort und auf der Wiese, in
den Gräben gibt es nur den Tod.“84
Obwohl die Soldaten ständig mit dem Tod konfrontiert sind, ist der Tod eines Freundes oder eines nahen Bekannten schwer zu begreifen. Wie kann jemand tot sein, mit
dem man sich vor Kurzem noch unterhalten hat?85 Die Feststellung, dass der Autor die
schrecklichen Erfahrungen des Krieges nie würde vergessen können, taucht in den Texten ebenfalls auf.86 Demgegenüber ist auch darüber zu lesen, dass die Soldaten im Kampf
nicht wirklich begreifen können, welche Verluste durch sie verursacht werden, dies wird
ihnen erst im Nachhinein deutlich. Bei Pogány ist zu lesen, dass im Kugelhagel keiner
der Soldaten Angst hatte, als wäre das alles nur ein Spiel gewesen, die Soldaten hörten
nichts, sie „genossen nur die Wonne des Kampfes“.87 Der Autor selbst sah nur aus der
Ferne, dass jemand verwundet wurde.88
Bei der Beschreibung von Todesfällen berichten die Autoren manchmal über den
Toten selbst, was für ein Mensch er war oder in welcher Beziehung er zu ihm selbst
stand. Das folgende Zitat stammt von Pogány: „Soproni wurde von einer Kugel getroffen! […] Papváry wurde vom Mitleid ergriffen. Er hatte diesen Menschen sehr gern. […]
Er war der Vater von zwei kleinen Söhnen, er hatte immer gute Laune und er beklagte
sich nie.“89 Dass die Soldaten für einen gefallenen Kameraden beten, ist in den Texten
auch zu lesen; zum Beispiel bei Pogány, wo ein Soldat sich zu einem Toten niederkniet und betet.90 Einmal findet Pilisi einen Toten im Wald, er kniet nieder. Was er dabei
empfindet, sind Gewissensbisse, weil er ihn nicht wecken kann.91 Über Gewissensbisse
eines Kameraden ist auch bei Pogány zu lesen. Er hat dieses Gefühl, weil viele seiner
Kameraden sterben und er nicht einmal verwundet wird.92 Er würde am liebsten selbst
sterben, weil er Angst hat, welches Leben nach dem Krieg auf ihn wartet.93 Todessehnsucht kommt bei Pogány auch an anderer Stelle vor.94
Bei Pogány gibt es auch Überlegungen darüber, wieso der Tod eigentlich traurig
ist. Auf dem Gesicht eines Toten entdeckt er ein kleines Lächeln und zieht daraus
83
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86
87
88
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90
91
92
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94
Vgl. ebd., S. 61.
Ebd., S. 108.
Vgl. Benkóczy, A tizes, S. 118.
Vgl. ebd., S. 94.
Pogány, A rokitnói, S. 18.
Vgl. ebd.
Ebd., S. 68.
Vgl. ebd., S. 19.
Vgl. Pilisi, A kárpáti, S. 105f.
Vgl. Pogány, A rokitnói, S. 140–142.
Vgl. ebd., S. 148.
Vgl. ebd., S. 7f.
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die Schlussfolgerung, dass der Tod an sich nicht schrecklich ist. Was den Tod traurig
macht, ist der Schmerz, den er in den Hinterbliebenen hinterlässt und das Mitleid,
das er in den Hinterbliebenen mit sich selbst weckt. Den Hinterbliebenen tun der Verlust und das Fehlen eines gewohnten, bekannten Menschen weh.95 Székely berichtet
über eine große Freude, wenn einer, der tot geglaubt wurde, aufwacht. Was er dabei
empfindet bezeichnet er als ein unbeschreibliches Gefühl.96 Die Konfrontation mit
Tod und Zerstörung an der Front, weckt in den Soldaten unterschiedliche Gefühle.
Einmal sind sie schockiert, ein anderes Mal legen sie Gleichgültigkeit an den Tag.
Das Massensterben bringt auch mit sich, dass die Toten schnell vergessen werden.97
So beschreibt Berkes, dass er irgendwann kein Mitleid mehr gegenüber dem Elend
der Bevölkerung empfinden kann. Er sucht nach Gründen für seine Gleichgültigkeit
und Apathie und findet es selbst schrecklich, dass er keine Tränen mehr für diese
Leute übrig hat.98
Auch in Zusammenhang mit Verwundung und Tod wird über die Zivilbevölkerung
beziehungsweise über die Familie der Soldaten geschrieben. Pilisi erzählt an einer Stelle
vom Verlust einer alten Frau: Ihre drei Söhne zogen in den Krieg und der eine fiel vor
Kurzem. Pilisi findet es merkwürdig, dass die Frau nicht weint. Sie begründet es damit,
dass es der Wunsch ihres Sohnes war, dass sie nicht weinen soll, wenn er sterben würde.
Für Pilisi symbolisiert diese alte Frau die Mutter aller in den Krieg gezogenen ungarischen Soldaten.99
In den Texten wird nicht nur das Sterben, sondern auch das Töten, die Ermordung
der Russen durch die ungarischen Soldaten thematisiert. Pilisi verwendet für die Darstellung des ungarischen Angriffs eine bildhafte Sprache: „Die Russenvernichtung läuft mit
gottlos riesigem ungarischem Eifer; unsere Batterie speit den Tod; der Artillerist häuft
den Todeskern hinter den Kanonen; wir kratzen ihnen Tod auf den Leib.“100 Auch bei
einem späteren Angriff hebt er hervor, wie sie die Russen ermorden, die zu Tausenden
fallen: „Kein einziger Russe blieb von der Schwarmlinie am Leben.“101 Auch bei Székely ist darüber zu lesen, dass die Russen sehr viele sind und dass sie leicht die Menschen
opfern können. Er hält es für unbeschreiblich, welche Verluste das Feuer der ungarischen Artillerie verursachte. Dabei bleiben auch die Zivilisten nicht verschont.102
Der Gedanke, dass es nicht die Soldaten selbst sind, die töten, sondern lediglich ihre
Waffen, kommt in den Texten auch vor. So zum Beispiel bei Pogány, der die Verwüstung
durch die Technik beziehungsweise die Waffen allgemein schildert.103
Als Gegensatz zum Morden im Krieg kann die fröhliche Nachricht über die Geburt
eines Kindes zu Hause gesehen werden. Benkóczy erzählt davon, dass einer seiner Ka95 Vgl. ebd., S. 120f.
96 Vgl. Székely, A 38-as, S. 132.
97 Vgl. Berkes, Vérző, S. 5.
98 Vgl. ebd., S. 125f.
99 Vgl. Pilisi, A kárpáti, S. 60f.
100 Ebd., S. 15f.
101 Ebd., S. 67.
102 Vgl. Székely, A 38-as, S. 100f.
103 Vgl. Pogány, A rokitnói, S. 64.
Verlust und Zerstörung in der Kriegserfahrung ungarischer Soldaten an der Ostfront
meraden Post von zu Hause bekommet, und aus dem Brief erfährt er von der Geburt seines Sohnes: Das Kind sehe seinem Vater sehr ähnlich und habe auch den Namen seines
Vaters bekommen: János. Dem Soldaten kommt jedoch gleich ein trauriger Gedanke:
„Vielleicht wird er seinem Sohn nur im Himmel begegnen.“ Er verscheucht aber schnell
diesen Gedanken und erzählt voller Freude und Stolz über die Geburt seines Sohnes. Ein
anderer Brief von zu Hause berichtet ebenfalls über das Leben und die Fruchtbarkeit:
Die Familie bestellte das Feld, die Bäume prangen in Blüten und die Kuh konnten sie
dem Metzger auch verkaufen. Zu Hause ist alles in Ordnung.104
Zerstörung der Siedlungen, der Landschaft und der Natur
Bekes schreibt in seinem Buch sehr viel über verwüstete Siedlungen, wie bereits der Titel „Vérző falvakon át“ [Durch blutende Dörfer] vermuten lässt. Viele seiner Kapiteltitel
sind aussagekräftig und verweisen auf Verwüstungen, wie zum Beispiel schon beim ersten Kapitel: „Rettentő március“ [Schrecklicher März]. Wenn er von zerstörten Dörfern
schreibt, erwähnt er oft auch die Zivilbevölkerung, die in diesen Dörfern wohnt. Im ersten Kapitel erzählt Berkes von einem zerstörten, ausgestorbenen ruthenischen Dorf und
er denkt dabei auch darüber nach, wer aller hier geboren ist, hier gelebt hat und auch hier
gestorben ist.105 In einer anderen Passage schreibt er über die aus einem brennenden Dorf
fliehenden Zivilisten: „[…] es kamen die obdachlosen ruthenischen Frauen, mit ihren
kleinen Kindern mit ausgeweinten Augen, ohne Speise und Trank, erschrocken, schlecht
gekleidet, mit zitterndem Leib; die elendste Karawane in dieser Kriegslandschaft; und
stotternd erzählten sie die traurige Geschichte ihrer Flucht und die Verwüstung ihres
Hauses und kleinen Vermögens.“106
Berkes‘ Text spiegelt die Ambivalenz zwischen Gewöhnung und Anteilnahme wider. So schreibt er: „Ich weiß nicht, wo ich hinschauen soll, ich weiß nicht, woran
ich denken soll. Ich weiß nicht, ob das Entsetzen in mir tiefer ist oder das Wundern.
[…] Ich bin müde, ich möchte jemanden ansprechen, ich weiß nicht wen, ich möchte
ein gutes Wort hören, möchte eine Träne sehen, einen lachenden, frohen, glücklichen
Menschen.“107
Im Gegensatz dazu zeigen folgende Sätze einen gewissen Grad an Gewöhnung:
„Gestern brannte das Dorf. […] Wir sind daran schon gewöhnt.“108 Obwohl er es
furchtbar findet, dass die Soldaten gleichgültig und apathisch werden: „Man steht und
bewegt sich mit erbittertem Gesicht unter ihnen [den Verwundeten], ich weiß nicht,
ob das Mitleid in mir verloren ging, oder ob mich das sich immer wiederholende
große Ausmaß der Verwüstung gleichgültig und apathisch machte, es ist aber schrecklich, darüber nachzudenken, dass ich keine Träne mehr für diese [Leute] habe […].“109
104 Vgl. Benkóczy, A tizes, S. 96f.
105 Vgl. Berkes, Vérző, S. 23.
106 Ebd., S. 30.
107 Ebd., S. 56f.
108 Ebd., S. 32.
109 Ebd., S. 126.
191
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­ päter stellt er fest, dass Gleichgültigsein keine Lösung ist: „[…] nein, man darf nicht
S
gleichgültig und teilnahmslos bleiben und man darf seine Aufregung nicht unterdrücken […].“110
Im Kapitel „Két óráig a lerombolt Turkában“ [Zwei Stunden lang im zerstörten Turka] beschreibt Berkes wortreich die Verwüstung und die Zerstörung und er beschreibt
auch ausführlich, welche Gedanken und Gefühle dieser Anblick in ihm auslöst. Ihn ergreifen sowohl Entsetzen als auch Verwunderung. Er ist müde vom Erlebten, er sehnt
sich nach glücklichen Menschen, mit denen er sprechen kann.111 Die dabei verwendeten
Wörter drücken seine große Bestürzung aus: „Schrecklich und schreiend ist dieses stille
Schlachtfeld: […] einige Tage nach Blutverschwenden, nach Todesgeröchel und tödlichen Kämpfen.“112 Danach kommt er in Turka an, einer galizischen Stadt, die „sich unsicher, abgestumpft und in chaotischer Starre aus der Landschaft erhebt“.113 Er nennt Turka eine Stadt, obwohl er selbst zugibt, dass es – seitdem die Russen hier vor einem Jahr
Fuß fassten – nicht mehr viel mit einer Stadt gemeinsam hat.114 Die Zerstörung in Turka
ist schrecklicher als alles andere, was er bis jetzt erfahren und gesehen hat.115 Außer den
Soldaten, die die schon abgebrannten Häuser und Brücken wieder anzündeten, ist kaum
ein Mensch zu sehen, „nur die Toten konnten sie nicht erneut töten“.116 Wie das verwüstete Dorf sind auch die Beschreibungen und Erinnerungen Berkes‘: „Einige Fetzen aus
den Impressionen von zwei Stunden, Lumpen, zerbrochene Bilder, trübe, zerfallende
Erinnerungen.“117 Nachdem er Turka verlassen hat und weiterfährt, begegnet er auf dem
Weg überall der Verwüstung: verbrannte Eisenbahnstationen, dachlose, zerfallende Häuser, umgestürzte und verbrannte Eisenbahnwaggons. „Am grässlichsten sind die toten,
stillschweigenden, verwaisten Schienen […], weil ihre Stummheit auch die vollkommene Leblosigkeit der umgebenden kleineren und größeren Dörfer laut verkündet.“118
Das blutgetränkte Uzsok ist für Berkes als eine qualvolle, schmerzhafte und unruhige Stadt in der Landschaft.119 Auf dem Schlachtfeld bei Grodek weiß er gar nicht
mehr wohin er schauen und was er aufschreiben soll: „[…] überall schreit das jämmerliche Bild der Verwüstung mir entgegen, die noch schmerzenden und brennenden
Erinnerungen des Kampfes, der Geruch des Todes […].“120 Die furchtbarste Verwüstung
erlebt Berkes jedoch in Jaryczow-Nowy: „[…] die Verwüstung hier ist entsetzlicher als
in Turka, schrecklicher als in Grodek, entsetzlicher als in Kamionka und vielleicht als
alles andere, dem ich im Krieg bisher begegnet bin.“121 Kein einziges Gebäude ist verschont geblieben, „als hätten hier die Teufel der Verwüstung, die zügellosen Elemente
110 Ebd. Berkes, Vérző, S. 136.
111 Vgl. ebd., S. 56f.
112 Ebd., S. 56.
113 Ebd., S. 59.
114 Vgl. ebd.
115 Vgl. ebd., S. 60f.
116 Ebd., S. 63.
117Ebd.
118 Ebd., S. 65.
119 Vgl. ebd., S. 51.
120 Ebd., S. 78.
121 Ebd., S. 135.
Verlust und Zerstörung in der Kriegserfahrung ungarischer Soldaten an der Ostfront
des Unheils ihr Treffen gehabt. […] Die Menschen kriechen aus ihren stinkenden, nassen Kellern hervor, sie kriechen wie zerstampfte Würmer aus den Trümmern hervor.“122
Die Flucht der Zivilbevölkerung kann er nicht erzählen, das muss man seiner Meinung
nach selbst gesehen haben.123 Viele wollen die Verwüstung und die Toten vergessen. Ein
alter Mann will ihm nichts erzählen, denn er will nichts gesehen haben.124
Über zerstörte Siedlungen, „unbeschreibbare Verwüstung überall“ und über die Vergottlosung des Ungtals125 sowie über tote Gegenden, wo „die ganze Stadt tot ist, nur
die Waffen lebendig sind“,126 ist auch bei Pilisi zu lesen. An einer Stelle, wo er über ein
zerstörtes Dorf schreibt, wird in einigen kurzen, doch vielsagenden Sätzen aufgezählt,
was die Zerstörung genau bedeutet, sowohl für die Gebäude als auch für die Menschen;
die Zerstörung eines Dorfes, die innerhalb von nur einer halben Stunde geschah.127 Das
Schicksal dieses einen Dorfes spiegelt das Schicksal ganz Galiziens wider.128
Pilisi beschreibt auch die zerstörerische Kraft des Karpatenwinters. In die Verwüstung mischt sich auch die Natur ein. Unter den schlechten, nasskalten Wetterbedingungen stirbt alles, sogar der Krieg stirbt, weil man bei so schlechtem Wetter nicht kämpfen
kann.129 Die Natur wird im Krieg nicht nur verwüstet, sondern sie verwüstet auch selbst:
Das Wetter in den Karpaten, der Karpatenwinter, die Kälte erschweren das Leben der
Soldaten und machen einige von ihnen zu ihren Opfern.130
Bei Pogány ist zu lesen, dass es am Anfang des Krieges noch keine Zerstörung
gab: „[…] es verriet noch nichts den Krieg“.131 Später ist aber auch bei ihm von zerstörten Siedlungen zu lesen. Ein verwüstetes Dorf vergleicht er mit einem „traurigen
Schornsteinlager. Auf einem Trümmerhaufen sitzt eine junge Frau. Sie weint nicht mehr,
ihre Tränen sind schon ausgetrocknet, sie schaut apathisch, mit hartem Gesicht vor sich
hin.“132 Für Pogány ist die Beschreibung von brennenden Dörfern typisch. Er hebt diesen
Anblick oft hervor.133 Die Zerstörung einer Glasfabrik empfindet er als einen furchtbaren und zugleich wunderbaren Anblick.134 Er scheint an diesem Anblick sogar Freude
zu haben, ist jedenfalls fasziniert davon. Der Anblick dieser Siedlungen erweckt in ihm
gleichzeitig Furcht und Bewunderung: „Der Anblick war nicht mehr grausam, er war
nur noch schön.“135 Doch was daran furchtbar ist, ist die Tatsache, „dass die gigantische
Pracht [des großen Feuers] nicht die Kunst der Natur ist, sondern sie ist der Krieg, sie ist
Verwüstung und Grauen“.136 Über zerstörte Siedlungen ist auch bei Székely zu lesen. Er
122 Ebd., S. 136 bzw. S. 137.
123 Vgl. ebd., S. 143.
124 Vgl. ebd., S. 202.
125 Vgl. Pilisi, A kárpáti, S. 13, 33.
126 Ebd., S. 66.
127 Ebd., S. 90.
128 Vgl. ebd.
129 Vgl. ebd., S. 38, 41.
130 Vgl. ebd., S. 79.
131 Pogány, A rokitnói, S. 9.
132 Ebd., S. 24.
133 Vgl. ebd., S. 60.
134 Vgl. ebd.
135 Ebd., S. 61.
136Ebd.
193
194
Éva Kósa
erzählt zum Beispiel wie Berkes vom zerstörten Turka.137 Das eine Dorf kommt ihm wie
„ein großer Mund vor, aus dem ein Zahnarzt die Zähne schön nacheinander ausgezogen
hätte […]“.138
In den Texten wird auch der selbst verursachte Verlust thematisiert, nicht nur der, den
man erlitt. Dieser erscheint meistens in Form einer kurzen Bemerkung, wie zum Beispiel:
„Wir treffen auch sicher einige von ihnen [den Russen] …“139 Bei Pilisi ist der folgende
Satz zu finden: „[…] wir schlagen die Russen mit der Faust im Ungtal wieder tot.“140 Oder
bei Pogány: „[…] unsere Soldaten schossen die auftauchenden russischen Köpfe ab.“141
Székely schreibt an einer Stelle, dass sie für die Menschenjagd auf der Lauer liegen, und
beschreibt dann die grausame Verwüstung durch die eigene Artillerie.142
Die Soldaten sind sich durchaus darüber im Klaren, dass der Krieg auch für den
Gegner traurig ist: Der Gesang der russischen Soldaten am Ostersonntag ist kummervoll
und die Glocke ihrer Kirche klingt wie ein trauriges Gebet, stellt Benkóczy fest.143 Man
kann darüber jedoch nicht lange nachdenken. Nach dieser kurzen Bemerkung berichtet
Benkóczy, wie die ungarischen Soldaten die Büsche ausreißen und die Häuser anzünden und wie die Zivilbevölkerung daraufhin fliehen muss; er fügt aber hinzu, dass sie
der Zivilbevölkerung nichts antun. Er macht dazu die kurze Feststellung: „Das ist der
Krieg.“144 An einer anderen Stelle schreibt er, dass sie an der Glut von brennenden Häusern froh eine Pfeife anzündeten.145 Pogány erzählt, dass die verfeindeten Soldaten weder auf die gegnerischen Feldposten noch auf diejenigen schießen, die auf dem Kartoffelfeld zwischen den beiden Schwarmlinien sind. Nicht das Töten ist das Ziel, sondern
den gegnerischen Feldposten zu besetzen und den Gegner gefangen zu nehmen.146
Die bereits erwähnten Gegensätze bei der Hervorhebung von Verlust und Verwüstung sind in den Beschreibungen der Zerstörung von Siedlungen, der Landschaft und der
Natur am stärksten präsent. Dabei wird die Zerstörung und Verwüstung im Krieg der reichen, lebendigen, blühenden Natur gegenübergestellt. Berkes beschreibt als Gegensatz
zu einem zerstörten Dorf mit Gräbern die im Frühling erwachende Natur ausführlich.
Die lebendige Natur verkörpert die Hoffnung im Massensterben des Krieges.147 Die Gegenüberstellung von verwüsteten Siedlungen und der schönen, reichen Landschaft, der
fruchtbaren Natur ist auch bei Pogány zu finden. Die Landschaft um Lublin strahlt auch
im Krieg Frieden und Ruhe aus. Diese trotz des Krieges reiche Gegend, die Schönheit
und Ruhe der Natur wird mit vielen positiven Attributen ausführlich dargestellt: durch
die fruchtbare Erde, verschiedene bunte Blumen oder einen Johanniskäfer.148 Die Ge137 Vgl. Székely, A 38-as, S. 106.
138 Ebd., S. 121.
139 Benkóczy, A tizes, S. 63.
140 Pilisi, A kárpáti, S. 40.
141 Pogány, A rokitnói, S. 19.
142 Vgl. Székely, A 38-as, S. 103f.
143 Vgl. Benkóczy, A tizes, S. 68.
144 Ebd., S. 121.
145 Vgl. ebd., S. 83.
146 Vgl. Pogány, A rokitnói, S. 124f.
147 Vgl. Berkes, Vérző, S. 44–46.
148 Vgl. Pogány, A rokitnói, S. 23f.
Verlust und Zerstörung in der Kriegserfahrung ungarischer Soldaten an der Ostfront
gend nennt Pogány „eine Schatzkammer Russlands“.149 Wenn Székely, wie Berkes, vom
auf furchtbare Weise zerstörten Turka erzählt, schreibt er auch über eine wunderschöne
Landschaft und verwendet dabei viele positive Ausdrücke: Es ist „ein furchtbar schöner
Anblick“, ihr Weg führt „durch einen duftenden Wald“, sie sehen „viele nette Dörfer“,
und diese sind „wie ein Blumenstrauß“.150 Die Natur lebt trotz des Krieges weiter: „Ungeachtet des ständigen Waffen- und Kanonenfeuers ruft in der Nähe ein Kuckuck rhythmisch seine Geliebte.“151
Die Natur und die Landschaft werden in den Texten nicht nur als Gegensatz zur
Verwüstung im Krieg dargestellt, sondern auch als Parallele. Entweder verwüstet auch
die Natur wie der Krieg oder sie wird durch die Soldaten ebenfalls verwüstet, parallel zu
Verwundung und Ermordung der Menschen. Wie bereits thematisiert wurde, verwüstet
auch das Wetter: der viele Niederschlag und die Dunkelheit in den Karpaten. Die Darstellung solcher Wettererscheinungen sowie Stimmungen drückt eine Parallele zwischen
Leben und Tod aus. Sie symbolisiert jedoch gleichzeitig auch eine Art Gegensatz: Die
Natur, das Wasser macht die Kriegsgegend auch sauber vom Blut, es wäscht den Krieg
weg, bringt Frieden, weil bei so einem Wetter niemand den anderen angreift; es stirbt
zwar das Leben, es stirbt aber auch der Krieg.152 Auch die Kälte ist eine zerstörerische
Kraft, die die Soldaten nicht verschont: „Die Kälte zerstörte alles, was in ihren Weg
geriet, sie fraß den Frühling und die Schneeblume. […] Sie fraß Blut. […] Sie frisst die
Soldaten […].“153
Wie bereits angesprochen, leidet auch die Landschaft unter dem Krieg. Pilisi beschreibt die Landschaft, als wäre sie ein Mensch, ein menschlicher Körper, der im Krieg
genauso leidet, sie jammert und weint und zittert.154 Auch bei Pogány findet sich der
Gedanke, dass die Bäume wie die Menschen leiden und verwundet werden: „[…] als
wollte die ganze Welt zusammenbrechen. Das ist also der Krieg […].“155 Über die Verwüstung auch in der Natur und gerade der Bäume ist auch bei Székely zu lesen, wo nur
noch junge, gerade zum Leben erwachende Bäume zerstört werden.156
Zusammenfassung
Die Kriegserfahrungen der Soldaten in den hier untersuchten Texten sind reich an Schilderungen von Verlust und Verwüstung. Aus den in den Büchern geschilderten Beispielen
wird ersichtlich, wie verschiedenartig das Erfahren von Verlust und Zerstörung im Krieg
das Schicksal der einzelnen Menschen betraf. Dabei werden jedoch nicht nur jene Verluste und Verwüstungen thematisiert, die man selbst erlitt, sondern auch jene, die man
verursachte. Was über die ausgewählten Texte zusammenfassend gesagt werden kann,
149 Ebd., S. 24.
150 Székely, A 38-as, S. 107.
151 Ebd., S. 112.
152 Vgl. Pilisi, A kárpáti, S. 38, 41.
153 Ebd., S. 79.
154 Vgl. ebd., S. 62.
155 Pogány, A rokitnói, S. 16.
156 Vgl. Székely, A 38-as, S. 118.
195
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Éva Kósa
ist, dass der Anblick von zerstörten und verwüsteten Siedlungen und die Begegnung mit
deren fliehender und leidender Zivilbevölkerung einen solch tiefgreifenden Eindruck
bei den Soldaten hinterließ, dass sie viel davon erzählten. Bereits bei der Einrückung
machten sie sich noch Gedanken über ihr Leben, über ihre Familie, ihr Zuhause und
überhaupt über ihre bisherige Existenz. Der Verlust der früheren Existenz betraf jedoch
nicht nur die Soldaten an der Front. Ein ähnliches Schicksal erlitt auch die Zivilbevölkerung jener Gebiete, durch die der Krieg zog.
Die Erfahrung mit verwundeten Kameraden oder Zivilisten wird in den Texten ebenfalls oft thematisiert, jedoch auf unterschiedliche Weise. In diese Beschreibungen mischen sich oft die Gedanken und Gefühle der Autoren und sie erzählen auch von den
Verwundeten oder Verstorbenen als Menschen, von den Umständen ihrer Verwundung,
ihres Todes und von Angehörigen, ihrer Bestattung oder ihrem Grab.
In den Karpaten wurden die Soldaten nicht nur mit der verwüstenden Kraft des
Krieges konfrontiert, sondern auch mit den zerstörerischen Elementen der Natur: dem
Wetter und dem kalten Winter. Diese Erfahrungen ließen die Soldaten zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen, die sie beim Erzählen über ihre Kriegserfahrungen in Form von Gegensätzen oder Parallelen auch darstellen. Das Leiden und der Tod
sowie die Verwüstung und Ermordung der Menschen im Krieg wird oft entweder als
Gegensatz zur trotz des Krieges fruchtbaren und blühenden Natur oder als Parallele zum
Leiden und Tod der Landschaft und der Natur geschildert.
Kriegsgefangenschaft als Erfahrung
Am Beispiel der Deutschösterreicher in russischem Gewahrsam
Verena Moritz
Überforderung
Wahrscheinlich 200.000 „Deutschösterreicher“1 gerieten im Laufe des Ersten Weltkrieges in die Hand des Hauptgegners der Donaumonarchie im Osten.2 Für viele dauerte die
Gefangenschaft in Russland in Anbetracht der Umwälzungen des Jahres 1917 und der
daraus resultierenden wechselnden Kräfteverhältnisse auf dem Territorium des untergegangenen Zarenreichs bis über die Niederlage der Mittelmächte hinaus. Zehntausenden
ehemaligen k.u.k. Soldaten blieb der Weg in die Heimat aufgrund der Kampfhandlungen
zwischen den Anhängern der neuen Sowjetmacht und antibolschewistischen Kräften
versperrt.3
Nicht viel anders als in den übrigen Krieg führenden Staaten setzte sich auch bei
den Militärbehörden des Romanovimperiums die Erkenntnis, wonach Gefangenschaft
als Massen- und Langzeitphänomen und damit als implizite Begleiterscheinung eines
so noch nicht da gewesenen Krieges betrachtet und akzeptiert werden musste, erst nach
und nach durch. Immerhin hatte das Zarenreich weit über zwei Millionen als Kriegsgefangene eingebrachte „Feindsoldaten“ entsprechend zu verwalten und zu versorgen.
1
2
3
Mit „Deutschösterreicher“ gemeint sind die in der österreichischen Reichshälfte der Doppelmonarchie
lebenden Angehörigen „deutscher Nationalität“.
Zur Problematik der Zahlen siehe u.a. Verena Moritz, Gefangenschaft und Revolution. Deutschösterreichische Kriegsgefangene und Internationalisten in Russland 1914–1920. Diplomarbeit Wien
1995, S. 23; Hannes Leidinger – Verena Moritz, Das russische Kriegsgefangenenwesen 1914 bis
1920, in: Österreichische Osthefte. 41, 1999, S. 83–106, hier: S. 84; Reinhard Nachtigal, Russland
und seine österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen (1914–1918). Remshalden 2003, S. 80–98;
Reinhard Nachtigal, Zur Anzahl der Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg, in: MGZ. 67, 2008, S.
345–384; Hannes Leidinger – Verena Moritz, Gefangenschaft, Revolution, Heimkehr. Die Bedeutung
der Kriegsgefangenenproblematik für die Geschichte des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa
1917–1920. Wien – Köln – Weimar 2003, S. 160f.
Allgemein über die Kriegsgefangenschaft in Russland siehe: Leidinger – Moritz, Gefangenschaft,
Revolution, Heimkehr; Georg Wurzer, Die Kriegsgefangenen der Mittelmächte in Russland im Ersten
Weltkrieg. Göttingen 2005; Nachtigal, Russland und seine österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen (1914–1918).
198
Verena Moritz
Weder an der Front noch im Hinterland war man auf die riesige Masse vorwiegend
österreichisch-ungarischer Soldaten, die speziell in Galizien im Herbst 1914, beim Fall
der Festung Przemyśl im März 1915 und in den Karpaten 1916 in großen Kontingenten
gefangen genommen worden waren, entsprechend vorbereitet – und in der Folge daher
in organisatorischen Belangen vollkommen überlastet.4 Die Registrierung der gegnerischen Soldaten wurde anfänglich sehr nachlässig betrieben, die Anzahl der Gefangenen
bisweilen nur geschätzt.5
Obwohl eine Vielzahl von offiziellen Stellen in Gefangenenangelegenheiten involviert war, allen voran das Kriegsministerium, die Hauptverwaltung des Generalstabes,
die Militärkreisbehörden und eine Reihe administrativer Einrichtungen in der Provinz,
wurden de facto alle wesentlichen Entscheidungen in der Hauptstadt getroffen. Zur Anwendung kommen sollten sie aber freilich dort, wo sich die Gefangenen aufhielten. Die
bei den Feldtruppen bestehenden Gefangenenabteilungen, die lokalen Behörden und die
Militärkreisverwaltungen agierten in der Regel nach eigenen Gesichtspunkten. Die in
der „Verordnung über die Kriegsgefangenen“ vom 7. (20.) Oktober 1914 verankerten
Richtlinien für die Behandlung, die fast vollständig den betreffenden Bestimmungen der
Haager Landkriegsordnung entsprachen6, wurden nur bedingt eingehalten und je nach
Gutdünken der Lagerkommandanten und der Militärkreischefs modifiziert.7 Die praktischen Auswirkungen einer Koordinierung des zersplitterten Gefangenenwesens nach
der Februarrevolution 1917 blieben in Anbetracht der Kurzlebigkeit der Provisorischen
Regierung gering.8
Kollektives Schicksal(?)
Der Forschung steht eine Vielzahl publizierter und unveröffentlichter Erinnerungstexte beziehungsweise diaristischer Aufzeichnungen von Deutschösterreichern, welche
im Zuge des Ersten Weltkrieges in russische Gefangenschaft geraten waren, zur Verfügung.
4
5
6
7
8
Gerald H. Davis, The Life of Prisoners of War in Russia, 1914–1921, in: Samuel R. Williamson – Peter Pastor (Hg.), Essays on World War I: Origins and Prisoners of War. New York 1983, S. 163–198,
hier: S. 165.
I. A. Ovčinnikov, Rossijskoe Obščestvo Krasnogo Kresta, sostojaščee pod Vysočajsim pokrovitel’stvom
Eja Imperatornogo Veličestva Gosudaryni Imperatricy Marii Fedorovny. Central’noe spravočnoe bjuro voennoplennych. Petrograd 1915, S. 16–19.
Über die Haager Landkriegsordnung und die Bestimmungen betreffend die Kriegsgefangenen siehe
u.a. Allan Rosas, The Legal Status of Prisoners of War: A Study in International Humanitarian Law
Applicable in Armed Conflicts. Helsinki 1976; Stefan Oeter, Die Entwicklung des Kriegsgefangenenrechts. Die Sichtweise eines Völkerrechtlers, in: Rüdiger Overmans (Hg.), In der Hand des Feindes.
Kriegsgefangenschaft von der Antike bis zum Zweiten Weltkrieg. Köln – Weimar – Wien 1999, S.
41–59. Außerdem: Jost Dülffer, Regeln gegen den Krieg. Die Haager Konferenzen von 1899 und 1907
in der internationalen Politik. Frankfurt am Main 1981. Ein prägnanter Überblick zum Kriegsgefangenenrecht findet sich außerdem bei Uta Hinz, Gefangen im Großen Krieg. Kriegsgefangenschaft in
Deutschland 1914–1921. Essen 2006, S. 44–58.
Položenie o voennoplennych, Petrograd 1914; Elsa Brändström, Unter Kriegsgefangenen in Rußland
und Sibirien 1914–1920. Berlin 1920, S. 7.
Leidinger – Moritz, Das russische Kriegsgefangenenwesen 1914 bis 1920, S. 91.
Kriegsgefangenschaft als Erfahrung
Die Zeit von der Gefangennahme bis zur Ankunft am mehr oder weniger dauerhaften
Unterbringungsort erlebten alle Betroffenen im Russischen Reich ähnlich. Die erste Phase der Gefangenschaft wird in den Selbstzeugnissen daher nach ähnlichen Erzählmustern
beschrieben. Diese Schilderungen wiederum weisen auch eine hohe Übereinstimmung
bezüglich der Art der gemachten Erfahrungen ebenso wie hinsichtlich deren Reflexion
und Bewertung auf.9 Freilich wird man nicht ohne Differenzierungen auskommen. Diese sind zunächst in Hinblick auf die Frage des Aussagewertes von Selbstzeugnissen an
sich vorzunehmen, welche womöglich viel über die „Identitäts- und Sinnkonstruktion
des Einzelnen“ verraten, aber nur wenig über darüber hinausgehende Haltungen sowie
„Beobachtungsmuster“ oder aber nachmalige kollektiv wirksame Einflüsse auf die Darstellung.10 Für eine vornehmlich auf Ego-Dokumenten fußende „(Nach-)Erzählung“ der
Gefangenschaft in Russland wichtig erscheinen daher die Auseinandersetzung mit den
jeweiligen Biografien der Verfasser sowie die Rekonstruktion von Entstehungszusammenhängen im Wechselspiel gesellschaftlicher Wirklichkeiten und den Konstruktionen
„ideologietauglicher“ Deutungen.11
Die Verfasser der vorhandenen Ego-Dokumente lassen sich im Groben in Offiziere
und einfache Soldaten trennen. Für diese beiden Gruppen gestaltete sich die Zeit in
Gefangenschaft höchst unterschiedlich, wobei die Perspektive der Offiziere das allgemeine Bild von der Kriegsgefangenschaft in Russland wesentlich mehr beeinflusste als
die Sichtweise von Mannschaftsangehörigen. Da Offiziere nicht zuletzt aufgrund ihrer
Bildungsvoraussetzungen und ihrer Rolle im öffentlichen Leben bei Weitem häufiger
Texte über ihre Erlebnisse und Wahrnehmungen in der Gefangenschaft niederschrieben
und dann auch veröffentlichten, kam ihnen auch die „Deutungshoheit“ über die Erfahrungen in der Hand des Gegners zu. Bedenkt man, dass nur 2,5 Prozent der in russische
Gefangenschaft geratenen Angehörigen der k.u.k. Armee dem Offizierskorps angehörten12, erscheint der Überhang an publizierten Offiziersmemoiren und in weiterer Folge
deren Wirkung besonders irritierend. Aber noch in einer anderen Hinsicht erweisen sich
die Ego-Dokumente deutschösterreichischer Offiziere als dominant. Auch die jüngere
Forschung griff vor allem ihre beziehungsweise die Selbstzeugnisse reichsdeutscher Of9
Zur Definition der „Kriegserfahrung“ siehe Igor Narskij, Kriegswirklichkeit und Kriegserfahrung russischer Soldaten an der Westfront 1914/15, in: Gerhard P. Groß (Hg.), Die vergessene Front. Der Osten
1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung. Paderborn – München – Wien – Zürich 2006, S. 248–261,
hier: S. 248; vgl. auch Andreas Jasper, Zweierlei Weltkriege? Kriegserfahrung deutscher Soldaten in
Ost und West 1939–1945. Paderborn – München – Wien – Zürich 2011, S. 17–25.
10 Vgl. dazu u.a. Ulrike Jureit, Motive – Mentalitäten – Handlungsspielräume. Theoretische Anmerkungen zu Handlungsoptionen von Soldaten, in: Christian Hartmann – Johannes Hürter – Ulrike Jureit
(Hg), Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte. München 2005, S. 163–170. Zum Umgang
mit Ego-Dokumenten siehe außerdem: Thomas Winkelbauer (Hg.), Vom Lebenslauf zur Biographie.
Geschichte, Quellen und Probleme der historischen Biographik und Autobiographik. Krems an der
Donau 2000.
11 Dazu beispielsweise: Benjamin Ziemann, Das „Fronterlebnis“ des ersten Weltkriegs – eine sozialhistorische Zäsur? Deutungen und Wirkungen in Deutschland und Frankreich, in: Hans Mommsen
(Hg.), Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung. Sozialer Wandel und Formveränderung der Politik. Köln – Weimar – Wien 2000, S. 43–83.
12 Alon Rachamimov, POWs and the Great War. Captivity on the Eastern Front. Oxford – New York
2002, S. 9.
199
200
Verena Moritz
fiziere auf, um ein allgemeines Bild von der Situation der in russische Gefangenschaft
geratenen Angehörigen der Mittelmächte und insbesondere der Habsburgerarmee zu
skizzieren. „Gegenbilder“, die auf den Ego-Dokumenten von einfachen Soldaten und
Offizieren anderer Nationalitäten fußen, erscheinen vor diesem Hintergrund sehr viel
diffuser oder fehlen mitunter überhaupt.
Die brutale Behandlung der Kriegsgefangenen durch Kosaken, die oftmals als Wachpersonal vor allem der neu eingebrachten Kriegsgefangenen eingesetzt waren, ist fixer
Bestandteil fast aller Erinnerungstexte ehemaliger gefangener Deutschösterreicher. Hier
wurden in gewisser Weise auch verfestigte „Klischees“ über die besondere Grausamkeit
der Kosaken abgerufen.13 Dass den Wehrlosen entgegen den Bestimmungen der Haager
Landkriegsordnung auch persönliche Gegenstände, darunter nicht selten Uhren, Ringe, diverse Gebrauchsgegenstände, aber auch Geld, abgenommen wurden, war offenbar kein Einzelschicksal. Auf den Märschen ins Hinterland kam es überdies zur ersten
Begegnung mit der russischen Bevölkerung: Die Gefangenen kauften oder erbettelten
Lebensmittel von den Einheimischen. Letztere wurden im Übrigen nicht selten als Juden
oder Jüdinnen identifiziert. Positive und negative Schilderungen derartiger Begegnungen halten sich in den Erinnerungstexten die Waage, wobei antisemitische Klischees
als Bezugspunkt für beiderlei Bewertungen dienen. In einem Fall gibt man sich kaum
verwundert darüber, dass sie bestätigt werden, im anderen ist man umso überraschter,
dass sie sich als falsch herausstellten.14 Der „Erstkontakt“ konnte aber auch auf andere
Art erfolgen. Man trieb die Kriegsgefangenen mitunter über Stunden durch die Straßen
verschiedener Ortschaften, um sie den Bewohnern als anschaulichen Beweis für die
errungenen militärischen Erfolge zu präsentieren. Diese „Vorführung“ empfanden nicht
wenige Gefangene als bittere Demütigung.15
Die äußerst mangelhafte Infrastruktur erschwerte den Transport der Gefangenen in
die Lager, der Wochen oder gar Monate dauern konnte, erheblich. Vor allem jene, die
im Kampf verwundet worden waren, beschreiben in ihren Texten diese erste Phase nach
der Gefangennahme als ausgesprochene Tortur.16 Die medizinische Versorgung in den
Feldlazaretten stellte sich als unzureichend dar oder aber unterblieb zunächst gänzlich.
Vielen setzten Hunger und Kälte zu. Manche realisierten erst Tage nach der Gefangennahme, was passiert war, konnten sich nur schwer mit ihrer Lage abfinden und litten
unter der Ungewissheit über ihr weiteres Schicksal. Tausende Gefangene wurden durch
das Sammellager Darnica bei Kiew geschleust, bevor man die Fahrt zu anderen Unter13 Zur Herausbildung und Wirkung des „Kosakenbildes“ siehe Wolfram Dornik, „Erinnert euch der großen Armee des Franzosenkaisers …“ Der Russlandfeldzug von 1812 in der österreichisch-ungarischen
Propaganda des Ersten Weltkriegs (in Druck) und Mathias Uhl, Die Kosaken im Ersten Weltkrieg
1914–1917, in: Harald Stadler – Rolf Steininger – Karl C. Berger (Hg.), Die Kosaken im Ersten und
Zweiten Weltkrieg. Innsbruck 2008, S. 69–92.
14 Ein weites Feld für Diskussionen ist die Frage des Antisemitismus in den verschiedenen politischen
Lagern der österreichischen Reichshälfte. In jedem Fall scheint der erwähnte Befund auch auf Kriegsgefangene zuzutreffen, die eher der Sozialdemokratie zuneigten.
15 Moritz, Gefangenschaft und Revolution, S. 41.
16 Vgl. Erwin Kunewälder, Meine Erlebnisse in zehnmonatiger russischer Kriegsgefangenschaft. Wien
1916, S. 8–20; Gustav Krist, Pascholl Plenny! Tatsachenbericht von der Kriegsgefangenschaft österreichischer Soldaten. Wien 1936, S. 18–32.
Kriegsgefangenschaft als Erfahrung
bringungsorten fortsetzte. Der Transport in die Lager erfolgte für die Mannschaftsangehörigen in sogenannten „tepluški“, Viehwaggons17, die nicht mehr als einen Ofen sowie
Holzpritschen als Schlafstätten zu bieten hatten und im Regelfall hoffnungslos überfüllt
waren. Die unzulänglichen hygienischen Verhältnisse während der Reise speicherten
viele Gefangene als einprägsames, schockierendes Erlebnis ab. Am Ende der Fahrt taten
sich allerdings kaum bessere Perspektiven auf. In vielen Fällen mussten die Kriegsgefangenen selbst die Behausungen oder Teile davon errichten. Sie konnten außerdem
weder ausreichend mit Nahrungsmittel versorgt werden, noch waren Maßnahmen getroffen worden, um Seuchen vorzubeugen. Vor allem von Kleiderläusen übertragene
Typhuserkrankungen forderten Zehntausende Todesopfer unter den Gefangenen.18 Die
Überbelegung vieler Lager tat ein Übriges. Die Aufnahmekapazität war an einigen Unterbringungsorten schon zur Jahreswende 1914/15 erschöpft. 1914 bis 1917 starben nach
offiziellen Angaben des Roten Kreuzes in Russland ca. 470.000 Kriegsgefangene.19 Ursache der hohen, mit bis zu 20 Prozent zu veranschlagenden Mortalitätsrate waren in den
Lagern gleichfalls unterschiedliche Infektionskrankheiten. Auch in Österreich-Ungarn
gingen hauptsächlich in den beiden ersten Kriegsjahren Tausende Gefangene infolge
von Seuchen zugrunde, wobei das Ausmaß des Massensterbens im Vergleich zu Russland geringer ausfiel. Freilich erlauben die diesbezüglich vorhandenen und bisweilen
stark voneinander abweichenden Zahlen nur mit Vorbehalt zu betrachtende Aussagen.
Außerdem ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass bereits während des Krieges der
Hinweis auf die prekäre Situation der k.u.k. Gefangenen in Russland dazu diente, von
eigenen Versäumnissen in der Betreuung der „Feindsoldaten“ abzulenken.20
Ein „funktionierender Evakuationsapparat, das heißt ein Betreuungswesen für die
Gefangenen in Russland“, kam „erst 1916 zustande“.21 Positiv auf die Lage der Gefangenen im Zarenreich wirkte sich überdies der ab 1915/16 begonnene und den Großteil der fremden Heeresangehörigen umfassende Arbeitseinsatz aus. Außerdem konnten
nun „ausgreifende Hilfs- und Fürsorgemaßnahmen in einem Ausmaß umgesetzt werden
[…], wie es für die an der Westfront sich gegenüberstehenden Gegner nicht vorstellbar
17 Dass bereits der Transport an die Front in Viehwaggons erfolgte, erzählte im Übrigen der Mannschaftsangehörige Alexander Hahn. Hannes Leidinger – Verena Moritz (Hg.), In russischer Gefangenschaft. Erlebnisse österreichischer Soldaten im Ersten Weltkrieg. Wien – Köln – Weimar 2008, S. 37.
18 Über die Problematik am Beispiel des „Seuchenlagers“ Tockoe (Totskoye) siehe: Reinhard Nachtigal,
Seuchen unter militärischer Aufsicht in Russland: Das Lager Tockoe als Beispiel für die Behandlung
der Kriegsgefangenen 1915/16, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. 48, 2000, S. 363–387.
19 Moritz, Gefangenschaft und Revolution, S. 52; Brändström, Unter Kriegsgefangenen, S. 45–47.
20 Über das Massensterben in den Lagern der österreichischen Reichshälfte siehe Verena Moritz – Hannes Leidinger, Zwischen Nutzen und Bedrohung. Die russischen Kriegsgefangenen in Österreich
1914–1921. Bonn 2005, und Hannes Leidinger – Verena Moritz, Verwaltete Massen. Kriegsgefangene
in der Donaumonarchie 1914–1918, in: Jochen Oltmer (Hg.), Kriegsgefangene im Europa des Ersten
Weltkriegs. Paderborn – München – Wien – Zürich 2006, S. 35–66, hier: S. 35–43.
21 Reinhard Nachtigal, Die Kriegsgefangenen-Verluste an der Ostfront. Eine Übersicht zur Statistik und
zu Problemen der Heimatfront 1914/15, in: Gerhard P. Groß (Hg.), Die vergessene Front. Der Osten
1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung. Paderborn – München – Wien – Zürich 2006, S. 201–215,
hier: 208. Die Evakuierungsabteilung der Hauptverwaltung des Generalstabs existierte seit Sommer
1914 und wurde Ende 1916 als „Abteilung für die Evakuierung und für die Veraltung von Kriegsgefangenenangelegenheiten“ reorganisiert. Leidinger – Moritz, Das russische Kriegsgefangenenwesen,
S. 87.
201
202
Verena Moritz
war“.22 Hervorzuheben ist hier zweifellos das Engagement der neutralen Staaten. Freilich änderten sich die katastrophalen Zustände in den Kriegsgefangenenlagern durch
den Besuch von Hilfsmissionen in der Regel nur kurzfristig.23 Folgt man den Aufzeichnungen ehemaliger Gefangener, die dem Mannschaftsstand angehörten, profitierten beispielsweise von den sogenannten Schwesternreisen, also der Visitation russischer Lager
durch österreichisch-ungarische Rot-Kreuz-Schwestern, vor allem die Offiziere.24 Selbst
Letztere aber stellten fest, dass im Vergleich zu Österreich-Ungarn das Deutsche Reich
sehr viel mehr Mittel zur Verfügung stellte und die entsprechenden Hilfsmaßnahmen
auch besser organisierte.25 Hinzu kam, dass „Liebesgaben“, die nach Russland geschickt
wurden, die infolge ihres Arbeitseinsatzes überall im Land verstreuten Gefangenen mitunter gar nicht erreichten. Außerdem wirkte sich die ab 1915/16 wachsende Krise der
Versorgung auch auf die Kriegsgefangenen aus. Andererseits erging es in puncto Nahrung den Gefangenen in Russland anscheinend besser als den Soldaten des Zarenreichs
in der Donaumonarchie.26
Die nach nationalen Gesichtspunkten ausgerichtete Kriegsgefangenenpolitik des
zaristischen Regimes, die zumindest in ihrer Konzeption Kriegsgefangene slawischer
Nationalität gegenüber den anderen bevorzugte und ihnen Privilegien zugestand, sah
ab Anfang 1915 die Verschickung deutschösterreichischer, deutscher und ungarischer
Gefangener nach Sibirien und Turkestan vor, wo die Lebensbedingungen als besonders
schwierig galten. Slawische Kriegsgefangene hingegen blieben mehrheitlich im europäischen Teil Russlands, wo man ihnen unter anderem eine mehr oder weniger großzügige Bewegungsfreiheit konzedierte. Die Vorrechte für die „slawischen Brüder“ aus der
Habsburgermonarchie ließen sich aber angesichts zunehmender ökonomischer Probleme
und des wachsenden Flüchtlingselends schließlich auch gegenüber der einheimischen
Bevölkerung immer schwerer rechtfertigen. Darüber hinaus konnte eine durchgängige
beziehungsweise lückenlose Bevorzugung von Gefangenen slawischer Herkunft schon
22 Reinhard Nachtigal, Rußland und seine österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen (1914–1918).
Remshalden 2003, S. 327f. Zur Kriegsgefangenenhilfe insgesamt siehe auch: Uta Hinz, Humanität im
Krieg? Internationales Rotes Kreuz und Kriegsgefangenenhilfe im Ersten Weltkrieg, in: Jochen Oltmer (Hg.), Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs. Paderborn – München – Wien – Zürich
2006, S. 216–236. Zur Bewertung der Hilfsmaßnahmen siehe auch den Beitrag von Julia WalleczekFritz in vorliegendem Band.
23 Brändström, Unter Kriegsgefangenen, S. 74.
24 Zu den Schwesternreisen siehe: Alon Rachamimov, „Female Generals“ and „Siberian Angels“: Aristocratic Nurses and the Austro-Hungarian POW Relief, in: Nancy M. Wingfield – Maria Bucur (Hg.),
Gender and War in Twentieth-Century Eastern Europe. Bloomington 2006, S. 23–46; Matthew Stibbe,
Elsa Brändström and the Reintegration of returning prisoners of war and their families in post-war
Germany and Austria, in: Ingrid Sharp – Matthew Stibbe (Hg.), Aftermaths of War. Women’s Movements and Female Activists, 1918–1923. Leiden – Boston 2011, S. 333–353; und Reinhard Nachtigal,
Die dänisch-österreichisch-ungarischen Rotkreuzdelegierten in Russland 1915–1918. Die Visitation
der Kriegsgefangenen der Mittelmächte durch Fürsorgeschwestern des österreichischen und ungarischen Roten Kreuzes, in: Zeitgeschichte. Jg. 25, H. 11/12, November/Dezember 1998, S. 366–374.
25 Zum Beispiel: Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv (ÖStA, KA), NL B/854 (Franz Krisper).
26 Vgl. Georg Wurzer, Die Erfahrung der Extreme. Kriegsgefangene in Russland 1914–1918, in: Jochen
Oltmer (Hg.), Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs. Paderborn – München – Wien – Zürich 2006, S. 97–125, hier: S. 107. Zur Lage der kriegsgefangenen Russen in der Habsburgermonarchie siehe Moritz – Leidinger, Zwischen Nutzen und Bedrohung, Bonn 2005.
Kriegsgefangenschaft als Erfahrung
aufgrund systembedingter Schwächen der zarischen Verwaltung nicht durchgesetzt werden.27
Indessen machte ab 1915/16 der eklatante Mangel an Arbeitskräften den Einsatz
Kriegsgefangener nichtslawischer Herkunft auch im Westen des Reiches erforderlich.
Der Stellenwert der Gefangenenarbeit in der russischen Wirtschaft gewann rasch an
Bedeutung. Bis Herbst 1915 waren beispielsweise dem Verkehrsministerium 70.000
Kriegsgefangene als Arbeitskräfte überantwortet worden, etwa ein halbes Jahr später
zählte man schon mehr als doppelt so viele.28 Die Anzahl der für verschiedene Aufgaben
verwendeten Kriegsgefangenen, die von den einzelnen Ministerien angefordert wurden,
wuchs seit dem Jahreswechsel 1915/16 kontinuierlich. Um das im damals geltenden internationalen Kriegsrecht ausgesprochene Verbot, Gefangene für Arbeiten einzusetzen,
die im Interesse der Kriegsführung lagen oder sogar unmittelbar im Frontbereich zu
verrichten waren, kümmerten sich weder Russland noch die Mittelmächte. Die Krieg
führenden Staaten beschuldigten sich in dieser Hinsicht gegenseitig des Regelverstoßes. „Im Kontext der Frage von legitimer und illegitimer Kriegsführung, Zivilisation
und Barbarei hatte sich spätestens 1915 auch in der Gefangenenfrage ein international geführter Schlagabtausch wechselseitiger Anschuldigungen, Rechtfertigungen und
Gegenanschuldigungen entwickelt.“29 Das Ausmaß des völkerrechtswidrigen Einsatzes
von Kriegsgefangenen in Russland lässt sich nur erahnen. Diesbezügliche Forschungen
sind auch für Österreich-Ungarn noch ausständig.30
„Reziprok“ ging man in der Donaumonarchie auch in Hinblick auf die nationale
Propaganda unter den Gefangenen vor. Allerdings fiel der diesbezügliche Erfolg unter
den russischen Soldaten geringer aus als jener der zarischen Behörden unter den slawischen Gefangenen aus dem Habsburgerstaat.31
Der Einsatz der Kriegsgefangenen in landwirtschaftlichen Betrieben stellte sich angesichts des drohenden Siechtums in den von Epidemien heimgesuchten Massenlagern
und in Anbetracht eines oft stumpfsinnigen Alltags als willkommene Altnernative dar.
Allerdings verweisen auch in diesem Zusammenhang die Erinnerungstexte einfacher
27 Dazu u.a.: Reinhard Nachtigal, Privilegiensystem und Zwangsrekrutierung. Russische Nationalitätenpolitik gegenüber Kriegsgefangenen aus Österreich-Ungarn, in: Jochen Oltmer (Hg.), Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs. Paderborn – München – Wien – Zürich 2006, S. 167–193;
Leidinger – Moritz, Das russische Kriegsgefangenenwesen, S. 88f.
28 Über den Einsatz von Flüchtlingen und Kriegsgefangenen in der russischen Wirtschaft siehe: Simon
Ossipovič Zagorsky, State Control of Industry in Russia during the War. New Haven 1928, S. 51f.
29 Hinz, Gefangen im Großen Krieg, S. 13, und Wolfgang Kruse (Hg.), Eine Welt von Feinden. Der
Große Krieg 1914–1918. Frankfurt am Main 1997, S. 159–195.
30 Vgl. dazu: Daniel Marc Segesser, The Punishment of War Crimes Committed against Prisoners of war,
deportees and Refugees during and after the First World War, in: Immigrants and Minorities. Vol. 26,
Nr. 1/2, March/July 2008, S. 134–156, und Heather Jones, Violence against Prisoners of War in the
First World War: Britain, France and Germany, 1914–1920. Cambridge 2001. Die Autorin verweist
in diesem Zusammenhang auf ein geplantes Forschungsprojekt über die k.u.k. Monarchie, das, ausgehend von der Frage der Behandlung der Gefangenen, insbesondere deren Verwendung im Bereich
der Armee im Felde untersuchen möchte. Ein Überblick zum Problem der „erzwungenen Kriegsarbeit“ bezüglich der Situation in Deutschland siehe überdies bei Hinz, Gefangen im Großen Krieg, S.
292–304.
31 Moritz – Leidinger, Zwischen Nutzen und Bedrohung, S. 130–142.
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Verena Moritz
Soldaten auf recht unterschiedliche Erfahrungen. Wer auf Einzelhöfen arbeitete, traf es
in der Regel besser als einer, der größeren Gutsbetrieben zugeteilt wurde, wo lagerähnliche Rahmenbedingungen anzutreffen waren.32 Unter unmenschlichen Bedingungen
litten vor allem die beim Bau der Murmanbahn beschäftigten Gefangenen. 25.000 bis
28.000 von insgesamt 70.000 dort eingesetzten Männern sollen ums Leben gekommen
sein.33
Bewirkte der Umstand, dass die Gefangenen an der Ostfront für gewöhnlich in großen Kontingenten („big catches“34) gefangen genommen wurden und dann die erste
Zeit in großen Lagern verbrachten, eine relative „Gleichförmigkeit“ der Erinnerung,
bedeutete das Ende des Aufenthalts in den Massenlagern, dass sich eine schwer zu erfassende „Vielfalt der Erlebnisse“ einstellte.35 Die im Zuge des Arbeitseinsatzes gesammelten Erfahrungen lassen sich kaum mehr zu einem „kollektiven Schicksal“ bündeln.
Die Zahl der Kriegsgefangenen, die in landwirtschaftlichen Betrieben tätig waren, stieg
besonders rasant: Waren es im Herbst 1915 295.000, so zählte man im Mai 1916 bereits
mehr als 460.000. Die Kriegsgefangenen ersetzten über 50 Prozent jener Landarbeiter,
die von den Grundbesitzern in Friedenszeiten eingestellt und nun dem Agrarsektor durch
den Kriegsdienst entzogen wurden.36 Soldaten der Zentralmächte wurden aber auch in
russischen Fabriken und Bergwerksbetrieben immer wichtiger. Insgesamt standen nach
statistischen Angaben mit 1. (14.) April 1917 als Stichtag der Erhebung über 1,6 Millionen Kriegsgefangene in Russland im Arbeitseinsatz.37
Die von den zaristischen Behörden unterstützte Aufstellung tschechischer und
serbischer militärischer Einheiten (Druschinen), die sich aus kriegsgefangenen k.u.k.
Soldaten zusammensetzten und gegen die Mittelmächte zum Einsatz kamen, führte
indessen unter den gefangenen Offizieren aus der Donaumonarchie zu Auseinandersetzungen. Die Loyalität slawischer k.u.k. Offiziere wurde angezweifelt, das Bild vom
„slawischen Verräter“ ließ die Gegensätze aufeinanderprallen.38 Schon kurz nach der
Gefangennahme konnte die wahrgenommene Privilegierung slawischer Kameraden
auch unter den gefangenen einfachen k.u.k. Soldaten zu Konflikten führen. Nicht
zuletzt im Durchgangslager Darnica war bald von der sogenannten „Tschechenwirtschaft“ die Rede.39
32 Vgl. Erinnerungen einfacher Soldaten in: Leidinger – Moritz (Hg.), In russischer Gefangenschaft.
33 Reinhard Nachtigal, Die Murmanbahn. Die Verkehrsanbindung eines kriegswichtigen Hafens und das
Arbeitspotential der Kriegsgefangenen 1915–1918. Grunbach 2001, S. 124f.
34 Rachamimov, POWs and the Great War, S. 38.
35 Wurzer, Die Erfahrung der Extreme, S. 124.
36 Alexis N. Antsiferov, Russian Agriculture during the War. New Haven 1930, S. 121.
37 Im Uralgebiet und im Donbass stellten die Österreicher, Deutschen, Türken und Bulgaren 20 bis 30
Prozent der Gesamtzahl aller dort eingesetzten Arbeitskräfte. 60 Prozent aller Eisenerzbergleute, 30
Prozent aller Arbeiter in Roheisengießereien und 28 Prozent aller Torfstecher in ganz Russland waren
im Sommer 1917 Kriegsgefangene. Leidinger – Moritz, In russischer Gefangenschaft, S. 263.
38 Eine Reihe von Auseinandersetzungen unter den kriegsgefangenen Offizieren wurde aktenkundig.
Vgl.: Rossiiskii gosudarstvennyi voenno-istoricheskii arkhiv (RGVIA), f.1468, op.2, d.394, l.600;
RGVIA, f.1468, op.2, d.367, l.684-687 und siehe ÖStA, KA, NL B/863 (Rüdiger Stillfried), S. 60f.
39 Nachtigal, Privilegiensystem und Zwangsrekrutierung, S. 178.
Kriegsgefangenschaft als Erfahrung
Abgesehen von den erwähnten Druschinen ist in diesem Zusammenhang auch auf
die Massendesertionen an der österreichisch-ungarischen Nordostfront hinzuweisen, die
vor allem von tschechischen Soldaten begangen wurden.40 Dass sich Soldaten des Habsburgerreichs, aber auch der russischen Armee ihren Gegnern kampflos auslieferten, wird
auf den multinationalen Charakter beider Armeen zurückgeführt. An der Westfront, wo
sich mit Deutschland und Frankreich national homogene Staaten gegenüberstanden, entwickelten sich Desertionen keineswegs zu einem Massenphänomen.41
Die Politik, Gefangene slawischer Nationalität zum Eintritt in „Druschinen“ zu
bewegen, wurde von der Provisorischen Regierung nach der Februarrevolution nicht
nur fortgesetzt, sondern erreichte in dieser Phase sogar ihren ersten Höhepunkt: Bis zur
Jahresmitte 1917 meldeten sich mehr als 20.000 für den Dienst in der Tschechoslowakischen Legion.42 Im März 1918 erreichte sie eine Stärke von mindestens 40.000 Mann.43
Die Umwälzungen in Russland wurden indessen für die Gefangenen zur großen
Enttäuschung. Die Provisorische Regierung setzte den Krieg fort.44 Die Bolschewiki
hingegen konnten mit der Forderung nach einem sofortigen Friedensschluss nicht nur
unter den russischen Soldaten, Industriearbeitern und Bauern an Einfluss gewinnen.
Auch Kriegsgefangene, die aus dem erhofften Ende der Kampfhandlungen eine baldige
Heimkehr ableiteten, zeigten sich von ihren Parolen beeindruckt.
Die Bolschewiki änderten ihrerseits unmittelbar nach dem Sturz der Provisorischen
Regierung die Kriegsgefangenenpolitik. Schnell ging auch die Reorganisierung des Gefangenenwesens vonstatten. Es entstanden verschiedene, jedoch meist nur kurzlebige
Institutionen. Erst das im Frühjahr 1918 ins Leben gerufene Zentralkollegium für Gefangenen- und Flüchtlingsangelegenheiten (Central’naja kollegija po delam o plennych
i bežencach beziehungsweise Centroplenbež) entwickelte sich zu einer Stelle, die dem
Auftrag, alle mit der Gefangenenproblematik in Zusammenhang stehenden Maßnahmen
in die Hand zu nehmen, am ehesten gewachsen zu sein schien. Nichtsdestoweniger muss
auch die Tätigkeit des Centroplenbež kritisch beurteilt werden. Schon in Anbetracht
der wirren Verhältnisse auf dem Territorium des ehemaligen Zarenreiches blieben seine
Bemühungen im Bereich der Gefangenenfürsorge oft nur Stückwerk. Darüber hinaus ist
die Tätigkeit sowjetrussischer Institutionen im Zusammenhang mit der Gefangenenfürsorge immer auch mit Blick auf propagandistische Absichten zu betrachten. Die Versor40 Vgl. Richard G. Plaschka, Avantgarde des Widerstands. Modellfälle militärischer Auflehnung im 19.
und 20. Jahrhundert. Bd. 2. Wien 2000; und mit neuen Erkenntnissen: Richard Lein, Pflichterfüllung
oder Hochverrat? Die tschechischen Soldaten Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg. Wien u.a.
2011.
41 Nachtigal, Privilegiensystem und Zwangsrekrutierung, S. 168–172.
42 Gerburg Thunig-Nittner, Die Tschechoslowakische Legion in Rußland. Ihre Geschichte und Bedeutung als politisch-geistiger Faktor bei der Entstehung der tschechoslowakischen Republik. Wiesbaden
1970, S. 153f.
43 Josef Kalvoda, Czech and Slovak Prisoners of War in Russia during the War and Revolution, in:
Samuel R. Williamson – Peter Pastor (Hg.), Essays on World War I: Origins and Prisoners of War.
New York 1983, S. 215–238, hier: S. 224f.; ders., Origins of the Czechoslovak Army 1914–1918, in:
Béla K. Király – Sándor F. Dreisziger (Hg.), War and Society in East Central Europe. Vol. XIX. New
York 1985, S. 419–435, hier: S. 423f.
44 Hephäst (= Theodor v. Suess), In russischer Kriegsgefangenschaft. Wien 1930, S. 31; Karl Drexel,
Feldkurat in Sibirien 1914–1920. Innsbruck 1949, S. 157.
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gung der Gefangenen, ihre Evakuierung oder diverse Betreuungsmaßnahmen blieben
demgegenüber oft nur Lippenbekenntnisse.45
Alles in allem erscheint die Kriegsgefangenenpolitik der Bolschewiki doppelbödig.
Die „Freiheitsrechte“, welche die „Sowjetmacht“ den in Russland befindlichen Soldaten
der Mittelmächte zugestand, änderten wenig an der tatsächlichen Lage der Gefangenen. Lenin und seine Parteigenossen standen, entgegen der offiziellen Propaganda, den
Gefangenenmassen misstrauisch gegenüber. In einer allzu großen Bewegungsfreiheit
der fremden Soldaten auf russischem Boden erblickte die bolschewistische Parteiführung eine Gefahr für die Rätediktatur und somit für ihre eigene Machtposition. Selbst
Kriegsgefangene, die offen für Lenins Herrschaft eintraten, wurden von den staatlichen
Institutionen Sowjetrusslands mit Skepsis beäugt. Unter der Aufsicht mehrerer Regierungsstellen fasste man die revolutionär gesinnten „ausländischen Proletarier“, die Internationalisten, im April 1918 zu einer zentralen Organisation zusammen. Sie versuchte,
„ihre ehemaligen Kameraden für die Ziele der Bolschewiki“ zu gewinnen. Obwohl die
Internationalisten auf ihren „Agitationsreisen“ oft genug auf Ablehnung stießen, schlossen sich immerhin ein paar Zehntausend ehemalige Gefangene – der Großteil davon Ungarn – Formationen der Roten Armee an. Freilich waren nicht selten materielle Gründe
für den Eintritt in die internationalen Bataillone ausschlaggebend. Überdies sind mehrfach Zwangsrekrutierungen bezeugt.
Angesichts der ideologischen Beeinflussung von k.u.k. Soldaten im Herrschaftsbereich der Bolschewiki zeigte sich die militärische Führung der Donaumonarchie speziell
zur Jahreswende 1917/18 beunruhigt, zumal die Friedensverhandlungen mit der Sowjetregierung auch den Austausch der Kriegsgefangenen in greifbare Nähe rücken ließen.
Nachdem die Unterredungen in Brest-Litovsk vorerst zu keinem Erfolg geführt hatten,
starteten die Mittelmächte eine neue Offensive. Die dadurch hervorgerufene unmittelbare Bedrohung der „Rätemacht“ sowie der Sonderfriede zwischen den Zentralmächten
und der Ukraine zwangen Lenin und seine Parteigänger schließlich, einem Vertragswerk
zuzustimmen, bei dem Russland einen beträchtlichen Teil seiner westlichen Gebiete und
die damit verbundenen wirtschaftlichen Ressourcen einbüßte.
Währenddessen begannen die k.u.k Militärbehörden mit der Überprüfung der politischen Gesinnung der sogenannten „Russlandheimkehrer“. Ein gewaltiger, vom Armeeoberkommando und vom Kriegsministerium aufgebauter „Abwehrapparat“ im Dienste
der „Kommunismusbekämpfung“ erstreckte sich von den östlichsten Kontrollpunkten
bis ins Hinterland der Donaumonarchie. In 53 Heimkehrerlagern mussten sich die ehemaligen Gefangenen einem Rechtfertigungsverfahren unterziehen. Im Zuge eines „vaterländischen Unterrichts“, den die Heimgekehrten erhielten, sollten die militärische
Disziplin wieder aufgefrischt und ihr Patriotismus wachgerufen werden. Die schlechte
Versorgung der Soldaten und die Not der Angehörigen an der „Heimatfront“ verstärkten
jedoch die Unzufriedenheit unter den Russlandheimkehrern. Es ist deshalb nicht weiter
verwunderlich, wenn der Aufruhr bei den Ersatzkörpern der österreichisch-ungarischen
45 Ausführlich über das Kriegsgefangenenwesen der Bolschewiki bei Leidinger – Moritz, Das russische
Kriegsgefangenenwesen, S. 94–106.
Kriegsgefangenschaft als Erfahrung
Armee in den Monaten Mai, Juni und Juli 1918 vor allem auf wirtschaftliche Probleme
zurückgeführt wird. Erst nach und nach kamen nationalistische und sozialistische Forderungen hinzu.46
Bis September 1918 kehrten nach Angaben des Kriegsministeriums in Wien ca.
600.000 Männer aus russischer Gefangenschaft zurück. Diese Zahl ist keineswegs
ausschließlich auf die regulären Repatriierungsaktionen der Wiener Militärverwaltung
zurückzuführen. Viele hatten die „Wirren“ im revolutionären Russland dazu genutzt, um
ihre Lager und Arbeitsstätten zu verlassen und sich auf eigene Faust zu den Truppen der
Zentralmächte durchzuschlagen. Das Entstehen der „Bürgerkriegs-Fronten“ versperrte
schließlich den Weg nach Westen, weitere Hunderttausende Angehörige der k.u.k. Armee, unter ihnen viele Ungarn und Deutschösterreicher, blieben noch für mehrere Jahre
in Sibirien. Da die Nachfolgestaaten des Habsburgerreichs, ihre zuständigen Ämter und
bevollmächtigten Delegationen ebenso wie die ambitionierten Angehörigenverbände allein nicht in der Lage waren, die finanziellen und technisch-organisatorischen Hürden
zur Bewältigung einer groß angelegten Repatriierungsaktion zu überwinden, mussten
zusätzliche Kooperationspartner verpflichtet werden. Dabei war zunächst dem Misstrauen der Alliierten entgegenzuwirken, die auch weiterhin fürchteten, die Heimkehrer
aus Russland würden die Revolution auch in ihre Herkunftsländer tragen. Erst im Laufe
des Jahres 1920 standen derartige Vorbehalte einer Heimbeförderung der letzten Kriegsgefangenen nicht mehr im Wege.
Die Zusammenarbeit aller betroffenen Staaten, des Roten Kreuzes und des Völkerbundes, in dessen Namen sich der Polarforscher Fridjof Nansen für die Lösung der
Gefangenenfrage einsetzte, machte schließlich die Bewältigung einer sich mittlerweile
zur globalen Problematik entwickelnden Folgeerscheinung des Weltkrieges möglich.
Abgesichert durch bilaterale Abkommen mit der Sowjetregierung – Österreich schloss
einen derartigen Vertrag beispielsweise im Juli 1920 in Kopenhagen – begann die Evakuierung der noch im europäischen Russland, in Mittelasien und Sibirien verbliebenen
Kriegsgefangenen, die vorrangig auf dem Seewege abtransportiert wurden. Zu Jahresbeginn 1922 sah sich dann das Wiener Kriegsgefangenenamt in der Lage, seine Arbeit
einzustellen. Nach dessen Angaben waren in den vorangegangenen drei Jahren etwa
30.000 Staatsbürger der neuen Republik Österreich aus der russischen Gefangenschaft
zurückgekehrt. Die Deutschen Böhmens, Mährens, Südtirols und der Untersteiermark
wurden zu diesem Zeitpunkt nicht mehr hinzugezählt.47
46 Zur Lage der Gefangenen nach der Machtergreifung der Bolschewiki sowie zur Tätigkeit der sogenannten Internationalisten siehe: Leidinger – Moritz, Gefangenschaft, Revolution, Heimkehr, S. 133–
646.
47 Zu den Heimkehrerunruhen siehe u.a. Richard G. Plaschka – Horst Haselsteiner – Arnold Suppan,
Innere Front. Militärassistenz, Widerstand und Umsturz in der Donaumonarchie. Bd. 1. Wien 1974,
S. 281, sowie insgesamt zur Heimkehrproblematik: Hannes Leidinger, Zwischen Kaiserreich und Rätemacht. Die deutschösterreichischen Heimkehrer aus russischer Kriegsgefangenschaft und die Organisation des österreichischen Kriegsgefangenen- und Heimkehrwesens 1917–1920. Diplomarbeit
Wien 1995; und Reinhard Nachtigal, Die Repatriierung der Mittelmächte-Kriegsgefangenen aus dem
revolutionären Russland. Heimkehr zwischen Agitation, Bürgerkrieg und Intervention 1918–1922,
in: Jochen Oltmer (Hg.), Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs. Paderborn – München –
Wien – Zürich 2006, S. 239–366.
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Erwartungshaltungen und nachmalige Bewertungen
Vor allem jene Soldaten, die 1914 in den Krieg zogen, verschwendeten wohl keinen
Gedanken an die Möglichkeit einer Gefangennahme durch den Feind. Nicht wenige
empfanden den „Ruf zu den Waffen“ als Eintritt in ein willkommenes Abenteuer, andere
als Beginn einer pflichtmäßig zu erledigenden Aufgabe, die nur kurze Zeit in Anspruch
nehmen würde.48
Obwohl die Forschung bereits seit geraumer Zeit dem langlebigen Narrativ von der
kollektiven Kriegsbegeisterung überzeugende Gegenbilder gegenübergestellt hat, meldet sich das „Klischee“ von der „Freude“ über das bevorstehende Kräftemessen in vielen Ego-Dokumenten der „Kämpfer“ zurück. Anders als im Deutschen Reich konnten
zumindest höhere Chargen bei nur oberflächlicher Beobachtung der außenpolitischen
Entwicklungen der vergangenen Jahre die Motive für den Kriegsentscheid mehr oder
weniger nachvollziehen. Dass Serbien ebenso wie Russland die Monarchie bis aufs Äußerste „gereizt“ hatten, gehörte in der Zeit vor dem Sommer 1914 gewissermaßen zum
Fixpunkt der täglichen Zeitungslektüre.49 Der Auseinandersetzung auf dem Schlachtfeld
sahen speziell jüngere Jahrgänge überdies nicht nur in Erwartung verschiedener, auf dem
„Feld der Ehre“ zu begehender „Heldentaten“ entgegen, sondern auch mit einer nahezu
ungetrübten Zuversicht. Dieser Eindruck ergibt sich in erster Linie bei der Untersuchung
von Texten über Erfahrungen im Krieg, die (Berufs-)Offiziere niedergeschrieben haben
– wenngleich hier eine befürwortende Position gegenüber dem militärischen Kräftemessen mehr oder weniger erwartbar erscheint. Ebenfalls zu berücksichtigen gilt es bei
der Lektüre diesbezüglicher Ego-Dokumente die intendierte männliche Selbstsicht, welche nicht zuletzt in Korrelation mit den zeitgenössischen, gesellschaftlich normierten
„Männlichkeitsmustern“ zustande kam. Die Autoren sahen sich lieber als tapfere, nach
Siegen strebende Kämpfer denn als Pessimisten. Dieser Befund gilt gerade auch für die
in Gefangenschaft geratenen Soldaten aus der k.u.k. Monarchie und ihre Erinnerungswerke.
In ihnen werden die anfängliche Begeisterung über den Krieg und ein teilweise
überschäumender Kampfeswille besonders betont – eben weil die Gefangennahme alle
Hoffnungen auf die erträumten „Lorbeeren“ zunichte machte. Hier stellt sich die Kriegsgefangenschaft nicht nur als lebensgeschichtliche Zäsur dar, sondern auch und insbesondere als Wendepunkt für das männliche Selbstverständnis. Darüber hinaus musste die
passive Rolle in der Hand der Feinde, mit der kein Beitrag zugunsten des „Vaterlandes“
geleistet worden war, sondern die im Gegenteil zu dessen Schwächung beigetragen hatte, retrospektiv mit Sinn erfüllt werden. Vor diesem Hintergrund ergab sich gewissermaßen eine bestimmende Prämisse für die Konzeption vieler Selbstzeugnisse, wonach der
Krieg ungeachtet seines Ausgangs keinesfalls sinnlos gewesen sein konnte, ja durfte, da
sich andernfalls daraus auch die Zeit in der Gefangenschaft nicht positiv (um-)deuten
48 Zur Bewertung der vermeintlichen „Kriegssehnsucht“, die allerdings den Focus auf Deutschland richtet, siehe: Gerd Krumeich, Vorstellungen vom Krieg vor 1914, in: Sönke Neitzel (Hg.), 1900: Zukunftsvisionen der Großmächte. Paderborn – München – Wien – Zürich 2002, S. 173–186.
49 Vgl. Bernhard Rosenberger, Zeitungen als Kriegstreiber? Die Rolle der Presse im Vorfeld des Ersten
Weltkriegs. Köln – Weimar – Wien 1998.
Kriegsgefangenschaft als Erfahrung
ließ. Dieser „Strategie“ folgend sollte die Erfahrung in der Gefangenschaft als eine Art
„patriotisches Schicksal“ präsentiert werden.50
Ihren Einsatz im Gefecht besonders betonten in den betreffenden publizierten Selbstzeugnissen vor allem jene ehemaligen kriegsgefangenen Offiziere, die unverwundet in
die Hand des Feindes geraten waren. Nach einem Dienstreglement aus dem Jahr 1909
mussten sich Offiziere, die ihren Weg in die Gefangenschaft ohne körperliche Versehrtheit antraten, vor dem Offizierskorps ihres Ersatztruppenteils hinsichtlich der Umstände,
die zu ihrer Gefangennahme geführt hatten, rechtfertigen.51 Vor diesem Hintergrund verspürten sie ein umso größeres Bedürfnis, ihre Tapferkeit gerade auch gegenüber einem
größeren Publikum hervorzuheben und ihrem Bedauern über die Unmöglichkeit, dem
Vaterland weiter dienen zu können, Ausdruck zu verleihen. In den Erinnerungen ehemaliger kriegsgefangener Offiziere wird daher den Umständen, die dazu führten, dass
der Feind sie überwältigen konnte, ausführlich und im Stil einer „Selbstrechtfertigung“
Beachtung geschenkt. Viele taten sich auch im Rückblick schwer, die als „Schande“
empfundene Gefangennahme zu beschreiben und den Schock über das Erlebte in Worte zu fassen. Hier wirkte der in der „zivilen Welt“ bereits seit geraumer Zeit durchaus kritisch diskutierte „Ehrenkodex“, dem sich das Offizierskorps ungeachtet solcher
„externer“ Debatten verpflichtet fühlte, weiter. Diesem Selbstverständnis wiederum lag
die Betrachtung der Gefangenschaft als „Makel“ zugrunde. Einfache Soldaten hingegen neigten in ihren Darstellungen dazu, die Gefangennahme weniger als individuelle
Niederlage vorzuführen denn als Folge einer insgesamt verfehlten Kriegsführung, als
Konsequenz der Befehle ihrer Vorgesetzten, als Beweis für die Übermacht des Feindes
oder eben nur als schicksalhaft.
Dass unter den Kampftruppen der k.u.k. Armee im Sommer 1914 keineswegs ungetrübte Begeisterung über den bevorstehenden Waffengang herrschte, ist freilich aus der
Wahrnehmung und in weiterer Folge der Interpretation des Erlebten seitens einfacher
Soldaten ersichtlich. Immerhin blieb die Stimmung zu Beginn des Krieges gerade bei
jenen eher gedämpft, die einigermaßen bitter auf ihre Rekrutenzeit zurückblickten. Dass
diese von vielen k.(u.)k. Soldaten als schikanös, ja traumatisierend erlebt wurde, lässt
sich mittlerweile anhand verschiedener Ego-Dokumente nachweisen.52 Für viele Mannschaftsangehörige eröffnete schon aus diesem Grund der Krieg weit weniger positive
Perspektiven als etwa für Offiziere. Da sich die Hoffnung auf einen kurzen Waffengang
nicht erfüllte, überwog bei jenen, die ab 1915 „assentiert“ und an die Front abkommandiert wurden, ohnehin eher eine nüchterne Haltung.
50 Leidinger – Moritz, In russischer Gefangenschaft, S. 30f.
51 Ernst Rutkowski, Der Kundschafterdienst des k.u.k. Armeeoberkommandos in Russland im Jahre
1918, in: Militärhistorische Forschungen. H. 1. Wien 1992, S. 15–76, hier: S. 38.
52 Christa Hämmerle (Hg.), Des Kaisers Knechte. Erinnerungen an die Rekrutenzeit im k.(u.)k. Heer
1868 bis 1914. Wien – Köln – Weimar 2012, und Christa Hämmerle, „… dort wurden wir dressiert
und sekiert und geschlagen …“ Vom Drill, dem Disziplinarstrafrecht und Soldatenmisshandlungen im
Heer (1868 bis 1914), in: Laurence Cole – Christa Hämmerle – Martin Scheutz (Hg.), Glanz – Gewalt
– Gehorsam. Militär und Gesellschaft in der Habsburgermonarchie (1800 bis 1918). Essen 2011.
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Unterschiedliche Perspektiven
Nach 1918 erschienen in Österreich allein in Buchform mehrere Dutzend Erlebnisberichte ehemaliger Kriegsgefangener.53 Sie stammen zum überwiegenden Teil von Offizieren. Auch ein Blick in die Nachlasssammlung im Wiener Kriegsarchiv ergibt ein
derartiges Bild: Die vorliegenden Texte über die Zeit in russischer Kriegsgefangenschaft
verfassten vornehmlich Offiziere. Dennoch sind mittlerweile auch etliche Selbstzeugnisse einfacher Soldaten zugänglich, welche die Kriegsgefangenschaft betreffen. Die
diesbezüglichen Aufzeichnungen sind unverzichtbare Quellen für den Versuch, die Erfahrung der Kriegsgefangenschaft im Osten in all ihren Formen nachzuvollziehen.54
Jene Texte, die noch während des Krieges veröffentlicht wurden, stammen von sogenannten Austauschinvaliden und solchen, die aus der Gefangenschaft fliehen konnten.
Diese Schriften mussten freilich die Zensur passieren, bevor sie für die Veröffentlichung
freigegeben wurden. In ihnen sollten einerseits die Zustände in Russlands Gefangenenlagern nicht zu negativ beschrieben werden, um die Angehörigen zu Hause nicht zu verunsichern, und andererseits nicht zu positiv, um die noch kämpfenden Soldaten nicht zum
Überlaufen zu animieren. Auf jeden Fall sollte die Lektüre dieser meist dünnen Heftchen
oder Artikelserien in verschiedenen Zeitungen und Journalen dazu beitragen, die Fluchtbereitschaft all jener, die möglicherweise noch in Gefangenschaft geraten würden, zu
stimulieren.55 Die Erinnerungsliteratur, die später, also nach Kriegsende erschien, war
nicht nur umfangreicher, sondern bot auch ein viel breiteres Themenspektrum auf.56 Die
Leser wurden ausführlich über die Lebenswirklichkeit der Kriegsgefangenen in Russland, einem Land, dessen Entwicklung die Weltöffentlichkeit nach der Oktoberrevolution 1917 und der Entwicklung vom Welt- zum Weltanschauungskrieg57 besondere Aufmerksamkeit schenkte, informiert. Das Interesse an derartigen Selbstzeugnissen ehemals
Betroffener blieb über Jahre hinweg relativ konstant, traf dann aber mit der fiktionalen
Verarbeitung des Kriegserlebnisses, das wachsenden Anklang beim Lesepublikum fand,
auf eine immer größer werdende Konkurrenz.58 Dass hinsichtlich einer belletristischen
Aufbereitung der russischen Kriegsgefangenschaft in Österreich vor allem die Werke des
deutschen Bestsellerautors Edwin Erich Dwinger Zuspruch fanden, kann trotz fehlender
Zahlen über den Buchverkauf angenommen werden. Seinen Werken wird eine Wirkung
53 Georg Wurzer spricht von über 100 Titeln, die im deutschsprachigen Raum erschienen. Wurzer, Die
Erfahrung der Extreme, S. 98.
54 Dazu u.a.: Hannes Leidinger – Verena Moritz, In russischer Gefangenschaft.
55 Vgl. Rudolf Strisower, Meine Erlebnisse in russischer Gefangenschaft und auf der Flucht aus Turkestan. Wien – Leipzig 1915; Erwin Kunewälder, Meine Erlebnisse in zehnmonatiger Kriegsgefangenschaft. Wien 1916; Viktor Nowak, Bilder aus der Erinnerung eines Austauschinvaliden. Wien 1916;
Franz Wlad, Meine Flucht durchs mongolische Sandmeer. Wien 1918; Julius Schuster, 16 Monate in
russischer Kriegsgefangenschaft 1915/16. Eger 1917.
56 Nach 1945 erschienen keine neuen Memoiren mehr, wieder aufgelegt wurde aber beispielsweise das
Buch von Karl Drexel: Karl Drexel, Feldkurat in Sibirien 1914–1920. Innsbruck 1949. Mit der Gefangenenthematik setzt sich u.a. aber auch Burghard Breitner in einem 1955 erschienenen Werk auseinander: Burghard Breitner, Asiatischer Spiegel. Innsbruck 1955.
57 Vgl. Jasper, Zweierlei Weltkriege?, S. 14
58 Dazu auch: Barbara Korte – Sylvia Paletschek – Wolfgang Hochbruck (Hg.), Der Erste Weltkrieg in
der populären Erinnerungskultur. Essen 2008.
Kriegsgefangenschaft als Erfahrung
auf das Bild der russischen Gefangenschaft im Ersten Weltkrieg zugesprochen, die – so
vorhandene Einschätzungen – ihr Pendant in den Büchern von Heinz Konsalik für den
Zweiten Weltkrieg fand.59 Nicht von der Hand zu weisen ist sicherlich, dass Dwingers
Darstellungen auch die Texte jener Verfasser von Erinnerungen an die Gefangenschaft
beeinflussten, die sich dem „Schriftstellerhandwerk“ eher laienhaft zuwandten.60
Freilich wird man bezüglich des Grundtenors der publizierten Werke nicht nur auf
Vorbilder oder individuelle Wahrnehmungen und Deutungen verweisen müssen, sondern auch auf die unterschiedlichen politischen Milieus in der Ersten Republik, innerhalb derer Texte über die Erfahrungen im Krieg und in der Gefangenschaft entstanden.61
Die österreichischen Sozialdemokraten etwa wandten sich in aller Schärfe gegen die
ehemaligen Entscheidungsträger der Armee und betonten angesichts des Nachkriegselends deren Verantwortung für das „gegenwärtige Unglück“. Der an die Zeit vor 1914
anknüpfende Antimilitarismus der sozialdemokratischen Partei (SDAP) führte allerdings nicht zu einer mit Nachdruck vorgenommenen Ahndung von Verfehlungen diverser Befehlshaber während des Krieges. Ohnehin spielte in Österreich die „Schuldfrage“
im Unterschied zu Deutschland im öffentlichen Bewusstsein eine weit geringere Rolle.62
Indessen konzentrierten sich nicht wenige „linke“ Erinnerungstexte von Kriegsteilnehmern auf die Kritik an den ehemaligen Vorgesetzten, wobei die im Umgang mit den
Soldaten regelmäßig zum Ausdruck gebrachte Geringschätzung im Vordergrund stand.63
Offiziere bedienten sich dabei eines dehumanisierenden Vokabulars, das manche freilich
schon aus ihrer Rekrutenzeit kannten.64
Vereinigungen ehemaliger Kriegsgefangener, die nach 1918 entstanden und dem
linken politischen Spektrum zuzuordnen waren, war daran gelegen, das Gefangenener59 Rüdiger Overmans, „Hunnen“ und „Untermenschen“. Deutsche und russisch/sowjetische Kriegsgefangenschaftserfahrungen im Zeitalter der Weltkriege, in: Bruno Thoß – Hans-Erich Volkmann
(Hg.), Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung
in Deutschland. Paderborn – München – Wien – Zürich 2002, S. 335–365, hier S. 348 (Fn. 27). Vgl.
außerdem: Matthias Schöning, Moderne Kehrseiten des modernen Krieges. Die Ostfront im Roman
der Weimarer Republik, in: Beate Störtkuhl – Jens Stüben – Tobias Weger (Hg.), Aufbruch und Krise.
Das östliche Europa und die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg, München 2010, S. 523–541.
60 Dass österreichische Autoren wie etwa Heimito von Doderer mit ihrer literarischen Aufbereitung der
Erfahrungen in russischer Gefangenschaft eine ähnlich breite Wirkung wie Dwinger erzielten, erscheint schwer vorstellbar. Entsprechendes Publikum fanden offenbar eher die Autoren diverser Gefangenenmemoiren.
61 Als Vergleich: Benjamin Ziemann, Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in den Milieukulturen
der Weimarer Republik, in: Thomas F. Schneider (Hg.), Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das
Bild des „modernen“ Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film. Bd. 1. Osnabrück 1999,
S. 249–270.
62 Zur Arbeit der Kommission zur Erhebung militärischer Pflichtverletzungen siehe Wolfgang Doppelbauer, Zum Elend noch die Schande. Das altösterreichische Offizierskorps am Beginn der Republik.
Wien 1988.
63 Über die zum Teil aggressive Haltung gegenüber Offizieren nach Kriegsende siehe Oswald Überegger, Erinnerungskriege. Der Erste Weltkrieg, Österreich und die Tiroler Kriegserinnerung in der
Zwischenkriegszeit. Innsbruck 2011, S. 50f.
64 Vgl. Arnold Hackl, Erinnerungen an Sibirien – Kriegsgefangenschaft 1914–1920. Linz 2009, S. 36.
Dort heißt es: „Zu den Strapazen des Marsches kam noch die rohe Art der Vorgesetzten. Wie oft machte uns ein Offizier weise, dass wir nichts anderes seien als ein Batzen Fleisch, der frisst und scheißt
und sonst nichts.“
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Verena Moritz
lebnis von Mannschaftsangehörigen im Kontrast zu jenem der Offiziere aufzuzeigen.
Letztere wurden geradezu als Peiniger ihrer Untergebenen vorgestellt, die, auf ihren
Stand und ihre Vorrechte pochend, sogar russische Initiativen zur Verbesserung des
Loses etwa der Einjährig-Freiwilligen boykottierten. Selbst Kriegsgefangene, die dem
Offiziersstand angehört hatten, äußerten sich später ungehalten über den dort und da
aufgetretenen „Egoismus“ ihrer Kameraden.65
Das Organ des „Reichsverbandes ehemaliger Kriegsgefangener des Mannschaftsstandes Deutschösterreichs“, das unter der Bezeichnung „Der ehemalige Kriegsgefangene als Erzähler“ erschien, prangerte die Überheblichkeit von Offizieren gegenüber den
Mannschaften an und wusste von verschiedenen Fällen groben Fehlverhaltens früherer
Vorgesetzter zu berichten. „Der Kriegsgefangene als Erzähler“ äußerte sich darüber hinaus
besonders scharf über die als ungerechtfertigt beurteilten Unterschiede zwischen der Situation einfacher Soldaten und Offiziere in der Gefangenschaft. Die Lebensumstände, mit denen Letztere konfrontiert gewesen waren, bezeichnete man als geradezu „paradiesisch“.66
Auch im Zarenreich wurde die bereits in der Haager Landkriegsordnung vorweggenommene Besserstellung von kriegsgefangenen Offizieren im Regelfall umgesetzt. Abgesehen von komfortableren Unterkünften, dem zumindest auf dem Papier zugesicherten
Erhalt einer monatlichen Gage sowie dem Verbot, Offiziere zur Arbeit heranzuziehen,
äußerte sich ihre privilegierte Stellung durch eine Reihe zusätzlicher Vergünstigungen,
welche den Alltag hinter Stacheldraht erträglicher gestalteten. Dazu gehörten im Idealfall
verschiedene Möglichkeiten zur Zerstreuung. Bevorzugt wurden die Offiziere außerdem
bei der Verteilung von Liebesgaben aus der Heimat.67 Von Seuchenerkrankungen, welche
– wie erwähnt – vor allem in den beiden ersten Kriegsjahren Zehntausende, in Massenlagern konzentrierte Soldaten hinwegrafften, blieben die in separaten Unterkünften wohnenden Offiziere für gewöhnlich verschont. Sie thematisierten später vielmehr die psychischen Folgen der jahrelangen Internierung. Symptome, Verlauf und Auswirkungen der
sogenannten „Stacheldrahtkrankheit“ wurden mitunter ausführlich beschrieben.
Die Lebenswirklichkeit der Offiziere entsprach wenigstens im Vergleich zur Lage
einfacher Soldaten und zumindest bis zum Revolutionsjahr 1917, als sich die staatliche
Haltung gegenüber den Gefangenen gravierend veränderte, oftmals einer Art „splendid
isolation“. Diese hatte wenig bis gar nichts mit den lebensbedrohenden Zuständen in den
Mannschaftslagern auf russischem Boden gemein und wies auch keine Berührungspunkte mit den Erfahrungen der ab 1915/16 zu Tausenden zur Arbeit in Industriebetrieben
und in der Landwirtschaft herangezogenen Mannschafsangehörigen auf.68 Während für
Letztere die Lager an Bedeutung verloren und der Arbeitseinsatz überdies häufige Orts65 Moritz, Gefangenschaft und Revolution, S. 70–73.
66 Vgl. dazu beispielsweise: Der Kriegsgefangene als Erzähler. Jg. 5, Nr. 5, Mai 1927. Siehe außer die
Einschätzungen bei Wurzer: „Die Offiziere genossen eine privilegierte Stellung […]. Auffallenderweise stammen von ihnen die eindringlichsten Schilderungen ihrer angeblichen Qualen. Die Mannschaften, deren tatsächliche Leiden weit größer waren, kamen an den Arbeitsstellen in weit engeren
Kontakt mit der russischen Wirklichkeit als die Offiziere. Dies ließ sie über die Verhältnisse in dem
Land ihrer Internierung milder urteilen.“ Wurzer, Die Erfahrung der Extreme, S. 124f.
67 Moritz, Gefangenschaft und Revolution, S. 70–73.
68 Ebd., S. 71.
Kriegsgefangenschaft als Erfahrung
wechsel nach sich zog, stellte sich die Gefangenschaft für die Offiziere im Allgemeinen
als stationärer Aufenthalt dar. Wenngleich auch sie von der Transferierung in andere
Lager betroffen sein konnten, verlief ihre Zeit in Gefangenschaft in dieser Hinsicht sehr
viel „beständiger“ als jene der einfachen Soldaten. Die in Anbetracht des Arbeitseinsatzes geradezu erstaunliche Mobilität der Mannschaften, welche tiefe Einblicke in die
Lebenswirklichkeit der einheimischen Bevölkerung eröffnete, fand jedoch eine gewisse
Entsprechung in der Erfahrung jener Offiziere, die aus der Gefangenschaft flohen und
solcherart das „Feindesland“ kennenlernten. Wenngleich die große Zahl an publizierten
Memoiren von Offizieren, welche aus der Gefangenschaft flohen und diese Flucht im
Stile der Reiseliteratur oder als eine Art Abenteuerbericht aufbereiteten, ein „Massenschicksal“ suggeriert, blieben zumindest die Fälle einer geglückten Flucht schon angesichts der großen Distanzen, die es dabei zurückzulegen galt, in der Minderheit.
Erst nach der Machtergreifung der Bolschewiki versetzte die Gefangenenpolitik der
„Sowjetmacht“, welche die Verantwortung für die fremden Soldaten tendenziell ablehnte und den „Klassenkampf“ unter die Kriegsgefangenen trug, die Offiziere in eine Lage,
welche sich kaum mehr von jener der Mannschaften unterschied. Jetzt waren auch sie
vielfach dazu angehalten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Abgesehen von diversen
Schilderungen über die Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern von Lenins Regime und antibolschewistischen Kräften sowie die dadurch unterbundene Rückkehr in
die Heimat beinhalten Erinnerungswerke ehemaliger kriegsgefangener Offiziere über
die Zeit nach dem Oktober beziehungsweise November 1917 auch ausführliche Darstellungen ihrer Arbeitssuche und der dann tatsächlich ausgeübten Tätigkeiten. 69
Erinnerungskultur
Gegensätze zwischen Mannschaft und Offizierskorps drängte die im christlichsozialen
Lager verwurzelte „Bundesvereinigung ehemaliger österreichischer Kriegsgefangener“
(B.e.ö.K.), die 1921 auf Initiative früherer k.u.k. Offiziere gegründet wurde, in ihrer „Erinnerungsarbeit“ tendenziell zurück. Während der „Reichsverband ehemaliger Kriegsgefangener des Mannschaftsstandes Deutschösterreichs“ unverhohlen für die Politik der
Sozialdemokraten eintrat70, versprach die B.e.ö.K. in ihrem Blatt „Der Plenny“ („Plenny“ leitet sich her vom russischen Wort plennyj (Gefangener) beziehungsweise voenno(-)plennyj (Kriegsgefangener)) parteipolitische Neutralität. Die Vereinigung wollte
„alle ehemaligen Leidensgefährten“ ohne Ansehen ihrer politischen Überzeugungen71
69 Vgl. dazu beispielsweise ÖStA, KA, NL B/863 (Rüdiger Stillfried), S. 89f. oder die Ausführungen von
Arnold Hindels in Leidinger – Moritz, In russischer Gefangenschaft, S. 220–236.
70 1927 gab die Reichsvereinigung auch eine Wahlempfehlung für die SDAP ab. Peter Koch, Gründer
der Vereinigung, schrieb: „Wenn am 24. April die schwarze Regierung dank ihres geradezu verbrecherischen Lügen- und Volksverdummungsapparates wieder siegen sollte, dann wäre jede Hoffnung auf
ein besseres, glücklicheres Österreich [...] aufzugeben. [...] Daher, Kameraden und Freunde! Für uns
kann es am 24. 4. keinen anderen Stimmzettel geben als den sozialdemokratischen.“ – Der ehemalige
Kriegsgefangene als Erzähler. Nr. 2–4, April 1927, S. 1.
71 „Bei uns ist Parteipolitik grundsätzlich ausgeschlossen, unsere Plattform steht höher und vereinigt alle
ehemaligen Leidensgefährten als Kameraden und Menschen. Wir haben, wenn ich nur vier Gruppen
herausgreife, Sozialdemokraten und Christlichsoziale, Deutschnationale und Kommunisten neben-
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Verena Moritz
ansprechen, richtete sich aber – das verrät bereits der Name des „Vereinsorgans“ – vor
allem an die sogenannten „Russlandheimkehrer“ und traf hauptsächlich in bürgerlichen
und aristokratischen Kreisen auf Akzeptanz. Männer wie Karl Buresch, Ernst von Streeruwitz oder Carl Vaugoin, die im Verlaufe ihrer politischen Karrieren in der Ersten
Republik auch das Amt des Bundeskanzlers bekleideten72, übernahmen den Ehrenschutz
bei von der B.e.ö.K. organisierten Veranstaltungen.
Laut eigener Definition begriff sich die Bundesvereinigung als Institution, deren
Mission es sein sollte, die Gefangenschaft zu dokumentieren. Dieses Dokumentieren bedeutete selbstverständlich, dass man sich auch mit den vielen bitteren Erfahrungen in der
Gefangenschaft auseinandersetzen musste. Leitsprüche wie „Durch Leid zum Licht, im
Licht zur Liebe“73 verliehen dem Schicksal der Gefangenen eine religiöse Dimension im
Sinne einer „Läuterung“ durch erlittene Qual. Jenen Kameraden, die in Gefangenschaft
gestorben waren, schrieb man beinah märtyrerhafte Züge zu und betonte immer wieder,
„daß die Opfer des Krieges wie der Gefangenschaft nicht umsonst gewesen“ waren.74
Ungeachtet dieser „spirituell“-pathetischen Betrachtung der Gefangenschaft orientierte
sich die „Erinnerungsarbeit“ der B.e.ö.K. an den Werthaltungen des ehemaligen k.u.k.
Offizierskorps. Ursächliches Anliegen war es dabei, das Gedenken an die Kriegsgefangenschaft in die militärische Erinnerungskultur der Ersten Republik zu integrieren.75
Davon abgesehen widmete sich die B.e.ö.K. im Zuge ihrer Mitgliederbetreuung einer
kuriosen „Traditionspflege“. Alljährlich organisierte die Bundesvereinigung Ballveranstaltungen, die sich als folkloristische Spektakel und geradezu bizarre Inszenierungen
der Gefangenschaft darstellten. Bei dieser Gelegenheit wurden nicht zuletzt vor der Gefangennahme bestehende und während der Gefangenschaft zumindest partiell bestätigte
Klischees über Russland beziehungsweise Sibirien perpetuiert. So berichtete 1935 der
„Plenny“ über den „Plenny-Ball“: „Fröhliche Ballstimmung herrschte schon, als das
Ehrenkomitee und die vielen Ehrengäste in den Saal einzogen, der in seiner effektvollen
und künstlerischen Dekoration – Schneeflocken, Eiszapfen, ein großer Prospekt – winterliche sibirische Landschaft vorstellte und einen prächtigen Anblick bot. [...] Sodann
nimmt die ‚Mitternachtsrevue‘ ihren Anfang: der Höhepunkt des Ballfestes. Vor dem
Musikpavillon ersteht aus Kulissen ein russisches Dorf. Mit Balalaika- und Harmonikabegleitung zieht zu den Klängen des Wolgaliedes der russische Chor ein. Ihm folgen
einander in Freiheit, Achtung und Duldung, ohne Propaganda; was wir wollen, sind übergeordnete
gemeinsame Werte, die für alle gelten.“ – Der Plenny. Folge 3, 1.3.1926, S. 5 und Folge 4, 1.4.1927,
S. 44.
72 Ernst von Streeruwitz, 1929 Bundeskanzler, war von 1915 bis 1918 im Kriegsministerium mit Agenden des k.u.k. Kriegsgefangenenwesens befasst, Karl Buresch war 1931/32, Carl Vaugoin 1930 österreichischer Bundeskanzler. Alle drei gehörten der Christlichsozialen Partei an.
73 Vgl. In Feindeshand. Bd. 1, S. 14.
74Ebd.
75 Die Bildung von Kriegsgefangenenvereinigungen ist unbedingt in Zusammenhang mit der Etablierung von Kameradschaftsverbänden zu betrachten. Eine eingehende Untersuchung dieser Problematik, die auch die Beziehungen zwischen diesen Vereinigungen berücksichtigt, steht noch aus. Vgl.
aber die Ausführungen bei: Thomas Kühne: „…aus diesem Krieg werden nicht nur harte Männer
heimkehren“. Kriegskameradschaft und Männlichkeit im 20. Jahrhundert, in: Thomas Kühne (Hg.):
Männergeschichte – Geschlechtergeschichte: Männlichkeit im Wandel der Moderne. Frankfurt – New
York 1996, S. 174–192.
Kriegsgefangenschaft als Erfahrung
kostümierte Gruppen: Wolgarussen, Tempelbläser aus Taschkent, Sarten, Baschkiren,
Turkmenen, Kalmücken, Donkosaken und sonstige Typen aus dem ehemaligen Zarenreich. Der Saal verdunkelt sich, Abend- und Feierstimmung im russischen Dorf. [...] Ein
Trupp ehemaliger österreichischer Kriegsgefangener zieht ein, von Kosaken eskortiert,
in abgerissenen Monturen. Verhärmte Gesichter, Kranke, Invalide, lassen, noch einmal
einem bösen Traum gleich, dunkelste Erinnerungen der Gefangenschaft aufleben. Die
müden Plenny [...] entzünden ein Lagerfeuer, der Saal verdunkelt sich, sie schlafen und
träumen, ihre Traumphantasie entführt sie tausende Kilometer weg in die Heimat. Leise
und langsam ertönen die Klänge des Donauwalzers ...“ 76
Ungeachtet solcher Veranstaltungen, die wohl ungewollt an Faschingsumzüge erinnerten und über diesen Umweg eine Art Gemeinschaftserlebnis wachrufen sollten, welches das „ebenbürtige“ Pendant zum gleichfalls stilisierten „Fronterlebnis“ darzustellen
hatte, ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich die B.e.ö.K in ihrem Bemühen um die
gesellschaftliche Anerkennung der Kriegsgefangenen Verdienste erwarb. Eine breite Öffentlichkeit sollte mit der Geschichte der Gefangenschaft vertraut gemacht werden. Die
Bundesvereinigung gründete ein Kriegsgefangenenmuseum, das sogenannte Plennymuseum77, und sie gab ein zweibändiges Werk mit dem Titel „In Feindeshand“ heraus, das
die Gefangenschaft anhand von Erinnerungen ehemaliger Kriegsgefangener – überwiegend Offiziere – dokumentierte. Eine Sonderstellung nimmt darin die Gefangenschaft
in Russland ein; ihr ist das umfangreichste Kapitel gewidmet. Von der Gefangennahme
bis zur Heimkehr reicht das Spektrum der Darstellungen. Beiträge wurden auch von
ehemaligen Rot-Kreuz-Schwestern und anderen Personen verfasst, die im Rahmen von
Hilfs- und Fürsorgeaktionen für die Betreuung von Kriegsgefangenen zuständig gewesen waren. „In Feindeshand“ beanspruchte keine einheitliche Linie, die beiden Bände
entsprechen vielmehr einer Collage unterschiedlich schattierter Erinnerungsbilder.78
Neben der Dokumentationsarbeit wandte sich die B.e.ö.K. einer Reihe weiterer Aufgaben zu. So setzte man sich für die Verbesserung „des Gefangenenschutzes in künftigen Kriegen“ ein79 und arbeitete darauf hin, die Schaffung eines neuen Kriegsgefangenenrechtes in die Wege zu leiten.“80
Zuschreibungen
Die antizipierte „Rückständigkeit“ des Ostens, die auf die Lebensweise der dortigen Bevölkerung im Allgemeinen übertragen wurde, fand in den Augen der Soldaten nicht nur
im feindlichen Russland seine Bestätigung, sondern auch im „heimatlichen“ Galizien.
76 Der Plenny. Folge 1/2, Jänner–Februar 1935, S. 6.
77 Die erhalten gebliebenen Exponate des Plennymuseums werden heute im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien verwahrt.
78 Ein ähnliches Konzept wie „In Feindeshand“ liegt auch dem Buch von Viktor Kowalewski, „Vergewaltigte“ Menschen. Blätter aus dem Felde und der Kriegsgefangenschaft. Wien 1916, zugrunde.
79 Der Plenny. Folge 9, 1.9.1926, S. 4.
80 M. Strenger, Zur Frage des Kriegsgefangenenrechtes, in: In Feindeshand. Bd. 2, S. 427–432, hier
S. 428. Vgl.: Dieter Riesenberger, Das Internationale Rote Kreuz 1863–1917. Für Humanität in Krieg
und Frieden. Göttingen 1992.
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Verena Moritz
Für viele k.u.k. Soldaten war das Kronland im Osten überdies nicht weniger fremd als
das Zarenreich. In den Beschreibungen von „Land und Leuten“ sind daher nicht selten
die Grenzen verwischt. So ist keineswegs immer eindeutig nachvollziehbar, ob der Ort
des Geschehens bereits „Feindgebiet“ ist oder noch das eigene Territorium meint. Davon
abgesehen galt bereits zu Friedenszeiten eine Stationierung in Galizien als Versetzung
in eine kulturelle „Ödlandschaft“, als Verbannung in eine im Morast versinkende lebensfeindliche Gegend, wo man der allgegenwärtigen Tristesse am Ehesten mit Hilfe
übermäßigen Alkoholkonsums entgehen konnte.81 Joseph Roth hat in seinen Romanen
gewiss nicht wenig dazu beigetragen, das Weiterwirken dieses Bildes von Galizien zu sichern. Die Unkenntnis der im Osten des Habsburgerreichs geläufigen Sprachen vertiefte
darüber hinaus das Gefühl des „Fremdseins“. Dieses wiederum verdeutlichten die Autoren vieler Erinnerungen über ihre Erlebnisse im Weltkrieg gerne anhand der in Galizien
zum Einsatz gekommenen Tiroler Schützen. Ihnen vor allem galt mit Hinweis auf die
„Herrlichkeit“ der Bergwelt in den Alpen einerseits und die Eintönigkeit des „sumpfigen
Ostens“ andererseits tiefes Mitgefühl angesichts einer nicht nur fremden, sondern auch
hässlichen „Heimat“.82
Über das Slawen- beziehungsweise Russlandbild der Deutschen liegen bereits einige Arbeiten im Kontext des „Dritten Reichs“ vor.83 Den diesbezüglichen „Dispositionen,
Perzeptionsmustern und Verhaltensweisen“, die speziell während des Ersten Weltkrieges
aufseiten der Mittelmächte zum Tragen kamen, wurde hingegen noch verhältnismäßig
wenig Beachtung geschenkt.84 Inwieweit sich das 1914 vorhandene und dann während
des Krieges verändernde „Russlandbild“ der Deutschösterreicher mit den reichsdeutschen Ansichten über den „Feind im Osten“ deckte und auf welche Weise es sich unterschieden hat, harrt gewiss einer genaueren Betrachtung. Dass im multinationalen Charakter der Habsburgermonarchie mit seinem hohen Slawenanteil andere Voraussetzungen vorhanden waren als im Deutschen Kaiserreich, liegt freilich auf der Hand. Außer
Frage steht des Weiteren, dass das „Russlandbild“ nach der „Oktoberrevolution“ eine
neue Dimension erhielt – sowohl in Deutschland als auch in Österreich-Ungarn.
Theodor Primavesi, Leiter der Zensurabteilung für Kriegsgefangenenkorrespondenz
in Wien, charakterisierte „die Russen“ auf Grundlage der eingesehenen Gefangenenpost
folgendermaßen: „Der den bäuerlichen Kreisen entstammende Großrusse gibt durch ge81 Vgl. dazu Verena Moritz, Der Weg nach oben, in: Verena Moritz – Hannes Leidinger – Gerhard Jagschitz, Im Zentrum der Macht. Die vielen Gesichter des Geheimdienstchefs Maximilian Ronge. St.
Pölten – Salzburg 2007, S. 19–64, hier: S. 57f.
82 Vgl. Gustav Cartellieri, Hilfsplatz D7 vermißt. Erlebnisse eines kriegsgefangenen Arztes. Karlsbad –
Leipzig 1942, S. 29.
83 Vgl. vor allem: Hans-Erich Volkmann, Das Russlandbild im Dritten Reich. 2. Aufl. Köln – Weimar
– Wien 1994; Hans Lemberg, „Der Russe ist genügsam“. Zur deutschen Wahrnehmung Russlands
vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg, in: Birgit Aschmann – Michael Salewski (Hg.), Das Bild „des
Anderen“. Politische Wahrnehmungen im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 2000, S. 121–131.
84 Peter Hoeres, Die Slawen. Perzeptionen des Kriegsgegners bei den Mittelmächten. Selbst- und Feindbild, in: Gerhard P. Groß (Hg.), Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung. Paderborn – München – Wien – Zürich 2006, S. 179–200, hier: S. 181. Siehe jedoch im
selben Band: Hans-Erich Volkmann, Der Ostkrieg 1914/15 als Erlebnis- und Erfahrungswelt des deutschen Militärs, in: Groß (Hg.), Die vergessene Front, S. 263–293, sowie Overmans, „Hunnen“ und
„Untermenschen“, S. 335–365.
Kriegsgefangenschaft als Erfahrung
rades, offenes kindliches und treuherziges Wesen ein recht anziehendes Charakterbild
ab, auch der russ. Ukrainer zeigt anerkennenswert sympathische Züge, dem überwiegenden Teile des Restes jedoch geschieht wahrlich kein Unrecht, wenn man ihn mit dem
Ausdrucke ‚minderwertiges Gesindel‘ kennzeichnet.“85
In etlichen Selbstzeugnissen von Gefangenen wird „der Russe“ vor allem als widersprüchlich wahrgenommen, als grausam ebenso wie gutherzig, als verschlagen ebenso
wie als naiv. „Der Russe“ trank Unmengen von Tee, war nicht selten dem Wodka verfallen und griff gerne zur Balalaika.86 Die von der Propaganda ventilierte Prophezeiung,
wonach man im Osten auf „asiatische“, „barbarische Horden“ treffen würde, mündete mitunter in die Erkenntnis, dass man mit falschen Erwartungshaltungen ausgestattet
worden war. Der Kriegsgefangene Arnold Hackl beispielsweise hatte geglaubt, die Russen seien „viel dunkelhäutiger“.87
Kontrovers diskutiert wird in diesem Zusammenhang die Frage der Kontinuität oder
aber Diskontinuität im Vergleich zum Zweiten Weltkrieg.88 Dass in der Beurteilung der
„Fremden“, welche freilich auch und insbesondere die in Russland befindlichen Kriegsgefangenen vornahmen, die später vom Nationalsozialismus propagierten völkischrassischen Feindbildstereotypen fehlen, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die
tendenzielle Abwertung des „Ostens“ und seiner Bewohner Anknüpfungspunkte für die
NS-Ideologie bereithielt. Zu berücksichtigen sind des Weiteren deutschnationale und in
weiterer Folge strikt antislawische sowie sozialdarwinistisch prädisponierte „Weltanschauungen“ nicht weniger k.u.k. Offiziere, aber auch Mannschaften, die hinsichtlich
despektierlicher Einschätzungen der Russen ihren Vorgesetzten quasi assistierten. Erwähnenswert ist in diesem Kontext auch, dass nach Beobachtung von Deutschösterreichern sich ihre reichsdeutschen Kollegen in der Gefangenschaft von den Kameraden
aus der k.u.k. Monarchie distanzierten.89 Die Gründe hierfür in einem solcherart zum
Ausdruck gebrachten Antislawismus zu suchen, der auch die Deutschösterreicher aus
dem Vielvölkerreich ausgrenzte und „slawisierte“, wird nicht verfehlt sein. Gleichzeitig
wurden die Streitkräfte des Bündnispartners für die Niederlagen und folglich wohl zudem für die eigene Gefangennahme verantwortlich gemacht, was einer vorbehaltlosen
Begegnung mit den „Waffenbrüdern“ ebenfalls im Wege stand.90
Die Idee einer deutschösterreichischen „Kulturmission“, welche das „Licht der Zivilisation in den Osten“ tragen sollte, spielte im Selbstverständnis der Soldaten keine
geringe Rolle.91 Das Verdikt von der russischen Rückständigkeit war allgegenwärtig.
85 Theodor Primavesi, Bericht des Leiters der Zensur-Abteilung für Kriegsgefangenen-Korrespondenz.
Wien 1915, S. 11.
86 Adolf Butz, Der Russe, in: In Feindeshand. Die Gefangenschaft im Weltkriege in Einzeldarstellungen.
Bd. 1. Wien 1931, S. 106–108.
87 Hackl, Erinnerungen an Sibirien, S. 52.
88 Vgl. dazu die Ausführungen Hoeres, Die Slawen, S. 200.
89 Beispielsweise Hackl, Erinnerungen an Sibirien, S. 88.
90 Zum Verhältnis zwischen den Bündnispartnern insgesamt siehe: Günter Kronenbitter, Von „Schweinehunden“ und „Waffenbrüdern“. Der Koalitionskrieg der Mittelmächte 1914/15 zwischen Sachzwang
und Ressentiment, in: Gerhard P. Groß (Hg.), Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis,
Wirkung, Nachwirkung. Paderborn – München – Wien – Zürich 2006, S. 121–152.
91 Verena Moritz, Frontgemeinschaft. Der Erste Weltkrieg 1914–1918, in: Hannes Leidinger – Verena
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Verena Moritz
Seine Legitimität erhielt es vornehmlich durch den Vergleich. In diesem für die Erinnerungstexte von Kriegsgefangenen so typischen Reflex eines unentwegten Gegenüberstellens von Heimat und Fremde, also Herkunftsland und Russland, festigte sich das Bewusstsein, einer „Kulturnation“ anzugehören.92 Es gründete sich aber nicht nur darauf,
dass man technische Defizite belächelte, sich über rohe Manieren wunderte, mangelhafte Infrastrukturen kritisierte oder sich schockiert zeigte vom beobachteten freizügigen
Umgang der Einheimischen mit Sexualität und Nacktheit.93 Die solcherart empfundene
„Kulturlosigkeit des Ostens“ rührte zu einem nicht unbeträchtlichen Teil überdies von
der Läuseplage her, mit der alle in russische Gefangenschaft geratenen Soldaten in einem geradezu biblischen Ausmaß konfrontiert wurden. Damit in Verbindung zu bringen
ist wiederum der sogenannte „Hygienediskurs“, der die mangelnde Körperpflege der
Russen als Hauptursache für die Verbreitung seuchenhafter Erkrankungen durch Ungeziefer ausmachte und diesen Missständen die „vorbildliche“ Hygiene im eigenen Land
gegenüberstellte. Der „Hygienediskurs“ wurde freilich auch mit Blick auf die beabsichtigte Stigmatisierung von Gegnern aus anderen Herkunftsländern geführt. Der in Österreich-Ungarn befindliche italienische Kriegsgefangene, der sich nicht gerne wusch, oder
der Serbe, der angeblich noch nie ein Stück Seife gesehen hatte, waren die bespöttelten
Protagonisten derartiger „Narrative“. Andererseits bewirkte eine im Hinterland zum Teil
vorhandene „paternalistische“ und „befürsorgende“ Haltung gegenüber den Fremden,
denen man unter anderem Nachhilfeunterreicht in Sachen Hygiene erteilen zu müssen
glaubte, eine Entschärfung aggressiver Feindbilder. Die Selbstüberhebung über die als
zivilisatorisch rückständig angesehenen Feinde wirkte mitunter mäßigend. Freilich verschwanden etwaige Sympathien für die Gefangenen oft dann, wenn sie angesichts der
sich bereits 1916 zuspitzenden Versorgungskrise vornehmlich als Nahrungskonkurrenten angesehen wurden.94
Eine eher geringere Rolle in den Ego-Dokumenten der Kriegsgefangenen spielen
Reflexionen über das politische Wesen des Zarenreichs, das als Angelpunkt der Propaganda gegen den „Feind im Osten“ im Allgemeinen diente und speziell von der Sozialdemokratie als ausschlaggebende Motivation für eine Unterstützung des Krieges
aufgegriffen wurde. Wenngleich hier das Bild von der „Despotie des Zarenreichs“ bemüht wurde und man dadurch die nicht zuletzt seit der Revolution von 1905/06 noch
präsenten negativen Einschätzungen über die regierende Elite in Russland „aufwärmte“,
verlassen viele ehemalige Gefangene in ihren Texten die Ebene des persönlichen Erlebens verhältnismäßig selten, um sich allgemeinen politischen Betrachtungen über die
Entwicklungen in Russland hinzugeben. Ausnahmen bestätigen die Regel. Der als Arzt
unverwundet in Gefangenschaft geratene Burghard Breitner, der seinen Aufzeichnungen
ein betont deutschnationales Bekenntnis voranstellte, nimmt vielmehr seine individuMoritz – Karin Moser, Streitbare Brüder. Österreich : Deutschland. Kurze Geschichte einer schwierigen Nachbarschaft. St. Pölten – Salzburg 2010, S. 97–116, hier: 101f.
92 Vgl. beispielsweise das Vorwort bei Schuster, 16 Monate in russischer Kriegs-Gefangenschaft, S. 5.
93 Über die Sexualität in der Gefangenschaft sowie den Kontakt zu einheimischen Frauen siehe Wurzer,
Kriegsgefangene in Russland 1914–1918, S. 117f.
94 Vgl. dazu Moritz – Leidinger, Zwischen Nutzen und Bedrohung, S. 95–127 und 205–208.
Kriegsgefangenschaft als Erfahrung
ellen Beobachtungen zum Anlass, um weiterreichende Erklärungen für den „Zustand“
des Russischen Reichs zu geben.95 In Breitners Betrachtungen verbinden sich geradezu
idealtypisch antislawische Haltungen mit einem a priori negativen Russlandbild, das
nicht nur von der eigenen kulturellen Überlegenheit, sondern auch von der Idee einer
genuinen Minderwertigkeit der Russen geprägt ist. Breitners Zeugenschaft des Zugrundegehens vieler Gefangener aufgrund unzureichender hygienischer Vorkehrungen, mangelhafter fachlicher Kenntnisse russischer Ärzte sowie der Gleichgültigkeit diverser
Entscheidungsinstanzen diente als Grundlage und Rechtfertigung seiner Urteile. Ebenso
stark in Erscheinung tritt bei ihm weiters ein nicht zuletzt im Antibolschewismus wurzelnder Antisemitismus.96
Eine gewisse Rolle dürfte im Zusammenhang mit dem „Russlandbild“ der Gefangenen auch der bereits vor dem Krieg verbreiteten „Spionitis“ zugekommen sein – der
hypertrophen Angst vor „Ausspähung“ und Verrat, für die nicht zuletzt Personen aus
dem Zarenreich verantwortlich gemacht wurden.97 Der Verdacht richtete sich freilich
auch gegen eigene Staatsbürger. Dass die k.u.k. Armee nach Beginn des Krieges so brutal gegen vermeintliche und tatsächliche „Russophile“ in Galizien vorging, liegt bereits
in den Jahren vor 1914 begründet.
Wenngleich aus den Betrachtungsweisen im Ersten Weltkrieg keine zwangsläufigen
und streng linearen Kontinuitäten hin zum Russlandbild im Nationalsozialismus und gewiss nicht zur Praxis des Vernichtungskriegs in der Sowjetunion ab 1941 abzuleiten sind,
erscheint das Aufzeigen diesbezüglicher Vorbedingungen und Entwicklungen seit 1914
zulässig.98 Gerade die Kriegsgefangenen, welche die Erosion der Grenzen von Front
und Hinterland am eigenen Leib erfuhren, erlebten Russland vielfach als „schmutzige,
verstörende Berührung“ sowohl mit dem bewaffneten Feind, als auch – wenngleich in
unterschiedlichem Ausmaß – mit einer vom Krieg betroffenen feindlichen Bevölkerung,
mit Willkür, Epidemien und einer oft lebensfeindlichen Natur.99 Die Vielfalt sich wider95 Breitner setzte sich in verschiedenen Publikationen mit der Zeit in Gefangenschaft auseinander. Anzuführen sind beispielsweise: Unverwundet gefangen. Aus meinem sibirischen Tagebuch. Wien – Berlin
– Leipzig – München 1922 sowie neu aufbereitet erschienen in Darmstadt – Leipzig 1935; Asiatischer
Spiegel. Innsbruck 1955 sowie mehrere Einzelbeiträge für das 1931 in Wien erschienene Werk „In
Feindeshand“ und den 1936 von ihm selbst herausgegebenen Band „Ärzte und ihre Helfer im Weltkriege 1914–1918“.
96 Burghard Breitner, Unverwundet gefangen. Aus meinem sibirischen Tagebuch. Darmstadt – Leipzig
1935.
97 Vgl. dazu auch die Ausführungen bei Hackl, Erinnerungen an Sibirien, S. 23.
98 Dazu: Rüdiger Bergien, Vorspiel des „Vernichtungskrieges“? Die Ostfront des Ersten Weltkriegs und
das Kontinuitätsproblem, in: Gerhard P. Groß (Hg.), Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung. Paderborn – München – Wien – Zürich 2006, 393–408 . Vgl. in diesem
Zusammenhang auch: Hartmut Kaelble, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20.
Jahrhundert. Frankfurt am Main u.a. 1999.
99 Vgl. dazu die Ausführungen von Eva Horn, Im Osten nichts Neues, in: Gerhard P. Groß (Hg.), Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung. Paderborn – München – Wien –
Zürich 2006, S. 217–230, hier: S. 229f., und in diesem Kontext auch Oswald Überegger, „Verbrannte
Erde“ und „baumelnde Gehenkte“. Zur europäischen Dimension militärischer Normübertretungen im
Ersten Weltkrieg, in: Sönke Neitzel – Daniel Horath (Hg.), Kriegsgreuel. Die Entgrenzung der Gewalt
in kriegerischen Konflikten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Paderborn – München – Wien –
Zürich 2008, S. 241–278, hier: S. 247. Vgl. außerdem Vejas Gabriel Liulevicius, Von „Ober Ost“ nach
219
220
Verena Moritz
sprechender Wahrnehmungen wirkte beunruhigend. Somit ergab sich der Eindruck der
„Unübersichtlichkeit“, eines bedrohlichen Chaos, das der „Ordnung“ bedurfte – praktisch und ideell.
Einschätzungen
Das „Gesamtbild“ der Kriegsgefangenschaft im Ersten Weltkrieg wurde in der Forschung unterschiedlich beurteilt. Richard Speed beispielsweise vertrat die Ansicht, dass
„trotz eines bereits total gewordenen Krieges die Gefangenschaft von damit einhergehenden Brutalisierungen nicht erfasst wurde“.100 Indessen verweisen andere Autoren
vielmehr auf Kontinuitäten mit Blick auf die Gefangenenbehandlung im Zweiten Weltkrieg, wenngleich das Fehlen intentionaler, programmatischer Tötungspläne hinsichtlich
der Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg keineswegs außer Acht gelassen wird. Weit
auseinander gehen auch die Einschätzungen speziell zur Situation der Kriegsgefangenen
in russischem Gewahrsam.101 Sehen die einen in diesem Kontext die Traditionen des 19.
Jahrhunderts als kennzeichnend an, verweisen andere auf Zusammenhänge mit späteren
Radikalisierungen. Eine genauere Analyse der Kriegsgefangenschaft im Ersten Weltkrieg zieht freilich differenzierte Einschätzungen nach sich, die – je nach Fragestellung
– Brüche ebenso wie Kontinuitäten mit Blick auf die Behandlung von „Feindsoldaten“
im Zweiten Weltkrieg aufzeigen kann.102 Nicht anders als beim „Russlandbild“ erweisen sich indessen Auseinandersetzungen über diese Problematik als wenig zielführend,
wenn sie in Grundsatzdebatten stecken bleiben, sich lediglich auf ideologische Unterschiede versteifen und „logistische“ beziehungsweise organisatorische Beispielwirkungen vernachlässigen. Die Diskussion über Voraussetzungen und Motive, amtliche Planungen und individuelle Handlungsspielräume, Einzelfälle oder darüber hinausgehende
Entwicklungen hinsichtlich der Gefangenenbehandlung ebenso wie bezüglich der betriebenen „Kriegsgefangenenpolitik“ ist noch nicht abgeschlossen. Auch sie zeigt, dass
die Dynamik des Konflikts nicht einen homogenen Untersuchungsgegenstand hervorgebracht hat, sondern „First World Wars“ zur Folge hatte.103
Ostland?, in: Gerhard P. Groß (Hg.), Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung,
Nachwirkung. Paderborn – München – Wien – Zürich 2006, S. 295–315, hier: S. 309.
100 Richard B. Speed, Prisoners, diplomats and the Great War. A study in the diplomacy of captivity. New
York u.a. 1990, S. 65.
101 Vgl. dazu die zusammenfassenden Aussagen bei Hinz, Gefangen im Großen Krieg, S. 20–22, und bei
Reinhard Nachtigal, Kriegsgefangenschaft an der Ostfront 1914 bis 1918. Literaturbericht zu einem
neuen Forschungsfeld. Frankfurt am Main u.a. 2005, S. 136–138; Wurzer, Die Kriegsgefangenen der
Mittelmächte, S. 30–33.
102 Unverzichtbar dazu: Heather Jones, A Missing Paradigm? Military Captivity and the Prisoner of War,
1914–1918, in: Matthew Stibbe (Hg.), Captivity, Forced Labour and Forced Migration in Europe during the First World War. London – New York 2009, S. 19–48.
103Vgl. Heather Jones – Jennifer O’Brien – Christoph Schmidt-Supprian, Introduction: Untold War,
in: Dies. (Hg.), Untold War. New Perspectives in First World War Studies. Leiden – Boston 2008,
S. 1–20.
Jenseits der „Ostfront“ –
Kriegserfahrungen im Vergleich
Deutsche Kriegserfahrungen im Osten, 1914–1917
Helmut Rübsam
Der Schlieffenplan, der 1905/06 für den Ernstfall eines Krieges ausgearbeitet wurde,
sah die Zeit als entscheidenden Faktor an. So waren sieben deutsche Armeen im Westen
zum Einsatz vorgesehen, um dort einen schnellen Sieg gegen die Franzosen und Briten
zu erringen. Danach sollten diese Truppen nach Osten gegen die russischen Truppen in
Marsch gesetzt werden. Denn sowohl Generaloberst Graf von Schlieffen als auch sein
Nachfolger im Amt, der Chef des Generalstabs des Feldheeres, Generaloberst Moltke der
Jüngere, waren davon überzeugt, dass die russischen Truppen aufgrund der schlechten
Eisenbahnverbindungen und der enormen Größe Russlands 40 Tage brauchen würden,
um die deutsche Ostgrenze zu erreichen.1 Moltke der Jüngere stand dem Schlieffenplan
aber immer skeptisch gegenüber, denn er war von einem schnellen Sieg gegen Frankreich
nicht überzeugt. Daher änderte er 1908 zusammen mit General Ludendorff den Plan. In
der neuen Variante war die Wahrung der niederländischen Neutralität vorgesehen, damit
das deutsche Kaiserreich nicht vom Außenhandel abgeschlossen war. Stattdessen wurde
ein schneller Vorstoß auf Lüttich in Belgien eingearbeitet. Für Moltke war der Schlieffenplan nur ein Eröffnungsschachzug für einen langen und blutigen Zweifrontenkrieg,
gegenüber der Öffentlichkeit dagegen wurde ein kurzer Krieg propagiert.2
1
2
Helmut Rübsam, Soldatische Erfahrung des Ersten Weltkriegs. Norderstedt 2007, S. 36; Karl-Volker
Neugebauer, Militärgeschichte des Kaiserreiches 1871 bis 1918. Des Kaisers „schimmernde“ Wehr,
in: Ders. (Hg.), Grundzüge der deutschen Militärgeschichte. Freiburg 1993, S. 193–267, hier: S. 239f.;
vgl. auch Norman Stone, The Eastern Front 1914–1917. New York 1975, S. 40f.; Sebastian Haffner,
Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg. Bergisch Gladbach 2001, S. 37f.;
David Fromkin, Europas letzter Sommer. Die scheinbar friedlichen Wochen vor dem Ersten Weltkrieg. München 2005, S. 49f.; David Stevenson, 1914–1918. Der Erste Weltkrieg. Düsseldorf 2006, S.
65f.; Vejas Gabriel Liulevicius, Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft
im Ersten Weltkrieg. Hamburg 2002, S. 25; John Keegan, Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Tragödie. Reinbek bei Hamburg ²2003, S. 203.
Stig Förster, Der Krieg der Willensmenschen. Die deutsche Offizierselite auf dem Weg in den Ersten
Weltkrieg, 1871–1914, in: Ursula Breymayer – Bernd Ulrich – Karin Wieland (Hg.), Willensmenschen. Über deutsche Offiziere. Frankfurt am Main 1999, S. 23–36, hier: S. 29f.; vgl. auch Annika
Mombauer, Der Moltkeplan: Modifikation des Schlieffenplans bei gleichen Zielen?, in: Hans Ehlert
– Michael Epkenhans – Gerhard P. Groß (Hg.), Der Schlieffenplan. Analysen und Dokumente. Paderborn 2006, S. 79–99, hier: S. 89f.; Stevenson, 1914–1918. Der Erste Weltkrieg, S. 66f.
224
Helmut Rübsam
Im Osten des Deutschen Reiches war nur die 8. Armee unter Generaloberst von
Prittwitz und Gaffron stationiert, nach der Mobilmachung stand noch ein Armeekorps
zur Verfügung. Diese Verbände entsprachen zwar nochmals einem weiteren Armeekorps, doch waren diese den russischen weit unterlegen. Gegen sie rückten die 1. (Njemen-)Armee unter General von Rennenkampf und die 2. (Narew-)Armee unter General
Samsonow vor.3
Bei der Schlacht von Gumbinnen wurde zum ersten Mal die ganze Brutalität des
modernen Krieges deutlich. Der deutsche Frontalangriff blieb unter hohen Verlusten in
den russischen Maschinengewehrsalven, dem Schnellfeuer der Artillerie und Infanterie
stecken. Daraufhin wurden Generaloberst von Prittwitz und Gaffron abgelöst und durch
Generalfeldmarschall von Hindenburg und General Ludendorff, der Hindenburgs Generalstabchef wurde, ersetzt4.
Im Ersten Weltkrieg gab es im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg nahezu keine Umfassungssiege, die „Schlacht von Tannenberg“ bildete die Ausnahme. Hier wurde die
2. russische Armee vernichtend geschlagen und der Vormarsch gestoppt.5
Nach der Schlacht an den Masurischen Seen am 7. September 1914 zog sich die
1. russische Armee kämpfend zurück. Durch den frühen russischen Angriff musste das
OHL seine Reserven aus dem Westen in den Osten abziehen und die von Schlieffen
geforderte und von Moltke angestrebte strategische Schwerpunktbildung wurde verhindert.6 Somit ergab sich ab Oktober 1914 eine fast 800 Kilometer lange Front, die von der
Ostsee bis zur rumänischen Grenze reichte.7
Noch im November 1914, kaum dass Hindenburg den Oberbefehl übernommen hatte, begann die deutsche Offensive an der nördlichen Front. Die OHL und der Kaiser
waren zu diesem Zeitpunkt noch davon überzeugt, dass die Entscheidung im Westen zu
suchen sei und an der Ostfront nur hinhaltend gekämpft und begrenzte Ziele verfolgt
werden sollten. Hindenburg und Ludendorff, die einen Sieg gegen Russland für möglich
hielten, forderten dagegen eine eindeutige Schwerpunktverlagerung nach Osten. Dieser
Strategiestreit zwischen den „Westlern“ und „Ostlern“, der sich immer wieder an der
Verwendung der wenigen operativen Reserven entzündete, führte zu jener militärischen
Führungskrise, im Zuge der Hindenburg und Ludendorff versuchten, den nach der Marneschlacht zum Generalstabschef bestellten General Erich von Falkenhayn abzulösen.8
3
Rübsam, Soldatische Erfahrung des Ersten Weltkriegs, S. 38f.; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918. Machtstaat vor der Demokratie, München 2002, S. 765; vgl. auch: Hermann
Cron, Geschichte des Deutschen Heeres im Weltkriege 1914–1918. Berlin 1937, S. 47f.; Keegan, Der
Erste Weltkrieg, S. 205f.; Markus Pöhlmann, Tod in Masuren: Tannenberg, 23. bis 31. August 1914,
in: Stig Förster – Markus Pöhlmann – Dierk Walter (Hg.), Schlachten der Weltgeschichte. Von Salamis
bis Sinai. München 2002, S. 279–293, hier: S. 281.
4 Keegan, Der Erste Weltkrieg, S. 211f. Vgl. auch: Pöhlmann, Tod in den Masuren, S. 282; und: Hew
Strachan, The First World War. Volume I: To Arms. Oxford 2003, S. 322f.
5 Strachan, The First World War, S. 334; siehe Gerhard P. Groß, Im Schatten des Westens, in: Ders., Die
vergessene Front – der Osten 1914/15. Paderborn 2006, S. 49–64, hier: S. 55.
6Ebd.
7 Rübsam, Soldatische Erfahrung des Ersten Weltkriegs, S. 41f.; Keegan, Der Erste Weltkrieg, S. 237.
Stevenson, 1914–1918. Der Erste Weltkrieg, S. 240.
8 Groß, Im Schatten des Westens, S. 57–59; Haffner, Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im
Ersten Weltkrieg, S. 48f.
Deutsche Kriegserfahrungen im Osten, 1914–1917
Nach dem Fall der Stadt Kowno am 6. August 1915 beherrschten die deutschen
Truppen den größten Teil Litauens und Kurlands.9 Bei der russischen Evakuierung
Wilnas kam es zu Übergriffen und Verschleppungen von Zivilisten. Am 19. September
1915 konnten deutsche Truppen die Stadt erobern. Somit mussten sich die russischen
Truppen aus Polen, Teilen Westrusslands und Kurland zurückziehen. Im September
1915 kam die Offensive zum Stillstand, da andere Fronten Truppen benötigten und
die Versorgungslage äußerst angespannt war.10 Russland konnte sich mithilfe der Alliierten relativ schnell von seiner Niederlage 1915 erholen. Dafür mussten aber enorme
Mengen an Kriegsgütern über Murmansk oder Sibirien transportiert werden, da die
russische Armee bei ihrem Rückzug einen großen Teil der Waffen, Munition und Soldaten verloren hatte.11
General von Falkenhayn wollte einen totalen Krieg im Osten vermeiden und mit
Russland einen Separatfrieden schließen. Der Krieg im Osten würde nur Truppen erschöpfen, die dringend im Westen benötigt wurden.12 Als am östlichen Kriegsschauplatz
die Brusilow-Offensive13, auf Wunsch der westlichen Alliierten, im Juni 1916 gestartet
wurde, stellte Falkenhayn die Angriffe auf Verdun ein. Die Brusilow-Offensive konnte mit knapper Mühe durch die österreichisch-ungarischen und deutschen Truppen gestoppt werden.14
Nach der Februarrevolution, der russischen Niederlage bei der Kerenskij-Offensive
und dem Putsch der Bolschewiki an die Macht waren die russischen Truppen nicht mehr
zu organisieren. Im Dezember 1917 schlossen Russland und die Mittelmächte einen
Waffenstillstand, dem am 3. März ein Friedensvertrag folgte. Zuvor waren aber noch
deutsche – und kurze Zeit später auch österreichisch-ungarische – Truppen nach Osten
marschiert und hatten weitere Teile des Baltikums, des heutigen Weißrusslands, der Ukraine und sogar die Krim besetzt.15
9
10
11
12
13
14
15
Vgl. Konrad Krafft von Dellmensingen – Friedrichfranz Feeser, Das Bayernbuch vom Weltkriege. Bd.
2. Stuttgart 1930, S. 165.
Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, S. 767; Liulevicius, Kriegsland im Osten, S. 32.
Mark von Hagen, War and the Transformation of Loyalties and Identities in the Russian Empire, in:
Silvio Pons – Andrea Romano (Hg.), Russia in the age of wars 1914–1945, Feltrinelli – Milano 2002,
S. 1–37, hier: S. 17; vgl. auch: Stone, The Eastern Front 1914–1917, S. 13; sowie: Karl-Volker Neugebauer, Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, in: Ernst Willi Hansen – Karl-Volker Neugebauer,
Grundkurs deutsche Militärgeschichte 2. Das Zeitalter der Weltkriege. Völker in Waffen. München
2007, S. 1–85, hier: S. 52.
Gordon A. Craig, Deutsche Geschichte 1866–1945. Vom Norddeutschen Bund bis zum Ende des Dritten Reiches. München, S. 376.
Brusilow-Offensive: Letzte große militärische Anstrengung des russischen Heeres im Sommer 1916.
Benannt nach General und Oberbefehlshaber der russischen Armee Alexej Alexejewitsch Brussilow
(1853–1926). Näheres dazu siehe: Gerhard Hirschfeld – Gerd Krumeich – Irina Renz (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Paderborn u.a. 2003, S. 394–396.
Hagen, War and the Transformation of Loyalties and Identities in the Russian Empire, S. 12.
Wolfram Dornik u.a. (Hg.), Die Ukraine zwischen Selbstbestimmung und Fremdherrschaft 1917–22.
Graz 2011; Neugebauer, Militärgeschichte des Kaiserreiches 1871 bis 1918, S. 245. Vgl. auch Thomas
Flemming – Ulf Heinrich (Hg.), Grüße aus dem Schützengraben. Feldpostkarten im Ersten Weltkrieg.
Aus der Sammlung Ulf Heinrich. Berlin-Brandenburg 2004, S. 121; Volker Ullrich, Die nervöse Großmacht 1871–1918. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs. Frankfurt am Main 1997,
S. 536 bzw. S. 543; und: Stéphane Audoin-Rouzeau – Annette Becker, 14–18 Understanding the Great
War. New York 2002, S. 106;. Vgl. auch: Horst Günther Linke, Rußlands Weg in den Ersten Welt-
225
226
Helmut Rübsam
Der Friedensschluss mit Russland wurde auch von Gottlieb Deininger in einem Brief
an seine Mutter geschildert: „[…] Friede mit Russland! Man kann es eigentlich noch gar
nicht recht fassen! Schreib mir Näheres, wies bei euch gefeiert wurde! Mit Glockengeläut natürlich? Ich bin nicht recht in der Verfassung einen längeren Brief zu schreiben.
Hoffentlich gehts nun bald von Russland fort! […]“16
Mit diesem „Frieden von Brest-Litowsk“ konnten viele der freigewordenen deutschen Truppen an die Westfront geschickt werden.17 Doch auch sie konnten die Niederlage nicht mehr abwenden:18 Am 11. November 1918 endete der Erste Weltkrieg offiziell
mit der Unterzeichnung des Waffenstillstandes in Compiègne. Im Osten konnte jedoch
von Frieden keine Rede sein. Dort bewegten sich verwirrte, verängstigte und meuternde
deutsche Soldaten. Die Mehrzahl von ihnen versuchte nach Deutschland zurückzukehren. Andere bildeten Freikorps und unterstützten die lettische und litauische Regierung
bei ihrem Kampf gegen die Angriffe der Bolschewiki. Wiederum andere kämpften aufseiten der „Weißen Armee“19 gegen die bolschewistische „Rote Armee“. Einige wenige
ließen sich von der „Roten Armee“ anwerben und kämpften in ihren Reihen.20 In Feldpostbriefen von Soldaten wird deutlich, dass es an der Ostfront „ruhiger“ zuging als an
der Westfront. So schildert Otto Wolfien in seinem Feldpostbrief: „[…] Die letzteren
haben hier mit viel mehr Erfahrung, bei den ausgedehnten Waldungen mit viel besseren
[sic!] Material und bei dem verhältnismäßig schwachen Feuern der Russen mit viel mehr
Ruhe als in Belgien angelegt werden können und sind deshalb ausnahmslos viel besser geraten. […] Mit Rücksicht auf die Schwierigkeit der dann erforderlichen Erdarbeit
einerseits, das geringe Schießen der russischen Artillerie andererseits hat man davon
Abstand genommen. […]21
Es wurde schnell klar, dass die Kavallerie nicht für einen Stellungskrieg geeignet
und zudem durch die neuen Waffen wie Maschinengewehre, Giftgas, Drahtverhaue etc.
überholt war. „[…] Wir sind noch immer in dem Bauernhof. Gestern Abend versuchten
wir einen Angriff. Es sollte [ein] Sturmangriff werden, aber da wir [Kavallerie] kein
Seitengewehr und Drahtzangen haben, kehrten wir wieder in unseren Hof zurück. Später
bekam die Kavallerie auch Seitengewehre und der lange Degen verschwand ganz. Der
16
17
18
19
20
21
krieg und seine Kriegsziele 1914–1917, in: Wolfgang Michalka (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung,
Wahrnehmung, Analyse. Weyarn 1997, S. 54–94, hier: S. 64.; Marc Ferro, The Great War, 1914–1918.
London 1973, S. 210f.
Bayrisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), HS 2527/ 4 Nachlass Gottlieb Deininger. Buch 27, Kapitel
40. Brief vom 12. Februar 1918 an seine Mutter.
Vgl. dazu Hans W. Gatzke, Zu den deutsch-russischen Beziehungen im Sommer 1918. Dokument 4:
Protokoll über die Besprechung der schwebenden politischen Fragen unter Vorsitz Seiner Majestät
zwischen Vertretern der Reichsregierung und der Obersten Heeresleitung, S. 84–90.
Liulevicius, Kriegsland im Osten, S. 270f.
Weiße Armee: Freiwilligen-Armeen, die 1918–20 unter dem General Anton Iwanowitsch Denikin
(1872–1947), Admiral Wassiljewitsch (1874–1920) und anderen Offizieren, teilweise auch mit ausländischer Unterstützung, das bolschewistische Regime in Russland zu stürzen versuchten.
Liulevicius, Kriegsland im Osten, S. 271.
Otto Wolfien, Kriegstagebuch 1914–1915, Briefe und Karten von der Front an Frau und Kinder vom
3. August 1914 bis 8. April 1915. Norderstedt 2009, S. 105, 38. Brief vom 23. März 1915 aus Schützengraben Gawlow/Polen.
Deutsche Kriegserfahrungen im Osten, 1914–1917
Feind war für Kavallarie [sic!] zu schwer verschanzt. […]“22 Daher wurde ein Hauptteil
der Kavallerieeinheiten an die Ostfront versetzt, hier konnten sie ihre traditionellen Aufgaben, Aufklärung und Kurierdienste, erfüllen.
Besatzungspolitik/Etappe
Die beiden Bereiche Besatzungspolitik und Etappe sind eng miteinander verwoben und
lassen sich nur schwer voneinander trennen. Die Etappe war eine Verbindungszone zwischen der kämpfenden Truppe und der Heimat. Sie war vom Operationsgebiet des Feldheeres abgegrenzt und ging in ihrem rückwärtigen Teil in die unmittelbar angrenzenden
Heimatgebiete beziehungsweise die besetzten Gebiete über, die unter Militärverwaltung
standen. Ab 1915 waren diese Gebiete wie folgt unterteilt: Deutschland verwaltete das
Generalgouvernement Warschau und Ober Ost. Österreich-Ungarn kontrollierte das Militärgouvernement Lublin. Die Mittelmächte waren also im Osten gezwungen, die Etappe auf gegnerischem Gebiet zu organisieren und zu betreiben. Dabei wurden nicht voll
kriegstaugliche Soldaten des Landsturmes eingesetzt.23
Neben der Sicherstellung des Nachschubs von Truppen und Material lag die Hauptaufgabe der Etappe in der Sicherung der Verbindungswege und -mittel sowie in der
Verwaltung der besetzten Gebiete. Aufgrund der unterschiedlichen Einsatzbedingungen
zwischen Front und Etappe kam es im Lauf des Kriegs zur Entfremdung unter den dort
eingesetzten Soldaten. Diese schwingt in dem Tagebucheintrag von Gottlieb Deininger
mit: „[…] Bisher bin ich eigentlich immer ein ‚Etappenhenkel‘ gewesen. Natürlich wollte ich doch auch einmal den Schützengraben gesehen haben. Und so zog ich am 25. Mai
1916 gegen Abend mit meinen [sic!] Kameraden, dem Gefreiten Karl Höger[,] los nach
vorne in die Stellung. […]“24
Des Weiteren wurden die Einheiten in der Etappe besser behandelt und hatten mehr
Unterhaltungsmöglichkeiten, die von den Frontsoldaten häufig mit Verachtung – zumindest aber mit Verwunderung – gesehen wurden. So schildert Oberleutnant Hermann in
einem Brief an seinen Schwiegervater: „[…] Gestern und heute habe ich viel Abwechslung durch das Reitturnier, das ich ja Ilse näher beschrieben habe. Ich habe in mancher
Hinsicht wirklich eine Vorstellung vom Kriege gehabt. Man stelle sich vor: 6 Kilometer
hinter der Front, Tribüne im Flaggenschmuck, Musik, Spring- und Fahrkonkurrenzen
u.s.w. In vieler Hinsicht ist eine solche Veranstaltung gut, in vieler aber auch meiner
Ansicht nach nicht, denn die Infanteristen, die vorne im Schützengraben liegen, haben
nichts davon. Das könnte sie vielleicht doch erbittern gegen höhere Stäbe, und besonders
gegen die Kolonnen, die natürlich bei solchem Fest am besten mitmachen können. Doch
das sind müßige Betrachtungen. […]“25
22 BayHStA, HS 1980 Albrecht L. Harrer Oberstdorf, Allg. Kriegstagebuch 1. Garde Dragoner Regiment. Tagebucheintrag vom 23. Oktober 1914.
23 Bruno Thoß, Etappe, in: Gerhard Hirschfeld – Gerd Krumeich – Irina Renz (Hg.), Enzyklopädie Erster
Weltkrieg. Paderborn u.a. 2003, S. 465.
24 BayHStA, HS 2527/2 Nachlass Gottlieb Deininger. Buch 8, Kapitel 17. Eintrag vom 25. Mai 1916.
25 Bernd Ulrich – Benjamin Ziemann, Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Wahn und Wirklichkeit. Frankfurt am Main 1994, Quelle 35d. Oberleutnant Hermann vom Stabe einer Division macht sich Gedan-
227
228
Helmut Rübsam
Hinter der Front wurden Etappenverwaltungen eingerichtet.26 Die Etappe diente
auch als Ruheraum für Einheiten, die von der Front abgelöst worden waren. Weiters
wurden in der Etappe Lehrgänge, wie z.B. Morse- und Offiziersaspirantenanwärterkurse27, abgehalten. Für diese Fortbildungen brauchten die Soldaten somit nicht extra in
die Heimat geschickt zu werden und blieben daher den Fronteinheiten erhalten. Die Armeeverwaltungen an den Fronten des Ersten Weltkrieges waren riesige Organisationen,
die mehrere Kilometer tief gestaffelt waren. Mit größer werdender Entfernung von der
Front erhöhte sich die Zahl der Stäbe und Militärbehörden, die den Krieg zunehmend
bürokratisiert führten und verwalteten.28 Dies wird in Carl Ottos Buch „Im Osten nichts
Neues“ verdeutlicht: „[…] Die Etappe ist die Mutter der Armee. Mag man noch so auf
sie schimpfen, ist sie nicht intakt, dann funktioniert auch vorn nichts. Die vielen Heereskommandostellen, vom Kompagniestab ab, Bataillonsstab, Regimentsstab, Brigadestab,
Divisionsstab, Armeekorps, Armeeoberkommando und schließlich die Oberste Heeresleitung sind alle notwendig, es ist alles ein großes Uhrwerk und jede Kommandostelle
ist ein Rädchen in demselben, während die Zeiger die Angriffstruppen sind. […]“29 Zur
Aufgabe der Etappe gehörte auch die Einrichtung von Verbandsplätzen und Lazaretten.
Die Zahl der erkrankten Soldaten war im Osten um ca. 25 Prozent höher als im Westen und die Ärzte kämpften gegen eine große Anzahl von Seuchen, wie beispielsweise
Malaria, Typhus, Cholera und Fleckfieber, das in Deutschland als Krankheit unbekannt
war und von Läusen übertragen wurde. Die primitiven Verhältnisse und die schlechten
hygienischen Bedingungen unter der einheimischen Zivilbevölkerung erschwerten die
Arbeit der Militärärzte. Die im Osten vorhandenen Verhältnisse widersprachen all den
vagen Vorstellungen von früher.30 Auch Ärzte empfanden die Läuseplage als schrecklich. „[…] Die Hauptarbeit der Ärzte besteht jetzt in der Läusebekämpfung; leider sind
die Läuse als Überträger des Flecktyphus sehr gefährliche Gegner und müssen wir sehen, daß die Truppen möglichst Läusefrei [sic!] werden. Zu diesem Zweck werden in
allen Ortschaften ‚Lausoleen‘ gebaut, in denen sämtliche Wäsche und Uniformen der
Soldaten mit heißer Luft oder Dampf gereinigt werden. […]“31
Zur Behandlung schwererer Verletzungen und Erkrankungen wurden die Soldaten
nach ihrer Erstversorgung in den Feldlazaretten in die Heimat geschickt. So berichtet
26
27
28
29
30
31
ken und schreibt an seinen Schwiegervater, den Berliner Pfarrer Hans Falck, am 7. Juni 1915 aus der
Etappe der Ostfront, S. 137.
Thoß, Etappe, S. 465.
Offiziersaspirant: Eine in der damaligen deutschen Armee und Marine, häufig auch dienstlich, gebrauchte Bezeichnung für all diejenigen jungen Soldaten, welche mit dem ausgesprochenen und von
ihren Vorgesetzten gebilligten Wunsch, zu Offizieren befördert zu werden, dienten.
Klaus Latzel, Die Soldaten des industrialisierten Kriegs – „Fabrikarbeiter der Zerstörung“? Eine Zeugenaussage zu Gewalt, Arbeit und Gewöhnung, in: Rolf Spilker – Bernd Ulrich (Hg.), Der Tod als
Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914–1918. Bramsche 1998, S. 125–141, hier: S. 127.
Carl A. G. Otto, Im Osten nichts Neues. Das Buch des Krieges wie er war. Zirndorf-Nürnberg 1929,
S. 205.
Liulevicius, Kriegsland im Osten, S. 34f.; vgl. auch: Boris Baberowski, Einführende Bemerkungen,
in: Gerhard P. Groß (Hg.), Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung. Paderborn u.a. 2006, S. 147–153, hier: S. 148.
Simone Hank – Hermann Simon, Feldpostbriefe Jüdischer Soldaten 1914–1918. Bd. 1. Berlin 2002,
S. 366. Brief 355a–355c von Otto Köhler an Sigmund Feist vom 13. Mai 1915.
Deutsche Kriegserfahrungen im Osten, 1914–1917
etwa Carl Otto nach Hause: „[…] Sie kommt in einer Form einer schweren feindlichen
Granate. In den provisorischen Unterstand, den wir uns in einigen Stunden zurechtgezimmert haben, schlägt sie ein. Das oberste kehrt sie zu unterst und das unterste zu
oberst. Vor mir dreht sich alles im Kreise. Es wird schwarz vor meinen Augen, ein großer roter Feuerkreis mit einem dicken, schwarzen Rand ist das letzte Bild, das ich sehe.
Dann schwinden mir die Sinne. Nach einigen Stunden erwache ich auf einem LazarettKarren. Unklar und verworren sind noch meine Sinne. Es kommt mir mehr richtig zu
Bewußtsein, wo ich eigentlich bin und was ich eigentlich mache. Mein Arm ist dick verbunden. An meinem Waffenrock hängt der Lazarett- resp. Verwundetenzettel. Ich rolle
immer mehr und mehr der Heimat zu, um am Ende in einer mittleren Stadt Deutschlands
in einem Lazarett zu landen. […]“32
Die Versorgung und Nachsorge der Verwundeten – vor allem die der Versehrten –
gestaltete sich als schwieriger. Es entstand ein eigener Industriezweig für die Versehrten,
der Prothesen entwickelte und an die Kriegsversehrten verkaufte. Allein in Deutschland
gab es schlussendlich 2,7 Millionen Kriegsversehrte.33
Nach dem Krieg waren diese Schilderungen und die Forderungen der Kriegsversehrten in der Öffentlichkeit nicht gern gesehen, da sie an die Schrecken des Krieges
und die Niederlage erinnerten. Die Invaliden wurden von der Öffentlichkeit aufgefordert
ihre Verwundungen nicht mehr öffentlich zur Schau zu stellen. Die Invaliden traten nun
aber demonstrativ in der Öffentlichkeit auf und missachteten somit bewusst derartige
Forderungen, um ihr Schicksal nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.34
Wie bereits oben erwähnt, kam es zur Entfremdung zwischen der Etappe und der
Front. Wechselseitig versuchte man Ansprüche gegeneinander durchzusetzen. So kam
es, dass renommierte Gastspiele von großen deutschen Theatern teilweise nur in der
Etappe vorgeführt wurden. Dies hatte weitere Unstimmigkeiten und Beschwerden zur
Folge.35 Ein Hauptteil der Soldaten – sowohl der Mannschaften als auch der Offiziere
– bevorzugte eher heitere Bühnenstücke. So schreibt Hermann Held in seinem Kriegstagebuch: „[…] Von Beobachtung abgelöst. Nachmittags waren wir im Fronttheater in
Kosewitsche, wo wir uns köstlich amüsierten. Das Theater bot wirklich Grossartiges; es
waren nur Dilettanten; die aber mit einem reichhaltigen Programm aufwarteten. Melodien aus ‚Czardusfürstin‘, ‚der fidele Bauer‘ etc. erheiterte[n] unser Herz. Den Höhepunkt
aber bildete die Komödie ‚Eine Nacht im Witwenverein‘, bei der wir schier nicht mehr
aus dem Lachen herauskamen. Der Applaus war natürlich sehr stark. […]“36 Durch das
Fronttheater wurde die Moral der Truppe gehoben. Solche Zerstreuungen boten auch
32 Otto, Im Osten nichts Neues, S. 54f.
33 Rübsam, Soldatische Erfahrung des Ersten Weltkriegs, S. 58f.; Sabine Kienitz, „Fleischgewordenes
Elend“. Kriegsinvalidität und Körperbilder als Teil einer Erfahrungsgeschichte des Ersten Weltkrieges, in: Nikolaus Buschmann – Horst Carl (Hg.), Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg. Paderborn u.a. 2001,
S. 215–237, hier: S. 215.
34 Kienitz, „Fleischgewordenes Elend“, S. 235.
35 Martin Baumeister, Kriegstheater. Kriegstheater, Front und Massenkultur 1914–1918. Essen 2005, S.
222.
36 BayHStA, HS 2532 Hermann Held (Bayer. Feldart. Batt. 900), Kriegstagebuch 1916–19. Eintrag vom
24. Januar 1918.
229
230
Helmut Rübsam
andere Staaten ihren Soldaten und wurden auch später im Zweiten Weltkrieg durch Marlene Dietrich oder Bob Hope fortgeführt.37
Das Besatzungsgebiet wurde als eine Art Zwischenwelt wahrgenommen. Insbesondere hier wurde das Bild geprägt, das sich die deutschen Soldaten vom Osten machten,
und mit den bereits bekannten Bildern verglichen. Durch die unerwarteten militärischen
Erfolge des Jahres 1915 konnten die deutschen Armeen riesige Territorien an der baltischen Küste besetzen. Das Bild des einheitlichen Russischen Reiches, das die meisten
Deutschen hatten, sollte angesichts der vielfältigen Szenerie, eines Flickenteppichs völlig unterschiedlicher Länder und Völker, rasch in sich zusammenfallen. Die Besatzer
fanden sich in einer fremdartigen Landschaft wieder, konfrontiert mit fremdländischen
Menschen und unbekannten Traditionen, kulturellen Identitäten und geschichtlichen
Hintergründen. Und dies alles in den Verwüstungen, die der Krieg zurückließ. Dieses
Chaos wurde noch durch die „Politik der verbrannten Erde“ der sich zurückziehenden russischen Truppen verstärkt. Der Wirrwarr aus menschlichem Leid, Schmutz und
Krankheit berührte die Soldaten, die den Osten das erste Mal im Zuge des Krieges sahen, in ihrem tiefsten Inneren.38
In Polen wurde am 24. August 1915 eine deutsche Zivilverwaltung, das Generalgouvernement Warschau, etabliert. Die ersten Schritte der Mittelmächte wurden von der
polnischen Bevölkerung überwiegend positiv aufgenommen. Dazu gehörten die Wiedereröffnung der polnischen Universität Warschau, die Einführung des Polnischen als
zusätzliche Amtssprache und die Liberalisierung der anfangs strengen Zensur.39
Der Militärführung bot dieses „Chaos“ eine ungeahnte Möglichkeit: So konnte sie in
diesen Gebieten „für Ordnung sorgen“ und deutsche „Kultur“ in den Osten bringen. Am
deutlichsten fand dies seinen Ausdruck in der Militärverwaltung Ober Ost. Sie umfasste
die Gebiete Kurland, das ethnografische Litauen, einige rein polnische Distrikte (Augustow und Suwalki), und die westlichen Distrikte Weißrusslands (Białystok-Grodno),
in Summe 111.911 Quadratkilometer zwischen Polen und der Frontlinie vom linken Ufer
der Düna-Mündung im Norden bis zum Urwald von Belovež/Białowieża im Süden.40
In Ober Ost sollten die Identitäten der verschiedenen einheimischen Bevölkerungsgruppen verändert und in eigens dafür eingerichteten Institutionen durch deutsche Vermittlung und Erziehung umgeformt werden. Die deutschen Soldaten wurden aufgrund
ihrer eigenen Kulturinstitutionen im Osten in ihrer Rolle als Überwacher der „deutschen
Arbeit“ bestärkt.41 General Ludendorff entwickelte dieses Programm schon im Spätherbst
1915. Wie bei der Verkehrspolitik strebten auch hier die deutschen Truppen eine umfas37 Rübsam, Soldatische Erfahrung des Ersten Weltkriegs, S. 61.
38 Liulevicius, Kriegsland im Osten, S. 17; vgl. auch ders., Der vergiftete Krieg, vergiftete Sieg. Wie der
erste Krieg im Osten Hitlers mörderisches Weltbild prägte, in: Der Spiegel, 10/2004, 130–138.
39 Eugeniusz Cezary Król, Besatzungsherrschaft in Polen im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Charakteristik und Wahrnehmung, in: Bruno Thoß – Hans-Erich Volkmann (Hg.), Erster Weltkrieg – Zweiter
Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung. Paderborn – Wien – München –
Zürich 2002, S. 577–592, hier: S. 578.
40 Abba Strazhas, Deutsche Ostpolitik im Ersten Weltkrieg. Der Fall Ober Ost 1915–1917. Veröffentlichungen des Osteuropa-Institutes München. Geschichte. Bd. 61. Wiesbaden 1993, S. 13; Liulevicius,
Kriegsland im Osten, S. 83.
41 Strazhas, Deutsche Ostpolitik im Ersten Weltkrieg, S. 18f.
Deutsche Kriegserfahrungen im Osten, 1914–1917
sende Überwachungs- und Lenkungsfunktion an. Die deutsche Verwaltung kontrollierte
und steuerte in diesem Sinne alle kulturellen Angebote in ihrem Einflussbereich.42 Mehrere Abteilungen der deutschen Verwaltung arbeiteten an dem Kulturprogramm, da die
Aufgabe für eine allein zu groß war. Dabei war die Presseabteilung federführend.43
Die Region wurde weniger als kompliziertes Geflecht von „Land und Leuten“ wahrgenommen, sondern vielmehr als „Raum und Volk“ mit einem Bedarf an deutscher Ordnung und Herrschaft.44 Das deutsche Heer und dessen Verwaltung machten sich zügig
daran, die 1915 eroberten Gebiete nach ihren Vorstellungen umzuformen. Das Ziel dabei
war, vor Ort Fakten zu schaffen, die es rechtfertigen würden, das Gebiet für immer zu
behalten. General Ludendorff widmete sich eifrig der Aufgabe, über die Gebiete von
Ober Ost zu herrschen. Er schrieb in seinen Memoiren: „[…] Die Aufgaben, die mir
unmittelbar aus der Sorge für die Armeen erwuchsen, wurden sehr wesentlich durch
Anforderungen von Heer und Heimat an das besetzte Gebiet sowie durch die Pflicht
erweitert, für seine Bevölkerung zu sorgen. Ich machte mich gern an diese mir nach
vielen Richtungen hin neuen Arbeiten und hatte den festen Entschluß, etwas Ganzes zu
schaffen.“45
Auch einfache Soldaten, wie Albrecht Harrer, bringen diese kulturimperialistische
Sicht in ihren Memoiren zum Ausdruck: „[…] In jedem Dorf sieht man schon die deutsche Kultur. Jedes Häuschen hat seine Bank vor der Thür, manche sogar Lauben aus
Birkenholz oder Ziergärtchen. Diese Gärtchen sind oft mit grosser Liebe und Sorgfalt
angelegt und zeigen oft in recht nett angelegten Beeten gärtnerische Kunst. So sah ich
heute ein Eisernes Kreuz in Moos und Hauswurz und anderen Pflanzen ganz reizend angelegt. Ganz besonderer Sorgfalt erfreuen sich die Gräber gefallener Kameraden. Wenn
irgend möglich wird es mit blühenden Pflanzen versorgt. […]“46
Mit einer ausgeklügelten „Verkehrspolitik“ sollten das Territorium und die einheimische Bevölkerung besser überwacht und den Bedürfnissen des Militärapparates untergeordnet werden. Die militärische Vision der Verkehrspolitik entstand aus der konkreten
Notwendigkeit heraus, das Gebiet zu ordnen und die Verbindungs- und Nachschubwege
zu sichern.
Das russische Eisenbahnnetz war – gemessen an der Größe des Landes – relativ klein. Das Straßennetz bestand größtenteils aus Feldwegen, die sich bei Regen in
Schlammpfade verwandelten, in denen Pferde und Lastkraftwagen stecken blieben.47
Hinzu kam, dass die „Politik der verbrannten Erde“, die die russischen Truppen praktiziert hatten, viele Schäden hinterlassen hatte. Besonders Bahnhöfe und Lagerschuppen,
gesprengte Wassertürme und Brücken mussten wieder instand gesetzt werden.48 „[…]
Die Russen hatten auch bei ihrem Rückzug [Sommer/Herbst 1915] alle Bahnhöfe, ja
42
43
44
45
46
Liulevicius, Kriegsland im Osten, S. 143f.
Ebd., S. 145.
Strazhas, Deutsche Ostpolitik im Ersten Weltkrieg, S. 18f.
Erich Ludendorff, Meine Kriegserinnerungen 1914–1918. Berlin 1919, S. 145.
BayHStA, HS 1980 Albrecht L. Harrer Oberstdorf, Allg. Kriegstagebuch 1. Garde Dragoner Regiment, Geb. M.G.A. 240 10.8.14 – 18.11.16 (102). Eintrag vom 21. April 1915.
47 Liulevicius, Kriegsland im Osten, S. 118.
48 Ebd., S. 117.
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232
Helmut Rübsam
sogar alle Bahnwärterhäuser an der ganzen Bahnstrecke niedergebrannt – Meister im
Rückzug! Das Rätsel löste sich bald. Neben der Eisenbahnstrecke sahen wir die von den
Russen gesprengte Brücke, unter uns den breiten Njemenstrom. In ca. 30m Höhe fuhren
wir auf der von deutschen Pionieren erbauten, elastisch ächzenden Holzbrücke über den
Fluss. […]“49
Um „etwas Ganzes“ zu schaffen, verfolgten die Besatzungsbehörden eine ausgefeilte Strategie: die Etablierung ihrer eigenen Vorstellung von Ordnung in den Gebieten.
Demnach wollte das deutsche Militär diese Gebiete bis aufs Letzte für das langfristige
Endziel einer fortschreitenden Umgestaltung nutzen. Zuerst mussten jedoch die Gebiete
hinter der Front gesichert werden, was durch den Aufbau von Verbindungs- und Nachschubwegen sowie durch die Schaffung von Ruhe und Ordnung unter den unterworfenen Völkern geschehen sollte. Durch eine erfolgreiche rationale Verwaltung der Armee
sollten die Heimat und die einheimische Bevölkerung davon überzeugt werden, dass
Ober Ost dauerhaft unter deutscher Verwaltung bleiben sollte.50
Ab Herbst 1915 wurde in Kowno von Ludendorff eine Zentralverwaltung etabliert.
So wurde auf dem Gebiet von Ober Ost die preußische Verwaltungsordnung in Kraft
gesetzt. Diese jedoch erwies sich als ein Fehler, da binnen weniger Monate der reibungslose Ablauf alltäglicher Dinge für die Zivilbevölkerung extrem beschränkt und
bürokratisiert wurde. So kam es sogar vor, dass selbst für den sonntäglichen Kirchgang
Erlaubnisscheine ausgestellt werden mussten. Politische Aktivitäten waren grundsätzlich verboten und wurden strengstens bestraft. Zur Einfuhr von Zeitungen und Büchern
jeglicher Art besaß eine preußischen Firma ein erklärtes Monopol. Einige dieser Verordnungen entstammten aus dem „Herrenvolkglauben“, der im kaiserlichen Deutschland in
einigen Gesellschaftskreisen verbreitet war.51 Diese „Ordnung“ sorgte für wachsenden
Unmut unter der örtlichen Bevölkerung. Auch die litauischen Intellektuellen lehnten
größtenteils die Zusammenarbeit mit den deutschen Truppen ab.52
Die Pläne für Ober Ost sahen eine intensive Ausbeutung der Länder vor, die finanzielle Planung war ganz auf das Erreichen der Autarkie ausgerichtet. Zur intensiven
wirtschaftlichen Ausbeutung der regionalen Rohstoffe kam die der einheimischen Arbeitskräfte. Das besetzte Gebiet sollte aus den eigenen Ressourcen leben, die Heere im
Osten versorgen und keine Forderung an Deutschland stellen dürfen. Im Herbst 1916
wurde der erste Wirtschaftsplan für Ober Ost vorgestellt, und nun wurden zahlreiche
Steuern von der Bevölkerung eingehoben.53 Diese Wirtschaftspolitik schuf eine Masse
von verarmten Arbeitern und Kleinbürgern. Eine große Zahl der nicht kriegswichtigen
Industrieanlagen wurde demontiert und nach Deutschland verbracht oder stillgelegt. Nur
Industriezweige, die für die Grundversorgung von Ober Ost und Deutschland bedeutsam
waren, konnten mit Genehmigung der Behörden weiter existieren. Vor allem im Bereich
49 BayHStA, HS 2224 Deininger Gottlieb, Uffz, Feldartillerie Batterie 900, Bericht von ihm über die
Fahrt an die Ostfront 1916 (494).
50 Liulevicius, Kriegsland im Osten, S. 72f.
51 Ebd., S. 28. Rübsam, Soldatische Erfahrung des Ersten Weltkriegs, S. 65f.
52 Strazhas, Deutsche Ostpolitik im Ersten Weltkrieg, S. 27.
53 Liulevicius, Kriegsland im Osten, S. 87.
Deutsche Kriegserfahrungen im Osten, 1914–1917
der Forstwirtschaft wurden sogar noch weitere Firmen gegründet.54 Der Urwald von
Belovež bildete den größten Wert für die Deutschen, da für den Bau von Befestigungsanlagen an der Front und den Eisenbahnbau riesige Mengen an Holz benötigt wurden.
Zu diesem Zweck wurde dort eine Holzmühle errichtet. Ebenso mussten Brücken gebaut
und die Straßen mit Holzbohlen ausgebessert werden, und letztendlich diente das Holz
im Winter als Brennmaterial.55
Die Einheimischen wurden gegenüber den Deutschen mit einer Grußpflicht belegt,
die von ihnen verlangte, bei einem Zusammentreffen mit einem deutschen Offizier den
Bürgersteig zu verlassen, Front zu machen und den Hut abzunehmen. Auch die Unteroffiziere und Mannschaften nahmen den Gruß für sich in Anspruch. Wenn ein Einheimischer den Gruß verweigerte, konnte es zu gewalttätigen Maßnahmen seitens des
Deutschen gegen ihn kommen.56 Des Weiteren kam es zu Ausschreitungen gegen die Zivilbevölkerung und zu Kriegsverbrechen. Zwar wurde eine Gerichtsverfassung für Ober
Ost am 1. März 1916 in Kraft gesetzt, in der die Todesstrafe weitestgehend abgeschafft
war, dies entsprach jedoch nicht der Haager Landkriegsordnung (HLKO) von 1907.
„Art. 43: Nachdem die rechtmäßige Gewalt tatsächlich in die Hände des Besetzenden
übergegangen ist, hat dieser alle von ihm abhängenden Vorkehrungen zu treffen, um
nach Möglichkeit die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten, und zwar, soweit kein zwingendes Hindernis besteht, unter
Beachtung der Landesgesetze.“57 Danach musste das russische Zivilgesetzbuch angewendet werden und durfte nicht durch ein anderes Gesetz ersetzt werden. Die deutsche
Militärverwaltung hatte anfangs das russische Zivilgesetzbuch benutzt, aber aufgrund
der Sprachprobleme wurde dies bald aufgegeben. Die Bekanntgabe, dass ein Einheimischer hingerichtet worden war, wurde laut eines Befehls des Oberbefehlshabers Ost vom
18. Juni 1916 verboten.58
Schlussendlich ist jedoch festzustellen, dass das Kulturprogramm und das Verkehrsprogramm sich gegenläufig verhielten, da jede Bewegung und ökonomische Tätigkeit
der einheimischen Bevölkerung von der deutschen Militärverwaltung kontrolliert wurde.
Dies brachte für die Einheimischen einerseits eine enorme Belastung mit sich, andererseits stellte alleine ein Theater- oder Kirchenbesuch schon einen Verwaltungsakt dar.59
Verhältnis der deutschen Soldaten zur Zivilbevölkerung
in den besetzten Gebieten
Als die deutschen Soldaten Polen und Teile Russlands besetzten, wurden sie von der
dort herrschenden kulturellen Vielfalt und den gewonnenen Eindrücken überwältigt. Die
Armeen im Osten fühlten sich verloren, weitab von den Heimatgrenzen, in riesigen, be54
55
56
57
58
Strazhas, Deutsche Ostpolitik im Ersten Weltkrieg, S. 30.
Liulevicius, Kriegsland im Osten, S. 99. Vgl. auch: Ders., Der vergiftete Sieg, S. 112.
Strazhas, Deutsche Ostpolitik im Ersten Weltkrieg, S. 28f.
Rudolf Laun (Hg.), Die Haager Landkriegsordnung. Hannover 1948, Art. 43 HKLO, S. 93.
Rübsam, Soldatische Erfahrung des Ersten Weltkriegs, S. 74f.; Strazhas, Deutsche Ostpolitik im Ersten Weltkrieg, S. 35f.
59 Liulevicius, Der vergiftete Krieg, S. 112.
233
234
Helmut Rübsam
setzten Territorien, von denen die meisten Soldaten kaum etwas wussten. Denn vor dem
Krieg hatte kaum ein Deutscher direkte Erfahrungen mit seinen unmittelbaren östlichen
Nachbarn gemacht. Vielmehr herrschte in Deutschland das Bild vom „barbarischen Osten“ vor.60 Albrecht Harrer berichtet über seine Erlebnisse an der Ostfront im Tagebuch:
„[…] Ich machte mir eben mal die Mühe, genau zu zählen, wie viel Personen bei uns in
der Stube schlafen. Seit meiner Erkältung habe ich [es] nämlich vorgezogen, doch auch
lieber in dem Zimmer zu schlafen. Wir sind also: 4 Erwachsene, 3 Mädchen, 7 Jungens
und ein ganz kleines Würmchen in der Wiege (Russen, dazu kommen wir drei Soldaten)
macht 18 Stück. Sobald jedoch das Wetter einigermassen wärmer ist, werde ich wieder
vorziehen in meiner Scheune zu schlafen. Zu dieser Zahl kommt die Ungebildetheit der
Menschen, mit denen wir gezwungen sind auf einem solch kleinen Fleck zusammen
zu hausen. Sie spucken in die Stube, putzen die Nase mit den Fingern, die sie dann an
Hosenboden oder Schürze abstreifen. Sprechen sie mit uns, dann husten sie einem grade
ins Gesicht oder ins Essen. Waschen sie sich einmal, dann nehmen sie den Mund voll
Wasser, pusten das Wasser in die Hände und verreiben das Wasser im Gesicht. Wie die
Affen lausen sie sich in Mussestunden gegenseitig. Ich leide am meisten unter Flöhen,
von denen ich täglich etwa ein halbes Dutzend hinrichte. […]“61
Die Malaria-, Cholera- und Fleckfieberepidemien wurden für den Osten als typisch
empfunden.62 Eine zentrale Rolle hinsichtlich ihrer Vorstellungen vom Osten spielte bei
den Soldaten der Schmutz beziehungsweise Dreck. „[…] Nun sitzen wir schon den dritten Tag hier. [Jeżewo-Wesel] Das Wetter ist mild. Ein leichter Regen rieselt herunter
und der Dreck ist unbeschreiblich. Man geht meist nicht auf der Strasse, sondern hinten
durch die Gärten, da man auf der Strasse versinken könnte. Aborte kennt man in Russland anscheinend nicht. […]“63 Auch Alfred Wacker beschreibt einen bis dahin unbekannten „Feind“: „[…] Eine wahre Landplage ist das Ungeziefer und zwar sind darin
zwei Arten vertreten: Läuse und Flöhe. Über diese Feinde ist schon viel gesprochen und
geschrieben worden, dass ich mich darauf beschränken will, festzulegen, dass sie noch
ungeschwächt da sind, dass aber wir durch die alsbaldige Einrichtung von Entlausungsanstalten unseren Feldgrauen vorübergehende Befreiung und Linderung von diesem
kleinen und grässlichen Viehzeug verschaffen. Die Lausoleen sind wahrhaft wohltätige
Einrichtungen auch in Galizien. […]“64
Die Soldaten behielten diese Eindrücke auch bei, als die Front schon weitergerückt
war. Am bildhaftesten schildert diesen Unterschied jedoch der Unterarzt Otto Köhler
in einem Feldpostbrief, in dem er seinen Marsch an die Ostfront beschreibt: „[…] Am
30. November [1914] traten wir unsere Reise nach Polen an, offen gesagt wenig begeistert, weil wir nie gedacht hatten nach Osten zu kommen; nach den Zeitungsberichten war
60 Liulevicius, Kriegsland im Osten, S. 10f.
61 BayHStA, HS 1980 Albrecht L. Harrer Oberstdorf, Allg. Kriegstagebuch 1. Garde Dragoner Regiment. Eintrag vom 27. März 1915.
62 Liulevicius, Der vergiftete Krieg, S. 110.
63 BayHStA, HS 1980 Albrecht L. Harrer Oberstdorf, Allg. Kriegstagebuch 1. Garde Dragoner Regiment. Eintrag vom 16. März 1915.
64 BayHStA, HS 1994 „Der rückwärts rollenden russischen Dampfwalze nach“. Streifzüge eines Feldgrauen durch Galizien. Alfred Wacker, Nürnberg, Ldst. I.B. Gunzenhausen August 1917 (145).
Deutsche Kriegserfahrungen im Osten, 1914–1917
es in Polen & Galizien in jeder Beziehung übel. Nach 2tägiger Fahrt wurden wir an der
Grenzstation Kempen ausgeladen, erfreuten uns noch einmal am Bahnhof mit deutschen
Brötchen & Kaffee und dann ging es 14 Tage lang in anstrengenden Touren durch Polen
der Front entgegen. Zum Glück hatten wir gutes Wetter, denn sonst wären wir wohl erst
einige Wochen später an unseren Bestimmungsort gekommen. Die Wege, die eben keine
Wege sind, waren & bleiben ein großes Hindernis. Welch ein Unterschied schon äußerlich
zwischen Deutschland & Rußland besteht, lernten wir bald nach dem Überschreiten der
Grenze kennen. Konnten unsere Soldaten, Wagen & Reitpferde diesseits des Grenzbaches
noch gut weiter, waren noch schöne 2stöckige Wohnhäuser aus Steinen die Regel & die
Bewohner sauber & ernährt, so fanden wir jenseits wenig mehr vor von diesen Zeichen
geordneter Verhältnisse. Der allgemeine Eindruck war kurz gesagt der, daß man glaubte
von einer guten Stube in einen Misthaufen gekommen zu sein. […]“65 Schmutz wurde
zum Symbol für den Zustand des Landes und seiner Bevölkerung vor der Umgestaltung
durch „deutsche Arbeit“.66
Es finden sich jedoch auch Ausnahmen in den Beschreibungen über Russland. Ismar
Becker schildert seine – von den üblichen Berichten abweichenden – Impressionen in
einem seiner Briefe an Sigmund Feist: „[…] Jetzt waren wir auch einige Tage in Kowno,
einem Städtchen von 8000 Einwohnern, das einen sehr netten, sauberen Eindruck macht.
In den breiten Straßen elektrisch Licht und selbst Pferdebahn. Auch ein deutsches Theater, das [ich] zur Abwechslung besuchte, hat Kowno aufzuweisen. Einen besonders
schönen Blick hat man auf die Stadt von einem kleinen Berge vor der Stadt. […]“67
Das Zusammentreffen zwischen den deutschen Soldaten und den Juden, die in den
besetzten Gebieten lebten, war von einer Diskrepanz der Gefühle geprägt. Die Reaktionen der Soldaten reichten von Mitleid bis hin zu scharfer Abneigung, welche jedoch
noch Unterschiede zum völkischen Antisemitismus zeigte, der im Nationalsozialismus
von 1933–45 seine volle Entfaltung erfuhr. „[…] In Rasions sind eine Unmenge Juden. Auf dem Lande trifft man sie nicht, aber sonst umsomehr in den Städten. Auf dem
Markte bauen sie richtige Jahrmarktsbuden, in denen sie ihre Erzeugnisse mit lautem
Geschrei und Feilschen anbieten. Selbst Thee kann man da trinken und bei einem Juden
sogar Eis essen. Die alten Juden bilden die reinsten Theatergestalten, wenn sie mit ihrem
schmierigen Kaftan und ihren Löckchen umherschlurfen, uns anhalten und heftig gestikulierend uns ihre Ware anpreisen. ‚Trinken sie Thei bester Herr. Sie keifen gut und sie
keifen billig‘ usw. […]“68
Doch auch für deutsche Soldaten mit jüdischem Glauben war die Begegnung mit
den Juden aus Polen und Russland von zwiespältigen Gefühlen begleitet. Viele deutsche
Juden sahen ihre eigene Identität nun in einem neuen Licht.69 Darüber schreibt beispiels65 Hank – Simon, Feldpostbriefe Jüdischer Soldaten 1914–1918. Bd. 1, S. 357. Brief 352a–352h von
Otto Köhler an Sigmund Feist vom 15. Januar 1915.
66 Liulevicius, Kriegsland im Osten, S. 195.
67 Hank – Simon, Feldpostbriefe Jüdischer Soldaten 1914–1918. Bd. 1, S. 88f, Brief 64a–64a RS von
Ismar Becker an Sigmund Feist vom 20. Oktober 1915.
68 BayHStA, HS 1980 Albrecht L. Harrer Oberstdorf, Allg. Kriegstagebuch 1. Garde Dragoner Regiment. Eintrag vom 14. April 1915.
69 Liulevicius, Der vergiftete Krieg. S. 113; vgl. auch Hans-Erich Volkmann, Der Ostkrieg 1914/15 als
235
236
Helmut Rübsam
weise Herbert Czapski in seinem Brief an Sigmund Feist: „[…] Im allgemeinen war
es in Polen interessanter. Es war doch eine andere Welt, andere Menschen, die man zu
sehen bekam, doppelt interessant, wenn man selbst Jude ist. Von der jüdischen Bevölkerung sind wir, wenigstens ich für meinen Teil und auch Gebrüder Heidemann, sehr
gastfrei aufgenommen worden und es ist hier doch ein gewaltiger Unterschied, weil unser jetziger Aufenthaltsort das richtige Krähwinkel ist. […]“70 Auch der Unterarzt Otto
Köhler berichtet über seine Eindrücke von der einheimischen Bevölkerung jüdischen
Glaubens im Osten: „[…] Unsere Glaubensgenossen machten einen üblen Eindruck,
die Angst & die Not der letzten Wochen war deutlich in ihren Gesichtern zu lesen; mit
unangenehmer Unterwürfigkeit begrüßten sie uns & wünschten uns Glück & Erfolg.
Die Häuschen waren entsetzlich dreckig & mit Schrecken dachte ich daran auch bald
in diesen Löchern wohnen zu müssen. Hier an der Grenze traf man noch Steinhäuser[,]
aber verfallen waren sie durchweg, die Fenster undurchsichtig vor Schmutz & die Türen
niedrig, so daß man sich beim Eintreten bücken mußte. Innen war es bei den Juden vielfach sauber, sie hatten einige hübsche Möbel & verkauften mit dieser Nobeleinrichtung
heißen Dey (Tee). Im Ghetto stand Haus an Haus geklebt, im Polenviertel dagegen hat
jede Hütte Land um sich herum. […]“71
Für die deutschen Soldaten war der Osten terra incognita, die sie im Grunde nicht
verstanden und auch nicht verstehen wollten. Einige Soldaten bekamen bei der Überquerung der Grenze einen Kulturschock und sahen ihre Vorstellungen bestätigt. Russland
war ein Vielvölkerstaat und die Menschen, die dort lebten, hatten andere Kulturen, Sprachen, Sitten usw., die den deutschen Soldaten unbekannt waren.72 Weiterhin war für sie
der größte Teil der Bevölkerung „Barbaren“, die nicht wussten, wie sie das Land korrekt
bewirtschaften sollten. So schreibt Alfred Wacker in seiner Darstellung: „[…] Es ist
wirklich zu bedauern, dass die Einwohner nicht besser verstehen, aus dem Bodenreichtum ihres Landes Nutzen zu ziehen. Wie reich könnte das Land sein, wenn Ackerbau und
Viehzucht rationell betrieben würden, und um wie viel hätte Österreich dem Wirtschaftskrieg mit dem uns die Engländer und seine Freunde bedrohten, die Stirne besser bieten
können. Ich glaube nicht, dass die Lehren des Krieges hierin eine Besserung zeitigen
werden. […]“73
Die Behandlung der einheimischen Bevölkerung an der Westfront bildet einen großen Unterschied zur Ostfront. Hier wurde beispielsweise versucht, die flämische Bevölkerung in die deutsche Kultur und Gesellschaft zu integrieren. Des Weiteren galten die
französische und britische Bevölkerung als gebildet und hatten einen hohen kulturellen
70
71
72
73
Erlebnis- und Erfahrungswelt des deutschen Militärs, in: Groß (Hg.), Die vergessene Front. Der Osten
1914/15. S. 263–293, hier: S. 278f.
Hank – Simon, Feldpostbriefe Jüdischer Soldaten 1914–1918. Bd. 1, S. 156, Brief 138a–138b RS von
Herbert Czapski an Sigmund Feist vom 22. Juni 1915. Krähwinkel: Umgangssprachlich für kleinstädtische Beschränktheit.
Hank – Simon, Feldpostbriefe Jüdischer Soldaten 1914–1918. Bd. 1, S. 357f., Brief 352a–352h von
Otto Köhler an Sigmund Feist vom 15. Januar 1915.
Baberowski, Einführende Bemerkungen, S. 147.
BayHStA, HS 1994 „Der rückwärts rollenden russischen Dampfwalze nach“. Streifzüge eines Feldgrauen durch Galizien. Wacker Alfred, Nürnberg, Ldst. I.B. Gunzenhausen August 1917 (145).
Deutsche Kriegserfahrungen im Osten, 1914–1917
Status. So schreibt Karl Levit in einem Feldpostbrief: „[…] Jedoch was die Kultur anbelangt ist Frankreich Rußland meilenweit voraus. Um nun hier etwas zu erzählen, so
sei vorausgeschickt, daß es [eine] kleine französische Stadt ist, die in Friedenszeiten
ca. 6000 E[inwohner] hat. Wie in den deutschen Kleinstädten gruppiert sich auch hier
alles um das Hôthel de ville (Rathaus). Dieses Gebäude ist sehr einfach gebaut & steht
wohl schon ca. 80 Jahre. Im Treppenflur ist eine große Gedenktafel angebracht. […]
Auch sieht man noch unbeschädigte Fabriken hier. In einer dieser Fabriken ist unsere
Badeanstalt & Lausoleum untergebracht. Letztere gibt es G[ott] s[ei] D[ank] hier nicht
so viel als wie in Rußland. Aber das Bad ist eine der schönsten Einrichtungen dieser
Stadt. […]“74
Es lässt sich also feststellen, dass die deutschen Soldaten gegenüber der einheimischen Bevölkerung eher negativ eingestellt waren. Für die meisten Soldaten waren diese
nur billige Arbeitskräfte, die sich ihnen unterzuordnen und zu gehorchen hatten.
„Heimatfront“
Neben der materiellen und personellen Verzahnung zwischen Heimat und Front gab
es auch einen spirituellen und emotionalen Austausch. Front und Heimat standen im
engen Kontakt und bedingten sich gegenseitig, was vor allem ein Kennzeichen des modernen, industrialisierten Krieges war, der alle Bevölkerungsschichten mobilisierte.75
In der totalen Erfassung der Gesellschaft wurde der Krieg auf die Gesellschaft in der
Heimat ausgeweitet. Gebündelt wurde dieser Umstand im Begriff „Heimatfront“. Die
Daheimgebliebenen wurden dadurch in gewisser Weise mit den Soldaten an der Front
gleichgesetzt, sie kämpften auch, nur nicht mit Waffen, sondern in der Fabrik, auf dem
Acker oder am Herd.76
Die Verbindungen zwischen „Heimatfront“ und Front waren für beide Seiten äußerst
wichtig. So wurden nach Schätzungen in Richtung Front ca. 17,7 Milliarden, in Richtung Heimat ca. 11 Milliarden Feldpostsendungen während des gesamten Ersten Weltkrieges verschickt. Insgesamt sind also ca. 28,7 Milliarden Feldpostsendungen zwischen
Heer und Heimat ausgetauscht worden.77 Somit beförderte die Deutsche Post pro Tag im
Durchschnitt ca. 16,7 Millionen Feldpostkarten, Briefe und Pakete zwischen Front und
Heimat und umgekehrt.78
74 Hank – Simon, Feldpostbriefe Jüdischer Soldaten 1914–1918. Bd. 2, S. 423, Brief 420a–420d RS von
Karl Levit an Sigmund Feist vom 23. Januar 1917.
75 Michael Geyer, Gewalt und Gewalterfahrung im 20. Jahrhundert. Der Erste Weltkrieg, in: Rolf Spilker
– Bernd Ulrich (Hg.), Der Tod als Maschinist, S. 240–257, hier: S. 255.
76 Nikolaus Buschmann, Der verschwiegene Krieg: Kommunikation zwischen Front und Heimatfront,
in: Gerhard Hirschfeld – Gerd Krumeich – Dieter Langewiesche – Hans-Peter Ullmann (Hg.), Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs. Essen 1997, S.
208–224, hier: S. 212f.
77 Karl Schrack, Geschichte der deutschen Feldpost im Kriege 1914/ 18. Berlin 1921, (Reprint von
1992), S. 336. Vgl. auch: Peter Knoch, Feldpost – eine unentdeckte historische Quellengattung, in:
Geschichtsdidaktik. H. 2, 1986, S. 154–171, hier: S. 156; Thomas Flemming – Ulf Heinrich, Grüße
aus dem Schützengraben, S. 8; Rübsam, Soldatische Erfahrung des Ersten Weltkriegs, S. 22f.
78 Flemming – Heinrich, Grüße aus dem Schützengraben, S. 7.
237
238
Helmut Rübsam
Für die Soldaten symbolisierte die Heimat nicht nur die „heile“, sondern auch die
„sinnhaftige“ Welt. Die Soldaten konnten den Ersten Weltkrieg nur auf Umwegen verarbeiten, da dieser Krieg mit allen bisherigen Vorstellungen des Krieges brach. In den
Feldpostbriefen wurde meist nicht von Kampf, Verwundung oder Massensterben an der
Front berichtet. Häufig überstieg das Erlebte die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten
der zumeist schreibungeübten, aus bildungsfernen Milieus stammenden Kriegsteilnehmer.79 Aber auch die gebildeten Kriegsteilnehmer hatten Schwierigkeiten, den Krieg ihren Briefempfängern zu erläutern. Die Gewalt des Krieges, die Konfrontation mit dem
Tod, ja der Krieg an sich waren „unbeschreiblich“. Dieses Fehlen der Sprache und die
Schwierigkeit, das eigene Erlebte zu vermitteln, hatten eine Entfremdung zwischen den
Soldaten und ihren Familien und Freunden in der Heimat zur Folge. So wird in vielen
Briefen oft die Isolation an der Front, die Fremdheit der Heimat, die Welten, die von der
Front getrennt schienen, beklagt.
Bei der Darstellung des Krieges sollte die Authentizität, so Michael Geyer, nicht zu
hoch bemessen werden, denn die Sprache und Darstellung wandelte sich in der Zeit von
1914 bis 1918. Die Männer blieben in diesem Krieg mit ihren Kriegserfahrungen unter
sich. Auch muss bedacht werden, dass viele Frauen und Freundinnen nicht alle Sorgen
aus der Heimat an die Front berichteten, da sie keine „Jammerbriefe“ schreiben sollten.80
„Die Frau“ war für die Erhaltung der Kampfkraft und Moral verantwortlich. Aber durch
das Schweigen der Frauen über alltägliche und vielleicht als kleinlich abgetane Sorgen
wurde der Gegensatz zwischen Heimat und Front nur noch verstärkt.81
Eine weitere Kriegserfahrung, die für die Soldaten von äußerster Wichtigkeit war,
war die unzureichende Verpflegung an der Front. Dies wird in vielen Memoiren, vor
allem aber in den Feldpostbriefen zum Ausdruck gebracht. So baten die Soldaten in
den Briefen ihre Angehörigen oder Freunde um Nahrungsmittel, da ihre Versorgung
knapp war beziehungsweise die Nahrungsmittel nicht richtig verteilt wurden.82 Gottlieb Deininger berichtet beispielsweise: „[…] Also Antreten zum Menagieren! Aber
dumme Gesichter machten wir, als jeder ein Trumm Speck in die Hand bekam. Das ist
ja sonst etwas Feines! Aber ohne Brot u[nd] Salz? Weil unser Verpflegsunteroffizier
[sic!] Bär aus lauter Speck bestand, so dachte er anscheinend, Brot u[nd] Salz seien
überflüssig. Ueberhaupt [sic!] gingen jetzt die Entbehrungen an, obwohl die Vorratswägen voller Brot u[nd] Würste waren, welch letztere erst nach Monaten ausgegeben
79 Buschmann, Der verschwiegene Krieg, S. 218f.; vgl. auch: Roger Chickering, Das Deutsche Reich
und der Erste Weltkrieg. München 2002, S. 119; Rübsam, Soldatische Erfahrung des Ersten Weltkriegs, S. 31.
80 Geyer, Gewalt und Gewalterfahrung im 20. Jahrhundert, S. 253. Vgl. auch Wolfgang J. Mommsen:
Kriegsalltag und Kriegserlebnis im Ersten Weltkrieg, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift. 59, 2000,
S. 125–138, hier: S. 132.
81 Angelika Tramitz, Vom Umgang mit Helden. Kriegs(vor)schriften und Benimmregeln für deutsche
Frauen im Ersten Weltkrieg, in: Peter Knoch – Peter Dines (Hg.), Kriegsalltag. Die Rekonstruktion
des Kriegsalltags als Aufgabe der historischen Forschung und der Friedensforschung. Stuttgart 1989,
S. 84–113, hier: S. 97; Rübsam, Soldatische Erfahrung des Ersten Weltkriegs, S. 31.
82 Bernd Ulrich – Benjamin Ziemann: Das soldatische Kriegserlebnis, S. 144; vgl. auch: Anne Lipp, Erfahrungsraum „Front“, in: Rainer Rother (Hg.), Der Weltkrieg 1914–1918. Ereignis und Erinnerung.
Wolfratshausen 2004, S. 58–67, hier: S. 60.
Deutsche Kriegserfahrungen im Osten, 1914–1917
wurden, nachdem die Wachtmeister immer dicker u[nd] die Würste immer schimmeliger wurden. […]“83
Während des gesamten Krieges kam es zu Engpässen, trotz aller Versuche der
militärischen Führung und der Nachschubeinheiten diese zu beseitigen. Zum Jahreswechsel 1915/16 erreichte die Versorgungslage im Deutschen Reich einen kritischen Punkt, es folgte der sogenannte „Steckrübenwinter“84. Verschlimmert wurde
die Lage im Deutschen Reich trotz Lebensmittelkarten durch die britische Blockade
der Nordsee. Die Regierung sah sich veranlasst, ab 1915 die Brotkarte in Deutschland einzuführen und bis Ende 1916 konnten alle Lebensmittel und Gegenstände des
täglichen Bedarfs nur noch auf Karte bezogen werden.85 Die Zuteilung anhand der
Lebensmittelkarten beschreibt Albrecht Harrer folgendermaßen: „[…] Wir haben im
ganzen Reich Lebensmittelkarten, sodass sämtliche Lebensmittel möglichst gleichmässig verteilt sind. Aber die Mengen sind gering und manchmal bekommt man eben
trotz der Marken nichts, da nichts mehr da ist. Aus diesem Grunde sieht man vor den
Nahrungsmittelläden oft ganze Prozessionen stehen, die alle nach der Reihe bedient
werden, bis es schliesslich heisst ausverkauft. […]“86 Teilweise hatten die Soldaten
an der Front mehr zu essen als die Bevölkerung in der Heimat. Deininger fordert
seine Mutter indirekt dazu auf, ihm erst einmal nichts mehr zu essen zu schicken.
Manchmal sendeten Soldaten auch von der Front Lebensmittel nach Hause – dies
war vor allem nach der Michael-Offensive 1918 an der Westfront der Fall, als deutsche Truppen große alliierte Versorgungslager erobern konnten.87 Durch die plötzliche Einberufung der Männer zum Kriegsdienst wurden Familienstrukturen durcheinander gebracht. Diese Trennung und der Kriegsdienst bewirkten eine Veränderung
der gewohnten Rollen. Frauen mussten die Aufgaben der Männer übernehmen.88 So
schreibt Albrecht Harrer in seinem Kriegstagebuch Folgendes: „[…] In den meisten
Berufen haben die Frauen die Männer abgelöst. So gibt es fast nur noch Schaffnerinnen auf den Bahnen. Auf den Postwagen sitzen weibliche Postillone [sic!] und
die Post trägt die Briefträgerin aus. In den Munitionsfabriken drehen Frauen und
Mädchen tüchtig Granaten und helfen auf diese Weise auch hinter Front tüchtig an
83 BayHStA, HS 2224 Gottlieb Deininger, Uffz, Feldartillerie Batterie 900, Bericht von ihm, über die
Fahrt an die Ostfront 1916 (494).
84 „Steckrübenwinter“: Wurde auch Kohlrübenwinter genannt. Damit wurde eine der schlimmsten Ernährungssituationen während des gesamten Krieges in Deutschland bezeichnet. Im Winter 1916/17
kamen mehrere Entwicklungen zusammen, u.a. eine wetterbedingt besonders schlechte Ernte. So
musste als Hauptnahrungsmittel Kohl- bzw. Steckrüben verwendet werden. Näheres siehe dazu: Enzyklopädie Erster Weltkrieg, S. 616 bzw: Christine Schönebeck (Hg.), „Vorstellen könnt Ihr Euch den
Krieg gar nicht, so schrecklich ist der.“ Die Feldpost des Gladbecker Schülers Franz Küster an seine
Eltern (1915–1918). Gladbeck 2005 S. 41.
85 Ministerium des Inneren (Hg.), Ernährung und Teuerung. Ausgabe der „Ernährung im Kriege“ für
Frühjahr 1916. Leipzig 1916, S. 3. Vgl. auch Ullrich, Die nervöse Großmacht 1871–1918, S. 475;
Volker Berghahn, Der Erste Weltkrieg. München 2009, S. 84f.
86 BayHStA, HS 1980 Albrecht L. Harrer Oberstdorf, Allg. Kriegstagebuch 1. Garde Dragoner Regiment, Geb. M.G.A. 240 10. August 1914–18. November 1916 (102).
87 Rübsam, Soldatische Erfahrung des Ersten Weltkriegs, S. 78f.; Keegan, Der Erste Weltkrieg, S. 561.
88 Peter Knoch, Feldpost – eine unentdeckte historische Quellengattung, S. 161.
239
240
Helmut Rübsam
unseren Erfolgen draussen [sic!] mit. […]“89 Diese Frauenarbeit wirkte sich auch auf
die Nachkriegszeit aus. Die Frauen arbeiteten auch aus materiellen Gründen, denn
die Inflation machte sich in den Haushaltskassen bemerkbar. Die Witwenrente und
die staatliche Unterstützung für Soldatenfrauen waren zu gering, um das Lebenswichtigste zu bezahlen. Viele Frauen sahen aber die Arbeit auch als ihre patriotische
Pflicht für ihr Vaterland und arbeiteten deshalb freiwillig in den Munitionsfabriken
und Lazaretten.90 Des Weiteren wurden Kriegsgefangene vor allem in der Landwirtschaft eingesetzt, um dort auch die fehlenden Männer zu kompensieren.91 Auch sie
wurden teilweise in der Industrie beschäftigt. Es kam sogar vor, dass sie dort völkerrechtswidrig in Rüstungsbetrieben arbeiteten.
Resümee
Es lässt sich aufgrund der vorliegenden Literatur feststellen, dass die Kriegserfahrungen
der Soldaten, die am östlichen Kriegsschauplatz im Ersten Weltkrieg eingesetzt waren,
bisher nur wenig Beachtung gefunden haben, obwohl die Quellenlage unglaublich dicht
ist.
Weiters lässt sich diagnostizieren, dass die deutsche Armee von der raschen Mobilisierung und dem Vorgehen der russischen Armee überrumpelt wurde. Ab 1916 kam es
auch dort zum Stellungskrieg, der jedoch nicht derartige Ausmaße annahm wie an der
Westfront. Deutlich wird aus den Quellen die größere Fliegertätigkeit und der vermehrte
Einsatz der schweren Artillerie an der Westfront, da der russischen Armee im Gegensatz
zu den restlichen Entente-Mächten diese Waffen kaum zur Verfügung standen.
Aus den aufgearbeiteten Quellen lässt sich erkennen, dass die Etappe von den Soldaten ausführlicher als die deutsche Besatzungspolitik beschrieben wurde. Dies könnte
unter anderem daran liegen, dass diese Zeugnisse größtenteils von Frontsoldaten stammen und diese mit der Besatzungspolitik nur in geringem Maße in Berührung kamen.
Die Verhältnisse in den Etappen an der West- und Ostfront waren nahezu identisch. In
Bezug auf die Besatzungspolitik ist ein Vergleich eher schwierig, da den „einfacheren“
Soldaten ein Einblick ähnlich dem der höheren Stabsoffiziere verwehrt blieb. Für die
deutschen Soldaten war der Osten ein fremdes Land mit den unterschiedlichsten Kulturen, die Vorstellungen entsprachen nicht den Vorstellungen der Soldaten, wie dies aus
den Feldpostbriefen hervorgeht. Es wurde in Ober Ost versucht, der zivilen Bevölkerung
die deutsche Kultur durch das Verkehrs- und Kulturprogramm näherzubringen. Obwohl
die Praxis der Besatzungspolitik im Osten sich von der im Westen wie bereits oben
erwähnt unterschied, denn durch die deutsche Besetzung hörte der Staat Belgien nicht
auf zu existieren, wie dies im Osten der Fall war. Es wurden durch die Besatzung neue
politische Realitäten geschaffen, die dann 1918 im Königreich Polen, in den Baltischen
Staaten, in Finnland und der Ukraine ihren Ausdruck fanden.92
89 BayHStA, HS 1980 Albrecht L. Harrer Oberstdorf, Allg. Kriegstagebuch 1. Garde Dragoner Regiment, Geb. M.G.A. 240 10. August 1914–18. November 1916 (102).
90 Volker Berghahn, Der Erste Weltkrieg, S. 77f.
91 Chickering, Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg, S. 175.
92 Haffner, Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg, S. 69.
Deutsche Kriegserfahrungen im Osten, 1914–1917
Die lokale Kultur erschien den deutschen Soldaten als ausgesprochen fremd. Auch
der Hygiene-Diskurs nimmt in dieser Fremdheitskonstruktion eine zentrale Rolle ein.
Die einheimische Bevölkerung wurde von den Deutschen größtenteils als Menschen
zweiter Klasse angesehen und auch dementsprechend behandelt. Diese hatten den Deutschen zu gehorchen und deren Zwecken zu dienen. Es lässt sich feststellen, dass die
deutschen Soldaten ein unterschiedliches Verhältnis zur Zivilbevölkerung im Osten und
der im Westen hatten: Die Einheimischen im Osten waren für die Deutschen „Barbaren“,
während die Belgier und Franzosen ihrer Ansicht nach zivilisiert waren und ein hohes
kulturelles Niveau besaßen.
241
Die Kriegstagebücher der Brüder Erich und
Rudolf Mayr
Kriegserfahrungen an der Südwestfront im Vergleich
Isabelle Brandauer
Theoretische Überlegungen
Kriege stellen für die kollektive und individuelle Erinnerung einen markanten Kontinui­
tätsbruch dar, indem sie maßgeblich in das Leben gesellschaftlicher Gruppen einerseits
und jenes von Individuen andererseits eingreifen. Durch eine Bearbeitung von Selbstzeugnissen können Kriegserfahrungen und die Erinnerung daran sowohl kollektiv als
auch individuell betrachtet werden.1 Nachdem vor rund drei Jahrzehnten die Alltagsgeschichte des Ersten Weltkrieges und damit verbunden auch die „Geschichte des kleinen Mannes“2 als eine „Geschichte von unten“3 ins Zentrum des Interesses gerückt war,
begann sich die Geschichtsforschung in den letzten Jahren zunehmend der Erfahrungsgeschichte des Krieges zuzuwenden. Diese Nahaufnahme führte zu einer Entdeckung
bis dahin vernachlässigter historischer Quellen, der sogenannten Ego-Dokumente, die
„einen möglichst direkten Zugriff auf individuelle und kollektive Deutungen, Wertungen oder soziales Wissen“4 bieten und somit einen wesentlichen mikrogeschichtlichen
Beitrag für eine „history of emotions“ liefern.5
1
2
3
4
5
Vgl. Michael Epkenhans – Stig Förster – Karen Hagemann, Einführung: Biographien und Selbstzeugnisse in der Militärgeschichte – Möglichkeiten und Grenzen, in: dies. (Hg.), Militärische Erinnerungskultur. Soldaten im Spiegel von Biographien, Memoiren und Selbstzeugnissen. Krieg in der
Geschichte. Bd. 29. Paderborn – München – Wien – Zürich 2006, S. IX–XVI, hier: S. XII.
Federführend daran beteiligt waren im deutschsprachigen Raum u.a. die Publikationen von Peter
Knoch (Hg.), Kriegsalltag. Die Rekonstruktion des Kriegsalltags als Aufgabe der historischen Forschung und der Friedenserziehung. Stuttgart 1989; Wolfram Wette, Die Geschichte des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten. München – Zürich 1992; Gerhard Hirschfeld – Gerd Krumeich
– Irina Renz (Hg.), Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch … Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkrieges. Essen 1993.
Die Bezeichnung „Geschichte von unten“ begann sich ab Mitte der 1980er Jahre im deutschsprachigen Raum zu etablieren. Vgl. Bernd Ulrich, „Militärgeschichte von unten“. Anmerkungen zu ihren
Ursprüngen, Quellen und Perspektiven im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft. Jg. 22, H.
4, 1996, S. 473–503.
Winfried Schulze, Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung „Ego-Dokumente“, in: ders. (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Selbstzeugnisse der Neuzeit. Bd. 2. Berlin 1996, S. 11–30, hier: S. 13.
Vgl. Fabian Brändle u.a., Texte zwischen Erfahrung und Diskurs. Probleme der Selbstzeugnisforschung, in: Kaspar von Greyerz – Hans Medick – Patrice Veit (Hg.), Von der dargestellten Person zum
244
Isabelle Brandauer
Dem individuellen Kriegstagebuch als klassischem Ego-Dokument beziehungsweise Medium des Kollektiven Gedächtnisses im Zusammenhang mit der Erfahrungsgeschichte des Ersten Weltkrieges am Beispiel der Kriegstagebücher zweier Tiroler Brüder
widmet sich der vorliegende Beitrag.
„Ein Mann ohne Tagebuch […] ist, was ein Weib ohne Spiegel“6 –
Form und Funktion von Kriegstagebüchern
Pethes’ und Ruchatz’ interdisziplinäres Lexikon charakterisiert Tagebücher als meist
täglich verfasste, datierte und chronologisch geordnete Aufzeichnungen, in denen der
Autor Erfahrungen mit sich und seiner Umwelt aus subjektiver Sicht festhält. Dabei geht
es dem Autor nicht um Kontinuität, sondern um das Festhalten erinnerungswürdiger
Ereignisse unter einem Datum. Die Einträge können isoliert und stichwortartig bleiben,
setzen jeweils neu an und Kontinuität sowie Identität müssen erst im Nachhinein konstruiert werden.7
Trotz dieser Charakterisierung ist die Komplexität, die den Historiker bei einer Beschäftigung mit dieser Quellengattung erwartet, nur annähernd zu erahnen. Aufgrund
der Vielfalt der Formen müssen vielmehr auch die verschiedenen Merkmalskomplexe
der Tagebücher – und davon kann ein Tagebuch mehrere gleichzeitig aufweisen – in eine
Quellenanalyse mit einbezogen werden.8
Im Folgenden soll vor allem die Form des privaten Tagebuches, zu der auch das individuelle Kriegstagebuch zählt, beleuchtet werden. Im Gegensatz zu offiziellen Kriegstagebüchern, in denen die Tagesvorkommnisse bei den militärischen Einheiten penibel
genau verzeichnet worden sind9 und der einzelne Soldat in der grauen Masse der Truppe
verschwindet, geben individuelle Kriegstagebücher Erlebnisse und Gefühlswelt einer
einzelnen Person wieder. Form, Inhalt und Aussagewert eines privaten Tagebuches sind
dabei von der sozialen Position des Verfassers bestimmt, weshalb das Tagebuch stets mit
Blick auf den Diaristen und dessen Lebensgeschichte betrachtet werden muss. Ebenso
unterschiedlich wie die Autoren sind nämlich auch die Tagebücher, die von diesen ver-
6
7
8
9
erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500–1850). Köln 2001, S. 3–31,
hier: S. 16.
Gottfried Keller zit. nach Projekt Gutenberg-DE – SPIEGEL ONLINE, http://gutenberg.spiegel.de/
buch/3369/1, 28.8.2012, 15.19 Uhr, Windows Internet Explorer.
Vgl. Kirsten von Hagen, Tagebuch, in: Nicolas Pethes – Jens Ruchatz (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 574f., hier: S. 574.
Vgl. dazu v. a. Peter Hüttenberger, Tagebücher, in: Bernd-A. Rusinek – Volker Ackermann – Jörg
Engelbrecht (Hg.), Einführung in die Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt: Neuzeit. Paderborn – München – Wien – Zürich 1992, S. 27–43. Zur Differenzierung der verschiedenen Tagebuchformen vgl. ebenso Gustav René Hocke, Europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten. Motive
und Anthologie. Bd. 3. Auflage. Wiesbaden – München 1986, S. 17–22.
Vgl. Fritz Fellner, Der Krieg in Tagebüchern und Briefen. Überlegungen zu einer wenig genützten
Quellenart, in: Klaus Amann (Hg.), Österreich und der Große Krieg 1914–1918. Die andere Seite der
Geschichte. Wien 1989, S. 205–213, hier: S. 205. Während offizielle Kriegstagebücher in den Archiven der militärischen Organisationen erhalten geblieben sind und gleichermaßen für die offiziöse
Kriegshistoriografie herangezogen wurden, wurden Tagebücher und Briefe von Einzelpersonen in
Österreich nie systematisch gesammelt.
Die Kriegstagebücher der Brüder Erich und Rudolf Mayr
fasst wurden. Anschaulich formuliert hat dies der russische Dichter Gleb Struve: „In
allen Kriegstagebüchern der Sowjetunion, und es gibt deren zahllose, hat jeder einzelne
russische Soldat den Zweiten Weltkrieg auf seine Weise geführt und gewonnen.“10
Als wesentlichstes Merkmal, unabhängig von Form, Inhalt und Autor, liegt einem
Tagebuch die „Autonomie des Augenblicks“11 zugrunde. Durch seine unmittelbare Nähe
zum Erlebten fehlt dem Tagebuch die nachträgliche Lebenserfahrung und Interpretation
des Ereignisses. Die Aufzeichnungen werden während des Schreibaktes vielmehr durch
die Sinnzuschreibungen durch den Verfasser und bereits zuvor Erlebtes sowie die Erinnerung daran beeinflusst.12
Für den Verfasser kann das Führen eines privaten Tagebuches unterschiedliche Motivationen haben: Es kann in seiner ältesten Funktion als Gedächtnisstütze13 dienen, als
Ventil zum Entladen momentaner Spannungen und Sorgen genutzt werden, einen Partner darstellen, der hilft, das innere Gleichgewicht wiederzufinden, aber auch die Rolle eines Spiegels übernehmen und dadurch zum Werkzeug der Persönlichkeitsbildung
werden.14 Aufgrund des privaten Charakters der Aufzeichnungen können diese auch mit
einer Beichte verglichen werden.15 Kriegstagebüchern im Speziellen ist es zu eigen, dass
sie dem Schreiber die Möglichkeit geben, Erlebtes zu verarbeiten und sich in der Vielfalt
der Eindrücke zu orientieren.
Wie steht es aber nun mit dem Wahrheitsgehalt der Tagebücher? Hier sind es vor allem drei wesentliche Aspekte, die beachtet werden müssen: Erstens sind die Eintragungen trotz ihrer Nähe zum Geschehen zufällig und selektiv. Auch wenn der „natürliche
Erinnerungsschwund“16 aufgrund der zeitlichen Nähe zum Erlebten reduziert ist, kann
für die Glaubwürdigkeit des Inhaltes dennoch nicht garantiert werden. Die Aufzeichnungen werden zusätzlich beeinflusst durch die Beschränktheit des Blickfeldes jedes Tagebuchschreibers, durch die Zwänge der sprachlichen Formulierung, die Kürze der für die
Eintragungen zur Verfügung stehenden Zeit oder durch die räumliche Beschränktheit des
Textträgers.17 Zweitens reflektieren die Aufzeichnungen stets nur einzelne Aspekte der
Gedanken und Erfahrungen des Diaristen und zeichnen keinesfalls ein komplettes Bild
seiner Persönlichkeit. Dieser ist während seiner Eintragungen zumeist von bestimmten
Gefühlen geleitet beziehungsweise interessenmäßig in eine Richtung gelenkt.18 Drittens
sollte auch eruiert werden, woher der Diarist seine Informationen bezieht, ob aus eigener Beobachtung, eigener Reflexion oder womöglich anderen, wiederum gefärbten
Quellen.
10 Zit. nach Hocke, Europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten, S. 143.
11 Peter Boerner, Tagebuch. Stuttgart 1969, S. 60.
12 Vgl. Gerald Lamprecht, Feldpost und Kriegserlebnis. Briefe als historisch-biographische Quelle. Grazer zeitgeschichtliche Studien. Bd. 1. Innsbruck – Wien – München – Bozen 2001, S. 28f.
13 Vgl. Hocke, Europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten, S. 23.
14 Vgl. Boerner, Tagebuch, S. 20–23.
15 Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow, Europäische Tagebücher. Eigenart – Formen – Entwicklung. Darmstadt
1990, Vorbemerkung.
16 Boerner, Tagebuch, S. 31. So auch Hüttenberger, Tagebücher, S. 31.
17 Vgl. Fellner, Der Krieg in Tagebüchern und Briefen, S. 207f.
18 Vgl. Boerner, Tagebuch, S. 31.
245
246
Isabelle Brandauer
Jedes Tagebuch ist somit aufgrund der Formenvielfalt und der individuellen biografischen Hintergründe als unabhängige Einheit handzuhaben. Bei individuellen Kriegstagebüchern kommen hier beispielsweise die Unterschiede des persönlichen Kriegseinsatzes zu tragen, wie etwa der Einsatz an verschiedenen Fronten, der Dienst im Hinterland,
die Urlaubszeit, Verwundungen und andere Ereignisse, die das Schicksal der Soldaten
individuell geprägt haben. Annähernd einfach zu vergleichende Kriterien liegen allein
in der formalen Gestaltung der Tagebücher, der Regelmäßigkeit der Notizen und der
Anordnung nach einzelnen Tagen.19
Vom Erlebnis zur schriftlichen Erinnerung – Tagebücher als Medien
des Kollektiven Gedächtnisses
Oskar Wilde lässt zwei seiner Charaktere in der Komödie „The Importance of Being
Earnest“ über das Führen von Tagebüchern sinnieren. So erklärt die junge Cecily ihrer
Haushälterin: „I keep a diary in order to enter the wonderful secrets of my life. If I didn’t
write them down, I should probably forget all about them.“ Daraufhin entgegnet die
Haushälterin: „Memory, my dear Cecily, is the diary that we all carry about with us.“
Cecily antwortet: „Yes, but it usually chronicles the things that have never happened,
and couldn’t possibly have happened.“20
Oscar Wilde spricht in diesem Dialog nicht nur eine der primären Funktionen des
Tagebuches als Gedächtnisstütze an, sondern wirft gleichzeitig einen kritischen Blick
auf die Rolle des Gedächtnisses in der menschlichen Erinnerung. Er nimmt damit in
Ansätzen vorweg, womit sich Kultur- und Geschichtswissenschaft seit Ende der 1980er
Jahre intensiv beschäftigt haben: Die Beziehung zwischen Geschichte und Gedächtnis
wird zunehmend problematisch gesehen, denn sowohl beim Erinnern an die Vergangenheit als auch beim Schreiben darüber kommen Auswahlmechanismen, Deutungsmodelle
und Verzerrungen zu tragen, die vorwiegend gesellschaftlich bedingt sind.21
Die Diaristen müssen daher in einen sozialen Kontext eingeordnet werden, denn
„unsere Wahrnehmung ist gruppenspezifisch, unsere individuellen Erinnerungen sind
sozial geprägt, und beide Formen der Weltzuwendung und Sinnstiftung sind undenkbar
ohne das Vorhandensein eines kollektiven Gedächtnisses“.22 Es ist für den Historiker daher wesentlich, Kenntnis über den Wissensvorrat des Diaristen und die Konstruktion der
Gesellschaft in dessen Umfeld zu erlangen, um die Tagebuchaufzeichnungen erfolgreich
in seinen Lebenszusammenhang zu setzen und die Handlungen zu verstehen.
19 Vgl. ebd., S. 33f.
20 The Importance of Being Earnest, http://www.gutenberg.org/files/844/844-h/844-h.htm, 30.8.2012,
11.05 Uhr, Windows Internet Explorer.
21 Vgl. Peter Burke, Geschichte als soziales Gedächtnis, in: Aleida Assmann – Dietrich Harth (Hg.),
Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt am Main 1991, S. 289–
304, hier: S. 289. Über das Konzept des „kollektiven Gedächtnisses“ und die kulturwissenschaftliche
Gedächtnisforschung vgl. Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart – Weimar 2005.
22 Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 15f.
Die Kriegstagebücher der Brüder Erich und Rudolf Mayr
Dazu kommt, dass das Erinnerte im Augenblick des Erzählens durch individuell
unterschiedlich starke Verformungsfaktoren des Gedächtnisses kontinuierlich angepasst
wird.23 Aufgrund dieser ständigen Transformation der Gedächtnisleistungen gibt es generell kein umfassend korrektes Erinnern.24 Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen stehen also eng miteinander in Verbindung: „Erinnern [ist] als ein Prozess, Erinnerungen
[sind] als dessen Ergebnis und Gedächtnis [ist] als eine Fähigkeit oder eine veränderliche Struktur zu konzipieren […].“25 Vergessen kann als Selektionsprozess von Einzelwahrnehmungen bewusst oder unbewusst erfolgen. Es formt und gewichtet dadurch
Erinnertes und entlastet das Gedächtnis gleichzeitig von beklemmendem Ballast.26 Zudem werden die Erinnerungen vom Diaristen interpretiert und geordnet und somit zu
einer für ihn gültigen und angemessenen Wirklichkeit. Auch der Kriegseinsatz an sich
ist unmittelbar mit einer gewissen Selektion der täglichen Aufzeichnungen verbunden,
zumal den Schreibern, und hier wiederum vor allem Soldaten von niederen Rängen, eine
räumliche und zeitliche Knappheit das Führen von Tagebüchern erschweren konnte. Der
Historiker Johannes Fried weist daher zurecht darauf hin, dass bei einer Auswertung
von „Erinnerungsprodukten“, wie er es nennt, vor allem auch nach Vergessenem zu suchen sei, um zu einer Beurteilung der Schriftquelle gelangen zu können. Notiert wurde
in den Kriegstagebüchern zumeist Außergewöhnliches, das heißt Ereignisse, die sich
aus dem Kriegsalltag besonders hervorhoben. Konträr dazu wurde ein ganzer Tag, dem
der Diarist keinerlei Bedeutung zumaß, in offiziellen sowie privaten Kriegstagebüchern
zumeist mit einem formelhaften „Nichts Besonderes“ oder einer ähnlichen Bemerkung
kommentiert.
Der Akt der Verschriftlichung selbst ist ebenso mit einer gewissen Problematik verbunden, da es sich bei den Aufzeichnungen, so der Historiker Peter Burke, keinesfalls
um „unschuldige Erinnerungen“27 handelt. Er verweist in diesem Zusammenhang auf
die Warnung des Sinologen Stephen Owen: „Leicht vergessen wir während der Lektüre
von Memoiren, daß wir nicht im Gedächtnis selbst lesen, sondern seine Verwandlung
durch die Schrift rezipieren.“28 Der Historiker muss daher auch bei Tagebuchaufzeichnungen von einer gewissen Zensur der Erinnerungen ausgehen, die gerade beim Akt
der Verschriftlichung oftmals mit einer Sprachlosigkeit angesichts der Kriegserlebnisse verknüpft scheint. Auch wenn man Kriegstagebüchern im Allgemeinen mehr Wahrheitsgehalt als Feldpostbriefen zuspricht, fällt auch hier auf, dass die Diaristen vor der
schonungslosen Realität des Krieges meist zurückschrecken. Allerdings steht die Tagebuchforschung im Vergleich zu den Feldpostbriefen, die unberechtigterweise lange Zeit
als „einzige einigermaßen authentische Quelle“ gehandhabt wurden, diesbezüglich noch
am Anfang.
23 Vgl. Johannes Fried, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. München
2004, S. 49–56.
24 Vgl. Fried, Der Schleier der Erinnerung, S. 143.
25 Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 7.
26 Vgl. Fried, Der Schleier der Erinnerung, S. 112f.
27 Burke, Geschichte als soziales Gedächtnis, S. 292.
28 Zit. nach Burke, Geschichte als soziales Gedächtnis, S. 292.
247
248
Isabelle Brandauer
Die Sprache des Tagebuches muss ebenso einer näheren Betrachtung unterzogen
werden, denn immerhin stehen die Aufzeichnungen in einem spezifischen Bedeutungskontext, der den Sinn der Aussage erschließen kann.29 Ebenso wie bei Feldpostbriefen
definiert und begrenzt die Sprache in den Tagebüchern die Erfahrungen, speichert gesellschaftliches Wissen und bietet Möglichkeiten zur Sinnbildung an.30 Die Sprache „zeigt
nicht nur, was erlebt wurde, sondern sie verrät auch, wie erlebt wurde, welche Bedeutung, welcher Sinn den Erlebnissen jeweils beigemessen wurde, auf welche Bestandteile
des sozialen Wissens also die Briefeschreiberinnen und Briefschreiber zurückgriffen,
um ihre Erlebnisse zu begreifen.“31
Ein Herangehen an das private Kriegstagebuch als historische Quelle bedarf also
einer gewissen Behutsamkeit und einer eingehenden Analyse, zumal seine Aussagekraft
unmittelbar an die Fragen gekoppelt ist, die an das Tagebuch gestellt werden.
Vergleichend-analytischer Teil
Im Folgenden sollen nun die Kriegstagebücher der Brüder Erich und Rudolf Mayr (Abb.
1) anhand ihrer Kriegserlebnisse an der Südwestfront verglichen werden. Dabei bietet
sich vor allem ein Vergleich bezüglich der Herangehensweise an ein gewisses Thema,
der Umstände, unter denen die Aufzeichnungen getätigt wurden, und der Greifbarkeit
der beiden Charaktere durch die von ihnen verfassten Texte an. Zuerst sollen jedoch
die Biografien der Brüder bis zur Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft 1919 beziehungsweise 1920 gegenübergestellt werden, bevor im Anschluss daran Methode und
Fragestellungen zur Analyse der Tagebücher dargelegt werden. Danach widmet sich der
Beitrag der Auswertung und dem Vergleich eines spezifischen Zeitraums der Kriegstagebücher der Brüder Mayr.
Biografien der Brüder Mayr32
Erich Mayr wurde als ältestes von fünf Kindern des Ehepaares Rudolf und Juliana Mair
(!) 1890 in Brixen/Südtirol geboren. Sein Bruder Rudolf kam nach der Geburt zweier
Schwestern vier Jahre später als viertes Kind der Familie im Jahre 1894 zur Welt. Das
fünfte Kind der Familie verstarb nur wenige Monate nach seiner Geburt.
Die Eltern stammten aus ärmlichen Verhältnissen und konnten ihren Kindern mit
dem Beamtenlohn des Vaters, der als k.k. Finanz-Rechnungsbeamter tätig war, ein be29 Vgl. Achim Hahn, Erfahrung und Begriff. Zur Konzeption einer soziologischen Erfahrungswissenschaft als Beispielhermeneutik. Frankfurt am Main 1994, S. 288.
30 Vgl. dazu die Ausführungen zur Erfahrung und Sprache in Feldpostbriefen bei Klaus Latzel, Vom
Kriegserlebnis zur Kriegserfahrung. Theoretische und methodische Überlegungen zur erfahrungsgeschichtlichen Untersuchung von Feldpostbriefen, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen. Jg. 56, H. 1,
1997, S. 1–30, hier: S. 15f.
31 Latzel, Vom Kriegserlebnis zur Kriegserfahrung, S. 23.
32 Die Angaben zur Biografie der Familie Mayr stammen aus zahlreichen Gesprächen mit der Tochter
Erich Mayrs, Annemarie Mayr, und der Enkeltochter Waltraud Niederwieser und ihrem Mann Helmut.
Zudem konnte das Leben der Familie aufgrund einer Familienchronik, die Erich Mayr in den Jahren
1926–1938 verfasst hatte, nachvollzogen werden.
Die Kriegstagebücher der Brüder Erich und Rudolf Mayr
Abb.1: Erich und Rudolf
Mayr (Familie Mayr).
scheidenes Leben ermöglichen. Ab 1895 wendeten sich die Familienverhältnisse durch
ein Lungenleiden des Vaters zum Schlechteren, da er seinen Kanzleidienst infolgedessen
nur noch beschränkt ausüben konnte, und durch den Tod der Mutter. Der Witwer übersiedelte daher mit den vier Halbwaisen in das Haus seiner Schwiegermutter, die dieses
mit zwei Töchtern bewohnte. 1896 heiratete der Vater Anna Weller, die ältere Schwester
seiner verstorbenen Frau, die sich nach seinem Tod im darauffolgenden Jahr liebevoll
um ihre vier Stiefkinder kümmerte.
Die Erziehung der Kinder lag somit ab 1897 in den Händen der Stiefmutter, der
Großmutter und einer Tante, wobei auch hier das Leben von äußerster Sparsamkeit geprägt war. Erich Mayrs Aufzeichnungen zufolge waren Spielkameraden im Haus nicht
geduldet, weshalb die vier Geschwister stets mit sich selbst beschäftigt waren.33 Die
33 Erich Mayr, Familienchronik, [Innsbruck 1926–1938], [S. 6], Original im Nachlass Erich Mayr.
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Isabelle Brandauer
Sommermonate verbrachten die Kinder meist auf Sommerfrische im Ridnaun, dem Pustertal und dem Villnösstal.
Die schulische und berufliche Laufbahn verlief bei den Brüdern recht unterschiedlich: Erich Mayr besuchte von 1896 bis 1901 die Volksschule in Brixen und wechselte danach in das fürstbischöfliche Privatgymnasium am Seminarium Vinzentinum in
Brixen. Im Anschluss an die zweite Klasse sollte Erich im Jahre 1903 eine Wiederholungsprüfung antreten, wechselte stattdessen jedoch in das k.k. Gymnasium in Brixen,
wo er die zweite Klasse wiederholte und auch die dritte Klasse abschloss. Aufgrund
seiner schlechten Noten versagte ihm der Vormund34 einen weiteren Besuch des Gymnasiums, ebenso den Besuch einer Forstschule oder die künstlerische Ausbildung, die
Erich gerne genossen hätte. Stattdessen musste er eine vierjährige Ausbildung in der
k.k. Lehrerbildungsanstalt in Bozen absolvieren, wo er 1905 als Internatsstudent bei
den Benediktinern eintrat und im Juni 1909 seine Reifeprüfung ablegte. Der Lehrplan
umfasste Religion, Pädagogik mit praktischen Übungen, Deutsch, Geografie, Geschichte und Verfassungslehre, Arithmetik und geometrische Formenlehre, Naturgeschichte, Naturlehre, Landwirtschaftslehre, Schönschreiben, Freihandzeichnen sowie Musik
und Turnen. Italienisch konnte zusätzlich als Freigegenstand belegt werden.35 Seinem
Reifeprüfungszeugnis zufolge war Erich Mayr ein durchschnittlicher Schüler, dem ein
„lobenswerter“ Erfolg lediglich in den Fächern Religion, Schönschreiben und Freihandzeichnen bescheinigt wurde.36 Nach seinem Schulabschluss war Erich als k.k. Rechnungspraktikant bei der Finanz-Landes-Direktion in Innsbruck tätig, besuchte parallel
dazu Vorlesungen über Staatsrechnungswissenschaft an der Universität und arbeitete
schließlich bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1955 bei der Finanz-Landes-Direktion
in der Tiroler Landeshauptstadt.
Auch Rudolf Mayr absolvierte die Volksschule in Brixen, bevor er in das k.k. Gymnasium wechselte. Im Gegensatz zu seinem Bruder sind von Rudolf Mayr bis auf das
Kriegstagebuch keine weiteren schriftlichen Hinterlassenschaften oder Dokumente erhalten geblieben.37 Im Schuljahr 1907 scheint Rudolf Mayr erstmals als Schüler des
k.k. Gymnasiums in Brixen auf.38 Er erhielt dort bis zur dritten Klasse Unterricht in
Geografie, Geschichte, Latein, Deutsch, Religion, Naturgeschichte, Mathematik, in den
folgenden Klassen auch in Griechisch, Naturlehre, Physik und Chemie. Als Freifächer
konnten zusätzlich Gesang, Kalligrafie, Stenografie oder Turnen belegt werden. Allerdings ist nicht bekannt, ob Rudolf Mayr eines der Freifächer belegt hatte. Die Schüler
des k.k. Gymnasiums konnten sich in ihrer Freizeit außerdem dem Eislauf, Turnen und
Jugendspielen wie Fußball widmen beziehungsweise die städtische Schwimmschule be-
34 Es war dies sein Onkel Maximilian Mayr.
35 Vgl. den Lehrplan des Jahres 1892, in: Zwölfter Bericht der k.k. Lehrerbildungs-Anstalt in Bozen,
veröffentlicht am Schlusse des Schuljahres 1892. Jg. 12, 1892. Bozen 1892, S. 20–31.
36 Vgl. Zeugnis der Reife für Volksschulen der k.k. Lehrerbildungsanstalt in Bozen vom 23. Juni 1909,
Original im Nachlass Erich Mayr.
37 Den Angaben der Nachkommen Erich Mayrs zufolge waren sämtliche Hinterlassenschaften von Rudolf Mayr von seiner Witwe verbrannt worden.
38 Vgl. dazu das beigelegte Schülerverzeichnis im LVII. Programm des k.k. Gymnasiums in Brixen,
ausgegeben am Ende des Schuljahres 1907. Brixen [1907].
Die Kriegstagebücher der Brüder Erich und Rudolf Mayr
nützen.39 Nachdem Rudolf die zweite Klasse mit Vorzug abgeschlossen hatte40, musste
er die dritte Klasse offensichtlich wiederholen, da er sowohl 1909 als auch 1910 als
Schüler der dritten Klasse gelistet ist.41 Im Schuljahr 1913 ist er als Schüler der sechsten
Klasse angeführt, trat jedoch im Laufe des Schuljahres aus dem k.k. Gymnasium aus,
um wie einige seiner Mitschüler in den Kriegsdienst zu treten.42 Über die berufliche
Karriere Rudolf Mayrs ist wenig bekannt: Der Enkeltochter seines Bruders zufolge holte
er seine Matura nach Kriegsende nach und arbeitete bis zu seinem frühen Tod im Jahre
1930 als Bankangestellter in Brixen.
Der Kriegsbeginn 1914 bedeutete für beide Brüder eine Zäsur. Erich Mayr hatte zu
diesem Zeitpunkt bereits eine Ausbildung als Einjährig-Freiwilliger in Bozen hinter sich,
von der er jedoch nach nur acht Wochen im Herbst 1913 als „Überzähliger“ ausgeschieden und zur Ersatzreserve überstellt wurde. Sein Kriegseinsatz begann mit der Präsentierung in Cortina d’ Ampezzo am 2. August 1914. Danach versah er seinen Dienst beim
3. Kaiserschützenregiment bis zur Gefangennahme in der Nähe von Asiago Anfang November 1918. Der Krieg führte ihn 1915 zunächst an den russischen Kriegsschauplatz,
danach, ab Ende August 1915, an die Isonzofront. Von dort wurde er aufgrund einer Verwundung für mehrere Monate in das Reservespital bei Mödling verlegt und trat ab Anfang April 1916 einen Kanzleidienst in Krems an, wo er bis Juni 1918 verblieb. Kurz vor
seiner erneuten Abkommandierung an die Front heiratete er seine langjährige Freundin
Notburga Plank. Nach einer Sturmtruppenausbildung in Levico übernahm Erich Mayr,
der mittlerweile den Rang eines Fähnrichs der Reserve bekleidete, im September das
Kommando über eine Granatwerferabteilung. Am ersten November geriet er in französische Kriegsgefangenschaft, aus der er im Jänner 1920 zurückkehren sollte.
Sein Bruder Rudolf besuchte bei Kriegsbeginn gerade die sechste Klasse des Gymnasiums. Der Schüler meldete sich als Einjährig-Freiwilliger und wurde mit 1. Oktober
1914 assentiert und zum 2. Regiment der Tiroler Kaiserjäger eingereiht.43 Nach einer
mehrwöchigen Ausbildung in Brixen und Umgebung wurde er im Mai 1915, nachdem
er sich bereits zuvor fünfmal freiwillig zu einem Marschbaon gemeldet hatte, an die
russische Front verlegt. Bereits im Juli ging das Regiment von dort mit Ziel Tirol wieder
ab. Allerdings erfolgte die Verlegung zunächst an die Isonzofront in die Nähe von Görz
und erst Anfang Oktober 1915 an die Tiroler Front. Dort war Rudolf Mayr im Subrayon
V eingesetzt und erlebte die Sprengung des Col di Lana im April 1916 aus unmittelbarer
39 Vgl. LIX. Programm des k.k. Gymnasiums in Brixen, ausgegeben am Ende des Schuljahres 1909.
Brixen [1909], S. 199.
40 Vgl. dazu das beigelegte Schülerverzeichnis im LVIII. Programm des k.k. Gymnasiums in Brixen,
ausgegeben am Ende des Schuljahres 1908. Brixen [1908].
41 Offensichtlich zählte er zu jenen sechs Schülern der dritten Klasse, die für das Aufsteigen in die nächste Schulstufe für nicht geeignet befunden worden waren. Vgl. LIX. Programm des k.k. Gymnasiums in
Brixen, ausgegeben am Ende des Schuljahres 1909. Brixen [1909]; sowie das beigelegte Schülerverzeichnis im XL. (!) Programm des k.k. Gymnasiums in Brixen, ausgegeben am Ende des Schuljahres
1910. Brixen [1910].
42 Vgl. dazu das beigelegte Schülerverzeichnis im LXIII. Programm des k.k. Gymnasiums in Brixen,
ausgegeben am Ende des Schuljahres 1913. Brixen [1913]. Rudolf Mayrs Name ist in Klammern
angeführt, was darauf hinweist, dass er die Schule im Laufe des Jahres verlassen hatte.
43 Vgl. Tiroler Landesarchiv, Hauptgrundbuchblatt von Rudolf Mayer (!).
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Isabelle Brandauer
Nähe. Durch das Fehlen weiterer Aufzeichnungen ab 12. September 1916 ist über den
weiteren Kriegseinsatz Rudolf Mayrs nichts bekannt.44 Fest steht jedoch, dass er nach
seiner Ernennung zum Leutnant Mitte des Jahres 1916 als Offizier in den Berufsstand
bei der Armee übertrat.45 Rudolf erreichte während seines aktiven Kriegsdienstes den
Rang eines Oberleutnants und erhielt neben der silbernen Tapferkeitsmedaille II. Klasse
auch die bronzene Tapferkeitsmedaille, das Karl-Truppen-Kreuz und die Verwundetenmedaille für eine Verwundung verliehen. Er geriet am 3. November 1918 in italienische
Kriegsgefangenschaft, aus der er Anfang September 1919 zurückkehren sollte. Knapp
einen Monat später wurde er aufgrund des Beschlusses der internationalen Liquidierungskommission in den Ruhestand versetzt.
Methode und Fragestellungen
Für die Untersuchung der Tagebücher der Brüder Mayr bot sich als methodischer Zugang die Inhaltsanalyse46 an, wobei es dabei nicht um eine verstehende Analyse gehen
kann, denn: „Eine derartige verstehende Analyse des Weltkriegs in seiner Totalität wäre
ein sinnloses Unterfangen, wie schon für die Kriegsteilnehmer selbst der Gesamtzusammenhang des Krieges ‚erstehend‘ nicht erfassbar war.“47 Vielmehr geht es bei der
Inhaltsanalyse um eine Datenreduktion, das heißt die Zusammenfassung und Kategorisierung von Textbestandteilen, „mit deren Hilfe im Zusammenhang Bedeutungen und
Bedeutungskontexte aufdeckbar sind“.48 Die Kategorien, welche im Hinblick auf die
Texteinheit gewählt werden, müssen sodann auf alle zu untersuchenden Textstellen
systematisch und zugleich intersubjektiv angewandt werden, damit eine Wiederholbarkeit und Gültigkeit der Aussagen in Bezug auf die Fragestellung gewährleistet werden
kann.49
Für die folgende Analyse der Kriegstagebücher der Brüder Mayr wurden 15 Kategorien definiert, die sich wie folgt zusammensetzen:50
44 Vgl. Rudolf Mayr, Mein Kriegstagebuch ab 1. Oktober 1914, unveröff. Typoskript.
45 Vgl. dazu und im Folgenden Tiroler Landesarchiv, Hauptgrundbuchblatt von Rudolf Mayer (!).
46 Zur Methode der Inhaltsanalyse bei der Auswertung von Feldpostbriefen vgl. Martin Humburg,
Feldpostbriefe aus dem Zweiten Weltkrieg. Werkstattbericht zu einer Inhaltsanalyse, http://hsozkult.
geschichte.hu-berlin.de/beitrag/essays/feld.htm, 27.08.2012, 13.15 Uhr, Windows Internet Explorer.
Über die Probleme bei der Untersuchung von Feldpostbriefen vgl. Latzel, Vom Kriegserlebnis zur
Kriegserfahrung, S. 1–10.
47 Heiner Treinen, Zur Inhaltsanalyse symbolischer Materialien, in: Klaus Vondung (Hg.), Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen.
Göttingen 1980, S. 162–172, hier: S. 162f.
48 Ebd., S. 165.
49 Vgl. ebd., S. 167.
50 Die Bestimmung der Kategorien erfolgte in Anlehnung an Bernhard Mertelseder – Sigrid Wisthaler,
Soldat und Offizier in ihren Erinnerungen. Methodische Überlegungen zu österreichischen Kriegstagebüchern, in: Brigitte Mazohl-Wallnig – Hermann J. W. Kuprian – Gunda Barth-Scalmani (Hg.),
Ein Krieg – zwei Schützengräben. Österreich – Italien und der Erste Weltkrieg in den Dolomiten
1915–1918. Bozen 2005, S. 63–85. Die beiden Autoren haben in ihrer Studie die Tagebücher eines
Offiziers und eines einfachen Mannschaftssoldaten erfolgreich miteinander in Vergleich gebracht.
Die Kriegstagebücher der Brüder Erich und Rudolf Mayr
1.Witterung: meteorologische Beobachtungen
2.Dienstliches: Angaben zu Dienst, Patrouillen, Exerzieren, Übungen, Visiten, Inspizierungen, Stellungsbau, Nachschub, Beförderung, Dekorierung, Geld, Bestrafung,
Retablierung, Dienstkurs, Transport/Marsch, Reserve, Ablösung, Behandlung/Schikanen, Dienstreisen, Befehle, Besprechungen, Lageraufenthalte, Kommunikation,
tägliche Vorkommnisse
3. Allgemeine Kampftätigkeit: allgemeine Beschreibung der Lage ohne konkrete Eigen- beziehungsweise Fremdwahrnehmung
4.Feindwahrnehmung: Beobachtungen zu Kriegserklärungen, Taktik, Stärke, Ausrüstung, Truppenbewegungen, Beutematerial und Kriegsgefangenen der feindlichen
Truppen und ihrer Verbündeten
5.Eigenwahrnehmung: Beobachtungen zu Kriegserklärungen, Taktik, Stärke, Ausrüstung, Truppenbewegungen, Beutematerial und Kriegsgefangenen der eigenen
Truppen und ihrer Verbündeten
6. Verpflegung/Freizeit/Besondere Ereignisse: Angaben zur Verpflegung (Truppenverpflegung, Alkohol, Gasthausbesuche, Lebensmittelsendungen), Freizeitgestaltung (Spaziergänge, Ausflüge, Spiele, Feierlichkeiten, Musik, Lesen, Dichten,
Zeichnen, Schlafen etc.) und zu besonderen Ereignissen (Geschenke, persönliche
Ankäufe, Geburtstage, Namenstage)
7.Kleidung/Hygiene/Unterkunft: Angaben zu Monturen, Waschgewohnheiten, hygienischen Zuständen, Unterkünften und deren Ausstattung
8.Krankheit/Verwundung/Tod: Aussagen über eigene Erkrankungen, Verwundungen, Verletzungen, Strapazen, körperliches Befinden, Nerven, Impfungen, Aufenthalt am Hilfsplatz/im Reservespital/Sanatorium, Angaben zu Verlusten (Verwundete
und Gefallene der eigenen und feindlichen Truppen), Sanität, Selbstmord von Kollegen, Bestattung/Gräber
9.Familie/Freunde: Aussagen über Familienangehörige/Bekannte und deren Befinden, Kindheit/Rückblicke/Erinnerungen, Nachrichten von Familien/Freunden (Briefe, Karten, Pakete, Geldsendungen), Liebesgaben, (Frauen-)Bekanntschaften, Zivilleben
10.Truppe/Zivilbevölkerung/Hinterland: Aussagen über Vorgesetzte/Kollegen/kaiserliche Familie, Begegnung mit der Zivilbevölkerung, Bemerkungen über das Hinterland
11.Religion: Feldmessen/Gottesdienste, Feldkuraten/Pfarrer, Beichte, religiöse Vorträge, persönliches Gebet/Zwiesprache mit Gott
12.Landschaft/Urlaub: Aussagen zu Umgebung/Ortschaften/Bauwerken/Natur im
Zusammenhang mit Transport, Bahnfahrten, Spaziergängen, militärischen Übungen, Bemerkungen zum Fronturlaub
13.Wahrnehmung/Gefühle: Gefühle, Gedanken, Mentalität, Einschätzung, Verarbeitung von Erlebnissen
14.Zukunft: Aussagen über die Zukunft (Sehnsucht, Sorgen, Wünsche, Erwartung,
Hoffnung, Träume)
15.Tagebuch: Aussagen über das Tagebuch, Schreibpraxis, Motivation
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Isabelle Brandauer
Grundsätzlich wurde nach den jeweiligen Unterkategorien kodiert. Ein Inhalt wurde, unabhängig von der Ausführlichkeit, Intensität der Beschreibung oder der Häufigkeit
seiner Nennung, pro Tagebucheintrag nur einmal gezählt. Mehrfach gezählt wurde derselbe Inhaltspunkt dann, wenn von den Diaristen unterschiedliche Facetten des Inhalts
angesprochen wurden. Die Inhaltsspielräume der Analyse wurden bewusst breit genug
angelegt, um keine Informationen zu verlieren, jedoch wiederum eng genug gefasst,
dass aussagekräftige Ergebnisse erzielt werden konnten.51
Zuerst werden jedoch die formalen und sprachlichen Unterschiede der Tagebücher
beleuchtet sowie die Schreibmotivation und die Funktion der Tagebücher für ihre Verfasser betrachtet. Die Auswertung der inhaltlichen Aspekte anhand der im Vorfeld definierten Kategorien vermittelt sodann Aufschluss über die Charaktere der Brüder und ihre
Erfahrungen während des Krieges. Die Analyse ermöglicht dadurch auch einen Blick
auf die Authentizität und Aussagekraft der Tagebücher für eine Erfahrungsgeschichte
des Ersten Weltkrieges und ihre Verwertbarkeit als historische Quelle.
Die Tagebücher der Brüder Mayr: formale und sprachliche Aspekte
Der Nachlass von Erich Mayr beinhaltet unter anderem vier Kriegstagebücher, die den
Zeitraum vom 23. September 1913 bis 7. Jänner 1920, das heißt von der achtwöchigen, militärischen Ausbildung als Einjährig-Freiwilliger in Bozen bis zur Rückkehr
aus französischer Kriegsgefangenschaft, umfassen.52 Das letzte Tagebuch beendet die
Aufzeichnungen dieser wechselvollen Jahre mit dem bezeichnenden Satz: „Glücklich
daheim!“53 Die Aufzeichnungen wurden in vier kleinformatigen, unlinierten Notizbüchern niedergeschrieben, die allesamt unpaginiert blieben. Die praktikable Größe der Bücher ermöglichte ein leichtes Aufbewahren in der Rock- beziehungsweise
Feldblusentasche der Uniform. Drei der Tagebücher (Tagebuch 1, 2 und 4) wurden in
Gabelsberger-Kurzschrift54, das dritte Tagebuch in Kurrentschrift verfasst, wobei der
Grund für einen Wechsel des Schriftsystems nicht eindeutig erklärbar ist. Auch innerhalb der Tagebücher verwendete Erich Mayr teilweise unterschiedliche Schriftsysteme (Gabelsberger-Kurzschrift, Kurrent- und Lateinschrift). Bedeutende Passagen,
Eigennamen, Adressangaben und wichtige Schlagworte gab er vorzugsweise in La-
51 Diese Art der Umsetzung der Inhaltsanalyse orientiert sich an Humburg, Feldpostbriefe.
52 Die vier Tagebücher werden Ende 2013 als zweiter Band der Schriftenreihe „Erfahren – Erinnern –
Bewahren“ des Zentrums für Erinnerungskultur und Geschichtsforschung (ZEG) an der Universität
Innsbruck im Universitätsverlag Wagner erscheinen.
53 Erich Mayr, Tagebuch 4, Eintrag vom 7. Jänner 1920, unveröff. Manuskript, Original im Nachlass
Erich Mayr.
54 Bei der Gabelsberger-Kurzschrift handelt es sich um ein frühes Kurzschriftsystem, welches bis in die
1920er Jahre in Gebrauch war und danach von der Deutschen Einheitskurzschrift abgelöst wurde. Das
System Gabelsberger gibt die Worte meist phonetisch und nicht wie bei anderen Kurzschriftsystemen
Buchstabe für Buchstabe wieder, weshalb kaum Rückschlüsse auf die Schreibweise möglich sind.
Bei Transkriptionen kann daher ohne große Verfälschung des Originals eine gemäßigte Form der
Rechtschreibung verwendet werden. Vgl. Ulrich von Bülow – Silke Becker (Hg.), Das blaue Buch.
Kriegstagebuch und Roman-Notizen. Marbach am Neckar 2006, S. 308.
Die Kriegstagebücher der Brüder Erich und Rudolf Mayr
teinschrift wieder.55 Dadurch, dass sich diese Textteile deutlich vom Rest der täglichen
Eintragungen abheben, versah er seine Notizen mit einer Art Suchhilfe und konnte sie
somit leicht als Erinnerungsstütze und Nachschlagewerk handhaben. Die Eintragungen
erfolgten ausnahmslos mit Bleistift und in sehr regelmäßiger, gut lesbarer Schrift. Korrekturen wurden von Erich Mayr höchst selten vorgenommen. Vereinzelt sind Wörter durch
nachträglich hinzugekommene Flecken unkenntlich geworden.
Erich Mayr gibt seine täglichen Aufzeichnungen, die sich teilweise auch über mehrere Seiten erstrecken, stets in ganzen, grammatikalisch korrekten und teilweise recht
umfangreichen Sätzen wieder und zitiert oftmals auch aus Gedichtbänden oder Büchern.
Dies, der Satzbau und seine bedachte Wortwahl spiegeln seine schulische Ausbildung
wider. In den seltensten Fällen verwendet Erich Mayr dialektale beziehungsweise umgangssprachliche Wörter. Fremdwörter finden sich im Gegensatz dazu wesentlich häufiger, wobei der Diarist im Gebrauch derselben nicht immer sattelfest zu sein scheint. Bei
der Wiedergabe topografischer Namen lehnt er sich meist an die gesprochene Sprache
an, was zur Folge hat, dass er oft mehrere Schreibweisen für ein- und dieselbe Ortsbezeichnung verwendet.
Die Entschlossenheit Erich Mayrs, täglich Tagebuch zu führen, gepaart mit seinem
detaillierten und ausladenden Schreibstil führen letztendlich zu einem Tagebuchumfang, der im Vergleich mit anderen Kriegstagebüchern des Ersten Weltkrieges sicherlich
seinesgleichen sucht.56 Lediglich in den Monaten Juli 1916 und Februar bis Juli 1917
beschreibt er seine Erlebnisse nicht täglich, sondern gibt einen zusammenfassenden
Rückblick, was für ihn jedoch nahezu als Untreue gegenüber seinem Tagebuch empfunden wird: „Habe ich mein Tagebuch vergessen oder ist es die tägliche Einerleiheit
der Arbeit, eine Einerleiheit ohne Abwechslung, die mich abhielt, so lange nichts [sic!]
zu notieren?“57 Angesicht des langen Aufzeichnungszeitraumes von 1913 bis 1920 geht
der Diarist dabei recht hart mit sich zu Gericht. Die Zeit seiner Fronturlaube trägt Erich
Mayr in zusammenfassenden Rückblicken nach.
Leider sind die Tagebuchaufzeichnungen von Rudolf Mayr nicht im Original erhalten geblieben. Jedoch ist es dem Patensohn von Rudolf Mayr zu verdanken, dass
eine maschingeschriebene, paginierte Abschrift eines Kriegstagebuches existiert, bei der
handschriftliche Korrekturen und Hervorhebungen vorgenommen wurden.58 Die Transkription enthält einige wenige Leerstellen, bei denen der Übertrager ein Wort offensichtlich nicht entziffern konnte, sowie vermehrte Rechtschreibfehler, die vermutlich
ebenfalls zulasten des Abschreibers gehen (z.B. Eigennamen der Kommandanten).
55 In den folgenden Zitaten werden diese Wörter und Passagen kursiv wiedergegeben.
56 Transkribiert ergeben die vier Tagebücher einen Gesamtumfang von etwas über 600 Seiten (Times
New Roman, Schriftgröße 12, Zeilenabstand 1,5).
57 Erich Mayr, Tagebuch 2, Eintrag vom August 1916, unveröff. Manuskript.
58 Auf der ersten Seite des Typoskripts ist der Name Rudolf Mayr handschriftlich mit dem Zusatz „Mein
Taufpate = Bruder meiner Mutter. Ernstl 2.6.81“ versehen. Vgl. Rudolf Mayr, Mein Kriegstagebuch.
Zwar ist die erste Seite des Tagebuches mit einem Vermerk des Patensohnes und einer Datierung versehen, jedoch steht dadurch nicht eindeutig fest, wer die Übertragung vorgenommen hat. Anzunehmen
ist jedoch, dass diese dem Patensohn selbst zuzuschreiben ist.
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Isabelle Brandauer
Die Aufzeichnungen umfassen den Zeitraum vom 1. Oktober 1914 bis 12. September 1916, wobei die ersten Monate in einer retrospektiven Einleitung zusammengefasst
sind und die täglichen Eintragungen Rudolf Mayrs erst mit 12. Mai 1915 beginnen. Dies
begründet der Diarist folgendermaßen: „[…] täglich und stündlich erwarteten wir den
Abmarschbefehl, aber immer vergeblich bis er mich eines Morgens vollständig überraschte. Es war der 12. Mai und von nun an lasse ich mein in feldmäßiger Kürze gehaltenes Tagebuch weiter erzählen.“59
Tatsächlich fallen die täglichen Notizen im Vergleich zu jenen des Bruders erheblich kürzer aus und beschränken sich nicht selten auf ein bis zwei Zeilen, wobei die
Eintragungen der ersten Monate an der Ostfront bis zirka Ende Juli 1915 im Verhältnis
etwas länger ausfallen. Umfangreicher werden die Aufzeichnungen Rudolf Mayrs erst
wieder mit der Sprengung des Col di Lana Mitte April 1916, die er durch seinen Einsatz
im Grenzunterabschnitt 9a/160 hautnah mitverfolgte. Ab Mitte Mai 1916 kehrt er jedoch
wieder zur gewohnten Kürze zurück.
Die Eintragungen selbst wechseln zwischen stichwortartigen Formulierungen und
ganzen Sätzen, wobei auch hier der sprachliche Ausdruck, auch wenn er manchmal etwas salopper in der Wortwahl ist als sein Bruder Erich, auf die gute Schulbildung des
Schreibers schließen lässt und kaum dialektale Wörter verwendet werden. Gemäß seiner
am Anfang des Tagebuches angekündigten militärischen Kürze der Aufzeichnungen tendiert Rudolf Mayr wesentlich stärker als sein Bruder dazu, Wörter abzukürzen. Fremdwörter verwendet er sparsam und bei der Schreibweise von topografischen Namen ist
eine gewisse Unsicherheit zu erkennen, die jedoch auch auf Unkenntnis bei der Transkription zurückzuführen sein könnte.
Im Umfang präsentieren sich die Aufzeichnungen Rudolf Mayrs kürzer als jene seines Bruders.61 Außerdem pausiert er mit seinen täglichen Notizen während der Zeit seines Urlaubes (z.B. 5. Dezember 1915 – 3. Jänner 1916) und trägt diese im Unterschied
zu seinem Bruder auch nicht zusammenfassend nach.
Als Vergleichszeitraum der Kriegstagebücher der Brüder Mayr wurde der 24. August 1915 bis 12. September 1916 gewählt.62 Es ist dies der Zeitraum, in dem sich die
Brüder an der Südwestfront beziehungsweise im heimatlichen Hinterland aufhielten.
Beide Brüder wurden im August, Rudolf am Anfang, Erich am Ende des Monats, an die
Südwestfront verlegt. Dadurch, dass die Aufzeichnungen Rudolf Mayrs mit 12. September 1916 enden, ist auch mit diesem Tag das Ende des Vergleichszeitraumes bestimmt.
59 Rudolf Mayr, Mein Kriegstagebuch, S. 2.
60 Vgl. dazu Isabelle Brandauer, Menschenmaterial Soldat. Alltagsleben an der Dolomitenfront im Ersten Weltkrieg 1915–1917. Nearchos. Archäologisch-militärhistorische Forschungen. Bd. 1. Innsbruck
2007, S. 29.
61 Das Tagebuch umfasst vom 1. Oktober 1914 bis 12. September 1916 58 maschingeschriebene DIN
A4-Seiten.
62 Zwei kleinere Zäsuren, nämlich die Zeit von Rudolf Mayrs Fronturlauben, in der er keine Aufzeichnungen geführt bzw. nachgetragen hat, wurden ebenfalls berücksichtigt. Es waren dies die Tage vom
15.12.1915 bis 3.1.1916 und 2.8.1916 bis 9.8.1916. Sofern für notwendig erachtet, werden auch Tagebuchnotizen Erich Mayrs außerhalb des benannten Untersuchungszeitraumes zitiert werden.
Die Kriegstagebücher der Brüder Erich und Rudolf Mayr
Schreibmotivation und Funktion der Tagebücher für die Diaristen
Erich Mayr unterhält eine intime Beziehung zu seinem Tagebuch, was in seinen Aufzeichnungen mehrfach zum Ausdruck kommt. Das Tagebuch ist für ihn ein Freund und
der engste Vertraute, dem er seine tiefsten Empfindungen und Sorgen mitteilen kann:
„Denken kann ich mir dabei [über die eigene Beförderung], was ich will, und auch
dem Tagebuch kann ich ohne Hehl meine Meinung anvertrauen. ‚Stumpfsinn, Stumpfsinn, das ganze jetzige Leben, Stumpfsinn, Stumpfsinn samt allem, was drum und dran
liegt!“63
Während sich Erich Mayr scheut, seiner Stiefmutter oder seiner Freundin von den
Schikanen durch die Kollegen und den dramatischen Ereignissen während des Krieges zu berichten und sich einer „gewissen Unaufrichtigkeit“64 der Familie gegenüber
durchaus bewusst ist, kann er dem Tagebuch sein Leid anvertrauen. Die besondere
Bindung zu seinem Tagebuch bestärkt Erich Mayr in der Konsequenz seiner täglichen
Eintragungen. So schreibt er seine Notizen sogar während eines feindlichen Angriffes
nieder.
Die Tagebücher sind für Erich Mayr nicht nur Erinnerungsstütze, wenn man die
besondere formale Gestaltung durch die Verwendung der verschiedenen Schriftsysteme bedenkt, sondern vorranging eine Art Ventil, das ihm ermöglicht, seine Ängste
und Nöte aufrichtig zu schildern und zu reflektieren. Die unverblümte Aufrichtigkeit
seiner Aufzeichnungen zwingt ihn später in der Kriegsgefangenschaft sogar dazu, einen Teil der Bücher zu vernichten beziehungsweise diese in einem Kohlehaufen zu
vergraben.65
Für Rudolf Mayr, so scheint es, erfüllt das Tagebuch rein dokumentarische Zwecke.
Er ist sich der umwälzenden Ereignisse des Krieges und deren Einfluss auf das eigene
Leben durchaus bewusst und beginnt mit dem Abfassen des Tagebuches wohl aus der
Überzeugung, sich in einer besonderen Ausnahmesituation zu befinden.66 Das Tagebuch
dient ihm in erster Linie zum Festhalten der täglichen Ereignisse, allen voran jenen, die
den unmittelbaren Dienst in der Armee betreffen, und nicht, wie etwa bei seinem Bruder
Erich, als Ventil für Emotionen oder die Verarbeitung von Erlebnissen. Dazu passt auch
der Umstand, dass er auf das Tagebuch selbst beziehungsweise das Tagebuchschreiben
in seinen Notizen nie Bezug nimmt.
63 Erich Mayr, Tagebuch 2, Eintrag vom 29. Juni 1916.
64 Erich Mayr, Tagebuch 3, Eintrag vom 26. August 1918.
65 Dass diese Vorgehensweise für Tagebücher mit intimen Bekenntnissen oder geheimen Mitteilungen
und Urteilen nicht ungewöhnlich ist, führt auch Gustav Hocke an, der das oft abenteuerliche Verstecken der gefährlichen Hefte ausführlich dokumentiert. Vgl. Hocke, Europäische Tagebücher aus vier
Jahrhunderten, S. 162.
66 Damit erfüllt Rudolf Mayr eine von drei von Fritz Fellner konstatierten Voraussetzungen zum Abfassen von privaten Tagebüchern. Vgl. Fellner, Der Krieg in Tagebüchern und Briefen, S. 206.
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Isabelle Brandauer
Inhaltliche Aspekte
Die Auswertung der Tagebucheinträge nach den vorhergehend definierten Kategorien
wurde in Abb. 2 grafisch dargestellt. Die Höhe der Säulen gibt dabei die Anzahl der
Erwähnungen der Inhalte der Unterkategorien im Vergleich wieder.
Die Grafik zeigt Ähnlichkeiten, aber auch deutliche Unterschiede in der Gewichtung der Themen. Diese ist vor allem an die Lebensumstände gebunden, in denen sich
die Diaristen zum Zeitpunkt ihrer Aufzeichnungen befanden. Rudolf Mayr hat sich, abgesehen von einem einmonatigen Aufenthalt im Lazarett, im Untersuchungszeitraum
ausschließlich im Dienst an der Front befunden. Erich Mayr versah im Gegensatz dazu
im Untersuchungszeitraum nur bis Ende Dezember 1915 seinen Dienst an der Front,
hielt sich danach aufgrund einer Verwundung bis Anfang April 1916 im Reservespital
in Mödling auf und wurde im Anschluss in den Kanzleidienst nach Krems berufen. Er
sollte erst im Juli 1918 wieder an die Front abkommandiert werden.
Die Aufzeichnungen von Erich Mayr zeichnen sich durch einen ungewöhnlichen
Detailreichtum und durch jahrelang konsequente Eintragungen aus. Kennzeichnend
für die Tagebücher ist die Beobachtungsgabe des Autors, denn er beschreibt nicht nur
die militärischen Abläufe, sondern vermittelt auch einen Eindruck seiner unmittelbaren
Umgebung, deren Schönheit er trotz des Krieges mit einem künstlerischen Auge wahrnimmt.
Aus den Aufzeichnungen geht ebenso hervor, dass er seine Gefühle seiner Familie
gegenüber in der gegenseitigen Korrespondenz aus Angst, dass sich seine Angehörigen
zu sehr um ihn sorgen würden, vorenthält.67 Generell nimmt die Sorge um die Familie
und die Anteilnahme an deren Schicksal einen großen Raum in seinen Aufzeichnungen
ein. Regelmäßig berichtet Erich Mayr über den Erhalt von Postsendungen aus der Heimat und notiert gleichermaßen jedes Mal, wenn er selbst ein Schreiben in die Heimat
verfasst. Ein Ausbleiben von Nachrichten der Angehörigen stürzt ihn sofort in große
Sorge.
Ebenso regelmäßig berichtet Erich Mayr, vor allem während seines Spitalsaufenthaltes oder seines Kanzleidienstes, über Spaziergänge in freier Natur oder bedauert
ein Ausbleiben derselben. Sich selbst als „Waldbuam“68 bezeichnend, stellen für ihn
kleine Ausflüge nicht nur eine willkommene Abwechslung vom tristen Dienst, sondern vielmehr noch ein Lebenselixier dar.69 Es geht dieses Empfinden teilweise sogar
so weit, dass er alles um sich herum, selbst den Krieg, auf der Suche nach neuen Naturgenüssen zu vergessen scheint. „[…] ich habe heute wieder die Ehre, den Dienst
für sie [die Kollegen, Anm. d. Verf.] zu machen. Dasselbe blüht mir wohl auch morgen, sosehr ich mich auf einen Waldgang gefreut habe. Ich komme immer mehr zur
67 „[…] Die Nachtstunden benützte ich dann, auch an mein fernes, treues Lieb und ans gute Mutterl zu
schreiben. Fast sorge ich mich, die beiden Brieflein abzuändern, denn sie werden viel Kummer und
Sorge in die Bergheimat tragen, da sie doch die Vermutung eines bevorstehenden Abganges ins Feld
in sich schließen.“ Erich Mayr, Tagebuch 3, Eintrag vom 29. Jänner 1918.
68 Erich Mayr, Tagebuch 3, Eintrag vom 4. September 1918.
69 So etwa am 20. August 1916: „Ich fühle, dass mir mein Lebenselement, Gottes frische, freie Natur,
mangelt.“ Erich Mayr, Tagebuch 2.
Die Kriegstagebücher der Brüder Erich und Rudolf Mayr
Abb. 2: Inhaltsanalyse der Kriegstagebücher von Erich und Rudolf Mayr
(Quelle: Eigene Erstellung).
Einsicht, dass eben jetzt nicht die Zeit ist, Freuden zu genießen, und ich will es willig
tragen, weiß ich doch, was den armen Kameraden im Schützengraben an freier Zeit
gegönnt ist. […].“70
Vor allem während des Kanzleidienstes im Hinterland scheint der Krieg, dem er im
Grunde kritisch gegenübersteht, in den Hintergrund zu rücken. Themen wie die Eintönigkeit des täglichen Dienstes, Freizeitbeschäftigungen, Landschaftsbeschreibungen sowie Familie und Freunde dominieren in den täglichen Aufzeichnungen. Generell haben
dienstliche Themen für Erich Mayr keine wesentliche Bedeutung und werden zumeist
nur beiläufig erwähnt. Auch Aussagen über die Witterung, Kleidung, Hygiene, Unter70 Erich Mayr, Tagebuch 2, Eintrag vom 19. August 1916.
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Isabelle Brandauer
kunft und Verwundungen werden von Erich Mayr getätigt, aber es scheint fast so, als
ob er diese nur der Vollständigkeit seiner Aufzeichnungen wegen niederschreibt. Die
Aussagen dienen vielmehr als Anstoß zur Selbstreflexion und zum Mitteilen von Stimmungen, Einstellungen und Sichtweisen. So auch zu Allerseelen im Jahre 1915: „Ein
trauriger Tag, der mich in Gedanken immer bei den Gräbern der fernen Lieben findet.
Wer könnte die Allerseelenstimmung hier heraußen im Feld so recht beschreiben? Man
müsste sie selbst fühlen ohne diese bangen Zweifel und Gedanken, die einem ein stilles
Grab neben vielen anderen, aber in fremder Erde fern den Lieben vor Augen führen.
Gott muss halt wieder über all den Trübsinn hinaus helfen. Der Welsch schießt auch heute wieder wie verrückt.“71 Seinem melancholischen Wesen entsprechend, lässt er seinen
Wahrnehmungen und Gefühlen, aber auch der Sorge um die Zukunft mit seiner Freundin
Notburga in den Aufzeichnungen freien Lauf. Die Person Erich Mayr und ihr Charakter
werden so in all ihren Facetten fassbar.
Aufgrund seiner strengen schulischen Ausbildung durch die Patres im Privatgymnasium Vinzentinum in Brixen nimmt seine stark ausgeprägte Religiosität, aber auch das
stete Zweifeln, das in den Kriegstagebüchern zum Ausdruck kommt, keineswegs Wunder. Er lässt kaum eine Gelegenheit zum Besuch eines Gottesdienstes oder eines stillen
Gebetes verstreichen. „[…] Auch heute donnert fortwährend heftiger Geschützdonner,
das Einzige nebst dem großen Verkehr auf der Straße, was mir bestätigt, dass wir uns im
Krieg befinden. Der liebe Herrgott meint es zu gut mit mir und ich kann ihm nicht genug
danken. Freilich ehrenvoller wäre es im Schützengraben zu kämpfen. Doch hat mich
der liebe Herrgott auf diese Stelle versetzt und ich will da mein Bestes tun. 6 Monate
diente ja auch ich in der Schwarmlinie, wenn auch in den letzten 3 Monaten nur mehr
bei Nacht. Also bleibt mir doch der eine Trost, auch dort etwas wenigstens geleistet zu
haben. Und wer weiß, was die Zukunft bringen wird.“72
Diese wenigen Zeilen, die charakteristisch für den Schreibstil des Diaristen und die
Inhalte der Tagebücher sind, geben mehrerlei Aufschluss: Sie zeugen nicht nur von der
Beobachtungsgabe des Autors und seiner ausgeprägten Frömmigkeit, sondern auch von
den Zweifeln, die in Bezug auf seinen Kriegsdienst ständig an ihm zu nagen scheinen.
Zwar ist Erich Mayr alles Militärische – der raue Umgangston, die Beförderungen73
etc. – zuwider, und dennoch lässt ihn sein Pflichtbewusstsein gegenüber dem Vaterland
an der Zweckmäßigkeit seines Dienstes in der Reserve und später auch im Hinterland
zweifeln. Durch den Kanzleidienst ab April 1916 fühlt sich Erich Mayr wie ein Vogel
im Käfig, und auch intensive Arbeit scheint ihn nicht ausfüllen zu können. Der Dienst
an der Front erscheint ihm trotz der Sorgen, die den Angehörigen dadurch entstehen
würden, nach wie vor als erstrebenswert: „Wenn auch harte Stunden zu bestehen sind,
71 Erich Mayr, Tagebuch 1, Eintrag vom 2. November 1915.
72 Erich Mayr, Tagebuch 1, Eintrag vom 31. August 1915.
73 Seine Beförderung im Juni 1915 kommentiert er folgendermaßen: „[…] Jedenfalls aber habe ich meine heute erfolgte Beförderung als Anerkennung für die geleistete Arbeit und als Zeichen der Zufriedenheit meiner Vorgesetzten aufzufassen. Als solche nehme ich sie mit Freude hin. Im Übrigen aber
wäre mir wohl lieber gewesen, man hätte mich mit dem Stern verschont. […]“ Vgl. Erich Mayr,
Tagebuch 2, Eintrag vom 29. Juni 1916.
Die Kriegstagebücher der Brüder Erich und Rudolf Mayr
so gibt es im Feld doch immer wieder fröhliche Zeiten und eine herzliche innere Freude,
die ich, seit ich im Hinterland bin, nie mehr gefühlt habe.“74
Abgesehen von seiner tiefen Religiosität finden einige Vorlieben Erich Mayrs, die
schon in seiner Jugend stark ausgeprägt waren, Widerhall in den Tagebüchern. Sein
künstlerisches Talent etwa fand nicht nur Niederschlag in seinen Schulnoten für Schönschreiben und Freihandzeichnen, sondern ebenso in den Tagebüchern. Einerseits präsentiert sich das Schriftbild der Tagebücher absolut gleichmäßig, andererseits nützt Erich
Mayr jede Gelegenheit, um in seiner dienstfreien Zeit Skizzen von Bauwerken oder der
Umgebung anzufertigen. Die Tagebücher, in denen er stets notiert, wenn er eine Skizze
begonnen oder vollendet hat, geben darüber deutlich Aufschluss.
Rudolf Mayr, der schon als Kind für das Militär schwärmte und sich mit Kriegsbeginn freiwillig zum Kriegsdienst meldete, ist im Vergleich zu seinem Bruder ganz
Soldat. Vermutlich hatte der früh verstorbene Vater hier eine Vorbildwirkung.75 Entsprechend seiner Liebe zum Militär konzipiert er seine Tagebuchaufzeichnungen ab dem Tag
seines ersehnten Abmarschbefehls an die Front in der bereits zuvor erwähnten „feldmäßigen Kürze“.
Ein durchwegs militärischer Unterton spiegelt sich auch tatsächlich in den Aufzeichnungen wider. Im Gegensatz zu seinem Bruder Erich behalten dienstliche Themen im
Kriegstagebuch von Rudolf Mayr die Oberhand. Es bleibt, wohl auch aufgrund der im
Vergleich zum Bruder relativ kurzen Eintragungen, kaum Zeit, Emotionen auszudrücken oder Selbstreflexion zu üben. Stattdessen beschreibt er seine täglichen Erlebnisse
zumeist sachlich neutral und kommt dabei mit seinem privaten Kriegstagebuch dem
Charakter eines offiziellen Kriegstagebuches, wie es von den einzelnen Einheiten geführt wurde, teilweise sehr nahe. Lediglich zu Beginn der Aufzeichnungen, vor allem
in seinen täglichen Notizen an der Ostfront, scheint der Diarist Rudolf Mayr als Person
greifbar76, während mit zunehmender Dauer der Eintragungen Aussagen über Gefühle
und Wahrnehmungen noch stärker in den Hintergrund zu rücken scheinen. Darin liegt
auch der größte Unterschied zum Tagebuch seines Bruders Erich.
Aussagen über das Leben nach dem Krieg und die Zukunft lassen sich im Kriegstagebuch von Rudolf Mayr nicht finden. Dies hängt allerdings vermutlich damit zusammen, dass er während des Krieges keine Frau an seiner Seite hatte, mit der er
Zukunftspläne hätte schmieden können. Die meisten Bemerkungen über die Zukunft
werden von Erich Mayr nämlich in Verbindung mit seiner Freundin und späteren Frau
Notburga gemacht.
Auffallend ist auch, dass Rudolf Mayrs Aussagen, vor allem jene über feindliche
Truppen, öfters von einem ironischen Unterton begleitet werden, eine Tatsache, die man
von den Aufzeichnungen Erich Mayrs nicht kennt: „[…] Nacht ruhig. Fortwährend rege
74 Erich Mayr, Tagebuch 2, Eintrag vom 9. September 1916.
75 Darauf verweist der Tagebucheintrag vom 3. August 1915: „[…] Obstl. Tschan äusserst freundlich
nachdem er erfuhr wer ich bin u. erzählte vom lieben Papa.“ Vgl. Rudolf Mayr, Mein Kriegstagebuch,
S. 15.
76 Symptomatisch dafür steht der Kommentar Rudolf Mayrs zur Kriegserklärung Italiens im Mai 1915:
„Sie löste weder Freude noch Trauer aus; man ist ja derlei schon gewohnt, ist es doch bereits die 21.
Kriegserklärung seit August.“ Rudolf Mayr, Mein Kriegstagebuch, Eintrag vom 24. Mai 1915, S. 3.
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Scheinwerfer Abteilungstätigkeit. Wenigstens leuchten uns die Italiener zur Arbeit, die
braven Kerle. […].“77
Auch wenn Rudolf das Ausbleiben von Nachrichten der Angehörigen aus der Heimat als schrecklich empfindet, misst er der Erwähnung der privaten Korrespondenz in
den Tagebüchern bei Weitem nicht so viel Bedeutung bei wie sein Bruder Erich, der den
gegenseitigen Briefwechsel akribisch notiert.
Auf den Schutz Gottes vertraut Rudolf Mayr bedeutend weniger als sein Bruder.
Er besucht Feldmessen nur, wenn seine Präsenz erforderlich ist. Eine Zwiesprache mit
Gott, Stoßgebete oder Redewendungen mit religiösem Inhalt finden sich in seinen Tagebuchnotizen nicht.
Den Aufenthalt abseits der Front empfindet Rudolf Mayr als langweilig, den Aufenthalt im Spital als „Arrest“. Dementsprechend kurz fallen in dieser Zeit auch seine
Eintragungen aus: „Alles eintönig wie gewöhnlich. Nur ein Lichtblick – es kamen 4
Krankenschwestern aufmarschiert.“78 Die Tage des Fronturlaubes zeichnet er im Tagebuch nicht auf. Vielmehr enden seine Eintragungen mit dem Urlaubsantritt und beginnen
wieder mit der Rückkehr zur Einheit. Es geht aus dem Tagebuch auch nicht hervor, zu
welcher Tageszeit Rudolf Mayr seine Aufzeichnungen tätigt. Nur gelegentlich ist feststellbar, dass er die Ereignisse des Vortages am Folgetag nachträgt.
Trotz der allzu offensichtlichen Unterschiede im Charakter der Brüder Mayr und
demzufolge auch der Tagebuchinhalte lassen sich durchaus auch Parallelen in den Aufzeichnungen, vor allem bei der Gewichtung der Themen, erkennen: Mit annähernd gleicher Häufigkeit werden von den Brüdern Aussagen über die Witterung, die allgemeine
Kampftätigkeit, Eigen- beziehungsweise Fremdwahrnehmung, die hygienischen Bedingungen und Unterkünfte, Kollegen und Vorgesetzte sowie Krankheit, Verwundete und
Gefallene in den Kriegstagebüchern getätigt. Bei letztgenannter Unterkategorie ist allerdings auffällig, dass das eigene Sterben von beiden Brüdern kaum bis gar nicht thematisiert wird.79 Selbst schwere Verletzungen beziehungsweise das Sterben von Kollegen
scheinen auch die Brüder Mayr nicht zu einem Nachdenken über die eigene Vergänglichkeit zu bewegen. Zwar wird das Schicksal der anderen bedauert, der eigene Tod ist
dennoch stets in weiter Ferne. Erst gegen Ende des Krieges beginnt Erich Mayr über
den Tod nachzudenken, wobei es ihm trotzdem unmöglich scheint, das Wort „sterben“
in Verbindung mit dem eigenen Dasein im Tagebuch zu verwenden, wie folgendes Beispiel belegt: „[…] Gott schütze und behüte mich und erhalte mich meinem Weibchen,
meinem Glück. Auf der ganzen Autofahrt, besonders in Gefahr werde ich ihrer geden77 Rudolf Mayr, Mein Kriegstagebuch, Eintrag vom 10. September 1916, S. 58.
78 Rudolf Mayr, Mein Kriegstagebuch, Eintrag vom 3. September 1915, S. 18.
79 Grund dafür mag sein, dass Soldaten nur äußerst selten über negative Gefühle, und hier v. a. nicht über
eigene Befindlichkeiten sprechen. Dieses Phänomen, das generell für alle modernen Kriege gilt, ist
darauf zurückzuführen, dass die eigenen Ängste, besonders jene vor dem Sterben und dem Tod, nur
schwer artikuliert werden können. Über den eigenen Tod, dessen Wahrscheinlichkeit bei Angehörigen
der kämpfenden Truppen aufgrund der Konfrontation mit extremer Gewalt stark erhöht ist, wird selten
und ungern gesprochen, da er dennoch furchtbar und irreal erscheint. Vgl. Sönke Neitzel – Harald
Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. 5. Auflage. Frankfurt am Main 2011,
S. 209.
Die Kriegstagebücher der Brüder Erich und Rudolf Mayr
ken und sollte es Gottes Wille sein, dass ich … [sic!] dann tröste er mein Treulieb, bald
werde ich’s dann selbst zu mir holen. […]“80 Rudolf Mayr berichtet ebenso über die
Verwundungen seiner Kollegen und bedauert deren Tod, doch auch bei ihm scheint das
eigene Sterben irreal.
Die Einführung der Sommerzeit wird von beiden Brüdern aufgrund der Novität als
außergewöhnliches Ereignis im Tagebuch vermerkt, weshalb sich hier ein direkter Vergleich der Aufzeichnungen anbietet. Erich Mayr schreibt dazu: „Die Uhr wurde von
gestern auf heute Nacht von 11h auf 12h gestellt. Diese Stunde ist infolgedessen vollständig ausgeblieben. Aus Ersparungsrücksicht wird in allen Betrieben nun 1 Stunde früher
begonnen und damit Licht erspart.81 So weit sind wir mit dem unseligen Krieg schon gekommen. Statt um 5h nach alter Zeitrechnung hatten wir also heute um 4h Tagwache.“82
Bei Rudolf Mayr liest sich der Sachverhalt folgendermaßen: „Heute um 11 Uhr nachts
ist Befehl die Uhren auf 12 Uhr zu stellen zur Einführung der Sommerzeit. Das kommt
wohl auch nur im Kriegsjahr 1916 vor.“83 Während Erich Mayr in gewohnt detaillierter
Manier auch die Gründe für die Einführung der Sommerzeit sowie die unmittelbare Auswirkung auf seinen Dienst erwähnt und diesbezüglich auch nicht umhinkommt, seine
Meinung über den „unseligen“ Krieg kundzutun, beschreibt Rudolf Mayr das Ereignis
in gewohnt knapper, sachlicher Manier und kommentiert es mit leichter Ironie.
Authentizität und Aussagekraft
Als Dokumente, die durch eine zeitliche Nähe zum Geschehen gekennzeichnet sind,
können die Kriegstagebücher der Brüder Mayr, abgesehen von den später erfolgten Abschriften beziehungsweise Übertragungen, als authentische Quellen zur Erfahrungs-,
Mentalitäts- und Alltagsgeschichte des Ersten Weltkrieges gewertet werden.
Die eingangs dargelegten Selektionsmechanismen bei Tagebüchern finden natürlich
auch bei den Kriegstagebüchern der Brüder Mayr statt:
• Verfälschungen der Begebenheiten im Erinnerungsprozess, da die Erlebnisse von
den Diaristen selektiert und reduziert werden, und Verkürzungen durch den Prozess
des Niederschreibens: Dies wird allein schon durch die Tatsache verdeutlicht, dass
die Ereignisse eines gesamten Tages auf einige wenige Zeilen reduziert werden beziehungsweise „das vage Bild der Erinnerung in die genormten Züge der schriftlichen Formulierung eingezwängt werden muss“.84
• Verkürzungen aufgrund Zeitmangels: Vor allem bei Erich Mayr kommt der Zeitmangel aufgrund seines Kanzleidienstes in den Tagebüchern zum Ausdruck, was
80 Erich Mayr, Tagebuch 4, Eintrag vom 26. Oktober 1918.
81 Die Sommerzeit wurde in der Monarchie aus wirtschaftlichen Gründen 1916 eingeführt und wurde
bis 1920 beibehalten. Mit dem Anschluss an das Deutsche Reich galt die Sommerzeit in Österreich
erneut von 1940–48. Die endgültige Einführung der Sommerzeit erfolgte in Abstimmung mit anderen
europäischen Staaten im Jahre 1980, wobei mit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union im
Jahre 1995 eine Anpassung an EU-Richtlinien erfolgte.
82 Erich Mayr, Tagebuch 2, Eintrag vom 1. Mai 1916.
83 Rudolf Mayr, Mein Kriegstagebuch, Eintrag vom 30. April 1916, S. 44.
84 Fellner, Der Krieg in Tagebüchern und Briefen, S. 207.
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dazu führt, dass er seine Einträge entgegen seiner sonstigen Schreibpraxis eher kurz
hält.
• Verkürzungen aufgrund räumlicher Knappheit: Das handliche Format des Textträgers, das heißt der Notizbücher, in denen die Aufzeichnungen getätigt wurden,
nimmt ebenso Einfluss auf den Umfang der täglichen Notizen.
• Einflüsse durch das berufliche Umfeld, die Schulbildung, Gesellschaftsstrukturen,
Interessengebiete oder auch die Art der Darstellung der Ereignisse durch den Schreiber.
Aussagekraft erhalten die Kriegstagebücher auch aufgrund der fehlenden äußeren und
inneren Zensurmaßnahmen. Einerseits unterlagen Tagebücher im Vergleich zu Feldpostbriefen nicht den strikten Zensurmaßnahmen der Armee, da sie ja in der Regel beim
Diaristen selbst verblieben85 und nicht für einen Adressaten im Hinterland bestimmt waren. Meist wurden die Notizbücher auf inoffiziellem Weg von den Verfassern selbst im
Zuge eines Fronturlaubes, durch Kollegen oder wie im Fall von Erich Mayr durch seinen
Offiziersdiener in die Heimat in Sicherheit gebracht.86 Auch die innere Zensur fällt bei
Tagebüchern kaum ins Gewicht.87
Verwertbarkeit als historische Quelle
Selbst wenn die Kriegstagebücher der Brüder Mayr aufgrund verschiedener Einwirkungen und Verfremdungen mit Behutsamkeit als Zugang zur Gefühlswelt sowie den Denkund Verhaltensmustern der beiden Kriegsteilnehmer gesehen werden müssen, stellen
sie dennoch, bei Anwendung gezielter methodischer Analysen, wertvolle Dokumente
zur Rekonstruktion individueller Kriegserfahrungen und des Soldatenalltages und somit
aussagekräftige Quellen zur Mikrogeschichte des Ersten Weltkrieges dar.
Bedenkt man, dass Ereignisse, die von der Nachwelt als historisch bewertet werden,
zum Zeitpunkt der Aufzeichnung als Teil des Alltags wahrgenommen wurden88, wird die
Bedeutung der Kriegstagebücher als historische Quelle erfassbar. Die Kriegstagebücher
„präsentieren gewesenes Präsens“ in Form einer Momentaufnahme und ermöglichen
dem Historiker mehr als alle anderen Schriftquellen einen zeitnahen, wenn auch subjektiven Blick auf vergangene Ereignisse. Ebenso werfen private Kriegstagebücher, um es
85 Erich Mayr musste seine Skizzen- und Tagebücher nur zu Beginn seines Spitalsaufenthaltes im Reservespital in Mödling abgeben, erhielt diese jedoch nach zwei Tagen wieder retour. Vgl. Erich Mayr,
Tagebuch 2, Eintrag vom 25. Jänner 1916.
86 Sich der zunehmend prekären Lage im Oktober 1918 bewusst, schickte Erich Mayr all jene Sachen,
die ihm bei einem Abmarsch hinderlich sein würden, zu seiner Frau nach Innsbruck. Vgl. Erich Mayr,
Tagebuch 3, Eintrag vom 12. Oktober 1918.
87 Eine Ausnahme stellt hier allerdings das Tagebuch 4 von Erich Mayr dar, welches die Zeit der Kriegsgefangenschaft dokumentiert. Das Führen von Notiz- oder Tagebüchern war auf das Strengste verboten.
Trotzdem führte Erich Mayr ab 23. Mai 1919 parallel zwei Tagebücher: Eines, das offensichtlich durch
eine innere Zensur die Zeit der Kriegsgefangenschaft wie durch einen „Weichzeichner“ erscheinen lässt.
Dieses ist als Tagebuch 4 trotz strenger Kontrollen erhalten geblieben. Das andere Tagebuch, welches
nur kurze Eintragungen enthielt, wurde von ihm später Ende August 1919 persönlich vernichtet.
88 Vgl. Neitzel – Welzer, Soldaten, S. 27.
Die Kriegstagebücher der Brüder Erich und Rudolf Mayr
zusammenfassend mit den Worten Peter Hüttenbergers wiederzugeben, „ein Licht auf
die Verschmelzung von historischen Vorgängen im Individuum“ und „teilen daher die
Differenz zwischen dem, ‚wie es gewesen war‘, und dem, wie es ein Autor wahrgenommen bzw. nicht wahrgenommen, wie er es gedacht und empfunden hat und in welcher
Deutung er es für sich oder andere überliefern wollte“.89
Eine gezielte methodische Herangehensweise an Kriegstagebücher des Ersten Weltkrieges verhindert, dass diese als rein illustrative Quelle zur Rekonstruktion des Kriegsalltags verwendet werden. Die Unterschiede und Ähnlichkeiten in den persönlichen
Erfahrungen und spezifischen Kriegswahrnehmungen der einzelnen Diaristen können
so, besonders wenn diese, wie im Falle der Brüder Mayr, auf einen ähnlichen biografischen Hintergrund blicken, deutlich herausgearbeitet werden.
89 Hüttenberger, Tagebücher, S. 42f.
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Carso Maledetto. Der Isonzo-Krieg 1915–1917
Lutz Musner
Anlässlich eines Vortrags bei der Royal Geographical Society im Herbst 1917 beschrieb
der italienische Verbindungsoffizier zur Entente Major Filippo De Filippi den Krieg im
slowenisch-triestinischen Karst der Jahre 1915–1917 folgend: „You have often heard or
read of the ,Carso Maledetto,‘ where trenches and shelters have to be hewn out of the
solid rock. It has become a vast cemetery of our men, still more of Austrians: a cemetery
without dead. The rocky ground does not permit the digging of graves, and the dead have
to be transported side by side with the wounded to find a resting-place in the valley at the
foot of the plateau. […] The effect of the enemy’s shells bursting upon this rocky ground
was extremely deadly, on account of the innumerable rocks splinters, which greatly multiplied the effects of the projectiles.“1
Major Filippi meinte mit dem Begriff „Carso Maledetto“ vor allem die Hochebene zwischen der Stadt Görz im Norden, der Stadt Monfalcone im Westen und Rainer
Maria Rilkes adriatischem Sommerdomizil Duino im Süden. In diesem topografischen
Dreieck fand der Großteil der Isonzoschlachten in einem von Muschelkalk dominierten,
teils gebirgigen, vor allem aber von Karstplateaus bestimmten Gelände statt, das nicht
nur den Bau von Unterkünften und Schützengräben äußerst mühselig machte, sondern
auch die Vernichtungskraft des Artilleriefeuers und der Minenexplosionen vervielfachte.
Der Krieg am Isonzo-Fluss (slowenisch Soča), der sich von den slowenischen Hochalpen (Mangart-Jalovec-Massiv) herab durch Täler und Talkessel hindurch bis in die
friulanische Tiefebene erstreckt und südlich von Monfalcone in die Adria mündet, war
keineswegs ein Nebenschauplatz des Weltkriegs. Vielmehr wurde er schon von den Zeitgenossen ob seiner vielen Opfer und der Brutalität des Schlachtengeschehens mit der
„Blutpumpe“ von Verdun gleichgesetzt. Der dort eingesetzte k.u.k. Offizier Wilhelm
Czermak schreibt, dass „das größte aller Totenfelder aber, größer noch und furchtbarer
als das von Verdun“, im „Süden, auf dem schmalen Streifen zwischen dem Alpenrand
und dem Adriatischen Meere“ liege. Dort, „an den Ufern des Isonzo, auf den steilen Hängen und Hochflächen des Karstes, befindet sich der größte Soldatenfriedhof der Welt“,
und die Schlachten dort würden durch „ihre lange Dauer und das ungeheure Ausmaß
1
Filippo de Filippi, The Geography of the Italian Front, in: The Geographical Journal. Vol. LI, No. 2,
1918, S. 65–75, hier: S. 73.
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Lutz Musner
ihrer Menschenopfer zu tragischer Höhe“ emporragen.2 Die Verluste in der Schlacht um
Verdun, die sich vom Februar bis Dezember 1916 hinzog, betrugen bei den Deutschen
337.000 Mann (davon 143.000 Tote) und bei den Franzosen 377.231 Mann (davon
162.440 Tote).3 In den 29 Monaten der zwölf Isonzoschlachten4 zwischen Sommer 1915
und Herbst 1917 starben hingegen rund 500.000 italienische und habsburgische Soldaten5 und fast eine Million Mann beider Seiten wurden verwundet. Der chronologische
Rahmen dieses Beitrags umfasst die elf Isonzoschlachten von Juni 1915 bis September
1917. Die zwölfte Isonzoschlacht im Oktober/November 1917 – das sogenannte „Wunder von Karfeit“ – bleibt in dieser Darstellung weitgehend unberücksichtigt, da diese
vor allem eine Bewegungsschlacht war, in deren Gefolge es dem deutschen Alpenkorps
und den österreichisch-ungarischen Truppen binnen kürzester Zeit gelang, bis an den
Piave-Fluss vorzustoßen. Dagegen repräsentieren die vorangehenden Isonzoschlachten
einen Stellungskrieg mit minimalen Geländegewinnen und verdeutlichen in ihrem Ablauf, ihrer Logik und ihrer Zuspitzung den industrialisierten Krieg unter den besonderen
geografischen und militärtechnischen Rahmenbedingungen der Karstlandschaft.
Betrachtet man den Charakter und den Verlauf dieser Schlachten näher, so fällt auf,
dass „Schlacht“ hier nicht ein klar definiertes Einzelereignis bedeutet, sondern vielmehr
eine Abfolge von auf- und abschwellenden schweren und schwersten Gefechten, Bombardements sowie Frontal- und Gegenangriffen, die in bestimmten Zeitabständen derart
eskalierten, dass man von einer Schlacht im herkömmlichen Sinne sprechen konnte.
Länger andauernde Gefechtspausen gab es jedoch höchst selten, meist nur bedingt durch
Kälte, Schnee und eisigen Wind oder durch die völlige Erschöpfung und Ausblutung
der Kampftruppen. Auch zwischen den „Großereignissen“ ging der wechselseitige Beschuss mit Infanterie- und Artilleriewaffen mit minderer Heftigkeit weiter und forderte
täglich neue Opfer. Diese Spezifik des Isonzokrieges und die ausgedehnte Verweildauer von Truppenteilen beider Seiten bewirkten auch eine andere Erfahrungsgeschichte,
denn die Soldaten erlebten das kontinuierliche Auf- und Abflauen der Gefechte als einen scheinbar nie enden wollenden Krieg, aus dem es kein Entrinnen gab. Aber nicht
nur für die Mannschaften wurde der Zeitfaktor zum großen psychologischen Problem,
auch die Offiziere mussten ihre überbrachten Vorstellungen von Beginn und Ende einer
Schlacht vollständig revidieren und die Planung und die Strategie auf einen Verschleißund Materialkrieg langer Dauer umstellen. In seinen Erinnerungen schreibt dazu der
k. u. k. Oberleutnant Constantin Schneider: „Keine Front verschlang zudem so viel wie
die Karstfront. Hier verlor die Truppe jeden ruhigen Tag mehr Leute, als in Rußland
2
3
4
5
Wilhelm Czermak, Krieg im Stein. Die Menschenmühle am Isonzo. Berlin 1936, S. 9f.
Siehe Hew Strachan, Der Erste Weltkrieg. Eine neue illustrierte Geschichte. München 2003, S. 232.
Zu den Isonzoschlachten siehe: John R. Schindler, Isonzo. The Forgotten Sacrifice of the Great War.
Westport, Connecticut 2001; Mark Thompson, The White War. Life and Death on the Italian Front.
London 2008; Lucio Fabi, Gente di trincea. La grande guerra sul Carso e sull’Isonzo. Milano 1997,
sowie Antonio Sema, La Grande Guerra sul fronte dell’Isonzo. LEGUERRE Storie di uomini, armi,
atti di forza. Bd. 54. Gorizia 2009.
Die genaue Zahl der Toten lässt sich schwer eruieren, da viele Gefallene durch das Dauerbombardement der Artillerie auf dem Schlachtfeld buchstäblich pulverisiert wurden und die Aufzeichnungen
über die Opferzahlen beider Seiten lückenhaft sind.
Carso Maledetto. Der Isonzo-Krieg 1915–1917
Italienische Geländegewinne, Juni 1915 –
September 19176
während großer Schlachten. Hier reichten selbst in kampflosen Zeiten die Marschformationen nicht aus, und die Stände sanken rapid. Kompanien mit nur 40 Mann waren
die Norm.“7
Der eigentliche Kriegsschauplatz war zwischen Görz, Monfalcone und Duino, auf
dem sich der Großteil der Kämpfe ereignete, im Weltkriegsmaßstab gemessen sehr klein.
Obwohl es am mittleren und oberen Isonzo ebenfalls zu Kampfhandlungen, namentlich
auf den Bergen Mrzli Vrh (1360 m), Kuk (611 m) und dem Krn-Massiv (2245 m) kam,
vollzogen sich diese nach der Logik des Gebirgskrieges, der aufgrund von Geologie,
Logistik, Witterung und vor allem der Lawinengefahr zwar schwierig zu führen war,
aber vergleichsweise wenig Tote und Verwundete forderte. Hingegen bot die westliche
Karsthochfläche mit ihrem hügeligen, nur von wenigen v-förmigen Tälern durchzogenen Gelände scheinbar ideale Voraussetzungen für einen Bewegungskrieg. Der Ober6
7
Skizze aus: Anton Wagner, Der Erste Weltkrieg. Ein Blick zurück. Arbeitsgemeinschaft „Truppendienst“, Band 7. Wien 1981.
Constantin Schneider, Die Kriegserinnerungen 1914–1919. Eingeleitet, kommentiert und herausgegeben von Oskar Dohl. Wien 2003, S. 382f.
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kommandierende der italienischen Armee General Graf Luigi Cadorna plante mit massiven Infanterie- und Artillerieangriffen die an der Karstkante gelegene, noch schwach
befestigte habsburgische Verteidigungslinie zu durchbrechen und über das truppenfreie
Hinterland schnell Laibach/Ljubljana sowie Triest einzunehmen – eine Stadt, die geradezu mythischen Stellenwert in der Ideologie der terre irredente („unerlöste Gebiete“)
einnahm und neben Trient/Trento zu den Hauptzielen der von der Habsburger Herrschaft
zu befreienden, teils italienischsprachigen Gebieten zählte. Womit jedoch weder Cadorna noch sein Gegenspieler der Oberkommandierende der 5. k.u.k. Armee Generaloberst
Svetozar Borojević von Bojna rechneten, waren die geologischen Besonderheiten des
Karstgebietes. Der slowenisch-triestinische Karst (italienisch Carso, slowenisch Kras)
zeichnet sich durch einen Untergrund aus Muschelkalk aus, der durch die Kohlensäureverwitterung entsteht. Das durch die Verwitterung porös gewordene Gestein lässt nicht
nur Furchen, Geländesenken und Rinnen entstehen, sondern führt auch zu einer raschen
Versickerung des Wassers, welches sich durch Gänge und Höhlen Abflüsse verschafft.
Durch abfließendes Wasser entstehen auch Geländeeinstürze beziehungsweise kleinere Krater (Dolinen) oder auch größere Senken, sogenannte Poljes. Ausreichend Wasser
findet sich kaum, da es oft an den Rändern einer Polje in einem Schluckloch (Ponor)
verschwindet, um unterirdisch weiterzufließen und an einer anderen Stelle wieder zutage zu treten. Dadurch ist ein Kriegsgeschehen im Muschelkalkterrain von ganz anderen
Faktoren bestimmt als ein Krieg in einer von Gips, Lehm und Humusboden bestimmten,
zumeist flachen Kriegslandschaft, wie dies an der Westfront, aber auch in weiten Teilen
der Nordostfront der Fall war. „Das ist nun seit Wochen das wichtigste Kampfgebiet“,
schreibt der österreichische Geograf Norbert Krebs im Juli 1915. Die „Italiener stehen
unten in der grünen, fruchtbaren und wasserreichen Ebene, zum Teil im Besitz der Quellen, die dem Karst entströmen, die österreichisch-ungarischen Truppen auf den nackten,
wasserlosen Gehängen inmitten der erhitzten Karstfelsen, hinter selbst aufgerichteten
und natürlichen Steindeckungen, welche die Schützengräben ersetzen müssen, aber im
Besitz der Höhen, die ihnen in der Verteidigung trefflich zustatten kommen. Leicht ist
der Kampf in diesem Karstgebiet nicht und am wenigsten jetzt während der Hochsommermonate. Jeder Schritt vorwärts muss erkämpft werden mit Straucheln und Klettern
über Karrenblöcke und Klüfte hinweg, bald gedeckt hinter einem Wacholderbusch, bald
aufgehalten durch Dorngestrüpp, stets bedroht durch den hinter Steinriegeln und in flachen Dolinen geborgenen Gegner.“8
Das Zusammenwirken von Technik, Geologie und Massenmobilisierung hatte im
Karst eine Kriegslandschaft neuer Art entstehen lassen, die Menschen und Steine buchstäblich in eins setzte und Constantin Schneider zu folgender Aussage veranlasste: „Menschen wurden nicht anders behandelt als ‚Steine‘. Steine und Menschen waren einfach zu
dem vermischt, was man ‚die Stellung‘ nannte. Hinter ein paar Steinen lagen Menschen,
bewachten offenbar die Steine, und ließen sich mit diesen und von diesen erschlagen.“9
Der harte Muschelkalk, seine die Artillerieeinschläge multiplizierende Zerstörungskraft
8
9
Norbert Krebs, Das österreichisch-italienische Grenzgebiet, in: Geographische Zeitschrift. Jg. 21, H.
10, 1915, S. 537–566, hier: S. 562.
Schneider, Kriegserinnerungen, S. 375.
Carso Maledetto. Der Isonzo-Krieg 1915–1917
und die schwierige Logistik von Front, Stellungsbau, Truppenbewegungen, Nachschub
und Etappe produzierten einen Typus von Schlachtfeld, der sich gravierend von anderen wie z.B. an der Somme10 unterschied. Nicht nur die Multiplikationswirkung von
Geschossen durch rasiermesserscharfe Gesteinssplitter wurde zum Problem der italienischen und habsburgischen Truppen, sondern auch der chronische Wassermangel, der es
notwendig machte, viele Kilometer an Leitungen zu verlegen, um die k.u.k. Einheiten
auf der Hochebene zu versorgen. Und der scharfkantige Boden ließ nicht nur die Bereifung von Transportfahrzeugen rasch unbrauchbar werden, sondern erschwerte auch
den Bau von manndeckenden Schützengräben und artilleriefesten Unterständen. Während die Westfront einen Krieg der Ebene, der landwirtschaftlich erschlossenen Flächen,
der Erdstellungen und des oft sumpfigen Geländes (z.B. Ypern) darstellte, war die Isonzofront ein Krieg der Felshügel, der Geröllhalden, der Dolinen und der Steingräben.
Der k.u.k. General Anton Pitreich benannte die Differenz folgend: „Befestigungen, die
man im Humusboden während einer Nacht herstellt, bedurften im steinigen Karst vieler
Wochen und Monate unter Zuhilfenahme von allen möglichen Steinbruchwerkzeugen,
Sprengungen und Anwendung elektrischer Bohrmaschinen, die wieder gerne das feindliche Feuer anlockten. Infolgedessen wurde bei diesen Steinarbeiten das Hauptaugenmerk
auf den Anbruch von Felswänden gerichtet, um an solchen schützenden Stellen Nischen
und Löcher zu bohren, die zu Kavernen erweitert wurden. […] Aber selbst nach einem
vollen Jahre fleißiger Arbeit war es nicht möglich, den Truppen zum überwiegenden Teile solchen Schutz zu bieten.“11 Die große Asymmetrie eingesetzter Truppen und Waffen,
die der italienischen Armee fast durchgängig eine zweifache Überlegenheit verschaffte,
und das Dauerbombardement der Artillerie machten den Guerra sul Carso zu einem
Schlachtengang von exemplarischer Unerbittlichkeit. Der italienische Oberkommandierende General Luigi Cadorna wollte nämlich den Durchbruch nach Laibach, Triest und
schließlich Wien um jeden Preis schaffen, währenddessen der Verteidiger General Sevtozar Borojević das Terrain um jeden Preis halten wollte. Während Cadorna seine Truppen in einen verlustreichen Abnützungskrieg hetzte und die österreichisch-ungarischen
Linien durch die schiere Überzahl seiner Regimenter überrollen wollte, setzte Borojević
auf die „emotionale Produktivkraft“12 des Krieges, denn viele slowenische, dalmatinische,
kroatische und Tiroler Soldaten sahen den Kampf am Isonzo als unmittelbare Verteidigung
ihrer Heimat. Die hinter dem Rücken der Akteure sich ausformenden und zuspitzenden
Eskalationslogiken des industrialisierten Schlachtfeldes, der rasche Wechsel von Eroberung und Rückeroberung einzelner Frontabschnitte und die spezifischen Gegebenheiten
von Geologie und Geografie produzierten eine singuläre Kriegslandschaft.
Eine Kriegslandschaft als etwas Vorgegebenes und Feststehendes gibt es allerdings
nicht. Sie ist vielmehr eine durch die Macht der Militärs zugerichtete, gerasterte und ge10 Siehe John Keegan, The Face of Battle. London 1976, S. 207–289.
11 Anton Pitreich, Der österreichisch-ungarische Bundesgenosse im Sperrfeuer. Klagenfurt 1930,
S. 239.
12 Vgl. dazu Bernd Greiner, der diesen Terminus für den Kampf der Vietnamesen gegen die amerikanische Armee geprägt hat: Bernd Greiner, Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam. Hamburg 2007,
S. 46.
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Lutz Musner
formte Landzone, in der die Gefahr mit der Nähe zur Front zunimmt und sich von der Friedenslandschaft, die sich „nach allen Seiten hin ungefähr gleichmäßig ins Unendliche“13
erstreckt, dadurch unterscheidet, dass Distanzen, Geländeformen und Orte vollkommen
durch das Schlachtengeschehen bestimmt werden. Aus Feldern werden so Stellungssysteme, aus Erhebungen Beobachtungsposten oder Maschinengewehrnester und aus
Wäldern getarnte Artilleriestellungen oder Versorgungsdepots. Kavernen und Höhlen
verwandeln sich in Kommandostellen und Feldlazarette und Dolinen werden zu Mannschaftsunterkünften oder zu Massengräbern für die Gefallenen. Die „Natürlichkeit“ einer Landschaft, die als solche immer schon sozial, ökonomisch und kulturell vorgeformt
ist, wird nun durch strategische und militärgeografische Koordinaten gerastert und in
einen Raum materialisierter Gewalt verwandelt, der mittels einer durch weitreichende
Waffen vorgegebenen Gefährdungsskala definiert wird. Die Kriegslandschaft ist so zwar
einerseits „objektiv“ vorgegeben, weil all ihre Dinge die Gestalt von reinen Gefechtsdingen annehmen und so die Psyche und die Körper der Soldaten und der betroffenen
Zivilisten bestimmen. Andererseits hat sie auch eine „subjektive“ Bedeutung, da die
massive Bedrohlichkeit des Kriegsgeschehens zum Anlass persönlicher Projektionen
von Gefahr und Tod, von Leben und Überleben wird. Im Kräftefeld von Todesgefahr,
rigiden Befehlsketten und dynamischen Wandlungen der Kampfzonen sowie im Wechselspiel von brutalen Machthierarchien, Unterwerfung, aber auch immer wieder aufflackernden Subversionen der militärischen Ordnung repräsentiert die Kriegslandschaft
ein räumliches Gebilde besonderer Art. Sie ist zum einen ein Schauplatz des Realen, der
Stellungen und der Scharmützel, der Angriffe und der Gegenangriffe und ein von Granatexplosionen zerkratertes und lärmerfülltes Gelände, das durch eine allgegenwärtige
Todesgefahr charakterisiert ist. Zum anderen ist sie auch ein Ort des Imaginären, der
Angst und Entsetzen evoziert, Fantasien vom Töten und Getötetwerden produziert, vor
allem aber die Furcht provoziert, durch das Schlachtgeschehen zur einer unansehnliche
Masse von Restmensch verstümmelt zu werden, dem das halbe Gesicht weggeschossen
wird oder der sich für den Rest des Lebens auf einem Wägelchen fortbewegen muss,
weil ihm beide Beine weggerissen wurden.
Die Kriegslandschaft wird so zu einer Welt jenseits der Welt, zu einem hermetischen Universum, in dem das Schicksal des Soldaten von übermächtigen Dingen und
Verhältnissen bestimmt wird, die sich dem Zugriff des Einzelnen entziehen. Aber auch
die Vorgeschichte nimmt Einfluss auf spezifische Form und Wirkungsmächtigkeit einer
Kriegslandschaft. Für den Karst gilt Letzteres in besonderer Weise, denn schon als Friedenslandschaft spielte er in der Vorstellungswelt der Literaten der Region eine zentrale
Rolle. So beschrieb ihn beispielsweise der aus Triest stammende Irredentist und Dichter
Scipio Slataper in seinem 1912 erstmals erschienenen Roman „Il mio carso“14 als ein
Sehnsuchtsland, das im Kontrast zur geschäftigen und auf Profit abgestellten Hafenstadt
Triest steht und auf ambivalente Weise die dreifach zerklüftete Seelenlandschaft der
13 Kurt Lewin, Kriegslandschaft, in: Jörg Dünne – Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte
aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2006, S. 130.
14 Scipio Slataper, Mein Karst und andere Schriften. Wien 1988 (nach der Übersetzung von: Il mio carso.
Roma 1982). Carso Maledetto. Der Isonzo-Krieg 1915–1917
Julischen Region verkörpert. Nämlich einerseits von den (auch seinen eigenen familiären) Wurzeln her slawisch zu sein, andererseits die zweite „Natur“ der Italianatà zu
verkörpern, aber letztlich doch der ungeliebten Doppelmonarchie anzugehören. Triest
ist für Slataper eine nicht eingelöste Utopie für ein neues Risorgimento im Gefolge von
Giuseppe Garibaldi und Giuseppe Mazzini. Triest ist aber auch eine der k.u.k. Staatsmacht unterworfene Kolonie, die die Vision der Italianità verunmöglicht. Einerseits ist
die Stadt reizvoll in ihrer modern-urbanen Geschäftigkeit und voll „schönen und guten Waren, die vom Orient, aus Amerika und aus Italien durch unsere Hände zu den
Deutschen und Böhmen weitergereicht werden“.15 Andererseits repräsentiert sie die gequälte Seele der terre irredente, zerrissen zwischen dem alten, dem Untergang geweihten Habsburgerregime und dem Neuen einer anbrechenden Welt, die sich erst in vagen
Konturen am Horizont abzeichnet – jedoch mehr als eine avantgardistische Projektion
der Florentiner Vocianer denn als machbare Realpolitik. Triest, so schließt er im Roman: „Wir lieben dich und preisen dich, weil wir zufrieden sind, vielleicht in deinem
Feuer einmal zu sterben.“16 Scipio Slataper, der als Österreicher geboren wurde und als
Kriegsfreiwilliger aufseiten Italiens in den Krieg zieht, stirbt am 3. Dezember 1915 auf
der Podgora-Anhöhe unweit des Triestiner Karstes, den er gleichermaßen geliebt wie
gefürchtet hat, durch die Hand eines bosniakischen Soldaten, eines Slawen also, in dem
er literarisch den fremden Freund und seine eigene Doppelidentität als Italiener und
als Slowene erkannt hatte. Die Grundmelodie dieses lyrischen Romans ist eine Parabel
über Eros und Thanatos, Liebe und Vergänglichkeit, die der kargen Landschaft gleichsam mineralisch eingeschrieben ist. Der Karst ist zum einen weiblich kodiert – Slataper
träumt von hochgewachsenen Karstmädchen mit biegsamen Hüften, die Vitalität, Blüte
und Fruchtbarkeit verkörpern. Zum anderen ist der Karst ein Signum des MännlichTotgeweihten, denn er „ist ein schrecklicher, zu Stein gewordener Schrei“, ein Boden
„ohne Frieden, ohne Fugen“, wo „Geröll und Tod“ herrschen17. Wer über ihn schreitet,
erschauert wegen der Kalksplitter, die wie Eisenplatten unter den Füßen tönen. Durch
den Maschinenkrieg wurden diese Allegorien radikalisiert und die Erfahrungen von Gewalt, Verwundung und Tod verwandelten sich zu einer Erfahrung der Landschaft selbst.
Der Karst präsentierte sich so in den Worten des k.u.k. Frontoffiziers Kornel Abel als ein
„unermüdlicher, ewig wacher, zäher und unbesiegbarer Feind“, der „allgegenwärtig wie
Gott“ ist.18 Der US-amerikanische Kriegsberichterstatter E. Alexander Powell verglich
den Karst sogar mit der Chihuahua-Wüste im amerikanisch-mexikanischen Grenzgebiet
und dem Death Valley in der Mojave-Wüste: „So powerful is the sun that eggs can be
cooked without fire. Metal objects, such as rifles and equipment, when left exposed,
quickly become too hot to touch. The bodies of the soldiers who fall on the Carso are not
infrequently found to have been baked hard and mummified after lying for a day or two
on the oven-like floor of stone.“19
15
16
17
18
19
Ebd., S. 31.
Ebd., S. 72.
Ebd., S. 58.
Kornel Abel, Karst. Ein Buch vom Isonzo. Salzburg – Leipzig 1934, S. 76.
E. Alexander Powell, Italy at War and the Allies in the West. New York 1917, S. 112f.
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Lutz Musner
Ein typischer kleiner Frontabschnitt im Karst bestand auf österreichisch-ungarischer
Seite aus beschusssicheren Unterständen und Kavernen – sofern dies überhaupt machbar
war –, meist aber nur aus improvisierten Schützengräben, Brustwehren, Beobachtungsständen, Maschinengewehrstellungen und kleinen Sappen, die man nach vorn zu den
Drahtverhauen vorgebaut hatte, um Sturmangriffe vornehmen zu können. „Das Grundelement für die Karstverteidigung konnte nichts anderes bilden als wie das natürliche
Karstloch. Eine Reihe von solchen unregelmäßigen Vertiefungen und seichten Löchern
erhielt als Brustwehr und zur Verbindung untereinander eine aus losen Steinen zusammengetragene Mauer in 60 bis 80 Zentimeter Dicke vorgelagert, die allenfalls noch mit
Sandsäcken gekrönt war und so eine verdeckende Schartenhöhe von durchschnittlich
1,2 Meter erreichte. Das war die Kampflinie.“20 Für den Stellungsbau bediente man sich
aller Dinge, die auf dem Kampffeld vorhanden waren: natürliche Rinnen und Senken,
Geschosskrater, Steine, Schotter in Sandsäcken gefasst, Balken, Kisten, Decken, zerschmettertes Kriegsgerät und nicht zuletzt Leichen, die man einfach in die Brustwehren
einbaute. Stahlplatten, durch deren Sehschlitze man feindliche Stellungen vergleichsweise gefahrlos beobachten konnte, waren in hinreichender Zahl nicht vorhanden, kleine Einlassungen in Stein- und Sandsackbarrieren hingegen der Regelfall. Diese boten
dann italienischen Scharfschützen beste Schussmöglichkeiten, da beide Seiten im Stellungskampf dazu übergegangen waren, solche Lücken durch fest justierte (Maschinen-)
Gewehre ins Visier zu nehmen. Von durchgehenden, manntiefen und mit Stahlbeton
gut befestigten Stellungen sowie in ausreichender Zahl vorhandenen, sicheren Mannschaftsunterkünften, wie dies auf italienischer Seite der Fall war, konnte jedoch bis weit
ins Jahr 1916 hinein keine Rede sein. Immer wieder war die Kampflinie von flachen,
vom Feind einsehbaren Abschnitten durchbrochen. Viele Stellungen boten nur liegenden
Soldaten einigermaßen Schutz und Netzüberspannungen und Schrapnelldächer, die den
Einwurf von Handgranaten verhindern und die Wirkung von Wurfminen mildern sollten,
gab es nur an einzelnen neuralgischen Punkten, wo die gegnerischen Linien nur wenige
Schritte entfernt lagen oder wichtige Kommandostellen untergebracht waren. Zumeist
mussten die Soldaten auch nachts in ihrer Stellung ausharren und hatten dafür nur Nischen unterhalb der Brustwehren als Schlafplätze zur Verfügung. Viele Soldaten waren
aber dazu verurteilt, tags- und nachtsüber ganz im Freien auszuharren. Die Zugangswege zur Front waren selten als geschützte Wege ausgebaut und deshalb leicht einsehbar.
Manche Stellung konnte nur über freies, abschüssiges Gelände erreicht werden, sodass
nachrückende Truppen sehr leicht ins feindliche Feuer geraten konnten. Erschwerend
kam noch hinzu, dass die k.u.k. Truppen erst im Herbst 1916 mit Stahlhelmen deutscher
Konstruktion ausgerüstet wurden und die Zahl der durch Splitter und Steinschlag verursachten Kopfwunden dramatische Ausmaße erreichte.
Unter welchen extremen Stresssituationen sich die Soldaten im Kampfgebiet zwischen dem Wippachtal und den Karststellungen oberhalb Monfalcones standen, lässt sich
den Schilderungen von Generalmajor Schön entnehmen, der im Herbst 1915 die 22. k.u.k.
Schützendivision im Gebiet von Redipuglia und Monte dei sei Busi befehligte. Beim Einrü20 Pitreich, Der österreichisch-ungarische Bundesgenosse, S. 239f.
Carso Maledetto. Der Isonzo-Krieg 1915–1917
cken während der ersten Schlachtphase erlitt diese schon schwere Verluste, da die eigenen
Stellungen zerschossen waren, deren Bezug unter heftigem Granatenbeschuss stattfinden
musste und neue Befestigung unter schwierigsten Bedingungen zu errichten waren. Die
Grazer und Marburger Schützen befanden sich in einer Kampfzone, wo die eigenen Stellungen teilweise nur wenige Schritte von der feindlichen Front entfernt waren. Die Eindrücke
in den Kampfgräben würden, so der Offizier, selbst die stärksten Nerven auf eine harte
Probe stellen, denn nicht nur das mit Steinschlag einhergehende schwere Feuer würde auf
die Soldaten einwirken, sondern auch die in Verwesung begriffenen Leichen ihnen jede
Lust zum Essen vergällen, Verwundete würden in Dolinen elend zugrunde gehen oder dort
Schutz suchende Soldaten von Granaten erschlagen werden. Die Ablösungen würden oft
nur mehr Reste der ursprünglichen Grabenbesatzung vorfinden, die dort „seelisch ganz niedergebrochen“ in den Karstlöchern ausharrten. „Was aus den Menschen in diesem Feuer
werden kann, zeigt die Meldung eines Offiziers vom LstIR. [Landsturm-Infanterieregiment]
31. In die in einer Doline Schutz suchende Halbkompagnie schlug eine schwere Granate ein.
19 Mann blieben auf der Stelle tot, 26 waren verwundet, der Rest lief wie verrückt hin und
her, schrie wie wahnsinnig oder wälzte sich verzweifelt auf dem Boden …“21
Die Besonderheiten der Geologie verbunden mit den großen logistischen und baulichen Problemen des Stellungsbaus sowie die fast durchgängig an Soldaten und Waffen
überlegene 3. Italienische Armee mit ihrem Großaufgebot an schweren und schwersten
Geschützen ließ den Kampf um die Karstkante und um die strategisch wichtigen Hügel
Monte San Michele (275 m), Monte dei sei Busi (118 m) und Monte Cosich (113 m), die
Ortschaft San Martino del Carso sowie das sogenannte „steinerne Meer“ von Doberdò
zu einem unerbittlichen Schlachtgeschehen ausarten. Während die italienischen Angriffstruppen an den Hängen des Karstplateaus durch massives Maschinengewehrfeuer
schwerste Verluste hinnehmen mussten und überproportional viele Berufsoffiziere verloren, sahen sich die Verteidiger einem nicht enden wollenden Geschützfeuer ausgesetzt,
dem sie vorerst außer Steinwällen und Sandsäcken nichts entgegensetzen konnten. Die
Versorgung mit Wasser, Verpflegung und Munition war nur nachts möglich, Verwundete
mussten mitunter tagelang in Geröllmulden und Senken ausharren und der rasche Wechsel von Angriffen und Gegenangriffen führte zu hohen Verlusten der ohnehin zahlenmäßig unterlegenen k.u.k. Truppen. Insbesondere der Monte San Michele, der eigentlich
aus vier einzelnen, miteinander verbundenen kleinen Karsterhebungen (Cima 1 bis 4)
besteht, entwickelte sich zu einem Epizentrum der Kämpfe im westlichen Karstgebiet.
Während der 14 Monate und sechs Isonzoschlachten zwischen Juni 1915 und August
1916, während denen er italienischen Angriffswellen ausgesetzt war, stiegen dort die
Opferzahlen rasant an. Rund 120.000 italienische und zirka 100.000 österreichisch-ungarische Soldaten verloren ihr Leben, wurden verletzt, gefangen genommen oder als
vermisst gemeldet. Neben der Podgora-Anhöhe (260 m) galt der San Michele als das
strategische Ziel schlechthin, um die Einnahme der Stadt Görz zu bewerkstelligen. Der
italienische Soldatendichter und Kriegspropagandist Gabriele D’Annunzio beschrieb ihn
21 Österreich-Ungarns letzter Krieg 1914–1918. Unter der Leitung von Edmund Glaise-Horstenau herausgegeben vom Bundesministerium für Heereswesen und vom Kriegsarchiv. Dritter Band. Das
Kriegsjahr 1915. Zweiter Teil. Wien 1932, S. 424f.
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in gewohnt menschenverachtender Weise als „tragico monte dalle quattro cime, meta di
sei battaglie, tomba di innumerevoli eroi“.22 Ganz anders als D’Annunzio, der den anhebenden Maschinenkrieg in eine schwülstige Heldenerzählung transformierte und anders
als der Futurist Filippo Tommaso Marinetti, der über die „hygienische“ Erlösung der
Welt durch das Stahlgewitter delirierte, wurde dem Irredentisten aus Triest Giani Stuparich bei den Kämpfen um Monfalcone klar, dass dem Tod seiner italienischen Frontkameraden nichts Transzendentes oder gar Erhebendes innewohnt. In seinen Tagebuchaufzeichnungen „Guerra del’ 15“ schreibt er über die Ohnmacht des Einzelnen angesichts
der Waffenübermacht, über den Schmutz und das Elend des Kriegsgeschehens, über die
persönlichen Zweifel, ob die Entscheidung, freiwillig in den Krieg zu ziehen, richtig
gewesen sei, und darüber, wie der Traum vom schnellen Sieg in einer Leichengrube versinkt: „ […] ein riesiges Loch, […] voll mit Rucksäcken, Gewehren und Stofffetzen und
mitten drin liegen auch Grenadiere: einer liegt auf dem Bauch […] mit weit ausgebreiteten Armen, der Kopf in die Erde gesunken; ein anderer liegt auf der Seite, die Hände
um die Knie gekrallt, der Kopf nach rückwärts gefallen. Unter seinem erdfahlen Gesicht
glänzt der weiße, rot gesäumte Kragenspiegel. Da teilt sich etwas wie ein Schleier vor
meinen Augen: Die weite, prangend grüne Ebene, die wir eben draufgängerisch, wie
im Ruhmglanz, durchquert haben, verengt sich zu einem Erdloch voller Leichen; mein
Blick, gewöhnt an die Unbestimmtheit einer Traumatmosphäre, bohrt sich scharf in die
fahlblaue Grube […].“23
Im Gegensatz zu den italienischen Truppen, die kaum über Kriegserfahrungen verfügten, mit Ausnahme jener, die am Libyschen Krieg 1911/12 teilgenommen hatten,
waren jedoch viele k.u.k. Regimenter bereits mit dem Schrecken der modernen industriellen Kriegsführung aus den Kämpfen in Wolhynien, Galizien, Serbien und den Karpaten vertraut. Bei Letzteren war von der anfänglichen Kriegsergebenheit und dem Gefühl,
dem Vaterland gegenüber eine patriotische Pflicht zu erfüllen, recht wenig übrig geblieben. Ihr Leben war vielmehr auf einen täglichen Kampf gegen die Unbilden des Wetters,
des Ungeziefers, des Leichengestanks, der Krankheiten und auf das passive Erleiden
von Geschützfeuer reduziert, ohne dass sie etwas anderes tun hätten können, als sich
noch besser in ihre Karststellungen einzugraben. Man bewegte sich auf engem Raum in
einer bizarr anmutenden Welt von schlecht armierten Feldwachen und notdürftig in den
Stein geschlagenen Schützengräben und behelfsmäßigen Unterständen und war tagsüber
zu Schanzarbeiten, Langeweile und Zuwarten hinter Steinmauern, Felsblöcken und armseligen Deckungen verurteilt. Nur nachts waren Bewegungen zwischen den Stellungen,
die Ablösung von Mannschaften und die Versorgung mit Nachschubgütern möglich.
Der alltägliche Tod an den Fronten hatte die Heldenerzählungen der Kriegspropaganda bereits in ein schauriges Gegenteil verkehrt, denn das Erschlagenwerden von Stein
und Geröll, der Erstickungstod in verschütteten Gräben und die bis zur Unkenntlichkeit
22 Siehe: http://www.cimeetrincee.it/isonzo.htm, 30.11.2012, 17.00 Uhr, Microsoft Internet Explorer.
Übersetzt als „tragischen Berg von vier Hügeln, Ort von sechs Schlachten, Grabstätte von unzähligen
Helden“.
23 Giani Stuparich, Guerra del’15 (Dal taccuino di un volontario). Milano 1931, S. 26f. (Übersetzung in:
Renate Lunzer, Triest. Eine italienisch-österreichische Dialektik. Klagenfurt 2002, S. 188).
Carso Maledetto. Der Isonzo-Krieg 1915–1917
zerfetzten Körper der von Granaten getroffenen Kameraden ließen alle Vorstellungen eines glorreichen Heldentodes hinfällig werden. Zudem bewirkte die sprunghafte Zunahme an „Kriegshysterikern“, also jener Soldaten, die dem Dauerbombardement seelisch
nicht mehr gewachsen waren, eine weitere Demoralisierung der Fronttruppen. Selbst
der kriegserfahrene Offizier Constantin Schneider stellte fest, dass er im Karst in Verhältnisse gekommen sei, „zu denen jene an der russischen Front einem Spaziergang
glichen“24. Jeder Angriff kostete angesichts der zu erwartenden hohen Verluste große
Überwindung, auch wenn der Kampf gegen Italien vor allem von Deutschösterreichern,
Slowenen, Kroaten und Dalmatinischen Truppen als Dienst an der Heimat gesehen wurde. Bei aller Zähigkeit und Ausdauer und bei allem Mut, sich einem überlegenen Gegner entschlossen entgegenzustellen, erschien doch vielen die Front nur mehr als eine
schaurig-makabre Bühne. Ein Bühne, auf der unsichtbare Regisseure ein blutrünstiges
Spektakel inszenierten, das durch einen nicht enden wollenden Zustrom von „Statisten“
in Gang gehalten wurde. Die Generalstäbe beider Seiten betrachteten den Krieg immer
mehr als ein mathematisches Problem – das heißt als Frage, wie viel Menschen und
Material bereitgestellt und nachgeschoben werden mussten, um einen Durchbruch zu
erringen oder zumindest eine Stellung zu halten. Jedes Ding, jeder Mann, jede Tatsache
und jeder Schlachtenfaktor reduzierte sich letztlich auf Zahlengebilde, und es galt nur
mehr die Verfügbarkeit und die Masse des „Materials“, die man gegenüber dem Gegner
einsetzen konnte. Weder Luigi Cadorna noch Svetozar Borojević verließen ihre weitab
von der Front gelegenen Hauptquartiere in Udine und Adelsberg/Postojna, um sich vor
Ort ein Bild von den zu Materialschlachten ausufernden Kämpfen und den extrem hohen
Verlusten zu machen. Truppen beider Seiten wurden durch Tod und Verwundung oft bis auf
ein Zehntel ihres Standes reduziert und Generäle in ihren rückwärtigen Stäben ließen telefonisch Regimenter und Bataillone nach vorn verschieben, die teilweise nur mehr auf dem
Papier existierten. Während Cadorna auf große Reserven und frisch einberufene Jahrgänge
zugreifen konnte, verschlang die Karstfront auf österreichisch-ungarischer Seite mehr Soldaten, als rechtzeitig nachgeschoben werden konnten.
„Dieser Tag war der schrecklichste von allen, den ich an der italienischen Front erlebt habe. Die Situation war hoffnungslos. Der andauernde Beschuss des ganzen Gebiets
um den Gipfel des Monte San Michele wurde ständig intensiviert. Wir litten unsagbaren
Durst. Der Tod bedrohte uns jede Minute. Überdies belästigten uns noch ekelhafte dicke
Fliegen, die in Schwärmen von Leichen auf lebende Menschen flogen. […] Da donnerte
es plötzlich furchtbar in unsere Linie in einer Entfernung von etwa 20 bis 30 Metern zum
rechten Flügel hin. Dort hatte sich im dröhnenden Artilleriefeuer eine Gruppe von etwa
15 oder 20 Männern versammelt […] Da rannte aus jener Gruppe Oberleutnant Chero
im wildem Lauf auf mich zu, ganz blass und mit verstörtem Blick, und schrie in italienischer Sprache, dass alle tot seien. Bei dieser Szene und unter dem Eindruck der furchtbaren Explosion sowie in Erwartung des Allerschlimmsten habe ich meine Nerven völlig
verloren. Ich fiel zu Boden und war nicht imstande, auch nur irgendetwas zu tun. Wenn
ich etwas sagen wollte, brachte ich keinen Laut heraus. Ich blieb vor meinem Unterstand
24 Schneider, Kriegserinnerungen, S. 361.
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liegen, abgestumpft gegenüber allem, was um mich geschah, die italienischen Granaten
beunruhigten mich überhaupt nicht mehr. Es war ein totaler Nervenzusammenbruch.“25
Mit diesen dramatischen Formulierungen beschreibt der slowenische k.u.k. Oberleutnant
Maks Obersnel in seinem Tagebuch die Kämpfe während der zweiten Isonzoschlacht am
25. Juli 1915, die den Auftakt zu einer der blutigsten Schlachten des Ersten Weltkrieges
darstellten. Die Kämpfe auf der Karsthochfläche waren selbst im Vergleich zu den verlustreichen Einleitungsschlachten in Serbien und Galizien von besonderer Grausamkeit.
Die ungeheure Gewalt, die während der ersten Isonzoschlachten auf diesen Abschnitt
einwirkte und von einem ungarischen Honvéd-Veteranen als die „Todesfestung“ von
Doberdò bezeichnet wurde26, lässt sich auch den Schilderungen des steirischen Jägers
Hans Pölzer entnehmen: „Was war doch die Dnjestfront für ein Paradies! Das sollte
eine Stellung sein? Keine Spur von Brustwehr, wenn man von den Leichenhaufen, die
stellenweise in vier- und fünffacher Schichtung daliegen, absah. Die ganze Deckung
bestand aus einer Mulde von unzähligen, den Berg hinanlaufenden Granatlöchern, die,
eines neben dem anderen, den ‚Schützengraben‘ bildeten. Ganze Teiche waren es oft,
wenn man zu einem 28-cm-Loch kam. Bis zum Bersten aufgedunsene Leichen schwammen oben auf dem alle Farben spiegelnden Schlamm. Darunter und daneben Holztrümmer, Schrapnellhülsen, Zünder, verbogene Gewehre, zerbrochene Bajonette, Chlorkalk,
zerfetzte Sandsäcke, zertrümmerte Schutzschilder, Rucksäcke, Monturstücke, Dachpappe, Kotzen, Drahtfetzen, Wellblechtrümmer, ausgerissene Wurzelstöcke von Schwarzföhren, die mit unendlicher Mühe seinerzeit gepflanzt worden waren, Schienentrümmer,
von den Granaten wie Eiszapfen zerschmettert, und weiß der Teufel was noch alles. So
sah es aus, als wir hinkamen.“27
Der Konflikt, der als Bewegungskrieg begonnen hatte und seitens der italienischen
Armee mit der klassischen Strategie des Frontalangriffs kompakter Truppenformationen in breiten Angriffswellen durchgeführt wurde, endete bald in einem äußert verlustreichen Krieg der Schützengräben. Die italienischen Gebietsgewinne während der elf
­Isonzoschlachten zwischen dem Kriegsbeginn im Mai 1915 und September 1917 – bevor in der zwölften Schlacht eine österreichisch-ungarisch-deutsche Streitmacht bis zum
Piave-Fluss durchbrechen konnte – beschränkten sich auf die Einnahme der unwegsamen, schwach verteidigten Bainsizza-Hochebene, die Besetzung der Stadt Görz mit den
umgebenden Gipfelstellungen des Monte Sabotino (603 m), des Monte Santo (684 m)
und des Monte San Michele sowie auf die Eroberung eines schmalen Geländestreifens
auf der Hochebene zwischen Monfalcone und Kostanjevica. Die Besonderheiten der
Geografie, des Klimas und der Geländekonfigurationen in Kombination mit avancierter
Waffentechnik und eine sich daraus entwickelnde Schlachtenlogik durch Erschöpfung,
Verschleiß, Verwüstung und Vernichtung schufen eine distinkte Choreografie und Dramaturgie, die den Karstkrieg von anderen Kriegsschauplätzen markant unterschied. Die
natürliche Unwirtlichkeit des Geländes, der Mangel an Wasser und Vegetation sowie
25 Dr. Maks Obersnel, Tagebuch, zitiert in: Vasja Klavora, Die Karstfront 1915–1916. Hermagor 2007,
S. 116f.
26 Joseph Gál, In Death’s Fortress. Translated by John F. Csomor. New York 1991.
27 Hans Pölzer, Drei Tage am Isonzo. Verfasst in Rottenmann 1916. Salzburg 1993, S. 7.
Carso Maledetto. Der Isonzo-Krieg 1915–1917
die Menschen- und Tierfeindlichkeit des Kalksteins, die rasch wechselnden Szenen von
gespenstischer Menschenleere und todbringenden Massenangriffen, das in den harten
Boden gefurchte und gesprengte Labyrinth von Gräben, Deckungen und Stellungen und
nicht zuletzt die extremen Witterungsverhältnisse mit heißen Schirokko-geplagten Sommern und eisigen Bora-Winden im Winter vermittelten den Beteiligten das unheimliche
Gefühl, am Ende der Welt angelangt zu sein.
Schon die ersten Schlachtengänge hatten den Karst in eine alptraumhafte Kriegslandschaft verwandelt. Explosionen hatten tiefe Granattrichter in das Geröll geschlagen,
Kalksteinbrocken waren entzwei gebrochen oder in zahllose Trümmer zerrissen worden.
Die karge Vegetation war durch das Dauerbombardement fast gänzlich vernichtet worden und die schütteren Grasflächen durch aufgewirbelten Schotter bedeckt, vermengt
mit Eisen, Splittern, Drahtresten, Sandsäcken und ausgerissenen Büschen. Einzelne Erhebungen waren kahlgeschossen worden, sodass sich dort kein Baum, kein Busch und
kein Grashalm mehr befand. Geschosssplitter und Blindgänger aller Kaliber lagen in
grotesken Formationen herum oder waren halb im Boden versunken, Stahlteile staken
in den Stämmen der wenigen verbliebenen Bäume und in den zerstörten Stellungen fanden sich abgerissene Gliedmaßen, Schuhe mit Beinstümpfen, halb verschüttete Leichen
und geronnenes Blut bedeckte den Boden. Einzelne Dolinen und Trichter, die man als
Begräbnisstätte für die Gefallenen genutzt hat, waren von Explosionen aufgerissen und
die Leichenteile im Gelände verstreut worden. Stacheldrahtverhaue waren von Treffern
in bizarre Gebilde verwandelt, Telefondrähte zu wirren Knäueln gewunden worden und
Uniformstücke, zerschlagene Waffen, zerbrochene Munitionskästen und Patronen lagen
auf weiten Flächen verstreut herum. Und dazwischen befanden sich immer wieder Tote:
Italiener, Deutschösterreicher, Slowenen, Ungarn, Tschechen und Rumänen waren dort
liegen geblieben, wo sie der Tod ereilt hatte – getrennt oder nach Nahkämpfen ineinander
verkeilt. Die Bergung der Verwundeten durch „Blessiertenträger“ konnte nur im Schutz
der Nacht durchgeführt werden und die Bestattung der Toten war nur dann möglich,
wenn sie sich nicht in einer Feuerzone oder im Niemandsland befanden. Viele Tote blieben einfach unbegraben, verwesten, schwollen auf bis zum Bersten, mit kürbisgroßen
Köpfen und quellenden Augen, und waren von Insektenschwärmen und Maden befallen. Erst mit der Zeit schrumpften sie, bis nur mehr die Montur die Knochen bedeckte.
Um den Geruch der verwesenden Leichen, die vor der Stellung lagen, erträglicher zu
machen, suchte man sie zu verbrennen, indem man die Toten mit Petroleum und Benzin überschüttete und anzündete. Zudem versorgte man die Fronttruppen mit Watte, um
sich damit die Nase zu verstopfen. Doch alle Mühen waren von wenig Erfolg gekrönt
und der vor allem während der Sommermonate extrem ausgeprägte Verwesungsgeruch
wurde zu einer der kardinalen traumatischen Erinnerungen der Veteranen beider Seiten.
Noch Jahre nach dem Weltkrieg fand man bei den Aufräumarbeiten im Karst Knochen
und Skelettreste oder ganze Truppenteile, die in zerschossenen Kavernen verschüttet
worden waren. Viele Leichen waren jedoch durch den andauernden Artilleriebeschuss
buchstäblich pulverisiert und in nichts aufgelöst worden, sodass die Zahl der Vermissten
(„dispersi“) mehrere Zehntausende betrug. Der britische Schriftsteller H. G. Wells beschrieb diese Kriegslandschaft anlässlich seines Besuchs an der Isonzo-Front im Herbst
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Lutz Musner
1916 wie folgt: „Still more desolate was the scene upon the Carso to the right (south)
of Goritzia. Both San Martino and Doberdo are destroyed beyond the limits of ruination. The Carso itself is a waterless upland with but a few bushy trees; it must always
have been a desolate region, but now it is an indescribable wilderness of shell craters,
smashed-up Austrian trenches, splintered timber, old iron, rags, and that rusty thorny
vileness of man’s invention, worse than all the thorns and thickets of nature, barbed wire.
There are no dead visible; the wounded have been cleared away; but about the trenches
and particularly near some of the dug-outs there was a faint repulsive smell …“ 28
Die durch die Wucht von Waffentechnik, Materialschlachten, Kriegslandschaften
und militärischen Disziplinierungen erzwungenen seelischen Regressions- und Zerfallsprozesse führten zu Spaltungen und Verformungen der soldatischen Subjektivität.29 Sie
wurden von den Überlebenden des Kampfgeschehens durch fatale Selbstheilungen in
Gestalt von Verdrängungen, Panzerungen und Heilserwartungen kompensiert und nachträglich von heroischen, nationalistischen und totalitären Deutungsmodi überformt. Ein
gutes Beispiel für diesen Diskurs ist Fritz Webers „Isonzo-Trilogie“30. In seiner Beschreibung der Isonzo-Kämpfer des Jahres 1916 mischt sich schwülstige Metaphorik mit einer
von heroischem Pathos durchtränkten Sprache, die gleichermaßen den Heldentod glorifiziert wie einen „neuen Menschen“ herbeischreibt, der dem Inferno des Karstkrieges
entstiegen sei: „(D)ort wurden sie, Mann für Mann, zu jenem Soldatentyp gehämmert,
den die Nachbarschaft des Todes nicht mehr schreckt, der die Greuel des Nahkampfes
als Erlösung empfindet gegen die Marter eines nie aussetzenden Artilleriefeuers. Neue
Menschen entsteigen diesen Höllen. Sie sind hart bis zur Grausamkeit und opferbereit
bis zur Selbstverleugnung. Sie tragen so viele Bilder haarsträubender Erlebnisse mit sich
herum, daß ihre Augen erloschen sind wie taube Spiegel. In ihrem Gedächtnis stehen
Namen, Namen … alle in Kreuzesform hingereiht auf flachen Felshügeln, in zerwühlten Dolinen, auf steinübersäten, qualmenden Hügeln, im fahlen Lichtschein flammendurchzuckter Nächte. Wenn sie marschieren, marschieren die Träger dieser Namen mit,
unsichtbar für die, die sie im Leben nicht kannten, den Wissenden aber, den Erinnerungsbeladenen eine grausige Vision.“31 Literaturgeschichtlich wurde meist nur dem
schmalen Segment der sogenannten „demokratischen Kriegsromane“ der späten Weimarer Republik (Erich Maria Remarque, Edelf Köppen, Ludwig Renn, Arnold Zweig)
oder den satirischen Montagen von Karl Kraus in den „Letzten Tagen der Menschheit“
analytisches Potenzial für die subjektiven Erfahrungswelten des Weltkriegsgeschehens
zugeordnet.
28 Herbert G. Wells, Italy, France, And Britain At War. New York 1917, S. 20f.
29 Zu den folgenden Ausführungen siehe: Lutz Musner, Im Schatten von Verdun. Die Kultur des Krieges
am Isonzo, in: Helmut Konrad – Wolfgang Maderthaner (Hg.), Das Werden der Ersten Republik …
der Rest ist Österreich. Bd. 1. Wien 2008, S. 45–64.
30 Isonzo 1915, Isonzo 1916, Isonzo 1917, alle Wien – Klagenfurt 1933; zur Biografie von Fritz Weber,
der sich in den 1930er Jahren dem Nationalsozialismus zuwandte, siehe Christa Hämmerle, „Es ist
immer der Mann, der den Kampf entscheidet, und nicht die Waffe …“ in: Hermann J. Kuprian (Hg.),
Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Innsbruck 2006, S. 35–60.
31 Weber, Isonzo 1916, S. 16.
Carso Maledetto. Der Isonzo-Krieg 1915–1917
Die in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren überbordende Fülle von österreichischer und italienischer Kriegsliteratur las man hingegen als naive, ideologiegeschwängerte Affirmation des Nationalismus, des Militarismus und des heldischen
Mannes. Der Fokus blieb auf die prekären gedächtnispolitischen Textverfahren dieser
Romane und schriftstellerischen Zeugnisse beschränkt; die psycho- und mentalitätshistorischen Dimensionen der Texte wurden großteils ausgeblendet. Um aber die fatalen
Selbstheilungsprozesse traumatisierter Subjektivität und Männlichkeit während des
Krieges und die heroischen Selbstermächtigungsformen ehemaliger Soldaten und Offiziere in der Zwischenkriegszeit besser in den Blick zu bekommen, scheint es sinnvoll,
in den „antidemokratischen“ Kriegsliterarisierungen mehr zu sehen als nur politisch
rechtslastige Fiktionalisierungen militärischer Gewalt. Es gilt, in den Exegesen, Panoramen, Metaphern, Allegorien und expressionistischen Bildüberschüssen dieser Texte Spuren des Halbgesagten, des Verschwiegenen und des Tabuisierten aufzudecken.
Als latente Begleitbotschaften zur Heldenrhetorik bringen sie Momente von Verstörung
und Trauma, aber auch von Tötungslust sowie Momente der Suche nach einem neuen,
postbürgerlichen Gestus von Wiedergeburt und Neuanfang zur Sprache. In ihnen findet
sich eine konstitutionelle Ambivalenz, die einerseits die Erfahrungswelten der Schützengräben abruft und die andererseits Utopien eines Neuanfangs sowie einer radikal
anderen weltanschaulichen Ordnung entwirft. Diese aus einer eigentümlichen Mischung
von Messianismus, Gewaltbereitschaft und Massenbegeisterung gespeiste Ambivalenz
fand ihren politischen Ausdruck nach dem Krieg – je nach Akteuren, Kontexten und
Schauplätzen verschieden – in den revolutionären Bewegungen linkssozialistischer Soldatenräte ebenso wie in den deutschnationalen und rechtsradikalen Wehrverbänden und
den italienischen Squadristi des frühen Faschismus. Das Phantasma einer „Herrschaft
der Schützengräben“ als Modell für eine neue Welt blieb jedoch ein Spezifikum der faschistischen Bewegungen in Italien und Mitteleuropa.
Fritz Webers letzter Teil der Isonzo-Trilogie („Isonzo 1917“) führt diese Ambivalenz exemplarisch vor, wenn er im Kräftefeld von biografisch begründeter Empathie,
Semidokumentation und Fiktion davon schreibt, dass der Krieg jegliche Romantik, an
der sich „junge, glühende Herzen“ begeistern könnten, verloren hätte, und dass nun
Jugendliche als „vorzeitig gealterte Kinder“ in eine Schlacht und damit in eine Kriegslandschaft geworfen würden, wie sie nur „ein satanischer Witz der Natur“ hervorbringen könne. Alles, was dem Herzen Stütze und Halt vermitteln könne – Bäume, Wälder,
Häuser, Kirchtürme, also Heimat –, sei nun völlig getilgt und durch eine Ödnis von
Stein, Granattrichtern, Trümmern und Gestank ersetzt worden, der die archaische Bestie
des Krieges entsteigen würde. „Und Flammen zuckend, zuckend von Berg zu Berg,
aus Mulden aufleuchtend wie der Feueratem verborgener Untiere, die drehenden Kegel
der Scheinwerfer, die steigenden und sinkenden Lichtfontänen der Raketen, bald weiß,
bald rot, bald grün – eine sinnverwirrende Welt, in die der Mensch hineingeworfen wird
wie in eine lodernde Esse. Und dann das Donnern und Rollen, näher, näher, Geheul
und Jaulen in den Lüften, aufspritzendes Feuer auch hier, Kommandorufe, Knattern.
Über den Hang hinaufgejagt, rennen die, die das alles zum erstenmal erleben, rennen,
hören die Todesschreie ihrer Kameraden, stöhnen, schreien, rennen, werfen sich nieder,
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Lutz Musner
springen wieder auf, glühenden Boden unter den Füßen, Krachen und Flammen zu ihren
Häuptern – bis endlich der Sturz kommt, das sengende Entsetzen. Getroffen! und die
letzte herzzerreißende Erkenntnis. Aus!“ Die Jugend, so Weber, falle am Isonzo in einen
„Blut saufenden Boden“, und der Krieg strecke sie nieder, ohne dass ihnen der „Lohn
des Erlebnisses“ zuteil geworden wäre. Eben hätten die Jungen noch die Schulbänke
gedrückt und mit „heißen Augen von den ersten Isonzoschlachten“ gelesen, nun aber
seien sie nicht mehr als „ein Spielball chaotischer Gewalten“.32 Was Weber hier und anderswo artikuliert, ist ein umfassenderer Gefühls- und Empfindungskomplex: die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber der Übermacht von Technik und Befehlsketten, die Orientierungslosigkeit in den Stellungskriegen, die umfassende Angst, die Auflösung und
die brachiale Entgrenzung in den Kriegshandlungen selbst, aber auch Wut, Aggression,
die Lust an der Gewalt und eine Sehnsucht nach dem Tod, der vielfach als Befreiung
fantasiert wird. Webers Sprache bedient sich eindringlicher Sprachbilder: Höllenlandschaften entstehen, wie von Hieronymus Bosch gemalt, von Esse, Ambos und Hammer
ist die Rede – der Karst erscheint so gleichsam als eine gigantische Stahlschmiede, die
gehärtete Individuen produziert. Das Geschehen vollzieht sich in einer Dramaturgie aus
Stein, Rauch, Gefechtslärm, Blitzen, Feuer, aus bewegten, zusammengedrängten und
herumgewirbelten Leibern, aus Vorwärtsstürmen, Niedergeworfenwerden, Explosionen
und Momenten unheimlicher Stille und des Todes. All diese Bilder sind in eine Rhetorik
von „Wir Opfer“ und „Sie Täter“ sowie in stereotypische Narrative eingebettet: tapfere,
aus der kulturellen Vielfalt der Habsburgermonarchie rekrutierte Abwehrkämpfer hier,
schlaue, levantinisch verschlagene Gegner dort. Das Heldenepos vom Opfergang der
österreichisch-ungarischen Armee gegen einen übermächtigen Gegner überdeckt in seiner Schwülstigkeit jedoch hoch tabuisierte Phänomene.
Zum einen wird der Umstand negiert, dass die gerühmten „Isonzo-Kämpfer“ auch
Blutrausch und Freude am Töten kannten, wie dies Joanna Bourke für die britischen
Soldaten des Ersten Weltkrieges analysiert hat.33 Lakonisch beschreibt etwa John R.
Schindler die mittelalterlich anmutende Brutalität, mit der bosniakische Truppen am
21. Juli 1915 den Monte San Michele stürmten: „The Bosnians were excellent close-in
fighters, especially at night. They were aggressive, even brutal, in the attack, liking to
close with the enemy to kill with knives and bayonets. Thoughts of fez-wearing, knifewielding Bosnians gave even battle-hardened fanti the shivers. […] The Bosnians of
the 9th and 10th Companies emerged from the darkness and soon reached the Italian
trenches, yelling the battle cry, ‚Živio Austrija!‘ as the terrified defenders attempted to
resist. The screaming Bosniaken, knives and battle clubs at the ready, jumped into Italian
trenches and overwhelmed the startled fanti. The bloody melée continued for more than
a hour, and by 5 A.M., after much costly hand-to-hand fighting, the summit of Mt. San
Michele was again in Austrian hands.“34 Zum anderen verdeckt die Heldenrhetorik, dass
der oben zitierte Lohn des Kriegserlebnisses in einer die soldatische Identität transfor32 Alle Zitate aus: Weber, Isonzo 1917, S. 67f.
33 Joanna Bourke, An Intimate History of Killing. Face-To-Face Killing in Twentieth-Century Warfare.
London 1999, Chapter 1.
34 Schindler, Isonzo, S. 70.
Carso Maledetto. Der Isonzo-Krieg 1915–1917
mierenden, für Außenstehende nicht nachvollziehbaren rite de passage bestand, die mit
Begrifflichkeiten wie „Kameradschaftserlebnis“ und der funktionellen „Gleichheit“ von
Mannschaften und Offizieren angesichts eines übermächtigen Maschinenkrieges nur unzulänglich umschrieben ist. Die Initiationsriten der Weltkriegsfronten stellten vielmehr
die Kategorien der zivil-bürgerlichen Gesellschaft nachhaltig infrage, ließen moralische
Vorbehalte als fossile Reste eines fremd gewordenen Vorlebens erscheinen, verwischten die Differenzen von Tod und Leben, von Menschlichem und Unmenschlichem, von
Sichtbarem und Unsichtbarem, von Bekanntem und Unbekanntem. Das Wechselbad
von Stellungskrieg und verlustreichen Angriffswellen mit ihren unheimlichen Szenarien
völliger Menschenleere und brodelnder Menschenmassen, die unvorhersehbare Abfolge von Stillstand und Mobilisierung, Langeweile und Schlachtenfieber wie auch die
Suspendierung aller Grenzen zwischen Lebenden, Leichen, Tieren, Maschinen, Fleisch,
Blut, Dreck und Stein – kurzum: die Aufhebung der Differenz von Kultur und Barbarei
– erzeugten Situationen der Liminalität, der Transgression und der Persönlichkeitsveränderung mit eigenen Angst-Lust-Erlösungsfantasien. Diese Phänomene blieben für Außenstehende zumeist geheimnisvoll und schwer dekodierbar – weil sie auf die Paradoxie
einer emphatischen Sehnsucht nach Wiedergeburt und Erlösung inmitten von Entsetzen,
Barbarei, Massenleid und Massentod verwiesen.
So wie in den Materialschlachten an der Westfront bewirkten die neue Qualität der
Gefechtsdinge, der Waffen und der Schlachtendynamik neue Formen der Wahrnehmung
und eine neue Dialektik des Sagbaren und des Unsagbaren. Im Carso Maledetto zählten
nicht alte soldatische Tugenden wie Mut und Muskeln, sondern Zähigkeit und Selbstbeherrschung. Und nicht Fitness und Beweglichkeit entschieden über die Kampfkraft
der Soldaten, sondern die Fähigkeit, in den Steinlöchern und Kavernen regungslos auszuharren und passiv schwerstem Trommelfeuer standzuhalten. Das Unvermögen über
existenzielle Kriegserfahrungen sprechen zu können, produzierte jedoch nicht nur eine
Sphäre des Ungesagten. Das Ungesagte und das Unausgesprochene waren auch eine
konstitutive Voraussetzung für einen neuen politischen Diskurs über Geschlechteridentitäten, Männlichkeit und Politik sowie über das Eigene („Völkische“) und das Andere
(emanzipierte Frauen, Juden, Sozialisten). In der Ersten Republik beeinflusste dieser
antidemokratische, misogynistische und zunehmend rassistische Diskurs das Selbstverständnis von paramilitärischen Gruppierungen wie der Heimwehr und führte zu einer vaterländisch-patriotischen Verklärung der Armee in Österreich-Ungarns letztem Krieg.
283
Herausforderung Balkan
Erfahrungswelten deutschsprachiger Soldaten an der
Saloniki-Front 1915–1918
Bernhard Bachinger
Prolog
„Wir wussten nicht, wohin unsere Reise gehen würde, wir ahnten aber, dass Serbien das
Ziel war“1, mit diesen Zeilen eröffnet Rudolf Stenger im Kriegstagebuch das Kapitel
seiner ersten Frontverlegung. Während eines Aufenthalts des Truppentransports kam der
Tragtierführer der Gebirgs-Maschinengewehr-Abteilung 222 mit Landsturmmännern
des österreichisch-ungarischen Bündnisgenossen ins Gespräch, wobei „[d]er eine davon
meinte, dass es ein großer Jammer wäre, dass auch wir deitsche Brüder gegen die serbische Saubande kämpfen müßten.“2 Ob der k.u.k. Soldat diese Aussage als Anteilnahme
gegenüber den Deutschen im Hinblick auf ihren Bestimmungsort „Balkan“ ausdrücken
oder aber ein Eingeständnis der ungenügenden Schlagkraft Österreich-Ungarns, mit dem
südöstlichen Gegner alleine fertig zu werden, abgeben wollte, geht aus den Aufzeichnungen nicht mehr hervor. Gesichert ist allerdings mit September 1915 der Zeitpunkt
ebendieser, womit sie als relativ unbedeutende Begebenheit während des Aufmarsches
deutscher und österreichisch-ungarischer Truppen an der serbischen Grenze eingeordnet
werden kann.3 Dies war gleichzeitig der Beginn des erstmaligen aktiven militärischen
Eingreifens des Deutschen Reiches am südöstlichen Kriegsschauplatz, wobei weder für
die Oberste Heeresleitung (OHL) noch für Mannschaftsdienstgrade wie dem einfachen
Muschkoten Stenger absehbar war, dass nach Abschluss der eigentlichen Offensive der
Balkanraum noch für beinahe drei weitere Jahre deutsche Truppen nicht nur beherbergen, sondern auch aktiv im blutigen Kampf fordern würde.4
1
Rudolf Paul Stenger, Kriegstagebuch. 1914–1918. Herausgegeben durch Cordula Herbst-Stenger.
[Berlin] 1987, S. 22. Das Tagebuch ist vermutlich in den Jahren 1930 bis 1932 von Rudolf Stenger (1892–1979) selbst überarbeitet worden. Seine Tochter Cordula Herbst-Stenger veröffentlichte es
1987 im Selbstdruck.
2Ebd.
3 Zum serbischen Feldzug der Mittelmächte im Oktober 1915 siehe vor allem: Charles E. J. Fryer, The
Destruction of Serbia in 1915. New York 1997; Andrej Mitrovič, Serbia’s Great War. 1914–1918.
London 2007, S. 144–150.
4 Insgesamt kämpften größere deutsche Einheiten auf drei verschiedenen Kriegsschauplätzen auf der Balkanhalbinsel: im Serbienfeldzug 1915, an der Saloniki-Front 1915–1918 und im Rumänienfeldzug 1916.
286
Bernhard Bachinger
Hatte die vierzig Jahre zuvor aufgestellte Bismarck’sche Doktrin, keinen „gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers“5 für die Angelegenheiten des
Balkans riskieren zu wollen, das deutsche Engagement während der Sezessions- und
Verteilungskonflikte in und um die zusammenschmelzenden Gebiete der europäischen
Türkei klar abgesteckt, so war sie – zwar schon vorher aufgeweicht – im Verlauf des
zweiten Kriegsjahres endgültig den Konstellationen und Gegebenheiten des Weltkrieges
gewichen. Was Österreich-Ungarn 1914 in insgesamt drei Offensiven nicht vermochte,
nämlich den entscheidenden Schlag gegen die serbische Streitmacht auszuführen,6 sollte nun eine neu gebildete Heeresgruppe – bestehend aus der deutschen 11. Armee, der
k.u.k. 3. Armee einerseits sowie Truppen des neuen Bündnispartners Bulgarien, das sich
durch umfangreiche territoriale Zugeständnisse schlussendlich ködern ließ und sich im
September 1915 vertraglich den Mittelmächten zuwandte,7 andererseits – bewerkstelligen. Laut Auftragsorder hatte Oberbefehlshaber Generalfeldmarschall August von Mackensen mit den ihm subordinierten Koalitionstruppen am 6. Oktober anzugreifen, „die
serbische Armee zu schlagen, wo er sie findet und baldmöglichst die Verbindung über
Land zwischen Ungarn und Bulgarien zu öffnen und zu sichern“8, was im folgenden,
serbischen Feldzug auch erfolgreich gelang.
Die kollektiven Erlebnisse jener „gespenstischen Helden, die […] wie ein Geisterheer über die Save und Donau brausten, Schlag auf Schlag die Wehrkraft eines schuldbeladenen Feindes zerbrachen und die Pforte zum Morgenlande öffneten“9, rückte bereits
ein Jahr nach der Offensive Rudolf Dammert im Dienste der deutschen Propaganda
ins genehme Licht, indem er ihnen mit einer Abhandlung ein ideelles Denkmal setzte
und obendrein den erfolgreichen Schlag gegen Serbien reüssierend als „Siegeszug des
Willens“10 adelte. Faktisch betrachtete Mackensen den Feldzug bereits am 25. November 1915 als beendet, immerhin war die „Armee des Königs Peter […] entscheidend ge-
5
Wenngleich Reichskanzler Otto von Bismarck im Zuge seiner Reichstagsrede am 5. Dezember 1876,
in der die geflügelten Worte fielen, zukünftige militärische Interventionen keineswegs kategorisch
ausschloss: „Ich habe gesagt: ich werde zu irgend welcher activen Betheiligung Deutschlands an diesen Dingen nicht rathen, so lange ich in dem Ganzen für Deutschland kein Interesse sehe […]. Ich
habe ausdrücken wollen, daß wir mit dem Blute unserer Landsleute und unserer Soldaten sparsamer
sein müßten, als es für eine willkürliche Politik einzusetzen, zu der uns kein Interesse zwingt.“ Horst
Kohl (Hg.), Die Reden des Ministerpräsidenten und Reichskanzlers Fürsten von Bismarck im Preußischen Landtage und im Deutschen Reichstage. Bd. 6, 1873–1876. Stuttgart 1873, S. 461.
6 Vgl. Christian Ortner, Die Feldzüge gegen Serbien in den Jahren 1914 und 1915, in: Jürgen Angelow
(Hg.), Der Erste Weltkrieg auf dem Balkan. Perspektiven der Forschung. Berlin-Brandenburg 2011, S.
123–142.
7 Vgl. zum Kriegseintritt Bulgariens vor allem Wolfgang-Uwe Friedrich, Bulgarien und die Mächte
1913–1915: Ein Beitrag zur Weltkriegs- und Imperialismusgeschichte. Wiesbaden 1985; Richard C.
Hall, Bulgaria’s Road to the First World War. New York 1996; Antoaneta Tcholakova, Der lange
Weg zum Verbündeten. Österreichisch-bulgarische Beziehungen 1878–1918, in: Claudia Reichl-Ham
(Red.), Der unbekannte Verbündete – Bulgarien im Ersten Weltkrieg. Begleitband zur Sonderausstellung des Heeresgeschichtlichen Museums. Wien 2009, S. 26–41.
8 Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, (BArch-MA) PH 5/I/78, Anweisung für die neue Heeresgruppe
Mackensen für die Operation gegen Serbien nebst Anlagen 1915, 15.9.1915.
9 Rudolf Dammert, Der serbische Feldzug. Erlebnisse deutscher Truppen. Leipzig 1916, S. 5.
10 Ebd., S. 147–152.
Herausforderung Balkan
schlagen und die Verbindung Wien–Konstantinopel auch zu Lande frei und gesichert.“11
Gegenwärtig und in der Folge sah er sich mit besagtem „Geisterheer“ trotz des Erfolges
allerdings noch anderen Erfordernissen gegenüber, beeinträchtigten doch kleinere Wermutstropfen die endgültige und determinierte militärische Hegemonie der Mittelmächte
auf dem Balkan.
Deutsche an der Saloniki-Front – Einleitung
Die subsumierten Schwierigkeiten bedingten nicht nur die Herausbildung einer neuen
Frontlinie in Makedonien an der ehemals serbisch-griechischen Grenze, sondern diktierten auch die äußeren und inneren Umstände dieses neuen Kriegsschauplatzes. Traten
im Herbst 1915 mit deutschen und bulgarischen Truppen neue Protagonisten auf dem
Balkankriegsschauplatz in Erscheinung, so blieb gleichfalls die Gegenseite in dieser
Angelegenheit keineswegs passiv und entsandte Expeditionstruppen zur Unterstützung
des serbischen Verbündeten auf die südöstliche Halbinsel. Ab 5. Oktober 1915 landete ein britisch-französisches Expeditionskorps in der griechischen Hafenstadt Saloniki/Thessaloniki, das sich nach einem erfolglosen Vorstoß Richtung Südserbien wieder
hinter die Grenze nach Griechenland zurückzog.12 So stand eine nicht unbedeutende
Anzahl an feindlichen Kombattanten im griechisch-makedonischen Raum auf neutralem Terrain,13 während sich der letzte Teil des serbischen Heeres Richtung Albanien
zurückzog und sich so vor der endgültigen Zerschlagung retten konnte.14 Aber auch innerhalb der Kriegskoalition zwischen dem Deutschen Reich, ÖsterreichUngarn und Bulgarien traten bereits im November 1915 ernsthafte Meinungsverschiedenheiten zutage. Konsultationsgespräche am 5. des Monats im Großen Hauptquartier
der OHL in Pleß/Pszczyna verschärften das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen
Conrad von Hötzendorf und Falkenhayn, da keine Einigung über die weitere strategische Ausrichtung und operative Kriegsführung am Balkan erzielt werden konnte.15
Als Konsequenz dieser Unstimmigkeit verkündete nach Abschluss der Serbien-Of11 Wolfgang Foerster (Hg.), Mackensen. Briefe und Aufzeichnungen des Generalfeldmarschalls aus
Krieg und Frieden. Leipzig 1938, S. 242.
12 Siehe hierzu besonders das Standardwerk zur Geschichte der Orient-Armee: Alan Palmer, The Gardeners of Salonika. The Macedonian Campaign 1915–1918. London 1965, S. 11–37, sowie des Weiteren
die Erinnerungen des Befehlshabers der Orient-Armee: Général Sarrail, Mon Commandement en Orient. Édition annotée commentée par Rémy Porte. Avant-propos de François Cochet. Mercués 2012,
hier besonders S. 43–77.
13 Die westlichen Entente-Mächte missachteten im Zuge der Landung auf Thessaloniki de facto die griechische Neutralität. Im Mai 1915 hatte ihnen Premierminister Venizelos jedoch genau dies unterbreitet, und war damit in Opposition zur Meinung des Königs Konstantin I. geraten, worauf Venizelos am
15. Oktober 1915 nach erfolgter Landung der Orient-Armee zurücktreten musste. Eine kurze Übersicht zum Gegensatz Konstantin I. und Venizelos, der sich den ganzen Krieg hinzog, bietet Steven
W. Sowards, Moderne Geschichte des Balkans. Der Balkan im Zeitalter des Nationalismus. Seuzach
2004, S. 300–307.
14 Der in der serbischen Historiografie als „Golgota“ bezeichnete Rückzug der Reststreitkräfte durch
Albanien ist anschaulich beschrieben bei Aleksandar Jovanovič, Sedam ratova generala Pavla Juričića
Šturma. Beograd 1991, S. 125–129; siehe auch: Mitrovič, Serbia’s Great War, S. 149f.
15 Björn Opfer, Trügerische Illusionen. Die Bulgarische Armee im 1. Weltkrieg, in: Zeitschrift für Heereskunde. LXVI. Jahrgang, Nr. 205, 2002, S. 121f.
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Bernhard Bachinger
fensive das Armee-Oberkommando (AOK) am 25. November 1915, die k.u.k. 3. Armee der Heeresgruppe Mackensen entziehen zu wollen,16 da der deutsche Generalstabschef eine weitere Vorgehensweise im Südosten Richtung Montenegro und Albanien ebenso kategorisch ablehnte wie gegen die Orient-Armee über die griechischen
Grenzen hinaus, und so im Widerspruch zur Auffassung Conrads stand.17 Der hiermit
frei gewordene österreichisch-ungarische Truppenverband nahm im Jänner 1916 nun
seinerseits eine eigenständige Operation gegen Montenegro in Angriff, zwang die
feindlichen Streitkräfte innerhalb kurzer Zeit zur Kapitulation und rückte anschließend mit dem vorrangigen Ziel, den durch italienische Landetruppen abgesicherten
Abtransport des serbischen Restheeres aus den albanischen Hafenstädten Durazzo/Durrës und Valona/Vlora zu unterbinden, weiter nach Süden vor.18 Unterdessen herrschten bei den verbliebenen bulgarisch-deutschen Truppen unter Führung Mackensens
ebenso Meinungsverschiedenheiten bezüglich der weiteren Vorgehensweise.
Denn auch die politische und militärische Führung des Balkanstaates drängte nicht zuletzt in Velika Plana, als am 21. Dezember 1915 der bulgarische Zar Ferdinand I. und
sein Generalstabschef Nikola Žekov mit Mackensen und Falkenhayn zu Gesprächen zusammentrafen, mit Nachdruck auf einen Angriff gegen Saloniki, ohne die OHL in dieser
Frage zu einer Annäherung bewegen zu können.19 Da eine autonome bulgarische Unternehmung ohne Unterstützung der Verbündeten wenig erfolgversprechend schien, beugte
sich die bulgarische Seite schließlich dem deutschen Willen, die griechische Neutralität
unbedingt zu wahren. So errichteten die bulgarische 1. und 2. Armee gemeinsam mit den
verbliebenen deutschen Truppen entlang der Nordgrenze Griechenlands eine defensiv
ausgerichtete Stellungslinie gegen die Orient-Armee – die sogenannte makedonische
beziehungsweise Saloniki-Front.20
Vor allem Letztere sowie ihre Kriegserfahrungen an besagtem Kriegsschauplatz
und in Makedonien sollen im Fokus dieses Beitrages stehen, wobei es zweckmäßig erscheint, nach einem ersten Blick auf die Zusammensetzung der Truppenverbände an
der Saloniki-Front die untersuchte Personengruppe um ein paar Nuancen auszuweiten.
16 Das endgültige Herausziehen der k.u.k. 3. Armee erfolgte schlussendlich am 19. Dezember 1915:
Foerster (Hg.), Mackensen, S. 246.
17 Die Aufzeichnungen des damaligen deutschen Kriegsministers Adolf Wild von Hohenborn legen
Zeugnis über die kontroversen Ansichten ab. Vgl. Helmut Reicholt (Hg.), Adolf Wild von Hohenborn.
Briefe und Tagebuchaufzeichnungen des preußischen Generals als Kriegsminister und Truppenführer
im Ersten Weltkrieg. Für die Veröffentlichung vorbereitet von Gerhard Granier. Boppard am Rhein
1986, S. 103–105 und S. 110­–114.
18 Eine kurze Darstellung der operativen Abläufe des montenegrinischen Feldzugs Österreich-Ungarns
bietet Anton Wagner, Die Eroberung Montenegros im Jänner 1916, in: Truppendienst. Zeitschrift für
die Ausbildung im Bundesheer. 5. Jg. 1966, S. 48f.
19 Björn Opfer, Im Schatten des Krieges. Besatzung oder Anschluss – Befreiung oder Unterdrückung.
Eine komparative Untersuchung über die bulgarische Herrschaft in Vardar-Makedonien 1915–1918
und 1941–1944. Studien zur Geschichte, Kultur und Gesellschaft Südosteuropas. Bd. 3. Münster 2005,
S. 65f. Zu den aufgeschlüsselten Begründungen für die ablehnende deutsche Haltung in dieser Frage
vgl. Max von Gallwitz, Meine Führertätigkeit im Weltkriege. 1914/1916. Belgien – Osten – Balkan.
Berlin 1929, S. 520–524.
20 Peter Enne, Bulgarien als Verbündeter der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg. Ein Überblick, in: Claudia Reichl-Ham (Red.), Der unbekannte Verbündete – Bulgarien im Ersten Weltkrieg. Begleitband zur
Sonderausstellung des Heeresgeschichtlichen Museums. Wien 2009, S. 62–89, hier: S. 76.
Herausforderung Balkan
Das Gros der im Serbien-Feldzug eingesetzten deutschen Streitkräfte war noch während
oder kurz nach Abschluss der Offensive herausgezogen und anderen Bestimmungsorten – vorwiegend der Westfront – zugeführt worden, sodass nur noch die 101. und die
103. Infanteriedivison in der 11. Armee verblieben. Zu diesen geschlossenen deutschen
Verbänden gesellten sich noch Teile des Alpenkorps und der 105. Infanteriedivision sowie die zum bulgarischen Feldheer als Verstärkung zugeführten Gebirgs-Maschinengewehr-Abteilungen, schwere Batterien, Feldfunkstationen und Kraftwagenkolonnen.21
Naturgemäß änderte sich im Laufe der Kriegsjahre durch Truppenverschiebungen und
Umbildungen die Zusammensetzung der 11. Armee beträchtlich, die Armeestrukturen
sowie das Armeeoberkommando blieben allerdings ebenso wie auch jene der Heeresgruppe Mackensen (beziehungsweise ab 11. Oktober 1916 Heeresgruppe Below und ab
23. April 1917 Heeresgruppe Scholtz) bestehen und bis zum bulgarischen Zusammenbruch im September 1918 in Makedonien stationiert. Im eher bescheidenen Ausmaß von
höchstens zehn Batterien und einem Bataillon befanden sich auch österreichisch-ungarische Truppen in der Kampfzone,22 während den beiden bulgarischen Armeen (1. und
2.) gleichsam deutsche und k.u.k. kampfunterstützende Formationen zugeteilt waren.23
Weder zu den kämpfenden Einheiten noch zu den Armeeorganisationen am makedonischen Kriegsschauplatz gehörend, organisierten überdies einerseits Uniformierte der
Eisenbahntruppen aus dem Deutschen Reich, teilweise auch aus Österreich-Ungarn, den
Ausbau der Feldbahnen24 und andererseits Wegebaukompanien den Straßenbau in der
Etappe und im erweiterten Hinterland.25 Schließlich runden die Verbindungsoffiziere
bei den bulgarischen Armeen wie auch zum Bündnispartner abkommandierte einzelne
deutsche und k.u.k. Militärangehörige das Spektrum deutschsprachiger Soldaten an der
Saloniki-Front ab.26
21 Foerster (Hg.), Mackensen, S. 245.
22 Dieser Höchststand war im Jänner und Februar 1917 zu verzeichnen. Zu anderen Zeiten befand sich
kein Bataillon der k.u.k. Armee auf dem makedonischen Kriegsschauplatz. Die Zahl der dort eingesetzten Batterien schwankte zwischen 0 (August bis Dezember 1916), 5 (Februar bis Juli 1916), 9
(Jänner 1916) und 10 (1917). Für das Jahr 1918 fehlt allerdings die diesbezügliche Erhebung: BArchMA, PH 3/936, Anlage 2, Verluste deutscher Truppen bei verbündeten Heeren, 26.11.1918.
23 Vorwiegend für Fernmelde- und Versorgungsunterstützung waren beispielsweise mit Stichtag 15. April 1916 der 1. bulg. Armee insgesamt 41 Offiziere, 9 Unteroffiziere und 39 Mannschaftsdienstgrade
nebst Gerät von den beiden Bündnispartnern subordiniert: Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv
(ÖStA, KA), AhOB, Militärattachés, Militärbevollmächtigte und Militäradjoints (1860–1919), Sofia
(1903–1918), Akten, 89 Reservats Akten 2001­–2500 von 1916 (1916), 2471/I, S. 3, Der Armee zugeteilte deutsche und ö.u. Formationen, 29.4.1916.
24 Walter Tetzlaff, Die deutschen Eisenbahntruppen auf dem mazedonischen Kriegsschauplatz. Berlin
1924; ÖStA, KA, AhOB, Militärattachés, Sofia, Akten, 91 Reservats Akten 3001­–3500 von 1916
(1916), 3263/I, Verfügung betreffs Einbau Pferdefeldbahn.
25 Siehe dazu beispielsweise die nicht nur ob ihrer Entstehungszeit sehr deutsch-national gefärbte Publikation des deutschen Oberst a. D. Kirch aus den 1920er Jahren: Paul Kirch, Krieg und Verwaltung in
Serbien und Mazedonien 1916–1918. Beiträge zur Geschichte der nachbismarckischen Zeit und des
Weltkrieges. Heft 3. Stuttgart 1928, S. 37 und 42. Kirch gibt an, dass im Straßenbau 10–15 Wegebaukompanien und zusätzlich 2.000–4.000 Kriegsgefangene und 1.000–2.000 Zivilisten arbeiteten.
26 Unter den Abkommandierten befanden sich beispielsweise deutsche und österreichisch-ungarische
Ärzte mit chirurgischen Kenntnissen: ÖStA, KA, AhOB, Militärattachés, Sofia, Akten, 93 Reservats
Akten 4001­–4500 von 1916 (1916), 4290/I, S. 1f., S. 1f., Zwanzig Ärzte für bulgarische Armee,
20.9.1916. Siehe auch den Kriegshygieniker der 2. bulg. Armee Mühlens, der seine Erinnerungen
289
290
Bernhard Bachinger
Aus diesem Konglomerat an inkongruenten Dienstgraden, Funktionen, Aufgabengebieten sowie Einsatzorten eine allumfassend gültige kollektive Kriegserfahrung
konstruieren und sie sämtlichen deutschsprachigen Soldaten im makedonischen Raum
überstülpen zu wollen, wäre vermessen. Zu unterschiedlich gestaltete sich das individuelle Kriegserlebnis, zu vielschichtig waren das subjektive Empfinden und die Verarbeitung der persönlichen Erfahrungen.27 Vorliegender Beitrag begibt sich ohne Anspruch
auf Vollständigkeit auf die Spuren von heute noch greifbaren Aspekten jener Kriegserfahrungen und versucht, einen Rahmen für ihre Bandbreite abzustecken. Auf Basis
exemplarischer Ego-Dokumente sowie ex post publizierter beziehungsweise verfasster
Erinnerungsschriften, die auf individuelle Wahrnehmungen einzelner Kriegsteilnehmer
eingehen, folgt er den Erfahrungswelten der deutschsprachigen Soldaten an der makedonischen Front. So mannigfaltig die Impressionen der deutschsprachigen Soldaten in
Makedonien auch sein mochten – für beinahe alle bedeutete der Einsatzort auf der Balkanhalbinsel das Erleben eines für sie bis dato weitgehend – sowohl in geografischer als
auch in kultureller Hinsicht – unbekannten Terrains.
Herausforderung Balkan: unbekannter Orient
„Der Balkan war mir aus eigener Anschauung völlig unbekannt, auch seine Bewohner, ihre Kultur und wirtschaftlichen Verhältnisse kannte ich nur aus Berichten. Wieweit
das alles Einfluß auf die Kriegsführung haben würde, blieb abzuwarten.“28 Diese von
Mackensen verfassten Zeilen stellen beileibe keine Ausnahme dar. Land und Leute der
Balkanregion waren für die meisten Soldaten ein gänzlich unbeschriebenes Blatt, das
sie aus eigener Perspektive nicht kannten. Mit der Kriegsverlegung in den Südosten
Europas glichen sie ihre aus Literatur und Zeitungsberichten stammenden Vorstellungen
mit den unmittelbar gemachten Eindrücken ab und reflektierten diese. Die Rolle als
prägendstes Element nimmt hierbei – noch vor den Presseartikeln, insbesondere über
die nicht allzu lange zurückliegenden Balkankriege – der Schriftsteller Karl May ein,29
der gleichsam, obwohl er selbst nie einen Fuß auf den Boden der europäischen Türkei
gesetzt hatte, doch mit den Abenteuern seiner Romanfigur Kara Ben Nemsi Effendi das
landläufige Balkanbild einschneidend formte.30
27
28
29
30
an die Zeit in Diensten Bulgariens publizierte: Peter Mühlens, Kriegshygienische Erinnerungen, in:
Archiv für Schiffs- und Tropen-Hygiene. Bd. 43, Heft 11. Hamburg 1939, S. 531–561.
Der Beitrag folgt Klaus Latzels theoretischen Überlegungen zum Kriegserfahrungsbegriff. Dieser
bezeichnet demnach die abgeschlossene Verarbeitung des Kriegserlebnisses in bestehende Sinnstiftungsangebote. Vgl. Klaus Latzel, Vom Kriegserlebnis zur Kriegserfahrung. Theoretische und methodische Überlegungen zur erfahrungsgeschichtlichen Untersuchung von Feldpostbriefen, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen. Nr. 56, S. 1–30.
Foerster (Hg.), Mackensen, S. 117.
Oliver Stein, „Wer das nicht mitgemacht hat, der glaubt es nicht.“ Erfahrungen deutscher Offiziere
mit den bulgarischen Verbündeten 1915–1918, in: Jürgen Angelow (Hg.), Der Erste Weltkrieg auf dem
Balkan. Perspektiven der Forschung. Berlin-Brandenburg 2011, S. 271–287, hier: S. 272f.
Zur Diskrepanz zu den transportierten Balkanbildern besonders hinsichtlich Makedonien siehe: Katalin Kovačevič, Makedonien bei Karl May, in: Dieter Sudhoff – Hartmut Vollmer (Hg.), Karl Mays Orientzyklus. Karl May Studien. Bd. 1. Paderborn 1991, S. 219–236. Auch nach dem Krieg wurde eine
Brücke zwischen den eigenen Erfahrungen und Karl Mays Abenteuerroman „Im Land der Skipetaren“
Herausforderung Balkan
Mit gemischten Gefühlen nahmen die nach Makedonien abberufenen Soldaten ihren neuen Einsatzort zur Kenntnis: Beim Arzt Erich Schede beispielsweise, der sich bis
1916 aufgrund seiner mehrmals nicht berücksichtigten Meldung als Freiwilliger „wohl
oder übel in das Heimatkriegertum“31 fügen musste, schwangen Glücksgefühle gepaart
mit Abenteuer- und Reiselust mit. „Also endlich, endlich. Meine Freude war geradezu
unsinnig, endlich raus, mitmachen zu dürfen, und dann gleich so weit hinaus in die
Abenteuer, Mazedonien, was war das? […] War einem doch dieser Kriegsschauplatz
fremd, nur während des Serbenfeldzuges interessant!“32 Dieser überschwängliche Enthusiasmus stellte allerdings eher die Ausnahme dar, denn eine Verlegung nach Südosten beinhaltete stets auch ein gewisses Unbehagen, bisweilen sogar Ernüchterung. Den
Berichten zufolge dürfte die kollektive Stimmung eher gedrückt gewesen sein, als den
sächsischen Jägern im Transportzug ihr Bestimmungsort sukzessiv klar wurde: „Wir
sind auf dem Balkan! Mit leiser Enttäuschung hat man die Fahrtrichtung allmählich
erkannt. Macedonien heißt das Ziel!“33
Eine ganz andere Motivlage, nämlich der bevorstehenden Verlegung positiv entgegenzusehen, hatte etwa Rudolf Grille. Das ungeliebte „Kohldampfschieben“ bei der
Flieger-Ersatz-Abteilung 11 in Breslau endgültig leid, meldete er sich ob einer im Raum
stehenden Versetzung zur Infanterie doch lieber freiwillig als Schreiber zur Jagdstaffel 38, die im makedonischen Raum stationiert war.34 Die illustre Darstellung, dass die
deutschen Soldaten „wie die alten Kreuzfahrer über die Donau gezogen“ wären und
dass sich das hieraus ergebende Gottvertrauen und gute Recht verantwortlich gezeigt
hätte, „die übermenschlichen Anstrengungen der kommenden Tage zu ertragen“35, kann
demnach getrost als konstruiert bezeichnet werden und angesichts der leeren Plattitüden
als Musterbeispiel für die Rhetorik in der Regimentsgeschichtsschreibung der frühen
1920er Jahre herhalten. Als einzige Analogie zu den Kreuzritterheeren sticht die Fahrt
ins Ungewisse ins Auge, wobei die Weltkriegssoldaten eher profanere Fragen über die
zu erwartenden Verhältnisse – beispielsweise die Wetterbedingungen oder die essenzielle Feldpostversorgung – als eine etwaig zu erwartende Absolution beschäftigten.36
Der erste Eindruck des neuen Kriegsschauplatzes bot sich den Soldaten noch auf
ihrem Weg dorthin, indem sie – meist über die Bahnstrecke Budapest–Belgrad–Niš–
Skopje nach Makedonien gelangend – visuell die vorbeiziehende Landschaft aufnah-
31
32
33
34
35
36
geschlagen. Siehe dazu: Ernst Schede, Als Arzt in Mazedonien. 1916–1918. Briefe und Betrachtungen
eines Arztes. Nordhausen/Harz 1929, S. 47, sowie Hauptmann Seeger (Bearb.), Die württembergische
Gebirgs-Artillerie im Weltkriege 1915–18. Stuttgart 1920, S. 33 und S. 40.
Schede, Als Arzt in Mazedonien, S. 2.
Ebd., S. 3.
Georg Strutz (Bearb.), Herbstschlacht in Macedonien. Cernabogen 1916. Schlachten des Weltkrieges.
In Einzeldarstellungen bearbeitet und herausgegeben im Auftrage des Reichsarchivs. Bd. 5. Oldenburg i. O. – Berlin 1925, S. 36.
Mit der Begründung, „[b]ei den Fliegern war es doch eher auszuhalten“, legte er seine Entscheidung für
das geringste Übel dar: Kriegstagebuch Nr. 2 von Rudolf Grille, S. 2. Die Aufzeichnungen sind online
unter der Adresse einsehbar: http://www.europeana1914-1918.eu/en/contributions/1526#prettyPhoto,
15.1.2013, 13.15 Uhr, Mozilla Firefox.
Seeger (Bearb.), Die württembergische Gebirgs-Artillerie, S. 25.
Strutz (Bearb.), Herbstschlacht in Macedonien, S. 37.
291
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Bernhard Bachinger
men. In frappierender Weise werden die Impressionen dieser Kriegsreise weitgehend
einheitlich beschrieben, wobei am Schluss die Ankunft am Balkan stand: „Öde und kahl
wurde jetzt die Gegend. Drei Farben gab es eigentlich nur noch, fahlgelbe Weiden und
Stoppelfelder, grauviolette, gewaltige Bergmassive und das tiefe Blau eines wolkenlosen Himmels. Dörfer mit unaussprechlichen Namen, einzelne Baumgruppen, Schaf-,
Ziegen- und Rinderherden huschten vorbei. Menschengestalten in sonderlicher Tracht,
furchtbar schmutzig, teils auf kleinen, grauen Eseln hockend, teils zu Fuß oder bei primitiver Feldarbeit beschäftigt […]. Wir durchfuhren Uesküb [Skopje]. Ein selten buntes
Leben und Treiben auf dem Bahnhof und in den engen Straßen. Das Gesicht des Balkans! Ein Irrtum war auch für Zweifler nicht mehr möglich.“37
In diesem kurzen Abschnitt komprimieren sich bereits zwei von drei Hauptmotiven der vornehmlich wiedergegebenen Sinneseindrücke, nämlich auf der einen Seite
der Gegensatz zwischen der Gebirgslandschaft und den Niederungen, auf der anderen
Seite die als fremdartig, oft als verwahrlost registrierte Bevölkerung, deren geschäftige
Lebhaftigkeit von den Mitteleuropäern als balkanspezifisch gewertet wurde.38 Das gemeinhin als malerisch und reizvoll wahrgenommene äußere Erscheinungsbild der makedonischen Städte, bei denen primär „die Moscheen mit ihren schlanken Minaretten
[…] ins Auge“39 fielen und ihr so eine „orientalische“ Charakteristik verliehen, ergänzt
die beiden genannten Sujets. Vor allem die älteren Teile der Etappenstadt Skopje, Sitz
des Hauptquartiers der Heeresgruppe Mackensen/Below/Scholtz, hinterließen ob ihrer
anmutigen Exotik bei Durchreisenden einen nachhaltigen Eindruck:
„Üsküb ist reinster Orient. Wie all diese mohammedanischen Länder hat es sein
Mittelalter zum Teil noch zäh lebendig erhalten. Und die neue Zeit, die neue Wirtschaft
mit ihrem Wagen und Wanken, liegt hier wie anderswo im Orient fremd und künstlich
zwischen Tod und Leben.“40
Auch der balkanversierte österreichisch-ungarische Verbindungsoffizier bei der Heeresgruppe Mackensen, Oberst Julius Lustig-Praen von Praenfeld, empfand dies ähnlich,
zeigte doch „Üsküb […] deutlich den Übergang von der alten Türkei zum neuen Serbien“, wo „neben Errungenschaften der neueren Zeit unverfälschter Orient“41 koexistierte.
37 Curt Badinski, Aus großer Zeit. Erinnerungsblätter des Jäger-Feld-Bataillons Nr. 9. Weltkrieg 1914–
18. Ratzeburg 1933, S. 16. In ähnlichen Worten beschreibt etwa Rudolf Grille die visuellen Eindrücke
seiner Reise von Niš nach Skopje: „Die Fahrt ging dann weiter, meist durch ödes Land. Immer nur
Sand und das dichte Gestrüpp der Steinreiche, welche in großen Mengen die meisten Berge Südserbiens bedecken. Kleine schmutzige Serbendörfer huschen an uns vorüber. Die Fahrt bietet hier nichts
Besonderes und interessantes [sic!] […].“ Grille, Kriegstagebuch, S. 9f.
38 Selbst Mackensen, sonst bei Beschreibungen außermilitärischer Belange eher zurückhaltend, äußert
sich in dieser Hinsicht. „Alle Handwerker arbeiten in ihren nach der Straße zu offenen Werkstätten,
alle Läden […] sind offen. Aber welcher Schmutz, welche Lumpen bekommt man zu sehen, und welche uns unbekannten Lebensgewohnheiten. […] Das reizvollste bleibt für mich die Landschaft. Der
Ausblick auf die vom Schnee gesäumten Berge rund um das Becken von Skopje […] gehört zu den
eindrucksvollsten.“ Foerster (Hg.), Mackensen, S. 262f. Ebenso: Grille, Kriegstagebuch, S. 11f.
39 Stenger, Kriegstagebuch, S. 26.
40 Adolf Köster, Mit den Bulgaren. Kriegsberichte aus Serbien und Mazedonien. München 1916, S. 84.
41 ÖStA, KA, Militärische Nachlässe (NL), Lustig Praen von Praenfeld, Julius, B/5, hier B/5:1, „Aus
den Lebenserinnerungen eines alten k.u.k. Offiziers“ von Feldmarschall-Leutnant Julius Lustig-Praen,
1940/41.
Herausforderung Balkan
Selbstredend, dass das ursprünglich gebliebene Flair, so sein Schluss, „an und für sich für
den Reisenden mehr Reize bot als die ersteren.“42 Doch das Leben in den Bebauungen der
makedonischen Dörfer und Städte, in denen Quartiere für Offiziere und Mannschaften
eingerichtet waren, konnte kaum mit dem pittoresken orientalischen Charme mithalten,
sondern gestaltete sich zumeist äußerst spartanisch. Wurde der ebenso in der Etappe fehlende Komfort wohl oder übel noch hingenommen, so klagten Soldaten einhellig über
die hygienischen Zustände in den Unterkünften.43 Dass die „armseligen ,Herren‘ dieses
Landes“44 in diesen prekären Wohnverhältnissen hausten, nahmen sie ebenso mit Befremden wie mit Erstaunen zur Kenntnis. Vor allem die Siedlungen der Roma stachen ins
Auge:45 „Man fühlt sich in die afrikanische Wildnis versetzt, denn die Häuser bestehen
nur aus Lehm und Schilf, gestützt mit Stangen, sind des sumpfigen Bodens wegen auf
Pflöcke gesetzt, teils rund, teils überhaupt ohne jede Form und so klein und niedrig, daß
man sich überhaupt nicht vorstellen kann, daß Menschen darin wohnen. Und doch laufen da halbnackte dunkelbraune Gestalten herum, die uns erstaunt anstarren. Es ist ein
richtiges Zigeunerdorf […].“46
Der kulturelle Antagonismus, insbesondere die für mitteleuropäisch geprägte „Kulturmenschen“ oftmals bezugslose Lebensweise der makedonischen Bevölkerung, bestimmte zudem die passiven Eindrücke des oftmals auch als Reiseerlebnis verstandenen
Kriegseinsatzes am Balkan.47 Das Interesse am bunten Erscheinungsbild der rund 900.000
Einwohner Makedoniens,48 deren „Sitten und Gebräuche […] sich doch gewaltig“49 von
jenen der deutschen Soldaten unterschieden, unterstreicht den Aspekt, dass der Krieg
mitunter auch als Erweiterung des eigenen Erfahrungshorizonts in volkskundlicher Hinsicht gesehen wurde.50 So fanden für gewöhnlich auch kurios anmutende „eigenartige
Landessitten“ der Makedonier – wie beispielsweise die Begräbnisriten – Eingang in die
Ad-hoc-Schriftstücke und Erinnerungen.51
42Ebd.
43 Auch „äußerst gute Quartiere“ waren davon betroffen. Plastisch schildert dies Alfred Jansa in seinen
Memoiren: Peter Broucek (Hg.), Ein österreichischer General gegen Hitler. Feldmarschalleutnant Alfred Jansa. Erinnerungen. Wien – Köln – Weimar 2011, S. 305f.
44 Cornelia Rauh-Kühne, Gelegentlich wurde auch geschossen: Zum Kriegserlebnis eines deutschen Offiziers auf dem Balkan und in Finnland, in: Gerhard Hirschfeld – Gerd Krumreich – Dieter Langewiesche – Hans-Peter Ullmann (Hg.), Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte.
Tübingen 1997, S. 146–169, hier: S. 154.
45 Siehe auch: Grille, Kriegstagebuch, S. 11f.
46 BArch-MA, Msg 1/999, Aufzeichnungen über die Tätigkeit als Chef der Militär-Eisenbahndirektion 7
auf dem Balkan, Major i. G. Otto Petzold, Reise Nisch-Doiran-Monastir, 15.2.1916.
47 Major Ulrich Henning auf Schönhoff merkt beispielsweise an, dass der oftmals vergnügliche Dienst
in der Nebenetappe bisweilen als „Balkanreise auf Staats Kosten“ bezeichnet wurde: BArch-MA,
N 440/2, Nachlass Henning, S. 61, Persönliches Kriegstagebuch. „Erleben, Wirken und Denken im
Weltkriege 1914/18“.
48 Vgl. Opfer, Im Schatten des Krieges, S. 83. Demnach setzte sich die Bevölkerung Vardar-Makedoniens aus 64% Slawen, 20% Türken, 12% Albanern und 6% sonstigen ethnischen Gruppierungen
zusammen.
49 Kriegsgeschichte des Reserve-Jäger-Bataillons Nr. 15. Herausgegeben vom Verein Reserve-JägerBataillon Nr. 15. Potsdam 1924, S. 80.
50 Seeger (Bearb.), Die württembergische Gebirgs-Artillerie, S. 21–25.
51 Rauh-Kühne, Gelegentlich wurde auch geschossen, S. 155; Kriegsgeschichte des Reserve-Jäger-Bataillons Nr. 15, S. 168; Badinski, Aus großer Zeit, S. 27f.
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Bernhard Bachinger
Herausforderung Kriegsschauplatz: Erfahrungen mit der
­Balkankriegsführung
Eigentliches Ziel der deutschsprachigen Soldaten in Makedonien war jedoch, einen
wie auch immer gearteten Beitrag zur Bewältigung der militärischen Anstrengungen
am dortigen Kriegsschauplatz zu leisten. Dies geschah im Rahmen einer Koalitionskriegsführung mit dem bulgarischen Bündnisgenossen, womit zweckdienlich zwei inkongruente Militärapparate, aber auch -kulturen zusammenfinden mussten. Gegenüber
den Bulgaren an der Saloniki-Front in erheblicher Minderzahl, war der Kontakt mit den
Verbündeten naturgemäß omnipräsent und das Verhältnis zu Armeeangehörigen des Balkanstaates essenzieller Bestandteil der Erfahrungswelten.52 Selbstredend kamen ebenso
geschlossene deutsche Formationen nicht darum herum, im Kampfgebiet oder in der
Etappe das ein oder andere Mal in Berührung mit dem Kampfgenossen zu kommen. Den
bulgarischen Kombattanten skizziert der deutsche Arzt Werner Steuber, wobei er sich
der gängigen und in der Bulgaren-Perzeption vorherrschenden Charakteristika bedient,
im Zuge seiner Erinnerungen folgendermaßen: „Unser Verhältnis zu den Bulgaren war
nicht leicht. […] Aber das war doch letzten Endes begründet in der Gegensätzlichkeit
der beiderseitigen Weltanschauungen und der Verschiedenheit der staatsbürgerlichen
und soldatischen Erziehung. […] Der Bulgare war von Natur ein vortrefflicher Soldat,
noch ungeschwächt von unnatürlichen Kultureinflüssen mit einer hohen körperlichen
Leistungsfähigkeit. […] Daß die Durchbildung des bulgarischen Soldaten, verglichen
mit dem deutschen Soldaten, noch manche Mängel aufwies, war natürlich. Mut und
Tapferkeit konnten allein das nicht ersetzen, erst allmählich lernte er […] die systematische Durchführung eines angreifenden Feuergefechts, auch daß die feindliche Artillerie
niedergekämpft sein müsse, ehe man zum Sturm antrete.“53
Dass ein Kriegsbündnis ob der heterogenen politischen und militärischen Zielsetzung
ihrer Protagonisten nicht nur Synergieeffekte auszulösen vermochte, sondern nebenher
auch zu erheblichen Problemen führen konnte, wussten die deutschsprachigen Militärpersonen am Balkan teils schon aus eigener Erfahrung.54 An der Saloniki-Front galt es
– anders als zwischen den Zentralmächten Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich
– mit einem bis dato noch weitgehend „unbekannten Verbündeten“ zu kooperieren, wobei zunächst weder die Schlagkraft noch die genaue Zusammensetzung der bulgarischen
Streitmächte klar ersichtlich erschienen.55 Selbst ein halbes Jahr nach dem Kriegseintritt
52 An dieser Stelle sei an Oliver Steins exzellenten Beitrag, der sich dem Verhältnis deutscher Offiziere zum bulgarischen Bündnispartner widmet, verwiesen: Stein, „Wer das nicht mitgemacht hat, der
glaubt es nicht.“, S. 271–287.
53 Werner Steuber, Arzt und Soldat in drei Erdteilen. Berlin 1940, S. 239f.
54 Die Unstimmigkeiten zwischen Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich führten nicht zuletzt zu
einem uneinheitlichen Vorgehen der beiden Verbündeten auf dem Balkan. Zur Vorgeschichte dieser
Kluft siehe etwa Günther Kronenbitter, Von „Schweinehunden“ und „Waffenbrüdern“. Der Koalitionskrieg der Mittelmächte 1914/15, in: Gerhard P. Groß (Hg.), Die vergessene Front. Der Osten 1914/15.
Ereignis, Wirkung, Nachwirkung. Zeitalter der Weltkriege. Bd. 1. Paderborn 2006, S. 121–143.
55 Der Titel der Sonderausstellung und die daraus entstandene Publikation des Wiener Heeresgeschichtlichen Museums „Der unbekannte Verbündete – Bulgarien im Ersten Weltkrieg“ scheint, obwohl eher
auf die Historiografie abzielend, auch für das erste Halbjahr des Militärbündnisses passend. Vgl. auch:
Foerster (Hg.), Mackensen, S. 216.
Herausforderung Balkan
Bulgariens war dies noch keineswegs bereinigt, zumal der Militärapparat des Balkanstaates es den deutschen und österreichisch-ungarischen Bündnispartnern nicht leicht machte.
So musste etwa der k.u.k. Verbindungsoffizier bei der 1. bulgarischen Armee, Alfred Jansa,
die vom AOK angeforderten Organisationsstrukturen im April 1916, da er „sowohl beim
Chef der operativen Sektion als auch bei den Fachreferenten auf eine derartige Unkenntnis
der eigenen organisatorischen Verhältnisse stieß“56, bei den Truppen selbst erheben. Deutlich trat zutage, dass sich die eigenen Maßstäbe im Bereich der Militärführung und
-verwaltung keineswegs auf den Bündnisgenossen übertragen ließen, was zum einen
ein gewisses Frustrationspotenzial barg, zum anderen aber auch zu einem beiderseitigen
Vertrauensverlust führen konnte.57 Überdies herrschte durch die im deutschen Selbstverständnis verankerte – aber auch offensichtliche – Gewissheit, den Bulgaren hinsichtlich
der organisatorischen und militärischen Fähigkeiten voraus zu sein und aufgrund der
Asymmetrie, „sich unter geringstem Einsatz eigener Truppen und Kampfmittel den beherrschenden Einfluss zu wahren“58, zwischen den Verbündeten eine die Kooperation
belastende Konstellation vor. Der österreichisch-ungarische Hauptmann Kellner bringt
diese Diskrepanz folgendermaßen auf den Punkt: „Die Bulgaren […] wollten wissen,
welchen Preis sie zu zahlen hatten und was sie dafür bekämen, und hatten kein Verständnis für die Halbheiten der Diplomatie; daher war es ohne weiteres erklärlich, daß ihre
ohnehin geringen Illusionen keine Einbuße vertrugen und daß sie uns nicht begeistert um
den Hals fielen. Sie respektierten deutsche Organisation, Technik, Kriegserfahrung und
Manneszucht, hatten aber wenig übrig für den oft sehr kurz angebundenen deutschen
Befehlston – noch weniger aber wußten sie mit der k.u.k. Gemütlichkeit anzufangen.“59
Vor allem deutsche Kommandostellen und Verbindungsoffiziere mussten sich nach
und nach diverse Verhaltensstrategien im Umgang mit dem Bündnisgenossen aneignen,
um die gewünschten Ergebnisse erzielen zu können. Dies war mitunter mit erheblich
auseinanderdriftenden Erfolgen verbunden, verlangte jedoch von den Protagonisten ein
gewisses Maß an interkulturellem Verständnis sowie eine noch viel größere Menge an
Nerven und Geduld.60 Sorgten anfänglich die Eigenheiten der bulgarischen Verbündeten
noch für Unverständnis und bisweilen sogar für Kopfschütteln, stellten sich die deutschsprachigen Militärs im Laufe der Kriegsjahre besser darauf ein und entwickelten individuelle Herangehensweisen, diesen zu begegnen oder sie zu umgehen.
56 ÖStA, KA, AhOB, Militärattachés, Militärbevollmächtigte und Militäradjoints (1860–1919), Sofia
(1903–1918), Akten, 89 Reservats Akten 2001­–2500 von 1916 (1916), 2413, S. 1, K.u.k. Verbindungsoffizier bei 1. bulg. Armee an den k.u.k. Militärattaché in Sofia, 14.4.1916.
57 Stein, „Wer das nicht mitgemacht hat, der glaubt es nicht.“, S. 277f. und S. 280f.
58 Broucek (Hg.), Ein österreichischer General gegen Hitler, S. 314.
59 Franz Kellner, Drei Jahre in der bulgarischen Front. Ernste und heitere Erlebnisse einer österreichischungarischen Artilleriegruppe 1916–1918. Klagenfurt 1932, S. 30.
60 Beispielsweise saß Major Henning als Quartiermeister bei der 2. bulg. Armee mehr oder weniger an
der Schnittstelle zwischen deutschen und bulgarischen Dienststellen und somit auch zwischen den
Stühlen. Um die Kommunikation zu verbessern, aber auch um sich selbst Ärger und Vermittlungsarbeit zu ersparen, versuchte er bei den deutschen Stellen zu intervenieren, damit diese den „barschen
Ton“ bei Befehlen, der bei den Bulgaren schlecht aufgenommen wurde, durch moderatere Formulierungen ersetzten: BArch-MA, N 440/2, Nachlass Henning, S. 81, Kriegstagebuch.
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So galt etwa im deutschen und k.u.k. Heer Unpünktlichkeit als ein Fauxpas ersten
Ranges, bei den Bulgaren hingegen erfüllte sie bei Militärparaden sogar eine gänzlich
andere Funktion: eine absichtliche und auch allgemeinhin erwartete Verspätung des Befehlshabers wurde als Ehrenbezeugung für diesen betrachtet.61 Wie schwierig es sein
konnte, im Spannungsverhältnis zwischen gewissenhafter Diensterfüllung und Taktgefühl der militärischen Order nachzukommen, ohne weder das eine noch das andere zu
vernachlässigen, verdeutlicht eine weitere exemplarische Begebenheit. Um Unstimmigkeiten der bulgarischen Bündnisgenossen im Zuge regelmäßiger Kontrollen vorzubeugen, inspizierte der dazu beauftragte deutsche Offizier Fortschritte der Stellungsausbauten in bulgarischen Abschnitten nicht persönlich, sondern studierte diese anhand von
Luftaufnahmen, die die benachbarte deutsche Fliegerstaffel ihm zu besagtem Zwecke
lieferte.62 Vor allem höhere Dienstgrade mussten kleinerer und größerer Zerwürfnisse
im Verhältnis zueinander zum Trotz die Kooperation am Laufen halten, war doch „eine
wesentliche Funktion der deutschen Truppen auf dem Balkan die eines ,Schrittmachers‘
und einer ,Korsettstange‘ zur Stabilisierung der bulgarischen Armee“63, um sie nicht
zuletzt gegen die an Mannesstärke und Kriegsmaterial überlegene Orient-Armee zu rüsten. Dies gelang summa summarum mit beträchtlichem Erfolg, hielt die makedonische
Front doch allen Angriffsversuchen der Entente stand, ehe sich schon im Vorfeld des
bulgarischen Zusammenbruches vom September 1918 die Beziehungen zunehmend verschlechterten und das beidseitige Vertrauen letztendlich schon verebbt war.64
Im außerdienstlichen Bereich herrschte hingegen vorwiegend ein kameradschaftliches Verhältnis zwischen den Verbündeten vor, das mitunter auch innige freundschaftliche Züge annehmen konnte.65 Zu Abendgesellschaften oder im Rahmen gegenseitiger
Besuche genossen die deutschsprachigen Offiziere Gespräche und Umtrunke mit ihren
bulgarischen Pendants, wobei die Konversation zuweilen auch auf Französisch erfolgte
– der Sprache des gemeinsamen Kontrahenten am Balkankriegsschauplatz.66 Gleichermaßen mit Bulgaren verkehrten ebenso Mannschaftsdienstgrade, wenngleich auch unter
anderen Rahmenbedingungen. Aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse auf beiden Seiten fand die etwas lose Kommunikation während des Aufeinandertreffens – falls nicht
auf eine Drittsprache ausgewichen werden konnte – mit behelfsmäßigen bulgarischen
und deutschen Wortbrocken statt, wohingegen der eigentlich untersagte, aber geschäftige Handel mit Lebensmitteln, Medikamenten oder sonstigen Waren und Dienstleistungen auch nonverbal erfolgen konnte und das Verhältnis zueinander vertiefte.67
61
62
63
64
Broucek (Hg.), Ein österreichischer General gegen Hitler, S. 317.
Stein, „Wer das nicht mitgemacht hat, der glaubt es nicht.“, S. 285.
Ebd., S. 284.
Opfer, Im Schatten des Krieges, S. 77. Siehe auch den vom deutschen Militärbevollmächtigten in
Sofia, Oberstleutnant Massow, verfassten Bericht zur Stimmung im bulgarischen Heer: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA AA), Gesandtschaft Sofia, 27, Berichte an das Auswärtige Amt. Die
Stimmung der bulgarischen Armee. Sofia. 4.4.1918; sowie über die offen zutage tretenden Ressentiments zwischen Bulgaren und Deutschen: Ebd. Abschrift: Oberkommando Scholtz über Ursachen der
Vorkommnisse an der Front. Sofia. 12.8.1918.
65 BArch-MA, N 440/2, Nachlass Henning, S. 71, Kriegstagebuch.
66 Broucek (Hg.), Ein österreichischer General gegen Hitler, S. 308f.
67 Stenger, Kriegstagebuch, S. 89–92; Mühlens, Kriegshygienische Erinnerungen, S. 546.
Herausforderung Balkan
In der Regel blieben die deutschsprachigen Soldaten jedoch sowohl im Kampfgebiet
als auch in der Etappe unter ihresgleichen. Dabei flossen alkoholische Getränke oft in
Strömen, sowohl in Offizierskasinos, Soldatenheimen, Feldlagern oder in den frontnahen Unterständen. Generell scheint Alkohol auch abseits von feuchtfröhlichen Herrenabenden zu besonderen Anlässen wie Geburtstagen, Auszeichnungen, Beförderungen
oder Versetzungen68 eine große Rolle gespielt zu haben. „Es ist traurig zu sehen, wie
viele Offiziere sich hier das Trinken, besonders von Schnaps, angewöhnen. Und was für
ein Schnaps! Der Krieg mit seinen Strapazen dauert eben zu lange.“69
Im Hinterland erforderten vornehmlich die topografischen und infrastrukturellen
Verhältnisse in Makedonien besonders strapaziöse Anstrengungen, um überhaupt erst
einen modernen Stellungskrieg in der wenig erschlossenen Gebirgslandschaft führen
zu können. Den damaligen Ernährungskommissar und späteren Reichskanzler Michaelis mag der gewaltige Eindruck ein wenig getäuscht haben, als er in Niš im Rahmen
einer Balkanreise auch die Etappeninspektion für den südöstlichen Kriegsschauplatz in
Augenschein nahm. Angesichts des dortigen geschäftigen Betriebs sei ihm nämlich die
„gelegentliche Sorge für die mazedonische Front […] genommen“70 worden, bemerkte
er in seinem Bericht. Die logistischen Probleme nahmen allerdings erst dort, am Umschlagplatz in der bulgarisch besetzten Stadt, ihren Anfang.71 Denn von diesem Eisenbahnknotenpunkt führte nur ein Schienenstrang Richtung Makedonien, dessen Endpunkt
zudem noch etwa hundert Kilometer von der Front entfernt lag. Die von Bulgarien, dem
Deutschen Reich und Österreich-Ungarn kommenden Rüstungs- und Versorgungsgüter
mussten von dort aus mit erheblichem Aufwand weiter zu den jeweiligen Frontabschnitten transportiert werden, was angesichts des spärlich ausgebauten und teilweise durch
die Feldzüge der letzten Jahre zerstörten Wegenetzes mehr schlecht als recht gelang.72
Neben den für die bulgarischen Kolonnen charakteristischen, eher behäbigen Ochsenkarren, die seitens der deutschsprachigen Soldaten häufig despektierliche Assoziationen
an „Wagenzüge aus vergangenen Jahrhunderten“73, aber manchmal ob ihrer Wetter- und
Gebirgstauglichkeit auch Anerkennung hervorriefen,74 prägten ab 1916 auch umfassende
Neu-, Verbesserungs- und Ausbauarbeiten der Infrastruktur das Bild in der Etappe. Mit
der vorwiegend von der deutschen Militär-Eisenbahn-Verwaltung initiierten Errichtung
von neuen Voll-, Klein- und Seilbahnen konnte die Effizienz im Bereich des Nachschu68 Rauh-Kühne, Gelegentlich wurde auch geschossen, S. 155f.
69 Schede, Als Arzt in Mazedonien, S. 47.
70 Georg Michaelis, Für Staat und Volk. Eine Lebensgeschichte. Deutsches Reich – Schriften und Diskurse. Reichskanzler VI/I. Hamburg 2011, S. 290.
71 Österreich-Ungarn und Bulgarien errichteten im Zuge der Besatzung Serbiens nach dem Feldzug von
1915 insgesamt drei Verwaltungseinheiten. Das k.u.k. Militär-Generalgouvernement Serbien und die
bulgarisch verwalteten Gebiete Militär-Inspektionsgebiet Makedonien und Militär-Inspektionsgebiet
Morava, das den Sitz in Niš hatte. Vgl. dazu Daniela Schanes, Serbien im Ersten Weltkrieg. Feindund Kriegsdarstellungen in österreichisch-ungarischen, deutschen und serbischen Selbstzeugnissen.
Neue Forschungen zur ostmittel- und südosteuropäischen Geschichte. Bd. 3. Frankfurt am Main 2001,
S. 235 und S. 238–246.
72 Opfer, Im Schatten des Krieges, S. 103f.
73 Kriegsgeschichte des Reserve-Jäger-Bataillons Nr. 15, S. 158.
74 Köster, Mit den Bulgaren, S. 67.
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Bernhard Bachinger
bes erheblich und stetig gesteigert werden, jedoch war bis Herbst 1918 noch immer nicht
die gesamte Frontlinie schienentechnisch erschlossen.75
Den Anforderungen eines modern geführten Krieges, der sich spätestens ab Sommer
1916 auch am makedonischen Nebenkriegsschauplatz etablierte, wurde die Nachschublogistik dennoch kaum gerecht, zumal die Reorganisation der bulgarischen Etappenverwaltung und -organisation nur schwerfällig vonstattenging.76 Dass in vielen Bereichen
– naturgemäß vor allem in den vorderen Linien – eine Unterversorgung gang und gäbe
war, verschärften nicht zuletzt zwei weitere Umstände. Einerseits war das makedonische Hinterland trotz rigorosen Requirierens nicht in der Lage, mehrere hunderttausend
Kombattanten zu ernähren, andererseits grassierten in der Etappe nicht zu vernachlässigende, korrumpierende Verhältnisse.77 Lag die Einheit in Höhenstellungen, musste,
sofern keine Seilbahn vorhanden war, alles, was an Kriegsmaterial und Versorgungsgütern zu den Kampftruppen gelangen sollte, noch durch die Bagage beschwerlich zu den
vorderen Linien transportiert werden, um endgültig zum Bestimmungsort zu gelangen.
„Mühsam und schwierig gestaltete sich der Nachschub auf die Felsenhöhen hinauf. 60
Tragtiere, Maulesel, Esel und kleine Pferdchen schleppten allabendlich […] auf ihren
Traggestellen die Verpflegung in schweren Kisten, lange Bretter, Wellbleche, Stacheldrahte und anderes Stellungsbaumaterial bergan zu den Kompanien. Den Draht für den
Hindernisbau lieferte […] die deutsche Drahtfabrik in Libau an der Ostsee, das Holz, das
allerdings nur spärlich herankam, lieferten die polnischen Wälder. […] [D]icht hinter
unserer Front, hatte man ein Braunkohlenlager erschlossen, dessen Erzeugnisse jedoch
den Schrecken der Feldküchen bildeten. Der Gedanke, wie bei dem Mangel an jeglichem
Brennholz die qualmenden Wärmespender bei eintretender Kälte in den Unterständen
und Stollen wirken würden, war beängstigend.“78
Der allnächtliche Versorgungsaufstieg zu den in den kargen makedonischen Bergmassiven gelegenen Höhenstellungen wurde stellenweise der Beschussgefahr wegen
gänzlich „ohne Licht in ägyptischer Finsternis“ – wie „ein richtiger Balkanmarsch“79
eben – durchgeführt.
Herausforderung Krieg: Kampferfahrung an der Saloniki-Front
„Unterschätzt den Balkan nicht […], es ist der allerschwierigste Kriegsschauplatz, wenn
auch nur Nebenkriegsschauplatz.“80 Diesen Appell sandte Erich Schede während der
75 Zu den Anfängen dieser umfassenden Bautätigkeit siehe Foerster (Hg.), Mackensen, S. 269f.; einen
Überblick über die oftmals als „deutsche Kulturarbeit“ bezeichnete Vermehrung des Schienennetzes
siehe Kirch, Krieg und Verwaltung, S. 37.
76 Otto Landfried, Der Endkampf in Mazedonien 1918 und seine Vorgeschichte. Berlin 1923, S. 7f.;
BArch-MA, N 440/2, Nachlass Henning, S. 70, Kriegstagebuch.
77 Opfer, Im Schatten des Krieges, S. 103f.; BArch-MA, N 440/2, Nachlass Henning, S. 70f., Kriegstagebuch. Dass auch bei der deutschen Etappe nicht alles reibungslos und sauber verlief, deuten mehrere
Quellen mehrmals an. Siehe beispielsweise Schede, Als Arzt in Mazedonien, S. 68 und S. 111; Kriegsgeschichte des Reserve-Jäger-Bataillons Nr. 15, S. 158. Sowie Stenger, Kriegstagebuch, S. 82f.
78 Kriegsgeschichte des Reserve-Jäger-Bataillons Nr. 15, S. 161.
79 Schede, Als Arzt in Mazedonien, S. 16 bzw. S. 42.
80 Aus einem Briefe, 17.5.1917, in: Ebd., S. 51.
Herausforderung Balkan
Maikämpfe im Jahr 1917 mittels Feldpost aus den makedonischen Schlachtfeldern in
die Heimat. Als der Brief verfasst wurde, lag das II. Bataillon des Reserve-Infanterieregiments Nr. 48, bei dem er als Arzt seinen Dienst versah, zwar in Reservestellung,
musste aber allein an diesem Tag aufgrund feindlicher Artillerieeinwirkung 42 Mann als
Verluste hinnehmen. „Wir liegen an einem Berghang unter bombensicheren [sic!] Zelt
und überlassen alles weitere dem Schicksal“81, so Schede weiter über das schutzlose
Ausharren seiner Einheit unter dem Feuer.
Zu dieser subjektiven Einschätzung – wie bereits weiter oben angemerkt, fehlte dem
Mediziner der Vergleich zu anderen Kriegsschauplätzen, da er ein gutes halbes Jahr
zuvor direkt zu den Balkantruppen einberufen worden war – kam er allerdings nicht
allein angesichts der schweren Abwehrkämpfe gegen die Offensivbemühungen der Orient-Armee,82 diese Überzeugung festigte sich schon im Vorfeld der Frühlingskämpfe.
An anderer Stelle schlug Schede bereits in dieselbe Kerbe, indem er die Besonderheit
vom „allerübelsten Kriegsschauplatz“ gegenüber anderen Fronten hervorhob: „Nur die
Verpflegung ist gut, sonst fehlt es an allem: Holz, Dachpappe, Beton, Karbid, Nägel,
kurz an allem, was zu einem richtigen Stellungsbau gehört. Die verwöhnten Herren von
der West- und Ostfront würden die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn sie
sähen, mit welchen unsäglichen Schwierigkeiten hier alles vor sich geht. […] Also wir
haben auch unser Päckchen zu tragen.“83
Die Kriegsführung an der sich über rund 300 Kilometer entlang der griechischen
Nordgrenze erstreckenden Saloniki-Front wies im Wesentlichen seit ihrer Etablierung
an den umkämpften Abschnitten sämtliche für den Ersten Weltkrieg bestimmenden Charakteristika eines Stellungskrieges auf. Während sich die Kombattanten insbesondere
zwischen Doiran- und Ochridsee in Schützengräben und Stellungen in relativ geringer Distanz gegenüberlagen, gaben Artillerie- und Luftkämpfe offensichtliches Zeugnis
von der technisierten, modernen Kampfweise ab. Als im Oktober 1916 für Schede der
Kriegseinsatz am Balkan begann, war dort gerade die erste größere Schlacht im Gange,
die ihrerseits auch mit dem Verlust der Stadt Monastir/Bitola zur einzigen nennenswerten Frontverschiebung bis zum bulgarischen Zusammenbruch führen sollte.84 Zur Unterstützung der schwer bedrängten 1. bulgarischen Armee, deren Lage sich nach einer
vorangegangenen Offensive durch einen Gegenangriff im Bereich des Flusses Cerna/
Crna und der Tiefebene von Bitola beträchtlich verschärft hatte, waren deutsche Truppenformationen nach Makedonien abkommandiert worden.85
Diese zur Rettung der prekären Situation berufenen, meist von anderen Fronten abgezogenen und kampferfahrenen Soldaten erlebten somit den Krieg am Balkan unmittelbar, indem sie direkt in die Kampfhandlungen hineingeworfen wurden. Die erste Heraus81Ebd.
82 Zur Frühlingsoffensive der Orient-Armee siehe Palmer, The Gardeners of Salonika, S. 108–130.
83 Schede, Als Arzt in Mazedonien, S. 33.
84 Zur besagten Schlacht, in der Historiografie als „Schlacht am Cernabogen“ oder als „Battle for Monastir“ bezeichnet, siehe Palmer, The Gardeners of Salonika, S. 71–91. Das deutsche Reichsarchiv widmet in seiner Reihe „Schlachten des Weltkrieges“ den Kämpfen in Makedonien den 5. Band: Strutz
(Bearb.), Herbstschlacht in Macedonien.
85 Enne, Bulgarien als Verbündeter der Mittelmächte, S. 77f.
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forderung bestand natürlich darin, sich im unbekannten Gelände zurechtzufinden, wobei
dies in den die Tiefebene umschließenden Bergen nicht immer leicht war. Gelegentlich
erreichten die Truppen nur mit erheblichen Schwierigkeiten ihren Bestimmungsort;86 die
„völlige Unkenntnis der Gebirgsverhältnisse und die ungenauen Karten ließen trotz Führers […] den Weg verfehlen.“87 Kurz vor seiner Feuertaufe hielt Schede die Eindrücke
der noch in der Ferne tobenden Kämpfe fest: „Fortwährend sehr starkes Artilleriefeuer,
Maschinengewehrfeuer, Infanteriefeuer. Leuchtkugeln zeigten uns den Weg. Zum ersten
Male sah ich in Wirklichkeit vor mir haufenweise Schrappnellwölkchen über den Hängen und Schluchten.“88
Die Widersacher dieser erbitterten Gefechte südlich und südöstlich von Bitola waren kurioserweise unter anderem eigentlich schon längst geschlagen geglaubte Gegner,
nämlich serbische Truppen, die nach dem Rückzug durch Albanien und Retablierung auf
Korfu nun erstmals wieder ehemaligen serbischen Boden betraten.89 Diese machten es
den Stellung beziehenden deutschen Einheiten besonders schwer, da „feindliche Artillerie, […] vorgeschobene Scharfschützen, Maschinengewehre und Minenwerfer […] aufmerksam jede Gelegenheit“90 ergriffen, sie beim Eingraben zu stören. Auch der felsige
Untergrund und der Mangel an Kriegsmaterial taten das Ihrige, um die Vorbereitungen
auf den erwarteten Angriff erheblich zu erschweren. „An einen fortlaufenden Schützengraben war natürlich nicht zu denken. Nur ,Fuchslöcher‘ entstanden, über die man
zum Schutz gegen Regen und Nachtkühle die ,bombensichere‘ Zeltplane spannte. Das
Drahthindernis vor der Stellung blieb schwach und unzureichend. Es fehlte an Material.
Die Nachschubmittel konnten trotz Verstärkung der Kraftwagen-Kolonnen nur die notwendigste Verpflegung und Munition vorschaffen.“91
Curt Badinski, damals Führer der 2. Maschinengewehrkompanie des Lauenburgischen Jäger Feld-Bataillons Nr. 9, konnte zwar die Verteidigungsstellungen seiner Einheit nicht, dafür aber die Eindrücke beim Aufeinandertreffen mit den Serben in seinem
Kriegstagebuch, festhalten.92 Einblick in das Gefühlsleben nach überstandenen Rückzugsgefechten und Strapazen gibt die lapidare abschließende Bemerkung: „Wie 1000
Zentner fiel es uns von der Seele. Die Depression der letzten 24 Stunden war riesenhaft
angewachsen.“
86
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88
89
Siehe auch Schede, Als Arzt in Mazedonien, S. 19f.
Badinski, Aus großer Zeit, S. 32.
Schede, Als Arzt in Mazedonien, S. 7.
Die Reste des serbischen Heeres wurden von den albanischen Hafenstädten nach Korfu verschifft und
dort neu aufgestellt und ausgerüstet. Im Sommer 1916 gelangten diese Truppen nach Saloniki und
wurden in die Orient-Armee unter Général Sarrail integriert, wo sie ab Oktober 1916 gemeinsam mit
französischen, italienischen und russischen Truppen an der Schlacht um Monastir teilnahmen. Vgl.
Mitrovič, Serbia’s Great War, S. 151–168.
90 Badinski, Aus großer Zeit, S. 35.
91 Ebd., S. 35f.
92 „,Die Serben kommen!‘ Und richtig, sie kamen, und zwar in dicken Haufen. Lehmgelbe Gestalten mit
Stahlhelm und aufgepflanztem Bajonett krabbelten, jede Felsnische, jedes Postenloch und verlassene
Grabenstück absuchend, den Berg zu unserer Höhe herauf. Was war das Leben in diesem Moment
noch wert?“ Badinski, Tagebucheintrag vom 12.11.1916, zit. nach: Badinski, Aus großer Zeit, S. 49.
Herausforderung Balkan
Als Général Sarrail am 11. Dezember 1916 die Offensive seiner Orient-Armee offiziell für beendet erklärte, hatte sich die Front nördlich von Bitola bereits wieder stabilisiert und verharrte nunmehr im unbeweglichen Stellungskrieg. Obwohl die Schlacht
im Cernabogen während der Herbstmonate bei den eingesetzten deutschen Einheiten
einen hohen Blutzoll gefordert hatte, war dies nur ein Vorgeschmack auf die in den Folgejahren stattfindenden Kämpfe am makedonischen Kriegsschauplatz, gestalteten sich
diese für die deutschen Soldaten noch verlustreicher.93 Allerdings hinterließen sie einen
Einschnitt im Selbstverständnis der deutschen Balkantruppen, beteiligten sie sich gewissermaßen als Feuerwehr aktiv daran, die bulgarischen Linien wieder zu schließen. Darüber hinaus führte ein während der Schlacht vollzogener Kommandotausch zwischen
1. bulgarischer und deutscher 11. Armee dazu, dass Letztere nun am rechten Frontflügel
lag und den Abwehrerfolg als das Wirken der eigenen Führung induzierte.94
Noch so mancher „Anblick des Grauens“95 sollte in den kommenden zwei Jahren
auf die deutschsprachigen Kombattanten in Makedonien warten. Das Erscheinungsbild des grundsätzlich als tapfer, aber schlecht geführt eingeschätzten bulgarischen
Bündnisgenossen,96 mit denen sie die Schützengräben belegten, war grundsätzlich kein
solcher Eindruck. Doch bestanden beträchtliche Unterschiede innerhalb der Streitkräfte,
die naturgemäß auch einen gänzlich gemischten Eindruck hinterließen, immerhin gab es
„neben zerlumpten Horden, aus den unterworfenen Gebietsteilen zwangsweise zusammengetrieben, vorzügliche Truppenteile alten Stammes.“97 Im Mai 1917 bot sich allerdings Leutnant Hans Paulssen im Zuge einer Inspektion bei den bulgarischen Stellungen
am Dobropolje ein derartiger Anblick des Grauens: „Die Leute zwischen den Felsen
eingeklemmt, durchfroren, ohne Verpflegung, die Angst vor dem kommenden ArtillerieFeuer auf den Mienen. Kein Unterstand, kein Graben, nichts. Dazwischen unbeerdigte Leichen. Die Soldaten mit so verdreckten Gewehren, daß sie nicht daraus schießen
konnten, ohne die geringste Subordination, nur noch Haufen menschlichen Elends.“98
Aus dem zitierten Auszug des Tagebuchs wird auch ein Umstand offensichtlich,
den die im Schützengrabenkampf erfahrenen deutschen Verbündeten an den Bulgaren
93 Die Angaben der deutschen Verluste belaufen sich von 1.10.1915 bis 10.6.1917 am makedonischen
Kriegsschauplatz auf insgesamt 771 Offizieren und 30.051 Mannschaften (davon gefallen 58 bzw.
4.970). Schätzungen der Verluste während der Monate Oktober bis November 1916 geben etwa 8.000
Mann an. Einen beinahe gleich hohen Blutzoll verzeichneten deutsche Truppen allerdings später in
einem kürzeren Zeitrahmen und bei geringerer Mannstärke (1.6.1917 bis 28.2.1918) mit 515 (98) Offizieren und 22.389 (3.001) Mannschaften: BArch-MA, PH 3/936, Anlage 1 bzw. 2, Verluste deutscher
Truppen bei verbündeten Heeren, 26.11.1918.
94 Am 26. September wurde der Kommandowechsel vollzogen. Strutz äußert sich dazu: „Die Leitung
der Abwehr der Offensive Sarrails ging also in deutsche Hand über, und es ist kennzeichnend für den
Ruf der deutschen Führung, daß allein diese Tatsache auf den bulgarischen Bundesgenossen beruhigend wirkte.“ Strutz (Bearb.), Herbstschlacht in Macedonien, S. 21–27, hier besonders S. 23. Siehe
auch Enne, Bulgarien als Verbündeter der Mittelmächte, S. 77, sowie Broucek (Hg.), Ein österreichischer General gegen Hitler, S. 328f.
95 Bericht eines Jägers der R.[adfahrer] K.[ompanie] über das Gefecht am 18.11.1916 auf der Höhe
1212. Badinski, Aus großer Zeit, S. 54.
96 Stein, „Wer das nicht mitgemacht hat, der glaubt es nicht.“, S. 278.
97 Schede, Als Arzt in Mazedonien, S. 7.
98 Rauh-Kühne, Gelegentlich wurde auch geschossen, S. 154.
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immer wieder bemängelten.99 In ihrem Bewusstsein waren gut befestigte Linien nicht
nur wesentlich und effektiv für den Kampf, sondern auch für den einzelnen Soldaten
überlebenswichtig; eine Einsicht, die den Bulgaren weitgehend fehlte, wie ebenso Jansa
beobachtete: „Sie waren von Natur aus bequemer veranlagt, und besonders der Ausbau
von Verteidigungsstellungen fand bei ihnen keine Gegenliebe.“100 Das Stellungssystem
in den makedonischen Bergen zeigte trotz stetigem Ausbau, der überdies durch die nur
marginal auftretenden Verschiebungen der Frontlinien begünstigt wurde, noch im Jahre
1918 erhebliche Mängel auf. „Die Schützengräben waren nicht das, was man sich im
allgemeinen darunter denkt. Bei dem harten Felsboden und dem spärlichen Sprengstoff
hatten die Gräben meist nur eine Tiefe von 25–30 cm. Als Wall waren feindwärts Steine aufgerichtet […] Auch fehlte es an Fliegerdeckung, weshalb die Gegner nicht allzu
schweres Schießen gegen uns hatten, da ja die Batterien meist einzusehen waren. Daher
auch die vielen Verluste an Material und Mannschaften!“101
Am Balkankriegsschauplatz kamen ferner auch die an anderen Fronten entwickelten
innovativen Kampftaktiken für den Stellungskampf, wie beispielsweise Stoßtruppunternehmungen, zum Einsatz. So war man – allerdings nicht immer mit durchschlagendem
Erfolg – eifrig darum bemüht, den bulgarischen Soldaten die moderne Kriegsführung
im Rahmen von Kursen näherzubringen.102 Die von ihnen durchgeführten Stoßtrupps
stießen hingegen bei den beobachtenden Verbündeten oftmals auf Befremden: „Bei den
beiden letzten Patrouillen haben die Bulgaren wieder keine lebenden Gefangenen mitgebracht. Ein tolles Volk, sie können nun mal nicht anders.“103 – Mit dieser Einstellung war
Schede nicht allein, registrierten deutsche Militärs des Öfteren bestürzt Gewalttätigkeiten seitens des Verbündeten, um sie als balkantypische Sitte abzutun.104
Doch nicht nur die Kriegsgegner, die Topografie, die Versorgungsknappheit – und
gelegentlich auch die Verbündeten selbst – setzten den deutschsprachigen Balkantruppen
zu; es gesellte sich ein anderer „Feind“ in Form der Anopheles zu den Opponenten. Besonders in den heißen Sommermonaten grassierte das Malaria-Fieber unter den Soldaten
und führte zu hohen Ausfällen,105 sodass dieser Faktor nicht unwesentlich die Kriegsführung in Makedonien beeinflusste. Um dem vorzubeugen, mussten als Prophylaxe
Chinin-Tabletten unter Aufsicht eingenommen werden. „Der Malariaspuk ging um. Jeder mußte pflichtmäßig Chinin schlucken, täglich 3–4 Tabletten. Ein scheußlich bitterer
99 Foerster (Hg.), Mackensen, S. 266. In den Erinnerungswerken blieb der nur mangelhaft ausgebaute
Zustand der Stellungen meist unkommentiert, allerdings bietet die Beschreibung der sogleich nach
Bezug der Stellungen begonnenen umfangreichen Verbesserungsarbeiten Rückschluss auf die Mängel. Siehe etwa: Kriegsgeschichte des Reserve-Jäger-Bataillons Nr. 15, S. 159f. und S. 173.
100 Broucek (Hg.), Ein österreichischer General gegen Hitler, S. 315.
101 Walter Reith, Von Monastir durchs Amselfeld. Rückzug 1918. Neuß 1934, S. 6.
102 Kirch, Krieg und Verwaltung, S. 93 und S. 95. Auch in anderen Fertigkeiten wurde der Bündnisgenosse ausgebildet, wie etwa als Sanitätshundeführer. Siehe dazu ÖStA, KA, AhOB, Militärattachés,
Sofia, Akten, 90 Reservats Akten 2501­–3000 von 1916 (1916), 2978, Übergabe der bulg. Sanitätshundeführer in Sofia.
103 Schede, Als Arzt in Mazedonien, S. 68.
104 Stein, „Wer das nicht mitgemacht hat, der glaubt es nicht.“, S. 278.
105Im Sommer 1916 führte die Malaria zur Kampfunfähigkeit ganzer Truppenteile, durch Vorbeugemaßnahmen litten in den Sommermonaten 1917 und 1918 „nur“ noch 10 bis 20% der Truppen am
Tropenfieber: Mühlens, Kriegshygienische Erinnerungen, S. 547 und S. 560.
Herausforderung Balkan
Teufelsdreck. Doch der strenge Medizinmann sagte kategorisch: Das müßte sein. […]
Erst als nach wenigen Tagen die ersten malariaverdächtigen Kandidaten zur Revierstube
erschienen, hörte das Schimpfen auf und jeder schluckte gerne seine Tabletten.“106
Auch die Verwendung von Moskitonetzen und die Vernichtung von Brutstätten besagter Stechmücke konnte keine endgültige Beseitigung des Tropenfiebers garantieren,
denn „die Herabsetzung der Widerstandsfähigkeit der Frontsoldaten durch die Kriegsstrapazen und die dadurch erhöhte Malariaempfänglichkeit sowie weiterhin die fast täglich erfolgenden Reinfektionen“107 sorgten für regen Betrieb in den Malaria-Baracken
der Lazarette.108
Erfahrungswelten: Ausblick
„Man merkte überall: es muß jetzt irgendeine Entscheidung, und wahrscheinlich eine
schlimme für uns, kommen. […] Diese Vorahnungen lasteten auf uns alle unbewußt.
[…] – Und eines Tages saßen wir mitten im Zusammenbruch drin.“109 Nach den schicksalshaften Tagen an der makedonischen Front im September 1918110 begann nicht nur
der Abschied Bulgariens vom Krieg, sondern gleichzeitig auch jener der verbliebenen
deutschsprachigen Soldaten vom Balkan. Der lange Zeit als stabil eingestufte Nebenkriegsschauplatz beschleunigte schlussendlich die Entwicklung, an deren Ende das
Deutsche Reich – um seine Bündnispartner gekommen und an der Westfront hart bedrängt – ebenso um Waffenstillstandsverhandlungen bitten musste. Zuerst noch auf ihrem geordneten Rückzug Richtung Belgrad, endete für die deutschen Balkankrieger der
Krieg schon ein paar Wochen eher – im Chaos auf dem Weg in die Heimat durch das
auseinanderdriftende Habsburgerreich.111
Auf dem Boden der Realität und zumeist in der Weimarer Republik angekommen,
begann für die deutschsprachigen Soldaten die Aufarbeitung ihrer Kriegserlebnisse. Aus
der Retrospektive stellten sich die erbrachten Opfer als vergebens heraus, nichtsdestoweniger – oder gerade deshalb – stand oftmals der Versuch, die Erfahrungswelten mit
kontemporären und sinnstiftenden Argumenten zu hinterlegen. Im Falle der Balkanveteranen gesellte sich zu einem gewissen Geltungsdrang, in den allgemeinen Diskursen
nicht übersehen zu werden, auch das Bedürfnis, die Besonderheit des Kriegsschauplatzes mit all seinen Strapazen herauszustreichen. Bereits in der Frühphase nach dem Krieg
publizierten ehemalige Kämpfer in Makedonien ihre Erinnerungen,112 selbst das Reichs106 Badinski, Aus großer Zeit, S. 27.
107 Mühlens, Kriegshygienische Erinnerungen, S. 547.
108 Auch Stenger wurde von der Malaria infiziert: Stenger, Kriegstagebuch, S. 98–100.
109 Schede, Als Arzt in Mazedonien, S. 121.
110Siehe dazu Richard C. Hall, Balkan Breakthrough: The Battle of Dobro Pole 1918. Bloomington
2010; Martin Marix Evans, Forgotten Battlefronts of the First World War. Thrupp – Stroud 2003,
S. 217–250, sowie Karl Dieterich (Bearb.), Weltkriegsende an der mazedonischen Front. Schlachten
des Weltkrieges. Bd. 11. Oldenburg i. O. – Berlin 1925.
111 Siehe hierzu Ferdinand von Notz, Deutsche Anabasis 1918. Ein Rückzug aus dem bulgarischen Zusammenbruche in Mazedonien. Berlin 1921.
112 Beispiele für frühe Werke – teils im Selbstverlag, teils institutionell veranlasst – sind beispielsweise
Armee-Ober-Kommando (Hg.), Mazedonien. Ein Erinnerungswerk an die Mitkämpfer auf dem maze-
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archiv widmete zwei Bände seiner Reihe „Schlachten des Weltkrieges“ der südöstlichen
Front.113 War für den Großteil der Soldaten Makedonien nur eine kleine Episode eines
insgesamt größeren Kriegserlebnisses, so nahm er bei dauerhaft am Balkan eingesetzten
erklärlicherweise die zentrale Stellung ein. Im Vorwort seines publizierten Kriegstagebuchs offenbart etwa Schede seine Motivlage folgendermaßen: „Aber auch mir liegt
daran, ein Bild des deutschen Lebens fern von der Heimat zu geben, ein erschütterndes
Bild deutschen, zähen, vergeblichen Ringens auf ferner Erde, ungekannt und selten gewürdigt. Nicht die glanzvollen Bilder des Serbenfeldzuges von 1915, sondern das zähe
Ringen und Arbeiten der folgenden Jahre bis zum Zusammenbruch.“114
Symptomatisch ist, dass sie oftmals ihre Leistung nicht gebührend gewürdigt sahen
– eine Argumentationslinie, die bereits während des Krieges festzustellen ist.115 Dabei
boten die gesammelten Erfahrungswelten am Balkan im Gegensatz zu anderen Kriegsschauplätzen mehr Nuancen: den Kontrast zwischen ökonomisch unterentwickelter Region und moderner Kriegsführung, den als Reise- und Kulturerfahrung verstandenen
Kontakt mit fremden Regionen und Völkern, die Kooperation mit einer eigenwilligen
Militärkultur und -organisation, die prekären hygienischen und gesundheitlichen Verhältnisse, die Bewältigung der Kriegsanstrengungen den widrigen Bedingungen zum
Trotz. Aus diesem Repertoire schöpften auch die ad hoc geschaffenen, folglich tradierten wie später verfassten Schriftstücke, naturgemäß mit divergierenden konsultierenden
Aufmachungen und individuell verschiedenen Gewichtungen. Der Hauch exklusiver
Exotik, den nicht jeder Kriegsteilnehmer für sich beanspruchen konnte, war den ehemaligen Soldaten im „Orient“ gewiss.
Das Bewusstsein jedenfalls, an einem außerordentlichen Kriegsschauplatz gedient
zu haben, festigte sich schon während des Einsatzes und blieb auch nach dem Krieg fest
verankert. „Wenn Macedoniens kahle Bergriesen sprechen könnten, von Heldentaten
und Heldenleiden – ohnegleichen würden sie erzählen“116, so reüssiert die offizielle Darstellung. Schlussendlich taten es die Kriegsteilnehmer selbst.
donischen Kriegsschauplatz. Berlin 1918; Franz Doflein, Mazedonien. Erlebnisse und Beobachtungen
eines Naturforschers im Gefolge des deutschen Heeres. Jena 1921; Notz, Deutsche Anabasis 1918.
Abgesehen von den Regimentsgeschichten setzte ab den 1930er Jahren eine rege Publikationstätigkeit
ein, siehe u.a. A. Peters, Die Höhe 1050 bei Monastir in Mazedonien. Oktober 1916 bis Juli 1917.
Heide/Holstein 1933; Schede, Als Arzt in Mazedonien, sowie auch der Roman von Hans Ehrke, Makedonka. Ein Buch der Balkanfront. Roman. Braunschweig – Berlin – Hamburg 1938.
113 Siehe die Bände 5 und 11 der vom Reichsarchiv herausgegebenen Reihe „Schlachten des Weltkrieges,
nämlich: Strutz (Bearb.), Herbstschlacht in Macedonien; Dieterich (Bearb.), Weltkriegsende an der
mazedonischen Front.
114 Vorwort, S. [II], in: Schede, Als Arzt in Mazedonien.
115 Schede, Als Arzt in Mazedonien, S. 54.
116 Strutz (Bearb.), Herbstschlacht in Macedonien, S. 112.
Russlands Kriegserfahrungen an der Ostfront,
1914–1921
Evgenij J. Sergeev
Einführung
Die Untersuchung der folgenreichen Erfahrungen Russlands auf den Schlachtfeldern
des Ersten Weltkriegs und der unmittelbar darauffolgenden bewaffneten Konflikte stellt
für die Historiografie in ihrem gegenwärtigen Entwicklungsstadium eine wichtige Aufgabe dar. Drei Aspekte bedingen deren Bedeutung: Erstens die durch die Öffnung bislang unzugänglicher Archive deutlich verbesserte Quellenlage; zweitens das Auftreten
einer neuen Historikergeneration, die von früheren ideologischen Vorurteilen frei und
mit komparativen Forschungsmethoden vertraut ist; und drittens das Verschwinden von
Hindernissen, die in der Vergangenheit die internationalen wissenschaftlichen Kontakte
erschwert haben, in Verbindung mit der rasch wachsenden Verfügbarkeit von Informationen in den globalen Computernetzen.
Wenn man jedoch die vorliegenden Monografien und Aufsätze, soweit sie der Analyse der Ereignisse auf dem osteuropäischen Schauplatz des Großen Krieges gewidmet
sind, in Betracht zieht, so kommt man leider zu dem wenig tröstlichen Schluss, dass
ihre Anzahl, vor allem in der westlichen Historiografie, relativ gering ist, und ihr thematischer Fokus entweder auf der Beschreibung des militärischen Ablaufs oder der Untersuchung der revolutionären Umwälzungen der russischen Gesellschaft, die im März
1918 zum Ausscheiden Russlands aus dem Krieg geführt haben, liegt.1 Was Gesamtdarstellungen der Geschichte des Ersten Weltkriegs betrifft, so widmen europäische und
amerikanische Historiker der Ostfront in der Regel nur ein oder zwei Kapitel, ohne den
Anspruch zu erheben, deren Rolle nicht nur für den Sieg der Entente auf dem Schlachtfeld umfassend zu analysieren, sondern auch für die nachfolgenden Veränderungen in
der sozialen und politischen Landschaft Mittel- und Osteuropas.2
1
2
Norman Stone, The Eastern Front, 1914–1917. New York 1975 (Zweite und dritte Auflage: London
1998 bzw. 2004); Peter Gatrell, Russia’s First World War. A Social and Economic History. Harlow
1991; Geoffrey Jukes, The First World War. The Eastern Front, 1914–1918. Oxford 2002; Sean McMeekin, The Russian Origins of the First World War. Cambridge, Mass. 2011.
Siehe z.B.: John Keegan, The First World War. London 2000; Gerard De Groot, The First World War.
Basingstoke 2001; Hew Strahan, The First World War. Oxford 2001; David Evans, The First World
War. London 2004 etc.
306
Evgenij J. Sergeev
In der sowjetischen Historiografie, deren Vertreter, sofern sie aus ideologischen Motiven den Ersten Weltkrieg nicht überhaupt ignorierten, den Arbeiten ehemaliger Kriegsteilnehmer, die nach dem Bürgerkrieg aus Russland emigriert waren, mit großer Skepsis
begegneten, verbessert sich die unbefriedigende Situation bei der Erforschung der Ereignisse der Jahre 1914–18 erst mit dem Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert.3 In den
letzten Jahren sind einige substanzielle Studien erschienen, die einen Paradigmenwechsel in Richtung des Konzepts eines Zweiten Vaterländischen Krieges anzeigen, das unter
Fachleuten immer mehr Anhänger gewinnt.4
Um das die Vorstellungskraft sprengende Bild des totalen Kriegs in diesem Teil
Europas rekonstruieren zu können, erscheint es notwendig, jene Probleme, die die Geschichte des militärischen Konflikts zwischen Russland und den Mittelmächten an der
Ostfront betreffen, zu umreißen. Diesem Ziel soll die vorliegende Arbeit dienen, indem sie die allgemeinen Probleme der Entstehung, der Transformation und des Zusammenbruchs der Ostfront im Kontext der Organisation und Führung des Koalitionskriegs
durch die Entente analysiert.
Hervorgehoben sei, dass das Hauptaugenmerk der Lage Russlands an der Frontlinie
mit Deutschland und Österreich-Ungarn gilt, während die Entwicklung der Ereignisse
an der Kaukasischen Front, wo immer wieder langanhaltende und erbitterte Kämpfe
zwischen russischen und türkischen Truppen stattfanden, nicht Gegenstand dieser Arbeit
ist. Auch wenn diese Einschränkung als willkürlich gesehen werden mag, so spiegelt
sich darin die Wahrnehmung der Ostfront durch das österreichisch-ungarische und deutsche Kommando, ja auch die zarischen Strategen, wie dies sowohl in den operativen
Dokumenten der Stäbe der unterschiedlicher Ebenen als auch in den Memoiren der unmittelbar an den Kämpfen Beteiligten zum Ausdruck kommt.
Die Ostfront als geostrategische Realität
Unter „Ostfront“ verstanden die Strategen beider Bündnisse den Gebietsstreifen, auf
dem die Kriegshandlungen zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer (nach dem
Kriegseintritt Rumäniens am 27. August/9.September 1916) stattfanden und der sich
über eine Länge von 850–900 Kilometern zu Kriegsbeginn und von mehr als 1600 Kilometern Ende 1917 erstreckte. Die operative Tiefe der Ostfront betrug maximal 500
Kilometer in einzelnen Phasen des Manöverkriegs, z.B. während der deutsch-österreichisch-ungarischen Offensive 1915. Eine wesentliche Besonderheit zu Kriegsbeginn
lag darin, dass die deutsch-russische und österreichisch-russische Grenze nicht entlang
natürlicher Barrieren verlief sowie in der Existenz der sogenannten „Polnischen Aus3
4
Genauer siehe: N. A.Šubin, Rossija v Pervoj mirovoj vojne: istoriografija problemy (1914–2000).
Мoskau 2001.
V. K Šacillo, Poslednjaja vojna carskoj Rossi. М.: Jauza, Eksmo 2010; S. N. Bazanov, Za čest‘ i
veličie Rossii, in: R. G. Garkuev (Hg.), Zabytaja vojna. Мoskau 2011, S. 333–461; Je. N. Rudaja
(Hg.), Zabytaja vojna i predannye geroi. Мoskau 2011; E. Ju. Sergeev, Pervaja mirovaja vojna –
prolog istorii ХХ v., in: Pervaja mirovaja vojna. vzgljad spustja stoletie. Materialy meždunarodnoj
konferencii „Pervaja mirovaja vojna i sovremenyj mir“ (26.–27. Mai 2010, Moskau). Мoskau 2011,
S. 6–17.
Russlands Kriegserfahrungen an der Ostfront, 1914–1921
buchtung“, eines Gebiets, das an ein Quadrat erinnerte und sich von Ost nach West über
mehr als 400 Kilometer, von Nord nach Süd über etwa 500 Kilometer erstreckte. Ein
weiteres Charakteristikum war die geringe Anzahl von strategisch bedeutenden Hindernissen landschaftlicher Art. Von Nord nach Süd waren dies die Masurischen Seen in
Ostpreußen, die Linie entlang der Flüsse Memel, Bober, Narew und Weichsel auf dem
Gebiet von Kongresspolen, das sumpfige Waldgebiet von Polesien in Weißrussland,
der Karpatenkamm in Galizien und schließlich, ab Herbst 1916, die Flüsse Seret und
Pruth in Rumänien und Bessarabien. Dieser Umstand veranlasste die Kriegsministerien
Russlands, aber auch Deutschlands und Österreich-Ungarns, in den Vorkriegsjahren zu
bedeutenden Anstrengungen beim Bau von Festungen und anderen befestigten Anlagen,
die die natürlichen Hindernisse verstärken und einen feindlichen Angriff aufhalten oder
zumindest verzögern sollten. Während auf deutschem Gebiet unter anderem Königsberg, Danzig, Thorn, Marienburg und Graudenz zu derart befestigten Plätzen ausgebaut
wurden, und innerhalb Österreich-Ungarns dies Krakau, Przemyśl und in gewissem Umfang auch Lemberg waren, so hatten die Russen entsprechend starke Befestigungen im
Umkreis von Kaunas, Osowiec, Nowogeorgijewsk und Brest-Litowsk angelegt (der Bau
der Festung Grodno war bei Kriegsbeginn gerade in Gang). Festzuhalten ist, dass trotz
der ursprünglichen Bildung von zwei Fronten – der Nordwest- und der Südwestfront,
wobei sich Erstere ab August/September 1915 in eine Nord- und eine Südfront teilte
–, zu denen nach dem Kriegseintritt Rumäniens noch die Rumänische Front kam, der
russische Generalstab und das Hauptquartier des russischen Oberkommandierenden den
osteuropäischen Kriegsschauplatz in ihren strategischen und operativen Plänen in fünf
Operationsbezirke unterteilten: den Zentralen oder Weichsellandbezirk (Kongresspolen), den Nördlichen Bezirk (zwischen der Ostsee und der nördlichen Grenze Polesiens),
den Südwestlichen Bezirk (zwischen der südlichen Grenze Polesiens und den Karpaten),
Polesien (das Gebiet zwischen Nördlichem und Südlichem Bezirk) und den Südlichen
Bezirk (zwischen den Karpaten und dem Schwarzen Meer).5
Abschließend sind bei der Beschreibung der strategischen Besonderheiten der Ostfront noch zwei bedeutsame Faktoren zu erwähnen: der stark ausgeprägte saisonale
Charakter der Angriffs- und Verteidigungsoperationen, die hauptsächlich im Sommer,
seltener im Winter stattfanden, sowie die starke Abhängigkeit der Geschwindigkeit, mit
der die Truppen zu den Kampfhandlungen verlegt werden konnten, von der jeweiligen
logistischen Infrastruktur, deren Basis die Eisenbahn bildete. Die ungleiche Ausgangslage der Kriegsgegner an der Ostfront illustriert der Umstand, dass von Deutschland
und Österreich-Ungarn aus 32 Eisenbahnlinien zur russischen Grenze führten, während
es vonseiten Russlands nur 13 waren. Dementsprechend konnten die Deutschen täglich
550 Truppentransporte an die Front bringen, die Österreicher 226, die Russen aber nur
223.6
5
6
I. I. Rostunov, Russkij front Pervoj mirovoj vojny, 1914–1917 gg. Мoskau 1976, S. 61.
Ebd., S. 103. Genauer siehe: Anthony Heywood, The Most Catastrophic Question. Railway Development and Military Strategy in Late Imperial Russia, in: T. G. Otte – Keith Neilson (Hg.), Railways and
International Politics: Paths of Empire, 1848–1945. London 2006, S. 45–67.
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Die große Ausdehnung sowie die schwierigen natürlichen und klimatischen Bedingungen der Ostfront ergaben von vornherein im Vergleich zur Westfront eine geringere
Truppendichte pro Quadratkilometer. In Verbindung mit dem festen, lehmigen Boden,
der es den Soldaten unmöglich machte, tiefe Verteidigungsgräben auszuheben, führte
dieser Umstand zu einer relativ hohen Beweglichkeit im Verlauf der gesamten Kriegshandlungen. Gerade an der Ostfront wurden großangelegte strategische Durchbrüche
zur tiefen Umfassung der gegnerischen Truppen wie in der Schlacht von Tannenberg
1914 möglich, oder auch der Generalangriff der österreichisch-deutschen Truppen im
Frühjahr und Sommer 1915, oder der Vorstoß der Armeen der Südwestlichen Front unter
General Brusilov in Galizien im Sommer 1916.
Periodisierung der Kampfhandlungen an der Ostfront
Die Frage der Periodisierung des bewaffneten Kampfes auf dem osteuropäischen
Schauplatz wird durch eine Reihe von Faktoren, die nicht außer Acht zu lassen sind,
erschwert.
Vor allem gilt es festzuhalten, dass die Russen, obwohl sie im Ersten Weltkrieg Teil
einer Koalition waren, im Unterschied zu den Franzosen oder Engländern an der Westfront, oder den Italienern im Konflikt mit den österreichisch-ungarischen Truppen, gezwungen waren, den Kampf alleine zu führen, ohne „die Schulter des Verbündeten“ zu
spüren und ohne die euphorischen Gefühle, wenn an der Hauptkampflinie frische Truppen aus Australien, Neuseeland, Kanada oder den afrikanischen Kolonien, und in der
entscheidenden Phase im Frühling und Sommer 1918 auch aus den USA, eintrafen. Die
wenigen Einheiten, die mit den Russen an der Ostfront kämpften – britische U-BootBesatzungen, ein belgisches Panzerfahrzeug-Bataillon oder ein französisches Fliegergeschwader – konnten das Fehlen eines unmittelbar gemeinsamen Vorgehens von Entente
und Russland nicht wettmachen. Versuche, dieses „Vakuum“ 1917 mit Lieferungen von
Waffen und Transportmitteln (hauptsächlich von Lokomotiven) zu füllen, kamen zu spät
und bewirkten zudem – nach der Machtübernahme durch die Bolschewiken und deren
Separatfrieden mit den Mittelmächten – die Intervention der Entente. Insofern stößt der
Versuch einer Synchronisierung der einzelnen Kriegsetappen an der Ostfront mit jenen
an den anderen Fronten des Großen Krieges zum Zweck einer allgemein gültigen Periodisierung auf nicht geringe Schwierigkeiten.7
Die Lage verkompliziert sich zudem durch die Verflechtung innen- und außenpolitischer Ereignisse, insbesondere die Auswirkungen, die die tiefgreifende soziale und
politische Krise, die das Russische Reich 1914–1918 erfasste, auf den Verlauf des Krieges hatte. Es ist offensichtlich, dass der wesentliche Grund für den Zusammenbruch des
autokratischen Regimes im erzwungenen Übergang zum totalen Krieg vor dem Hintergrund einer nicht abgeschlossenen industriellen Modernisierung und einer generellen Verspätung der Entstehungsprozesse einer Zivilgesellschaft, die einem anhaltenden
7
Jeduha L. Wallach, Uneasy Coalition. The Entente Experience in World War I. Westport 1993.
Russlands Kriegserfahrungen an der Ostfront, 1914–1921
Zermürbungskrieg hätte standhalten können, lag.8 Doch waren die revolutionären Ereignisse zwischen Februar und Oktober 1917, die erst zum Zusammenbruch und dann zur
Demobilisierung der alten Armee führten, nicht der Hauptgrund für die Liquidierung
der Ostfront, da die deutschen und österreichischen Truppen, die im Frühling 1918 weite Gebiete im Baltikum, in Weißrussland, in der Ukraine und im Kaukasus besetzten,
selbst nach dem Friedensschluss von Brest-Litowsk im Bereich des ehemaligen osteuropäischen Kriegsschauplatzes etwa eine Million Soldaten und Offiziere, wenn auch
hauptsächlich aus Reservisteneinheiten, halten mussten. Es besteht Grund zur Vermutung, dass Wilhelm II. gerade diese Truppen fehlten, um im ersten Halbjahr 1918 den
entscheidenden Angriff an der Westfront zu führen.
Unter Berücksichtigung des Gesagten können die Kriegshandlungen in Osteuropa
in folgende Perioden eingeteilt werden: die Periode des Kriegsbeginns von August 1914
bis Frühling 1915, als es in Russland vor dem Hintergrund beweglich geführter und
von wechselhaftem Erfolg gekrönter Operationen der feindlichen Armeen eine heftige
patriotische Begeisterung gab; die zweite Periode im Sommer und Herbst 1915, als in
Zusammenhang mit den schweren Niederlagen an der Front und großen Gebietsverlusten im Westen des Reichs die sozialen und politischen Spannungen in der russischen
Gesellschaft deutlich stiegen; die dritte Periode von Frühling bis Herbst 1916, die durch
fortschreitende allgemeine Kriegsmüdigkeit, den Beginn der Krise der Führungsschichten und die Zermürbung des moralischen Potenzials der zarischen Armee nach der durch
die Brusilov-Offensive kurzzeitig hervorgerufenen Euphorie gekennzeichnet war; die
vierte Periode von Februar bis Oktober 1917, die im Zeichen der Versuche einer Demokratisierung und der Bildung einer neuen revolutionären Armee auf der Grundlage von
Freiwilligkeit und Aktivistentum stand, wobei vonseiten der Alliierten breite materielltechnische Unterstützung geleistet wurde, die jedoch eindeutig zu spät kam; schließlich
die abschließende fünfte Periode von November 1917 bis November 1918, als die (erst
durch den Waffenstillstand, dann durch den Friedensschluss erfolgte) Beendigung des
bewaffneten Kampfs an der Ostfront im juristischen Sinne nicht ihr Verschwinden aus
den strategischen Plänen der beiden Koalitionen bedeutete, wenn man sich den Ausbruch neuer lokaler Konflikte in Osteuropa nach dem 11. November 1918 vor Augen
hält: in den baltischen Ländern, zwischen Polen und Litauen, Polen und Sowjetrussland,
um Oberschlesien, Triest usw.9
8
9
Laut statistischen Daten lebten 1914 85% der russischen Bevölkerung in den Dörfern und ihr Alphabetisierungsgrad lag zwischen 14,8% im Gouvernement Pensa und 41,7% im Gouvernement Moskau.
Siehe: A. V Golubev, Poršneva O. S. Obraz sojuznika v soznanii rossijskogo obščestva v kontekste
mirovych vojn. Мoskau 2012, S. 73.
Siehe: Davido Artico – Brunello Mantelli (Hg.), From Versailles to Munich. Twenty Years of Forgotten Wars. Wroclaw 2010.
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Evgenij J. Sergeev
Die Periode des Kriegsbeginns an der Ostfront und die
russische Gesellschaft
Obwohl der Krieg für den Großteil der Bauern und Arbeiter überraschend kam und die
orthodoxe Kirche darin die göttliche Strafe für die vielen Sünden der Menschen sah, bewirkte die Ausweitung des vorerst lokalen bewaffneten Konflikts zwischen ÖsterreichUngarn und Serbien zu einem europäischen und später Weltkrieg unter allen sozialen
Schichten des Russischen Reichs eine patriotische Begeisterung, die der Zarenherrschaft
vorübergehend einen praktisch unbeschränkten Vertrauensvorschuss einräumte, da nur
sie in der Lage war, den Feind in gebührender Weise in die Schranken zu weisen. Obgleich über alle kriegführenden Staaten eine unglaubliche Welle nationaler Gefühle
hinwegschwappte, die die Zeitgenossen als „Geist von 1914“ bezeichneten, kann der
russische Fall insofern als einzigartig betrachtet werden, als nur wenige Jahre zuvor ein
beträchtlicher Teil der Untertanen von Nikolaj II. aktiv für eine Beschränkung, wenn
nicht überhaupt Beseitigung seiner autokratischen Herrschaft eingetreten war. Wie es
ein Zeitzeuge, der bekannte Militärhistoriker Generalleutnant N. N. Golovin, formulierte: „Jeder, der Zeuge des Kriegs zwischen Russland und Japan gewesen war, kann
über den riesigen Unterschied zwischen 1904 und 1914 in den Gefühlen des Volks nur
staunen“.10
Im Manifest des Zaren, in den Ansprachen hochgestellter Politiker und anderer
Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, auf den Rednertribünen zahlreicher patriotischer Massenveranstaltungen, in propagandistischen Presseartikeln, überall wurde
erklärt, dass der Krieg an der Ostfront zur Verteidigung der Ideale von Freiheit und
Demokratie geführt werde, zur Unterstützung der kleinen Länder, die der deutschen und
österreichischen Aggression zum Opfer gefallen waren, zur Befreiung der unterdrückten Völker Europas, gegen die „teutonische Barbarei“ und die „seelenlose germanische
Maschinenzivilisation“.11 Repräsentativ für die in Gesellschaft und Armee verbreiteten
Vorstellungen vom Gegner war etwa folgendes Zitat: „Das deutsche Joch wird auch in
den Reihen der Unterdrückten Bosheit und Zwietracht bewirken und so auf ewig die
Bande des Blutes, des Glaubens und der Kultur zerreißen. Denn darin liegt das Geheimnis der deutschen Macht, dazu hat man dieses toll gewordene Volk angehalten – Schrecken und Zwietracht zu säen.“12 Außerdem spielten im Massenbewusstsein von den ersten Kriegstagen an die Ideen der slawischen Solidarität (mit Serbien und Montenegro),
der Bündnistreue gegen die deutsche und österreichische Aggression und der Verteidigung der Unabhängigkeit Russlands und seines Einflusses unter den Großmächten eine
merkliche Rolle. Viele Zeitgenossen waren der Auffassung, dass es gerade das Russische Reich war, dem die sakrale Mission zugefallen sei, die Welt vor dem „Deutschtum“
zu retten. Nicht zufällig wurde im Leitartikel einer einflussreichen Moskauer Zeitung
unterstrichen: „Der Krieg ist der Anfang einer neuen Epoche und eines neuen Lebens in
10 Zitiert nach Bazanov, Za čest‘ i veličie Rossii, S. 343.
11 Carskie slova k russkomu narodu. Vysočajšie manifesty ob ob’javlenii vojny s Germanijej i AvstroVengrijej. Pg.: Gosudarstvennaja tipografija, 1914.
12 G. Bostunič, Iz vražeskogo plena. Očerki spasšegosja. Istorija mytarstv russkogo žurnalista v Germanii. Pg.: Tip. B. P. Bondarenko i P.F. Gnezdovskogo 1915, S. 228.
Russlands Kriegserfahrungen an der Ostfront, 1914–1921
Europa; einer neuen Seite im Buch der Geschichte, wo das Schicksal der großen Völker
Europas auf dem Spiel steht. Es geht um die gesamte Zukunft, vom Heute hängen Leben
und Tod ganzer Staaten ab.“13
Neueste Forschungen russischer Historiker zeigen, dass in den ersten Kriegswochen
unter dem Einfluss der Propaganda nicht nur das Offizierskorps, die Unternehmerschaft
und die städtische Mittelschicht den Krieg unterstützten, sondern – trotz aller Mobilisierung – auch die überwiegende Mehrheit der Bauern und Arbeiter. Während sich
Erstere Hoffnungen auf eine Umverteilung des russischen Landbesitzes deutscher und
österreichischer Grundbesitzer, unter Einschluss der fruchtbaren Ländereien deutscher
Kolonisten in den südlichen Gouvernements machten, rechneten Letztere damit, dass
die Regierung neue Arbeitsplätze in der Verteidigungsindustrie schaffen würde.14 Wie
die Sozialdemokraten selbst eingestanden, war es 1914 und in der ersten Jahreshälfte
1915 fast unmöglich, unter der Arbeiterschaft pazifistische, geschweige denn defätistische Ideen zu propagieren, da man sich damit leicht Anschuldigungen einhandelte, den
Feind begünstigen zu wollen.15
Sehr bald fanden die Losungen vom gerechten Befreiungskrieg ihren schlüssigen Ausdruck im Konzept des Zweiten Vaterländischen (nach jenem von 1812) oder gar eines
Großen Vaterländischen Krieges der Völker Russlands gegen die Eroberer in Gestalt der
deutschen und österreichischen Truppen. Symbol dieser Stimmungen war die Umbenennung Sankt Petersburgs am 23. Juli (5. August) 1914 in Petrograd. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit aller sozialen Gruppen der russischen Gesellschaft sollte auch durch
die Verhängung eines allgemeinen Alkoholverbots auf dem gesamten Reichsgebiet gefördert werden.16 Wesentlich für die Ausformung der patriotischen Ideologie war der Beitrag
der Neoslawophilen, die im russischen Denken eine rechtskonservative philosophischreligiöse Strömung vertraten, die in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg an Anerkennung
gewonnen hatte. Ihrer Auffassung nach waren es das Bewusstsein der nationalen Einheit
einerseits und die Solidarität mit den fortschrittlichen europäischen Völkern (Franzosen,
Briten, Belgiern) andrerseits, die die russischen Soldaten auf den Schlachtfeldern beflügeln sollten. Charakteristisch für alle Neoslawophilen war ihre Voraussage, dass nach dem
Sieg über den Feind eine neue historische Ära anbrechen werde, in der West und Ost in
Europa alle einst trennenden Widersprüche überwinden würden.17
13 Moskovskie vedomosti, 22. Juli (3. August) 1914, Nr. 169. Zur Kriegsbegeisterung des größten
Teils der russischen Intelligenzija siehe: V. V. Noskov, „Vojna, v kotoruju my verim“: načalo Pervoj
mirovoj vojny v vosprijatii duchovnoj elity Rossii, in: Rossija i Pervaja mirovaja vojna. Materialy
meždunarodnogo naučnogo kollokviuma. Sankt Peterburg, 1. –5. Juni 1998. Sankt Petersburg 1999,
S. 147–159.
14 Bezüglich der Stimmung unter den Volksmassen zu Kriegsbeginn siehe: O. S. Poršneva, Krest’jane,
robočie i soldaty Rossii nakanune i v gody Pervoj mirovoj vojny. Moskau 2004, S. 86–103, 133–
149.
15 Ebd., S. 140.
16 Genauer zu Einführung und Umsetzung des Alkoholverbots siehe: A. Makki, „Suchoj“ zakon v gody
Pervoj mirovoj vojny: pričiny, koncepcii i posledstvija vvedenija „suchogo“ zakona v Rossii, 1914–
1917, in: Rossija i Pervaja mirovaja vojna, S. 147–159.
17 S. N. Trubeckoj, Otečestvennaja vojna i ee duchovnyj smysl publičnaja lekcija. Pg.: Tipografia I. D.
Sytina 1915; Ern V. F. Vremja slavjanofil’stvuet. Vojna, Germanija, Evropa i Rossija. Pg.: Tipografia
I. D. Sytina 1915; Runkevič S. G. Velikaja Otečestvennaja vojna i cerkovnaja žizn‘. Pg.: Tip. Troice-
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Festzustellen ist, dass diese patriotischen Stimmungen, wenn auch in geringerem
Maß, an der Front und im Hinterland noch mindestens zweimal aufflammen sollten:
im Frühling 1915, nachdem die russischen Truppen das gut befestigte Przemyśl eingenommen hatten, und im Sommer 1916, als an der Südwestlichen Front der Durchbruch
gelang, der zum Untergang Österreich-Ungarns hätte führen können. Zugleich nahmen
diese Stimmungen nach dem Misserfolg in Ostpreußen im Herbst 1914 und den schweren Niederlagen in Polen und Galizien im Sommer 1915, als es im Zusammenhang mit
der Suche nach inneren Feinden, der hysterischen Angst vor Spionen und einer negativen Einstellung gegenüber gewissen nationalen Minderheiten, insbesondere den Juden,
zu massenhaften Deportationen von Zivilpersonen kam, immer stärker einen offen germanophoben Charakter an.18 Obwohl es eine Welle von Pogromen, die sich gegen das
Eigentum von ausländischen Bürgern, wie auch ethnischer Deutscher und Österreicher,
in vielen Städten des Russischen Reiches schon in den ersten Wochen des Krieges gab,
erreichten sie ihren Höhepunkt Ende Mai, Anfang Juni 1915 in Moskau.19
Eine in der Anfangsphase des Krieges auffällige Erscheinung des öffentlichen Lebens war die Bildung oder Aktivierung einer Reihe von gesellschaftlichen Organisationen, die die Anstrengungen von Front und Hinterland zusammenführen sollten. Insbesondere sind hier der Allrussische Verband der Verwundetenhilfe (Vserossijskij sojuz
pomošči ranenym) unter Fürst G. E. L‘vov und der Allrussische Städteverband (Vserossijskij gorodskoj sojuz) unter dem Moskauer Stadtoberhaupt M. V. Čelnokov zu nennen
(im Juli 1915 vereinigten sich beide Organisationen zum Verband der Semstwos und
Städte, in russischer Abkürzung ZEMGOR). Zur selben Zeit errichtete der Sonderbevollmächtigte des Russischen Roten Kreuzes und Anführer der Partei der Oktobristen
A. I. Gučkov Feldlazarette für die kämpfende Armee. Einen markanten Platz unter den
von Freiwilligen gebildeten gesellschaftlichen Organisationen nahmen die Gesellschaft
für Kriegsopferhilfe (Obščestvo pomošči žertvam vojny), der Verband der Georgsritter
(Sojuz georgievskich kavalerov), das Komitee zur Hilfe für die Familien von Kriegsdienstpflichtigen (Komitet po okazaniju pomošči sem’jam lic, prizvannych na vojnu),
das Komitee „Bücher für Soldaten“ (Komitet „kniga – soldatu“) und andere ein. Erstmals in der Geschichte Russlands nahm die öffentliche Meinung trotz der Zensur im
Interesse der Verteidigung des Vaterlandes ernst zu nehmenden Einfluss auf das Wirken
der staatlichen Behörden.
Sergievskoj lavry, 1916. Genauer zum Wirken der Neoslawophilen siehe: V. V. Noskov, Pervaja mirovaja vojna i russkaja ideja, in: Dialog so vremenem. Al’manach intellektual’noj istorii. Nr. 25 (2),
2008, S. 51–87.
18 Die Fachleute nennen Daten, nach denen in den Jahren 1914–1917 von den zarischen Behörden aus
dem Gebietsstreifen an der Front etwa 1 Million Nichtkombattanten deportiert wurden, darunter
500.000 Juden und 300.000 deutsche Kolonisten. Siehe: P. Holquist, Total’naja mobilizacija i politika
naselenija: rossijskaja katastrofa (1914–1921) v jevropejskom kontekste, in:, Rossija i Pervaja mirovaja vojna, S. 89.
19 Eric Lohr, Nationalizing the Russian Empire. The Campaign against Enemy Aliens during World War
I. Cambridge – Mass. – London 2003, S. 31–54.
Russlands Kriegserfahrungen an der Ostfront, 1914–1921
Der Umbruch in der Wahrnehmung der Ereignisse an der Ostfront
Am Ende der Anfangsphase des Krieges stand das Bewusstsein von seinem langwierigen und totalen Charakter, der seinerseits zu der für die Ostfront so typischen Erscheinung des „Drückebergertums“ (škurničestvo) führte, wie man das Bestreben eines
Teils der Bevölkerung nannte, der Einberufung zum Wehrdienst zu entgehen, sich die
wirtschaftlichen Probleme zu Spekulationsgewinnen nutzbar zu machen oder auch sich
jenen Besitz anzueignen, dessen Eigentümer gefallen oder ausgewandert war oder als
ausländische Staatsbürger unter den Repressionen der Regierung zu leiden hatte. Eine
gewisse Rolle spielten dabei Gerüchte, die ab dem Sommer 1914 in Umlauf waren und
besagten, dass der Zar deutschen Grund und Boden konfiszierte, um ihn unter den Bauern zu verteilen, während man den Soldaten, die man für ihre Heldentaten mit dem
Georgskreuz ausgezeichnet hatte, ehemalige Landparzellen von Grundbesitzern zuteilen
würde, die Staatsangehörige Deutschlands oder Österreich-Ungarns waren, oder auch
von deutschen Kolonisten, die die Regierung aus den Gouvernements in Frontnähe hatte
aussiedeln lassen.20
Die Erschütterung des Glaubens, dass sich die Interessen der verschiedenen
Schichten der russischen Gesellschaft decken würden, begünstigte der vorübergehende Zusammenbruch an der Ostfront im Frühling und Sommer 1915, der den Rückzug
der zarischen Armee von der Ostsee bis zu den Karpaten sowie einen Flüchtlingsstrom von West nach Ost nach sich zog.21 Während der schweren Abwehrkämpfe
wurden die Befehlshaber und Offiziere der russischen Landstreitkräfte faktisch vollständig ausgetauscht. Anstelle gut ausgebildeter Kaderoffiziere und unterer Ränge
kamen immer neue Feldmarschkompanien an die Front, die aus schlecht ausgebildeten Reservisten unterschiedlicher Einsatzbereitschaft bestanden und von „Kriegsfähnrichen“ befehligt wurden, das heißt von Unterführern, die an Militäranstalten
oder speziellen Schulen in dreimonatigen Schnellsiederkursen ausgebildet wurden.
Im Endeffekt bildeten 1917 die Offiziere, die ihre Ausbildung und ihren Offiziersrang erst im Laufe des Kriegs erhalten hatten, die absolute Mehrheit.22 Was die Soldaten betrifft, so überwogen vor den revolutionären Ereignissen Reservisten der älteren
dienstpflichtigen Jahrgänge, hauptsächlich Bauern aus der Provinz, die des Lesens
und Schreibens nur wenig oder gar nicht kundig waren. Charakteristisch ist der Umstand, dass von den 15,8 Millionen, die während des Kriegs zu den Waffen gerufen
20 K. Mur, Zemlja za službu: krest’janskie predstavlenija o spravedlivosti i žertvennosti v Rossii v gody
Velikoj vojny, in: Pervaja mirovaja vojna. vzgljad spustja stoletie, S. 355–361.
21 Ende 1917 erreichte die Gesamtzahl der Flüchtlinge und Vertriebenen innerhalb der Grenzen des
Russischen Reiches fünf Millionen, ihre Rückkehr in ihre Heimatorte sollte sich bis 1924 hinziehen,
siehe: A. N. Kurcev, Beženstvo, in: Rossija i Pervaja mirovaja vojna, S. 140 und S. 144.
22 Während zu Kriegsbeginn die Gesamtzahl der russischen Offiziere 80.000 betrug, hatte die Armee
am 1. Jänner 1917 etwa 146.000 Offiziere. Zwischen August 1914 und April 1917 zählten die Militäranstalten, die Unterführer ausbildeten, 74.500 sowie die Fähnrichschulen 113.500 Absolventen:
Rossijskij gosudarstvennyj voenno-istoričeskij archiv (RGVIA), F.366, op.1, d.74, l.25; ebd., op.2,
d.214, l.79. Genauer siehe: A. V. Marynjak, Podgotovka oficerskich kadrov russkoj armii v gody
Pervoj mirovoj vojny, in: Zabytaja vojna i predannye geroi, S. 219–232. Eine detaillierte Analyse des
Offizierskorps in dieser Zeitspanne findet sich in der Monografie: I. N Grebenkin, Russkij oficer v
gody mirovoj vojny i revoljucii. 1914–1918 gg. Rjazan 2010.
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Evgenij J. Sergeev
wurden, mehr als 12,8 Millionen aus Dörfern kamen, wobei sie zu 90 Prozent zuvor
keinen Militärdienst geleistet hatten.23
Für den schweren psychischen Schock, den die russischen Soldaten, die gestern
noch Bauern, Arbeiter und Studenten gewesen waren, in den Schützengräben erlebten,
und der sich durch die Härten des Rückzugs von 1915 noch potenzierte, gibt es mehrere
Erklärungen.
Erstens war die Bevölkerung Russlands auf den totalen Krieg, dessen Zielsetzungen
jenseits der Fassungskraft der absoluten Mehrheit von Nikolajs II. Untertanen lagen,
ideologisch und psychisch nicht entsprechend vorbereitet. Russische Kriegskorrespondenten erinnerten sich an folgenden, für die russischen Soldaten in den Karpaten typischen Ausspruch: „Wozu, Euer Wohlgeboren, dieses Galizien erobern, wo es sich so
schlecht pflügen lässt?“24 Wie der bekannte zarische General und spätere Anführer der
Weißen Bewegung A. I. Denikin feststellte, hatten die Offiziere Angst, den unmittelbar
vor dem Krieg erlassenen allerhöchsten Befehl, demzufolge Gespräche über politische
Themen zu unterlassen waren, zu verletzen, und vermieden es daher – selbst wenn sich
nicht alle Befehlshaber daran hielten –, die Soldaten über die Aufgaben Russlands im
Krieg aufzuklären.25 Dies erklärt die Wahrnehmung des Kriegs durch die Masse der
Bauern und Arbeiter als schreckliche Naturkatastrophe, mit der man es nicht aufnehmen
konnte, an die man sich aber anpassen musste, indem man auf die jahrhundertealten
Traditionen des Kollektivismus, der gegenseitigen Hilfe und der Geduld zurückgriff.
Als kennzeichnend kann der Umstand gewertet werden, dass selbst die rund fünftausend
Priester, die man mobilisiert hatte, um den Soldaten in Predigten und persönlichen Gesprächen das Unbehagen über die Sündhaftigkeit des Kriegs im Sinne des biblischen Gebots „Du sollst nicht töten“ zu nehmen, diese Schwierigkeit nicht beheben konnten.26
Zweitens waren die Bedingungen, mit denen die Kombattanten während des gesamten Kriegsverlaufs zu tun hatten, ganz ungewöhnlich: technische Neuerungen wie
Panzer, Flugzeuge oder Maschinengewehre, die in kürzester Zeit Hunderte und Tausende niederzumähen vermochten; Giftgas, vor dem es, insbesondere in der ersten Zeit,
praktisch keinen Schutz gab; die Atmosphäre der endlosen Schlachten selbst mit den
ständigen Einschlägen schwerer Artillerie und dem Anblick von in mehreren Reihen
verlaufendem, kilometerlangem Stacheldraht, Unmengen von Toten, Verletzten und Verstümmelten unter den Kameraden, ja auch von gefallenen Pferden und der geschändeten
Natur. Je mehr sich der Krieg in die Länge zog, umso schmerzlicher spürten die Soldaten
die Trennung von der Familie und ihrer traditionellen bäuerlich-dörflichen Umgebung.
Selbst wenn nichts Besonderes geschah, fügte der Daueraufenthalt im Schützengraben
den russischen Soldaten, und häufig auch Offizieren, ein psychisches Trauma zu, das
mit Gefühlen wie „Langeweile“, „Schwermut“ und „ewig ängstlichem Warten“ zu tun
23 Rossija v mirovoj vojne 1914–1918 gg. (v cifrach). Мoskau 1925, S. 4 und S. 49.
24 F. A. Stepun, Byvšee i nesbybšeesja. St. Petersburg. 1990, S. 270f.
25 A. I. Denikin, Očerki Russkoj Smuty. Krušenie vlasti i armii, fevral‘ – sentjabr‘ 1917. Мoskau 1991,
S. 98.
26 O. S. Poršneva, Mental’nyj oblik i social’noe povedenie soldat russkoj armii v uslovijach Pervoj
mirovoj vojny (1914 – fevral’ 1917 gg.), in: Voenno-istoričeskaja antropologija. Ježegodnik 2002.
Predmet, zadači, perspektivy razvitija. Мoskau 2002, S. 252–267, hier: S. 259f.
Russlands Kriegserfahrungen an der Ostfront, 1914–1921
hatte. Die medizinischen Statistiken und Angaben der militärischen Zensur, die die persönliche Korrespondenz der Soldaten kontrollierte, zeigen, dass 1915–1916 Heimweh,
das Gefühl der Sinnlosigkeit der Existenz, Entpersönlichung und Selbstmordversuche
zu den häufigsten Symptomen psychischer Störungen zählten. Parallel dazu wuchsen
Gefühle der Gereiztheit und des Hasses, die sich in der Suche nach Feinden, deren Kreis
ständig größer wurde, entluden. Anfang 1917 gehörten nicht mehr bloß Verräter, Spione,
„innere Deutsche“ und „Drückeberger“ dazu, sondern auch Kaufleute, die sich an der
Not des Volkes bereicherten, Gutsbesitzer, Eigentümer und Bedienstete von Banken, Industriebetrieben und staatlichen Einrichtungen, die „von der Ausbeutung der Werktätigen lebten“, und sogar die Ehefrauen, die in Abwesenheit ihrer an der Front befindlichen
Männer mit Kriegsgefangenen oder Flüchtlingen „Unzucht trieben“. Stichprobenartige
Untersuchungen zeigten, dass mindestens 25–30 Prozent der Soldaten und Offiziere der
zarischen Armee von verschiedenen Formen psychopathologischer Abweichungen betroffen waren.27
Der dritte Faktor, der die Soldaten an der Ostfront beeinflusste, war die aktive deutsche Propaganda, die besonders in den Jahren 1915 und 1916 spürbar wurde. Mithilfe
von Flugzeugen, Luftschiffen und Spezialminen wurden Flugblätter und Proklamationen stoßweise in den Stellungen der russischen Truppen abgeworfen. Darin wurde behauptet, dass Russland sein Blut für seine Verbündeten, und in erster Linie Großbritannien, vergeblich vergieße, da dieses das russische Volk um seiner eigenen egoistischen
Interessen willen in das Gemetzel hineingezogen habe, aus dem es nun für sich Profit
herausschlage.28 Die Gefühle der Enttäuschung und bitteren Kränkung, die den Patriotismus und die Opferbereitschaft bald abgelöst hatten, wurden durch die Kritik an den
Verbündeten wachgehalten, denen man ihre Passivität während der Angriffsoperationen
an der Ostfront, ihre Saumseligkeit bei der Leistung materieller und technischer Unterstützung, ja sogar eine bewusste Verschleppung des Krieges vorwarf, durch die sich
Russland und die Mittelmächte gegenseitig aufreiben sollten, damit man den Frieden
zu Bedingungen diktieren könne, die für London und Paris vorteilhaft waren. Die Versuche der liberalen Intelligenz, das Bekenntnis aller Untertanen des Zaren zur Idee des
Koalitionskriegs aufrechtzuerhalten, stießen auf immer größere Schwierigkeiten. Ende
1916 war sogar in den Lagern der russischen Kriegsgefangenen Unzufriedenheit mit
dem Vorgehen der Verbündeten nicht nur unter den ehemaligen Soldaten, sondern auch
unter den Offizieren zu spüren.29
Ein weiteres bedeutendes Ereignis, das für die Kriegserfahrungen der Russen an
der Ostfront mitbestimmend sein sollte, war die unerwartete Absetzung des Großfürsten Nikolaj Nikolaevič, eines Onkels zweiten Grades des Zaren, von seinem Posten als
27 A. B. Astašov, Vojna kak kul’turnyj šok: analiz psichopatologičeskogo sostojanija russkoj armii v
Pervuju mirovuju vojnu, in: Voenno-istoričeskaja antropologija. Ježegodnik 2002, S. 268–281.
28 B. I. Kolonickij, Političeskaja funkcija anglofobii v gody Pervoj miro voj vojny, in: Rossija i Pervaja
mirovaja vojna, St. Petersburg 1999, S. 271–287, hier S. 273; A.V. Golubev, O. S. Poršneva, Obraz
sojuznika v soznanii rossijskogo obščestva v kontekste mirovych vojn, Moskau 2011 S. 121f.
29 E. Ju Sergeev, Russkie voennoplennye v Germanii i Avstro-Vengrii v gody Pervoj mirovoj vojny.
Novaja i novejšaja istorija. Nr. 4, 1996, S. 75; O. S. Nagornaja, „Drugoj voennyj opyt“: rossijskie
voennoplennye Pervoj mirovoj vojny v Germanii (1914–1922). Мoskau 2010, S. 229.
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Evgenij J. Sergeev
Oberkommandierendem, und die Ende August/Anfang September 1915 erfolgte Ausrufung des Zaren selbst zum obersten Kriegsherrn Russlands. Ungeachtet des Rückzugs
und der großen Verluste, die die russischen Truppen im Baltikum, in Weißrussland und
Galizien erlitten hatten, genoss Nikolaj Nikolaevič als Oberkommandierender sowohl
an der Front als auch im Hinterland bis zu seiner Absetzung hohes Ansehen. Wie sich
General Brusilov, der Nikolaj Nikolevič persönlich kannte, erinnern sollte, „wusste man
in der Armee, dass der Großfürst an der schwierigen Lage der Armee nicht schuld war,
und man glaubte an ihn als Heerführer. An die Kriegskunst von Nikolaj II. hingegen
glaubte (in der Armee natürlich) niemand […] Dieser Wechsel hinterließ bei den Truppen einen ernsten, um nicht zu sagen deprimierenden Eindruck“.30 Ein weiterer, sogar
noch bedeutenderer Aspekt lag darin, dass Nikolaj Nikolaevič bei vielen Zeitgenossen
als kompromissloser Gegner der einflussreichen germanophilen Partei galt, über deren
Existenz man in Russland immer offener sprach. In den Augen der Patrioten war es ein
wesentliches Verdienst des Großfürsten, die Befehlsstrukturen entschlossen von Personen mit deutschen Familiennamen gesäubert zu haben. Typisch in dieser Hinsicht ist
eine Meinung, die in einem Brief von der Front vertreten wurde: „Wir erleiden immer
mehr Fehlschläge bloß deshalb, weil wir viele Verräter in der Person verschiedener Vons
und Barone haben. Wir müssen die verfluchte deutsche Unterjochung abschütteln […]
Ohne ihn [Nikolaj Nikolaevič] ist es wohl unmöglich, gegen die Deutschen zu kämpfen.
Die Deutschen spüren seine stählerne Faust und ducken sich wie kleine Teufel unter dem
Druck des Kreuzes.“31
Weder die insgesamt erfolgreichen Operationen im Frühling und Sommer 1916 noch
die deutlich verbesserte Koordination der russischen Angriffe mit den Verbündeten, noch
die offensichtliche Zunahme militärischer Lieferungen aus den Ländern der Entente, vor
allem nach dem Bau der Eisenbahn nach Murmansk, noch die wesentlich bessere Versorgung der kämpfenden Truppe mit Waffen und Munition aus der eigenen Kriegsindustrie
konnten das Misstrauen, das sich bei den Soldaten und einem Teil der Offiziere während
der zweiten und dritten Periode der Kämpfe an der Ostfront der Regierung gegenüber
allmählich herausbildete, aufhalten.32 Im Endeffekt wuchs unter den Armeeangehörigen
wie in der Gesellschaft das Gefühl, dass der Krieg unnötig und Russland nur von außen
aufgezwungen worden war. Den größten Zorn an der im Winter 1916/17 stabilen Front
bewirkten Gerüchte über Verrat in den höchsten Sphären der Macht, wozu nicht unwesentlich öffentliche Äußerungen der Anführer der liberalen Opposition, wie z.B. die
berühmte Rede Pavel Miljukovs in der Staatsduma vom 1. (14.) November 1916, und
die Gerüchte über die Eskapaden Rasputins beitrugen. Die Hauptverantwortung für die
entstandene Situation trug laut öffentlicher Meinung die Zarin Aleksandra Fjodorovna,
30 A. A. Brusilov, Moi vospominanija. Мoskau 2001, S. 144 und S. 197.
31 Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii (GARF), F. 102, d. 1042, l. 3-3ob. Veröffentlicht in
der Monografie : B. I. Kolonickij, „Tragičeskaja erotika“: obrazy imperatorskoj sem’i v gody Pervoj
mirovoj vojny. Мoskau 2010, S. 415.
32 Der britische Historiker Norman Stone bemerkt, dass am 1. Jänner 1917 die Überlegenheit der Russen
an Waffen und Munition über die Deutschen und Österreich-Ungarn ein Niveau erreicht hatte, das
die Alliierten an der Westfront vergleichbar erst Mitte 1918 erreichen konnten. Norman Stone, The
Eastern Front, S. 12.
Russlands Kriegserfahrungen an der Ostfront, 1914–1921
die nach Meinung der Armee den Thron mit „Deutschen“ oder deren Komplizen umgeben hatte. So wanderte im Bewusstsein der Menschen in fast allen sozialen Schichten
das Bild der Gemahlin von Nikolaj II., die vom Volk früher als „erste Schwester der
Barmherzigkeit“ gesehen wurde, aus der Gemeinschaft des „Wir“ in die entgegengesetzte Gemeinschaft der „Anderen“, das heißt jener, die in ihren Vorstellungen und Werten
Russland feindlich gesinnt waren.33
Die Krise der Ostfront 1917 und Anfang 1918
Als die Verbündeten im Winter 1917 in Petrograd wieder einmal zu einer Konferenz
zusammengetroffen waren, schien es, dass das vierte Kriegsjahr unausweichlich den
lang ersehnten Sieg der Entente, deren Ressourcen das wirtschaftliche, finanzielle und
menschliche Potenzial der Mittelmächte deutlich übertrafen, bringen werde. Zusätzlichen Optimismus aufseiten der „antideutschen Koalition“ bewirkten Berichte über
den wahrscheinlichen Kriegseintritt der Vereinigten Staaten an der Seite Frankreichs,
Großbritanniens und Russlands. Während sich das deutsche und österreichische Oberkommando auf allen Kriegsschauplätzen auf die strategische Verteidigung vorbereitete, planten die Führer der Entente-Staaten entscheidende und aufeinander abgestimmte
Schläge an der West- und Ostfront, damit der Feind endgültig zerschlagen werde. Diese
Pläne waren insofern nicht aus der Luft gegriffen, als die drei „Satelliten“ Deutschland
und insbesondere Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich innenpolitische Krisen
durchmachten, die sie an den Rand des Zerfalls geführt hatten.
Die rasante Verschlechterung der Lage an der Ostfront zwischen Frühling und
Herbst 1917 bedingte jedoch wesentliche Korrekturen im strategischen Kalkül der beiden Mächtegruppierungen. In Russland kam es endgültig zum Umbruch in der Wahrnehmung des Krieges durch Armee und Gesellschaft: Die Vorstellung, dass die Opfer
und Verluste um des Sieges über den Feind willen notwendig seien, war geschwunden
und überall herrschte eine Stimmung der Ermattung und Ausweglosigkeit, an der Front
kam es immer öfter zu Desertion, Selbstverstümmelung, Befehlsverweigerung und sogar Lynchjustiz an den Befehlshabern. Massenweise kam es zur Verbrüderung mit dem
Feind, insbesondere an religiösen Feiertagen, und in den Gouvernements im Hinterland
häuften sich von Rekruten aus Reservisteneinheiten begangene Pogrome. Wie sich Brusilov erinnert, „wirkte sich das dumpfe Gären der Gemüter im Hinterland unweigerlich
an der Front aus, und man kann sagen, dass die ganze Armee – an der einen Front mehr,
an der anderen weniger – im Februar 1917 zur Revolution bereit war. Zu dieser Zeit
schwankte auch das Offizierscorps, das mit der Lage insgesamt unzufrieden war […]
Dies waren die Umstände, unter denen an der Front die Februarrevolution ausbrach.“34
Die Unzufriedenheit mit dem zarischen Regime und dem sich hinziehenden Krieg,
das spontane Streben nach Frieden und die Hoffnung auf die Durchsetzung sozialer
Gerechtigkeit begannen das gesellschaftliche Bewusstsein zu dominieren. In den Be33 Poršneva, Mental’nyj oblik, S. 264.
34 Brusilov, Moi vospominanija, S. 204f.
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richten der militärischen Zensur lässt sich Ende 1916 im Vergleich zur Anfangsperiode
des Krieges ein Anwachsen defätistischer Stimmungen unter den kämpfenden Soldaten
und eine stärkere Kritik an der Regierung beobachten, was sich in den Briefen von der
Front niederschlägt. So spiegeln sich diese Stimmungen etwa in einem Brief des Bauern
Jelkin aus dem Gouvernement Vjatsk folgendermaßen: „Bald wird sich unser Herrscher
alle schnappen, er ist ein Halsabschneider, mischt sich in fremde Angelegenheiten und
vergießt fremdes Blut. Man wird ihn auch umbringen, von dieser Erde hinwegfegen, und
dann werden alle gleich leben.“35
Wie sehr unter den Arbeitern der Industriezentren Russlands die Ideen einer Abschaffung der Autokratie, der Bildung einer handlungsfähigen und der Staatsduma verantwortlichen Regierung, und zuvorderst eines umfassenden demokratischen Friedensschlusses waren, zeigt zum Beispiel eine Resolution, die Mitte Jänner 1917 von den
Teilnehmern einer politischen Versammlung in einer Petrograder Fabrik verabschiedet
wurde: „Im Streben nach den gleichen Zielen, wie sie von der Arbeiterbewegung 1905
gefordert wurden, fordert das russische Proletariat unter den heutigen Bedingungen in
erster Linie die Bildung einer Provisorischen Regierung, die sich auf das sich im Kampf
organisierende Volk stützt. Diese Regierung wird die Frage von Krieg und Frieden im
Namen des Volkes und in dessen Interesse lösen und die politische Umwandlung des
Landes in Angriff nehmen.“36
Eine Analyse der revolutionären Ereignisse des Wendejahres 1917 ist nicht Inhalt
dieser Arbeit, doch sei daran erinnert, dass keiner der obersten Generäle, einschließlich des als Statthalter im Kaukasus fungierenden Großfürsten Nikolaj Nikolaevič, das
diskreditierte Regime Nikolajs II. unterstützte, sodass die Autokratie, wie viele Zeitgenossen sagten, wie „ein von innen morsch gewordener Baum“ fiel. Bezeichnenderweise
begann die gesamte russische Presse, unabhängig von der politischen Ausrichtung, den
Zaren nach seiner Abdankung des angeblichen „Verrats“ zu bezichtigen und den ehemaligen Herrscher als „Hauptfeind des Volkes“ darzustellen, der drauf und daran gewesen
sei, die Ostfront für die Deutschen aufzumachen, um dadurch die revolutionäre Bewegung zu „ersticken“.37
Mittlerweile hatte die revolutionäre Euphorie im Frühling 1917 einen großen Teil
der russischen Gesellschaft erfasst. In beträchtlichem Ausmaß betraf das auch die kämpfende Truppe. Allerdings wäre es ein Irrtum anzunehmen, dass die Armee sofort in zwei
Lager – die revolutionären Soldaten auf der einen, die konterrevolutionären Offiziere
auf der anderen Seite – zerfallen wäre. Tatsächlich reagierten viele rangniedrige Offiziere – vor allem „Studenten“, die während des Kriegs Offiziere geworden waren – begeistert auf den Fall der Autokratie und stellten sich an die Spitze der von den Soldaten
entsprechend dem wohlbekannten Befehl Nr. 1 des Exekutivkomitees des Petrograder
Sowjets der Arbeiterdeputierten in allen Einheiten aufgestellten Komitees. Die höheren
Offiziere und Generäle, die ihrerseits den Eid auf die Provisorische Regierung leisteten,
35 Zitiert nach: Poršneva, Krest’jane, robočie i soldaty Rossii nakanune i v gody Pervoj mirovoj vojny,
S. 115.
36 Ebd., S. 172.
37 Genauer siehe Kolonickij, „Tragičeskaja erotika“, S. 236–238.
Russlands Kriegserfahrungen an der Ostfront, 1914–1921
blieben angesichts der Revolution gelassen und zeigten ein gewisses Verständnis. Die
Mehrheit der Offiziere nahm weiterhin eine patriotische Haltung ein, während Russland
sich von der Autokratie zu einem demokratischen politischen System hinbewegte. Was
die Soldaten betrifft, die, wie erwähnt, im Wesentlichen wenig gebildete Bauern und
zum Teil auch Arbeiter waren, die meist erst kürzlich an der Front eingetroffen waren, so
betrachteten sie fast alle die revolutionären Ereignisse als Signal, dass nun alles erlaubt
sei. Die militärische Disziplin verfiel, die unglaublichsten Gerüchte und propagandistischen Materialien antimilitärischen Inhalts machten in der Armee die Runde, die Verbrüderung mit dem Feind erlangte legalen Charakter. Nur ein kleinerer Teil der unteren
Ränge, wir z.B. Träger des Georgskreuzes, Angehörige der Technischen Truppen (Artillerie, Luftwaffe, Kraftfahrzeugtruppen, Funker) sowie freiwillige Aktivisten, die sich
ab dem Sommer 1917 an die Front meldeten, blieben ihrer Pflicht treu und bereit, die
Heimat zu verteidigen.38
Eine negative Rolle beim Zusammenbruch der Ostfront spielten drei Umstände. Erstens die vom deutschen und österreichischen Kommando ausgehende, breit angelegte
Antikriegsagitation. Nach dem Zeugnis von General A. I. Denikin „ging der deutsche
Generalstab in dieser Sache umfassend, organisiert und entlang der gesamten Frontlinie
vor, unter Einsatz der höheren Stäbe und Kommandeure, mit detaillierten Instruktionen, die die Auskundschaftung unserer Kräfte und Stellungen, die Demonstration der
eigenen beeindruckenden Mittel und Kräfte, die Propaganda von der ‚Zwecklosigkeit
des Kriegs‘ und die Aufhetzung der russischen Soldaten gegen die Regierung und die
Kommandeure, die angeblich die Einzigen waren, die an der Fortsetzung dieses ‚blutigen Gemetzels‘ Interesse hatten, vorsahen.“39 Die 1916/17 erfolgte Verstärkung des
Propagandakriegs der Mittelmächte an der Ostfront lässt sich etwa anhand der Zahl der
Flugblätter nachvollziehen, mit denen die österreichisch-ungarischen Truppen die russischen Soldaten zu erreichen versuchten. Wenn es nach neuesten Archivuntersuchungen
1914 nur drei waren, so waren es 1915 sechsundzwanzig, 1916 bereits neununddreißig,
und 1917 siebzehn (wobei zu berücksichtigen ist, dass es mit Ausnahme des kurzfristigen Versuchs einer Julioffensive an der südwestlichen Front keine Kampfhandlungen
gab).40 Charakteristischerweise ging es in diesen Flugblättern vor allem um die Aufforderung an die russischen Soldaten, sich zu ergeben, und das Versprechen, dass man sie
als Kriegsgefangene gut behandeln würde. Daneben gab man üblicherweise Erfolge der
Mittelmächte an den verschiedenen Fronten bekannt, attackierte die Verbündeten Russlands innerhalb der Entente und wies auf die Zwecklosigkeit des Kriegs für das einfache
Volk und die Verschlechterung der Lage breiter Bevölkerungsschichten hin. Man kann
auszugsweise etwa ein Flugblatt zitieren, das am 23. Mai (5. Juni) 1917 in Stellungen
der 64. Infanteriedivision der 8. Armee (südwestliche Front) entdeckt wurde: „Die Mit38 Im Laufe des Juni und Juli 1917 organisierte das Allrussische Zentrale Exekutivkomitee zur Bildung
revolutionärer Stoßbataillons aus Freiwilligen des Hinterlands etwa 80 Anwerbestellen, über die etwa
40.000 Personen für die kämpfende Armee rekrutiert wurden. Aus ihnen wurden im Weiteren zwei
Stoßregimenter und mehr als 50 Stoßbataillons, darunter Frauenbataillons aufgestellt, siehe: Bazanov,
Za čest‘ i veličie Rossii, S. 424–427.
39 Denikin, Očerki Russkoj Smuty, S. 329.
40 A. B. Astašov, Propaganda na Russkom fronte v gody Pervoj mirovoj vojny. Moskau 2012, S. 29.
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telmächte erklären hiermit öffentlich, dass sie bereit sind, einen für beide Seiten fairen
Frieden zu schließen, zu Bedingungen, deren Einzelheiten einem gesonderten Abkommen anheimzustellen wären, der die früheren gutnachbarlichen Beziehungen wiederherstellte und Russland zum Wohle aller zugehörigen Völker wirtschaftliche Unterstützung
angedeihen ließe. Um dieses hohe Ziel zu erreichen, haben wir am 6. (19.) Mai den
Stäben und Truppenteilen der 8. und 9. Armee den Abschluss eines Waffenstillstands
angeboten […]“41
Zweitens die immer aktiveren bolschewistischen Emissäre, die ins Bewusstsein der
Frontsoldaten defätistische Ideen und die Vorstellung von der Wandlung des Vaterländischen Krieges in einen Bürgerkrieg einpflanzten. Objektiv spielte den linken Sozialisten
auch die im Mai 1917 proklamierte Erklärung der Rechte der Militärangehörigen in die
Hände, die diese mit Zivilpersonen gleichstellte und ihnen das Recht einräumte, politischen Parteien beizutreten und frei ihre Meinungen zu äußern. „Die bolschewistische
Ansteckung verbreitete sich im gesamten Organismus der Armee“, schrieb A. F. Kerenskij, der im Sommer 1917 zur Agitation häufig an die Front fuhr, in seinen Memoiren.
„Jegliche Versuche, die Vorbereitungen für die Kämpfe wieder aufzunehmen, stießen an
der gesamten Front auf den entschiedenen Widerstand der Soldaten. Es gab Kompanien,
Regimenter und ganze Divisionen, in deren Komitees bolschewistische Defätisten und
bezahlte deutsche Agenten dominierten […] Befehle wurden nicht ausgeführt und Befehlshaber, die nicht nach dem Geschmack der Komitees waren, wurden einfach durch
Demagogen und ehrlose Opportunisten ersetzt.“42 Drittens wurde die Provisorische Regierung von den Staaten der Entente ständig dazu aufgefordert, eine früher gegebene
Zusage zu erfüllen und im Frühling 1917 mit Angriffsoperationen an der Ostfront zu
beginnen. Unter dem Druck der Verbündeten, die mit der Einstellung der Kriegslieferungen an Russland und einer Revision der Vereinbarungen über künftige Gebietszuwächse
zu eigenen Gunsten drohten, sah sich die Provisorische Regierung gezwungen, mit der
Vorbereitung des Angriffs zu beginnen, der nach Anfangserfolgen bekanntlich mit der
Niederlage und dem Rückzug der russischen Armeen im Juni und Juli 1917 endete.
Gerade in diesem Zeitabschnitt gab es unter den Soldaten der Ostfront besonders große
Unruhen, als ganze Regimenter sich weigerten vorzurücken, ihre Stellungen verließen
und ins Hinterland abzogen.43 Dieser Angriff war die letzte aktive Operation der russischen Armee gegen die deutschen und österreichischen Truppen gewesen. Sein Misserfolg gab der Antikriegsstimmung unter den Frontsoldaten mächtigen Antrieb und führte
zum Autoritätsverlust der Regierung, was auch der bewaffnete Aufstand General L. G.
Kornilovs zwischen 25. und 30. August (7. und 12. September) 1917 demonstrierte.
Der definitive Legitimitätsverlust der Provisorischen Regierung nicht nur in den
Augen der Kombattanten war vorbestimmend für den Erfolg des bolschewistischen Umsturzes in Petrograd. Der Versuch Kerenskijs, sich auf loyale Truppenteile der Nördlichen Front zu stützen, scheiterte. Als das Oberhaupt des Sowjets der Volkskommissare
V. I. Lenin am 29. Oktober (12. November) 1917 vor den Regimentsvertretern der Petro41 Ebd., S.179.
42 A. F. Kerenskij, Rossija na istoričeskom povorote. Memuary. Мoskau 1993, S. 183.
43 M. S. Frenkin, Russkaja armija i revoljucija 1917–1918. München 1978, S. 347–393.
Russlands Kriegserfahrungen an der Ostfront, 1914–1921
grader Garnison, die während des bewaffneten Aufstands de facto eine neutrale Haltung
eingenommen hatte, sprach, unterstrich er zu Recht, dass „an der Front niemand für
Kerenskij ist“. Mit anderen Worten war im Bewusstsein der mehrheitlichen Vertreter
der kämpfenden Armee die legitime staatliche Gewalt von der früheren Regierung an
die Sowjets übergegangen, deren Anführer sofort die Dekrete über Frieden und Land
erlassen und somit zumindest ihre Absicht gezeigt hatten, diese beiden Fragen, die für
die russische Gesellschaft von so grundsätzlicher Bedeutung waren, zu lösen.44
Die Liquidierung der Ostfront Ende 1917 bis Anfang 1918
Noch vor der Machtübernahme durch die Bolschewiken erstellte das Oberkommando,
dessen Leitung nach dem Umsturzversuch Kornilovs in die Hände von Generalleutnant N. N. Duchonin übergegangen war, ein Maßnahmenprogramm zur Hebung der
Kampfkraft der Streitkräfte bis Frühling 1918. Der wesentliche Punkt dabei war der
Plan, eine neue Russische Volksarmee zu schaffen, die ein Territorialheer von Freiwilligen sein sollte. Zudem sollte nach Auffassung Duchonins bei der Stärkung der Ostfront
der Bildung nationaler Einheiten innerhalb der Truppen des republikanischen Russlands
eine wichtige Rolle zukommen. Den Anfang machte der Befehl zur Aufstellung des
Besonderen Tschechoslowakischen Corps („Tschechische Legion“) aus ehemaligen österreichisch-ungarischen Soldaten, die sich ergeben hatten. Allerdings fand dies keine
Fortsetzung, da General Duchonin am 9. (22.) November 1917 auf Beschluss des Rats
der Volkskommissare vom Posten des Oberkommandierenden abgesetzt und bald darauf
von betrunkenen revolutionären Matrosen, die in seinen Stabswagon eingedrungen waren, brutal ermordet wurde.
Der Abschluss des Waffenstillstands zwischen Sowjetrussland und den Mittelmächten am 21. November (4. Dezember) 1917 und die Aufnahme offizieller Verhandlungen
zur Beendigung des Kriegszustands in Brest-Litowsk gingen einher mit massenweiser
Verbrüderung und Desertion an der vordersten Front. Großen Einfluss auf die beschleunigte Auflösung der Ostfront hatte unter diesen Umständen das Dekret des Rats der
Volkskommissare vom 10. (23.) November über die schrittweise Verringerung der Truppenstärke. Die Frontsoldaten sahen darin das Signal zur allgemeinen Demobilisierung.
Die Bauern in Uniform versuchten möglichst rasch nach Hause zu kommen, um bei
der Aufteilung des Landes und anderen Eigentums der früheren Besitzer, wie von der
neuen Macht sanktioniert, dabei zu sein. Die Versuche der Bolschewiken, das bisherige
Offizierscorps durch Aufsteiger aus den unteren Rängen zu ersetzen, stürzten die Armee,
deren Regimenter und Divisionen sich ohnehin nach Hause davonmachten, ins völlige
Chaos. Erst der auf Initiative der Sowjetregierung am 15. (28.) Dezember 1917 in Petrograd einberufene und bis 16. (29.) Jänner 1918 tagende Allrussische Armeekongress
konnte Beschlüsse fassen, die die Einrichtung und Arbeitsweise von Demobilisierungskommissionen an der Front regelten. Im Endeffekt hatte zum Zeitpunkt des Friedens44 Genauer siehe: S. N. Bazanov, Razloženie russkoj armii v 1917 g. (k voprosu ob evoljucii ponimanija legitimnosti Vremennogo pravitel’stva v soznanii soldat), in: Voenno-istoričeskaja antropologija.
Ježegodnik 2002, S. 282–290.
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schlusses in Brest Anfang März 1918 bereits mehr als die Hälfte der Truppe die Ostfront
verlassen, die damit faktisch bereits zu existieren aufgehört hatte. Abgeschlossen wurde
dieser Prozess mit der Auflösung der Stäbe im Feld und der Archivierung ihrer Unterlagen im April und Mai desselben Jahres.45
Der Mitte Februar 1918 erfolgte Angriff der deutschen Truppen und die im Frühling und Sommer desselben Jahres erfolgte Besetzung weiter Gebiete des ehemaligen
Russischen Reichs zeigten die Vergeblichkeit der Bemühungen der bolschewistischen
Führung, unter der sich vor allem der Vorsitzende des Revolutionären Kriegsrats L. D.
Trockij hervortat, nach den schon von Generalleutnant Duchonin formulierten Grundsätzen eine neue „revolutionäre Armee“ zu schaffen. Die freiwilligen Einheiten der
Roten Arbeitergarde, in denen die Befehlsgewalt aus Karrieregründen zum Teil von
ehemaligen zarischen Offizieren übernommen wurde, waren zahlenmäßig schwach und
schlecht ausgebildet. Sie konnten den deutschen Truppen, die gegen Mitte des letzten
Kriegsjahres praktisch ungehindert bis zur Linie Narva-Pskov-Orscha-Rostov am Don
vorgerückt waren und gemeinsam mit türkischen Expeditionstruppen Transkaukasien
eingenommen hatten (vielleicht mit Ausnahme des Petrograder Abschnitts), nicht wirklich etwas entgegenhalten.
Allerdings sollte der Brester Frieden, der die Ostfront formal beseitigte, den Mittelmächten, so paradox es klingt, einen bösen Streich spielen. Wie bereits erwähnt, entlastete die Einstellung der Kampfhandlungen auf dem osteuropäischen Kriegsschauplatz
Deutschland und Österreich-Ungarn keineswegs von der Notwendigkeit, die besetzten
Gebiete, wo im Sommer 1918 aufgrund der Requirierungen ein Partisanenkrieg gegen
die Okkupanten begann, militärisch und administrativ unter Kontrolle zu halten. Daher
behielt das deutsche Kommando selbst während des letzten verzweifelten Angriffs in
Frankreich weiterhin bedeutende Kräfte im Osten Europas. Zudem symbolisierte die am
18. März 1918 durch die Entente-Staaten erfolgte Erklärung die feste Entschlossenheit
ihrer Regierungen und Völker, den Krieg bis zum Sieg weiterzuführen. Die „räuberischen“ Bedingungen des Friedens von Brest-Litowsk demonstrierten anschaulich, welches Schicksal die Gegner der Mittelmächte im Falle einer Niederlage erwartete. Anders
gesagt stärkte die Kapitulation der Sowjetregierung angesichts des Zusammenbruchs
der Ostfront nur den Kampfgeist von Franzosen, Briten und Verbündeten im abschließenden Stadium ihres tödlichen Ringens mit dem Feind. Andrerseits bedeutete für die
herrschenden Kreise des Deutschen und österreichisch-ungarischen Reichs der Friede
mit Sowjetrussland einen verstärkten Einfluss der bolschewistischen Propaganda auf
alle Schichten ihrer Gesellschaft und die verschiedenen Volksgruppen, was eine wichtige Ursache für die revolutionären Bewegungen in den Mittelmächten im Herbst 1918
werden sollte.
Die Unterzeichnung des Friedensvertrags von Brest-Litovsk am 3. März 1918 bedeutete für die Bolschewiki den endgültigen Bruch nicht nur mit den anderen sozialistischen
Parteien (Menschewiki, Sozialrevolutionäre, Anarchisten), sondern auch die faktische
Aufkündigung der Koalition mit den nächsten politischen Verbündeten in Gestalt der
45 Bazanov, Za čest‘ i veličie Rossii, S. 456.
Russlands Kriegserfahrungen an der Ostfront, 1914–1921
linken Sozialrevolutionäre, die im Sommer 1918 in einigen großen Städten Russlands
einen Aufstand anzettelten. Bezeichnenderweise unterstützten im Frühling 1918 nur 39
Prozent der örtlichen Sowjets die Politik Vladimir Iljitsch Lenins.46 Dennoch war kaum
zu erwarten, dass sich die sowjetrussischen Arbeiter- und Bauernmassen dem außenpolitischen Programm der Bolschewiki widersetzen würden. Apathie und Erschöpfung als
Folge des Kriegs vereitelten jeden Versuch antibolschewistischer Kräfte, die patriotische
Stimmung wieder anzuheizen, um die in Weißrussland, in der Ukraine und im Kaukasus
planmäßig vorrückenden deutschen und österreichisch-ungarischen Truppen zurückzuwerfen, die dabei zudem kaum auf bewaffneten Widerstand stießen. Erst die Requirierung von Nahrungsmitteln zugunsten der Mittelmächte bewirkte im Sommer und Herbst
1918 in den besetzten Gebieten einen Aufschwung des Partisanenkampfs und vereinzelte Terroranschläge gegen Vertreter der Militärverwaltung, wie etwa die Ermordung des
Oberkommandierenden der deutschen Besatzungstruppen Feldmarschall von Eichhorns
am 30. Juli 1918 in Kiew.47
Die später erfolgende Intervention der Entente in Sowjetrussland wie auch der Bürgerkrieg von 1918 bis 1922 warfen die Frage auf, ob die Ostfront nicht wieder von
Neuem erstand. Einzelne Fragmente bildeten sich tatsächlich wieder, z.B. während des
Angriffs der Nordwestlichen Armee von General N. N. Judenič auf Petrograd im Herbst
1919 oder des sowjetisch-polnischen Kriegs von 1919 bis 1921. Zu erwähnen ist auch,
dass das Kommando der Entente 1919 versuchte, ehemalige Soldaten und Offiziere der
russischen Armee, die während des Ersten Weltkriegs an der Ostfront gefangen genommen worden waren und sich noch in Lagern auf deutschem oder österreichischem Gebiet befanden, in antibolschewistischen militärischen Formationen einzusetzen. Diese
wurden über spezielle Anwerbezentren eingerichtet, doch konnten mit dieser Kampagne
keine ernst zu nehmenden Ergebnisse erzielt werden.48
Zusammenfassung
Die Erfahrungen, die die Russen während der Jahre des Ersten Weltkriegs an der Ostfront gesammelt hatten, zeitigten für das ehemalige Reich und seine Nachbarstaaten eine
ganze Reihe schwerwiegender Folgen.
Unter den katastrophalsten Ergebnissen sind die gigantischen Verluste an Menschenleben zu nennen, die Russland zwischen 1914 und 1918 erlitt. Widersprüchliche statistische Daten lassen keine präzisen Zahlenangaben zu, doch nennen die meisten Fachleute
700.000 bis 800.000 unmittelbar während der Kämpfe Getötete und etwa 1.300.000 an
den Folgen ihrer Verwundungen Gestorbene (insgesamt etwa zwei Millionen Opfer der
Kämpfe). Außerdem starben von den mehr als drei Millionen Kriegsgefangenen 285.000
46 S. V. Tjutjukin, Rossija: ot Velikoj vojny – k Velikoj revoljucii, in: V. A. Zolotarev – S. V. Lisitikov
(Hg.), Vojna i obščestvo v XX veke. Kn. 1 ot Velikoj vojny – k Velikoj revoljucii. Moskau 2008,
S. 120–160, hier: S. 157.
47 Šacillo, Poslednjaja vojna carskoj Rossii, S. 321.
48 Nagornaja, „Drugoj voennyj opyt“, S. 83. Genauer siehe: O. A. Ržeševskij (Hg.), Vojna i obščestvo v
XX. 3 Tom., Kniga 1. Vojna i obščestvo nakanune i v period Pervoj mirovoj vojny. Moskau 2008.
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324
Evgenij J. Sergeev
in den Lagern, 238.000 kehrten aus der Kriegsgefangenschaft nicht nach Russland zurück und fast 800.000 gelten als vermisst. Unter der Zivilbevölkerung starben mehr als
400.000 an Epidemien und Hunger. Somit erreichten die Gesamtverluste im Laufe der
Kampfhandlungen 5 Prozent der männlichen Bevölkerung des ehemaligen Imperiums
im produktivsten Alter (von 15 bis 49 Jahren).49 Mit Bedauern kann man feststellen, dass
der Zweite Vaterländische Krieg für Russland der erste Akt der demografischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts war, auf den noch die Stalinistischen Repressionen und der
nie wieder wettzumachende Verlust, den die Bevölkerung der UdSSR zwischen 1941
und 1945 erleiden sollte, folgten.
Eine weitere schwerwiegende Folge des Großen Krieges war die Veränderung der
mentalen Vorstellung von der umgebenden Welt und die Deformation der Psyche von
Millionen von Menschen, die zu Teilnehmern oder Zeitgenossen des globalen tragischen
Mysteriums des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts geworden waren. Nicht zufällig
wurden für das öffentliche Leben in Russland nach dem Krieg Phänomene wie Unversöhnlichkeit, das Gefühl, jegliche Norm verletzen zu dürfen, geistige Verwahrlosung,
die ständige Suche nach inneren Feinden, Skepsis in Bezug auf allgemeinmenschliche
moralische Normen, die Verachtung der christlichen Werte etc. charakteristisch. Hinzufügen muss man die Krise der Werte der Familie und die Existenz Zehntausender Straßenkinder in Sowjetrussland, von denen sich später viele kriminellen Gruppierungen
anschließen sollten. Dies war eine Gesellschaft, in der es für die Entwicklung der Idee
und Praxis des Totalitarismus, der die Menschen auf Jahrzehnte hin versklaven sollte,
fruchtbaren Boden gab.
Nicht außer Acht zu lassen ist ein weiterer Umstand, und zwar die Nicht-Teilnahme
der UdSSR am Paris-Washingtoner-System der internationalen Beziehungen, wie man
in der russischen Historiografie üblicherweise die Weltordnung bezeichnet, die von den
Schlüsselakteuren der beiden Konferenzen in Paris 1919/20 für Europa und Washington
1921/22 für Ostasien errichtet wurde. Dieses System sollte sich als zerbrechlich und
kurzlebig erweisen und faktisch, wie viele Zeitgenossen zu Recht meinten, nur eine
Atempause zwischen den beiden Weltkriegen verschaffen. Die Krise und Auflösung der
Ostfront im Laufe der Friedensverhandlungen zwischen Bolschewiken und Mittelmächten reduzierte zwar, beseitigte aber keineswegs die geostrategische Bedeutung, die sie
auch in der letzten Kriegsphase für die Entente behielt. Die damals erfolgte Veränderung
des Bildes aber, das die kämpfenden Soldaten und auch die russische Gesellschaft insgesamt von den Verbündeten hatten, war nur der Auftakt für die spätere Wahrnehmung der
westlichen Demokratien als immerwährenden Feinden Sowjetrusslands, dessen Bürger
sich im Verlauf beinahe des gesamten „kurzen 20. Jahrhunderts“ als vom Kapitalismus
umzingelte „Garnison in einer belagerten Festung“ fühlen sollten.
Deutsch von Harald Fleischmann
49 Tjutjukin, Rossija: ot Velikoj vojny, S. 158; Šacillo, Poslednjaja vojna carskoj Rossii, S. 348; Bazanov,
Za čest‘ i veličie Rossii, S. 457. Es scheint mir, dass diese Zahlen verlässlicher sind, als die in den
Arbeiten moderner ausländischer Historiker angeführten, z.B. siehe: Nikolas Cornish, The Russian
Army and the First World War. Stroud 2006, S. 235–237.
Die Völker Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg
aus Sicht des russischen Gegners1
Elena S. Senjavskaja
Die ethnischen und sozialen Widersprüche mussten auch in der kämpfenden Armee des
„zusammengeflickten“ Reichs zum Tragen kommen. Besonders augenfällig war dies für
„außenstehende“ Beobachter. Der amerikanische Korrespondent John Reed beschrieb
eine im Sommer 1915 stattgefundene Begegnung mit einer Kolonne österreichisch-ungarischer Kriegsgefangener, die von zwei Donkosaken eskortiert wurden: „Es waren
dreißig Mann, und unter diesen dreißig waren fünf Nationen vertreten: Tschechen, Kroaten, Magyaren, Polen und Österreicher. Ein Kroate, zwei Magyaren und drei Tschechen
konnten kein einziges Wort, ausgenommen in ihrer Muttersprache, und natürlich konnte
keiner der Österreicher auch nur einen Laut auf böhmisch, kroatisch, magyarisch oder
polnisch hervorbringen. Unter den Österreichern gab es Tiroler, Wiener und Halbitaliener aus Pula. Die Kroaten hassten die Magyaren, die Magyaren die Österreicher, und
was die Tschechen betrifft, so hätte keiner der anderen mit ihnen auch nur ein Wort gewechselt. Außerdem unterschieden sie sich stark nach ihrer sozialen Lage, wobei jeder,
der auf einer höheren Stufe stand, mit Verachtung auf den blickte, der niedriger stand
[…] Das Grüppchen war durchaus repräsentativ für die Armee Franz-Josephs.“2
„Aber alle sprachen sehr gut von den Wachsoldaten, den Kosaken“3, ergänzt der
amerikanische Autor. Und das war kein Zufall. Während die Russen im Hinblick auf
Deutschland, wie es ein Zeitgenosse ausdrückte, bereit waren, „gegen die Todfeinde von
Zar, Russland und Slawentum, die verhassten Deutschen“4 zu kämpfen, so brachte man
Österreich-Ungarn, und insbesondere seiner Armee, gemischte Gefühle entgegen, da es
unter ihren Soldaten ja nicht wenige Slawen gab.
Von Kriegsgefangenen ausgefüllte Fragebögen belegen, dass die österreichischungarischen Offiziere ihre Soldaten mit der russischen Gefangenschaft einzuschüchtern
versuchten, indem sie behaupteten, die Russen würden alle erschießen und auch mit den
1
Text erstmals erschienen in: Elena Senyavskaya, Narody Avstro-Vengrii v Pervoj mirovoj vojne glazami russkogo protivnika, in: Vestnik RUDN. Serija „Istorija“. Nr. 4. Мoskau 2009, S. 111–127.
2 D. Rid, Vdol‘ fronta. Pervaja mirovaja vojna. Balkany . Moskau – Leningrad 1928, S. 383.
3Ebd.
4 Rossiiskii gosudarstvennyi voenno-istoricheskii arkhiv (RGVIA), F. 2019. Op. 2. D. 19. L. 312.
326
Elena S. Senjavskaja
Verwundeten keine Gnade kennen.5 Wie aber ein einfacher Soldat der österreichischungarischen Armee am 2. Dezember 1914 zugab, „glaubt kaum noch jemand an die
Märchen von der russischen Grausamkeit, da diese in der Wirklichkeit fast nirgends
bestätigt wurden; im Gegenteil, die Kubankosaken, die den Mann gefangengenommen
hatten, behandelten ihn sehr gut: sie gaben ihm zu essen, und als sie erfuhren, dass er
krank war, ließen sie den Bauer, bei dem er sich befand, sein Pferd einspannen, und
brachten ihn mit dem Pferdewagen ins russische Lazarett.“6
Beeinflusst wurde die Haltung zum Feind sowohl vom Verlauf des Kriegs als auch
vom Verhalten des Gegners, unter anderem den zahlreichen Kriegsverbrechen gegen Zivilbevölkerung, Verwundete und Gefangene, die – wie die Daten, die von der eigens eingerichteten Außerordentlichen Kommission zur Untersuchung von Verletzungen der Haager
Konvention gesammelt wurden, zeigen – hauptsächlich von Deutschen, Österreichern und
Ungarn verübt wurden.7 So wurden, wie ein Leutnant eines österreichisch-ungarischen
Infanterieregiments feststellte, Übergriffe gegen russische Gefangene nicht nur in der
deutschen, sondern auch in der österreichisch-ungarischen Armee geradezu systematisch
begangen: „Ende April und im Mai [1915], während des Rückzugs der Russen zum San,
kamen mehrmals Leute aus meiner Einheit – tschechische, polnische oder ruthenische Soldaten – zu mir gelaufen, um entsetzt zu melden, dass irgendwo in der Nähe deutsche und
oft auch deutsch-österreichisch-ungarische Soldaten russische Gefangene misshandelten
und dabei zu Tode quälten. Wie oft bin ich dann zu dem angegebenen Ort gegangen und
habe wirklich erschreckende Bilder gesehen. An verschiedenen Plätzen lagen entstellte und
verstümmelte Leichen russischer Soldaten. Die deutschen Soldaten in der Nähe erklärten
mir jedes Mal, dass sie nur die Befehle ihrer Vorgesetzten ausführten. Als ich deutsche Offiziere fragte, ob dies die Wahrheit ist, antworteten sie mir: ‚So muss mit jedem russischen
Gefangenen verfahren werden, und solange ihr Österreicher nicht dasselbe macht, werdet
ihr keinen Erfolg haben. Nur wenn sie zu Bestien werden, kämpfen Soldaten gut, und dazu
müssen sich unsere Soldaten an den russischen Gefangen – Vaterlandsverrätern, die sich
freiwillig ergeben haben und ohnehin nichts anderes als Folter verdienen – in Grausamkeit
üben.‘“8 Solche Informationen wurden von der Presse aufgegriffen, nicht zuletzt der militärischen, und intensiv zu Propagandazwecken genutzt.
Dabei wurde diesen Nachrichten von Gräueltaten des Feindes nicht immer bereitwillig geglaubt. In den Erinnerungen des Fähnrichs D. P. Os’kin wird etwa folgender Fall
beschrieben: Als seine Einheit in einem Dorf, aus dem die österreichisch-ungarischen
Truppen erst kürzlich vertrieben worden waren, Halt macht, unternimmt er es, mit einem
Kameraden gemeinsam zu überprüfen, wie glaubwürdig oder verlogen die Propaganda
ist: „,Du kannst dich erinnern [wandte er sich an seinen Kameraden], wie man uns ein5
6
7
8
RGVIA, F. 2019. Op. 1. D. 533. L. 14; D. 535. L. 129; D.730. L. 27.
RGVIA, F. 2019. Op. 1. D. 533. L. 76.
RGVIA, F. 2019. Op. 1. D. 505. L. 17; D. 516. L. 421; D. 535. L. 118ob.; D. 727. L. 3, 15ob.; D. 730.
L. 3ob.; D. 732. L. 1, 3, 5ob., 7, 10ob., 12-13, 17, 19ob., 22-23, 34, 36; D. 734. L. 1ob., 5ob.; und
andere.
RGVIA, F. 2019. Op. 1. D. 732. L. 219; bezüglich der Verletzung internationaler Konventionen über
Kriegsgesetze und -gepflogenheiten durch die deutsche und österreichisch-ungarische Armee s. auch:
Dokumenty o nemeckich zverstvach v 1914–1918 gg. Мoskau 1942.
Die Völker Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg aus Sicht des russischen Gegners
gebläut hat, dass die Österreicher mit den Gefangenen und der Zivilbevölkerung ganz
schlimm umgehen, und es dort, wo österreichische oder deutsche Truppen eine Ortschaft
eingenommen haben, keine Frau gibt, die nicht vergewaltigt worden ist.‘ ,Ja, ich weiß.‘
,Und hast du dich je gefragt, ob das wirklich so ist oder nur eine Lüge?‘ ,Nie.‘ ,Dann
fragen wir doch jetzt.‘“9
Im Weiteren lassen die Offiziere eine junge ukrainische Bäuerin in die Kate kommen
und veranstalten ein richtiggehendes Verhör: ,Wir wollten Sie fragen […] Stimmt es,
dass sich die Österreicher euch gegenüber schlecht verhalten haben?‘ ,Natürlich stimmt
das. Was soll man von ihnen auch erwarten? Sie haben Branntwein mitgenommen, ein
Stück Vieh mitgenommen, vom Roggen die Hälfte mitgenommen. Den Großvater haben
sie mit dem Fuhrwerk schon vor zwei Monaten weggeführt, und bis heute sind sie nicht
zurück […]‘ ,Also ist es euch schlecht ergangen?‘ ,Schlecht, Herr. Sehr schlecht, aber
da ist nichts zu machen. Krieg ist Krieg.‘ ,Aber Branntwein, Vieh und Roggen nehmen
auch die Russen mit‘, warf ich ein. ,Das stimmt, aber das sind dann die eigenen Leute,
und nicht irgendwelche Österreicher. […]‘ ,Sagen Sie‘, wandte ich mich an sie und die
Frauen gegenüber, ,haben sich die Österreicher da schlecht verhalten?‘ ,Wie schlecht?‘,
fragte sie verständnislos. ,Haben sie euch betatscht, dazu gezwungen, die Nacht mit ihnen zu verbringen?‘ ,Aber wo denken Sie hin, Herr, darf man so etwas vielleicht tun?!‘
,Wir haben gehört, dass die Österreicher überall, wo sie auftauchen, Mädchen und Frauen in die Banja treiben und dann zu sich ins Bett zwingen.‘ ,Aber nein doch, so etwas
ist bei uns nicht vorgekommen.‘ ,Aber vielleicht an anderen Orten?‘ ,Von anderen Orten
weiß ich nichts, die bei uns waren, waren aber sehr zuvorkommend. Wenn irgendeine Frau selber wollte, na, da kann man nichts machen, aber dass jemand mit Gewalt
gezwungen worden wäre, so etwas gab es nicht.‘ ,Und waren es viele Frauen, die selber wollten?‘ ,Viele? Höchstens irgendein Flittchen […] entschieden schüttelte sie den
Kopf. Aber gleich danach macht die Bäuerin eine paradoxe Bemerkung: ,Die Österreicher sind schlecht, schlechter als die Unsrigen, besonders die Ungarn, mit denen kann
man nicht reden, man versteht sie nicht, aber als der Frühling kam und der Roggen gesät
werden musste, gaben sie uns Pferde, und wer selbst keinen Roggen zur Aussaat hatte,
dem gaben sie Roggen dazu.‘
Nachdem sie die Frau weggeschickt haben, tauschen die Offiziere ihre Eindrücke
aus: „,Was sagst du da? ... Unsere Zeitungen schreiben also Lügengeschichten, dass
die Österreicher und Deutschen unsere Weiber vergewaltigen?‘ ,Lügengeschichten, vielleicht. Wie aber nicht lügen, wo doch Krieg ist, und im Krieg muss man die ­Instinkte
anfachen. Wie willst du einen Soldaten zum Angriff zwingen, wenn du ihm nicht erklärst, dass der Feind seinen Glauben in den Dreck zieht, seine Frauen und seine Kinder?
Ehrlich gesagt, bei uns im Hinterland gibt es wohl mehr Scheußlichkeiten als hier. Wie
du’s auch drehst, die Österreicher und Deutschen sind um einiges zivilisierter als das
russische Heer.‘“10
9 D. P. Os’kin, Zapiski praporščika. Otkrovennye rasskazy. Sbornik. Мoskau 1998, S. 237.
10 Ebd., S. 238–239.
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328
Elena S. Senjavskaja
Zweifellos war die Einstellung zum Feind an der Front in erster Linie die Folge
persönlicher Erfahrungen, und erst in zweiter Linie der Propaganda. So äußert sich
einer der Helden des Romans „Die Brusilov-Offensive“ von S. N. Sergeev-Censkij, der
selbst Teilnehmer der Galizischen Schlacht gewesen war, über die Österreicher zuerst
durchaus respektvoll, und erst nach dem Einsatz von Stickgasen beginnt er, sie als
„stinkend“ und „niederträchtig“ zu beschimpfen und „persönlichen Groll“ gegen sie zu
empfinden.11 Andrerseits entfachten nicht selten Nachrichten aus dem Hinterland den
Zorn der russischen Soldaten, denen zufolge österreichisch-ungarische Kriegsgefangene, die zu landwirtschaftlichen Arbeiten verwendet wurden, sich mit Soldatenfrauen
zusammentaten, deren Männer an der Front waren. Üblicherweise zog man zu solchen
Arbeiten ethnisch verwandte Slawen (Ruthenen, Slowaken, Tschechen, Polen) heran,
mit denen man sich im Alltag besser verständigen konnte. So stellten etwa auf den Gütern der Grundbesitzer während des Kriegs die Gefangenen slawischer Herkunft 15 bis
30 Prozent aller Arbeitskräfte, wobei es natürlich auch zu Kontakten mit den Frauen
von Soldaten kam.12 Nicht zufällig war in den Berichten der militärischen Zensur zu
lesen, dass „unsere Soldaten am stärksten vom Bewusstsein getroffen werden, dass es
oft nicht einmal Russen sind, die ihr häusliches Glück stören, sondern gefangene Österreicher oder Deutsche, die von der Regierung zu Feldarbeiten eingesetzt werden“.13
In Briefen von der Front wurde berichtet, dass „alle Weiber ohne Ehemann es mit österreichischen Gefangenen hielten“14, dass „die Frauen, wie von der Kette gelassen, mit
gefangenen Österreichern, was das Zeug hält, Unzucht treiben, und es in einer Weise
zugeht, dass es einen nur ekelt“, dass „Syphilis und andere Geschlechtskrankheiten
florieren“, dass „bestimmte Mädchen Österreicher heiraten wollen, und man ihnen eine
ordentlich Tracht Prügel verpassen müsste, damit sie sich beruhigen“ und so weiter. 15
Die entrüsteten Soldaten forderten von der Obrigkeit und dem Klerus, die „Weiber zu
zähmen“, ihnen „ins Gewissen zu reden“, sodass diese Frage sogar auf der Ebene des
militärischen Kommandos behandelt werden musste. Am 3. August 1916 etwa forderte
der Befehlshaber der 5. Armee General V. Gurko den Innenminister auf, „die zuständigen Zivilbehörden anzuweisen, umgehend Sanktionen zu setzen und Maßnahmen zu
ergreifen, um schnellstens die beim Einsatz von Kriegsgefangenen als Arbeitskraft in
den Dörfern entstandene Lage zu unterbinden“.16
Ging es um die Bewertung des Gegners unmittelbar an der Frontlinie, so konzentrierte man sich auf dessen militärische Qualitäten. So wird in den Erinnerungen von A. A.
Brusilov erwähnt, dass sich die deutschen Truppen „zweifellos besser schlugen, als die
11 S.N. Sergeev-Censkij, Brusilovskij proryv. Pervaja mirovaja, Moskau 1989, S. 139f.
12 А. Chrjaščeva, Krest’janstvo v vojnu i revoljuciju. Мoskau 1921, S. 18 und S. 25.
13 Siehe: A. B. Astašov, Seksual’nyj opyt russkogo soldata na Pervoj mirovoj i ego posledstvija dlja
vojny i mira. Voenno-antropologičeskaja antropologija. Ežegodnik. 2005/2006. Aktual’nye problemy
izučenija. Мoskau 2007, S. 376f.
14 S. Fedorčenko, Narod na vojne. Мoskau 1990, S. 316.
15 Zitiert nach: Astašov, Seksual’nyj opyt russkogo soldata na Pervoj mirovoj i ego posledstvija dlja
vojny i mira, S. 377.
16Ebd.
Die Völker Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg aus Sicht des russischen Gegners
Österreicher und Ungarn, vor allem besser als Erstere von ihnen“.17 Ein anderer Zeitgenosse behauptete, dass „[…] die ungarischen Truppen anerkanntermaßen die besseren
Truppen der Doppelmonarchie waren: sogar die Deutschen zollten ihnen Tribut“; immer würden sie dem Gegner „hartnäckigeren Widerstand“ leisten, „als die Tschechen
oder die Schwaben18“.19 Der Held aus Sergeev-Censkijs Roman dagegen „murrt wegen der
Ungarn“: „Klar, manchmal bleibt nichts anderes übrig, als zum Rückzug zu blasen, nicht
umsonst ist das Kriegsglück unbeständig, aber dass man Reißaus nimmt, wie dieses Magyarengesindel, das ist wohl der letzte Schrei der Mode!“20
Der Militärarzt L. N. Vojtolovskij berichtet von einem Gespräch mit verwundeten russischen Soldaten, in dem die Zuschreibungen und Stereotypen, die sich in der Wahrnehmung
der verschiedenen kriegsführenden Nationalitäten herausgebildet hatten, klar zutage treten:
„,Was immer man uns auch vormacht, die Deutschen sind ein gebildetes Volk.‘ ,Mit den
Österreichern kämpft es sich leichter?‘ ,Ja, mit denen ist es leichter. Sind schreckhafter. Ergeben sich bei erstbester Gelegenheit.‘ ,Und die Ungarn?‘ ,Wie soll ich sagen, die Ungarn
sind, wie bei uns die Zigeuner. Stürmen los auf Teufel komm raus, aber kaum kriegen sie
eine Schramme ab, plärren sie wie die Weiber.‘ ,Die Ungarn‘, mischt sich selbstsicher der
Kosake ein, ,sind Intelligenzler, Weichlinge, halten Schmerzen nicht aus. Einem Ungarn
habe ich die Nase abgebissen, das Blut war salzig, widerlich. Pfui! […] Der Deutsche, der
ist wild. Schlau. Stark. Kein Honiglecken mit ihm. Wir hatten einen Deutschen, den wir gefangengenommen hatten. Zweimal wurde er vom Bajonett aufgespießt, und trotzdem haut
er ab. Wir mussten ihn wieder einfangen und ihm mit dem Gewehrkolben eins über den
Schädel geben. Mit Müh und Not konnten wir ihn zurückbringen. Wenn du ihn führst, musst
du die Augen offenhalten, sonst ist’s zu spät […] Einen Österreicher brauchst du nicht zu
führen. Der freut sich, dass er in Gefangenschaft ist. Einmal mussten wir ungefähr sechzig
Ruthenen führen. Die Ruthenen sprechen russisch. ‚Für uns‘, sagten sie, ‚ist der Friede
schon gekommen, aber ihr müsst noch kämpfen‘ […]‘“21
Insgesamt war der Kampfgeist der österreichisch-ungarischen Armee sehr schwach,
und dies entging auch den russischen Beobachtern nicht. Die Aufklärung berichtete:
„Die vom Zlatoust-Regiment gefangengenommenen österreichischen Offiziere, vierzehn Mann, machten mit einer einzigen Ausnahme aufgrund ihrer Unkultiviertheit im
allgemeinen, ihres Aussehens und ihrer groben Umgangsformen einen deprimierenden
Eindruck“ (3. Dezember 1914)22; „die Reserveoffiziere [der österreichisch-ungarischen
Armee], die sich im Kampf als kleinmütig, verloren und ganz unfähig erwiesen, ihre Einheiten zu führen, nahmen gleichzeitig ebenso häufig wie die Truppenoffiziere Zuflucht
zu Säbel und Peitsche, um ihr Prestige und die nachlassende Disziplin aufrechtzuerhalten“ (27. Juli 1915).23 Auch der Verfasser eines Berichts der russischen militärischen
Aufklärung wendet sich, als er Fälle schlechter Versorgung der österreichischen Armee
17
18
19
20
21
22
23
Brusilov, Vospominanija. Мoskau 1963, S. 133.
Anm. Red.: worunter im Russischen die Deutschösterreicher verstanden werden.
Sergeev-Censkij, Brusilovskij proryv, S. 207.
Ebd., S. 151.
L. N. Vojtolovskij, Vschodil krovavyj Mars: po sledam vojny. Мoskau 1998, S. 285.
RGVIA, F. 2019. Op. 1. D. 505. L. 118–119.
RGVIA, F. 2019. Op. 1. D. 535. L. 75–76.
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330
Elena S. Senjavskaja
konstatiert, den Beziehungen zwischen Soldaten und Offizieren zu: „Den Mangel an
Proviant erklärten die Offiziere und Intendanten mit Angriffen der russischen Kavallerie, die hinter dem Feind ständig Brücken sprengt und Straßen unbefahrbar macht, sodass rechtzeitiger Nachschub unmöglich wird. Die Offiziere waren dabei mit Konserven
und sogar mit Wein bestens versorgt. Wenn sie während einer Rast zu tafeln begannen
und die Speisen mit Champagner begossen, kamen die hungrigen Soldaten näher und
blickten sie begierig an; wenn dann irgendjemand bat, ihnen wenigstens ein Stück Brot
zu geben, wurden sie von den Offizieren mit Säbelhieben verjagt.“24 Nicht weiter erwähnt
werden musste dabei die Tatsache, dass es sich bei den Soldaten um Vertreter der „unterdrückten slawischen Volksgruppen“ handelte.
Als der Kriegskorrespondent Aleksej Ksjunin von der Einnahme der mächtigen Festung Przemyśl durch die russischen Truppen berichtete, stellte er fest, dass die Schwäche des Feindes nichts mit einer ausweglosen Situation durch die lange Belagerung zu
tun hatte: „Beim Einzug unserer Truppen [in Przemyśl] machte die Festung keineswegs
den Eindruck einer hungernden Stadt unter Blockade; die Geschäfte waren zwar leer,
in den Cafés servierte man nur dünnen Kaffee ohne Zucker, aber es blieben noch viele
Pferdekadaver, für gutes Geld konnte man Fleisch von Kühen finden, jeder Bauer hatte Vieh und Geflügel. Ausgehungert wirkten nur die Slawen, während die deutschen
und ungarischen Offiziere mit ihrem schneidigen Aussehen auftrumpften und sogar
beeindruckend wohlgenährt waren.“25 Folgendermaßen äußerte sich der Zeuge über
die Sitten der habsburgischen Soldaten: „Sogar in tragischen Augenblicken stand bei
ihnen das Persönliche im Vordergrund, der Geist des Heldentums verirrte sich nicht in
die Festen der Österreicher. Unter den Bedingungen für ihre Kapitulation forderten die
Österreicher die Fortzahlung von Sold und Taschengeld an die Offiziere und baten, die
Listen mit den Auszeichnungen unbedingt nach Wien zu schicken; General Kusmanek
ersuchte in einem langen und unbeholfen auf Russisch formulierten Brief, seine Sachen
behalten zu dürfen, wobei man diese Bitte im Falle eines Wechsels an der Befehlsspitze
an die Zuständigen weiterleiten möge.“26 Im Bericht über den letzten Ausbruch vor der
Aufgabe der 23. Honvéd-Division, die sich in voller Stärke einer Kompanie russischer
Soldaten und einem Trupp Landwehrmänner ergab, führt der Autor ein interessantes
Detail an: „Die Offiziere brachen mit ihren Ordonnanzen aus, die ihnen die Koffer
nachtrugen.“27
L. N. Vojtolovskij, ebenfalls ein Zeitzeuge, berichtet: „Als ich in Lemberg die Bahnhofshalle betrat, bot sich mir ein seltsames Schauspiel. An langen Tischen etwa dreihundert
österreichische Offiziere mit Säbel und in den ungezwungensten Posen. Hin und wieder
ein russischer Offizier dazwischen. Herausgehoben eine sechsköpfige Gruppe an einem eigenen Tisch am Fenster. Darunter fallen zwei österreichische Generäle ins Auge: der eine
mager und groß, mit dem Gesicht eines lächelnden Habichts; der andere mit schwarzem
Schnurrbart, gedrungen, vom Typ Jude oder Italiener. Neben dem Großen ein hakennasiger
24
25
26
27
RGVIA, F. 2019. Op. 1. D. 533. L. 75–76.
A. Ksjunin, Neprestupnaja krepost‘ Peremyšl’. Pervaja mirovaja, S. 490.
Ebd., S. 489.
Ebd., S. 490.
Die Völker Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg aus Sicht des russischen Gegners
junger Offizier, der einen Hund an der Leine hält. Alle drei werfen belustigte Blicke in den
Saal […] Wie sich herausstellte, waren es Offiziere der Przemyśler Garnison, die sich gerade erst ergeben hatte […] Wenn man sich die Gesichter der Offiziere ansah – hauptsächlich
rotbackige, wohlgenährte und frisch rasierte Jugend – konnte man sich nur schwer vorstellen, dass der Grund für die Aufgabe der Garnison Hunger gewesen sein sollte.“28
Interessant auch ein in diesen Memoiren angeführter Dialog zwischen einem russischen Oberst und einem gefangenen österreichischen Leutnant: „,Es gibt viele Polen
unter euch?‘, interessiert sich der Oberst. ,Offiziere sehr wenige‘, antwortet der Österreicher, ,andere Völkerschaften sind viel stärker vertreten: Deutsche, Ungarn, Rumänen,
Juden.‘ Und fragend fügt er hinzu: ,Unter Ihren Offizieren gibt es offenbar keine Juden?‘
,Nein.‘ ,Aber unter den Soldaten schon?‘ ,Selbstverständlich.‘“29
Der Gegner wurde von den Russen somit nicht „insgesamt“ beurteilt, sondern differenziert nach Volksgruppen. Deutlich zum Ausdruck kam dies in einem besonderen Phänomen
des Ersten Weltkriegs, der Verbrüderung, die einen starken ethnischen Aspekt, zumindest
1915/16, hatte.30 S. N. Bazanov zufolge ist Verbrüderung „eine Art des Protests von Soldaten kriegführender Staaten gegen den Krieg, der sich in Begegnungen auf neutralem
Terrain auf der Basis eines gegenseitigen Verzichts auf Kampfhandlungen äußert“.31 Die
Offiziere betrachteten sie als „böswilligste Form der Verletzung der militärischen Disziplin“, erklärten in der Regel derartige Vorkommnisse allerdings mit der Langeweile
im Stellungskrieg, Neugier, Menschlichkeit und Ähnlichem, ohne anfangs darin eine
ernste Gefahr für die Armee zu sehen.32 „Wenn man von den Ursachen spricht, die die
Soldaten zur Verbrüderung veranlassten, so übersah das russische Kommando Faktoren
wie Nationalität und Religion“, hält Bazanov fest. „Bekanntlich dienten in den Armeen Deutschlands und insbesondere Österreich-Ungarns sehr viele Soldaten slawischer
Herkunft: Polen, Tschechen, Slowaken, Ukrainer und andere. In ihrer Masse sahen sie
in den russischen Soldaten keine Feinde. Gar nicht selten waren Fälle, wo sich große
Gruppen slawischer Soldaten den Russen geschlossen ergaben. Gefördert wurde diese
Einstellung dadurch, dass die zarische Regierung die Befreiung der slawischen Völker
aus der österreichisch-ungarischen und deutschen Knechtschaft zu einem der Hauptziele
des Ersten Weltkriegs erklärt hatte. Hinsichtlich des religiösen Faktors ist zu sagen, dass
[…] der Höhepunkt der Verbrüderungsszenen auf die Osterfeiertage fiel, an dem die
Christen unter den Soldaten – und dies war die absolute Mehrheit – eines ihrer höchsten
Feste begingen. An der Kaukasischen Front fehlten diese beiden Faktoren, sodass es
zwischen russischen und türkischen Soldaten auch zu keiner Verbrüderung kam.“33
28 L. N. Vojtolovskij, Vschodil krovavyj Mars: po sledam vojny. Мoskau 1998, S. 182f.
29 Ebd., S. 183.
30 Das russische Kommando stellte Fälle von Verbrüderung an der Front erstmals im April 1915 vor Ostern fest; weit verbreitet war das Phänomen in der zweiten Jahreshälfte 1916 und insbesondere 1917.
31 S. N. Bazanov, Fenomen bratanija v Pervoj mirovoj vojne. Voenno-antropologičeskaja antropologija.
Ežegodnik. 2003/2004. Aktual’nye problemy izučenija. Мoskau 2005, S. 287.
32 Siehe z.B.: A. I. Denikin, Оčerki Russkoj Smuty. Krušenie vlasti i armii, fevral‘ – sentjabr‘ 1917.
Moskau 1991, S. 329; Ju. N. Danilov, Na puti k krušeniju: Očerki iz poslednego perioda russkoj monarchii. Moskau 1992, S. 147.
33 Bazanov, Fenomen bratanija v Pervoj mirovoj vojn., S. 289f.
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Die ethnische Nähe nicht nur zu den Soldaten in den Schützengräben des Feindes,
sondern auch zu den Zivilisten auf dem Territorium des Gegners bewirkte, dass sich die
russische Armee ihrer historischen Mission, der „Befreiung der unterdrückten slawischen
Brüder“, bewusst werden konnte. In diesen Zusammenhang passt die Beschreibung Galiziens in einem Brief des Artilleriefähnrichs F. A. Stepun vom 28. Oktober 1914: „Von Lukov
fuhren wir über Radzivillov gegen Lemberg. Nach Galizien […] zogen wir als Sieger ein,
auf der vorderen Plattform der Lokomotive stehend. Die Gegend ist vollkommen russisch,
genauer gesagt polnisch-russisch. Die Bevölkerung begrüßte uns mit ehrlichem Wohlwollen und merklicher Neugier. Weiße Lehmhütten, pyramidenförmige Pappeln, Strohdächer,
orthodoxe Kirchen – mit einem Wort typisches Kleinrussland, das in seinem ganzen äußeren und inneren Wesen Deutschland und dem deutschen Geist Österreichs zutiefst fremd ist.
All das muss zweifelsohne Russland gehören, nicht aus dem Recht des Krieges, sondern aus
der Natur und dem Wesen dieses Landes.“34
Im Übrigen hinderte dies die „Befreier“ weder am Requirieren noch am Stehlen und
Marodieren, was jene, die sie anfangs „mit ehrlichem Wohlwollen“ begrüßten, erbitterte.35 Irgendwie musste die Armee mit Nahrung versorgt werden, und man versorgte sie
auf Kosten der lokalen Bevölkerung. Und selbst gebildete Menschen hatten, auch wenn sie
Verständnis für die ausgeplünderten Bewohner aufbrachten, keine besonderen Gewissensbisse. „Allzu streng kann ich das ganz und gar nicht sehen“, schrieb Stepun, „einer, der sein
Leben gibt, kann das Wohlergehen eines Galiziers und das Leben seines Kalbs oder Huhns
nicht schonen. Einer, der selbst höchster Gewalt ausgesetzt ist, kann nicht umhin, selbst zum
Gewalttäter zu werden […]“36
Die oberste staatliche wie auch militärische russische Macht unterschied, je nachdem, mit welcher ethnischen Gruppe des Gegners man es zu tun hatte. Man unterstützte
die nationalistischen Bewegungen in Österreich-Ungarn, denen man für den Fall eines
Sieges der Entente vage Hoffnungen auf Unabhängigkeit machte, und die diversen russophilen Organisationen betrachtete man als natürliche Verbündete im Lager des Feinds.
General A. A. Brusilov schreibt in seinen Erinnerungen, wie er nach der Einnahme
von Lemberg im August 1914 „den Befehl gab, alle Gefängnisse, die in unsere Hand
gefallen waren, zu inspizieren und unverzüglich die politischen Gefangenen, die von der
österreichischen Regierung aufgrund ihrer Russophilie inhaftiert worden waren, freizulassen“. Mit dieser Aufgabe beauftragt wurde das Mitglied der Staatsduma und ehemalige Offizier der Leibgarde, Graf Vladimir Bobrinskij, der bei der Kriegserklärung in den
militärischen Dienst zurückgekehrt war und der „diese Mission außerordentlich gerne
übernahm, da er schon zu Friedenszeiten enge Verbindungen zur russophilen Partei der
Ruthenen unterhielt“. „Ich kann mich an die Zahlen nicht erinnern“, schreibt Brusilov,
„aber es gab sehr viele solche Gefangene, und sie wurden unverzüglich freigelassen.“37
34 F. A. Stepun, Iz pisem praporščika-artillerista. Tomsk 2000, S. 11.
35 Siehe: Vojtolovskij, Vschodil krovavyj Mars., S. 101, 103, 106, 113, 123, 130, 154, 157, 159f., 165–
167, 187, 190, 205, 218–222, 228, 242f., 277, 295, 297, 304, 308, 312, 318f., 331, 339, 391, 394,
424; Os’kin, Zapiski praporščika, S. 244–246; F. A. Stepun, Iz pisem praporščika-artillerista, S. 20f.;
Brusilov, Vospominanija, S. 136 und S. 196.
36 Stepun, Iz pisem praporščika-artillerista, S. 20.
37 Brusilov, Vospominanija, S. 99.
Die Völker Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg aus Sicht des russischen Gegners
L. N. Vojtolovskij beschreibt eine zufällig in seine Hände geratene Broschüre mit
folgendem Titel auf dem Umschlag: „Das heutige Galizien. Ethnographischer und kulturell-politischer Zustand im Zusammenhang mit den national-gesellschaftlichen Stimmungen. Bericht, verfasst von der militärischen Zensurbehörde des General-Quartiermeisters des Stabs des Oberkommandierenden der Armeen der Südwestlichen Front.
Stabsfelddruckerei. 1914.“ Das Büchlein enthält allerlei Anweisungen für die Repressionsorgane: Wie geht man mit der eroberten Bevölkerung um? Wie erkennt man Freunde
und Feinde Russlands? Wie forscht man politische Geheimnisse aus? Wie verfasst man
Proklamationen und bringt sie unter das Volk? Wie kleiden sich und welche Lieder singen
die Anhänger Russlands („Volksrat der Galizischen Rus’“), und was singen die ukrainischen Nationalisten (sogenannte „Mazepincy“) und so weiter. Besonderes Augenmerk
schenkte man den Proklamationen, die unweigerlich mit dem Aufruf schlossen: „Wirf
die Waffe fort und ergib dich dem rechtgläubigen Heer, das dich nicht als Kriegsgefangenen behandeln wird, sondern als Bruder, der aus der Unfreiheit unter das schützende
Dach der väterlichen Kate heimkehrt. Wirf die Waffe fort, damit in der großen Stunde
der Befreiung der Galizischen Rus’ nicht der Bruder des Bruders Blut vergieße.“38
Gewisse Reverenzen machte man auch den Polen. So war eine der ersten Maßnahmen des Großfürsten Nikolaj Nikolaevič als Oberkommandierender ein am 14. August
1914 veröffentlichter Aufruf an die Polen, worin ihnen für die Unterstützung Russlands
die Vereinigung Polens zu einem autonomen Gebilde und die künftige Garantie der bürgerlichen Freiheiten – „Glaubensbekenntnis, Sprache und Selbstverwaltung“ – versprochen wurden. „Dieser Aufruf war ein sehr weitblickender politischer Schritt Russlands,
denn weder Deutschland noch Österreich-Ungarn konnten darauf mit dem Versprechen
reagieren, sämtliche Teile Polens zu vereinen, ohne damit die gegenseitigen Interessen
zu beeinträchtigen.“39
Man muss in Rechnung stellen, dass infolge der Wechselfälle einer jahrhundertelangen gemeinsamen Geschichte „die Beziehungen der Russen zu keinem anderen
slawischen Volk so komplex und widersprüchlich waren, wie zu den Polen“.40 Hier
verbinden sich ethnische Nähe mit ethnokulturellen und religiösen Differenzen, militärische Konflikte mit langen Perioden gemeinsamer Staatlichkeit (Rzeczpospolita, Russisches Reich), nationale Unterdrückung mit der nationalen Befreiungsbewegung und
so weiter. Der Erste Weltkrieg aber brachte etwas Neues in die Beziehungen zwischen
Russen und Polen, ließ neue Gefühle entstehen und Hoffnungen, dass man angesichts
der gemeinsamen Gefahr vonseiten der Deutschen, des „historischen Feindes des gesamten Slawentums“ – wie es in der Kriegspropaganda, mit Widerhall bei beiden Völkern, hieß – die Kränkungen der Vergangenheit vergessen und es endlich zu einer Aus38 Vojtolovskij, Vschodil krovavyj Mars., S. 144f.
39 Siehe: S. N. Bazanov, Otličnyj glavnokommandujuščij, in: Istorija. Eženedel’noe priloženie k gazete
„1 sentjabrja“. 2004. Nr. 4., S. 4–11.
40 Siehe: A. I. Kuprijanov, Poljaki v predstavlenijach russkich (1760–1860-е gg.), in: Rossija i vnešnij
mir. Dialog kul’tur. Sbornik statej. Moskau 1997, S. 31–40; Ja.Mačevskij, Stereotip Rossii i russkich v pol’skoj literature i obščestvennom soznanii, in: Poljaki i russkie v glazach drug druga. Moskau 2000, S. 6–21; S. Fal’kovič, Vosprijatie russkimi pol’skogo nacional’nogo charaktera i sozdanie
nacional’nogo stereotipa poljaka, in: Poljaki i russkie v glazach drug druga, S. 45–71; und andere.
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söhnung kommen würde. Mit Kriegsbeginn wandelte sich das Verhältnis zu Russland
sowohl in den Kreisen der polnischen Intelligenzija, als auch bei den einfachen Polen.
Wobei dies nicht nur für die polnischen Länder galt, die zum Russischen Reich gehörten, sondern auch für jene, die Teil der gegnerischen Staaten waren. Am 22. August
1914 meldete die Zeitung „Svet“: „[…] Henryk Sienkiewicz hat einen flammenden
Aufruf an die österreichischen und preußischen Polen verfasst, in dem er sie beschwört,
sich nicht gegen die Russen zu stellen. Der in einer riesigen Auflage gedruckte Aufruf
des großen polnischen Schriftstellers ist bereits ins Ausland gelangt. Sein Erfolg ist
umwerfend.“41
Noch bedeutender erscheinen uns die Zeugnisse von der Stimmung unter der polnischen Bevölkerung. So erschien in der Zeitung „Novoe vremja“ vom 11. Oktober
1914 der Beitrag „Der heutige Tag“. [Sammlung zugunsten Polens] von V. Rozanov,
in dem eine durchaus charakteristische Episode ge