Umfeldszenarien für 2050
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Umfeldszenarien für 2050
Umfeldszenarien für 2050 Vorstellungen über die Zukunft und ihre Bedeutung für den Verbrauch und die Nutzung natürlicher Ressourcen szenariobasierte Strategieentwicklung anhand Parmenides EIDOS www.eusg.de Impressum Herausgeber: European School of Governance (eusg) GmbH Am Festungsgraben 1 10117 Berlin Tel: +49 (0) 30 20 61 62 57 E-Mail: info@eusg.de Internet: www.eusg.de Gefördert im Rahmen des Umweltforschungsplans: FKZ: 3711 93 103 Laufzeit: 15.01.2012 - 31.05.2015 Autorinnen und Autoren: Doris Bergmann und Dr. Thomas Lehr (European School of Governance) Catriona McLaughlin Graphik und Design: Barbara Petkus (European School of Governance) Mit wertvollen Ideen von: Ullrich Lorenz (Umweltbundesamt) Publikation als pdf:: https://www.parmenides-foundation.org/application/eusg/umfeldszenarien.pdf Bildquellen: Titel: © Bokeh lights, Blured traffic light night Stockfoto / iStockphoto.com; S.6: © autumn, aerial view of sand and rock mine/ fotolia.com; S.7: © #19148358/ iStockphoto.com; © hand berühren sozialen Medien, soziale Netzwerk-Konzept. 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Ressourcenpolitik für und in einer Welt von morgen 6 2. Fünf qualitative Umfeldszenarien für eine vorausschauende Ressourcenpolitik 9 Szenario A „Gestern – heute – morgen“ – das Trendszenario „Fortschreitende Industrialisierung“ Story „Maximilian aus München – eine Autofahrt“ 11 Szenario B Effizienz, Innovation und Digitalisierung – das Szenario „Starke Innovation“ Story „Anna aus Berlin – ein Hausbesuch“ 16 Szenario C Minimalistisch, ressourceneffizient und regionalisiert – das Szenario „Postwachstum“ Story „Leon aus Schorfheide – ein Hofbesuch“ 21 Szenario D Turbulente Finanzmärkte zulasten der Staatskassen – das Szenario „Fragmentierte Welt“ Story „Manuel K. und Manuel W. – ein Besuch in zwei Realitäten“ 26 Szenario E Es geht nicht weiter wie bisher – das Krisenszenario „Zerrüttete Welt“ Story „Marlena aus Hamburg – Besuch bei der neuen deutschen Generation“ 31 3. Methodik der szenariobasierten Strategieentwicklung 35 4. Fazit und Ausblick 40 5. Quellenverzeichnis 41 3 Vorwort Liebe Leserinnen, liebe Leser, Im Jahr 1972 veröffentlichte der Club of Rome den Bericht „Die Grenzen des Wachstums“, eine Studie, die trotz vieler Kritik als ein Meilenstein zum Aufzeigen der Wachstums- und Ressourcenproblematik gilt. Die Studie zeigt nicht nur die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen, sondern erläutert Dass es sich hierbei nicht um eine lineare Entwicklung handelt, zeigen wirtschaftlich herausfordernde Zeiten, wie Anfang der neunziger Jahre oder verursacht durch die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008, wo wiederum eine nachrangige Betrachtung der Umweltpolitik (und damit auch der Ressourcenpolitik) zu beobachten war. auch in systemischer Weise die Verknüp- Ressourcenpolitik findet also nicht nur im fung von Ressourcennutzung, Wirtschaft, abgegrenzten Feld der Umweltpolitik statt, Umwelt und sozialem System. Die Umwelt- wo bereits die verschiedenen Dimensionen politik in Deutschland veränderte sich in die- von Nachhaltigkeit in enger Wechselwir- sen 40 Jahren: Die Umweltbelastungen der kung zueinander stehen, sondern in einem letzten Jahrzehnte, allseits sichtbare Wald- dynamischen Spannungsfeld, welches auch schäden, Unfälle mit spürbaren Auswir- vermeintlich nicht im Zusammenhang mit kungen, die Knappheit fossiler Energieres- Ressourcen stehende Treiber inkludiert. sourcen sowie der Klimawandel waren eine stark treibende Kraft für die Umweltpolitik sowie ihren Institutionalisierungsprozess in Form konkreter Ziele und Maßnahmen. Mit dieser Publikation soll ein Blick auf genau diese Treiber geworfen werden. Denn die Umsetzung und Wirkung von Politikprogrammen ist maßgeblich davon abhängig, Diese Entwicklung ging aber auch einher mit welche Faktoren den Erfolg oder die Bedeu- einem sich stetig veränderten Blick auf die tung dieses Politikfelds beeinflussen. Durch Ressourcenpolitik: Während im Zuge der unterschiedliche Annahmen über zukünftige Industrialisierung der Zugang zu Ressour- Entwicklungen, die als Treiber zu verstehen cen eine rein strategische Bedeutung hatte, sind, wird in dieser Publikation ein Blick in haben sich über die Zeit auch die Bedin- die Zukunft geworfen und Umfeldbedingun- gungen und Möglichkeiten, unter denen gen für die Ressourcenpolitik beschrieben der Umgang mit natürlichen Ressourcen und ihre potentiellen Wirkungen analysiert. gestaltet werden kann und muss, verändert. Viel Spaß beim Lesen! Doris Bergmann 5 1 Warum Umfeldszenarien? Ressourcenpolitik für und in einer Welt von morgen Ressourcenpolitik heute Herausforderungen An einem Industrie- und Produktionsstandort wie Deutschland spielen natürliche Ressourcen unter dem Aspekt der Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit eine bedeutende Rolle. Im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung geht es aber auch darum, die Nutzung von Ressourcen umweltverträglich zu gestalten.1 So klar ressourcenpolitische Ziele auch formuliert sein mögen, die große Herausforderung liegt vor allem in der Komplexität der Erarbeitung einer Strategie und ihrer Vielfalt an zusammenwirkenden Aktivitäten, und der damit einhergehenden Identifikation und Auswahl von geeigneten Maßnahmen, um diese Ziele zu erreichen. Mit dem Ressourceneffizienzprogramm der Bundesregierung (ProgRess) soll ein wesentlicher Beitrag zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie geleistet werden. Dabei verpflichtet sich Deutschland einer anspruchsvollen Ressourcenpolitik: die Rohstoffproduktivität bis 2020 gegenüber 1994 zu verdoppeln. Grundsätzlich geht es darum, dass Ressourceneffizienz und die Inanspruchnahme von Ressourcen in einem hochentwickelten Industrieland ohne Wohlstandseinbußen gesteigert werden kann.2 Die vielfältigen Wechselwirkungen innerhalb dieses Politikbereichs führen letztendlich zur Notwendigkeit, die Maßnahmenpakete auf ihre Widerspruchsfreiheit und innere Konsistenz zu sichern. Aber nicht nur widerspruchsfreie Maßnahmenpakete und ressourcenpolitische Instrumente, sondern auch die Entwicklung und Bewertung von denkbaren alternativen Handlungsoptionen, ermöglicht eine hohe potentielle Erreichbarkeit der gesteckten ressourcenpolitischen Ziele. Durch eine entsprechende Gewinnung und Nutzung von Rohstoffen und Materialien sollen vor allem Auswirkungen auf die Umwelt minimiert und Ökosystemdienstleistungen erhalten werden. Es geht auch um eine Optimierung des Verhältnisses von Wertschöpfung und Materialeinsatz, um Abhängigkeiten zu verringern, neue Marktchancen zu erschließen und Umweltwirkungen zu mindern. Globale Gerechtigkeit im Sinne einer möglichst gleich großen zur Verfügung stehenden Menge an Materialien und Rohstoffen sowie das Einhalten von Sozialstandards entlang der Wertschöpfungskette sind Ziele globalen Maßstabs, zu denen Deutschland beitragen möchte. Ziel ist es aber auch, die Versorgung und Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen, indem Rohstoffpreise stabil und bezahlbar bleiben.3 Definition von natürlichen Ressourcen: „Natürliche Ressourcen umfassen im weiteren Sinne alle Funktionen des Ökosystems Erde sowie des Sonnensystems, die vom Menschen direkt oder indirekt genutzt werden oder genutzt werden können bzw. die die Grundlage seines (Über-)Lebens und Wirtschaftens und der Co-Existenz mit der Natur darstellen. (...) Im engeren Sinne versteht man unter natürlicher Ressourcen zum einen biotische und abiotische Rohstoffe (Biomasse und Mineralien) und Wasser, die für die verschiedenen sozio- industriellen Zwecke (für Nahrungsmittel, Bau- und Werkstoffe, zur Energiegewinnung usw.) auf Grund ihrer stofflichen oder energetischen Eigenschaften oder technologischer Gegebenheiten der natürlichen Umwelt entnommen werden, und zum anderen das Land, das dafür und darüber hinaus für verschiedene Zwecke und in unterschiedlicher Weise und Intensität genutzt wird." 4 1| 2| 3| 4| 6 Dauke, 2011. ProgRess, S. 29. ProgRess, S. 24ff. Schütz & Bringezu, 2008. Während in der Strategie Maßnahmen zu möglichen Ansatzpunkten formuliert werden, finden in der Welt Veränderungsprozesse statt, die nicht durch die zentralen Akteure der Strategie beeinflussbar sind. Auch diese möglichen Umfeldveränderungen sollten in adäquater Form im Prozess der Strategieentwicklung mit berücksichtigt werden. Solche Veränderungen im Umfeld lassen sich beispielsweise beschreiben durch das Anwachsen der Weltbevölkerung, dem fortschreitenden Klimawandel, der zunehmenden Industrialisierung sowie der Herausbildung einer Mittelschicht in den Schwellenländern und der damit verbundenen Verbreitung westlicher Konsumgewohnheiten. Diese möglichen Umfeldveränderungen müssen in adäquater Form in einer Strategie mit berücksichtigt werden und erfordert damit zum einen eine entsprechende Auseinandersetzung mit der Zukunftsentwicklung sowie eine verstärkte politikfeldübergreifende und integrierte Betrachtungsweise von Umwelt- und Ressourcenpolitik. Zukunftsfähigkeit Lässt sich denn die Zukunft tatsächlich erforschen? Vorstellungen über die Gegenwart, die vor einigen Jahrzehnten verfasst wurden, zeigen deutliche prognostische Misserfolge und haben damit die Zukunftsforschung als fundierte Wissenschaft in Frage gestellt. Im Mittelpunkt der Zukunftsforschung steht daher nicht die Prognostizierbarkeit zukünftiger Entwicklungen, sondern die Generierung von Zukunftsbeschreibungen, die wissentlich mit einer hohen Unsicherheit behaftet sind und in Form von offenen und adaptierbaren Szenarien eine Welt von morgen beschreiben.5 Diese Szenarien erhalten ihre Relevanz durch eine Reihe von möglichen, sehr unterschiedlichen Zukunftsbeschreibungen, die den Szenarioraum – den Raum möglicher Entwicklungen – breit auffächern. Mit der Schaffung eines solchen Szenarioraums steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die tatsächliche Zukunft innerhalb dieses „Raums“ liegt und dadurch möglicherweise zumindest in Teilen beschrieben wurde. Bedeutend ist somit das Aufzeigen einer Vielfalt von denkbaren Entwicklungen, die schnell verworfen und verändert werden können und müssen. Sie stellen den Raum möglicher Zukünfte dar, deren Auswirkungen auf den Schutz und die nachhaltige Nutzung von Ressourcen in Politikprogrammen berücksichtigt werden sollten. Auch wenn die Zukunft nicht vorhergesagt werden kann, so erscheint es sinnvoll, sich mit möglichen Umfeldentwicklungen und den damit verbundenen Chancen und Einschränkungen für die Politikgestaltung auseinander zu setzen. Niemand kann vorhersehen, wie beispielsweise China mit Rohstoffexporten umgehen wird; denkbar ist allerdings durchaus, dass die Exporte eingeschränkt werden, andere Wirtschaftsallianzen getroffen werden, Konflikte die Region erschüttern oder aber auch die Grenzen geöffnet werden. An dieser Stelle wird keine Vorfestlegung getroffen, aber es lohnt sich zu durchdenken, welchen Einfluss die eine oder andere Entwicklung auf eine nationale Rohstoffpolitik haben kann. Auf diese Weise kann die Zukunftsfähigkeit von Politikprogrammen durch eine flexible Anpassung an veränderte Umfeldveränderungen erhöht und Politikinnovationen erleichtert werden: bei letzterem geht es – im Sinne einer integrierten Sichtweise – um die Schaffung von politikfeldübergreifenden Maßnahmenbündeln und die Erörterung von politischen Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten. Nicht alle Trends und Entwicklungen spielen für die Ressourcenpolitik eine Rolle. Wichtige Schlüsselentwicklungen wie beispielsweise der globale wirtschaftliche Wohlstand und Konsum der prognostizierten 9 Milliarden Menschen, müssen identifiziert werden. Die beschriebenen Umfeldszenarien bringen eine grundsätzliche Herausforderung mit sich: Sie liegen mit dem Jahr 2050 - in Bezug zu Gestaltungsmöglichkeiten von Politik - in ferner Zukunft. Die sehr vagen Zukunftsbeschreibungen stellen einen Kontrast zur Detailtiefe von Politikprogrammen dar, deren Zusammenspiel demnach nur eingeschränkt analysiert werden kann. Aus diesem Grund sind Umfeldszenarien als richtungsweisende Entwicklungen zu verstehen, die auch der Politik dementsprechend eine „Richtung“ geben können. 5 | Grunwald, 2009. 7 Somit wird in den folgenden Kapiteln beschrieben, in welche denkbaren Zukünfte eine Ressourcenpolitik eingebettet werden könnte beziehungsweise müsste und welche strategischen Optionen zur Verfügung stehen. Der Abgleich der Strategien mit den ressourcenpolitischen Zielen einerseits und den möglichen Entwicklungen des Umfelds andererseits ermöglicht wesentliche Schlussfolgerungen für die Formulierung von strategischen Handlungsoptionen. Storytelling In ihrer Beschreibung sind Szenarien im Wesentlichen ein Zusammenfügen von unterschiedlichen Trends und Ereignissen. In ihrer Gesamtheit und Komplexität sind sie für den Leser heute zwar verständlich und nachvollziehbar, bleiben allerdings selten in Erinnerung und hinterlassen nur eingeschränkt einen bleibenden Eindruck, der weitervermittelt wird. Genau aus diesem Grund wurde für jedes der Szenarien eine Story erzählt, die die unterschiedlichen Welten erlebbarer, greifbarer und erzählbar macht und damit vor allem den Blick für die alltagsweltliche Relevanz der möglichen Zukünfte schärft. Ungeachtet dessen, ob sie vom Leser als erwünscht, mustergültig, strittig, warnend oder abschreckend wahrgenommen werden, zielen sie darauf ab, subjektive Gedankenspiele und Diskussionen auszulösen. Im Vordergrund steht damit die Auseinandersetzung mit der Zukunft, die zu konstruktiven Diskussionen und der Möglichkeit der aktiven Gestaltung unserer Zukunft anregen soll. Umfeldszenarien... ff beschreiben mögliche Umfelder in der Zukunft (hier: des Politikfelds der Ressourcenpolitik), dessen Entwicklungen weitgehend außerhalb des Handlungsfeldes liegen. ff schaffen eine Möglichkeit der Auseinandersetzung mit dem Umfeld eines bestimmten Handlungsfelds. ff sind alternative, in sich widerspruchsfreie und plausible Beschreibungen eines Zustands in der Zukunft. ff stellen die Zukunft als eine Vielzahl von möglichen, vagen und recht unpräzisen Entwicklungen dar. ff sind keine Prognosen oder Vorhersagen, sondern Ansammlung von gegenwärtigem Wissen über die Zukunft (qualitativ). ff können als Kriterium zur Bewertung von Strategien herangezogen werden bzw. weitere Handlungsnotwendigkeiten identifizieren, um Entwicklungen zu stärken bzw. zu schwächen. 8 2 Fünf qualitative Umfeldszenarien für eine vorausschauende Ressourcenpolitik Mögliche Zukünfte Bei der Entwicklung von Umfeldszenarien für die Ressourcenpolitik handelt es sich weder um quantitative Prognosen, die auf Grundlage von Heuristik und Algorithmen in unterschiedlichen Verfahren Hochrechnungen erstellen, noch um Fiktionen und Utopien, die weitgehend losgelöst vom tatsächlich Möglichen geschaffen werden. Umfeldszenarien beschreiben hypothetisch und skizzenhaft qualitative, plausible und in sich konsistente alternative Umfelder, in die die Ressourcenpolitik Deutschlands im Jahr 2050 eingebettet sein könnte. Sie stellen eine Sammlung möglicher Ausprägungen der Zukunft dar, die den Schutz und die nachhaltige Nutzung von Ressourcen in Deutschland stark beeinflussen, erheben allerdings keinen Wahrheitsanspruch. Durch die alternativen und damit sehr unterschiedlichen Umfeldszenarien wird versucht, einen Zukunftsraum aufzuspannen, der die Bandbreite von Projektionen konsistent bündelt und abbilden kann.6 Auf diese Art und Weise versuchen diese qualitativen Gesamtbilder die Zukunft mit ihrer Mannigfaltigkeit erfassbarer zu machen.7 Mit diesen qualitativen Umfeldszenarien soll das Denken in alternativen, möglichen Zukünften gefördert und damit Orientierungswissen für heutige Entscheidungen geschaffen werden.8 6| 7| 8| 9| Umso mehr sich unterschiedliche Akteure mit der Zukunft als einen Raum mit einer Vielzahl von – in qualitativer Hinsicht – recht vagen möglichen Entwicklungen und deren Wechselwirkungen auseinandersetzen, desto leichter können sich auch Möglichkeiten des Umgangs mit Ungewissheiten zukünftiger Entwicklungen eröffnen und desto mehr kann das Reaktionsvermögen auf plötzliche Umfeldveränderungen beschleunigt werden.8 Peter Schwartz hat die Zielsetzung für die Entwicklung von Szenarien auf eine prägnante Formel gebracht: "The objective of good scenarios is not to make better predictions, but better decisions." 9 Damit stellen die Umfeldszenarien eine Möglichkeit des Umgangs mit Ungewissheiten von zukünftigen Entwicklungen dar: wie gestaltet sich der politische Handlungsraum und welche ressourcenpolitischen Ansätze wären in den Szenarien überhaupt denkbar bzw. notwendig? Welche Möglichkeiten für die Ressourcenpolitik bieten sich, die aufgezeigten Entwicklungen zu stärken bzw. zu schwächen? Welche Möglichkeiten der Ressourcenschonung liegen in der Wirtschaftsstrukturplanung, der Außenpolitik und der Finanzierung also auch in Produktionsprozessen, -produkten und in der Infrastrukturplanung und welche Handlungsmöglichkeiten gibt es auf gesellschaftlicher Ebene sowie in der Aus- und Weiterbildung? Kosow & Gaßner, 2008, S. 14. Kerber, Schramm, Winker, 2014, S.9. Kosow & Gaßner, 2008, S. 12 Schwartz, 1996. 9 Die Zukunft im (Über)blick Jedes dieser denkbaren ressourcenpolitischen Umfelder, die in Abbildung 1 dargestellt sind, ist ein Zusammenspiel von unterschiedlichen nationalen und globalen Entwicklungen, von denen ausgegangen wird, dass sie weitgehend außerhalb des Handlungsbereiches der deutschen Ressourcenpolitik liegen. Dabei werden im Szenario „Fortschreitende Industrialisierung“ gewisse Entwicklungen und Trends der jüngsten Vergangenheit aufgezeigt; denkbare Krisen, Strukturumbrüche oder Diskontinuitäten treffen nicht ein. Ein weiteres und letztes Szenario „Postwachstum“ beschreibt eine stark veränderte Wirtschafts- und Lebensweise hervorgerufen durch bewusste Lebensstil- und Werteveränderung: friedlich, minimalistisch, schlicht und naturverbunden. Dieses Szenario wurde als sehr unwahrscheinlich, doch – ebenso wie Fortschreitende Industrialisierung und Starke Innovation – als wünschenswert eingeschätzt. Innovationen spielen im Szenario „Starke Innovation“ die treibende Rolle jeglicher Entwicklungen: eine global und lokal stark vernetzte Welt geprägt von Trends der Digitalisierung, hoch flexiblen Arbeitswelten, effizienten Strukturen und einem veränderten Werteverständnis. Beide Szenarien wurden als die wahrscheinlichsten und wünschenswertesten eingeschätzt. Im Gegensatz dazu steht das Szenario „Fragmentierte Welt“, in dem die wirtschaftliche Situation Deutschlands zwar noch verhältnismäßig gut abschneidet, die gesellschaftliche Schere allerdings immens zugenommen hat. Die Welt ist hier in jeglicher Hinsicht geprägt von tiefen ökonomischen, sozialen und politischen Gegensätzen – die Beschreibung einer fragmentierten Welt. Zusammen mit dem Krisenszenario „Zerrüttete Welt,“ das von Finanzund Wirtschaftskrisen sowie immensen ökologischen Herausforderungen gezeichnet ist, wurden diese beiden Szenarien als die unwahrscheinlichsten und dazu auch als die unerwünschtesten eingestuft. Abbildung 1: Umfelder als Zukunftsräume Storytelling: Erzählungen der Zukunft ff Die Realität jedes Umfeldszenarios wird in eine Erzählung gebracht, die sich im Jahr 2050 ereignet. Dabei begleitet die Autorin jeweils ein oder zwei Personen im Alltag dieses Jahres 2050. ff Diese lebensnahen Erzählungen dienen zur Unterstützung der konkreten Vorstellbarkeit des jeweiligen Umfeldszenarios, indem sie vor allem den Blick für die alltagsweltliche Relevanz der möglichen Zukünfte schärfen. ff Die Erzählungen sollen eine Welt nahebringen ohne sie zu erklären. ff Egal ob erwünscht, mustergültig, strittig, warnend oder abschreckend, sie zielen darauf ab Gedankenspiele und Diskussionen auszulösen. ff Die Stories können unterhalten, inspirieren oder berühren; sie können den Leser zum Schmunzeln und Nachdenken bringen und damit zum Weitererzählen animieren. ff Gute Geschichten haben eine bedeutende Stärke: sie können einen bleibenden Eindruck hinterlassen. 10 Szenario A „Gestern – heute – morgen“ – das Trendszenario Fortschreitende Industrialisierung „Die Staaten, einschließlich Deutschland, haben viele Kompetenzen auf die europäische Ebene abgegeben. Das globale Wirtschafts- und Handelssystem wird nach wie vor stark von einigen wenigen Industriestaaten geprägt, wobei einige Schwellenländer mit in die Liga der Industriestaaten aufgestiegen sind. Trotz der intensiven Warenströme ist der Finanzmarkt hingegen weitgehend reguliert. Durch den mehr oder weniger uneingeschränkten Welthandel, bietet der gute Zugang zu den Rohstoffen beste Rahmenbedingungen für die deutsche Industrie. Maßnahmen zur Gestaltung einer nachhaltigen, ökologisch und sozial geprägten Finanzwelt fehlen, vorrangiges Ziel internationaler Standards ist die Stabilisierung des Bankensystems. Hierzulande existiert ein gut ausgebautes Sozialsystem, das zu relativ geringen materiellen Ungleichheiten sowie hohem Lebensstandard für eine breite Mittelschicht führt. Die Gesellschaft ist stark statusgetrieben und schnelllebig; das Umweltbewusstsein spielt dabei eine eher untergeordnete Rolle.“ Globale politische und wirtschaftliche Entwicklung Die Europäische Union, der ehemalige Staatenbund hat sich im Jahr 2050 weiter zu einer Art europäischen Republik mit eigener Verfassung entwickelt. Kennzeichnend dafür sind weitreichende Kompetenzabgaben an die europäische Ebene, die in Form einer repräsentativen Demokratie die Interessenspluralität einer breiten und heterogenen europäischen Öffentlichkeit vertritt. Deutschland ist ein starkes Industrieland; doch nicht nur dort, sondern auch weltweit hat die Industrialisierung zugenommen. Einige ehemals sogenannte Schwellenländer wie die BRICS-Staaten haben sich zu starken, international agierenden Industriestaaten entwickelt. Die Mittelschicht dieser Länder ist stark gewachsen und dominiert durch ihren hohen Anteil an der Weltbevölkerung die globalen Konsumgewohnheiten und zusammen mit anderen Industriestaaten das weltweite Handels- und Wirtschaftsgeschehen. Andere Regionen, wie z.B. Teile des afrikanischen Kontinents, wurden wirtschaftlich stark vom Rest der industrialisierten Welt abgehängt. Die Dominanz der Industrieländer und das damit verbundene wirtschaftliche und soziale Gefälle zwischen einzelnen Ländern haben sich verstärkt. 11 hohen Ressourcenverbrauch ausgegeben. Eine globale, schnelllebige Eventkultur ist verbreitet; soziale Beziehungen hingegen sind zunehmend flüchtig und unverbindlich. Das Bewusstsein für eine Notwendigkeit eines nachhaltigen und ressourcenarmen Lebensstils ist vorhanden und teils auch erwünscht, doch die Lebensgewohnheiten sind durch materialistische Statussymbole dominiert. Technologische Entwicklungen haben zu gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen geführt, dabei kommt der effizienzgetriebenen Innovation eine besondere Aufmerksamkeit zu. Im Mittelpunkt steht demnach, mit einer vorhandenen Menge an Ressourcen einen maximalen Output zu generieren. Ob in Wirtschaft, Politik oder Gesellschaft, im Mittelpunkt vieler Aktivitäten steht das Maß der Wirtschaftlichkeit und Effizienz. Industrie und Finanzen Deutschland ist nach wie vor ein bedeutender Industrieund Produktionsstandort für eine Reihe von importabhängigen, internationalen Konzernen sowie für nischenorientierte, weltweit vernetzte kleinere und mittlere Unternehmen. Die Spezialisierung – vor allem der industrienahen Dienstleistungen – hat stark zugenommen. Wertschöpfungsketten sowie Märkte sind weitgehend global strukturiert, was zu nicht unerheblichen Abhängigkeiten und Vulnerabilitäten der deutschen Wirtschaft führt. Eingebettet ist die deutsche Wirtschaft in ein offenes Welthandelssystem, das durch eine hohe Verfügbarkeit und Exploration von Rohstoffen gekennzeichnet ist. Die Finanzmärkte sind durch internationale Standards global reguliert, bieten mehr Transparenz und sind schärferen Vorschriften für Kapitalmarktinstrumente unterworfen. Zusätzlich existieren globale Steuerungsmechanismen, um die Volatilität auf den Finanzmärkten gering zu halten. Gesellschaft Die starke Wirtschaftsleistung in Deutschland bildet die Grundlage für ein hohes Wohlstandsniveau. Eine staatliche Grundsicherung existiert und eine Einkommensumverteilung hin zu größerer Gleichverteilung führt offensichtlich zu geringen Ungleichheiten sowie einer breiten Mittelschicht, welche durch den starken Konsum eine stabilisierende konjunkturelle Wirkung entfaltet. Das verfügbare Einkommen wird weiterhin für Produkte und Dienstleistungen mit einem 12 Technologie Technikinnovationen und die Weiterentwicklung in der Systemintegration von Energiesystemen sowie die Anwendung von Konzepten, wie dem Smart Metering als auch moderate Energiepreissteigerungen leisten ihren Beitrag dazu, dass der hohe Energiebedarf Deutschlands durch unterschiedliche Energiequellen abgedeckt werden kann und muss. Ein Teil des Bedarfs wird von erneuerbaren Energien gedeckt, auch fossile Energieträger wie Kohle und Gas kommen weiterhin zum Einsatz. Auch wegen des Ausstiegs Deutschlands aus der Atomenergie muss die hohe Energienachfrage zusätzlich durch Importe sichergestellt werden. Ansatzpunkte und Herausforderungen im Szenario Fortschreitende Industrialisierung Die Herausforderungen für die deutsche Ressourcenpolitik bei der Ausprägung eines solchen Trendszenarios finden sich durch die zunehmende Nachfrage aus „ehemaligen“ Schwellenländern hinsichtlich des Ziels der Sicherung von Versorgungssicherheit und Wettbewerbsfähigkeit, aber auch im Bereich der Minimierung von Umweltwirkungen und dem Erhalt von Ökosystemdienstleistungen. Die hohe Exploration von Rohstoffen, das Vorhandensein von globalen Wertschöpfungsgemeinschaften verbunden mit der Abhängigkeit und Vulnerabilität der deutschen Wirtschaft und dem daraus resultierenden Konkurrenzdruck favorisieren den politischen Kurs einer regional ausgleichenden Industriepolitik zugunsten mittelständischer Unternehmen und einer sektoralen Förderung dominanter Industriezweige sowie deren Export. Das Thema der Ressourceneffizienz und -schonung sollte vertieft in (Aus)bildungsprogramme mit aufgenommen werden, um nicht nur das gesellschaftliche Verantwortungsbewusstsein gegenüber Nachhaltigkeit und Ressourcenschutz zu stärken, sondern langfristig vor allem die Umsetzung von freiwilligen Standards zu stärken. Grundsätzlich wäre in einem solchen Szenario auch eine Politik der ökologischen Modernisierung, die Ressourcenschutz als ökonomischen Treiber in den Vordergrund stellt, denkbar. Dabei würde staatliches Handeln auf die Setzung marktkonformer Anreize durch z.B. Steuern und Förderungen (Ressourcensteuern, Abschreibungsregeln) beschränkt werden. Tendenziell wäre der Staat ein „moderater Treiber“, etwa durch Forschungsförderung, Vernetzung von Akteuren oder die Bereitstellung von Strukturen. Der Hebel zur Umsetzung von ressourcenpolitischen Programmen in diesem Szenario liegt generell auf der politischen Ebene der EU. Über eine erfolgreiche Ressourcenpolitik oder gar „ökologische Außenpolitik“ heute, können auch auf europäischer und internationaler Ebene jene Politikprogramme, die Deutschland eine Vorbildfunktion verschafft haben, für übergeordnete Programme oder Programme der Entwicklungszusammenarbeit diskutiert und zur Machbarkeit anderorts geprüft werden. Dabei können vor allem internationale Rohstoffpartnerschaften, Public Private Partnerships und Recyclingpartnerschaften, eine Standardsetzung z.B. für Importe, ein Mainstreaming von Ressourceneffizienz in internationalen Abkommen eine entscheidende Rolle spielen. Ressourcenpolitische Programme sind in erster Linie dann akzeptiert und umsetzungsfähig, wenn die Kriterien der Effizienz und Wirtschaftlichkeit eingehalten sowie Abhängigkeiten vermieden werden. Anzudenken wäre die Umsetzung von moderaten Regulierungen hinsichtlich der Ressourceneffizienz von Produkten und Prozessen. Durch den hohen Verbrauch von Erzen, Baumaterialien sowie Industriematerialen in diesem Szenario wäre es möglich, in der Infrastrukturplanung Ressourceneffizienz gesetzlich zu verankern und vor allem Ausgaben für die Forschung und Entwicklung von ressourceneffizienten Infrastrukturen zu steigern. Die globale Struktur von Wertschöpfungsketten in diesem Szenario bietet auch Potential für die Umsetzung der Einhaltung von Sozialstandards über die indirekte Einflussnahme im Ausland (Politikexport). 13 Story zum Szenario Fortschreitende Industrialisierung Maximilian aus München – eine Autofahrt Max Wagner, geb. 2010, ist Ingenieur und leitender Angestellter in einem Unternehmen, welches Rohstoffe importiert. Er ist Vorsitzender eines Rennauto-Clubs. Eine Autofahrt. Max begrüßt mich. Er ist Leiter des Rohstoffimports bei dem deutschen Unternehmen CarbonCon, welches seit 10 Jahren Materialien für den Fahrzeugbau nach Deutschland importiert. Es ist später Nachmittag, und wir stehen vor dem Firmensitz im Stadtteil Unterhaching der 2,5-Millionen-Region München. Viele kleine und mittelgroße Unternehmen sind hier angesiedelt, gleich neben einem alten Geothermie-Kraftwerk. „Wenn Sie wollen, können Sie mal einfach für’s Thermalbad vorbeikommen. Wir haben eins im Haus,“ sagt er. CarbonCon geht es gut. Das mittelständische Unternehmen ist einer der wichtigsten Zulieferer für Rohstoffe für eine neue Art Karbonoberfläche, mit denen Autos nicht nur leichter werden, sondern auch weniger anfällig sind. Inzwischen werden sogar Gebäude und Verkehrswege damit überdacht, um vor den heftigen Stürmen zu schützen. CarbonCons Tochterfirma CarbonCon Tech lizensiert die Formeln für die entsprechenden Stoffe. „Wo bleibt denn unser Car?“ sagt Max und blickt ungeduldig auf seine Smartwatch. „Wagen M205-3 wird in einer Minute bei ihnen sein“ antwortet seine Uhr. Ich begleite Max Wagner heute um einen neuen Wagen eines großen deutschen Autoherstellers, den DMF-M205, auszuprobieren, an dessen Bau CarbonCon beteiligt war. Wir hören eine Art langgezogenen Klavierton aus Richtung der Einfahrt. Offenbar ein neues Sounddesign, denn seit Abschaffung von Brennstoffmotoren sind die primär elektrischen Cars so gut wie lautlos. Dann biegt ein schwarzgrau schillerndes Gefährt um die Ecke. Die neue Rennmaschine sieht aus, als wäre glänzendes Metall in eine aerodynamische Form gegossen worden. Die multi-direktionalen Reifen sind wie bei allen neuen Autos kaum noch erkennbar unter der flexiblen Schutzverkleidung. ‚Hi Max’ blinkt eine große, grüne Leuchtschrift auf der Seite des Fahrzeugs. Dann zieht er ein Taschenmesser aus der Tasche. „Schauen wir doch mal, ob es echt CarbonCon ist“. Er freut sich sichtlich über mein erschrockenes Gesicht, als er mit dem Messer auf der Karosserie des Wagens herumkratzt. Nichts passiert. „CarbonCon Tech“ sagt Max, nickt zufrieden und streicht mit der Hand sanft über die glänzende Fahrzeugoberfläche. „In der richtigen Mischung wird das Material so widerstandsfähig, dass es selbst MHS aushält“. Die MHS, die Mega-Hagel-Stürme beschädigen schon seit den 30er Jahren Autos und Gebäude. Dank der schnell eingeführten Frühwarnsysteme werden Menschen nur selten verletzt. Allerdings sollte man mit alten Metall-Autos in ihnen nicht unterwegs sein. 14 „Eine starke Industrie bedeutet ein starkes Deutschland“ Wir steigen ein. Zwar können Autos längst allein navigieren und fahren, aber die Autos ohne Lenkräder bzw. Cockpits waren ein Flop- keiner wollte die Kontrolle aufgeben. „Wer verliert denn schon gern die Kontrolle?“ sagt Max. „Schon schwer genug, wie viele unserer Entscheidungskompetenz wir in Deutschland an die EU abgegeben haben.“ Er umfasst das JoyPad etwas fester. „Früher waren wir als Staat die stärksten in Europa. Uns geht es gut und jetzt bekommen sie das mit dem EU-Parlament zwar besser auf die Reihe, und einfacher für die Rohstofflieferungen aus der Türkei und Rumänien ist es auch. Aber irgendwie hatte man damals mehr das Gefühl, dass die Gesetze auch zu Deutschland passen. Aber es geht ja jetzt mehr darum, dass sie zu Europa passen, was grundsätzlich schon richtig ist. Nur halt leider nicht immer so, wie es unsere Industrie will. Aber nur eine starke Industrie bedeutet auch ein starkes Deutschland.“ Auf der Scheibe rund um das Sichtfeld sind Geschwindigkeit und verbleibende Elektrizität eingeblendet. „Gute Version. Brauche ich auch für meinen DMF“, sagt Max, als wäre es völlig normal, ein eigenes Car zu haben. Eigene Cars sind teuer, besonders seit Car-Sharing-Systeme einen fast überall einfach dort hinbringen, wo es mal keinen Nahverkehr gibt. Dann grinst Max wie ein kleiner Junge „Ich habe sogar noch einen alten 3L-Benziner in der Garage“ sagt er geheimnisvoll. „Baujahr 2019! Gehört ins Museum, aber ich behalte ihn noch etwas.“ Max sieht sich nach einer THINK-Kappe in der Kabine um, welche für die Wunschstrecke das Hirn mit dem Navigationssystem verbindet und so Sprachbefehle überflüssig macht. „Hm, ist wohl nicht serienmäßig dabei – und hatte ich nicht extra bestellt. Egal, wir kommen schon so hin.“ Eine sanfte weibliche Stimme fragt in einem Ton, der an der Türschwelle zum Schlafzimmer steht: „Wo soll’s denn hingehen Max?“ „Mein übliches Ziel in Freimau“ sagt Max und wir setzen uns in Bewegung – Das System hat seine Bewegungsmuster über seine Smartwatch abgelesen und den besten Weg herausgesucht. „Andererseits“ sagt Max, offenbar in Gedanken noch bei der EU, „hilft uns die Verhandlungsmacht der EU bei den Rohstoffverhandlungen mit den BRICS. Meine Eltern wundern sich immer wie stark diese Länder heute sind. Die hießen früher Schwellenländer! Das muss man sich mal vorstellen, eine Industriemacht wie Brasilien als Schwellenland!“ Max’ Frau Anna Maria ist Brasilianerin, sie haben sich bei Max früherer Arbeitsstelle, dem internationalen Großkonzern FASN kennengelernt. „Nicht einfach die Brasilianerinnen, aber großartige Frauen. Kaum vorstellbar, dass meine Eltern noch in fast rein nationalen Umfeldern gearbeitet haben. Heute muss man im globalen Großkonzern ein kleines Rädchen sein oder man bedient eben eine Nische.“ Wir bewegen uns lautlos über die Straßen von Unterhaching. Die Hauptstraßen laden das Car automatisch wieder auf. „Nicht schlecht, das Fahrgefühl“ sagt Max und nickt anerkennend. Das Fahrzeug passt seine Geschwindigkeit so an, dass wir immer im Fluss bleiben. „Neulich habe ich in der Nähe von Nürnberg eine echte alte Ampelkreuzung gesehen – hab ich sofort gepostet“ sagt Max und blickt auf die Transmitterstationen, die an den Straßenecken mit den Autos kommunizieren und den Verkehr regeln. Als wir die Auffahrt der Super-Autobahn 8 erreichen, reihen wir uns in die Auffahrt zum Click-System ein. Wir fahren in eine Art Wagon-Kapsel, die kurz darauf auf die Magnetschienen gleitet und sich zusammen mit den anderen Kapseln in einer Art transparentem Schlauch bei 230 km/h in Richtung Norden bewegt. Wir schweben etwa einen Meter über dem Boden. So kann man zwar im Notfall aussteigen, aber starke Regen- und Schneefälle stören den Verkehr nicht. „Die neuen Click-Systeme erinnern mich immer eine bisschen an die Skilifte aus meiner Kindheit, als man in den Alpen noch Skifahren konnte.“ „Max, gleich geht’s auf die S2“ sagt das Navigationssystem fröhlich. In der Ferne erheben sich die Solartower und Sturmschutz-Konstruktionen von Münchens Zentrum. Die Stadt hat als Vorreiter ihren Energieverbrauch in den letzten drei Jahrzehnten trotz verstärkter Industrie um 60 Prozent gedrosselt, die restlichen 40 Prozent deckt sie, anders als die meisten deutschen Städte, ganz mit erneuerbaren Energien ab. In Freimau verlassen wir das Click-System, um im Straßenmodus zu unserem Endziel zu gelangen. Bald sind die wichtigen Europawahlen, überall werben Großbildschirme für die verschiedenen Kandidaten. „Für eine gerechte Flüchtlingspolitik“ steht da und „Deutschland stärken – Europäische Grenzen sichern“. Max’ Blick streift die Wahlplakate. „Dieses ganze Flüchtlingsproblem geht mir ganz schön auf die Nerven“ sagt er. „Und was da für Geld reingeht – total ineffizient. Statt Flüchtlingsherbergen und neuen Grenzsicherungssystemen sollten sie lieber vor Ort unterstützen. Die Kraft hätten die starken Industrieländer doch. Dann kommen diese armen Gestalten nämlich gar nicht erst her. Wir haben zum Beispiel ein Programm in Ouagadougou, um Fachkräfte auszubilden und vor Ort zu produzieren. Es ist ja eh inzwischen alles so verflochten, dass es eben wich- tig ist, ob ein Sack Reis in China umfällt oder nicht.“ Plötzlich gibt es einen starken Ruck, das Auto macht eine Vollbremsung. Weder Max noch ich haben den grauhaarigen Mann gesehen, der scheinbar in einem Videogespräch vertieft leicht gebückt die Straße überquert. „So ein Idiot“. Max wird rot im Gesicht. „Immer dasselbe. Ist doch Quatsch, wenn sich die Leute immer so auf die automatischen Bremssysteme verlassen. Da bringen auch die schärferen Vorschriften für Fußgänger nur wenig. Das ist wie mit den Kapitalmärkten. Sie sind zwar global reguliert und transparenter als noch vor 30 Jahren, aber manchmal denke ich, die schärferen Vorschriften für Kapitalmarkinstrumente bringen nichts, wenn es den Akteuren egal ist. Jetzt ist unser Bankensystem zwar viel stabiler, aber ein paar Idioten, welche die Sicherheit anderer gern riskieren, finden sich immer.“ Wir biegen in eine Nebenstraße ein – gleich hinter der FreiMall, ein riesiges überdachtes und MHS-sicheres Einkaufszentrum welches oft für Mega-Events genutzt wird. Max seufzt. „Manchmal habe ich das Gefühl, das Leben ist nur noch ein Event nach dem nächsten mit lauter Leuten, die man gerade mal per Bussi kennt. Macht mir gar nicht so viel Spaß – meine Frau steht aber drauf. Wenn sie zur FreiMall will, fahre ich sie gern und gehe dann an meinen Lieblingsort – wo wir jetzt mal ganz effizient hingefahren sind“. Wir halten vor einem weißen Gebäude, welches mit seinem Ziegeldach noch aus der Jahrtausendwende zu stammen scheint und keine Carbonverkleidung hat. „Wir wollen raus“ sagt Max, die Oberfläche surrt und die Fahrkabine wird wieder freigelegt. NITERIDER Club e.V. steht an der Tür, auf die Max jetzt zusteuert. In dem wenig erleuchteten Raum sitzen ein paar Männer an einem alten Holztresen, an den Wänden hängen Bilder von Autorennen. Eine Wand wird von einem Bildschirm bedeckt, davor steht eine große Couch, ein paar etwas staubige Pokale stehen in einem Regal, es riecht nach Bier. „Tach“ Max begrüßt alle, einige mit Handschlag, andere mit einem kurzen Nicken. „Kein Dachterassenblick“ sagt er und nickt in Richtung der anderen „aber lauter gute Freunde. Wo findet man das heute schon noch?“ Er nimmt einen Schluck von seinem frischgezapften Bier und sagt: „Bei manchen Sachen ist es einfach schön, wenn sie sich nicht ständig ändern.“ Er gibt einen leichten Zufriedenheitsseufzer von sich. 15 Szenario B Effizienz, Innovation und Digitalisierung – das Szenario Starke Innovation „Das weltweite politische Geschehen ist stark global und auch regional strukturiert; auch in Deutschland hat dadurch die nationale Ebene an Bedeutung verloren. Neben vorhandenen internationalen Konzernen hat sich die Wirtschaft in Deutschland stark dezentralisiert und lokalisiert, Rohstoffe sind knapp und teuer geworden. Technologische Innovationen, neue Arbeitsteilung sowie flexible, regionale Finanzmärkte prägen das Wirtschaftssystem, dessen Energiebedarf ausschließlich durch erneuerbare Energien dezentral abgedeckt wird. Technologische Revolutionen führen zu einer Vielfalt an stark nachgefragten Produkten. Die Auswirkungen des Klimawandels haben zu einem veränderten Werteverständnis geführt, der Lebensstil ist dadurch nachhaltiger und sozialverträglicher geworden.“ und die Nutzung nachwachsender Rohstoffe in wichtigen Industriezweigen stark ausgeweitet. Automobile, Häuser, Chemikalien, Elektronik, Bekleidung werden zunehmend aus Sekundärrohstoffen oder aus nachwachsenden Rohstoffen gefertigt. Technologie Treibende Kraft für fast alle gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen ist der technologische Wandel, der sich mit hoher Geschwindigkeit weiter vollzogen hat: In der Forschung wurden „Quantensprünge“ möglich, die zu einer Vielzahl an technologischen Anwendungen für Unternehmen und Endverbraucher in den unterschiedlichsten Lebens- und Wirtschaftsbereichen geführt haben. Die Fokussierung auf technologische Entwicklungen hat eine Vielzahl von Möglichkeiten eröffnet, innovative Fortschritte – auch in Bezug auf Ressourceneffizienz – zu erzielen und resultiert unter anderem aus der entstandenen Ressourcenknappheit, die zu hohen Preisen, starken Volatilitäten und großen Abhängigkeit Deutschlands vom Import führt. Dementsprechend hat sich auch stoffliches Recycling 16 Klima und Gesellschaft Die Auswirkungen des Klimawandels haben sich spürbar verstärkt: Dürren, Überschwemmungen, extreme Temperaturschwankungen, Meeresspiegelanstieg, etc. sind allgegenwärtig. Diese ökologischen Veränderungen haben nicht zuletzt in Teilen der Bevölkerung zu einem veränderten Werteverständnis und einer entsprechenden Lebensstilveränderung geführt. Trotz der Bedeutung des Konsums orientiert sich ein nicht unerheblicher Teil der Gesellschaft an Werten wie Umwelt- und Gesundheitsbewusstsein und strebt einen nachhaltigeren und verantwortungsbewussteren Lebensstil an. Diese Aspekte entwickeln sich zu einem zentralen Markenbestandteil in allen wichtigen Konsumfeldern und werden damit zentrales Kriterium für Kaufentscheidungen. teilung führt offensichtlich zu geringen Ungleichheiten und einer breiten Mittelschicht. Die Wirtschaftsstruktur ist von zwei konträren Entwicklungen geprägt: Neben vorhandenen internationalen Konzernen gibt es außerdem eine Vielzahl an Klein- und Kleinstunternehmen. Diese agieren in einer teils neu entstandenen, dezentralen und lokalen Wirtschaftsstruktur, die nicht nur von einer radikalen Dezentralisierung der Produktion gekennzeichnet ist, sondern auch von einer Vielzahl von Produzenten – weitgehend auch ohne Mitarbeiter – sowie einer stark IT dominierten Industrie. Politik Weltweit ist das politische Geschehen stark global als auch lokal strukturiert. Die globale Ebene hat erheblich an Bedeutung gewonnen und bildet die Rahmenbedingungen für die lokale Ebene. Das Konzept des Rule of Law westlicher, demokratischer Länder sowie das Mehrheitsprinzip in der Entscheidungsfindung wird auch international angewendet. Politische Aktivitäten auf lokaler und regionaler Ebene werden in Deutschland von zivilgesellschaftlicher Beteiligung in partizipativer Form getragen. Mit gezielten Förderungen wurde bewusst die Infrastruktur für partizipative Prozesse auf lokaler Ebene ausgebaut; die nationalstaatliche Ebene hat an Bedeutung und Einfluss verloren. Finanzen Dementsprechend sind unterschiedliche dezentrale, web-basierte, pragmatische und flexible Finanzierungformen zu finden. Neben Banken gibt es zahlreiche Crowdfundingaktivitäten für vor allem lokale Akteure; folglich spiegeln die Neugründungen und Investitionen in hohem Ausmaß die Priorisierung und die Bewertungskriterien der Bevölkerung wider. Es kommen ausschließlich erneuerbare Energien zum Einsatz, die durch die Weiterentwicklung von Speichertechnologien nicht nur günstiger sind, sondern das dezentrale Wirtschaftssystem ausreichend und logistisch besser versorgen können. Wirtschaft Die USA und Europa dominieren die wirtschaftlichen Aktivitäten weltweit. Die wirtschaftliche Situation der meisten Schwellenländer ist angesichts der gravierenden Auswirkungen des Klimawandels und der Rohstoffknappheiten schwierig. Die starke Wirtschaftsleistung Deutschlands erlaubt das Halten des Wohlstandsniveaus. Die Verteilung des Wohlstands wird vom Staat in Form eines Mindesteinkommens bzw. Grundauskommens sichergestellt. Die Einkommensumverteilung hin zu größerer Gleichver- 17 Ansatzpunkte und Herausforderungen im Szenario Starke Innovation Dieses Szenario könnte durchaus an ein Ziel der absoluten Minimierung des Ressourcenverbrauchs gekoppelt sein. Das Verhältnis von Wertschöpfung und Materialeinsatz würde stark optimiert werden, um Abhängigkeiten zu verringern, neue Marktchancen zu erschließen und Umweltwirkungen zu mindern. öffentlicher Förderungen stünde. Dies könnte durch Anreizsysteme zur Bildung von Genossenschaften, zur Verringerung der Transportwege und zur Stärkung der Kreislaufwirtschaft führen. Die Kombination von teuren Rohstoffen und technologischen Entwicklungen begünstigt in diesem Szenario das stoffliche Recycling und die Nutzung nachwachsender Rohstoffe. Alternative Wohlstandmessungen wie z.B. ein global etablierter Sustainability Index würden Wirtschaft und Gesellschaft auffordern, eine aktive Rolle in Veränderungsprozessen hin zu bewussten, regionalen und ressourcenschonenden Lebensstilen einzunehmen. Die Politik könnte aktiv Rahmenbedingungen schaffen, um öffentliche Debatten und Aktivitäten in der Bevölkerung zu fördern und die Bürger dadurch zunehmend in dezentrale Planungsund Entscheidungsprozesse vor allem von Infrastrukturvorhaben, die an Kriterien der Ressourceneffizienz und -schonung gebunden sind, einzubinden. Auch wenn in Deutschland und Europa Sozialstandards entlang der Wertschöpfungskette eingehalten werden, so trifft dies wohl nicht auf Schwellen- und Entwicklungsländer zu, da sie mit massiven Auswirkungen des Klimawandels und dessen ökonomischen und sozialen Folgen konfrontiert sind. Treibende Kraft für eine absolute Reduktion des Ressourcenverbrauchs ist – neben einem allgemeinen verantwortungsbewussten Lebensstil – vor allem die Rohstoffknappheit, die den rasanten technologischen Wandel zusätzlich vorantreibt. Abgesehen von vielen Umständen in diesem Szenario, die schwer beeinflussbar bzw. – wie z.B. die verheerenden Auswirkungen des Klimawandels – auch nicht wünschenswert sind, stellt sich die Frage, welche Entwicklungen ressourcenpolitisch steuerbar sind und welche Handlungsbereiche hier angesprochen wären. Grundsätzlich würden Instrumente und Maßnahmen, die Tendenzen der Regionalisierung unterstützen, für und in einem solchen Szenario denkbar: So könnte die Wirtschaftsstrukturplanung einen Finanzausgleich zwischen den Regionen anstreben, der nicht nur die Einkommensstärke sondern auch Indikatoren der Ressourceneffizienz und -schonung in Betracht zieht. Innerhalb der Regionen wären vor allem Klein- und Kleinstunternehmen sowie regionale Kreisläufe zu unterstützen, deren gebündeltes Innovationspotential im Vordergrund 18 Im Vordergrund könnten beispielsweise auch eine zunehmende Anpassung der fiskalischen Anreizstruktur an Ressourceneffizienzkriterien sowie der produkt- und prozessbezogene Top-Runner Ansatz und die Ausweitung des Polluter-Pays-Prinzips auf Material- und Produktqualität stehen. Auch bei der Finanzierung wäre denkbar, dass Ressourceneffizienz – durch alternative Finanzquellen wie dem Crowdfunding – eine tragende Rolle zukommt. Bei einer zukünftigen Stärkung von internationalen Institutionen könnte Deutschland eine Etablierung von global geschlossenen Stoffkreisläufen, die Entwicklung hin zu globalen Wertschöpfungsgemeinschaften sowie eine einheitliche Agenda für Ressourceneffizienz und -schonung, die in den unterschiedlichen Gremien transparent vertreten ist, mit ausarbeiten. Story zum Szenario Starke Innovation Anna aus Berlin – ein Hausbesuch Anna Zohmann, geb. 2018, betreibt eine Agentur für nachhaltige digitale Kommunikation und leitet die Bürgerinitiative „GrüneMitte.“ Ein Hausbesuch. Plitsch, platsch. Große, schwere Tropfen fallen auf den Gehweg der Lütticher Straße im Berliner Stadtteil Wedding. Ich gehe etwas schneller auf mein Ziel zu, den Hauseingang der Nummer 41. „Willkommen, Gast von Anna!” leuchtet es von einem Display neben der Schiebetür des Neubaus. Sie öffnet sich, und ein Lichtstrahl zeigt mir den Weg zum Fahrstuhl und zum Treppenhaus. Im Eingangsbereich ist es angenehm kühl, der einsetzende abendliche Sturmschauer und die schwüle Herbsthitze bleiben draußen. Wenige Minuten später und meine wasserfesten Nanotextilien hätten sich beweisen müssen. Ein Display am Treppenhaus zeigt mir die Energie, die ich spare und die Kalorien, die ich verbrauche, wenn ich die Stufen steige – und wie viele Greenpoints ich dafür erhalte. Greenpoints werden über einen Chip in der Smartwatch gespeichert und bringen, ähnlich wie eine Payback-Card, Ermäßigungen und Bonusse im Alltag für nachhaltiges Verhalten. Für die Treppe gibt es immerhin 10 Punkte, denn Anna Zohmann, Chefin der Agentur EverGreen, wohnt im Dachgeschoss. Ich steuere auf sie zu. „Na, gerade noch mal so vor den Sturzbächen,“ höre ich eine freundliche Stimme, als ich fast oben bin. Ich komme leicht schnaufend bei Anna an, die mich bereits an der Haustür erwartet. „Die 10 Punkte verdient man sich wirklich” sagt sie und blitzt mich vergnügt mit grünen Augen an. Ihr Blick ist bestimmt, während die dunkelblonden Locken und die schmale Figur der 32-jährigen etwas Mädchenhaftes verleihen. Sie trägt eine lockere graue Hose und eine schimmernde grüne Bluse. „Kommense rin, könnense rauskieken.” Sie macht eine einladende Handbewegung und geht durch den hellen Flur voraus in den Wohnraum. Die Tür schließt sich leise hinter mir. An den Temp-Wänden, die entsprechend den Raum kühlen oder heizen, hängen einige Ölbilder aus der Jahrhundertwende sowie einige Fotos von Anna und einem Mann. „Der Typ ist Murat, mein Freund” sagt Anna, als ich in den Wohnraum mit hohen Wänden komme, der an eine offene Küche angeschlossen ist. Ich setze mich auf eine übergroße Couch. Eine verglaste Außenfront gibt den Blick auf die begrünte Terrasse und die Dachlandschaft Berlins frei, welche von peitschenden Schauern verhangen ist. „Zum Glück schließt sich inzwischen alles vollautomatisch beim ersten Tropfen. Möchten Sie ein Minzwasser?” fragt Anna. „Oder Ayran? Beides gut nach der dehydrierenden Hitze heute. Die Minze ist aus unserem Garten und der Joghurt aus unserer Hausproduktion.” Wie oft in Berlin hat auch Annas Haus eine eigene Produktion. An den Hauswänden zum Hof wird in vertikalen Gärten heimisches Gemüse und Obst angebaut. „Mal schauen was „Grünes Denken und Erfindergeist gehören für mich zusammen“ grad so reif ist” sagt Anna. „Wo ist denn die Touchfoil schon wieder?” fragt sie laut. Eine Schublade der Anrichte gibt einen leichten Summton von sich und blinkt auf. „Wer hat die da denn hingelegt?” Anna zieht eine aufgerollte Folie aus der Schublade und legt sie auf den Wohnzimmertisch. Die Folie wird zum Touchscreen, eine Tastatur formt sich im unteren Teil. „Schon etwas beim Obst wieder reif?“ fragt Anna. Der Bildschirm zeigt uns die vorhandenen Früchte und ihren Reifegrad an. Fünf Wassermelonen, ein Feigenzweig und ein Strauch Brombeeren werden mit Ort und Reifegrad angezeigt. „Oh ja, die Wassermelonen sind super,“ sagt Anna. Sie reserviert sich eine. „Ein Hausgarten ist wertvoll“ sagt sie vertrauensvoll. „Allein im Wedding können wir bereits 75% unseres Obst- und Gemüsebedarfs damit decken, dazu kommen nachwachsende Rohstoffe wie Baumwolle, Naturfarben, Zucker und Hanf. Wir sind damit fast unabhängig von schlechtem Angebot und hohen Preisen.“ In ihrer Stimme schwingt Stolz mit. Anna ist seit zwei Jahren Leiterin der bekannten Bürgerinitiative ,GrüneMitte’, die in den 30er Jahren begann, Dächer und Hauswände in nutzbare Grünflächen zu verwandeln. „Das ist die richtige Ergänzung zu dem Konzept der Plusenergiehäuser,“ sagt Anna. Auch die 41 ist ein Plusenergiehaus, welches seinen eigenen Strom produziert, Überschüsse dem Stromnetz zuführt und an ein LEEN angeschlossen ist, ein lernendes energieeffizientes Netzwerk. Dazu gehört ein Gewächshaus auf dem Dach, welches die durch Sonneneinstrahlung produzierte Wärme direkt in Strom umsetzt. Damit werden Bewässerungsanlagen, Kühlsysteme, Licht und Haushaltsgeräte wie die wasserlose Waschmaschine, Reinigungs-Drohnen und Luftkläranlagen betrieben. „Inzwischen machen wir Projekte mit Bürgergruppen in Shinyuku in Tokio oder Beyoglu in Istanbul,“ sagt Anna. Ihr Freund Murat, der in der großen Spieleindustrie in Berlin arbeitet, kommt aus Istanbul und hilft bei der Kommunikation. Sie nimmt einen Schluck von ihrem Ayran. „Seit die regionalen Regierungen so viel stärker geworden sind, ist man als Bürger durchaus bei der Außenpolitik dabei“ sagt Anna. „Das ist schon toll, wenn ich weiß, dass unsere Erfolge hier sich auch global positiv auswirken. Zwar dominieren 19 die USA und China die Weltmärkte, aber Einfluss nehmen aufs globale Geschehen kann man auch von hier aus. Gemeinsam können wir dann für unsere Hilfsprojekte wie z.B. ein Gartenprojekt in Rumänien oder sogar in Bhalswa in Neu Delhi sammeln.“ Annas Augen leuchten auf. „Von unserer letzten Crowdfunding-Aktion können wir dort drei neue Schwimm-Gärten anlegen – inklusive 3D-Printer und Patronen für die Gartengeräte und Folien. Ohne die richtigen Schutzfolien wächst da nichts mehr – der Klimawandel hat ja viele Länder hart getroffen. Und mal sehen, vielleicht können wir bei EverGreen ein paar Kunden für ein CSR-Projekt dort gewinnen.“ EverGreen berät viele der internationalen Konzerne in Deutschland im Bereich Corporate Social Responsibility. Wo vor 30 Jahren noch Werbung und Pressearbeit reichte, müssen Unternehmen heute den deutschen Konsumenten gegenüber transparent nachhaltige Verhaltensweisen an den Tag legen. Große Marken wie Eppel im Elektronik- und Gepp im Modebereich haben nicht überlebt, weil sie das kritische Käuferverhalten unterschätzt haben. „Läuft inzwischen alles über den Markenwert“ sagt Anna. „Kleidung kann ja inzwischen fast jeder herstellen.“ Sie streicht nachdenklich über ihre Bluse. Die hat eine Freundin in New York entworfen, produziert wurde der populäre Stoff aus gentechnisch hergestellter Spinnenseide in einem Kleinunternehmen in Berlin-Kreuzberg. Ihre Hose hat sie auf einem Tauschabend gegen eine alte Anzughose getauscht. „Auch wenn dabei keiner reich wird: Je autarker wir sind, desto besser für uns“ sagt Anna. „Schon toll was inzwischen technisch geht, das hilft, wenn Rohstoffe so knapp und teuer sind. In der Firma von Murat haben sie zum Beispiel einen neuen Weg gefunden, wesentlich weniger Graphen in den Konsolen einzusetzen. Erfindergeist und grünes Denken gehören für mich zusammen.“ „Tut tuuut“ macht es plötzlich, über der Tür leuchtet ein blaues Licht auf. Anna sieht auf ihre Uhr. „Frau Bauer aus dem Dritten. Sie ist laut Sensoren wach, aber von ihrem Nachmittagsschlaf bisher nicht wie gewöhnlich aufgestanden – und ich habe heute Notfalldienst. Moment – “ Sie drückt auf den Display. „Jakob? Kannst du mal eben nach Frau Bauer sehen? Die ist noch nicht auf. Und mich rufen falls sie etwas braucht? Ich schaue um Sieben noch mal nach ihr. Ja, kannst morgen auch für das neue Game von Murat vorbeikommen.“ Wie viele Berliner lebt Anna in einem Mehrgenerationenhaus. Frau Bauer kann trotz ihrer 90 Jahre fast selbstständig hier wohnen und das Haus erhält dafür staatliche Förderung. Der Schauer ist vorerst vorbei, der Himmel klart sich auf. „Wollen wir eben die Melone holen? Jetzt sind gerade nicht so viele Viecher unterwegs.“ Ich folge Anna auf die Terrasse, von wo aus ein schmaler, von Holzbalken gerahmter Weg auf den Dachgarten führt. Die intelligenten Schutzfolien hatten sich wegen des Regens verhärtet und zugezogen, denn er hätte den Pflanzen geschadet. Jetzt verschwinden sie gerade surrend wieder im Gerüst und geben den Blick auf den ,Garten’ frei, der eher einem großen Beet mit Laufgräben ähnelt. Ein voller Zitronenbaum steht am Anfang 20 der Reihen mit Obst und Gemüse, Grillen zirpen und einige Kolibris sind unterwegs, um Nektar in großen Blüten zu sammeln. Mit Hilfe ihrer Smartwatch findet Anna schnell das Beet mit der Melone. Groß und rund liegt sie auf ihrem Feld in Reihe 5, Abschnitt B. „Hm, lecker.“ Sagt Anna. Wir nehmen die Melone selbst mit, auch wenn eine Drohne sie zur Terrasse bringen könnte. Immerhin 2 Punkte. Anna schneidet die saftige Wassermelone in der Wohnung auf und bietet mir dabei eins der süßen, tiefrosa Stücke an. Sie blickt wieder auf ihre Uhr. „Hm, Jakob hat sich nicht mehr gemeldet. Vielleicht schauen wir doch mal nach.“ Sie schiebt ein paar Stücke mit dem Messer in eine zweite Schüssel und wir gehen damit durch das Treppenhaus – 4 Punkte – zu der Wohnung von Frau Bauer. Die Tür steht leicht auf. Annas Augen weiten sich. „Frau Bauer? Jakob?“ fragt sie vorsichtig in die Stille der Wohnung hinein. Nichts. Wir hören ein leises Stöhnen. Anna läuft den Flur herunter, reißt die Tür zum Wohnzimmer auf. Eine ältere Frau und ein etwa neunjähriger Junge sitzen über einem Schachbrett. Sie mustern uns erstaunt. „Hallo Anna“ sagt der Junge. „Frau Bauer zeigt mir Schach. Da muss man viel überlegen. Kann sie morgen mit das neue Game probieren? Und wer ist das? Und ist die Melone für uns?“ Anna seufzt kaum hörbar und stellt die Schüssel auf den Tisch. „Ja klar, Nervennahrung. Ich habe gehört das braucht man beim Schach.“ Sie wendet sich zu mir und lächelt. „Im MeGeHa wird’s nie langweilig.“ Szenario C Minimalistisch, ressourceneffizient und regionalisiert – das Szenario Postwachstum „Die technische Komplexitätsüberforderung in einer stark globalisierten Welt führte zu einer Reihe von Unfällen und folglich zu einer stetigen und bewusst gewählten Lebensveränderung der Bevölkerung: Ein minimalistischer, ressourcenleichter, regionalisierter und „einfacher“ Lebensstil hat sich durchgesetzt; die Wirtschaftsleistung in Deutschland ist rückläufig, dennoch verläuft die globale Wohlstandsentwicklung positiv. Der Fokus der deutschen Wirtschaft liegt auf regionalen Dienstleistungen und in der wiedergewonnen Bedeutung des Handwerks. Diese stark veränderte Wirtschaftsstruktur ist zusätzlich in ein dezentralisiertes, flexibles Finanzsystem eingebettet. Die Wirtschaftsschrumpfung bringt einen geringen Verbrauch von hauptsächlich lokalen Rohstoffen mit sich, die dafür notwendige Energie stammt aus erneuerbaren Quellen. Die Grundversorgung und öffentliche Daseinsvorsorge wird von sozialen Netzwerken getragen.“ Selbstverwirklichung im Vordergrund. Soziale Beziehungen, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Erwerbsarbeit und Zeit für soziale Netzwerke wird angestrebt, selbst wenn dies mit einem Einkommensverzicht verbunden ist. Auffallend ist auch eine Vielzahl von partizipativen politischen Beteiligungsformen auf lokaler Ebene. Wirtschaft Gesellschaft Die zunehmende Anfälligkeit technischer Systeme aufgrund ihrer steigenden Komplexität in einer global vernetzten Welt hat zu einer Reihe von Störungen und Unfällen geführt, die auch als Ursache eines stetigen und umfassenden Wandels der Lebensstile und des gesellschaftlichen Werteverständnisses zu verstehen sind: ein bewusst gewählter, minimalistischer, ressourcenleichter und regionalisierter Lebensstil hat sich durchgesetzt. Der gesellschaftliche Status orientiert sich kaum am materiellen Konsum, stattdessen stehen immaterielle Formen der Die Entwicklungstendenz des globalen Wohlstands verläuft konvergent, d.h. die sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede zwischen einzelnen Staaten und Weltregionen nähern sich stetig einander an. Die Grundbedürfnisse sind – mit einigen Ausnahmen – abgedeckt; große soziale Konflikte und Bevölkerungswanderungen haben deutlich abgenommen. Die deutsche Wirtschaft ist weniger globalisiert, damit wird die Wirtschaftsleistung auch weniger von großen Unternehmen erbracht, sondern vielmehr in Kleinund Kleinstbetrieben sowie durch lokale Dienstleistungen in regionalen Wirtschaftskreisläufen, denn das wirtschaftliche und politische Geschehen ist sowohl lokal als auch global strukturiert. Damit hat auch das Handwerk wieder an Bedeutung gewonnen. Die Veränderung der Wirtschaftsstruktur sowie der gesellschaftliche Wandel haben sich verhältnismäßig langsam vollzogen; eine stetige Anpassung an die neuen Verhältnisse war dadurch möglich. 21 Technologie Finanzen Folglich zeichnet sich auch beim BIP eine Schrumpfung der Wirtschaftsleistung ab. Allerdings definiert sich der Wohlstand weniger in materieller Hinsicht, als vielmehr über das individuelle Wohlbefinden: Der bewusste gesellschaftliche Wandel bringt eine hohe Lebenszufriedenheit mit sich; die Grundbedürfnisse sind weitgehend gesichert. Es herrscht weitgehend Transparenz über die Verwendung von Geldern und die Geschäftsmodelle der Banken. Auch soziale und ökologische Kriterien sind ein wesentlicher Bestandteil von Finanzangeboten. Außerdem sind zahlreiche dezentrale, web-basierte, pragmatische und flexible Finanzierungformen zu finden. Durch zahlreiche Crowdfundingaktivitäten wird vor allem die lokale Wirtschaft finanziert; folglich spiegeln sich in den Neugründungen und Investitionen in hohem Ausmaß die Priorisierung und die Bewertungskriterien der Bevölkerung wider. 22 Die technologischen Entwicklungsschwerpunkte liegen in der Ermöglichung einer langen Nutzungsdauer und in der Vielfalt der Nutzungsmöglichkeiten eines Produkts. Trotz der großen Vielfalt an technischen Anwendungen kommt vergleichsweise wenig Material zum Einsatz. Die Entwicklung zur Nutzungsvielfalt und langen Nutzungsdauer eines Produkts, die gravierenden Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur und der Lebensweise sowie eine effektive Wiederverwertung haben zu einem abnehmenden Rohstoffverbrauch in Deutschland geführt. Hinzu kommt eine Bedarfsverschiebung hin zum Verbrauch von hauptsächlich heimischen Rohstoffen. Eine ausreichende Energieverfügbarkeit ist ebenfalls vorhanden. Es kommen ausschließlich erneuerbare Energien zum Einsatz, die durch die Weiterentwicklung von Speichertechnologien nicht nur günstiger sind, sondern das dezentrale Wirtschaftssystem ausreichend und logistisch besser versorgen können. Ansatzpunkte und Herausforderungen im Szenario Postwachstum Eine verpflichtende Transparenz von Ressourceneffizienz würde in Unternehmensberichten und unterschiedliche fiskalische Instrumente für eine an ökologische Kosten orientierte Preisgestaltung von Produkten und Prozessen eingeführt werden. Finanzpolitische Vorgaben für Ressourceneffizienz wären streng: einzelne Rohstoffderivate sind verboten und die Risikobewertung von Rohstoffsicherheit unterliegt strengen Richtlinien. Aktivitäten in der Entwicklungszusammenarbeit könnten gestärkt werden und sind an Kriterien der Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz gekoppelt. Ob durch die Umsetzung von ressourcenpolitischen Programmen, über andere Strategien oder gar ohne bewusstes staatliches Handeln, ist anzunehmen, dass in diesem Szenario eine starke Reduktion des Ressourcenverbrauchs zu verzeichnen ist und definitiv politisch und gesellschaftlich bewusst gewollt. Unabhängig von der Tatsache, ob eine Postwachstumsgesellschaft realistisch und die Herausforderungen und Lebensbedingungen einer solchen Transformation für eine große Mehrheit wünschenswert ist, zeigt sie theoretisch eine Möglichkeit auf, das Ziel der absoluten Reduktion zu erreichen. Das Szenario kann dabei zur Diskussion stellen, welche Handlungsoptionen denkbar wären, die eine Transformation anstoßen können. Politiktransfer von Ressourceneffizienz, Technologietransfer, Recyclingpartnerschaften und eine einheitliche Agenda für Ressourceneffizienz könnten auch bei der Schließung von internationalen Abkommen eine bedeutende Rolle spielen. Um die gesellschaftliche Verantwortung gegenüber Ressourceneffizienz zu verankern, wäre es denkbar, den Zertifikathandel mit dem per capita ökologischen Fußabdruck einzuführen. Abgesehen von unterschiedlichen Maßnahmen, die dezentrale und partizipative Strukturen fördern (vgl. Szenario Starke Innovation), wären in diesem Postwachstumsszenario auch jene staatlichen Maßnahmen zu diskutieren, die einen Umbau zur Dienstleistungsgesellschaft unterstützen: eine Stärkung von ressourceneffizienten und –schonenden Dienstleistungen, die Virtualisierung sowie Förderung der Kreislaufwirtschaft. 23 Story zum Szenario Postwachstum Leon aus Schorfheide – ein Hofbesuch Leon Lenke, geb. 1980, lebt vom Stromnetz unabhängig in seiner Wahlheimat Schorfheide. Als Autor und Bürgerabgeordneter bestimmt er die regionale Politik mit. Ein Hofbesuch. „Es hat also ohne Vierradantrieb geklappt?” fragt Leon Lenke zur Begrüßung. Seine hellen Augen leuchten schelmisch. Er rückt seine Kappe zurecht, unter der dichte weiße Kraushaare hervorragen. Sie sind der einzige Hinweis auf sein Alter, die 70 Jahre sind dem berühmten Schriftsteller höchstens durch seine fröhliche Gelassenheit anzumerken. Besonders durch seine Geschichten zum Leben nach dem GAU und seine Konzepte zur Kreislaufwirtschaft wurde er bekannt. Er blickt auf das E-Car. „Ich hätte beinahe Thilo mit einem zweiten Pferd losgeschickt, die haben erstklassigen Vierbeinantrieb. In Brandenburg gibt es nur wenig Straßen, die E-Cars laden können.” Wir stehen auf dem Hof seines Gutes in Schorfheide, welches er seit 30 Jahren betreibt... Auch wenn es über 20 Jahre her ist, ist der GAU überall präsent. Eine Reihe von Netzüberlastungen in Europa im Dezember 2026 verbunden mit menschlichem Versagen hatten landesweit Explosionen verursacht und Umweltkatastrophen ausgelöst, die sämtliche Versorgungsnetzwerke lahmlegten – auch in Deutschland mussten die Menschen monatelang ohne technischen Komfort und Internetverbindung auskommen, Importware war knapp. „Es war zwar ein Schock, aber irgendwie auch eine Erleichterung. Diese allgegenwärtige Datenüberwachung und der ständige virtuelle Druck war plötzlich weg – keiner mehr der sieht, wo man ist, was man macht – das war doch alles viel zu komplex, als dass es dem normalen Menschen genutzt hätte. Diese digitale Entkopplung tat uns gut. Außerdem war ich bestens vorbereitet” sagt Leon. „Uns ging es hier gut. Damals war die Unabhängigkeit von den großen Stromnetzen ja noch etwas besonderes.” Schon als Jugendlicher hat er sich intensiv mit alternativen Methoden der Bewirtschaftung beschäftigt. Leon machte zunächst Karriere als Softwareunternehmer, aber irgendwann „reichte das alles nicht mehr – teure Wohnungen in Großstädten, schnelle Autos, Fernreisen, immer mal hier mal da... Nichts machte mich wirklich glücklich. Da wusste ich, ich muss was ändern.“ Er macht eine ausladende Handbewegung: „Jetzt, hier, ist alles gut.“ Wir steuern auf eine offene Stalltür zu. Aus dem Inneren dringt ein Wiehern, ein Schnaufen, Pferdegeruch kitzelt die Nase. „Thilo?“ Es dauert einen Moment, bis sich die Augen an die Dunkelheit des Stalls gewöhnen. Einige der etwa 20 Boxen sind offen, in anderen stehen Pferde, die in unsere Richtung blicken. Ein blonder Schopf taucht hinter einem Pferderücken auf. „Leon?“ Ein junger, etwas schüchtern wirkender Mann mit einer Heugabel in der Hand richtet sich 24 „Deutschlands Glück liegt in der Besinnung auf das Wesentliche “ auf, begrüßt mich mit einem Nicken. „Jonas kommt heute Abend, dann gibt’s Kaninchen, da kannst du mitessen und für Emma etwas mitnehmen,“ sagt Leon. Er sieht mich an. „Fleisch ist schließlich teuer. Aber dafür gibt es den Industriefraß von früher nicht mehr. Und hier draußen können wir selbst jagen – deswegen kommen alle immer gern zum Abendessen“. Jonas Fischer ist sein Freund und der Bürgermeister von Schorfheide, welche in den letzten Jahren einen starken Zuzug erfahren hat. Beide sind Mitglieder des Bürgerparlaments Brandenburg-Ost, welches regelmäßig über wichtige regionale Fragen entscheidet und weltweit mit anderen Regionen verpartnert ist. Es wird dort auch über Wirtschaftsfragen beraten. „Soziale und ökologisch sinnvolle Projekte bekommen immer schnell den Zuschuss – neulich haben wir zum Beispiel dank zusätzlichem Crowdfunding recht schnell eine neue Berufsschule für die Region finanzieren können,“ sagt Leon. „Ein kleiner Ausritt gefällig?“ Er sieht mich fragend an. Hoch zu Ross verlassen wir den Stall wieder, reiten auf einem schmalen Pfad an den Feldern entlang. Es ist ein friedlicher Nachmittag, die milde Frühlingsluft lässt den harten Winter vergessen. Rechts von uns liegt ein Wald, links erstrecken sich die Mischfelder mit den Nutzpflanzen wie Raps und Sonnenblumen. „Im Winter muss man hier wegen der Wölfe etwas vorsichtig sein“ sagt Leon. „Einige wollen sie wieder loswerden, auch wegen der vielen Touristen in den Brandenburger Erholungsgebieten, aber wir brauchen sie für das Großwild. Außerdem ist es ja was für den Erlebnistourismus.“ Viele Menschen machen inzwischen in Deutschland Urlaub, Fernreisen kann und will sich kaum einer mehr leisten. Letzten Winter hat Leon selbst einen Wolf erlegt. „Das Fell habe ich noch. Wir haben natürlich jeden Knochen verwertet. Auch wenn wir etwas produzieren, dann so, dass man es am Ende wieder auseinandernehmen und verwerten kann.“ Auf Leons Hof gibt neben dem Gestüt eine Schreinerei, welche Holz aus dem anliegenden Nutzholzwald vor Ort in Möbel und Geräteteile umwandelt. Die Möbel sind nicht nur regional beliebt. „Neulich wollte jemand aus unserer Partnerregion in China ein paar Modelle haben. Wir haben ihnen einfach die 3D-Daten zum Nachdrucken verkauft. Kennen Sie noch den MuFuTi, den Multi-Funktions-Tisch aus der DDR? So etwas entwerfen wir praktisch neu. Wenn etwas lange hält und vielfältig zu gebrauchen ist – dann ist es ein gutes Produkt! Und der etwas höhere Preis gerechtfertigt. Ganz früher waren Preise ja oft unrealistisch – da wurden die wahren Herstellungskosten wie Umweltbelastung oft nicht mit eingerechnet. Jetzt kaufen wir einfach weniger, nutzen die Dinge die wir besitzen viel länger oder wiederverwerten sie anderweitig. „Da sind mache Leute echt unglaublich kreativ geworden.“ Er grinst. „Dass nicht alles in unserem Leben auf Wachstum und Konsum basiert, das haben inzwischen die meisten begriffen.“ Der GAU hat da so manches geändert. Heute erwartet auch keiner mehr, dass ein Staat sich kümmert. Davor wurden erneuerbare Energien sogar immer noch diskutiert. Heute sind sie dank der besseren Speichertechnologien die Norm.“ Er erzählt, wie seine Bücher darauf Einfluss hatten, dass man sich nach dem GAU auf die deutschen Rohstoffe konzentriert hat, um weniger importabhängig zu sein. „Eisenerz, Lignit, Salze – da habe ich ganze Kapitel drüber geschrieben. Wir haben so viele Rohstoffe, mit denen man tolle Sachen machen kann. Man muss nur wissen, was man hat – und etwas kreativ sein.“ Wir biegen in einen Waldweg ein. Ab und zu wird Leon langsamer, sieht sich prüfend um. Er liest ein kleines Hirschgeweih am Wegesrand auf, „das kann man gut tauschen“ sagt er. Plötzlich werden die Pferde unruhig. Wir hören ein hohes Vogelkreischen. „Aasgeier“ sagt Leon. „Die kommen immer sofort.“ Die Pferde wollen nicht mehr weitergehen. Leon hält sich den Zeigefinger auf den Mund und steigt ab. Er zieht einen Elektroschock-Zapper aus der Satteltasche und bedeutet mir abzusteigen. Wir gehen weiter den Waldweg herunter, in Richtung Geschrei. Die Pferde folgen nur widerwillig. Wir kommen zu einer Anhöhe, von der man auf eine Lichtung blicken kann. „Wenn man vom Teufel spricht“ sagt Leon leise. Ein blutiger Rehkadaver liegt in ihrer Mitte. Am Himmel kreisen die Geier, von einem Wolf jedoch keine Spur. Er notiert die Koordinaten, streift sich Handschuhe über und knotet ein Tuch vors Gesicht, läuft herunter zum Kadaver und nimmt eine DNA-Probe zur Datensammlung. Auf dem Rückweg müssen wir ein Stück an der etwas löchrigen Landstraße entlang reiten. Die Pferde haben sich beruhigt und reagieren kaum auf das E-Car, welches leise an uns vorbeisurrt. „Ich habe vielleicht kein neues Car, aber ganz ehrlich: Wer braucht das?“ sagt Leon mit Blick auf das Auto. “Letztendlich wollen wir doch alle nur glücklich sein. Unser und Deutschlands Glück liegt in der Besinnung auf das Wesentliche: Ein freundliches Lächeln. Ein Mensch, der mir sagt, dass ich ihn inspiriert habe.“ Mit dieser Einstellung ist Leon nicht allein. Der Wohlfahrtsindex NWI ersetzt schon länger das frühere BIP. Deutschland liegt im NWI trotz schrumpfender Wirtschaft weit vorne. „Zu Zeiten des BIP gab es noch viele große soziale Konflikte – und dann die Flüchtlingsströme. So viel Leid.“ Er seufzt. „Ich bin froh, dass das vorbei zu sein scheint. Sicher produzieren andere Länder inzwischen mehr. Aber was ist gegen mehr Ausgleich eigentlich wirklich einzuwenden? Das ganze Leben ist ein Balanceakt, und ausbalanciert sind wir am glücklichsten.“ Es wird bereits dunkel, als wir wieder auf den Hof reiten. Thilo kommt uns entgegen und nimmt uns die Pferde ab. Als Leon ihm von dem Wolf erzählt, bekommt er große Augen. „Emma meinte gestern, sie hätte etwas gehört.“ sagt er. Wie zur Bestätigung hören wir es in diesem Moment: In der Ferne, aber klar erkennbar breitet sich Wolfsgeheul über die brandenburgische Landschaft aus. Die Hofhunde stimmen ein. „Siehst du?“ ruft Leon durch das Gejaule und nickt zufrieden. „Der hätte bestimmt heute Abend auch gern etwas von unserem Hasenrücken. Aber Reh ist ja auch nicht schlecht.“ 25 Szenario D Turbulente Finanzmärkte zulasten der Staatskassen – das Szenario Fragmentierte Welt „Trotz massiver Produktionsverlagerungen ins Ausland ist Deutschland eine der führenden Wirtschaftsmächte. Allerdings nimmt die breite Masse der Bevölkerung nicht am wirtschaftlichen Erfolg teil. Das Land ist in vielerlei Hinsicht stark gespalten: hohe Einkommensdisparitäten führen zu einer gespaltenen Konsumgesellschaft, soziale Grundsicherung sowie eine Mittelschicht fehlen weitgehend. Um die noch vorhandene Wettbewerbsfähigkeit und den hohen Bedarf an schnelllebigen Produkten aufrechtzuhalten, kommen in Deutschland die Kernenergie und fossile Energieträger stark zum Einsatz. Mit großer Anstrengung versucht die Politik – als eine Art Expertenkommission – diese Herausforderungen zu meistern. Die Regierungsweise ist wissensbasiert, zunehmend bürgerfern und stark national orientiert.“ ist. Durch seine wirtschaftliche Stärke werden diese auch in hohem Maße nach Deutschland importiert und machen das Land stark importabhängig. Wirtschaft Gesellschaft Deutschland ist nach wie vor eine der führenden Wirtschaftsmächte, allerdings gab es in der Vergangenheit massive Produktionsverlagerungen ins Ausland, deren Tendenz aufgrund geringerer Produktionskosten weiter zunimmt. Internationale Konzerne gibt es nach wie vor; allerdings haben nicht nur die Produktionsverlagerungen, sondern auch die zunehmende Automatisierung in Deutschland dazu geführt, dass primär das Management sowie dienstleistungs- und wissensorientierte Unternehmensbereiche angesiedelt sind. Diese sind eingebettet in ein offenes Welthandelssystem, das durch eine hohe Verfügbarkeit und Exploration von Rohstoffen gekennzeichnet Die Industrialisierung hat weltweit zugenommen, allerdings nicht in einem flächendeckenden Ausmaß, so dass nur Teile der Bevölkerung in heutigen Schwellenländern vom erlangten wirtschaftlichen Erfolg profitieren. Eine breite Mittelschicht fehlt überwiegend, auch ganze Teile der Welt wurden wirtschaftlich stark vom Rest der industrialisierten Welt abgehängt. Die Dominanz der Industrieländer und das damit verbundene wirtschaftliche und soziale Gefälle zwischen, aber auch innerhalb der einzelnen Staaten hat sich verstärkt. Auch wenn im Durchschnitt ein relativ hohes Wohlstandsniveau erreicht ist, so sind die Einkommensdisparitäten erheblich. Eine Mittelschicht fehlt weitgehend, ein Teil der Gesellschaft nimmt nur sehr begrenzt am wirtschaftlichen Erfolg des Landes teil. Auch die soziale Grundsicherung ist sukzessive abgebaut worden. Der Versuch, Deutschland als wichtigen Wirtschaftsstandort zu erhalten, hat hohe soziale Kosten mit sich gebracht. Die Lebensstile und das Werteverständnis sind gekennzeichnet von zwei teils konträren Entwicklungen: Ein Teil der Gesellschaft – das zeigt auch die starke Nachfrage auf einem großen und schnelllebigen Markt mit einer Vielzahl an Produkten – ist stark konsumorientiert und materialistisch, ein anderer – bedeutend kleinerer – Teil strebt nach einem sozial und ökologisch verantwortungsvollen Lebensstil. Ein größerer Teil der Bevölkerung konsumiert unfreiwillig wenig. 26 Abfederung negativer Auswirkungen auf die Realwirtschaft an. Den dadurch stark belasteten Staatshaushalten fehlen finanzielle Mittel an anderer Stelle. Politik Mit großer Anstrengung versucht die Bundesregierung als eine Expertenkommission diese Herausforderungen zu meistern. Die Regierungsweise ist durch ihren Sachverstand stark wissensbasiert und national orientiert. Eine weitgehend zentralistisch aufgestellte Politikstruktur unterbindet in hohem Ausmaß partizipative und kommunale Initiativen und regiert damit weitgehend bürgerfern. Finanzwelt und Ressourcen Energie ist günstig und die Verfügbarkeit sichergestellt. Weltweit und auch in Deutschland kommen vor allem die Kernenergie und teils auch fossile Energieträger wieder stark zum Einsatz. Aufgrund neuer Förderungsmethoden und Technologien lassen sich immer weitere Lagerstätten erschließen. Im Vordergrund steht eine stabile Energieversorgung zu möglichst niedrigen Preisen. Problematisch sind allerdings die Turbulenzen auf den Finanzmärkten. Durch die von der Realwirtschaft losgelösten Preise sind auch die der Rohstoffe betroffen, was eine hohe Volatilität bei der Preisentwicklung mit sich bringt. Wegen der Turbulenzen auf den Finanzmärkten fallen ebenfalls Kosten zur 27 Ansatzpunkte und Herausforderungen im Szenario Fragmentierte Welt Ein hoher Ressourcenverbrauch zeichnet sich im Szenario Fragmentierte Welt ab; der Fokus der Politik liegt hier ausschließlich auf der Versorgungssicherheit. Die Umsetzbarkeit von Handlungsoptionen in Richtung Ressourcenschonung erscheinen – durch die hohe Exploration von Rohstoffen und dem zunehmenden Preis- und Wettbewerbsdruck – fast unmöglich. Zugunsten stabiler und vor allem bezahlbarer Rohstoffpreise werden heutige ressourcenpolitische Ziele verfehlt. Auf nationaler Ebene wären ähnliche ressourcenpolitische Handlungsmöglichkeiten wie im Szenario Fortschreitende Industrialisierung denkbar, wenn auch schwer umsetzbar. Am ehesten würden Instrumente und Maßnahmen, die auf die Versorgungssicherheit Deutschlands abzielen, umgesetzt werden können. Die Turbulenzen auf den Finanzmärkten, die hohe Abhängigkeit von Rohstoffen, die von der Realwirtschaft losgelösten Rohstoffpreise, die eine hohe Volatilität bei der Preisentwicklung mit sich bringen, sowie die dadurch stark belasteten Staatshaushalte würden einen dringend notwendigen Anlass für eine Reduktion des Ressourcenverbrauchs darstellen. In diesem Szenario bleiben allerdings trotz bzw. aufgrund der prekären Lage jegliche Innovationen aus, trotzdem wird am wirtschaftlichen Erfolg und Konsum der zweiten Hälfte des 20sten Jahrhunderts festgehalten. Heute angedachte Instrumente und Policy Mixes scheinen wirkungslos oder nicht umgesetzt worden zu sein. Ansatzpunkte bestehen in der Bildungspolitik: Durch ein Sichtbarmachen dieser stark fragmentierten Welt mit ihren Unzulänglichkeiten über das Maß der planetaren Grenzen hinaus, sollten Akteure und Interessengruppen für die Notwendigkeit einer Reduktion sensibilisiert und diese mittelfristig in Bildungsprogramme integriert werden. Aufgrund der hier fehlenden „eigenen“ mittelständischen Wirtschaftsmacht, konzentriert man sich auf wenige „glo- 28 bal players“, wodurch in der nationalen Wirtschaft ein Innovationsdefizit herrscht. Die Wirtschaftspolitik sollte darauf fokussiert sein, dieses Innovationsdefizit durch entsprechende Fördermaßnahmen zu reduzieren und die Fähigkeit nationaler Unternehmen zu stärken, Knappheiten und Turbulenzen als Anreize für ein nationales, weniger ressourcenabhängiges Wirtschaften zu verstehen und in darauf gerichtete Innovation zu transformieren. Ressourcenpolitik muss in einer fragmentierten Welt jedoch zwangsläufig auch zur Außenpolitik werden: Während die Regierung aufgrund der dem Szenario inhärenten Einkommensdisparitäten und damit „abgehängten“ Bevölkerungsschichten auf nationaler Ebene zwangsläufig als „schwaches System“ zu sehen ist, stellt die nach wie vor vorhandene Wirtschaftsmacht Deutschlands auf internationaler Ebene ein Pfund dar. Mit diesem ließe sich wuchern, um bspw. Einfluss auf internationale Konventionen auszuüben für einen nachhaltigen Umgang mit Ressourcen oder ein Wiedererlangen der Kontrolle auf den internationalen Finanzmärkten durch internationale Institutionen, in denen auch Deutschland vertreten ist. Die Fragmentierte Welt zeigt zum einen die Unerlässlichkeit der Umsetzung von konsistenten Policy Mixes, zum anderen die Notwendigkeit von Frühwarnsystemen auf. Ein Indikatorensystem, welches unterschiedliche Ausprägungen eines solchen Szenarios im Blick behält, könnte frühzeitig auf die Entwicklung schwieriger Rahmenbedingungen für die Ressourcenpolitik aufmerksam machen. Auf diese Weise würde frühzeitig die Möglichkeit bestehen, Entwicklungen zu befördern, die eine Schonung und den Erhalt von natürlichen Ressourcen ermöglichen und anderen negativen entgegenwirken. Denn das Zusammentreffen einer schwierigen ökonomischen Lage mit einem krampfhaften Festhalten am wirtschaftlichen Erfolgsmodell sind scheinbar schwierige Rahmenbedingungen für die Ressourcenpolitik, besonders wenn Innovationen ausbleiben. Story zum Szenario Fragmentierte Welt Manuel K. und Manuel W. aus Frankfurt/Main – ein Besuch in zwei Realitäten Manuel Kellener, geb. 2030, und Manuel Werthen, geb. 2031, leben auf den zwei Seiten einer gesellschaftlichen Schere. Ein Besuch in zwei Realitäten. „Möchten Sie einen Drink?” fragt der junge, dunkelblonde Mann höflich und hält mir etwas hölzern ein Silbertablett mit Sparkling aus England und duftendem Orangensaft entgegen. „Drinnen gibt’s auch Wein und Ebbelwoi“ sagt er. Sein schwarzes Jackett ist ihm leicht zu eng, und mit seiner altmodischen, etwas schief sitzenden Fliege sieht er ein bisschen aus wie aus dem letzten Jahrhundert. Aber es passt zu der Umgebung: Diana Werthen, 63, hat zu einem Charity-Event in der historischen Villa Lemonnardi im Frankfurter Westend-Süd geladen. Sie ist eine der erfolgreichsten Managerinnen des internationalen Unishare-Konzerns in Frankfurt, eine der wachsenden Regionen in Deutschland. Wie viele Konzerne hat Unishare inzwischen auch seine letzten Produktionsstandorte ins Ausland verlegt und leitet diese von Deutschland aus. Einer davon liegt im rohstoffreichen Sierra Leone, in dem Diana ein neues Wohltätigkeitsprojekt aufziehen möchte. Während ich überlege, für welches Getränk ich mich entscheide, quietschen Reifen hinter mir. Ein schwarzhaariger junger Mann springt sportlich über die Tür eines roten Cabriolets und wirft einer Service-Kraft mit einem lauten „Danke Richie“ seinen Autochip zu. Er nickt mir kurz zu und greift sich einen Orangensaft von dem Tablett, den er in einem Zug ausleert. Als er das Glas wieder abstellt, erscheint Diana Werthen samt ihrer unverkennbaren roten Fönfrisur in einem afrikanisch angehauchten bunten Kleid im Hauseingang. „Manuel, mein Schatz, da bist du ja endlich!“ Leichte Röte steigt Manuel-Schatz ins Gesicht. „Mama, ich heiße Manuel,“ sagt er. Und etwas lauter: „Und jetzt bin ich ja hier. Ging länger beim Polo. Wollte Papa eigentlich nun kommen?“ „Ja, der sitzt im Schnellzug aus London. Guter Orangensaft, nicht? Alles aus unserer Orangerie, alles öko,“ sagt seine Mutter. Sie mustert kritisch seinen Kapuzenpullover und die verwaschenen Jeans. „Wolltest du dir nicht ein bisschen was netteres Anziehen?“ Manuel verzieht das Gesicht. Seine Mutter lächelt und sagt beschwichtigend. „Ich habe vorsichtshalber einen deiner Anzüge kommen lassen.“ Manuel verdreht die Augen und folgt ihr nach drinnen. Die Wärme des lauen Abends, fröhliches Stimmengewirr und das alt-italienische Dekor des Gebäudes verleihen der Umgebung ein mediterranes Ambiente. Geschäftig läuft das Service-Personal des Catering-Unternehmens umher. Alle tragen die schwarze Fliege. Seit Roboter einen großen Teil der Serviceindustrie abdecken, ist es seit kurzem wieder besonders schick, ,menschliches' Personal zu haben. „Letztendlich geht es in Deutschland um die Frage, ob man dazugehört“ Der festlich hergerichtete Gartensaal füllt sich langsam, und Diana begrüßt ihre Gäste mit ausgebreiteten Armen. Damen verteilen links und rechts Küsschen, Herren im Smoking nicken einander zu. Es riecht nach teurem Parfum und den großen rosafarbenen Lilien, welche Teil des Blumenarrangements um die Kerzenprojektionen auf den Tischen sind. Häppchen mit MahiMahi-Fisch, Spargel-Sorbet und Thunfisch-Carpaccio werden gereicht, aus dem Nebenraum klingt ruhige Klaviermusik. Diana begrüßt gerade eine ältere Dame mit schwarzen Haaren und einem etwas stechenden Blick besonders herzlich. „Die ist von der Finanzaufsicht“ raunt ein Mann zum anderen neben mir. „Kein Wunder, dass sie so griesgrämig guckt.“ antwortet der andere leise. Und lacht. „Ich kann’s verstehen. Seit die Finanzmärkte so unruhig sind und wir die ganzen Banken wieder ,retten’ müssen, sind die Preise für den Rohstoffimport meines Unternehmens absurd geworden. So kann doch keiner arbeiten.“ Der andere nickt. „Dianas Firma macht das schon richtig mit der Verlagerung ins Ausland. In Sierra Leone gibt’s bestimmt keine Bankenrettung. Zum Glück gibt es wenigstens wieder die Atomkraft, da ist’s in letzter Zeit nicht mehr so volatil. Das lohnt sich dann, auch wenn Frankfurt selbst ja nur auf Erneuerbare macht. Habe ich damals nicht geglaubt, dass sie es schaffen. “ Ich beschließe einen Moment an die frische Luft zu gehen. Es ist etwas schwüler im Garten, die Unwetterwarnung wird sich wohl heute noch bewahrheiten, es sind kaum noch Helikopterlichter am Himmel zu sehen. Auch die Villa Lemonnardi ist wie fast alle wertvollen Gebäude inzwischen sturmsicher; von Extremwetterlagen ausgelöste Umweltka- 29 tastrophen gibt es heute weniger als noch vor 20 Jahren. Im Garten stehen ein paar Grüppchen, aus den Gesprächsfetzen entnehme ich, dass über die ständig steigende Kriminalitätsrate diskutiert wird. „Ist doch klar, dass das so ist, wenn nur wenige Menschen viel, und viele zu wenig haben“ sagt ein bebrillter, etwa 80-jähriger zu seinem sichtlich jüngeren Publikum. „Früher gab es ja noch eine Mittelschicht...“ Ich erschrecke mich etwas, als ich sehe, dass im Halbdunkel direkt neben mir jemand unbeweglich in einem ergonomisch geformten Gartenstuhl sitzt. Als sich meine Augen an das Mondlicht gewöhnt haben, sehe ich, dass es der junge Dunkelblonde mit der schiefen Fliege ist. Der Kopf ist gegen die Rückenlehne gestützt, seine Augen sind geschlossen, er atmet regelmäßig. Ich sehe mich um – es scheint ihn bisher niemand zu vermissen. In der offenen Terrassentür erscheint jetzt die Silhouette von Diana, ihr afrikanisches Kostüm sieht im Gegenlicht transparent aus. „Manu-u-ellll!“ Der Junge neben mir fährt erschrocken zusammen und schlägt die Augen auf. Er reibt sich das Gesicht und guckt mich an. „Hallo,“ sagt er. „Ich bin Manuel.“ Manuel Kellener, 20, arbeitet erst seit ein paar Wochen für das Cateringunternehmen. „Da bekommt man oft tolles Essen, neulich sogar mal Steak,“ sagt er. Wie bei vielen Menschen ist es nur einer von drei Jobs, die er derzeit hat. Festangestellt ist nur ein Drittel der Bevölkerung. Nach dieser Veranstaltung muss er zum wieder angesagten Milchsackgelände im ,Gutleutviertel’, wo er hinter der Bar steht. „Es sei denn, die Veranstaltung wird wieder wegen des Mainhochwassers abgesagt. Das wäre aber auch nicht gut, dann kommt nämlich kein Geld rein.“ Mit seinen Jobs unterhält Manuel sich selbst und seine Mutter, deren krankheitsbedingte Frührente seit 10 Jahren nicht mehr vom Staat getragen wird. Letztes Jahr mussten sie aus ihrem Passivhaus in Kalbach in die Nähe des neuen Atommülllagers weiter flussabwärts ziehen, da sind die Mieten günstig. Unter der Woche schläft er oft in einem Übernachtungscontainer in der City. Er war gut in der Schule und würde gern studieren, Microchiptechnik, aber: „der Wunsch scheint immer weiter in die Ferne zu rücken.“ Manuel zuckt mit den Schultern: „So ist’s halt.“ Er blickt auf die festlich erleuchtete Villa. „Letztendlich geht es auch in Deutschland um die Frage, ob man dazu gehört. Man muss flexibel sein.“ Er rückt seine Fliege zurecht. „Wir haben es ja trotzdem gut, verglichen mit den meisten Menschen auf dieser Welt! Selbst die Großmacht China hat doch so viele Arme: Es gibt eben die an der Spitze, und dann gibt es noch uns, und wir sind wie der größte Teil des Eisbergs – eher unter Wasser.“ Wie auf Kommando ertönt der Sturmregenalarm. Wir laufen mit den anderen Menschen zur Tür, die hinter uns automatisch verriegelt wird. Drinnen sind die Blicke Richtung Rednerpult gerichtet, an dem Diana mit ihrem Sohn steht. Sein Kapuzenpulli ist inzwischen einem modernen schmalen Jackett gewichen. „Ich präsentiere ihnen den neuen CEO 30 unserer neuen Sierra-Leone-Foundation: Manuel Werthen.“ Rauschender Beifall. Manuel W. lächelt, hebt beschwichtigend die Hände: „Danke, danke. Ich freue mich über diese Möglichkeit, mit unseren Küstenschutzprojekten an der sozialen und politischen Gestaltung eines Landes beteiligt sein zu können.“ Mehr Beifall. Mit seinem Stift projiziert er die 3D-Landschaften in den Raum, erklärt anhand der Live-Bilder, was er in Freetown vorhat. „Toll wenn die Jungen mal was tun.“ Raunt der alte Mann aus dem Garten hinter mir. „Das brauchen wir auch mal für Deutschland, wo es das Wort ,Bürgerbeteiligung’ dank der zentralistischen Strukturen und der ,Expertenkommission,’ die sich Regierung nennt gar nicht mehr gibt... Damals als...“ Ein „Psst“ unterbricht seine Rede. Die Augenbrauen des alten Mannes erscheinen über den dicken Brillenrändern. Er verstummt mit einem Achselzucken und nimmt sich noch einen Drink, den Manuel Kellener ihm jetzt anbietet. „Schöne Fliege,“ sagt der Alte. Manuel K. lächelt etwas gequält. Die Party ist längst zu Ende, als er schließlich die Villa Lemonnardi verlässt. Er wird dabei fast von Manuel Werthen umgerannt. „Oh, sorry,“ sagt Manuel zu Manuel. Ihre Blicke kreuzen sich. Beide tragen einen Kapuzenpullover, und in diesem Moment sind sie kaum von einander zu unterscheiden. Szenario E Es geht nicht weiter wie bisher – das Krisenszenario Zerrüttete Welt „Eine Finanzkrise und der Zusammenbruch des internationalen Finanzsystems haben das wirtschaftliche Geschehen weltweit stark angeschlagen. Ein weitgehend regionalisiertes Finanzsystem mit Regionalwährungen und Tauschkreisen ist entstanden. Rohstoffe sind knapp und teuer, die Energieverfügbarkeit hoch volatil. Die deutsche Wirtschaft ist stark geschrumpft und regionalisiert, die Wirtschaftsleistung stark zurückgegangen, was sich negativ auf das Wohlstandsniveau sowie dessen Verteilung innerhalb des Landes auswirkt. Die Lebensstile sind spürbar dematerialisiert, die entstandene „Armut“ kann vom Sozialsystem nicht ausreichend abgefedert werden. Depolitisierung sowie ideologische und ethnische Verdrängungen finden statt, um sich vom Rest der krisenzerstörten Welt abzuschotten.“ minimieren. Die Wirtschaftsleistung befindet sich global in einer Abwärtsspirale, was zu verstärkter Bevölkerungsmigration sowie großen Disparitäten innerhalb einzelner Staaten führt. Europa und die USA versuchen sich – auch in Form von Zöllen – stärker vom Rest der Welt abzuschotten. Der Welthandel ist stark rückläufig und es kommt zur Bildung von Handelsblöcken. Ein Kampf gegen Migrationsströme und ein Ablösen von der weltweit negativen Wirtschaftsentwicklung hat längst begonnen. Auch die Globalisierungstendenzen der deutschen Wirtschaft haben abgenommen; die Wirtschaftsleistung wird kaum von der Großproduktion erbracht, sondern vielmehr in Klein- und Kleinstbetrieben sowie durch lokale Dienstleistungen in regionalen Wirtschaftskreisläufen. Damit hat auch das Handwerk an Bedeutung wiedergewonnen. Finanzwelt und Klima Eine Finanzkrise hat das internationale Finanzsystem und damit auch einen Großteil der wirtschaftlichen Aktivitäten stark beeinträchtigt, was einen großen Vertrauensverlust in das Finanzsystem mit sich bringt. Ein weitgehend regionalisiertes Finanzsystem mit Regionalwährungen und Tauschkreisen ist entstanden. Mit dem Quasi-Zusammenbruch des internationalen Finanzsystems wurden nicht nur die globalen Wirtschaftsstrukturen stark in Mitleidenschaft gezogen, sondern auch politische und institutionelle Strukturen auf globaler Ebene, die sich zugunsten einer Rückbesinnung auf nationale und teilweise regionale Koordinationsmechanismen auflösen. In der Folge konnte auch keine nennenswerte globale Antwort auf den Klimawandel gefunden werden, dessen Auswirkungen spürbar durch wiederkehrende Dürren, Überschwemmungen, extreme Temperaturschwankungen, Meeresspiegelanstieg, etc. zu erkennen sind. Auch Komplexitätsüberforderungen führen weltweit zu technischen Unfällen. Wirtschaft und Rohstoffe Aufgrund dessen sind auch Rohstoffe und Energieträger knapp und teuer geworden, die Preise und die Verfügbarkeit hoch volatil. Innovationen sind hauptsächlich kreislaufgetrieben – auch um den Einsatz von Primärrohstoffen zu Politik und Gesellschaft Regionalisierungs- und Depolitisierungstendenzen sind in der deutschen Politik wiederzufinden. Internationale Regime zerbrechen, ideologische und ethnische Verdrängungen finden statt. Die Lebensstile sind stark dematerialisiert, da erhebliche Einkommenseinbußen hingenommen werden müssen. Die erzwungene und nicht dem materialistischen Werteverständnis entsprechende „Einfachheit“ bringt im Durchschnitt ein geringes Wohlstandsniveau mit großer Spreizung mit sich, welche vom Sozialsystem nicht ausreichend abgefedert werden kann. 31 Ansatzpunkte und Herausforderungen im Krisenszenario Zerrüttete Welt Vor dem Hintergrund einer derart von Krisen zerrütteten, dematerialisierten Welt, die einem allgemeinen ökonomischen Abwärtstrend unterliegt, handelt es sich hier um ein Szenario, das möglicherweise die Machbarkeit von gewagteren politischen Ansätzen – auch im Hinblick auf die Ressourcenpolitik – erhöht. Da jegliche ressourcenpolitische Ziele verfehlt werden, könnte nach einer solchen wirtschaftlichen Verwerfung globalen Ausmaßes ein „Neustart“ mit der Priorität auf Kriterien wie globale Gerechtigkeit, dem Einhalten von Sozialstandards und der Minimierung 32 von schädlichen Umweltwirkungen in Betracht gezogen werden. Ein sehr kontrovers diskutierter Ansatz eines „tiefen ressourceneffizienten Staats“ würde eine große Transformation im Sinne einer absoluten Reduktion vorsehen. Durch staatliche Standardsetzung nicht nur bis tief in die Produktionsprozesse und Infrastrukturplanung hinein, sondern auch durch Sanktionen und der Vermittlung von entsprechenden Werten, könnte eine stark lenkende Rolle des Staates (sofern er diese Einfluss- und Eingreifmöglichkeiten hat) in das alltägliche Handeln der Bürger eingreifen. Es würden umfassende Regulierungen und Vorschriften zum Ökodesign, Produktstandards und -kennzeichnungen sowie eine Modellierung von Umweltwirkungen eingeführt werden. Auch unterschiedliche fiskalische Instrumente für eine an ökologischen Kosten orientierte Preisgestaltung von Produkten und Prozessen wären denkbar. Eingeführt werden könnten auch strenge finanzpolitische Vorgaben für Ressourceneffizienz. Die Kontroverse dieses Ansatzes entsteht weniger im Bereich ihrer Funktionalität – das Beispiel von China zeigt, wie effizient die von einem starken Staat umgesetzten Vorgehensweisen sein können – als in ihrem Konfliktpotential mit den freiheitlichen Werten unserer Demokratie. Story zum Szenario Zerrüttete Welt Marlena aus Hamburg – Besuch bei der neuen deutschen Generation Marlena Ahlers, geb. 2037, möchte berühmte Sängerin werden. Für Gesangsstunden hilft sie nach der Schule den Eltern bei einem Dammbauprojekt. Ein Besuch bei der neuen deutschen Generation. „Moin Moin!„ sagt Marlena und schüttelt ihre helle Mähne „Willkommen in Hamburch“. Sie trägt einen pinken Nanostoffrock, graue Leggings, helle Turnschuhe und eine strahlenabweisende graublaue Shield-Jacke. Die 13-jährige trifft mich am Ausgang der Ganztagsschule Klosterbrook, eine Schule mit künstlerischer Ausrichtung in Hamm-Süd. Neben den üblichen Fächern wird hier Gesang und Entertainmentwirtschaft unterrichtet. Marlena, die hier ein Stipendium bekommen hat, ist froh, dass die Schule so nah an ihrem Zuhause in Hammerbrook ist, denn „ich wäre sowieso hingegangen – sonst hab’ ich wenig Chancen mit der Gesangskarriere. Und den Coach kann man hier sogar in echt sehen – das ist super.“ Sie ist mit ihren Eltern vor vier Jahren, ein Jahr nach der Finanzkrise, von Güstrow nach Hamburg gezogen. Die Eltern erhofften sich bessere Arbeitsmöglichkeiten, und Marlena kann in die Schule gehen anstatt zu Hause zu sitzen. In vielen Orten in Ostdeutschland gibt es inzwischen keine Schulen mehr, die wenigen Kinder müssen weit reisen oder online lernen. „Hier in Hamburg geht’s einem schon gut“ sagt Marlena, die mit ihren Eltern und ihrem 10-jährigen Bruder Boris in einer 4-Zimmer-Wohnung lebt, die mit anderen Wohnungen in eine Industriehalle eingebaut ist. Die Eltern, vorher Lehrerin und Umwelttechniker, haben die Wohnung selbst ausgebaut und arbeiten nebenan in einem Projektbüro. Beide haben Arbeit bei einer Hamburger Dammbauinitiative gefunden. Wir radeln Richtung Alster, wo Marlena heute zu einem Casting für eine Mobile-Serie will. „Der Trick ist, auf allen Plattformen präsent zu sein.“ Sagt Marlena, ganz der Profi. „Ich habe einen digitalen Agenten für die Castings – aber ich habe den Eindruck dass das Programm etwas veraltet ist“ sagt sie. Auf dem Weg zur Innenstadt erzählt Marlena von ihrem großen Traum: Erfolgreiche Sängerin werden. „Ich lerne gerade sogar chinesisch singen – das ist nun mal der größte Markt.“ Durch die Schul-Agentur tritt sie öfter bei Veranstaltungen auf. „Neulich habe ich meine ersten Hansemark, also Hamburger Geld, damit verdient – das fühlte sich gut an. Die neue D-Mark wäre zwar besser, aber von der Regionalwährung kann man inzwischen einiges kaufen. Und wenn ich meine Karriere selbst in der Musik aufbaue, kann meine Firma nicht einfach mit der nächsten Finanzkrise untergehen – gute Musik werden die Leute immer haben wollen. Und man kann sie so einfach selbst produzieren.“ Plötzlich staut es sich vor uns. Überall Autos, ein paar Lastwagen, sogar jemand mit einem Handkarren, Gehupe, laute „Ich singe lieber statt zu jammern und suche nach den Möglichkeiten“ Rufe. Alle wollen auf den Parkplatz eines Baumarktes, der vor uns liegt. Ein großes hellblaues Zelt ist dort aufgebaut, vor ihm drängen sich Menschen. Die Fahrradstraße ist fast gänzlich versperrt, aber Marlena schlängelt sich geschickt durch das Gewirr aus Autos, E-Bikes und Menschen mit sperrigen Gegenständen und Karren. Sie sieht meinen fragenden Blick. „Das ist hier jede Woche so, wenn die neuen Baumaterialien ankommen,“ sagt sie. „Da gibt es zwar auch nicht alles, aber mehr als sonst und vor allen Dingen normale Preise – und sie nehmen Hansemark. Auf dem Schwarzmarkt ist ja alles da – aber leisten kann es sich kaum einer. Und manche Sachen sind giftig.“ Nach den großen Industrieunfällen der letzten Jahre tauchen immer wieder verunreinigte Stoffe auf. „Zum Beispiel wurde mein Vater krank, als er für ein Projekt schwarz Holz und Stahlleisten eingekauft hat – das Material war radioaktiv verseucht. Meine Mutter hat sich furchtbare Sorgen gemacht. Jetzt hat jeder von uns immer einen Toxic-Sensor dabei, der sofort ausschlägt, wenn etwas giftig ist. Auch bei billigen Lebensmitteln muss man aufpassen.“ Wir sind schon fast an der Alster. Marlena ist in Eile, sie möchte nicht zu spät sein und muss danach noch an die Elbe, wo sie ihren Eltern bei der Arbeit helfen will. Dafür wollen die Eltern ihr zusätzliche Gesangsstunden ermöglichen. „Einfach so hätte ich das echt nicht annehmen können – die arbeiten ja beide so hart und trotzdem haben wir kaum Geld.“ Beide Eltern hatten – wie viele Menschen – krisenbedingt ihre Arbeit verloren und arbeiten jetzt projektbasiert. Die staatliche Unterstützung reicht nicht. „Neulich hatten wir Besuch von meiner Tante und es gab sogar echtes Fleisch, nicht das geklonte Züchtzeug. Es war eigentlich viel zu wenig, aber keiner hat etwas gesagt. Und als meine Tante das Essen gelobt hat, hat meine Mutter plötzlich angefangen zu weinen. Das tut sie öfter, aber heimlich. Sie denkt immer, wir merken es nicht. Ich glaube es ist, weil das Geld nicht reicht.“ Sie schüttelt ihre Haare aus dem Gesicht. 33 „Aber was soll’s? Ich singe lieber statt zu jammern, und suche nach den Möglichkeiten.“ Sie fängt an, das Lied der Mobile-Serie zu summen und schenkt den nun auftauchenden prominent platzierten Bildschirmen am Straßenrand kaum Beachtung. Videobotschaften weisen auf die nächsten Regionalwahlen hin. Im Wahlkampf geht es um die steigende Zahl der christlichen Vertriebenen, die aus dem Süden illegal in den Hafen kommen, um soziale Ungleichheiten und den Ausstieg aus der UN. „Hamburg bleibt Deutsch,“ „Demokratie jetzt – für eine gerechte Gesellschaft“ und „lieber regional gut als international schlecht“ steht da in leuchtenden Schriften. Am Jungfernstieg machen wir gleich neben dem Alsterhaus halt, welches vorwiegend norddeutsche Waren von kleinen Unternehmen und Samstags ein großes Tauschring-Event anbietet. Es ist kaum Wasser im Alsterbecken. Die Solarfähren müssen den Regen abwarten, halbfertige Museumstürme stehen verlassen in der Mitte der Alster auf ihrer aufgeschütteten Insel – große Bauprojekte wurden durch die Krise erst einmal gestoppt. Es ist in diesem Moment schwer vorstellbar, dass am dringendsten noch weitere Dämme gegen die Sturmfluten gebaut werden müssen. Doch für die nächsten Tage sind heftige Sturmregenfälle angesagt, und der Wasserstand wird sich schnell ändern. „Hm, ich glaube mein Agent hat doch einen Bug. Hier soll es sein,“ sagt Marlena und sieht sich suchend um. Da sehen wir ein paar weitere junge, schlanke Mädchen mit langen Haaren auf einen Eingang neben dem Alsterhaus zusteuern und hinter einer verspiegelten Tür verschwinden. Im Gebäude müssen wir statt Fahrstuhl erst mal ein paar dunkle Treppen hinaufgehen. „Schon wieder Stromausfall – ich hoffe die haben eine Batterie für das Casting mitgebracht.“ sagt Marlena. Ich bekomme Bedenken, doch dann kommen wir in einen halbwegs erleuchteten Gang, wo eine Schlange von Mädchen an die Wand gelehnt wartet. „Moment, ich schalte mal eben meine Mutter dazu.“ Marlena drückt auf einen Knopf an ihrer Jacke. Ihre Mutter erscheint als 3D-Hologramm neben ihr. „Guten Tag“ sagt sie und lächelt. Trotz der kurzen dunklen Haare und der Falten im Gesicht sieht man Marlena in ihr. Einige andere Mädchen haben ihre Eltern als Hologramme dabei, andere Eltern sind persönlich anwesend. Kragen werden zurechtgezogen, Haare gebürstet, hier und da Lippenstift aufgetragen. Einzeln verschwinden die Mädchen hinter einer Glastür. Durch sie erhellen Kamera-Blitze und weißes Licht den Gang. Eine kleine hektische Frau der Casting-Agentur nähert sich uns, Marlena und ihre Mutter registrieren sich. Einige Mädchen singen leise vor sich hin oder machen Sprechübungen. Marlenas Mutter hat zu tun und will wieder zugeschaltet werden, wenn Marlena an der Reihe ist. Sie sagt ihrer Tochter noch, wie toll sie ist und wie natürlich sie aussieht. Schließlich verschwindet auch Marlena, leicht nervös, hinter der Glastür. Vom Gang aus kann man sehen, wie sie mit einem Bildschirm spricht, ein paar Tanzbewegungen macht und etwas vorsingt. Ihre Haare sind offen, sie wirkt lebendig und ausgelassen. Es werden noch ein paar Fotos in ver- 34 schiedenen Posen gemacht, dann kommt Marlena mit geröteten Wangen wieder aus dem Casting-Raum. „Ich glaube sie fanden mich gut!“ sagt sie. „Vielleicht ist mein digitaler Agent doch nicht so schlecht. Wenn es gut läuft, wird die Serie sogar im Ausland laufen.“ Seit sich die Industrienationen derart vom Rest der Welt abschotten, ist auch die Verbreitung von Unterhaltungsprodukten eingeschränkt worden. Wir schwingen uns wieder auf die E-Bikes. Auf dem Weg zum Elbprojekt werden die Straßen breiter und großzügiger, hinter hochgewachsenen Büschen blitzen überwiegend weiße Villen hervor. Gepflegte Gärten umrahmen die herrschaftlichen Bauten, ab und zu fährt ein privates Luxus-E-Car vorbei. Marlena sieht zu den Villen. „Die müssen bestimmt nicht jede Woche im Baumarkt gucken, ob das richtige Holz da ist und ihr Essen mit Toxic-Sensor prüfen.“ Sie seufzt leise und tritt etwas fester in die Pedale. „Und die weinen bestimmt nicht, weil kein Geld da ist. Wenn ich erst mal berühmt bin, kaufe ich meinen Eltern ein Haus hier. Ein ganz großes. Und mache jeden Tag ein Festessen.“ Marlena fängt wieder an zu summen. 3 Methodik der szenariobasierten Strategieentwicklung Die Entwicklung von politikfeld-übergreifenden Handlungsansätzen und Szenarien, die über eine einfache Extrapolation von Trends hinausgehen, erfordert einen kreativen Diskussionsraum, der ein systemisches, vernetztes, zukunftsoffenes und interdisziplinäres Denken möglich macht. Die Kommunikationsprozesse wiederum müssen - ohne die Kreativität zu riskieren - strukturiert, systematisch und transparent erfasst werden. Die im Rahmen des Projekts zur Strukturierung, Visualisierung und Moderation genutzte Parmenides EIDOS Methodik konnte ihre Eignung im Sinne der formulierten Anforderungen bereits im Rahmen einer Vielzahl von szenariobasierten Strategieprozessen unter Beweis stellen. Mit der Unterstützung von EIDOS konnte die Komplexität der Themen mit der ihr inhärenten Vielfalt an Wissen, Meinungen und Bewertungen integriert und in einem strukturierten Arbeitsprozess handhabbar gemacht werden. Zukunftsprojektionen, dessen Ausprägungen und Zusammenhänge mit starken Unsicherheiten belegt sind und damit eine Einbindungen von Experten in den Prozess notwendig machen.12 Partizipativer Ansatz Die Erarbeitung der Inhalte setzt sich aus vier aufeinanderfolgenden Schritten zusammen: einem Umfeldszenariosowie einem Strategieentwicklungsprozess und dem darauf aufbauendem Wind Tunnelling, bei dem die Umfeldszenarien und Strategien in ihrem „Zusammenspiel“ getestet wurden. Im Vordergrund dieses Schrittes stand die Frage nach der Beständigkeit oder Robustheit der unterschiedlichen Handlungsansätze (hier auch strategische Ausrichtungen genannt) in verschiedenen Szenario-Umfeldern. In anderen Worten ging es dabei um die Frage nach passenden und möglichen strategischen Ansätzen, die „in unterschiedlichen Zukünften“ sinnvoll und zielführend sind. Die Umfeldszenarien sowie die anschließend formulierten Handlungsansätze für die Politik wurden in unterschiedlichen partizipativen Stakeholder-Beteiligungs- und Diskussionsformaten mit rund 40 Interessensvertretern und Experten der Ressourcenpolitik erarbeitet. Damit sind die Inhalte Ergebnis eines Stakeholderprozesses und basieren auf konsensualen Einschätzungen, Wissen, intuitiven Vermutungen und Annahmen über die Zukunft des ressourcenpolitischen Umfelds im Jahr 2050 und spiegeln die Zukunftsvorstellungen hinsichtlich möglicher Entwicklungen aber auch möglicher Handlungsalternativen einer Gruppe von Stakeholdern wider. Durch die Mobilisierung von unterschiedlichen Erfahrungen der Beteiligten können Zukunftsbilder robuster gemacht, ein bestmögliches Systemverständnis herbeigeführt sowie neues Wissen generiert werden.13 Trotzdem darf nicht unbeachtet bleiben, dass jegliche Aussagen über die Zukunft der im Prozess Beteiligten sich hauptsächlich aus gegenwärtigen Erwartungen über Zukünftiges ergeben und an sich keinen Wahrheitsanspruch erheben.14 Die Szenarien unterliegen demnach auch der „kognitiven Grenze“ sich Unbekanntes vorzustellen. Der Prozess Vor allem bei der Identifikation von möglichen Zukünften als auch bei Bewertungsverfahren wird in der wissenschaftlichen Forschung vermehrt auf Expertenwissen und Einschätzungen von gesellschaftlichen Anspruchsgruppen zurückgegriffen. In einem solchen kollektiven Prozess soll ein möglichst heterogener Personenkreis idealerweise ein möglichst umfassendes Spektrum an Wissen und Meinungen systematisch einbringen.10 Dabei stellen strukturierte, partizipative Prozesse eine Möglichkeit dar, den aktuellen Wissensstand, Einschätzungen, Zukunftsvorstellungen, aber auch intuitives Wissen sowie die Aufnahme von unterschiedlichen und teils divergierenden Sichtweisen in die Bandbreite möglicher Zukünfte zu integrieren.11 Nicht zuletzt sind Szenarien komplexe Beschreibungen von Vorstellungen über unterschiedliche 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | Niederberger & Wassermann, 2015, S. 37f. Niederberger & Wassermann, 2015, S. 11. Kerber, Schramm, Winker, 2014, S. 13. Niederberger & Wassermann, 2015, S. 231). Grunwald, 2009. Abbildung 2: Prozess der szenariobasierten Strategieentwicklung Quelle: eigene Darstellung anhand Parmenides EIDOSTM Zusätzlich zu diesen drei Schritten wurden die unterschiedlichen strategischen Ausrichtungen auch einer Effektivitätsprüfung unterzogen, bei der eingeschätzt wurde, wie gut 35 die skizzierten Handlungsansätze unterschiedliche ressourcenpolitische Ziele erreichen würden. In Form der Parmenides Matrix werden abschließend die Ergebnisse des Wind Tunnellings sowie der Effektivitätsprüfung zusammenfassend dargestellt. Entwicklung der Umfeldszenarien Da in diesem partizipativen Prozess der Zukunftsraum einer gewissen Komplexität unterliegt und der Projektionszeitpunkt relativ weit in der Zukunft liegt, so dass Annahmen für das Jahr 2050 mit hoher Unsicherheit behaftet sind, bildet die Szenariomethode eine geeignete Vorgehensweise.15 Dabei wurden in unterschiedlichen Arbeitsschritten alternative, plausible und in sich konsistente Zukunftsbilder des ressourcenpolitischen Umfelds im Jahr 2050 entwickelt. Die einzelnen Arbeitsschritte sind in Abbildung 3 graphisch dargestellt und im Folgenden kurz erklärt. Anhand des Szenarioraums bzw. des morphologischen Kastens wurden deren mögliche Projektionen und Ausprägungen im Jahr 2050 anschließend mit den Stakeholdern erarbeitet. Als Ergebnis dieses Zukunftsprozesses stehen pro Schlüsselfaktor 2-5 alternative Zukunftsbilder. Je ein Szenario setzt sich nun aus einem Zukunftsbild pro Schlüsselfaktor zusammen und entspricht damit dem gleichzeitigen Eintreffen von – in diesem Fall 10 – verschiedenen Umfeldzuständen. Konsistenzbewertung: Um zu einer sinnvollen Auswahl und Anzahl an Szenarien zu gelangen, wurden im Vorfeld die Konsistenzwerte aller Projektionen zueinander innerhalb einer Halbmatrix definiert. Der Konsistenzwert eines Szenarios gibt Aufschluss darüber, wie widersprüchlich bzw. in sich schlüssig die jeweilige Kombination von Zukunftsbildern ist. Bei der Szenarioauswahl kamen nur jene in Betracht, die einen hohen Konsistenzwert aufwiesen, also das gleichzeitige Auftreten von unterschiedlichen Zukunftsbildern weitgehend widerspruchsfrei ist. Bei der Komposition des Szenario-Sets wurde des Weiteren auch darauf geachtet, dass die Umfeldszenarien den Zukunftsraum bestmöglich abdecken und sich stark voneinander abgrenzen. Entwicklung der strategischen Ausrichtungen Abbildung 3: Arbeitsschritte zur Entwicklung der Umfeldszenarien Quelle: eigene Darstellung anhand Parmenides EIDOSTM Die STEEP-Analyse unterstützt den ersten Schritt, die Umfeldanalyse, zur Identifizierung einer Bandbreite von Faktoren aus Politik, Wirtschaft, Technologie und Gesellschaft, die eine nachhaltige Nutzung und den Schutz natürlicher Ressourcen beeinflussen.16 Im Rahmen eines ausführlichen Diskussionsprozesses wurden die unterschiedlichen Elemente letztlich in 16 verschiedene Einflussfaktoren zusammengefasst, die hinsichtlich ihrer gegenseitigen Einflussstärke bewertet wurden. Durch die Definition der Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Einflussfaktoren entstand modellhaft ein greifbares Bild der Dynamik des Umfelds, das auf Verhaltensweisen in diesem System geprüft werden konnte (Systemanalyse). Die Untersuchung des Systems zeigt, dass 10 dieser Faktoren – die aktiven, das System „treibende“ Faktoren – die Schlüsselfaktoren bilden. 15 | Minx & Böhlke, 2006, S. 16f. 16 | Nikles, 2007. 36 Die explorativen Umfeldszenarien sollen nicht nur für mögliche ressourcenpolitische Umfeldentwicklungen sensibilisieren, sondern einen Rahmen für eine verstärkte Auseinandersetzung und Analyse von möglichen politischen Handlungsansätzen bilden. Wie in Abbildung 4 ersichtlich, wurde dies in einem ähnlich strukturierten partizipativen Prozess umgesetzt, bei dem alternative strategische Ausrichtungen der Ressourcenpolitik auf Grundlage der Umfeldszenarien mit einer Gruppe von Stakeholdern entwickelt wurden. Das Synthesewissen und Meinungsbild der im Prozess Beteiligten wurde in unterschiedlichen in sich konsistenten, also möglichst widerspruchsfreien, Handlungsansätzen zum Ausdruck gebracht. Hierbei ist anzumerken, dass die Analyse in unterschiedlichen Umfelder die Ansichten einer Gruppe widerspiegelt. Die Bewertung mag bei unterschiedliche Experten anders ausfallen. Der Prozess der Evaluierung stellt eine Diskussionsgrundlage für die Bewertung der strategischen Handlungsansätze dar. Durch eine Veränderungen der Bewertungen können unterschiedliche Ansichten und das daraus folgende Ergebnis diskutiert werden. Abbildung 4: Arbeitsschritte zur Entwicklung strategischer Handlungsansätze Quelle: eigene Darstellung anhand Parmenides EIDOSTM Die Handlungsbereiche wurden in diesem Prozess aus den Umfeldszenarien inhaltlich abgeleitet, auf deren Grundlage in einem nächsten Schritt alternative Handlungsoptionen entwickelt wurden. Die Handlungsbereiche reichen von der Wirtschafts- und Außenpolitik über die Infrastrukturplanung bis hin zur (Aus-) Bildung. Nach der Beurteilung der Konsistenzwerte jeder einzelnen Handlungsoption zueinander (in Form einer Halbmatrix), konnten alternative Handlungsansätze generiert werden. Jeder dieser Ansätze setzt sich aus einer Handlungsoption pro Handlungsbereich zusammen. Als Ergebnis des Prozesses liegen fünf unterschiedliche strategische Ausrichtungen der Ressourcenpolitik vor: Rohstoffsicherung, Ökologische Modernisierung, Dienstleistungsgesellschaft, Regionalisierung und Dematerialisierung. Die 5 Handlungsansätze wurden inhaltlich in den Kapiteln Herausforderungen und Ansatzpunkte pro Szenario verarbeitet und werden nur hier zur Veranschaulichung der Methodik explizit benannt. Abbildung 5: Durchschnittliche Beständigkeit der strategischen Ausrichtungen hinsichtlich aller Umfeldszenarien Quelle: eigene Darstellung anhand Parmenides EIDOSTM Die Farben in Abbildung 6 entsprechen der jeweiligen strategischen Ausrichtung aus Abbildung 5. Wind Tunnelling Anhand des Wind Tunnellings wurde die Robustheit bzw. Beständigkeit dieser Handlungsansätze hinsichtlich eines potentiellen „Eintreffens“ der unterschiedlichen Umfeldszenarien geprüft. In Form dieses letzten Schrittes wurde eine Bewertungs- und Diskussionsgrundlage für politische Entscheidungsträger und somit die Basis für die Formulierung und Analyse denkbarer Handlungsansätze geschaffen. Diese Vorgehensweise erlaubt darüber hinaus mögliche Zukunftsentwicklungen frühzeitig zu erkennen und deren Auswirkungen konstruktiv zu begegnen. Sie dienen allerdings nicht nur einer Reaktion auf sich verändernde Umfeldbedingungen, sondern auch dem Ansporn die Zukunft pro-aktiv in die ein oder andere Richtung (mit) zu gestalten. Die Abbildungen 5 und 6 zeigen ein Ergebnis des Wind Tunnelling Prozesses. Zu erkennen ist hier, dass z.B. der Handlungsansatz Ökologische Modernisierung im Durchschnitt über alle Umfeldszenarien hinweg am beständigsten ist, jedoch im Umfeldszenario Zerrüttete Welt aber auch in der Fragmentierten Welt am wenigsten greift bzw. umsetzbar wäre. Abbildung 6: Beständigkeit der strategischen Ausrichtung in den einzelnen Umfeldszenarien Quelle: eigene Darstellung anhand Parmenides EIDOSTM Die einzelnen Ergebnisse des Wind Tunnelling Prozesses, also mögliche Handlungsalternativen zu den Szenarien gehen in den Abschnitten 2.A bis 2.E unter den Herausforderungen und Ansatzpunkten auf. 37 Effektivität In diesem Arbeitsschritt wurde beurteilt, inwiefern die fünf entwickelten Handlungsansätze unterschiedliche ressourcenpolitische Ziele erreichen würden. Damit wird die Effektivität der einzelnen Ansätze bewertet. Die dabei herangezogenen Ziele sind entsprechend der Flughöhe der Handlungsansätze ebenfalls rein qualitativ beschrieben: Sicherung von Versorgungssicherheit und Wettbewerbsfähigkeit: Rohstoffpreise sollten stabil und Rohstoffe bezahlbar bleiben, damit die Wertschöpfung nicht gefährdet wird. Umweltwirkungen minimieren und Ökosystemdienstleistungen erhalten: Rohstoffe und Materialien sollten in einer Weise (und Menge) gewonnen und genutzt werden, dass schädliche Auswirkungen auf die Umwelt minimiert werden (Klima, Biodiversität, Landnutzung, Schadstoffe, Wasserverbrauch und -qualität). Abbildung 7: Effektivität der strategischen Ausrichtungen hinsichtlich der fünf ressourcenpolitischen Ziele Quelle: eigene Darstellung anhand Parmenides EIDOSTM Abbildung 8 lässt erkennen, dass die Handlungsansätze Regionalisierung und Ökologische Modernisierung die fünf ressourcenpolitischen Ziele am ehesten erreichen würden. Der Handlungsansatz Rohstoffsicherung schneidet bei der geschätzten Zielerreichung am schlechtesten ab. Dabei gibt es allerdings keine Unterscheidung bezüglich der Wichtigkeit der einzelnen Ziele. Verdopplung der Effizienz: Das Verhältnis von Wertschöpfung und Materialeinsatz soll optimiert werden um Abhängigkeiten zu verringern, neue Marktchancen zu erschließen und Umweltwirkungen zu mindern. Globale Gerechtigkeit: Für jeden Menschen auf der Welt sollte die gleiche Menge Materialien und Rohstoffe und der gleiche Anteil am globalen Senken-Potential zur Verfügung stehen; negative Umwelteffekte des Konsums sollten nicht verlagert werden. Abbildung 8: Effektivität der strategischen Ausrichtung hinsichtlich einzelner Ziele Quelle: eigene Darstellung anhand Parmenides EIDOSTM Sozialstandards einhalten: Entlang der Wertschöpfungskette, von der Extraktion über die Verwendung bis hin zum Recycling von Materialien sollten Sozialstandards eingehalten werden. Auch hier ist anzumerken, dass die Evaluierung der strategischen Ausrichtungen hinsichtlich ressourcenpolitischer Ziele die Ansichten einer Gruppe widerspiegelt. Die Bewertung mag bei unterschiedlichen Experten anders ausfallen. 38 Nicht ganz unerwartet bewertet die Gruppe, dass der Handlungsansatz der Rohstoffsicherung dazu führt, dass die Versorgung von natürlichen Ressourcen und deren Wettbewerbsfähigkeit eher sichergestellt ist als einer der anderen Handlungsansätze. Abbildung 9: Parmenides Matrix: Effektivität und Robustheit der strategischen Ausrichtungen Quelle: eigene Darstellung anhand Parmenides EIDOSTM Parmenides Matrix Die im Rahmen der beiden vorangehend dargestellten Schritte – Wind Tunneling und Analyse der Effektivität der Handlungsansätze – stellen jeweils für sich genommen wichtige Entscheidungsparameter dar. Wie gut erfüllt ein Handlungsansatz die gesteckten Ziele? Wie gut kann sich ein Handlungsansatz in "alternativen Zukünften" entfalten? Die Darstellung beider entscheidungsrelevanter Perspektiven in einer einzelnen Visualisierung erlaubt es, beide Kriterien "gleichberechtigt" in unsere Entscheidungsfindung eingehen zu lassen. Wie Abbildung 9 zeigt, sind im oberen rechten Quadranten die Handlungsansätze Ökologische Modernisierung und Regionalisierung zu finden, die sowohl ressourcenpolitische Ziele erreichen als auch eine hohe Szenario-Robustheit aufweisen. Dematerialisierung und Dienstleistungsgesellschaft im oberen linken Quadranten sind ebenfalls effektiv, allerdings wenig beständig hinsichtlich der Umfeldentwicklungen, wie in den Szenarien definiert. 39 4 Fazit und Ausblick Die Umfeldszenarien stellen eine Möglichkeit dar, denkbare zukünftige Umfeldveränderungen stärker in einen Strategieprozess zu integrieren. Der strukturierte partizipative Ansatz, der für den Prozess gewählt wurde, forderte Engagement und Zeit der im Prozess beteiligten Stakeholder und Experten. Dank ihrer Einsatzbereitschaft und der Offenheit, ihr Wissen und ihre Einschätzungen zu teilen, konnten diese vorliegenden Ergebnisse generiert werden. Der gewählte Prozess hat vor allem dazu geführt, ein systematisches Denken in Alternativen bei den Beteiligten zu fördern. Sinnvollerweise steht ein solcher Prozess zeitlich vor der Erarbeitung von Politikprogrammen, um Orientierung zu schaffen, Denkanstöße zu generieren, die richtigen Fragen zu stellen und unterschiedliche Meinungsbilder mit einfließen zu lassen. Der partizipative Ansatz machte auch konsensuale Ergebnisse und erkenntnisreiche Diskussionen mit Stakeholdern divergierender Sichtweisen möglich, und öffnete Raum für Aushandlungsprozesse und die Reduktion potentieller Konflikte. Insofern entsteht eine Art "Kollateralnutzen" des Prozesses: Die beteiligten Stakeholder lernen die Perspektiven und Weltsichten der "anderen" in Bezug auf Bewertungen, Kausalitäten und Verhandlungsspielräume kennen. Für die Entwicklung inklusiver und ganzheitlicher Politiken wird insofern eine gute Grundlage gelegt. Im Mittelpunkt eines solchen Prozesses steht die Transparenz und Offenheit von Entscheidungsoptionen sowie das Abwägen und 40 „Durchspielen“ von unterschiedlichen Handlungsoptionen. Auf diese Weise haben politische Entscheidungsträger die Möglichkeit auf einer abstrakten Metaebene die Komplexität eines politischen Handlungsfeldes zu überblicken und häufig sehr tiefgehend und detailliert diskutierte Einzelaspekte in einem entsprechend komplexen Umfeld zu verorten und zu beurteilen. Letztendlich ist mit einem solchen szenariobasierten Strategieentwicklungsprozess der Versuch für eine methodische Herangehensweisen unternommen worden, Politikinnovationen über die Integration unterschiedlicher, in ihren Aus- bzw. Wechselwirkungen miteinander verbundener Politikbereiche in einen transparenten und multiperspektivischen, von einem Denken in Optionen gekennzeichneten Strategieprozess möglich zu machen. Das Potential eines solchen Prozesses liegt unseres Erachtens in drei Bereichen: Ermöglichen neuer Formen politischer Aushandlungsprozesse durch partizipatives Zusammenarbeiten und Neu-Erschaffen Erhöhen der Reaktionsfähigkeit von Politik durch systematisches Durchdenken möglicher Zukünfte Ermöglichen von innovativen politischen Lösungen durch systematisches Denken in konsistenten Optionsräumen 5 Quellenverzeichnis Böcher, M., & Töller, A. E. (2012). Umweltpolitik in Deutschland. Eine politikfeldanalytische Einführung. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) (2012): Deutsches Ressourceneffizienzporgramm (ProgRess). Programm zur nachhaltigen Nutzung und zum Schutz der natürlichen Ressourcen. Berlin. Dauke, D. (2011). 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