Umfeldszenarien für 2050

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Umfeldszenarien für 2050
Umfeldszenarien
für 2050
Vorstellungen über die Zukunft und ihre
Bedeutung für den Verbrauch und die
Nutzung natürlicher Ressourcen
szenariobasierte Strategieentwicklung
anhand Parmenides EIDOS
www.eusg.de
Impressum
Herausgeber:
European School of Governance (eusg) GmbH
Am Festungsgraben 1
10117 Berlin
Tel: +49 (0) 30 20 61 62 57
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Internet: www.eusg.de
Gefördert im Rahmen des Umweltforschungsplans:
FKZ: 3711 93 103 Laufzeit: 15.01.2012 - 31.05.2015
Autorinnen und Autoren:
Doris Bergmann und Dr. Thomas Lehr
(European
School of Governance)
Catriona McLaughlin
Graphik und Design:
Barbara Petkus (European School of Governance)
Mit wertvollen Ideen von:
Ullrich Lorenz (Umweltbundesamt)
Publikation als pdf:: https://www.parmenides-foundation.org/application/eusg/umfeldszenarien.pdf
Bildquellen:
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iStockphoto.com; S.32: © Financial Krise Schlagzeilen
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
5
1. Warum Umfeldszenarien? Ressourcenpolitik für und in einer
Welt von morgen
6
2. Fünf qualitative Umfeldszenarien für eine
vorausschauende Ressourcenpolitik
9
Szenario A
„Gestern – heute – morgen“ –
das Trendszenario „Fortschreitende Industrialisierung“
Story „Maximilian aus München – eine Autofahrt“
11
Szenario B
Effizienz, Innovation und Digitalisierung –
das Szenario „Starke Innovation“
Story „Anna aus Berlin – ein Hausbesuch“
16
Szenario C
Minimalistisch, ressourceneffizient und regionalisiert –
das Szenario „Postwachstum“
Story „Leon aus Schorfheide – ein Hofbesuch“
21
Szenario D
Turbulente Finanzmärkte zulasten der Staatskassen –
das Szenario „Fragmentierte Welt“
Story „Manuel K. und Manuel W. – ein Besuch in zwei Realitäten“
26
Szenario E
Es geht nicht weiter wie bisher –
das Krisenszenario „Zerrüttete Welt“
Story „Marlena aus Hamburg – Besuch bei der neuen deutschen Generation“
31
3. Methodik der szenariobasierten Strategieentwicklung
35
4. Fazit und Ausblick
40
5. Quellenverzeichnis
41
3
Vorwort
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Im Jahr 1972 veröffentlichte der Club of
Rome den Bericht „Die Grenzen des Wachstums“, eine Studie, die trotz vieler Kritik als
ein Meilenstein zum Aufzeigen der Wachstums- und Ressourcenproblematik gilt. Die
Studie zeigt nicht nur die Begrenztheit der
natürlichen Ressourcen, sondern erläutert
Dass es sich hierbei nicht um eine lineare
Entwicklung handelt, zeigen wirtschaftlich
herausfordernde Zeiten, wie Anfang der
neunziger Jahre oder verursacht durch die
Wirtschafts- und Finanzkrise 2008, wo wiederum eine nachrangige Betrachtung der
Umweltpolitik (und damit auch der Ressourcenpolitik) zu beobachten war.
auch in systemischer Weise die Verknüp-
Ressourcenpolitik findet also nicht nur im
fung von Ressourcennutzung, Wirtschaft,
abgegrenzten Feld der Umweltpolitik statt,
Umwelt und sozialem System. Die Umwelt-
wo bereits die verschiedenen Dimensionen
politik in Deutschland veränderte sich in die-
von Nachhaltigkeit in enger Wechselwir-
sen 40 Jahren: Die Umweltbelastungen der
kung zueinander stehen, sondern in einem
letzten Jahrzehnte, allseits sichtbare Wald-
dynamischen Spannungsfeld, welches auch
schäden, Unfälle mit spürbaren Auswir-
vermeintlich nicht im Zusammenhang mit
kungen, die Knappheit fossiler Energieres-
Ressourcen stehende Treiber inkludiert.
sourcen sowie der Klimawandel waren eine
stark treibende Kraft für die Umweltpolitik
sowie ihren Institutionalisierungsprozess in
Form konkreter Ziele und Maßnahmen.
Mit dieser Publikation soll ein Blick auf
genau diese Treiber geworfen werden. Denn
die Umsetzung und Wirkung von Politikprogrammen ist maßgeblich davon abhängig,
Diese Entwicklung ging aber auch einher mit
welche Faktoren den Erfolg oder die Bedeu-
einem sich stetig veränderten Blick auf die
tung dieses Politikfelds beeinflussen. Durch
Ressourcenpolitik: Während im Zuge der
unterschiedliche Annahmen über zukünftige
Industrialisierung der Zugang zu Ressour-
Entwicklungen, die als Treiber zu verstehen
cen eine rein strategische Bedeutung hatte,
sind, wird in dieser Publikation ein Blick in
haben sich über die Zeit auch die Bedin-
die Zukunft geworfen und Umfeldbedingun-
gungen und Möglichkeiten, unter denen
gen für die Ressourcenpolitik beschrieben
der Umgang mit natürlichen Ressourcen
und ihre potentiellen Wirkungen analysiert.
gestaltet werden kann und muss, verändert.
Viel Spaß beim Lesen!
Doris Bergmann
5
1
Warum Umfeldszenarien?
Ressourcenpolitik für und in einer Welt von morgen
Ressourcenpolitik heute
Herausforderungen
An einem Industrie- und Produktionsstandort wie Deutschland spielen natürliche Ressourcen unter dem Aspekt der
Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit eine bedeutende Rolle. Im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung geht
es aber auch darum, die Nutzung von Ressourcen umweltverträglich zu gestalten.1
So klar ressourcenpolitische Ziele auch formuliert sein
mögen, die große Herausforderung liegt vor allem in der
Komplexität der Erarbeitung einer Strategie und ihrer Vielfalt an zusammenwirkenden Aktivitäten, und der damit einhergehenden Identifikation und Auswahl von geeigneten
Maßnahmen, um diese Ziele zu erreichen.
Mit dem Ressourceneffizienzprogramm der Bundesregierung (ProgRess) soll ein wesentlicher Beitrag zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie geleistet werden. Dabei
verpflichtet sich Deutschland einer anspruchsvollen Ressourcenpolitik: die Rohstoffproduktivität bis 2020 gegenüber 1994 zu verdoppeln. Grundsätzlich geht es darum,
dass Ressourceneffizienz und die Inanspruchnahme von
Ressourcen in einem hochentwickelten Industrieland ohne
Wohlstandseinbußen gesteigert werden kann.2
Die vielfältigen Wechselwirkungen innerhalb dieses Politikbereichs führen letztendlich zur Notwendigkeit, die Maßnahmenpakete auf ihre Widerspruchsfreiheit und innere
Konsistenz zu sichern. Aber nicht nur widerspruchsfreie
Maßnahmenpakete und ressourcenpolitische Instrumente,
sondern auch die Entwicklung und Bewertung von denkbaren alternativen Handlungsoptionen, ermöglicht eine hohe
potentielle Erreichbarkeit der gesteckten ressourcenpolitischen Ziele.
Durch eine entsprechende Gewinnung und Nutzung von
Rohstoffen und Materialien sollen vor allem Auswirkungen
auf die Umwelt minimiert und Ökosystemdienstleistungen
erhalten werden. Es geht auch um eine Optimierung des
Verhältnisses von Wertschöpfung und Materialeinsatz,
um Abhängigkeiten zu verringern, neue Marktchancen zu
erschließen und Umweltwirkungen zu mindern. Globale
Gerechtigkeit im Sinne einer möglichst gleich großen zur
Verfügung stehenden Menge an Materialien und Rohstoffen sowie das Einhalten von Sozialstandards entlang der
Wertschöpfungskette sind Ziele globalen Maßstabs, zu
denen Deutschland beitragen möchte. Ziel ist es aber auch,
die Versorgung und Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen,
indem Rohstoffpreise stabil und bezahlbar bleiben.3
Definition von natürlichen Ressourcen:
„Natürliche Ressourcen umfassen im weiteren Sinne alle Funktionen des Ökosystems Erde sowie des Sonnensystems, die vom Menschen direkt oder indirekt genutzt werden oder genutzt werden können bzw. die
die Grundlage seines (Über-)Lebens und Wirtschaftens und der Co-Existenz mit der Natur darstellen. (...)
Im engeren Sinne versteht man unter natürlicher Ressourcen zum einen biotische und abiotische Rohstoffe
(Biomasse und Mineralien) und Wasser, die für die verschiedenen sozio- industriellen Zwecke (für Nahrungsmittel, Bau- und Werkstoffe, zur Energiegewinnung usw.) auf Grund ihrer stofflichen oder energetischen
Eigenschaften oder technologischer Gegebenheiten der natürlichen Umwelt entnommen werden, und zum
anderen das Land, das dafür und darüber hinaus für verschiedene Zwecke und in unterschiedlicher Weise
und Intensität genutzt wird." 4
1|
2|
3|
4|
6
Dauke, 2011.
ProgRess, S. 29.
ProgRess, S. 24ff.
Schütz & Bringezu, 2008.
Während in der Strategie Maßnahmen zu möglichen
Ansatzpunkten formuliert werden, finden in der Welt Veränderungsprozesse statt, die nicht durch die zentralen Akteure der Strategie beeinflussbar sind. Auch diese möglichen
Umfeldveränderungen sollten in adäquater Form im Prozess der Strategieentwicklung mit berücksichtigt werden.
Solche Veränderungen im Umfeld lassen sich beispielsweise beschreiben durch das Anwachsen der Weltbevölkerung, dem fortschreitenden Klimawandel, der zunehmenden Industrialisierung sowie der Herausbildung einer
Mittelschicht in den Schwellenländern und der damit verbundenen Verbreitung westlicher Konsumgewohnheiten.
Diese möglichen Umfeldveränderungen müssen in adäquater Form in einer Strategie mit berücksichtigt werden und
erfordert damit zum einen eine entsprechende Auseinandersetzung mit der Zukunftsentwicklung sowie eine verstärkte politikfeldübergreifende und integrierte Betrachtungsweise von Umwelt- und Ressourcenpolitik.
Zukunftsfähigkeit
Lässt sich denn die Zukunft tatsächlich erforschen? Vorstellungen über die Gegenwart, die vor einigen Jahrzehnten
verfasst wurden, zeigen deutliche prognostische Misserfolge und haben damit die Zukunftsforschung als fundierte
Wissenschaft in Frage gestellt.
Im Mittelpunkt der Zukunftsforschung steht daher nicht die
Prognostizierbarkeit zukünftiger Entwicklungen, sondern
die Generierung von Zukunftsbeschreibungen, die wissentlich mit einer hohen Unsicherheit behaftet sind und in Form
von offenen und adaptierbaren Szenarien eine Welt von
morgen beschreiben.5 Diese Szenarien erhalten ihre Relevanz durch eine Reihe von möglichen, sehr unterschiedlichen Zukunftsbeschreibungen, die den Szenarioraum
– den Raum möglicher Entwicklungen – breit auffächern.
Mit der Schaffung eines solchen Szenarioraums steigt die
Wahrscheinlichkeit, dass die tatsächliche Zukunft innerhalb
dieses „Raums“ liegt und dadurch möglicherweise zumindest in Teilen beschrieben wurde.
Bedeutend ist somit das Aufzeigen einer Vielfalt von denkbaren Entwicklungen, die schnell verworfen und verändert
werden können und müssen. Sie stellen den Raum möglicher Zukünfte dar, deren Auswirkungen auf den Schutz und
die nachhaltige Nutzung von Ressourcen in Politikprogrammen berücksichtigt werden sollten.
Auch wenn die Zukunft nicht vorhergesagt werden kann,
so erscheint es sinnvoll, sich mit möglichen Umfeldentwicklungen und den damit verbundenen Chancen und Einschränkungen für die Politikgestaltung auseinander zu setzen. Niemand kann vorhersehen, wie beispielsweise China
mit Rohstoffexporten umgehen wird; denkbar ist allerdings
durchaus, dass die Exporte eingeschränkt werden, andere
Wirtschaftsallianzen getroffen werden, Konflikte die Region
erschüttern oder aber auch die Grenzen geöffnet werden.
An dieser Stelle wird keine Vorfestlegung getroffen, aber
es lohnt sich zu durchdenken, welchen Einfluss die eine
oder andere Entwicklung auf eine nationale Rohstoffpolitik haben kann. Auf diese Weise kann die Zukunftsfähigkeit von Politikprogrammen durch eine flexible Anpassung
an veränderte Umfeldveränderungen erhöht und Politikinnovationen erleichtert werden: bei letzterem geht es – im
Sinne einer integrierten Sichtweise – um die Schaffung
von politikfeldübergreifenden Maßnahmenbündeln und die
Erörterung von politischen Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten. Nicht alle Trends und Entwicklungen
spielen für die Ressourcenpolitik eine Rolle. Wichtige
Schlüsselentwicklungen wie beispielsweise der globale
wirtschaftliche Wohlstand und Konsum der prognostizierten 9 Milliarden Menschen, müssen identifiziert werden.
Die beschriebenen Umfeldszenarien bringen eine grundsätzliche Herausforderung mit sich: Sie liegen mit dem Jahr
2050 - in Bezug zu Gestaltungsmöglichkeiten von Politik
- in ferner Zukunft. Die sehr vagen Zukunftsbeschreibungen stellen einen Kontrast zur Detailtiefe von Politikprogrammen dar, deren Zusammenspiel demnach nur eingeschränkt analysiert werden kann. Aus diesem Grund sind
Umfeldszenarien als richtungsweisende Entwicklungen
zu verstehen, die auch der Politik dementsprechend eine
„Richtung“ geben können.
5 | Grunwald, 2009.
7
Somit wird in den folgenden Kapiteln beschrieben, in welche denkbaren Zukünfte eine Ressourcenpolitik eingebettet werden könnte beziehungsweise müsste und welche
strategischen Optionen zur Verfügung stehen. Der Abgleich
der Strategien mit den ressourcenpolitischen Zielen einerseits und den möglichen Entwicklungen des Umfelds andererseits ermöglicht wesentliche Schlussfolgerungen für die
Formulierung von strategischen Handlungsoptionen.
Storytelling
In ihrer Beschreibung sind Szenarien im Wesentlichen ein
Zusammenfügen von unterschiedlichen Trends und Ereignissen. In ihrer Gesamtheit und Komplexität sind sie für den
Leser heute zwar verständlich und nachvollziehbar, bleiben
allerdings selten in Erinnerung und hinterlassen nur eingeschränkt einen bleibenden Eindruck, der weitervermittelt
wird.
Genau aus diesem Grund wurde für jedes der Szenarien
eine Story erzählt, die die unterschiedlichen Welten erlebbarer, greifbarer und erzählbar macht und damit vor allem
den Blick für die alltagsweltliche Relevanz der möglichen
Zukünfte schärft.
Ungeachtet dessen, ob sie vom Leser als erwünscht,
mustergültig, strittig, warnend oder abschreckend wahrgenommen werden, zielen sie darauf ab, subjektive Gedankenspiele und Diskussionen auszulösen. Im Vordergrund
steht damit die Auseinandersetzung mit der Zukunft, die zu
konstruktiven Diskussionen und der Möglichkeit der aktiven
Gestaltung unserer Zukunft anregen soll.
Umfeldszenarien...
ff beschreiben mögliche Umfelder in der Zukunft (hier: des Politikfelds der Ressourcenpolitik), dessen
Entwicklungen weitgehend außerhalb des Handlungsfeldes liegen.
ff schaffen eine Möglichkeit der Auseinandersetzung mit dem Umfeld eines bestimmten
Handlungsfelds.
ff sind alternative, in sich widerspruchsfreie und plausible
Beschreibungen eines Zustands in der Zukunft.
ff stellen die Zukunft als eine Vielzahl von möglichen, vagen und recht unpräzisen Entwicklungen dar.
ff sind keine Prognosen oder Vorhersagen, sondern Ansammlung von
gegenwärtigem Wissen über die Zukunft (qualitativ).
ff können als Kriterium zur Bewertung von Strategien herangezogen werden bzw. weitere
Handlungsnotwendigkeiten identifizieren, um Entwicklungen zu stärken bzw. zu schwächen.
8
2
Fünf qualitative Umfeldszenarien für eine
vorausschauende Ressourcenpolitik
Mögliche Zukünfte
Bei der Entwicklung von Umfeldszenarien für die Ressourcenpolitik handelt es sich weder um quantitative Prognosen, die auf Grundlage von Heuristik und Algorithmen in
unterschiedlichen Verfahren Hochrechnungen erstellen,
noch um Fiktionen und Utopien, die weitgehend losgelöst
vom tatsächlich Möglichen geschaffen werden. Umfeldszenarien beschreiben hypothetisch und skizzenhaft qualitative, plausible und in sich konsistente alternative Umfelder,
in die die Ressourcenpolitik Deutschlands im Jahr 2050
eingebettet sein könnte. Sie stellen eine Sammlung möglicher Ausprägungen der Zukunft dar, die den Schutz und
die nachhaltige Nutzung von Ressourcen in Deutschland
stark beeinflussen, erheben allerdings keinen Wahrheitsanspruch.
Durch die alternativen und damit sehr unterschiedlichen
Umfeldszenarien wird versucht, einen Zukunftsraum aufzuspannen, der die Bandbreite von Projektionen konsistent
bündelt und abbilden kann.6 Auf diese Art und Weise versuchen diese qualitativen Gesamtbilder die Zukunft mit ihrer
Mannigfaltigkeit erfassbarer zu machen.7 Mit diesen qualitativen Umfeldszenarien soll das Denken in alternativen,
möglichen Zukünften gefördert und damit Orientierungswissen für heutige Entscheidungen geschaffen werden.8
6|
7|
8|
9|
Umso mehr sich unterschiedliche Akteure mit der Zukunft
als einen Raum mit einer Vielzahl von – in qualitativer Hinsicht – recht vagen möglichen Entwicklungen und deren
Wechselwirkungen auseinandersetzen, desto leichter
können sich auch Möglichkeiten des Umgangs mit Ungewissheiten zukünftiger Entwicklungen eröffnen und desto
mehr kann das Reaktionsvermögen auf plötzliche Umfeldveränderungen beschleunigt werden.8 Peter Schwartz hat
die Zielsetzung für die Entwicklung von Szenarien auf eine
prägnante Formel gebracht: "The objective of good scenarios is not to make better predictions, but better decisions." 9
Damit stellen die Umfeldszenarien eine Möglichkeit des
Umgangs mit Ungewissheiten von zukünftigen Entwicklungen dar: wie gestaltet sich der politische Handlungsraum
und welche ressourcenpolitischen Ansätze wären in den
Szenarien überhaupt denkbar bzw. notwendig? Welche
Möglichkeiten für die Ressourcenpolitik bieten sich, die aufgezeigten Entwicklungen zu stärken bzw. zu schwächen?
Welche Möglichkeiten der Ressourcenschonung liegen in
der Wirtschaftsstrukturplanung, der Außenpolitik und der
Finanzierung also auch in Produktionsprozessen, -produkten und in der Infrastrukturplanung und welche Handlungsmöglichkeiten gibt es auf gesellschaftlicher Ebene sowie in
der Aus- und Weiterbildung?
Kosow & Gaßner, 2008, S. 14.
Kerber, Schramm, Winker, 2014, S.9.
Kosow & Gaßner, 2008, S. 12
Schwartz, 1996.
9
Die Zukunft im (Über)blick
Jedes dieser denkbaren ressourcenpolitischen Umfelder,
die in Abbildung 1 dargestellt sind, ist ein Zusammenspiel
von unterschiedlichen nationalen und globalen Entwicklungen, von denen ausgegangen wird, dass sie weitgehend
außerhalb des Handlungsbereiches der deutschen Ressourcenpolitik liegen.
Dabei werden im Szenario „Fortschreitende Industrialisierung“ gewisse Entwicklungen und Trends der jüngsten
Vergangenheit aufgezeigt; denkbare Krisen, Strukturumbrüche oder Diskontinuitäten treffen nicht ein.
Ein weiteres und letztes Szenario „Postwachstum“
beschreibt eine stark veränderte Wirtschafts- und Lebensweise hervorgerufen durch bewusste Lebensstil- und
Werteveränderung: friedlich, minimalistisch, schlicht und
naturverbunden. Dieses Szenario wurde als sehr unwahrscheinlich, doch – ebenso wie Fortschreitende Industrialisierung und Starke Innovation – als wünschenswert eingeschätzt.
Innovationen spielen im Szenario „Starke Innovation“ die
treibende Rolle jeglicher Entwicklungen: eine global und
lokal stark vernetzte Welt geprägt von Trends der Digitalisierung, hoch flexiblen Arbeitswelten, effizienten Strukturen
und einem veränderten Werteverständnis. Beide Szenarien
wurden als die wahrscheinlichsten und wünschenswertesten eingeschätzt.
Im Gegensatz dazu steht das Szenario „Fragmentierte
Welt“, in dem die wirtschaftliche Situation Deutschlands
zwar noch verhältnismäßig gut abschneidet, die gesellschaftliche Schere allerdings immens zugenommen hat.
Die Welt ist hier in jeglicher Hinsicht geprägt von tiefen ökonomischen, sozialen und politischen Gegensätzen – die
Beschreibung einer fragmentierten Welt. Zusammen mit
dem Krisenszenario „Zerrüttete Welt,“ das von Finanzund Wirtschaftskrisen sowie immensen ökologischen Herausforderungen gezeichnet ist, wurden diese beiden Szenarien als die unwahrscheinlichsten und dazu auch als die
unerwünschtesten eingestuft.
Abbildung 1: Umfelder als Zukunftsräume
Storytelling: Erzählungen der Zukunft
ff Die Realität jedes Umfeldszenarios wird in eine Erzählung gebracht, die sich im Jahr 2050 ereignet.
Dabei begleitet die Autorin jeweils ein oder zwei Personen im Alltag dieses Jahres 2050.
ff Diese lebensnahen Erzählungen dienen zur Unterstützung der konkreten
Vorstellbarkeit des jeweiligen Umfeldszenarios, indem sie vor allem den Blick
für die alltagsweltliche Relevanz der möglichen Zukünfte schärfen.
ff Die Erzählungen sollen eine Welt nahebringen ohne sie zu erklären.
ff Egal ob erwünscht, mustergültig, strittig, warnend oder abschreckend, sie
zielen darauf ab Gedankenspiele und Diskussionen auszulösen.
ff Die Stories können unterhalten, inspirieren oder berühren; sie können den Leser zum
Schmunzeln und Nachdenken bringen und damit zum Weitererzählen animieren.
ff Gute Geschichten haben eine bedeutende Stärke: sie können
einen bleibenden Eindruck hinterlassen.
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Szenario A
„Gestern – heute – morgen“ – das Trendszenario
Fortschreitende Industrialisierung
„Die Staaten, einschließlich Deutschland, haben
viele Kompetenzen auf die europäische Ebene
abgegeben. Das globale Wirtschafts- und Handelssystem wird nach wie vor stark von einigen wenigen
Industriestaaten geprägt, wobei einige Schwellenländer mit in die Liga der Industriestaaten aufgestiegen sind. Trotz der intensiven Warenströme ist
der Finanzmarkt hingegen weitgehend reguliert.
Durch den mehr oder weniger uneingeschränkten
Welthandel, bietet der gute Zugang zu den Rohstoffen beste Rahmenbedingungen für die deutsche
Industrie. Maßnahmen zur Gestaltung einer nachhaltigen, ökologisch und sozial geprägten Finanzwelt
fehlen, vorrangiges Ziel internationaler Standards ist
die Stabilisierung des Bankensystems. Hierzulande
existiert ein gut ausgebautes Sozialsystem, das zu
relativ geringen materiellen Ungleichheiten sowie
hohem Lebensstandard für eine breite Mittelschicht
führt. Die Gesellschaft ist stark statusgetrieben und
schnelllebig; das Umweltbewusstsein spielt dabei
eine eher untergeordnete Rolle.“
Globale politische und wirtschaftliche
Entwicklung
Die Europäische Union, der ehemalige Staatenbund hat
sich im Jahr 2050 weiter zu einer Art europäischen Republik mit eigener Verfassung entwickelt. Kennzeichnend dafür
sind weitreichende Kompetenzabgaben an die europäische
Ebene, die in Form einer repräsentativen Demokratie die
Interessenspluralität einer breiten und heterogenen europäischen Öffentlichkeit vertritt. Deutschland ist ein starkes
Industrieland; doch nicht nur dort, sondern auch weltweit
hat die Industrialisierung zugenommen. Einige ehemals
sogenannte Schwellenländer wie die BRICS-Staaten
haben sich zu starken, international agierenden Industriestaaten entwickelt. Die Mittelschicht dieser Länder ist stark
gewachsen und dominiert durch ihren hohen Anteil an der
Weltbevölkerung die globalen Konsumgewohnheiten und
zusammen mit anderen Industriestaaten das weltweite
Handels- und Wirtschaftsgeschehen. Andere Regionen,
wie z.B. Teile des afrikanischen Kontinents, wurden wirtschaftlich stark vom Rest der industrialisierten Welt abgehängt. Die Dominanz der Industrieländer und das damit
verbundene wirtschaftliche und soziale Gefälle zwischen
einzelnen Ländern haben sich verstärkt.
11
hohen Ressourcenverbrauch ausgegeben. Eine globale,
schnelllebige Eventkultur ist verbreitet; soziale Beziehungen hingegen sind zunehmend flüchtig und unverbindlich.
Das Bewusstsein für eine Notwendigkeit eines nachhaltigen und ressourcenarmen Lebensstils ist vorhanden und
teils auch erwünscht, doch die Lebensgewohnheiten sind
durch materialistische Statussymbole dominiert. Technologische Entwicklungen haben zu gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Veränderungen geführt, dabei kommt der
effizienzgetriebenen Innovation eine besondere Aufmerksamkeit zu. Im Mittelpunkt steht demnach, mit einer vorhandenen Menge an Ressourcen einen maximalen Output
zu generieren. Ob in Wirtschaft, Politik oder Gesellschaft,
im Mittelpunkt vieler Aktivitäten steht das Maß der Wirtschaftlichkeit und Effizienz.
Industrie und Finanzen
Deutschland ist nach wie vor ein bedeutender Industrieund Produktionsstandort für eine Reihe von importabhängigen, internationalen Konzernen sowie für nischenorientierte, weltweit vernetzte kleinere und mittlere Unternehmen.
Die Spezialisierung – vor allem der industrienahen Dienstleistungen – hat stark zugenommen. Wertschöpfungsketten sowie Märkte sind weitgehend global strukturiert, was
zu nicht unerheblichen Abhängigkeiten und Vulnerabilitäten
der deutschen Wirtschaft führt. Eingebettet ist die deutsche
Wirtschaft in ein offenes Welthandelssystem, das durch
eine hohe Verfügbarkeit und Exploration von Rohstoffen
gekennzeichnet ist. Die Finanzmärkte sind durch internationale Standards global reguliert, bieten mehr Transparenz
und sind schärferen Vorschriften für Kapitalmarktinstrumente unterworfen. Zusätzlich existieren globale Steuerungsmechanismen, um die Volatilität auf den Finanzmärkten gering zu halten.
Gesellschaft
Die starke Wirtschaftsleistung in Deutschland bildet die
Grundlage für ein hohes Wohlstandsniveau. Eine staatliche
Grundsicherung existiert und eine Einkommensumverteilung hin zu größerer Gleichverteilung führt offensichtlich zu
geringen Ungleichheiten sowie einer breiten Mittelschicht,
welche durch den starken Konsum eine stabilisierende konjunkturelle Wirkung entfaltet. Das verfügbare Einkommen
wird weiterhin für Produkte und Dienstleistungen mit einem
12
Technologie
Technikinnovationen und die Weiterentwicklung in der Systemintegration von Energiesystemen sowie die Anwendung
von Konzepten, wie dem Smart Metering als auch moderate Energiepreissteigerungen leisten ihren Beitrag dazu,
dass der hohe Energiebedarf Deutschlands durch unterschiedliche Energiequellen abgedeckt werden kann und
muss. Ein Teil des Bedarfs wird von erneuerbaren Energien gedeckt, auch fossile Energieträger wie Kohle und
Gas kommen weiterhin zum Einsatz. Auch wegen des Ausstiegs Deutschlands aus der Atomenergie muss die hohe
Energienachfrage zusätzlich durch Importe sichergestellt
werden.
Ansatzpunkte und Herausforderungen im Szenario
Fortschreitende Industrialisierung
Die Herausforderungen für die deutsche Ressourcenpolitik
bei der Ausprägung eines solchen Trendszenarios finden
sich durch die zunehmende Nachfrage aus „ehemaligen“
Schwellenländern hinsichtlich des Ziels der Sicherung von
Versorgungssicherheit und Wettbewerbsfähigkeit, aber
auch im Bereich der Minimierung von Umweltwirkungen
und dem Erhalt von Ökosystemdienstleistungen. Die hohe
Exploration von Rohstoffen, das Vorhandensein von globalen Wertschöpfungsgemeinschaften verbunden mit der
Abhängigkeit und Vulnerabilität der deutschen Wirtschaft
und dem daraus resultierenden Konkurrenzdruck favorisieren den politischen Kurs einer regional ausgleichenden
Industriepolitik zugunsten mittelständischer Unternehmen
und einer sektoralen Förderung dominanter Industriezweige sowie deren Export.
Das Thema der Ressourceneffizienz und -schonung sollte
vertieft in (Aus)bildungsprogramme mit aufgenommen werden, um nicht nur das gesellschaftliche Verantwortungsbewusstsein gegenüber Nachhaltigkeit und Ressourcenschutz
zu stärken, sondern langfristig vor allem die Umsetzung
von freiwilligen Standards zu stärken. Grundsätzlich wäre
in einem solchen Szenario auch eine Politik der ökologischen Modernisierung, die Ressourcenschutz als ökonomischen Treiber in den Vordergrund stellt, denkbar. Dabei
würde staatliches Handeln auf die Setzung marktkonformer
Anreize durch z.B. Steuern und Förderungen (Ressourcensteuern, Abschreibungsregeln) beschränkt werden. Tendenziell wäre der Staat ein „moderater Treiber“, etwa durch
Forschungsförderung, Vernetzung von Akteuren oder die
Bereitstellung von Strukturen.
Der Hebel zur Umsetzung von ressourcenpolitischen Programmen in diesem Szenario liegt generell auf der politischen Ebene der EU. Über eine erfolgreiche Ressourcenpolitik oder gar „ökologische Außenpolitik“ heute, können
auch auf europäischer und internationaler Ebene jene
Politikprogramme, die Deutschland eine Vorbildfunktion
verschafft haben, für übergeordnete Programme oder Programme der Entwicklungszusammenarbeit diskutiert und
zur Machbarkeit anderorts geprüft werden. Dabei können
vor allem internationale Rohstoffpartnerschaften, Public
Private Partnerships und Recyclingpartnerschaften, eine
Standardsetzung z.B. für Importe, ein Mainstreaming von
Ressourceneffizienz in internationalen Abkommen eine
entscheidende Rolle spielen.
Ressourcenpolitische Programme sind in erster Linie
dann akzeptiert und umsetzungsfähig, wenn die Kriterien der Effizienz und Wirtschaftlichkeit eingehalten sowie
Abhängigkeiten vermieden werden. Anzudenken wäre die
Umsetzung von moderaten Regulierungen hinsichtlich der
Ressourceneffizienz von Produkten und Prozessen. Durch
den hohen Verbrauch von Erzen, Baumaterialien sowie
Industriematerialen in diesem Szenario wäre es möglich, in
der Infrastrukturplanung Ressourceneffizienz gesetzlich zu
verankern und vor allem Ausgaben für die Forschung und
Entwicklung von ressourceneffizienten Infrastrukturen zu
steigern. Die globale Struktur von Wertschöpfungsketten in
diesem Szenario bietet auch Potential für die Umsetzung
der Einhaltung von Sozialstandards über die indirekte Einflussnahme im Ausland (Politikexport).
13
Story zum Szenario Fortschreitende Industrialisierung
Maximilian aus München –
eine Autofahrt
Max Wagner, geb. 2010, ist Ingenieur und leitender
Angestellter in einem Unternehmen, welches Rohstoffe importiert. Er ist Vorsitzender eines Rennauto-Clubs.
Eine Autofahrt.
Max begrüßt mich. Er ist Leiter des Rohstoffimports bei
dem deutschen Unternehmen CarbonCon, welches seit 10
Jahren Materialien für den Fahrzeugbau nach Deutschland
importiert. Es ist später Nachmittag, und wir stehen vor
dem Firmensitz im Stadtteil Unterhaching der 2,5-Millionen-Region München.
Viele kleine und mittelgroße Unternehmen sind hier angesiedelt, gleich neben einem alten Geothermie-Kraftwerk.
„Wenn Sie wollen, können Sie mal einfach für’s Thermalbad
vorbeikommen. Wir haben eins im Haus,“ sagt er. CarbonCon geht es gut. Das mittelständische Unternehmen ist einer der wichtigsten Zulieferer für Rohstoffe für eine neue
Art Karbonoberfläche, mit denen Autos nicht nur leichter
werden, sondern auch weniger anfällig sind. Inzwischen
werden sogar Gebäude und Verkehrswege damit überdacht, um vor den heftigen Stürmen zu schützen. CarbonCons Tochterfirma CarbonCon Tech lizensiert die Formeln
für die entsprechenden Stoffe.
„Wo bleibt denn unser Car?“ sagt Max und blickt ungeduldig auf seine Smartwatch. „Wagen M205-3 wird in einer Minute bei ihnen sein“ antwortet seine Uhr. Ich begleite Max
Wagner heute um einen neuen Wagen eines großen deutschen Autoherstellers, den DMF-M205, auszuprobieren, an
dessen Bau CarbonCon beteiligt war.
Wir hören eine Art langgezogenen Klavierton aus Richtung
der Einfahrt. Offenbar ein neues Sounddesign, denn seit
Abschaffung von Brennstoffmotoren sind die primär elektrischen Cars so gut wie lautlos. Dann biegt ein schwarzgrau
schillerndes Gefährt um die Ecke. Die neue Rennmaschine
sieht aus, als wäre glänzendes Metall in eine aerodynamische Form gegossen worden. Die multi-direktionalen Reifen sind wie bei allen neuen Autos kaum noch erkennbar
unter der flexiblen Schutzverkleidung. ‚Hi Max’ blinkt eine
große, grüne Leuchtschrift auf der Seite des Fahrzeugs.
Dann zieht er ein Taschenmesser aus der Tasche. „Schauen wir doch mal, ob es echt CarbonCon ist“. Er freut sich
sichtlich über mein erschrockenes Gesicht, als er mit dem
Messer auf der Karosserie des Wagens herumkratzt. Nichts
passiert. „CarbonCon Tech“ sagt Max, nickt zufrieden und
streicht mit der Hand sanft über die glänzende Fahrzeugoberfläche. „In der richtigen Mischung wird das Material so
widerstandsfähig, dass es selbst MHS aushält“. Die MHS,
die Mega-Hagel-Stürme beschädigen schon seit den 30er
Jahren Autos und Gebäude. Dank der schnell eingeführten
Frühwarnsysteme werden Menschen nur selten verletzt. Allerdings sollte man mit alten Metall-Autos in ihnen nicht
unterwegs sein.
14
„Eine starke Industrie bedeutet ein starkes Deutschland“
Wir steigen ein. Zwar können Autos längst allein navigieren
und fahren, aber die Autos ohne Lenkräder bzw. Cockpits
waren ein Flop- keiner wollte die Kontrolle aufgeben. „Wer
verliert denn schon gern die Kontrolle?“ sagt Max. „Schon
schwer genug, wie viele unserer Entscheidungskompetenz
wir in Deutschland an die EU abgegeben haben.“ Er umfasst das JoyPad etwas fester. „Früher waren wir als Staat die
stärksten in Europa. Uns geht es gut und jetzt bekommen
sie das mit dem EU-Parlament zwar besser auf die Reihe,
und einfacher für die Rohstofflieferungen aus der Türkei
und Rumänien ist es auch. Aber irgendwie hatte man damals mehr das Gefühl, dass die Gesetze auch zu Deutschland passen. Aber es geht ja jetzt mehr darum, dass sie zu
Europa passen, was grundsätzlich schon richtig ist. Nur halt
leider nicht immer so, wie es unsere Industrie will. Aber nur
eine starke Industrie bedeutet auch ein starkes Deutschland.“
Auf der Scheibe rund um das Sichtfeld sind Geschwindigkeit und verbleibende Elektrizität eingeblendet. „Gute Version. Brauche ich auch für meinen DMF“, sagt Max, als wäre
es völlig normal, ein eigenes Car zu haben. Eigene Cars sind
teuer, besonders seit Car-Sharing-Systeme einen fast überall einfach dort hinbringen, wo es mal keinen Nahverkehr
gibt. Dann grinst Max wie ein kleiner Junge „Ich habe sogar
noch einen alten 3L-Benziner in der Garage“ sagt er geheimnisvoll. „Baujahr 2019! Gehört ins Museum, aber ich
behalte ihn noch etwas.“
Max sieht sich nach einer THINK-Kappe in der Kabine um,
welche für die Wunschstrecke das Hirn mit dem Navigationssystem verbindet und so Sprachbefehle überflüssig
macht. „Hm, ist wohl nicht serienmäßig dabei – und hatte
ich nicht extra bestellt. Egal, wir kommen schon so hin.“ Eine
sanfte weibliche Stimme fragt in einem Ton, der an der Türschwelle zum Schlafzimmer steht: „Wo soll’s denn hingehen
Max?“ „Mein übliches Ziel in Freimau“ sagt Max und wir setzen uns in Bewegung – Das System hat seine Bewegungsmuster über seine Smartwatch abgelesen und den besten
Weg herausgesucht.
„Andererseits“ sagt Max, offenbar in Gedanken noch bei der
EU, „hilft uns die Verhandlungsmacht der EU bei den Rohstoffverhandlungen mit den BRICS. Meine Eltern wundern
sich immer wie stark diese Länder heute sind. Die hießen
früher Schwellenländer! Das muss man sich mal vorstellen,
eine Industriemacht wie Brasilien als Schwellenland!“ Max’
Frau Anna Maria ist Brasilianerin, sie haben sich bei Max
früherer Arbeitsstelle, dem internationalen Großkonzern
FASN kennengelernt. „Nicht einfach die Brasilianerinnen,
aber großartige Frauen. Kaum vorstellbar, dass meine Eltern
noch in fast rein nationalen Umfeldern gearbeitet haben.
Heute muss man im globalen Großkonzern ein kleines Rädchen sein oder man bedient eben eine Nische.“
Wir bewegen uns lautlos über die Straßen von Unterhaching. Die Hauptstraßen laden das Car automatisch wieder
auf. „Nicht schlecht, das Fahrgefühl“ sagt Max und nickt
anerkennend. Das Fahrzeug passt seine Geschwindigkeit
so an, dass wir immer im Fluss bleiben. „Neulich habe ich
in der Nähe von Nürnberg eine echte alte Ampelkreuzung
gesehen – hab ich sofort gepostet“ sagt Max und blickt auf
die Transmitterstationen, die an den Straßenecken mit den
Autos kommunizieren und den Verkehr regeln.
Als wir die Auffahrt der Super-Autobahn 8 erreichen, reihen
wir uns in die Auffahrt zum Click-System ein. Wir fahren in
eine Art Wagon-Kapsel, die kurz darauf auf die Magnetschienen gleitet und sich zusammen mit den anderen Kapseln in einer Art transparentem Schlauch bei 230 km/h in
Richtung Norden bewegt. Wir schweben etwa einen Meter
über dem Boden. So kann man zwar im Notfall aussteigen,
aber starke Regen- und Schneefälle stören den Verkehr
nicht. „Die neuen Click-Systeme erinnern mich immer eine
bisschen an die Skilifte aus meiner Kindheit, als man in den
Alpen noch Skifahren konnte.“
„Max, gleich geht’s auf die S2“ sagt das Navigationssystem fröhlich. In der Ferne erheben sich die Solartower und
Sturmschutz-Konstruktionen von Münchens Zentrum. Die
Stadt hat als Vorreiter ihren Energieverbrauch in den letzten
drei Jahrzehnten trotz verstärkter Industrie um 60 Prozent
gedrosselt, die restlichen 40 Prozent deckt sie, anders als
die meisten deutschen Städte, ganz mit erneuerbaren Energien ab.
In Freimau verlassen wir das Click-System, um im Straßenmodus zu unserem Endziel zu gelangen. Bald sind die wichtigen Europawahlen, überall werben Großbildschirme für
die verschiedenen Kandidaten. „Für eine gerechte Flüchtlingspolitik“ steht da und „Deutschland stärken – Europäische Grenzen sichern“. Max’ Blick streift die Wahlplakate.
„Dieses ganze Flüchtlingsproblem geht mir ganz schön auf
die Nerven“ sagt er. „Und was da für Geld reingeht – total
ineffizient. Statt Flüchtlingsherbergen und neuen Grenzsicherungssystemen sollten sie lieber vor Ort unterstützen.
Die Kraft hätten die starken Industrieländer doch. Dann
kommen diese armen Gestalten nämlich gar nicht erst her.
Wir haben zum Beispiel ein Programm in Ouagadougou,
um Fachkräfte auszubilden und vor Ort zu produzieren. Es
ist ja eh inzwischen alles so verflochten, dass es eben wich-
tig ist, ob ein Sack Reis in China umfällt oder nicht.“
Plötzlich gibt es einen starken Ruck, das Auto macht eine
Vollbremsung. Weder Max noch ich haben den grauhaarigen Mann gesehen, der scheinbar in einem Videogespräch vertieft leicht gebückt die Straße überquert. „So ein
Idiot“. Max wird rot im Gesicht. „Immer dasselbe. Ist doch
Quatsch, wenn sich die Leute immer so auf die automatischen Bremssysteme verlassen. Da bringen auch die schärferen Vorschriften für Fußgänger nur wenig. Das ist wie
mit den Kapitalmärkten. Sie sind zwar global reguliert und
transparenter als noch vor 30 Jahren, aber manchmal denke
ich, die schärferen Vorschriften für Kapitalmarkinstrumente
bringen nichts, wenn es den Akteuren egal ist. Jetzt ist unser Bankensystem zwar viel stabiler, aber ein paar Idioten,
welche die Sicherheit anderer gern riskieren, finden sich
immer.“
Wir biegen in eine Nebenstraße ein – gleich hinter der FreiMall, ein riesiges überdachtes und MHS-sicheres Einkaufszentrum welches oft für Mega-Events genutzt wird. Max
seufzt. „Manchmal habe ich das Gefühl, das Leben ist nur
noch ein Event nach dem nächsten mit lauter Leuten, die
man gerade mal per Bussi kennt. Macht mir gar nicht so
viel Spaß – meine Frau steht aber drauf. Wenn sie zur FreiMall will, fahre ich sie gern und gehe dann an meinen Lieblingsort – wo wir jetzt mal ganz effizient hingefahren sind“.
Wir halten vor einem weißen Gebäude, welches mit seinem
Ziegeldach noch aus der Jahrtausendwende zu stammen
scheint und keine Carbonverkleidung hat.
„Wir wollen raus“ sagt Max, die Oberfläche surrt und die
Fahrkabine wird wieder freigelegt. NITERIDER Club e.V.
steht an der Tür, auf die Max jetzt zusteuert. In dem wenig
erleuchteten Raum sitzen ein paar Männer an einem alten
Holztresen, an den Wänden hängen Bilder von Autorennen.
Eine Wand wird von einem Bildschirm bedeckt, davor steht
eine große Couch, ein paar etwas staubige Pokale stehen
in einem Regal, es riecht nach Bier. „Tach“ Max begrüßt alle,
einige mit Handschlag, andere mit einem kurzen Nicken.
„Kein Dachterassenblick“ sagt er und nickt in Richtung der
anderen „aber lauter gute Freunde. Wo findet man das
heute schon noch?“ Er nimmt einen Schluck von seinem
frischgezapften Bier und sagt: „Bei manchen Sachen ist es
einfach schön, wenn sie sich nicht ständig ändern.“ Er gibt
einen leichten Zufriedenheitsseufzer von sich.
15
Szenario B
Effizienz, Innovation und Digitalisierung – das Szenario
Starke Innovation
„Das weltweite politische Geschehen ist stark global und auch regional strukturiert; auch in Deutschland hat dadurch die nationale Ebene an Bedeutung verloren. Neben vorhandenen internationalen
Konzernen hat sich die Wirtschaft in Deutschland
stark dezentralisiert und lokalisiert, Rohstoffe sind
knapp und teuer geworden. Technologische Innovationen, neue Arbeitsteilung sowie flexible, regionale
Finanzmärkte prägen das Wirtschaftssystem, dessen Energiebedarf ausschließlich durch erneuerbare Energien dezentral abgedeckt wird. Technologische Revolutionen führen zu einer Vielfalt an stark
nachgefragten Produkten. Die Auswirkungen des
Klimawandels haben zu einem veränderten Werteverständnis geführt, der Lebensstil ist dadurch
nachhaltiger und sozialverträglicher geworden.“
und die Nutzung nachwachsender Rohstoffe in wichtigen
Industriezweigen stark ausgeweitet. Automobile, Häuser,
Chemikalien, Elektronik, Bekleidung werden zunehmend
aus Sekundärrohstoffen oder aus nachwachsenden Rohstoffen gefertigt.
Technologie
Treibende Kraft für fast alle gesellschaftlichen, politischen
und wirtschaftlichen Entwicklungen ist der technologische
Wandel, der sich mit hoher Geschwindigkeit weiter vollzogen hat: In der Forschung wurden „Quantensprünge“
möglich, die zu einer Vielzahl an technologischen Anwendungen für Unternehmen und Endverbraucher in den unterschiedlichsten Lebens- und Wirtschaftsbereichen geführt
haben. Die Fokussierung auf technologische Entwicklungen hat eine Vielzahl von Möglichkeiten eröffnet, innovative
Fortschritte – auch in Bezug auf Ressourceneffizienz – zu
erzielen und resultiert unter anderem aus der entstandenen
Ressourcenknappheit, die zu hohen Preisen, starken Volatilitäten und großen Abhängigkeit Deutschlands vom Import
führt. Dementsprechend hat sich auch stoffliches Recycling
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Klima und Gesellschaft
Die Auswirkungen des Klimawandels haben sich spürbar
verstärkt: Dürren, Überschwemmungen, extreme Temperaturschwankungen, Meeresspiegelanstieg, etc. sind allgegenwärtig. Diese ökologischen Veränderungen haben nicht
zuletzt in Teilen der Bevölkerung zu einem veränderten
Werteverständnis und einer entsprechenden Lebensstilveränderung geführt. Trotz der Bedeutung des Konsums
orientiert sich ein nicht unerheblicher Teil der Gesellschaft
an Werten wie Umwelt- und Gesundheitsbewusstsein und
strebt einen nachhaltigeren und verantwortungsbewussteren Lebensstil an. Diese Aspekte entwickeln sich zu einem
zentralen Markenbestandteil in allen wichtigen Konsumfeldern und werden damit zentrales Kriterium für Kaufentscheidungen.
teilung führt offensichtlich zu geringen Ungleichheiten und
einer breiten Mittelschicht. Die Wirtschaftsstruktur ist von
zwei konträren Entwicklungen geprägt: Neben vorhandenen internationalen Konzernen gibt es außerdem eine Vielzahl an Klein- und Kleinstunternehmen. Diese agieren in
einer teils neu entstandenen, dezentralen und lokalen Wirtschaftsstruktur, die nicht nur von einer radikalen Dezentralisierung der Produktion gekennzeichnet ist, sondern auch
von einer Vielzahl von Produzenten – weitgehend auch
ohne Mitarbeiter – sowie einer stark IT dominierten Industrie.
Politik
Weltweit ist das politische Geschehen stark global als auch
lokal strukturiert. Die globale Ebene hat erheblich an Bedeutung gewonnen und bildet die Rahmenbedingungen für die
lokale Ebene. Das Konzept des Rule of Law westlicher,
demokratischer Länder sowie das Mehrheitsprinzip in der
Entscheidungsfindung wird auch international angewendet.
Politische Aktivitäten auf lokaler und regionaler Ebene werden in Deutschland von zivilgesellschaftlicher Beteiligung
in partizipativer Form getragen. Mit gezielten Förderungen
wurde bewusst die Infrastruktur für partizipative Prozesse
auf lokaler Ebene ausgebaut; die nationalstaatliche Ebene
hat an Bedeutung und Einfluss verloren.
Finanzen
Dementsprechend sind unterschiedliche dezentrale,
web-basierte, pragmatische und flexible Finanzierungformen zu finden. Neben Banken gibt es zahlreiche Crowdfundingaktivitäten für vor allem lokale Akteure; folglich
spiegeln die Neugründungen und Investitionen in hohem
Ausmaß die Priorisierung und die Bewertungskriterien der
Bevölkerung wider. Es kommen ausschließlich erneuerbare Energien zum Einsatz, die durch die Weiterentwicklung
von Speichertechnologien nicht nur günstiger sind, sondern
das dezentrale Wirtschaftssystem ausreichend und logistisch besser versorgen können.
Wirtschaft
Die USA und Europa dominieren die wirtschaftlichen Aktivitäten weltweit. Die wirtschaftliche Situation der meisten
Schwellenländer ist angesichts der gravierenden Auswirkungen des Klimawandels und der Rohstoffknappheiten
schwierig. Die starke Wirtschaftsleistung Deutschlands
erlaubt das Halten des Wohlstandsniveaus. Die Verteilung des Wohlstands wird vom Staat in Form eines Mindesteinkommens bzw. Grundauskommens sichergestellt.
Die Einkommensumverteilung hin zu größerer Gleichver-
17
Ansatzpunkte und Herausforderungen im Szenario Starke
Innovation
Dieses Szenario könnte durchaus an ein Ziel der absoluten
Minimierung des Ressourcenverbrauchs gekoppelt sein.
Das Verhältnis von Wertschöpfung und Materialeinsatz
würde stark optimiert werden, um Abhängigkeiten zu verringern, neue Marktchancen zu erschließen und Umweltwirkungen zu mindern.
öffentlicher Förderungen stünde. Dies könnte durch Anreizsysteme zur Bildung von Genossenschaften, zur Verringerung der Transportwege und zur Stärkung der Kreislaufwirtschaft führen. Die Kombination von teuren Rohstoffen
und technologischen Entwicklungen begünstigt in diesem
Szenario das stoffliche Recycling und die Nutzung nachwachsender Rohstoffe.
Alternative Wohlstandmessungen wie z.B. ein global
etablierter Sustainability Index würden Wirtschaft und
Gesellschaft auffordern, eine aktive Rolle in Veränderungsprozessen hin zu bewussten, regionalen und ressourcenschonenden Lebensstilen einzunehmen. Die Politik
könnte aktiv Rahmenbedingungen schaffen, um öffentliche
Debatten und Aktivitäten in der Bevölkerung zu fördern und
die Bürger dadurch zunehmend in dezentrale Planungsund Entscheidungsprozesse vor allem von Infrastrukturvorhaben, die an Kriterien der Ressourceneffizienz und -schonung gebunden sind, einzubinden.
Auch wenn in Deutschland und Europa Sozialstandards
entlang der Wertschöpfungskette eingehalten werden, so
trifft dies wohl nicht auf Schwellen- und Entwicklungsländer
zu, da sie mit massiven Auswirkungen des Klimawandels
und dessen ökonomischen und sozialen Folgen konfrontiert sind. Treibende Kraft für eine absolute Reduktion des
Ressourcenverbrauchs ist – neben einem allgemeinen
verantwortungsbewussten Lebensstil – vor allem die Rohstoffknappheit, die den rasanten technologischen Wandel
zusätzlich vorantreibt.
Abgesehen von vielen Umständen in diesem Szenario, die
schwer beeinflussbar bzw. – wie z.B. die verheerenden
Auswirkungen des Klimawandels – auch nicht wünschenswert sind, stellt sich die Frage, welche Entwicklungen ressourcenpolitisch steuerbar sind und welche Handlungsbereiche hier angesprochen wären. Grundsätzlich würden
Instrumente und Maßnahmen, die Tendenzen der Regionalisierung unterstützen, für und in einem solchen Szenario
denkbar: So könnte die Wirtschaftsstrukturplanung einen
Finanzausgleich zwischen den Regionen anstreben, der
nicht nur die Einkommensstärke sondern auch Indikatoren
der Ressourceneffizienz und -schonung in Betracht zieht.
Innerhalb der Regionen wären vor allem Klein- und Kleinstunternehmen sowie regionale Kreisläufe zu unterstützen,
deren gebündeltes Innovationspotential im Vordergrund
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Im Vordergrund könnten beispielsweise auch eine zunehmende Anpassung der fiskalischen Anreizstruktur an Ressourceneffizienzkriterien sowie der produkt- und prozessbezogene Top-Runner Ansatz und die Ausweitung des
Polluter-Pays-Prinzips auf Material- und Produktqualität
stehen. Auch bei der Finanzierung wäre denkbar, dass
Ressourceneffizienz – durch alternative Finanzquellen wie
dem Crowdfunding – eine tragende Rolle zukommt.
Bei einer zukünftigen Stärkung von internationalen Institutionen könnte Deutschland eine Etablierung von global
geschlossenen Stoffkreisläufen, die Entwicklung hin zu globalen Wertschöpfungsgemeinschaften sowie eine einheitliche Agenda für Ressourceneffizienz und -schonung, die
in den unterschiedlichen Gremien transparent vertreten ist,
mit ausarbeiten.
Story zum Szenario Starke Innovation
Anna aus Berlin – ein Hausbesuch
Anna Zohmann, geb. 2018, betreibt eine Agentur für
nachhaltige digitale Kommunikation und leitet die Bürgerinitiative „GrüneMitte.“ Ein Hausbesuch.
Plitsch, platsch. Große, schwere Tropfen fallen auf den Gehweg der Lütticher Straße im Berliner Stadtteil Wedding. Ich
gehe etwas schneller auf mein Ziel zu, den Hauseingang
der Nummer 41. „Willkommen, Gast von Anna!” leuchtet
es von einem Display neben der Schiebetür des Neubaus.
Sie öffnet sich, und ein Lichtstrahl zeigt mir den Weg zum
Fahrstuhl und zum Treppenhaus. Im Eingangsbereich ist es
angenehm kühl, der einsetzende abendliche Sturmschauer
und die schwüle Herbsthitze bleiben draußen. Wenige Minuten später und meine wasserfesten Nanotextilien hätten
sich beweisen müssen. Ein Display am Treppenhaus zeigt
mir die Energie, die ich spare und die Kalorien, die ich verbrauche, wenn ich die Stufen steige – und wie viele Greenpoints ich dafür erhalte. Greenpoints werden über einen
Chip in der Smartwatch gespeichert und bringen, ähnlich
wie eine Payback-Card, Ermäßigungen und Bonusse im Alltag für nachhaltiges Verhalten.
Für die Treppe gibt es immerhin 10 Punkte, denn Anna Zohmann, Chefin der Agentur EverGreen, wohnt im Dachgeschoss. Ich steuere auf sie zu. „Na, gerade noch mal so vor
den Sturzbächen,“ höre ich eine freundliche Stimme, als ich
fast oben bin. Ich komme leicht schnaufend bei Anna an,
die mich bereits an der Haustür erwartet. „Die 10 Punkte
verdient man sich wirklich” sagt sie und blitzt mich vergnügt mit grünen Augen an. Ihr Blick ist bestimmt, während die dunkelblonden Locken und die schmale Figur der
32-jährigen etwas Mädchenhaftes verleihen. Sie trägt eine
lockere graue Hose und eine schimmernde grüne Bluse.
„Kommense rin, könnense rauskieken.” Sie macht eine einladende Handbewegung und geht durch den hellen Flur
voraus in den Wohnraum. Die Tür schließt sich leise hinter
mir. An den Temp-Wänden, die entsprechend den Raum
kühlen oder heizen, hängen einige Ölbilder aus der Jahrhundertwende sowie einige Fotos von Anna und einem
Mann.
„Der Typ ist Murat, mein Freund” sagt Anna, als ich in den
Wohnraum mit hohen Wänden komme, der an eine offene
Küche angeschlossen ist. Ich setze mich auf eine übergroße Couch. Eine verglaste Außenfront gibt den Blick auf die
begrünte Terrasse und die Dachlandschaft Berlins frei, welche von peitschenden Schauern verhangen ist. „Zum Glück
schließt sich inzwischen alles vollautomatisch beim ersten
Tropfen. Möchten Sie ein Minzwasser?” fragt Anna. „Oder
Ayran? Beides gut nach der dehydrierenden Hitze heute.
Die Minze ist aus unserem Garten und der Joghurt aus unserer Hausproduktion.”
Wie oft in Berlin hat auch Annas Haus eine eigene Produktion. An den Hauswänden zum Hof wird in vertikalen Gärten
heimisches Gemüse und Obst angebaut. „Mal schauen was
„Grünes Denken und Erfindergeist gehören für mich
zusammen“
grad so reif ist” sagt Anna. „Wo ist denn die Touchfoil schon
wieder?” fragt sie laut. Eine Schublade der Anrichte gibt einen leichten Summton von sich und blinkt auf. „Wer hat die
da denn hingelegt?” Anna zieht eine aufgerollte Folie aus
der Schublade und legt sie auf den Wohnzimmertisch. Die
Folie wird zum Touchscreen, eine Tastatur formt sich im unteren Teil. „Schon etwas beim Obst wieder reif?“ fragt Anna.
Der Bildschirm zeigt uns die vorhandenen Früchte und ihren Reifegrad an. Fünf Wassermelonen, ein Feigenzweig
und ein Strauch Brombeeren werden mit Ort und Reifegrad
angezeigt. „Oh ja, die Wassermelonen sind super,“ sagt
Anna. Sie reserviert sich eine. „Ein Hausgarten ist wertvoll“
sagt sie vertrauensvoll. „Allein im Wedding können wir bereits 75% unseres Obst- und Gemüsebedarfs damit decken,
dazu kommen nachwachsende Rohstoffe wie Baumwolle,
Naturfarben, Zucker und Hanf. Wir sind damit fast unabhängig von schlechtem Angebot und hohen Preisen.“ In ihrer Stimme schwingt Stolz mit. Anna ist seit zwei Jahren Leiterin der bekannten Bürgerinitiative ,GrüneMitte’, die in den
30er Jahren begann, Dächer und Hauswände in nutzbare
Grünflächen zu verwandeln. „Das ist die richtige Ergänzung
zu dem Konzept der Plusenergiehäuser,“ sagt Anna.
Auch die 41 ist ein Plusenergiehaus, welches seinen eigenen
Strom produziert, Überschüsse dem Stromnetz zuführt und
an ein LEEN angeschlossen ist, ein lernendes energieeffizientes Netzwerk. Dazu gehört ein Gewächshaus auf dem
Dach, welches die durch Sonneneinstrahlung produzierte
Wärme direkt in Strom umsetzt. Damit werden Bewässerungsanlagen, Kühlsysteme, Licht und Haushaltsgeräte wie
die wasserlose Waschmaschine, Reinigungs-Drohnen und
Luftkläranlagen betrieben.
„Inzwischen machen wir Projekte mit Bürgergruppen in
Shinyuku in Tokio oder Beyoglu in Istanbul,“ sagt Anna. Ihr
Freund Murat, der in der großen Spieleindustrie in Berlin
arbeitet, kommt aus Istanbul und hilft bei der Kommunikation. Sie nimmt einen Schluck von ihrem Ayran. „Seit die
regionalen Regierungen so viel stärker geworden sind, ist
man als Bürger durchaus bei der Außenpolitik dabei“ sagt
Anna. „Das ist schon toll, wenn ich weiß, dass unsere Erfolge
hier sich auch global positiv auswirken. Zwar dominieren
19
die USA und China die Weltmärkte, aber Einfluss nehmen
aufs globale Geschehen kann man auch von hier aus. Gemeinsam können wir dann für unsere Hilfsprojekte wie z.B.
ein Gartenprojekt in Rumänien oder sogar in Bhalswa in
Neu Delhi sammeln.“ Annas Augen leuchten auf. „Von unserer letzten Crowdfunding-Aktion können wir dort drei
neue Schwimm-Gärten anlegen – inklusive 3D-Printer und
Patronen für die Gartengeräte und Folien. Ohne die richtigen Schutzfolien wächst da nichts mehr – der Klimawandel
hat ja viele Länder hart getroffen. Und mal sehen, vielleicht
können wir bei EverGreen ein paar Kunden für ein CSR-Projekt dort gewinnen.“ EverGreen berät viele der internationalen Konzerne in Deutschland im Bereich Corporate Social
Responsibility. Wo vor 30 Jahren noch Werbung und Pressearbeit reichte, müssen Unternehmen heute den deutschen Konsumenten gegenüber transparent nachhaltige
Verhaltensweisen an den Tag legen. Große Marken wie Eppel im Elektronik- und Gepp im Modebereich haben nicht
überlebt, weil sie das kritische Käuferverhalten unterschätzt
haben. „Läuft inzwischen alles über den Markenwert“ sagt
Anna. „Kleidung kann ja inzwischen fast jeder herstellen.“
Sie streicht nachdenklich über ihre Bluse. Die hat eine
Freundin in New York entworfen, produziert wurde der populäre Stoff aus gentechnisch hergestellter Spinnenseide
in einem Kleinunternehmen in Berlin-Kreuzberg. Ihre Hose
hat sie auf einem Tauschabend gegen eine alte Anzughose
getauscht. „Auch wenn dabei keiner reich wird: Je autarker wir sind, desto besser für uns“ sagt Anna. „Schon toll
was inzwischen technisch geht, das hilft, wenn Rohstoffe
so knapp und teuer sind. In der Firma von Murat haben sie
zum Beispiel einen neuen Weg gefunden, wesentlich weniger Graphen in den Konsolen einzusetzen. Erfindergeist
und grünes Denken gehören für mich zusammen.“
„Tut tuuut“ macht es plötzlich, über der Tür leuchtet ein
blaues Licht auf. Anna sieht auf ihre Uhr. „Frau Bauer aus
dem Dritten. Sie ist laut Sensoren wach, aber von ihrem
Nachmittagsschlaf bisher nicht wie gewöhnlich aufgestanden – und ich habe heute Notfalldienst. Moment – “ Sie
drückt auf den Display. „Jakob? Kannst du mal eben nach
Frau Bauer sehen? Die ist noch nicht auf. Und mich rufen
falls sie etwas braucht? Ich schaue um Sieben noch mal
nach ihr. Ja, kannst morgen auch für das neue Game von
Murat vorbeikommen.“ Wie viele Berliner lebt Anna in einem Mehrgenerationenhaus. Frau Bauer kann trotz ihrer 90
Jahre fast selbstständig hier wohnen und das Haus erhält
dafür staatliche Förderung.
Der Schauer ist vorerst vorbei, der Himmel klart sich auf.
„Wollen wir eben die Melone holen? Jetzt sind gerade nicht
so viele Viecher unterwegs.“ Ich folge Anna auf die Terrasse,
von wo aus ein schmaler, von Holzbalken gerahmter Weg
auf den Dachgarten führt. Die intelligenten Schutzfolien
hatten sich wegen des Regens verhärtet und zugezogen,
denn er hätte den Pflanzen geschadet. Jetzt verschwinden
sie gerade surrend wieder im Gerüst und geben den Blick
auf den ,Garten’ frei, der eher einem großen Beet mit Laufgräben ähnelt. Ein voller Zitronenbaum steht am Anfang
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der Reihen mit Obst und Gemüse, Grillen zirpen und einige Kolibris sind unterwegs, um Nektar in großen Blüten zu
sammeln. Mit Hilfe ihrer Smartwatch findet Anna schnell
das Beet mit der Melone. Groß und rund liegt sie auf ihrem
Feld in Reihe 5, Abschnitt B. „Hm, lecker.“ Sagt Anna. Wir
nehmen die Melone selbst mit, auch wenn eine Drohne sie
zur Terrasse bringen könnte. Immerhin 2 Punkte.
Anna schneidet die saftige Wassermelone in der Wohnung
auf und bietet mir dabei eins der süßen, tiefrosa Stücke
an. Sie blickt wieder auf ihre Uhr. „Hm, Jakob hat sich nicht
mehr gemeldet. Vielleicht schauen wir doch mal nach.“
Sie schiebt ein paar Stücke mit dem Messer in eine zweite
Schüssel und wir gehen damit durch das Treppenhaus – 4
Punkte – zu der Wohnung von Frau Bauer. Die Tür steht
leicht auf. Annas Augen weiten sich. „Frau Bauer? Jakob?“
fragt sie vorsichtig in die Stille der Wohnung hinein. Nichts.
Wir hören ein leises Stöhnen. Anna läuft den Flur herunter,
reißt die Tür zum Wohnzimmer auf. Eine ältere Frau und ein
etwa neunjähriger Junge sitzen über einem Schachbrett. Sie
mustern uns erstaunt. „Hallo Anna“ sagt der Junge. „Frau
Bauer zeigt mir Schach. Da muss man viel überlegen. Kann
sie morgen mit das neue Game probieren? Und wer ist das?
Und ist die Melone für uns?“ Anna seufzt kaum hörbar und
stellt die Schüssel auf den Tisch. „Ja klar, Nervennahrung.
Ich habe gehört das braucht man beim Schach.“ Sie wendet
sich zu mir und lächelt. „Im MeGeHa wird’s nie langweilig.“
Szenario C
Minimalistisch, ressourceneffizient und regionalisiert –
das Szenario Postwachstum
„Die technische Komplexitätsüberforderung in einer
stark globalisierten Welt führte zu einer Reihe von
Unfällen und folglich zu einer stetigen und bewusst
gewählten Lebensveränderung der Bevölkerung:
Ein minimalistischer, ressourcenleichter, regionalisierter und „einfacher“ Lebensstil hat sich durchgesetzt; die Wirtschaftsleistung in Deutschland
ist rückläufig, dennoch verläuft die globale Wohlstandsentwicklung positiv. Der Fokus der deutschen
Wirtschaft liegt auf regionalen Dienstleistungen
und in der wiedergewonnen Bedeutung des Handwerks. Diese stark veränderte Wirtschaftsstruktur ist
zusätzlich in ein dezentralisiertes, flexibles Finanzsystem eingebettet. Die Wirtschaftsschrumpfung
bringt einen geringen Verbrauch von hauptsächlich lokalen Rohstoffen mit sich, die dafür notwendige Energie stammt aus erneuerbaren Quellen.
Die Grundversorgung und öffentliche Daseinsvorsorge wird von sozialen Netzwerken getragen.“
Selbstverwirklichung im Vordergrund. Soziale Beziehungen, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Erwerbsarbeit
und Zeit für soziale Netzwerke wird angestrebt, selbst wenn
dies mit einem Einkommensverzicht verbunden ist. Auffallend ist auch eine Vielzahl von partizipativen politischen
Beteiligungsformen auf lokaler Ebene.
Wirtschaft
Gesellschaft
Die zunehmende Anfälligkeit technischer Systeme aufgrund ihrer steigenden Komplexität in einer global vernetzten Welt hat zu einer Reihe von Störungen und
Unfällen geführt, die auch als Ursache eines stetigen und
umfassenden Wandels der Lebensstile und des gesellschaftlichen Werteverständnisses zu verstehen sind: ein
bewusst gewählter, minimalistischer, ressourcenleichter
und regionalisierter Lebensstil hat sich durchgesetzt. Der
gesellschaftliche Status orientiert sich kaum am materiellen Konsum, stattdessen stehen immaterielle Formen der
Die Entwicklungstendenz des globalen Wohlstands verläuft konvergent, d.h. die sozialen und wirtschaftlichen
Unterschiede zwischen einzelnen Staaten und Weltregionen nähern sich stetig einander an. Die Grundbedürfnisse
sind – mit einigen Ausnahmen – abgedeckt; große soziale
Konflikte und Bevölkerungswanderungen haben deutlich
abgenommen. Die deutsche Wirtschaft ist weniger globalisiert, damit wird die Wirtschaftsleistung auch weniger von
großen Unternehmen erbracht, sondern vielmehr in Kleinund Kleinstbetrieben sowie durch lokale Dienstleistungen
in regionalen Wirtschaftskreisläufen, denn das wirtschaftliche und politische Geschehen ist sowohl lokal als auch
global strukturiert. Damit hat auch das Handwerk wieder an
Bedeutung gewonnen. Die Veränderung der Wirtschaftsstruktur sowie der gesellschaftliche Wandel haben sich verhältnismäßig langsam vollzogen; eine stetige Anpassung
an die neuen Verhältnisse war dadurch möglich.
21
Technologie
Finanzen
Folglich zeichnet sich auch beim BIP eine Schrumpfung der
Wirtschaftsleistung ab. Allerdings definiert sich der Wohlstand weniger in materieller Hinsicht, als vielmehr über das
individuelle Wohlbefinden: Der bewusste gesellschaftliche
Wandel bringt eine hohe Lebenszufriedenheit mit sich; die
Grundbedürfnisse sind weitgehend gesichert. Es herrscht
weitgehend Transparenz über die Verwendung von Geldern und die Geschäftsmodelle der Banken. Auch soziale
und ökologische Kriterien sind ein wesentlicher Bestandteil
von Finanzangeboten. Außerdem sind zahlreiche dezentrale, web-basierte, pragmatische und flexible Finanzierungformen zu finden. Durch zahlreiche Crowdfundingaktivitäten wird vor allem die lokale Wirtschaft finanziert; folglich
spiegeln sich in den Neugründungen und Investitionen in
hohem Ausmaß die Priorisierung und die Bewertungskriterien der Bevölkerung wider.
22
Die technologischen Entwicklungsschwerpunkte liegen in
der Ermöglichung einer langen Nutzungsdauer und in der
Vielfalt der Nutzungsmöglichkeiten eines Produkts. Trotz
der großen Vielfalt an technischen Anwendungen kommt
vergleichsweise wenig Material zum Einsatz. Die Entwicklung zur Nutzungsvielfalt und langen Nutzungsdauer eines
Produkts, die gravierenden Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur und der Lebensweise sowie eine effektive
Wiederverwertung haben zu einem abnehmenden Rohstoffverbrauch in Deutschland geführt. Hinzu kommt eine
Bedarfsverschiebung hin zum Verbrauch von hauptsächlich heimischen Rohstoffen. Eine ausreichende Energieverfügbarkeit ist ebenfalls vorhanden. Es kommen ausschließlich erneuerbare Energien zum Einsatz, die durch
die Weiterentwicklung von Speichertechnologien nicht nur
günstiger sind, sondern das dezentrale Wirtschaftssystem
ausreichend und logistisch besser versorgen können.
Ansatzpunkte und Herausforderungen
im Szenario Postwachstum
Eine verpflichtende Transparenz von Ressourceneffizienz
würde in Unternehmensberichten und unterschiedliche
fiskalische Instrumente für eine an ökologische Kosten
orientierte Preisgestaltung von Produkten und Prozessen
eingeführt werden. Finanzpolitische Vorgaben für Ressourceneffizienz wären streng: einzelne Rohstoffderivate
sind verboten und die Risikobewertung von Rohstoffsicherheit unterliegt strengen Richtlinien. Aktivitäten in der
Entwicklungszusammenarbeit könnten gestärkt werden
und sind an Kriterien der Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz gekoppelt.
Ob durch die Umsetzung von ressourcenpolitischen Programmen, über andere Strategien oder gar ohne bewusstes
staatliches Handeln, ist anzunehmen, dass in diesem Szenario eine starke Reduktion des Ressourcenverbrauchs zu
verzeichnen ist und definitiv politisch und gesellschaftlich
bewusst gewollt. Unabhängig von der Tatsache, ob eine
Postwachstumsgesellschaft realistisch und die Herausforderungen und Lebensbedingungen einer solchen Transformation für eine große Mehrheit wünschenswert ist, zeigt
sie theoretisch eine Möglichkeit auf, das Ziel der absoluten Reduktion zu erreichen. Das Szenario kann dabei zur
Diskussion stellen, welche Handlungsoptionen denkbar
wären, die eine Transformation anstoßen können.
Politiktransfer von Ressourceneffizienz, Technologietransfer, Recyclingpartnerschaften und eine einheitliche Agenda
für Ressourceneffizienz könnten auch bei der Schließung
von internationalen Abkommen eine bedeutende Rolle
spielen. Um die gesellschaftliche Verantwortung gegenüber Ressourceneffizienz zu verankern, wäre es denkbar,
den Zertifikathandel mit dem per capita ökologischen Fußabdruck einzuführen.
Abgesehen von unterschiedlichen Maßnahmen, die dezentrale und partizipative Strukturen fördern (vgl. Szenario
Starke Innovation), wären in diesem Postwachstumsszenario auch jene staatlichen Maßnahmen zu diskutieren, die
einen Umbau zur Dienstleistungsgesellschaft unterstützen:
eine Stärkung von ressourceneffizienten und –schonenden
Dienstleistungen, die Virtualisierung sowie Förderung der
Kreislaufwirtschaft.
23
Story zum Szenario Postwachstum
Leon aus Schorfheide –
ein Hofbesuch
Leon Lenke, geb. 1980, lebt vom Stromnetz unabhängig
in seiner Wahlheimat Schorfheide. Als Autor und Bürgerabgeordneter bestimmt er die regionale Politik mit.
Ein Hofbesuch.
„Es hat also ohne Vierradantrieb geklappt?” fragt Leon
Lenke zur Begrüßung. Seine hellen Augen leuchten schelmisch. Er rückt seine Kappe zurecht, unter der dichte weiße
Kraushaare hervorragen. Sie sind der einzige Hinweis auf
sein Alter, die 70 Jahre sind dem berühmten Schriftsteller
höchstens durch seine fröhliche Gelassenheit anzumerken.
Besonders durch seine Geschichten zum Leben nach dem
GAU und seine Konzepte zur Kreislaufwirtschaft wurde er
bekannt. Er blickt auf das E-Car. „Ich hätte beinahe Thilo mit
einem zweiten Pferd losgeschickt, die haben erstklassigen
Vierbeinantrieb. In Brandenburg gibt es nur wenig Straßen,
die E-Cars laden können.” Wir stehen auf dem Hof seines
Gutes in Schorfheide, welches er seit 30 Jahren betreibt...
Auch wenn es über 20 Jahre her ist, ist der GAU überall
präsent. Eine Reihe von Netzüberlastungen in Europa im
Dezember 2026 verbunden mit menschlichem Versagen
hatten landesweit Explosionen verursacht und Umweltkatastrophen ausgelöst, die sämtliche Versorgungsnetzwerke
lahmlegten – auch in Deutschland mussten die Menschen
monatelang ohne technischen Komfort und Internetverbindung auskommen, Importware war knapp. „Es war zwar
ein Schock, aber irgendwie auch eine Erleichterung. Diese
allgegenwärtige Datenüberwachung und der ständige virtuelle Druck war plötzlich weg – keiner mehr der sieht, wo
man ist, was man macht – das war doch alles viel zu komplex, als dass es dem normalen Menschen genutzt hätte.
Diese digitale Entkopplung tat uns gut. Außerdem war ich
bestens vorbereitet” sagt Leon. „Uns ging es hier gut. Damals war die Unabhängigkeit von den großen Stromnetzen
ja noch etwas besonderes.” Schon als Jugendlicher hat er
sich intensiv mit alternativen Methoden der Bewirtschaftung beschäftigt. Leon machte zunächst Karriere als Softwareunternehmer, aber irgendwann „reichte das alles nicht
mehr – teure Wohnungen in Großstädten, schnelle Autos,
Fernreisen, immer mal hier mal da... Nichts machte mich
wirklich glücklich. Da wusste ich, ich muss was ändern.“ Er
macht eine ausladende Handbewegung: „Jetzt, hier, ist alles
gut.“
Wir steuern auf eine offene Stalltür zu. Aus dem Inneren
dringt ein Wiehern, ein Schnaufen, Pferdegeruch kitzelt die
Nase. „Thilo?“ Es dauert einen Moment, bis sich die Augen
an die Dunkelheit des Stalls gewöhnen. Einige der etwa 20
Boxen sind offen, in anderen stehen Pferde, die in unsere
Richtung blicken. Ein blonder Schopf taucht hinter einem
Pferderücken auf. „Leon?“ Ein junger, etwas schüchtern wirkender Mann mit einer Heugabel in der Hand richtet sich
24
„Deutschlands Glück liegt in der Besinnung auf das
Wesentliche “
auf, begrüßt mich mit einem Nicken. „Jonas kommt heute
Abend, dann gibt’s Kaninchen, da kannst du mitessen und
für Emma etwas mitnehmen,“ sagt Leon. Er sieht mich an.
„Fleisch ist schließlich teuer. Aber dafür gibt es den Industriefraß von früher nicht mehr. Und hier draußen können
wir selbst jagen – deswegen kommen alle immer gern zum
Abendessen“. Jonas Fischer ist sein Freund und der Bürgermeister von Schorfheide, welche in den letzten Jahren einen starken Zuzug erfahren hat. Beide sind Mitglieder des
Bürgerparlaments Brandenburg-Ost, welches regelmäßig
über wichtige regionale Fragen entscheidet und weltweit
mit anderen Regionen verpartnert ist. Es wird dort auch
über Wirtschaftsfragen beraten. „Soziale und ökologisch
sinnvolle Projekte bekommen immer schnell den Zuschuss
– neulich haben wir zum Beispiel dank zusätzlichem Crowdfunding recht schnell eine neue Berufsschule für die Region
finanzieren können,“ sagt Leon.
„Ein kleiner Ausritt gefällig?“ Er sieht mich fragend an. Hoch
zu Ross verlassen wir den Stall wieder, reiten auf einem
schmalen Pfad an den Feldern entlang. Es ist ein friedlicher
Nachmittag, die milde Frühlingsluft lässt den harten Winter
vergessen. Rechts von uns liegt ein Wald, links erstrecken
sich die Mischfelder mit den Nutzpflanzen wie Raps und
Sonnenblumen.
„Im Winter muss man hier wegen der Wölfe etwas vorsichtig sein“ sagt Leon. „Einige wollen sie wieder loswerden,
auch wegen der vielen Touristen in den Brandenburger Erholungsgebieten, aber wir brauchen sie für das Großwild.
Außerdem ist es ja was für den Erlebnistourismus.“ Viele
Menschen machen inzwischen in Deutschland Urlaub, Fernreisen kann und will sich kaum einer mehr leisten. Letzten
Winter hat Leon selbst einen Wolf erlegt. „Das Fell habe ich
noch. Wir haben natürlich jeden Knochen verwertet. Auch
wenn wir etwas produzieren, dann so, dass man es am
Ende wieder auseinandernehmen und verwerten kann.“ Auf
Leons Hof gibt neben dem Gestüt eine Schreinerei, welche
Holz aus dem anliegenden Nutzholzwald vor Ort in Möbel
und Geräteteile umwandelt.
Die Möbel sind nicht nur regional beliebt. „Neulich wollte
jemand aus unserer Partnerregion in China ein paar Modelle haben. Wir haben ihnen einfach die 3D-Daten zum Nachdrucken verkauft. Kennen Sie noch den MuFuTi, den Multi-Funktions-Tisch aus der DDR? So etwas entwerfen wir
praktisch neu. Wenn etwas lange hält und vielfältig zu gebrauchen ist – dann ist es ein gutes Produkt! Und der etwas
höhere Preis gerechtfertigt. Ganz früher waren Preise ja oft
unrealistisch – da wurden die wahren Herstellungskosten
wie Umweltbelastung oft nicht mit eingerechnet. Jetzt kaufen wir einfach weniger, nutzen die Dinge die wir besitzen
viel länger oder wiederverwerten sie anderweitig. „Da sind
mache Leute echt unglaublich kreativ geworden.“ Er grinst.
„Dass nicht alles in unserem Leben auf Wachstum und Konsum basiert, das haben inzwischen die meisten begriffen.“
Der GAU hat da so manches geändert. Heute erwartet auch
keiner mehr, dass ein Staat sich kümmert. Davor wurden
erneuerbare Energien sogar immer noch diskutiert. Heute sind sie dank der besseren Speichertechnologien die
Norm.“ Er erzählt, wie seine Bücher darauf Einfluss hatten,
dass man sich nach dem GAU auf die deutschen Rohstoffe konzentriert hat, um weniger importabhängig zu sein.
„Eisenerz, Lignit, Salze – da habe ich ganze Kapitel drüber
geschrieben. Wir haben so viele Rohstoffe, mit denen man
tolle Sachen machen kann. Man muss nur wissen, was man
hat – und etwas kreativ sein.“
Wir biegen in einen Waldweg ein. Ab und zu wird Leon
langsamer, sieht sich prüfend um. Er liest ein kleines Hirschgeweih am Wegesrand auf, „das kann man gut tauschen“
sagt er. Plötzlich werden die Pferde unruhig. Wir hören ein
hohes Vogelkreischen. „Aasgeier“ sagt Leon. „Die kommen
immer sofort.“ Die Pferde wollen nicht mehr weitergehen.
Leon hält sich den Zeigefinger auf den Mund und steigt ab.
Er zieht einen Elektroschock-Zapper aus der Satteltasche
und bedeutet mir abzusteigen. Wir gehen weiter den Waldweg herunter, in Richtung Geschrei. Die Pferde folgen nur
widerwillig. Wir kommen zu einer Anhöhe, von der man auf
eine Lichtung blicken kann. „Wenn man vom Teufel spricht“
sagt Leon leise. Ein blutiger Rehkadaver liegt in ihrer Mitte.
Am Himmel kreisen die Geier, von einem Wolf jedoch keine Spur. Er notiert die Koordinaten, streift sich Handschuhe
über und knotet ein Tuch vors Gesicht, läuft herunter zum
Kadaver und nimmt eine DNA-Probe zur Datensammlung.
Auf dem Rückweg müssen wir ein Stück an der etwas löchrigen Landstraße entlang reiten. Die Pferde haben sich
beruhigt und reagieren kaum auf das E-Car, welches leise
an uns vorbeisurrt.
„Ich habe vielleicht kein neues Car, aber ganz ehrlich: Wer
braucht das?“ sagt Leon mit Blick auf das Auto. “Letztendlich
wollen wir doch alle nur glücklich sein. Unser und Deutschlands Glück liegt in der Besinnung auf das Wesentliche: Ein
freundliches Lächeln. Ein Mensch, der mir sagt, dass ich
ihn inspiriert habe.“ Mit dieser Einstellung ist Leon nicht
allein. Der Wohlfahrtsindex NWI ersetzt schon länger das
frühere BIP. Deutschland liegt im NWI trotz schrumpfender
Wirtschaft weit vorne. „Zu Zeiten des BIP gab es noch viele große soziale Konflikte – und dann die Flüchtlingsströme. So viel Leid.“ Er seufzt. „Ich bin froh, dass das vorbei zu
sein scheint. Sicher produzieren andere Länder inzwischen
mehr. Aber was ist gegen mehr Ausgleich eigentlich wirklich einzuwenden? Das ganze Leben ist ein Balanceakt, und
ausbalanciert sind wir am glücklichsten.“
Es wird bereits dunkel, als wir wieder auf den Hof reiten.
Thilo kommt uns entgegen und nimmt uns die Pferde ab.
Als Leon ihm von dem Wolf erzählt, bekommt er große Augen. „Emma meinte gestern, sie hätte etwas gehört.“ sagt
er. Wie zur Bestätigung hören wir es in diesem Moment:
In der Ferne, aber klar erkennbar breitet sich Wolfsgeheul
über die brandenburgische Landschaft aus. Die Hofhunde
stimmen ein. „Siehst du?“ ruft Leon durch das Gejaule und
nickt zufrieden. „Der hätte bestimmt heute Abend auch
gern etwas von unserem Hasenrücken. Aber Reh ist ja auch
nicht schlecht.“
25
Szenario D
Turbulente Finanzmärkte zulasten der Staatskassen –
das Szenario Fragmentierte Welt
„Trotz massiver Produktionsverlagerungen ins
Ausland ist Deutschland eine der führenden Wirtschaftsmächte. Allerdings nimmt die breite Masse
der Bevölkerung nicht am wirtschaftlichen Erfolg
teil. Das Land ist in vielerlei Hinsicht stark gespalten: hohe Einkommensdisparitäten führen zu einer
gespaltenen Konsumgesellschaft, soziale Grundsicherung sowie eine Mittelschicht fehlen weitgehend.
Um die noch vorhandene Wettbewerbsfähigkeit und
den hohen Bedarf an schnelllebigen Produkten aufrechtzuhalten, kommen in Deutschland die Kernenergie und fossile Energieträger stark zum Einsatz.
Mit großer Anstrengung versucht die Politik – als
eine Art Expertenkommission – diese Herausforderungen zu meistern. Die Regierungsweise ist wissensbasiert, zunehmend bürgerfern und stark national orientiert.“
ist. Durch seine wirtschaftliche Stärke werden diese auch in
hohem Maße nach Deutschland importiert und machen das
Land stark importabhängig.
Wirtschaft
Gesellschaft
Deutschland ist nach wie vor eine der führenden Wirtschaftsmächte, allerdings gab es in der Vergangenheit
massive Produktionsverlagerungen ins Ausland, deren
Tendenz aufgrund geringerer Produktionskosten weiter
zunimmt. Internationale Konzerne gibt es nach wie vor;
allerdings haben nicht nur die Produktionsverlagerungen, sondern auch die zunehmende Automatisierung in
Deutschland dazu geführt, dass primär das Management
sowie dienstleistungs- und wissensorientierte Unternehmensbereiche angesiedelt sind. Diese sind eingebettet in
ein offenes Welthandelssystem, das durch eine hohe Verfügbarkeit und Exploration von Rohstoffen gekennzeichnet
Die Industrialisierung hat weltweit zugenommen, allerdings
nicht in einem flächendeckenden Ausmaß, so dass nur
Teile der Bevölkerung in heutigen Schwellenländern vom
erlangten wirtschaftlichen Erfolg profitieren. Eine breite
Mittelschicht fehlt überwiegend, auch ganze Teile der Welt
wurden wirtschaftlich stark vom Rest der industrialisierten
Welt abgehängt. Die Dominanz der Industrieländer und
das damit verbundene wirtschaftliche und soziale Gefälle
zwischen, aber auch innerhalb der einzelnen Staaten hat
sich verstärkt. Auch wenn im Durchschnitt ein relativ hohes
Wohlstandsniveau erreicht ist, so sind die Einkommensdisparitäten erheblich. Eine Mittelschicht fehlt weitgehend,
ein Teil der Gesellschaft nimmt nur sehr begrenzt am wirtschaftlichen Erfolg des Landes teil. Auch die soziale Grundsicherung ist sukzessive abgebaut worden.
Der Versuch, Deutschland als wichtigen Wirtschaftsstandort zu erhalten, hat hohe soziale Kosten mit sich gebracht.
Die Lebensstile und das Werteverständnis sind gekennzeichnet von zwei teils konträren Entwicklungen: Ein Teil
der Gesellschaft – das zeigt auch die starke Nachfrage auf
einem großen und schnelllebigen Markt mit einer Vielzahl
an Produkten – ist stark konsumorientiert und materialistisch, ein anderer – bedeutend kleinerer – Teil strebt nach
einem sozial und ökologisch verantwortungsvollen Lebensstil. Ein größerer Teil der Bevölkerung konsumiert unfreiwillig wenig.
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Abfederung negativer Auswirkungen auf die Realwirtschaft
an. Den dadurch stark belasteten Staatshaushalten fehlen
finanzielle Mittel an anderer Stelle.
Politik
Mit großer Anstrengung versucht die Bundesregierung als
eine Expertenkommission diese Herausforderungen zu
meistern. Die Regierungsweise ist durch ihren Sachverstand stark wissensbasiert und national orientiert. Eine
weitgehend zentralistisch aufgestellte Politikstruktur unterbindet in hohem Ausmaß partizipative und kommunale Initiativen und regiert damit weitgehend bürgerfern.
Finanzwelt und Ressourcen
Energie ist günstig und die Verfügbarkeit sichergestellt.
Weltweit und auch in Deutschland kommen vor allem die
Kernenergie und teils auch fossile Energieträger wieder
stark zum Einsatz. Aufgrund neuer Förderungsmethoden
und Technologien lassen sich immer weitere Lagerstätten
erschließen. Im Vordergrund steht eine stabile Energieversorgung zu möglichst niedrigen Preisen. Problematisch
sind allerdings die Turbulenzen auf den Finanzmärkten.
Durch die von der Realwirtschaft losgelösten Preise sind
auch die der Rohstoffe betroffen, was eine hohe Volatilität
bei der Preisentwicklung mit sich bringt. Wegen der Turbulenzen auf den Finanzmärkten fallen ebenfalls Kosten zur
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Ansatzpunkte und Herausforderungen im Szenario
Fragmentierte Welt
Ein hoher Ressourcenverbrauch zeichnet sich im Szenario Fragmentierte Welt ab; der Fokus der Politik liegt hier
ausschließlich auf der Versorgungssicherheit. Die Umsetzbarkeit von Handlungsoptionen in Richtung Ressourcenschonung erscheinen – durch die hohe Exploration von
Rohstoffen und dem zunehmenden Preis- und Wettbewerbsdruck – fast unmöglich.
Zugunsten stabiler und vor allem bezahlbarer Rohstoffpreise werden heutige ressourcenpolitische Ziele verfehlt.
Auf nationaler Ebene wären ähnliche ressourcenpolitische
Handlungsmöglichkeiten wie im Szenario Fortschreitende
Industrialisierung denkbar, wenn auch schwer umsetzbar.
Am ehesten würden Instrumente und Maßnahmen, die auf
die Versorgungssicherheit Deutschlands abzielen, umgesetzt werden können.
Die Turbulenzen auf den Finanzmärkten, die hohe Abhängigkeit von Rohstoffen, die von der Realwirtschaft losgelösten Rohstoffpreise, die eine hohe Volatilität bei der
Preisentwicklung mit sich bringen, sowie die dadurch stark
belasteten Staatshaushalte würden einen dringend notwendigen Anlass für eine Reduktion des Ressourcenverbrauchs darstellen. In diesem Szenario bleiben allerdings
trotz bzw. aufgrund der prekären Lage jegliche Innovationen aus, trotzdem wird am wirtschaftlichen Erfolg und
Konsum der zweiten Hälfte des 20sten Jahrhunderts festgehalten. Heute angedachte Instrumente und Policy Mixes
scheinen wirkungslos oder nicht umgesetzt worden zu sein.
Ansatzpunkte bestehen in der Bildungspolitik: Durch ein
Sichtbarmachen dieser stark fragmentierten Welt mit ihren
Unzulänglichkeiten über das Maß der planetaren Grenzen
hinaus, sollten Akteure und Interessengruppen für die Notwendigkeit einer Reduktion sensibilisiert und diese mittelfristig in Bildungsprogramme integriert werden.
Aufgrund der hier fehlenden „eigenen“ mittelständischen
Wirtschaftsmacht, konzentriert man sich auf wenige „glo-
28
bal players“, wodurch in der nationalen Wirtschaft ein Innovationsdefizit herrscht. Die Wirtschaftspolitik sollte darauf
fokussiert sein, dieses Innovationsdefizit durch entsprechende Fördermaßnahmen zu reduzieren und die Fähigkeit nationaler Unternehmen zu stärken, Knappheiten und
Turbulenzen als Anreize für ein nationales, weniger ressourcenabhängiges Wirtschaften zu verstehen und in darauf gerichtete Innovation zu transformieren.
Ressourcenpolitik muss in einer fragmentierten Welt
jedoch zwangsläufig auch zur Außenpolitik werden: Während die Regierung aufgrund der dem Szenario inhärenten
Einkommensdisparitäten und damit „abgehängten“ Bevölkerungsschichten auf nationaler Ebene zwangsläufig als
„schwaches System“ zu sehen ist, stellt die nach wie vor
vorhandene Wirtschaftsmacht Deutschlands auf internationaler Ebene ein Pfund dar. Mit diesem ließe sich wuchern,
um bspw. Einfluss auf internationale Konventionen auszuüben für einen nachhaltigen Umgang mit Ressourcen oder
ein Wiedererlangen der Kontrolle auf den internationalen
Finanzmärkten durch internationale Institutionen, in denen
auch Deutschland vertreten ist.
Die Fragmentierte Welt zeigt zum einen die Unerlässlichkeit
der Umsetzung von konsistenten Policy Mixes, zum anderen die Notwendigkeit von Frühwarnsystemen auf. Ein Indikatorensystem, welches unterschiedliche Ausprägungen
eines solchen Szenarios im Blick behält, könnte frühzeitig
auf die Entwicklung schwieriger Rahmenbedingungen für
die Ressourcenpolitik aufmerksam machen. Auf diese Weise würde frühzeitig die Möglichkeit bestehen, Entwicklungen zu befördern, die eine Schonung und den Erhalt von
natürlichen Ressourcen ermöglichen und anderen negativen entgegenwirken. Denn das Zusammentreffen einer
schwierigen ökonomischen Lage mit einem krampfhaften
Festhalten am wirtschaftlichen Erfolgsmodell sind scheinbar schwierige Rahmenbedingungen für die Ressourcenpolitik, besonders wenn Innovationen ausbleiben.
Story zum Szenario Fragmentierte Welt
Manuel K. und Manuel W. aus
Frankfurt/Main – ein Besuch in
zwei Realitäten
Manuel Kellener, geb. 2030, und Manuel Werthen, geb.
2031, leben auf den zwei Seiten einer gesellschaftlichen
Schere. Ein Besuch in zwei Realitäten.
„Möchten Sie einen Drink?” fragt der junge, dunkelblonde Mann höflich und hält mir etwas hölzern ein Silbertablett mit Sparkling aus England und duftendem Orangensaft entgegen. „Drinnen gibt’s auch Wein und Ebbelwoi“
sagt er. Sein schwarzes Jackett ist ihm leicht zu eng, und
mit seiner altmodischen, etwas schief sitzenden Fliege
sieht er ein bisschen aus wie aus dem letzten Jahrhundert.
Aber es passt zu der Umgebung: Diana Werthen, 63, hat
zu einem Charity-Event in der historischen Villa Lemonnardi im Frankfurter Westend-Süd geladen. Sie ist eine der
erfolgreichsten Managerinnen des internationalen Unishare-Konzerns in Frankfurt, eine der wachsenden Regionen in Deutschland. Wie viele Konzerne hat Unishare inzwischen auch seine letzten Produktionsstandorte ins Ausland
verlegt und leitet diese von Deutschland aus. Einer davon
liegt im rohstoffreichen Sierra Leone, in dem Diana ein neues Wohltätigkeitsprojekt aufziehen möchte.
Während ich überlege, für welches Getränk ich mich entscheide, quietschen Reifen hinter mir. Ein schwarzhaariger
junger Mann springt sportlich über die Tür eines roten Cabriolets und wirft einer Service-Kraft mit einem lauten „Danke Richie“ seinen Autochip zu. Er nickt mir kurz zu und greift
sich einen Orangensaft von dem Tablett, den er in einem
Zug ausleert. Als er das Glas wieder abstellt, erscheint Diana Werthen samt ihrer unverkennbaren roten Fönfrisur in
einem afrikanisch angehauchten bunten Kleid im Hauseingang. „Manuel, mein Schatz, da bist du ja endlich!“ Leichte
Röte steigt Manuel-Schatz ins Gesicht. „Mama, ich heiße
Manuel,“ sagt er. Und etwas lauter: „Und jetzt bin ich ja hier.
Ging länger beim Polo. Wollte Papa eigentlich nun kommen?“
„Ja, der sitzt im Schnellzug aus London. Guter Orangensaft,
nicht? Alles aus unserer Orangerie, alles öko,“ sagt seine
Mutter. Sie mustert kritisch seinen Kapuzenpullover und
die verwaschenen Jeans. „Wolltest du dir nicht ein bisschen
was netteres Anziehen?“ Manuel verzieht das Gesicht. Seine Mutter lächelt und sagt beschwichtigend. „Ich habe vorsichtshalber einen deiner Anzüge kommen lassen.“ Manuel
verdreht die Augen und folgt ihr nach drinnen.
Die Wärme des lauen Abends, fröhliches Stimmengewirr
und das alt-italienische Dekor des Gebäudes verleihen der
Umgebung ein mediterranes Ambiente. Geschäftig läuft
das Service-Personal des Catering-Unternehmens umher.
Alle tragen die schwarze Fliege. Seit Roboter einen großen
Teil der Serviceindustrie abdecken, ist es seit kurzem wieder besonders schick, ,menschliches' Personal zu haben.
„Letztendlich geht es in Deutschland um die Frage, ob man
dazugehört“
Der festlich hergerichtete Gartensaal füllt sich langsam,
und Diana begrüßt ihre Gäste mit ausgebreiteten Armen.
Damen verteilen links und rechts Küsschen, Herren im Smoking nicken einander zu. Es riecht nach teurem Parfum und
den großen rosafarbenen Lilien, welche Teil des Blumenarrangements um die Kerzenprojektionen auf den Tischen
sind. Häppchen mit MahiMahi-Fisch, Spargel-Sorbet und
Thunfisch-Carpaccio werden gereicht, aus dem Nebenraum
klingt ruhige Klaviermusik.
Diana begrüßt gerade eine ältere Dame mit schwarzen
Haaren und einem etwas stechenden Blick besonders herzlich. „Die ist von der Finanzaufsicht“ raunt ein Mann zum
anderen neben mir. „Kein Wunder, dass sie so griesgrämig
guckt.“ antwortet der andere leise. Und lacht. „Ich kann’s
verstehen. Seit die Finanzmärkte so unruhig sind und wir
die ganzen Banken wieder ,retten’ müssen, sind die Preise
für den Rohstoffimport meines Unternehmens absurd geworden. So kann doch keiner arbeiten.“ Der andere nickt.
„Dianas Firma macht das schon richtig mit der Verlagerung
ins Ausland. In Sierra Leone gibt’s bestimmt keine Bankenrettung. Zum Glück gibt es wenigstens wieder die Atomkraft, da ist’s in letzter Zeit nicht mehr so volatil. Das lohnt
sich dann, auch wenn Frankfurt selbst ja nur auf Erneuerbare macht. Habe ich damals nicht geglaubt, dass sie es
schaffen. “
Ich beschließe einen Moment an die frische Luft zu gehen.
Es ist etwas schwüler im Garten, die Unwetterwarnung wird
sich wohl heute noch bewahrheiten, es sind kaum noch
Helikopterlichter am Himmel zu sehen. Auch die Villa Lemonnardi ist wie fast alle wertvollen Gebäude inzwischen
sturmsicher; von Extremwetterlagen ausgelöste Umweltka-
29
tastrophen gibt es heute weniger als noch vor 20 Jahren.
Im Garten stehen ein paar Grüppchen, aus den Gesprächsfetzen entnehme ich, dass über die ständig steigende Kriminalitätsrate diskutiert wird. „Ist doch klar, dass das so ist,
wenn nur wenige Menschen viel, und viele zu wenig haben“
sagt ein bebrillter, etwa 80-jähriger zu seinem sichtlich jüngeren Publikum. „Früher gab es ja noch eine Mittelschicht...“
Ich erschrecke mich etwas, als ich sehe, dass im Halbdunkel
direkt neben mir jemand unbeweglich in einem ergonomisch geformten Gartenstuhl sitzt. Als sich meine Augen an
das Mondlicht gewöhnt haben, sehe ich, dass es der junge
Dunkelblonde mit der schiefen Fliege ist. Der Kopf ist gegen die Rückenlehne gestützt, seine Augen sind geschlossen, er atmet regelmäßig. Ich sehe mich um – es scheint ihn
bisher niemand zu vermissen. In der offenen Terrassentür
erscheint jetzt die Silhouette von Diana, ihr afrikanisches
Kostüm sieht im Gegenlicht transparent aus. „Manu-u-ellll!“
Der Junge neben mir fährt erschrocken zusammen und
schlägt die Augen auf. Er reibt sich das Gesicht und guckt
mich an. „Hallo,“ sagt er. „Ich bin Manuel.“
Manuel Kellener, 20, arbeitet erst seit ein paar Wochen
für das Cateringunternehmen. „Da bekommt man oft tolles Essen, neulich sogar mal Steak,“ sagt er. Wie bei vielen Menschen ist es nur einer von drei Jobs, die er derzeit hat. Festangestellt ist nur ein Drittel der Bevölkerung.
Nach dieser Veranstaltung muss er zum wieder angesagten
Milchsackgelände im ,Gutleutviertel’, wo er hinter der Bar
steht. „Es sei denn, die Veranstaltung wird wieder wegen
des Mainhochwassers abgesagt. Das wäre aber auch nicht
gut, dann kommt nämlich kein Geld rein.“
Mit seinen Jobs unterhält Manuel sich selbst und seine
Mutter, deren krankheitsbedingte Frührente seit 10 Jahren
nicht mehr vom Staat getragen wird. Letztes Jahr mussten
sie aus ihrem Passivhaus in Kalbach in die Nähe des neuen Atommülllagers weiter flussabwärts ziehen, da sind die
Mieten günstig. Unter der Woche schläft er oft in einem
Übernachtungscontainer in der City. Er war gut in der Schule und würde gern studieren, Microchiptechnik, aber: „der
Wunsch scheint immer weiter in die Ferne zu rücken.“ Manuel zuckt mit den Schultern: „So ist’s halt.“ Er blickt auf
die festlich erleuchtete Villa. „Letztendlich geht es auch in
Deutschland um die Frage, ob man dazu gehört. Man muss
flexibel sein.“ Er rückt seine Fliege zurecht. „Wir haben es
ja trotzdem gut, verglichen mit den meisten Menschen auf
dieser Welt! Selbst die Großmacht China hat doch so viele
Arme: Es gibt eben die an der Spitze, und dann gibt es noch
uns, und wir sind wie der größte Teil des Eisbergs – eher
unter Wasser.“
Wie auf Kommando ertönt der Sturmregenalarm. Wir laufen mit den anderen Menschen zur Tür, die hinter uns automatisch verriegelt wird. Drinnen sind die Blicke Richtung
Rednerpult gerichtet, an dem Diana mit ihrem Sohn steht.
Sein Kapuzenpulli ist inzwischen einem modernen schmalen Jackett gewichen. „Ich präsentiere ihnen den neuen CEO
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unserer neuen Sierra-Leone-Foundation: Manuel Werthen.“
Rauschender Beifall. Manuel W. lächelt, hebt beschwichtigend die Hände: „Danke, danke. Ich freue mich über diese Möglichkeit, mit unseren Küstenschutzprojekten an der
sozialen und politischen Gestaltung eines Landes beteiligt
sein zu können.“ Mehr Beifall. Mit seinem Stift projiziert
er die 3D-Landschaften in den Raum, erklärt anhand der
Live-Bilder, was er in Freetown vorhat.
„Toll wenn die Jungen mal was tun.“ Raunt der alte Mann
aus dem Garten hinter mir. „Das brauchen wir auch mal für
Deutschland, wo es das Wort ,Bürgerbeteiligung’ dank der
zentralistischen Strukturen und der ,Expertenkommission,’
die sich Regierung nennt gar nicht mehr gibt... Damals als...“
Ein „Psst“ unterbricht seine Rede. Die Augenbrauen des alten Mannes erscheinen über den dicken Brillenrändern. Er
verstummt mit einem Achselzucken und nimmt sich noch
einen Drink, den Manuel Kellener ihm jetzt anbietet. „Schöne Fliege,“ sagt der Alte. Manuel K. lächelt etwas gequält.
Die Party ist längst zu Ende, als er schließlich die Villa Lemonnardi verlässt. Er wird dabei fast von Manuel Werthen
umgerannt. „Oh, sorry,“ sagt Manuel zu Manuel. Ihre Blicke
kreuzen sich. Beide tragen einen Kapuzenpullover, und in
diesem Moment sind sie kaum von einander zu unterscheiden.
Szenario E
Es geht nicht weiter wie bisher – das Krisenszenario
Zerrüttete Welt
„Eine Finanzkrise und der Zusammenbruch des
internationalen Finanzsystems haben das wirtschaftliche Geschehen weltweit stark angeschlagen. Ein
weitgehend regionalisiertes Finanzsystem mit Regionalwährungen und Tauschkreisen ist entstanden.
Rohstoffe sind knapp und teuer, die Energieverfügbarkeit hoch volatil. Die deutsche Wirtschaft ist stark
geschrumpft und regionalisiert, die Wirtschaftsleistung stark zurückgegangen, was sich negativ auf
das Wohlstandsniveau sowie dessen Verteilung
innerhalb des Landes auswirkt. Die Lebensstile sind
spürbar dematerialisiert, die entstandene „Armut“
kann vom Sozialsystem nicht ausreichend abgefedert werden. Depolitisierung sowie ideologische
und ethnische Verdrängungen finden statt, um sich
vom Rest der krisenzerstörten Welt abzuschotten.“
minimieren. Die Wirtschaftsleistung befindet sich global
in einer Abwärtsspirale, was zu verstärkter Bevölkerungsmigration sowie großen Disparitäten innerhalb einzelner
Staaten führt. Europa und die USA versuchen sich – auch
in Form von Zöllen – stärker vom Rest der Welt abzuschotten. Der Welthandel ist stark rückläufig und es kommt zur
Bildung von Handelsblöcken. Ein Kampf gegen Migrationsströme und ein Ablösen von der weltweit negativen
Wirtschaftsentwicklung hat längst begonnen. Auch die
Globalisierungstendenzen der deutschen Wirtschaft haben
abgenommen; die Wirtschaftsleistung wird kaum von der
Großproduktion erbracht, sondern vielmehr in Klein- und
Kleinstbetrieben sowie durch lokale Dienstleistungen in
regionalen Wirtschaftskreisläufen. Damit hat auch das
Handwerk an Bedeutung wiedergewonnen.
Finanzwelt und Klima
Eine Finanzkrise hat das internationale Finanzsystem und
damit auch einen Großteil der wirtschaftlichen Aktivitäten
stark beeinträchtigt, was einen großen Vertrauensverlust
in das Finanzsystem mit sich bringt. Ein weitgehend regionalisiertes Finanzsystem mit Regionalwährungen und
Tauschkreisen ist entstanden. Mit dem Quasi-Zusammenbruch des internationalen Finanzsystems wurden nicht nur
die globalen Wirtschaftsstrukturen stark in Mitleidenschaft
gezogen, sondern auch politische und institutionelle Strukturen auf globaler Ebene, die sich zugunsten einer Rückbesinnung auf nationale und teilweise regionale Koordinationsmechanismen auflösen. In der Folge konnte auch
keine nennenswerte globale Antwort auf den Klimawandel
gefunden werden, dessen Auswirkungen spürbar durch
wiederkehrende Dürren, Überschwemmungen, extreme
Temperaturschwankungen, Meeresspiegelanstieg, etc. zu
erkennen sind. Auch Komplexitätsüberforderungen führen
weltweit zu technischen Unfällen.
Wirtschaft und Rohstoffe
Aufgrund dessen sind auch Rohstoffe und Energieträger
knapp und teuer geworden, die Preise und die Verfügbarkeit hoch volatil. Innovationen sind hauptsächlich kreislaufgetrieben – auch um den Einsatz von Primärrohstoffen zu
Politik und Gesellschaft
Regionalisierungs- und Depolitisierungstendenzen sind
in der deutschen Politik wiederzufinden. Internationale
Regime zerbrechen, ideologische und ethnische Verdrängungen finden statt. Die Lebensstile sind stark dematerialisiert, da erhebliche Einkommenseinbußen hingenommen
werden müssen. Die erzwungene und nicht dem materialistischen Werteverständnis entsprechende „Einfachheit“
bringt im Durchschnitt ein geringes Wohlstandsniveau mit
großer Spreizung mit sich, welche vom Sozialsystem nicht
ausreichend abgefedert werden kann.
31
Ansatzpunkte und Herausforderungen im Krisenszenario
Zerrüttete Welt
Vor dem Hintergrund einer derart von Krisen zerrütteten,
dematerialisierten Welt, die einem allgemeinen ökonomischen Abwärtstrend unterliegt, handelt es sich hier um
ein Szenario, das möglicherweise die Machbarkeit von
gewagteren politischen Ansätzen – auch im Hinblick auf die
Ressourcenpolitik – erhöht. Da jegliche ressourcenpolitische Ziele verfehlt werden, könnte nach einer solchen wirtschaftlichen Verwerfung globalen Ausmaßes ein „Neustart“
mit der Priorität auf Kriterien wie globale Gerechtigkeit,
dem Einhalten von Sozialstandards und der Minimierung
32
von schädlichen Umweltwirkungen in Betracht gezogen
werden.
Ein sehr kontrovers diskutierter Ansatz eines „tiefen ressourceneffizienten Staats“ würde eine große Transformation im Sinne einer absoluten Reduktion vorsehen. Durch
staatliche Standardsetzung nicht nur bis tief in die Produktionsprozesse und Infrastrukturplanung hinein, sondern
auch durch Sanktionen und der Vermittlung von entsprechenden Werten, könnte eine stark lenkende Rolle des
Staates (sofern er diese Einfluss- und Eingreifmöglichkeiten hat) in das alltägliche Handeln der Bürger eingreifen.
Es würden umfassende Regulierungen und Vorschriften
zum Ökodesign, Produktstandards und -kennzeichnungen
sowie eine Modellierung von Umweltwirkungen eingeführt
werden. Auch unterschiedliche fiskalische Instrumente für
eine an ökologischen Kosten orientierte Preisgestaltung
von Produkten und Prozessen wären denkbar. Eingeführt
werden könnten auch strenge finanzpolitische Vorgaben
für Ressourceneffizienz. Die Kontroverse dieses Ansatzes
entsteht weniger im Bereich ihrer Funktionalität – das Beispiel von China zeigt, wie effizient die von einem starken
Staat umgesetzten Vorgehensweisen sein können – als in
ihrem Konfliktpotential mit den freiheitlichen Werten unserer Demokratie.
Story zum Szenario Zerrüttete Welt
Marlena aus Hamburg – Besuch bei
der neuen deutschen Generation
Marlena Ahlers, geb. 2037, möchte berühmte Sängerin
werden. Für Gesangsstunden hilft sie nach der Schule
den Eltern bei einem Dammbauprojekt. Ein Besuch bei
der neuen deutschen Generation.
„Moin Moin!„ sagt Marlena und schüttelt ihre helle Mähne
„Willkommen in Hamburch“. Sie trägt einen pinken Nanostoffrock, graue Leggings, helle Turnschuhe und eine strahlenabweisende graublaue Shield-Jacke.
Die 13-jährige trifft mich am Ausgang der Ganztagsschule
Klosterbrook, eine Schule mit künstlerischer Ausrichtung in
Hamm-Süd. Neben den üblichen Fächern wird hier Gesang
und Entertainmentwirtschaft unterrichtet. Marlena, die hier
ein Stipendium bekommen hat, ist froh, dass die Schule so
nah an ihrem Zuhause in Hammerbrook ist, denn „ich wäre
sowieso hingegangen – sonst hab’ ich wenig Chancen mit
der Gesangskarriere. Und den Coach kann man hier sogar
in echt sehen – das ist super.“ Sie ist mit ihren Eltern vor
vier Jahren, ein Jahr nach der Finanzkrise, von Güstrow nach
Hamburg gezogen. Die Eltern erhofften sich bessere Arbeitsmöglichkeiten, und Marlena kann in die Schule gehen
anstatt zu Hause zu sitzen. In vielen Orten in Ostdeutschland gibt es inzwischen keine Schulen mehr, die wenigen
Kinder müssen weit reisen oder online lernen.
„Hier in Hamburg geht’s einem schon gut“ sagt Marlena,
die mit ihren Eltern und ihrem 10-jährigen Bruder Boris in
einer 4-Zimmer-Wohnung lebt, die mit anderen Wohnungen in eine Industriehalle eingebaut ist. Die Eltern, vorher
Lehrerin und Umwelttechniker, haben die Wohnung selbst
ausgebaut und arbeiten nebenan in einem Projektbüro.
Beide haben Arbeit bei einer Hamburger Dammbauinitiative gefunden.
Wir radeln Richtung Alster, wo Marlena heute zu einem
Casting für eine Mobile-Serie will. „Der Trick ist, auf allen
Plattformen präsent zu sein.“ Sagt Marlena, ganz der Profi.
„Ich habe einen digitalen Agenten für die Castings – aber
ich habe den Eindruck dass das Programm etwas veraltet
ist“ sagt sie. Auf dem Weg zur Innenstadt erzählt Marlena von ihrem großen Traum: Erfolgreiche Sängerin werden.
„Ich lerne gerade sogar chinesisch singen – das ist nun mal
der größte Markt.“ Durch die Schul-Agentur tritt sie öfter bei
Veranstaltungen auf. „Neulich habe ich meine ersten Hansemark, also Hamburger Geld, damit verdient – das fühlte
sich gut an. Die neue D-Mark wäre zwar besser, aber von
der Regionalwährung kann man inzwischen einiges kaufen.
Und wenn ich meine Karriere selbst in der Musik aufbaue,
kann meine Firma nicht einfach mit der nächsten Finanzkrise untergehen – gute Musik werden die Leute immer haben
wollen. Und man kann sie so einfach selbst produzieren.“
Plötzlich staut es sich vor uns. Überall Autos, ein paar Lastwagen, sogar jemand mit einem Handkarren, Gehupe, laute
„Ich singe lieber statt zu jammern und suche nach den Möglichkeiten“
Rufe. Alle wollen auf den Parkplatz eines Baumarktes, der
vor uns liegt. Ein großes hellblaues Zelt ist dort aufgebaut,
vor ihm drängen sich Menschen. Die Fahrradstraße ist fast
gänzlich versperrt, aber Marlena schlängelt sich geschickt
durch das Gewirr aus Autos, E-Bikes und Menschen mit
sperrigen Gegenständen und Karren. Sie sieht meinen fragenden Blick. „Das ist hier jede Woche so, wenn die neuen Baumaterialien ankommen,“ sagt sie. „Da gibt es zwar
auch nicht alles, aber mehr als sonst und vor allen Dingen
normale Preise – und sie nehmen Hansemark. Auf dem
Schwarzmarkt ist ja alles da – aber leisten kann es sich kaum
einer. Und manche Sachen sind giftig.“ Nach den großen
Industrieunfällen der letzten Jahre tauchen immer wieder
verunreinigte Stoffe auf. „Zum Beispiel wurde mein Vater
krank, als er für ein Projekt schwarz Holz und Stahlleisten
eingekauft hat – das Material war radioaktiv verseucht.
Meine Mutter hat sich furchtbare Sorgen gemacht. Jetzt hat
jeder von uns immer einen Toxic-Sensor dabei, der sofort
ausschlägt, wenn etwas giftig ist. Auch bei billigen Lebensmitteln muss man aufpassen.“
Wir sind schon fast an der Alster. Marlena ist in Eile, sie
möchte nicht zu spät sein und muss danach noch an die
Elbe, wo sie ihren Eltern bei der Arbeit helfen will. Dafür
wollen die Eltern ihr zusätzliche Gesangsstunden ermöglichen. „Einfach so hätte ich das echt nicht annehmen können – die arbeiten ja beide so hart und trotzdem haben wir
kaum Geld.“ Beide Eltern hatten – wie viele Menschen – krisenbedingt ihre Arbeit verloren und arbeiten jetzt projektbasiert. Die staatliche Unterstützung reicht nicht. „Neulich
hatten wir Besuch von meiner Tante und es gab sogar echtes Fleisch, nicht das geklonte Züchtzeug. Es war eigentlich
viel zu wenig, aber keiner hat etwas gesagt. Und als meine
Tante das Essen gelobt hat, hat meine Mutter plötzlich angefangen zu weinen. Das tut sie öfter, aber heimlich. Sie
denkt immer, wir merken es nicht. Ich glaube es ist, weil das
Geld nicht reicht.“ Sie schüttelt ihre Haare aus dem Gesicht.
33
„Aber was soll’s? Ich singe lieber statt zu jammern, und suche nach den Möglichkeiten.“ Sie fängt an, das Lied der Mobile-Serie zu summen und schenkt den nun auftauchenden
prominent platzierten Bildschirmen am Straßenrand kaum
Beachtung. Videobotschaften weisen auf die nächsten Regionalwahlen hin. Im Wahlkampf geht es um die steigende Zahl der christlichen Vertriebenen, die aus dem Süden
illegal in den Hafen kommen, um soziale Ungleichheiten
und den Ausstieg aus der UN. „Hamburg bleibt Deutsch,“
„Demokratie jetzt – für eine gerechte Gesellschaft“ und
„lieber regional gut als international schlecht“ steht da in
leuchtenden Schriften.
Am Jungfernstieg machen wir gleich neben dem Alsterhaus
halt, welches vorwiegend norddeutsche Waren von kleinen
Unternehmen und Samstags ein großes Tauschring-Event
anbietet. Es ist kaum Wasser im Alsterbecken. Die Solarfähren müssen den Regen abwarten, halbfertige Museumstürme stehen verlassen in der Mitte der Alster auf ihrer aufgeschütteten Insel – große Bauprojekte wurden durch die
Krise erst einmal gestoppt. Es ist in diesem Moment schwer
vorstellbar, dass am dringendsten noch weitere Dämme gegen die Sturmfluten gebaut werden müssen. Doch für die
nächsten Tage sind heftige Sturmregenfälle angesagt, und
der Wasserstand wird sich schnell ändern.
„Hm, ich glaube mein Agent hat doch einen Bug. Hier soll
es sein,“ sagt Marlena und sieht sich suchend um. Da sehen
wir ein paar weitere junge, schlanke Mädchen mit langen
Haaren auf einen Eingang neben dem Alsterhaus zusteuern
und hinter einer verspiegelten Tür verschwinden.
Im Gebäude müssen wir statt Fahrstuhl erst mal ein paar
dunkle Treppen hinaufgehen. „Schon wieder Stromausfall
– ich hoffe die haben eine Batterie für das Casting mitgebracht.“ sagt Marlena. Ich bekomme Bedenken, doch dann
kommen wir in einen halbwegs erleuchteten Gang, wo eine
Schlange von Mädchen an die Wand gelehnt wartet. „Moment, ich schalte mal eben meine Mutter dazu.“ Marlena
drückt auf einen Knopf an ihrer Jacke. Ihre Mutter erscheint
als 3D-Hologramm neben ihr. „Guten Tag“ sagt sie und lächelt. Trotz der kurzen dunklen Haare und der Falten im
Gesicht sieht man Marlena in ihr. Einige andere Mädchen
haben ihre Eltern als Hologramme dabei, andere Eltern
sind persönlich anwesend. Kragen werden zurechtgezogen,
Haare gebürstet, hier und da Lippenstift aufgetragen. Einzeln verschwinden die Mädchen hinter einer Glastür. Durch
sie erhellen Kamera-Blitze und weißes Licht den Gang. Eine
kleine hektische Frau der Casting-Agentur nähert sich uns,
Marlena und ihre Mutter registrieren sich. Einige Mädchen
singen leise vor sich hin oder machen Sprechübungen.
Marlenas Mutter hat zu tun und will wieder zugeschaltet werden, wenn Marlena an der Reihe ist. Sie sagt ihrer
Tochter noch, wie toll sie ist und wie natürlich sie aussieht.
Schließlich verschwindet auch Marlena, leicht nervös, hinter
der Glastür. Vom Gang aus kann man sehen, wie sie mit
einem Bildschirm spricht, ein paar Tanzbewegungen macht
und etwas vorsingt. Ihre Haare sind offen, sie wirkt lebendig und ausgelassen. Es werden noch ein paar Fotos in ver-
34
schiedenen Posen gemacht, dann kommt Marlena mit geröteten Wangen wieder aus dem Casting-Raum. „Ich glaube
sie fanden mich gut!“ sagt sie. „Vielleicht ist mein digitaler
Agent doch nicht so schlecht. Wenn es gut läuft, wird die
Serie sogar im Ausland laufen.“ Seit sich die Industrienationen derart vom Rest der Welt abschotten, ist auch die
Verbreitung von Unterhaltungsprodukten eingeschränkt
worden.
Wir schwingen uns wieder auf die E-Bikes. Auf dem Weg
zum Elbprojekt werden die Straßen breiter und großzügiger, hinter hochgewachsenen Büschen blitzen überwiegend weiße Villen hervor. Gepflegte Gärten umrahmen die
herrschaftlichen Bauten, ab und zu fährt ein privates Luxus-E-Car vorbei. Marlena sieht zu den Villen. „Die müssen
bestimmt nicht jede Woche im Baumarkt gucken, ob das
richtige Holz da ist und ihr Essen mit Toxic-Sensor prüfen.“
Sie seufzt leise und tritt etwas fester in die Pedale. „Und die
weinen bestimmt nicht, weil kein Geld da ist. Wenn ich erst
mal berühmt bin, kaufe ich meinen Eltern ein Haus hier. Ein
ganz großes. Und mache jeden Tag ein Festessen.“ Marlena
fängt wieder an zu summen.
3
Methodik der szenariobasierten
Strategieentwicklung
Die Entwicklung von politikfeld-übergreifenden Handlungsansätzen und Szenarien, die über eine einfache Extrapolation von Trends hinausgehen, erfordert einen kreativen Diskussionsraum, der ein systemisches, vernetztes,
zukunftsoffenes und interdisziplinäres Denken möglich
macht. Die Kommunikationsprozesse wiederum müssen
- ohne die Kreativität zu riskieren - strukturiert, systematisch und transparent erfasst werden. Die im Rahmen des
Projekts zur Strukturierung, Visualisierung und Moderation
genutzte Parmenides EIDOS Methodik konnte ihre Eignung
im Sinne der formulierten Anforderungen bereits im Rahmen einer Vielzahl von szenariobasierten Strategieprozessen unter Beweis stellen. Mit der Unterstützung von EIDOS
konnte die Komplexität der Themen mit der ihr inhärenten
Vielfalt an Wissen, Meinungen und Bewertungen integriert
und in einem strukturierten Arbeitsprozess handhabbar
gemacht werden.
Zukunftsprojektionen, dessen Ausprägungen und Zusammenhänge mit starken Unsicherheiten belegt sind und
damit eine Einbindungen von Experten in den Prozess notwendig machen.12
Partizipativer Ansatz
Die Erarbeitung der Inhalte setzt sich aus vier aufeinanderfolgenden Schritten zusammen: einem Umfeldszenariosowie einem Strategieentwicklungsprozess und dem darauf
aufbauendem Wind Tunnelling, bei dem die Umfeldszenarien und Strategien in ihrem „Zusammenspiel“ getestet wurden. Im Vordergrund dieses Schrittes stand die Frage nach
der Beständigkeit oder Robustheit der unterschiedlichen
Handlungsansätze (hier auch strategische Ausrichtungen
genannt) in verschiedenen Szenario-Umfeldern. In anderen Worten ging es dabei um die Frage nach passenden
und möglichen strategischen Ansätzen, die „in unterschiedlichen Zukünften“ sinnvoll und zielführend sind.
Die Umfeldszenarien sowie die anschließend formulierten
Handlungsansätze für die Politik wurden in unterschiedlichen partizipativen Stakeholder-Beteiligungs- und Diskussionsformaten mit rund 40 Interessensvertretern und
Experten der Ressourcenpolitik erarbeitet. Damit sind die
Inhalte Ergebnis eines Stakeholderprozesses und basieren auf konsensualen Einschätzungen, Wissen, intuitiven
Vermutungen und Annahmen über die Zukunft des ressourcenpolitischen Umfelds im Jahr 2050 und spiegeln
die Zukunftsvorstellungen hinsichtlich möglicher Entwicklungen aber auch möglicher Handlungsalternativen einer
Gruppe von Stakeholdern wider.
Durch die Mobilisierung von unterschiedlichen Erfahrungen
der Beteiligten können Zukunftsbilder robuster gemacht,
ein bestmögliches Systemverständnis herbeigeführt sowie
neues Wissen generiert werden.13 Trotzdem darf nicht
unbeachtet bleiben, dass jegliche Aussagen über die
Zukunft der im Prozess Beteiligten sich hauptsächlich aus
gegenwärtigen Erwartungen über Zukünftiges ergeben und
an sich keinen Wahrheitsanspruch erheben.14 Die Szenarien unterliegen demnach auch der „kognitiven Grenze“ sich
Unbekanntes vorzustellen.
Der Prozess
Vor allem bei der Identifikation von möglichen Zukünften
als auch bei Bewertungsverfahren wird in der wissenschaftlichen Forschung vermehrt auf Expertenwissen und
Einschätzungen von gesellschaftlichen Anspruchsgruppen
zurückgegriffen. In einem solchen kollektiven Prozess soll
ein möglichst heterogener Personenkreis idealerweise ein
möglichst umfassendes Spektrum an Wissen und Meinungen systematisch einbringen.10
Dabei stellen strukturierte, partizipative Prozesse eine
Möglichkeit dar, den aktuellen Wissensstand, Einschätzungen, Zukunftsvorstellungen, aber auch intuitives Wissen
sowie die Aufnahme von unterschiedlichen und teils divergierenden Sichtweisen in die Bandbreite möglicher Zukünfte zu integrieren.11 Nicht zuletzt sind Szenarien komplexe
Beschreibungen von Vorstellungen über unterschiedliche
10 |
11 |
12 |
13 |
14 |
Niederberger & Wassermann, 2015, S. 37f.
Niederberger & Wassermann, 2015, S. 11.
Kerber, Schramm, Winker, 2014, S. 13.
Niederberger & Wassermann, 2015, S. 231).
Grunwald, 2009.
Abbildung 2: Prozess der szenariobasierten Strategieentwicklung
Quelle: eigene Darstellung anhand Parmenides EIDOSTM
Zusätzlich zu diesen drei Schritten wurden die unterschiedlichen strategischen Ausrichtungen auch einer Effektivitätsprüfung unterzogen, bei der eingeschätzt wurde, wie gut
35
die skizzierten Handlungsansätze unterschiedliche ressourcenpolitische Ziele erreichen würden. In Form der Parmenides Matrix werden abschließend die Ergebnisse des
Wind Tunnellings sowie der Effektivitätsprüfung zusammenfassend dargestellt.
Entwicklung der Umfeldszenarien
Da in diesem partizipativen Prozess der Zukunftsraum einer
gewissen Komplexität unterliegt und der Projektionszeitpunkt relativ weit in der Zukunft liegt, so dass Annahmen für
das Jahr 2050 mit hoher Unsicherheit behaftet sind, bildet
die Szenariomethode eine geeignete Vorgehensweise.15
Dabei wurden in unterschiedlichen Arbeitsschritten alternative, plausible und in sich konsistente Zukunftsbilder des
ressourcenpolitischen Umfelds im Jahr 2050 entwickelt.
Die einzelnen Arbeitsschritte sind in Abbildung 3 graphisch
dargestellt und im Folgenden kurz erklärt.
Anhand des Szenarioraums bzw. des morphologischen
Kastens wurden deren mögliche Projektionen und Ausprägungen im Jahr 2050 anschließend mit den Stakeholdern
erarbeitet. Als Ergebnis dieses Zukunftsprozesses stehen
pro Schlüsselfaktor 2-5 alternative Zukunftsbilder. Je ein
Szenario setzt sich nun aus einem Zukunftsbild pro Schlüsselfaktor zusammen und entspricht damit dem gleichzeitigen Eintreffen von – in diesem Fall 10 – verschiedenen
Umfeldzuständen.
Konsistenzbewertung: Um zu einer sinnvollen Auswahl
und Anzahl an Szenarien zu gelangen, wurden im Vorfeld die Konsistenzwerte aller Projektionen zueinander
innerhalb einer Halbmatrix definiert. Der Konsistenzwert
eines Szenarios gibt Aufschluss darüber, wie widersprüchlich bzw. in sich schlüssig die jeweilige Kombination von
Zukunftsbildern ist.
Bei der Szenarioauswahl kamen nur jene in Betracht, die
einen hohen Konsistenzwert aufwiesen, also das gleichzeitige Auftreten von unterschiedlichen Zukunftsbildern
weitgehend widerspruchsfrei ist. Bei der Komposition des
Szenario-Sets wurde des Weiteren auch darauf geachtet,
dass die Umfeldszenarien den Zukunftsraum bestmöglich
abdecken und sich stark voneinander abgrenzen.
Entwicklung der strategischen
Ausrichtungen
Abbildung 3: Arbeitsschritte zur Entwicklung der Umfeldszenarien
Quelle: eigene Darstellung anhand Parmenides EIDOSTM
Die STEEP-Analyse unterstützt den ersten Schritt, die
Umfeldanalyse, zur Identifizierung einer Bandbreite von
Faktoren aus Politik, Wirtschaft, Technologie und Gesellschaft, die eine nachhaltige Nutzung und den Schutz
natürlicher Ressourcen beeinflussen.16 Im Rahmen eines
ausführlichen Diskussionsprozesses wurden die unterschiedlichen Elemente letztlich in 16 verschiedene Einflussfaktoren zusammengefasst, die hinsichtlich ihrer
gegenseitigen Einflussstärke bewertet wurden.
Durch die Definition der Wechselwirkungen zwischen den
einzelnen Einflussfaktoren entstand modellhaft ein greifbares Bild der Dynamik des Umfelds, das auf Verhaltensweisen in diesem System geprüft werden konnte (Systemanalyse). Die Untersuchung des Systems zeigt, dass 10 dieser
Faktoren – die aktiven, das System „treibende“ Faktoren
– die Schlüsselfaktoren bilden.
15 | Minx & Böhlke, 2006, S. 16f.
16 | Nikles, 2007.
36
Die explorativen Umfeldszenarien sollen nicht nur für mögliche ressourcenpolitische Umfeldentwicklungen sensibilisieren, sondern einen Rahmen für eine verstärkte Auseinandersetzung und Analyse von möglichen politischen
Handlungsansätzen bilden. Wie in Abbildung 4 ersichtlich, wurde dies in einem ähnlich strukturierten partizipativen Prozess umgesetzt, bei dem alternative strategische
Ausrichtungen der Ressourcenpolitik auf Grundlage der
Umfeldszenarien mit einer Gruppe von Stakeholdern entwickelt wurden. Das Synthesewissen und Meinungsbild der
im Prozess Beteiligten wurde in unterschiedlichen in sich
konsistenten, also möglichst widerspruchsfreien, Handlungsansätzen zum Ausdruck gebracht.
Hierbei ist anzumerken, dass die Analyse in unterschiedlichen Umfelder die Ansichten einer Gruppe widerspiegelt.
Die Bewertung mag bei unterschiedliche Experten anders
ausfallen. Der Prozess der Evaluierung stellt eine Diskussionsgrundlage für die Bewertung der strategischen Handlungsansätze dar. Durch eine Veränderungen der Bewertungen können unterschiedliche Ansichten und das daraus
folgende Ergebnis diskutiert werden.
Abbildung 4: Arbeitsschritte zur Entwicklung strategischer Handlungsansätze
Quelle: eigene Darstellung anhand Parmenides EIDOSTM
Die Handlungsbereiche wurden in diesem Prozess aus den
Umfeldszenarien inhaltlich abgeleitet, auf deren Grundlage
in einem nächsten Schritt alternative Handlungsoptionen
entwickelt wurden. Die Handlungsbereiche reichen von der
Wirtschafts- und Außenpolitik über die Infrastrukturplanung
bis hin zur (Aus-) Bildung. Nach der Beurteilung der Konsistenzwerte jeder einzelnen Handlungsoption zueinander
(in Form einer Halbmatrix), konnten alternative Handlungsansätze generiert werden.
Jeder dieser Ansätze setzt sich aus einer Handlungsoption pro Handlungsbereich zusammen. Als Ergebnis des
Prozesses liegen fünf unterschiedliche strategische Ausrichtungen der Ressourcenpolitik vor: Rohstoffsicherung,
Ökologische Modernisierung, Dienstleistungsgesellschaft,
Regionalisierung und Dematerialisierung. Die 5 Handlungsansätze wurden inhaltlich in den Kapiteln Herausforderungen und Ansatzpunkte pro Szenario verarbeitet und
werden nur hier zur Veranschaulichung der Methodik explizit benannt.
Abbildung 5: Durchschnittliche Beständigkeit der strategischen Ausrichtungen hinsichtlich aller Umfeldszenarien
Quelle: eigene Darstellung anhand Parmenides EIDOSTM
Die Farben in Abbildung 6 entsprechen der jeweiligen strategischen Ausrichtung aus Abbildung 5.
Wind Tunnelling
Anhand des Wind Tunnellings wurde die Robustheit bzw.
Beständigkeit dieser Handlungsansätze hinsichtlich eines
potentiellen „Eintreffens“ der unterschiedlichen Umfeldszenarien geprüft. In Form dieses letzten Schrittes wurde
eine Bewertungs- und Diskussionsgrundlage für politische
Entscheidungsträger und somit die Basis für die Formulierung und Analyse denkbarer Handlungsansätze geschaffen. Diese Vorgehensweise erlaubt darüber hinaus mögliche Zukunftsentwicklungen frühzeitig zu erkennen und
deren Auswirkungen konstruktiv zu begegnen. Sie dienen
allerdings nicht nur einer Reaktion auf sich verändernde Umfeldbedingungen, sondern auch dem Ansporn die
Zukunft pro-aktiv in die ein oder andere Richtung (mit) zu
gestalten. Die Abbildungen 5 und 6 zeigen ein Ergebnis
des Wind Tunnelling Prozesses. Zu erkennen ist hier, dass
z.B. der Handlungsansatz Ökologische Modernisierung im
Durchschnitt über alle Umfeldszenarien hinweg am beständigsten ist, jedoch im Umfeldszenario Zerrüttete Welt aber
auch in der Fragmentierten Welt am wenigsten greift bzw.
umsetzbar wäre.
Abbildung 6: Beständigkeit der strategischen Ausrichtung in den
einzelnen Umfeldszenarien
Quelle: eigene Darstellung anhand Parmenides EIDOSTM
Die einzelnen Ergebnisse des Wind Tunnelling Prozesses,
also mögliche Handlungsalternativen zu den Szenarien
gehen in den Abschnitten 2.A bis 2.E unter den Herausforderungen und Ansatzpunkten auf.
37
Effektivität
In diesem Arbeitsschritt wurde beurteilt, inwiefern die fünf
entwickelten Handlungsansätze unterschiedliche ressourcenpolitische Ziele erreichen würden. Damit wird die
Effektivität der einzelnen Ansätze bewertet. Die dabei herangezogenen Ziele sind entsprechend der Flughöhe der
Handlungsansätze ebenfalls rein qualitativ beschrieben:
 Sicherung von Versorgungssicherheit und
Wettbewerbsfähigkeit: Rohstoffpreise sollten
stabil und Rohstoffe bezahlbar bleiben, damit
die Wertschöpfung nicht gefährdet wird.
 Umweltwirkungen minimieren und
Ökosystemdienstleistungen erhalten: Rohstoffe
und Materialien sollten in einer Weise (und
Menge) gewonnen und genutzt werden, dass
schädliche Auswirkungen auf die Umwelt minimiert
werden (Klima, Biodiversität, Landnutzung,
Schadstoffe, Wasserverbrauch und -qualität).
Abbildung 7: Effektivität der strategischen Ausrichtungen hinsichtlich
der fünf ressourcenpolitischen Ziele
Quelle: eigene Darstellung anhand Parmenides EIDOSTM
Abbildung 8 lässt erkennen, dass die Handlungsansätze
Regionalisierung und Ökologische Modernisierung die fünf
ressourcenpolitischen Ziele am ehesten erreichen würden.
Der Handlungsansatz Rohstoffsicherung schneidet bei der
geschätzten Zielerreichung am schlechtesten ab. Dabei
gibt es allerdings keine Unterscheidung bezüglich der
Wichtigkeit der einzelnen Ziele.
 Verdopplung der Effizienz: Das Verhältnis
von Wertschöpfung und Materialeinsatz
soll optimiert werden um Abhängigkeiten zu
verringern, neue Marktchancen zu erschließen
und Umweltwirkungen zu mindern.
 Globale Gerechtigkeit: Für jeden Menschen
auf der Welt sollte die gleiche Menge
Materialien und Rohstoffe und der gleiche
Anteil am globalen Senken-Potential zur
Verfügung stehen; negative Umwelteffekte des
Konsums sollten nicht verlagert werden.
Abbildung 8: Effektivität der strategischen Ausrichtung hinsichtlich
einzelner Ziele
Quelle: eigene Darstellung anhand Parmenides EIDOSTM
 Sozialstandards einhalten: Entlang der
Wertschöpfungskette, von der Extraktion über die
Verwendung bis hin zum Recycling von Materialien
sollten Sozialstandards eingehalten werden.
Auch hier ist anzumerken, dass die Evaluierung der strategischen Ausrichtungen hinsichtlich ressourcenpolitischer
Ziele die Ansichten einer Gruppe widerspiegelt. Die Bewertung mag bei unterschiedlichen Experten anders ausfallen.
38
Nicht ganz unerwartet bewertet die Gruppe, dass der
Handlungsansatz der Rohstoffsicherung dazu führt, dass
die Versorgung von natürlichen Ressourcen und deren
Wettbewerbsfähigkeit eher sichergestellt ist als einer der
anderen Handlungsansätze.
Abbildung 9: Parmenides Matrix: Effektivität und Robustheit der strategischen Ausrichtungen
Quelle: eigene Darstellung anhand Parmenides EIDOSTM
Parmenides Matrix
Die im Rahmen der beiden vorangehend dargestellten
Schritte – Wind Tunneling und Analyse der Effektivität der
Handlungsansätze – stellen jeweils für sich genommen
wichtige Entscheidungsparameter dar. Wie gut erfüllt ein
Handlungsansatz die gesteckten Ziele? Wie gut kann sich
ein Handlungsansatz in "alternativen Zukünften" entfalten?
Die Darstellung beider entscheidungsrelevanter Perspektiven in einer einzelnen Visualisierung erlaubt es, beide Kriterien "gleichberechtigt" in unsere Entscheidungsfindung
eingehen zu lassen.
Wie Abbildung 9 zeigt, sind im oberen rechten Quadranten
die Handlungsansätze Ökologische Modernisierung und
Regionalisierung zu finden, die sowohl ressourcenpolitische Ziele erreichen als auch eine hohe Szenario-Robustheit aufweisen. Dematerialisierung und Dienstleistungsgesellschaft im oberen linken Quadranten sind ebenfalls
effektiv, allerdings wenig beständig hinsichtlich der Umfeldentwicklungen, wie in den Szenarien definiert.
39
4
Fazit und Ausblick
Die Umfeldszenarien stellen eine Möglichkeit dar, denkbare zukünftige Umfeldveränderungen stärker in einen
Strategieprozess zu integrieren. Der strukturierte partizipative Ansatz, der für den Prozess gewählt wurde, forderte
Engagement und Zeit der im Prozess beteiligten Stakeholder und Experten. Dank ihrer Einsatzbereitschaft und der
Offenheit, ihr Wissen und ihre Einschätzungen zu teilen,
konnten diese vorliegenden Ergebnisse generiert werden.
Der gewählte Prozess hat vor allem dazu geführt, ein systematisches Denken in Alternativen bei den Beteiligten zu
fördern. Sinnvollerweise steht ein solcher Prozess zeitlich
vor der Erarbeitung von Politikprogrammen, um Orientierung zu schaffen, Denkanstöße zu generieren, die richtigen
Fragen zu stellen und unterschiedliche Meinungsbilder mit
einfließen zu lassen.
Der partizipative Ansatz machte auch konsensuale Ergebnisse und erkenntnisreiche Diskussionen mit Stakeholdern
divergierender Sichtweisen möglich, und öffnete Raum
für Aushandlungsprozesse und die Reduktion potentieller
Konflikte. Insofern entsteht eine Art "Kollateralnutzen" des
Prozesses: Die beteiligten Stakeholder lernen die Perspektiven und Weltsichten der "anderen" in Bezug auf Bewertungen, Kausalitäten und Verhandlungsspielräume kennen.
Für die Entwicklung inklusiver und ganzheitlicher Politiken
wird insofern eine gute Grundlage gelegt. Im Mittelpunkt
eines solchen Prozesses steht die Transparenz und Offenheit von Entscheidungsoptionen sowie das Abwägen und
40
„Durchspielen“ von unterschiedlichen Handlungsoptionen.
Auf diese Weise haben politische Entscheidungsträger die
Möglichkeit auf einer abstrakten Metaebene die Komplexität eines politischen Handlungsfeldes zu überblicken und
häufig sehr tiefgehend und detailliert diskutierte Einzelaspekte in einem entsprechend komplexen Umfeld zu verorten und zu beurteilen.
Letztendlich ist mit einem solchen szenariobasierten Strategieentwicklungsprozess der Versuch für eine methodische Herangehensweisen unternommen worden, Politikinnovationen über die Integration unterschiedlicher, in ihren
Aus- bzw. Wechselwirkungen miteinander verbundener
Politikbereiche in einen transparenten und multiperspektivischen, von einem Denken in Optionen gekennzeichneten
Strategieprozess möglich zu machen. Das Potential eines
solchen Prozesses liegt unseres Erachtens in drei Bereichen:
 Ermöglichen neuer Formen politischer
Aushandlungsprozesse durch partizipatives
Zusammenarbeiten und Neu-Erschaffen
 Erhöhen der Reaktionsfähigkeit von Politik durch
systematisches Durchdenken möglicher Zukünfte
 Ermöglichen von innovativen politischen
Lösungen durch systematisches Denken
in konsistenten Optionsräumen
5
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41
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