Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag
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Ryōsuke Ōhashi Kire Ryōsuke Ōhashi Kire Das Schöne in Japan Aus dem Japanischen von Rolf Elberfeld 2., überarbeitete und ergänzte Auflage 2014 Wilhelm Fink Umschlagabbildung: Ogata Kôrin, Rote und weiße Pflaumenblüten (linke und rechte Hälfte) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Lektorat und Satz: Eveline Cioflec, Durban Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5662-5 INHALTSVERZEICHNIS VORWORT ZUR NEUAUFLAGE .................................................................... 9 VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE .............................................................. 12 EINFÜHRUNG: DIE ‚UNVERGÄNGLICHE BLÜTE‘ IM NÔ .............................. 17 Nô-Spiel und kire .............................................................................. 17 Die Nô-Maske ................................................................................... 21 Das Naturschöne als Kunst ............................................................... 23 I NATÜRLICHKEIT UND GESTALTUNG IN DER FRÜHEN JAPANISCHEN KULTUR ............................................................................................. 27 Shintô und Natur ............................................................................... Der Kamosu-Schrein ............................................................................... Der Festplatz ........................................................................................... Izumo- und Ise-Schrein ........................................................................... Die Kultur des Festlands ................................................................... Die Tempelanlage des Hôryû-ji .............................................................. Das Sahoji-Tor des Tôdai-ji .................................................................... Das Große Südtor des Tôdai-ji................................................................ Die Torwächterfiguren des Großen Südtores .......................................... Die Pagode des Kôfuku-ji ....................................................................... Die Gegenbewegung des Heimischen ............................................... ‚Heimat‘ bei dem Dichter Ki no Tsurayuki ............................................ Die Phönix-Halle des Byôdô-in .............................................................. Kunsthandwerkliche Schönheit............................................................... Eine Kultur der Sehnsucht ...................................................................... Das esoterisch-buddhistische Element .............................................. Der Fudô-myôô im Tô-ji ......................................................................... Die gestaltende Kunst des Esoterischen Buddhismus ............................. Der Esoterische Buddhismus und das Naturschöne ................................ 27 27 29 31 35 35 39 40 42 44 45 45 47 49 51 52 52 55 58 6 INHALTSVERZEICHNIS II DIE ÄSTHETIK DES KIRE ‒ DER RYÔAN-JI-STEINGARTEN ...................... 61 Kire 1: Die Gestaltung der Gestaltlosigkeit ...................................... 61 61 63 64 Die Figur des Fudô-myôô und des Arhat ................................................. Der Trockengarten ................................................................................... Der Steingarten des Ryôan-ji ................................................................... Kire 2: Die Zeitlichkeit ..................................................................... Das Vertrocknenlassen des natürlichen Lebens ....................................... Das Ikebana ............................................................................................. Die Mauer des Ryôan-ji-Gartens ............................................................. Kire 3: Die Empfindung .................................................................... Fûga ‒ Die poetische Anmut ................................................................... Kire-tsuzuki bei Bashô ............................................................................. Kire 4: Das ‚Spiel‘ ............................................................................ 67 67 69 70 73 73 77 Jenseits von Kunst und Religion.............................................................. Kire und asobi ......................................................................................... ‚Spiel‘ und Vergänglichkeit..................................................................... 78 78 80 83 III SCHÖNHEIT UND ZEIT ‒ DIE ENTFALTUNG DES KIRE IN DER NEUZEIT ............................................................................................ 87 Shôji ‒ Die Einheit von ‚Leben und Tod‘ ......................................... Kirschblüten und Ahorn von Tôhaku ...................................................... Die gegenseitige Durchdringung von Diesseits und Jenseits................... Die vier Alten vom Berg Shang von Tôhaku ........................................... Kata ‒ Die stilisierte Form ................................................................ Das Buch vom Schwert-Weg: Hagakure................................................. Kire und kata ........................................................................................... Windgott und Donnergott von Sôtatsu..................................................... Ichigo-ichie ‒ Das einmalige, unwiederholbare Zusammentreffen .......................................................................... Der Tee-Weg ........................................................................................... Die Tee-Räume Bôsen und Teigyoku-ken ................................................ Die Tee-Meister Rikyû und Enshû .......................................................... Jô und hijô ‒ Das Humane und das Inhumane .................................. Die Rollbilder von Sôtatsu und Kôetsu ................................................... Rote und weiße Pflaumenblüten von Kôrin ............................................. Asobi ‒ Die Welt des ‚Spiels‘ ........................................................... Der Farbholzschnitt ................................................................................. Die Buchillustrationen von Hokusai ........................................................ 87 87 90 93 95 95 96 97 102 102 103 107 109 109 112 116 116 117 INHALTSVERZEICHNIS Tiger im Schnee von Hokusai ................................................................. Das letzte ‚Spiel‘ ..................................................................................... 7 120 122 IV DIE ÄSTHETIK DES KIRE UND DIE GEGENWART .................................... 125 Die gealterte Neuzeit ......................................................................... 125 Altern als neuzeitliches Problem............................................................. 125 Die Darstellung des alten Menschen bei Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer ................................................................................. Das Selbstporträt des alten Hokusai........................................................ 126 130 Eigenwelt und Fremdwelt ................................................................. 132 Geisha-Bilder von van Gogh und Takahashi .......................................... 132 Aus Also sprach Zarathustra .................................................................. 135 Der Realismus in der japanischen Moderne............................................ 138 Der japanische Modernismus ............................................................ 138 Das ‚verlorene Schaf‘ ............................................................................. 138 Die Übernahme der europäischen Architektur ........................................ 141 Valérys Gedanken zur Architektur ......................................................... 143 Kire und die moderne Welt ............................................................... 145 Die Hermeneutik des iki.......................................................................... 145 Das Verhältnis von iki und kire............................................................... 147 Kire als Ort der Kunst ............................................................................. 148 Die Architektur von Andô Tadao............................................................ Kire als neue Möglichkeit der Moderne.................................................. 149 152 EIN TIEFERES VOM TOD – ZU MISHIMAS HARAKIRI IM HINBLICK AUF KIRE ............................................................................................ 154 1 Der Freitod Mishimas .......................................................................... 154 2. Geständnis einer Maske ...................................................................... 157 3. Mishimas Film Patriotismus ............................................................... 158 4. Mishimas Regelbruch in seinem Sterberitual...................................... 161 5. Ein Tieferes vom Tod ......................................................................... 163 „LICHT“ UND KIRE. BUDDHISMUS UND SHINTÔISMUS ALS QUELLE DES JAPANISCHEN KUNSTSINNES ....................................................... 166 1. Ex oriente lux? – Gotische Kathedrale und Tee-Zimmer .................... 166 2. Das göttliche Licht und das natürliche Licht ...................................... 171 3. Natur und Kunst auf dem Kunst-weg (gei-dô) .................................... 173 4. Der shintoistische Ästhetiksinn als fundamentale Schicht des kire .... 177 8 INHALTSVERZEICHNIS ANMERKUNGEN ......................................................................................... 183 NACHWORT DES ÜBERSETZERS ................................................................. 189 NACHWORT DES ÜBERSETZERS ZUR ERSTEN AUFLAGE ............................. 191 ZEITTAFEL .................................................................................................. 195 GLOSSAR .................................................................................................... 196 AUSWAHL WEITERFÜHRENDER LITERATUR ............................................... 198 ABBILDUNGSNACHWEISE ........................................................................... 201 REGISTER DER NAMEN UND TITEL ............................................................. 204 VORWORT ZUR NEUAUFLAGE Es ist zwanzig Jahre her, dass die 1. Auflage des vorliegenden Buchs erschien (Köln, 1994). Zwischenzeitlich wurde ich immer wieder und von vielen Seiten gefragt, ob und wie das vergriffene Buch noch zu finden wäre. Ich selber habe daher einige Male antiquarisch Exemplare des eigenen Buchs gesucht. Teils aus subjektiven, teils aus objektiven Gründen blieb die Zeit bislang jedoch unreif, um eine Neuauflage erscheinen zu lassen. Was die objektiven Gründe betrifft: Ein Buch hat sein eigenes Schicksal, wie man oft sagt. Es beginnt, sobald es erschienen ist, ein vom Autor unabhängiges Leben zu haben. Wie es das Interesse der Leser findet und in der Leserwelt akzeptiert wird, ist ein wesentlicher Teil seines Schicksals, auf das der Autor, wenn überhaupt, dann nur noch am Rande einwirken kann. Diese objektiven Gründe waren schon recht bald weitgehend geklärt, da, wie oben gesagt, die Nachfrage durchaus gegeben war. Die subjektiven Gründe brauchten allerdings etwas länger. Mit letzteren meine ich, dass die im Buch dargestellten Gedanken gewachsen sind und sich weiter entwickelt haben. Gerade weil das Buch eine Gärungsquelle im Prozess der Gedankenentwicklung blieb, konnte ich längere Zeit nicht darüber entscheiden, welcher Stellenwert einer Neuauflage zukommen würde. Die zwei in dieser Auflage aufgenommenen Nachträge, der Vortrag zum 200. Todesjahr Heinrich Kleists auf dem Kongress der Kleist-Gesellschaft, und der als Auftakt der Salzburger Festspiele 2013 gehaltene Vortrag, beide in überarbeiteter Fassung, führen einige neue Aspekte des kire ein, und geben einen gewissen Einblick in das, wie das kire von mir inzwischen kire weiter gedacht wurde und wird. Beim Terminus kire, wie dieser im Buch thematisch ausgeführt wird, handelt es sich um die Verkürzung des Fachterminus kire-tsuzuki (SchnittKontinuum) in der japanischen Dichtung. Hier wird diese Ausführung nicht wiederholt. Es sei nur darauf hinzuweisen, dass mit ihm ein künstlerischer Eingriff in die Natur eines gegebenen Gegenstandes gemeint wird. Durch diesen Eingriff wird die gegebene „Natürlichkeit“ des genannten Gegenstandes scheinbar „abgeschnitten“, aber so, dass dessen ursprüngliche bzw. innere Natürlichkeit künstlerisch sichtbar gemacht und zum Vorschein gebracht wird. Das Resultat ist eine besondere Form der natürlichen Schönheit, wie sie in der japanischen Architektur, Bildhauerei, Malerei, Dichtung, im Tee- und Blumen-Weg usw. gestaltet wird. Was wichtig ist, ist, dass dabei Natur und Kunst oder Natur und Technik nicht entgegengesetzt werden. Denn die „Natürlichkeit“ im spezifisch-fernöstlichen Sinne gilt hier als die letzte zu erzielende Ausdrucksform der Kunst und Technik. Diese eigens im Gebiet der Kunst in Japan herausgestellte Ansicht behalte ich zwar einerseits nach wie vor bei. Aber andererseits sehe ich jetzt das 10 VORWORT ZUR NEUAUFLAGE Schnitt-Kontinuum nicht nur im Gebiet der Kunst, sondern auch im Gebiet der sozialen sowohl wie auch persönlichen Ethik, die an die religiöse Existenz anschließt. Ich beobachte das Verhältnis von kire, einem diskontinuierlichen Kontinuum, sowohl im Verhältnis der Menschen zueinander, wie auch in dem von Menschen und anderen Lebewesen, von den Dingen im Kosmos, usw. So habe ich z. B. in meinem neueren Hegel-Buch Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre (Freiburg i. Br., 2009) den Begriff „sensus communis“ als „sensus communis non-communis“ bestimmt und neu zu entfalten versucht. Jeder sensus communis, sowohl in der Sinneslehre wie auch in der Gesellschaftslehre, ist ein Mit-Gefühl mit den Anderen, wobei hiermit sei es die anderen Sinne, sei es die anderen Menschen gemeint sind. Das „Mit-“ oder „mit“ des „Mit-Gefühls mit den Anderen“ verweist auf die Andersheit der Anderen, somit auf den Bereich des „Schnitt-Kontinuums“ in verschiedenen Sinndimensionen. Daraus ergibt sich: Selbst die einander vertrautesten, mit einem engen Gemeingefühl miteinander verbundenen Menschen sind auf bestimmter Ebene doch die Anderen, die in einer Distanz zueinander stehen müssen. Sie bilden das Verhältnis der diskontinuierlichen Kontinuität. Umgekehrt: Selbst die einander hassenden Menschen stehen eben durch ihren Hass und Antagonismus aufeinander bezogen, und jede Beziehung ist als Beziehung eine gewisse Form des Kontinuums. Dasselbe könnte auch von den gefühllosen Dingen gesagt werden. Jedes, was ist, und auch die Betrachtungsweise zu diesem, kann sub specie des kire phänomenologisch neu beleuchtet werden. Im oben genannten Hegel-Buch habe ich den Mahayana-Buddhistischen Begriff „Compassion“ als den endgültigen Ausdruck für die verschiedenen Schichten des „sensus communis non-communis“ angeführt. Nach der buddhistischen Doktorin bedeutet dieser Begriff das große Gemeingefühl, das der Buddha und Boddhisattva für die leidenden und zu errettenden Lebewesen haben. Wenn der religionsmythologische Charakter dieser Figuren entmythologisiert, ihre dogmengeschichtlichen Hintergründe abgebaut und alles von Wurzel aus, d. h. radikal, durchaus sachgemäß begriffen wird, eröffnet sich ein Denkhorizont, in dem die Seinsweisen von Menschen und Gesellschaftsformen, von den Dingen und der Umwelt, etwas anders beleuchtet werden als in der konventionellen Ethik und Metaphysik. Um die Eröffnung dieses Denkhorizontes geht es in der „Phänomenologie der Compassion“, mit der ich mich seit einiger Zeit beschäftige. Was ich einst als die Grundstruktur der künstlerischen Gestaltung in der japanischen Kunst beobachtet habe, kire, gilt jetzt als ein Eckstein der Idee der genannten Phänomenologie. Meine neueren zwei-bändigen Schriften, Schnittpunkte (1. Bd.: Dimensionen des Ästhetischen, Nordhausen, 2013; 2. Bd: Deutsch-Japanische Denkwege, ebd., 2014), gelten als Vorarbeiten zu dieser Phänomenologie. Der Titel des 1. Bandes, Dimensionen des Ästhetischen, verweist, wie der Leser gleich entnehmen wird, direkt auf die verschiedenen Dimensionen des Sinnlichen wie der Anschauung, der Wahrnehmung, des Pathos, der Gesinnung, des Gemüts, kurz, auf die Dimensionen der „Compassion“. VORWORT ZUR NEUAUFLAGE 11 Da der Gedanke des kire in dieser Weise für mich allmählich als eine Gärungsquelle einer Phänomenologie der Compassion ausdrücklich lokalisiert wird, habe ich die vorliegende Neuauflage erwünscht. Der Lektor des Fink Verlags, Herr Andreas Knop, ist diesem Wunsch freundlicherweise entgegengekommen, wofür ich mich herzlich bedanke. Herrn Prof. Dr. Rolf Elberfeld danke ich für das neue „Nachwort des Übersetzers“. Er ist inzwischen ein eng verbundener, ausgezeichneter Kollege in verschiedenen Projekten, was auch als ein Beleg für die Entwicklung in zwei Jahrzehnten gilt. Frau Dr. Eveline Cioflec, die selbst ausgewiesene Philosophie-Forscherin und ebenfalls eine meiner Mitarbeiterinnen ist, gilt besonderer Dank. Sie hat wie auch den oben genannten Bd. 1 der Schnittpunkte diese Neuauflage in sauberer und einwandfreier Weise lektoriert, und zwar nicht nur die äußerliche Herstellung der Textgestalt, sondern auch mit inhaltlicher Beratung und Vorschlägen. Tübingen, im Mai 2014 VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE Im Herbst des Jahres 1978 nahm ich an einer zweiwöchigen Rundreise durch ganz West-Deutschland teil, wie sie die Alexander von Humboldt-Stiftung jedes Jahr für ihre Stipendiaten veranstaltet. Es war meine erste große Reise in Deutschland und zugleich meine erste Erfahrung mit der Kunst. Die Entstehungsgeschichte des vorliegenden Buches geht auf diese Reise zurück. Was zu Beginn meine Aufmerksamkeit auf sich zog, war sicherlich keine Neuentdeckung: dass die Häuser in den unterschiedlichen Regionen, wie Bayern, Baden, Rheinland, Westfalen, in ihrem Baustil und Baumaterial bis hin zu ihrer Farbe ganz verschieden sind und jeweils ihren eigenen Charakter haben. Der Baustil war offensichtlich nicht nur mit dem Baustoff und dem regionalen Klima, sondern auch mit den Bräuchen und dem Lebensstil des jeweiligen Gebietes verbunden. Mich erstaunte damals, dass der Stil der im Inneren der Kirchen aufbewahrten Gemälde und Skulpturen oft mit dem Stil der Kirchenarchitektur übereinstimmte. Allmählich bemerkte ich, dass das Gewicht des vorherrschenden Genres in den verschiedenen Zeiten, etwa der Gotik oder der Romanik, nicht immer gleich war. Ich begann mich weiterhin zu fragen, was Stil überhaupt sei, woher der Stilwandel komme, wieso dieses oder jenes Genre in dieser oder jener Zeit zu Beginn oder erst später blühte. Damals kannte ich weder das Buch von Semper Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten noch Riegls Schrift Stilfragen und auch nicht das Buch Verlust der Mitte von Sedlmayr. Die großen Werke in den Museen und Kirchen, die ich während der Reise sehen konnte und die mich tief beeindruckten, gaben mir eine erste Vorstellung von dem Phänomen des Stils. Dieser, so dachte ich damals, sei vielleicht das zum Zenit gebrachte und dann gefrorene Werden der ‚Zeit‘ überhaupt, somit ein Phänomen der ‚Zeitigung‘ im besonderen Sinn. Ich kann diese erste und sehr vereinfachte Anschauung, auch wenn sie mir jetzt allzu naiv erscheint, im Grundsatz heute noch nicht ganz aufgeben. Ich erinnere mich, wie ich gegen Ende der Rundreise vor dem Kaiserdom in Bamberg, an dem man den geheimnisvollen Übergang vom romanischen zum gotischen Stil wie ein Drama verfolgen kann, lange stehenblieb. Die Statuen im Inneren des Doms hielten mich ebenfalls lange gefangen. Ich verbrachte dort beinahe den ganzen Tag und begann, meine Eindrücke und Gedanken über den Stil vor allem der Gotik zu notieren. Nach der Reise verfasste ich ein Referat „Über die deutsche Gotik“. Mit Scham erinnere ich mich heute daran, dass ich so mutig war, diesen Essay vom Niveau einer Seminararbeit an zwei große Philosophen und Kunstkenner VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE 13 zu schicken. Otto Pöggeler und Heinrich Rombach antworteten mir mit freundlichen Bemerkungen; darauf schrieb ich nochmals an beide, die sich wiederum die Mühe machten und mit weiteren Gesichtspunkten und Interpretationen antworteten. Sowohl Pöggelers treffende Hinweise, vor allem auf das Buch von Otto von Simson über die Kathedrale, als auch die eindringlich phänomenologische Interpretation von Rombach zur Struktur des gotischen Baus gaben mir neue, wichtige Anstöße zur Weiterbeschäftigung mit der Stilfrage und mit der Kunst überhaupt. Nach meiner Heimkehr nach Japan schrieb ich ein kleines Buch mit dem Titel Wie zeitigt sich das Schöne?. Ihm lagen hauptsächlich meine ersten Erfahrungen während der Humboldt-Reise zugrunde, die ich aufgrund der Anregungen von Pöggeler und Rombach weiter bearbeitet hatte. Bei meiner weiteren Beschäftigung mit der Kunst, die ich neben meiner Hauptaufgabe, der philosophischen Forschung, betrieb, wurde ich ständig von Hartmut Buchner – mein Philosophie-Lehrer in der Münchner Studienzeit und zugleich ein Kenner japanischer Kunst – angeregt. Was ich von ihm lernte, betraf nicht in erster Linie die Kenntnisse, sondern das ‚Auge‘ für die Kunst. Man kann dieses ‚Auge‘ eines anderen zwar nicht erlernen, aber man kann lernen, dass zum Sehen eines Kunstwerkes ein eigenes ‚Auge‘ nötig und dieses zu pflegen wichtig ist. Weiterhin denke ich gerne an meine Freundschaft mit Wolfgang Welsch, der mir mit seinen ästhetischen Gedanken und seinem lebendigen Sinn für die Phänomene des modernen Zeitalters, wie sie in seinen Publikationen erörtert werden, ständig Anregungen gab. Von einigen Freunden wurde ich zu einem zweiten Buch über die Kunst ermuntert, um mein Thema diesmal anhand der japanischen Kunst weiter zu vertiefen. Dieses 1986 erschienene Buch liegt der hier vorgestellten deutschen Übersetzung zugrunde. Die letzten beiden Kapitel des Originals, bei denen es sich um Vorträge handelt, die ich in Deutschland gehalten habe, wurden durch ein neues Schlusskapitel ersetzt. Darin versuche ich an zwei Künstlern der Gegenwart zu zeigen, dass das Problem des Stils in der traditionellen Kunst Japans heute noch Aktualität besitzt. Im Anschluss an diese Erkenntnisse, denke ich mittlerweile, ist es möglich, auch den großartigen Stilwandel von der Romanik zur Gotik, den ich vor nunmehr 16 Jahren am Bamberger Kaiserdom bewundern konnte, nicht bloß als Prozess des ‚Verlusts der Mitte‘, wie Sedlmayr meinte, zu betrachten, sondern als Phänomen der Zeitigung der Zeit. Zum Schluss möchte ich diejenigen erwähnen, die eine deutsche Ausgabe des Buches ermöglicht haben. Mein Dank gilt zuerst und besonders Rolf Elberfeld, dem Übersetzer. Ohne seine Kompetenz des Japanischen und Chinesischen, seine Fachkenntnisse der ostasiatischen geistigen Welt und ohne seinen Eifer wäre die deutsche Übersetzung nie zustande gekommen. Elmar Weinmayr danke ich für sein erstes vermittelndes Anfragen beim DuMont Buchver- 14 VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE lag. Für die sorgfältige Betreuung von Britta Lanzerath, der Lektorin des DuMont Buchverlags, sowie für die gewissenhafte redaktionelle Bearbeitung und japanologische Überprüfung durch Jörg Quenzer bin ich ebenfalls herzlich dankbar. Auch Eberhard Ortland möchte ich für seine treffenden Vorschläge danken, die im letzten Stadium der Korrekturarbeiten dazu beitrugen, dem Buch seine endgültige Gestalt zu geben. Für mich ist diese deutsche Ausgabe ein bescheidenes Zeichen meines Dankes an die eingangs Genannten. Wenn dieses Buch zum Verständnis der japanischen Kultur und Kunst sowie für die gegenwärtige Diskussion in der Ästhetik in Deutschland etwas beitragen kann, bin ich froh und dankbar zugleich. Kyôto, im Juli 1994 „Die Welt ist tief, und tiefer als der Tag gedacht.“ Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 3. Teil: Das andere Tanzlied EINFÜHRUNG: DIE ‚UNVERGÄNGLICHE BLÜTE‘ IM NÔ Nô-Spiel und kire Die Bühne des Nô-Theaters ist eine kleine Welt von etwa 30m2. Was sie charakterisiert, was gleichsam über ihr schwebt, ist yûgen – ein Empfinden, das auch den Menschen im modernen Japan kaum mehr zugänglich ist. Yûgen, oft als ‚geheimnisvolle Tiefe‘ übersetzt,1 bezeichnet den Kern des ästhetischen Gefühls in der traditionellen japanischen Kunst. Dieser Ausdruck ist begrifflich kaum zu erklären; im Grunde lässt sich yûgen nur in konkreten Kunstwerken finden und erleben. Dennoch soll im Folgenden versucht werden, diese ‚verborgene Feinheit‘, wie sie sich etwa im Nô-Spiel2 zeigt, andeutungsweise sichtbar zu machen. Als Beispiel soll das Nô-Spiel Izutsu („Brunnenrand“) dienen, von dem es heißt, es bringe diese besondere Atmosphäre mit am besten zum Ausdruck. Der Titel des Stückes stammt aus einem Gedicht, das im Ise-monogatari (Erzählungen aus Ise) überliefert wird und wie folgt lautet: Tsutsu-izutsu izutsu ni kakeshi maro ga take Suginikerashina imo mizaru ma ni Am Rande des Brunnens, Am Brunnenrand verglichen wir Einst unsere Größe. Ich bin viel größer geworden, Seit ich dich nicht mehr sah.3 Im erwähnten Nô-Spiel tritt ein reisender Mönch vor einen Brunnen und erzählt, dass sich hier die Ruinen des Ariwara-dera fänden, wo einst der berühmte Dichter Ariwara no Narihira gelebt hatte. Kurz darauf erscheint auf der Bühne der Geist der Geliebten dieses Dichters in Gestalt eines Mädchens, erzählt von früheren Tagen, rezitiert jenes Gedicht und verschwindet wieder. Im Traum des Mönches, der sich dort schlafen legt, erscheint nochmals derselbe Geist. Nun führt die Gestalt einen Tanz im Gewand des Dichters Ariwara auf. Dieser Tanz ist Ausdruck ihrer sehnsüchtigen Erinnerung an die vergangenen Zeiten. Sie blickt in den Brunnen, an dessen Rand sie in ihrer Kindheit mit Ariwara die Körpergröße verglichen hatte. In diesem Augenblick ertönt die Glocke des Tempels, und der Mönch erwacht aus seinem Traum. Die hier beschriebene Szenenabfolge zeigt ein typisches Muster des NôSpiels, den Dialog zwischen einem Geist und einem realen Menschen. Traum und Wirklichkeit durchdringen und begegnen sich, und die Spannung für den Zuschauer liegt viel mehr in diesem Charakteristikum als in der Entwicklung des Stückes. Der szenische Ablauf ist nicht auf einen Spannungsbogen hin angelegt wie in westlichen Theaterformen, so dass die zeitliche Aufeinanderfolge im Nô nicht linear sein muss. Auch der Zuschauer wird im Dialog zwi- 18 EINFÜHRUNG: DIE ‚UNVERGÄNGLICHE BLÜTE‘ IM NÔ Szene aus einem Nô-Spiel schen dem Geist des Verstorbenen und dem realen Menschen in die Welt des Traumes hineingezogen. Er beginnt dort für eine Weile mitzuspielen. Beim Gehen auf der Bühne lässt der Schauspieler seine Schritte lautlos voran gleiten. Dieses langsame, gleitende Schreiten beraubt das gewöhnliche Gehen, das dem Fluss der Zeit entspricht, seiner Realität. Doch genauer betrachtet, erkennt man in der Art dieses Schreitens die äußerste Stilisierung des menschlichen Gehens. Während der Schauspieler die Zehen des Fußes anhebt, gleitet er mit dem ganzen Fuß voran. Jeder Schritt, sowohl des rechten wie des linken Fußes, wird mit dem Senken der Zehen abgeschlossen und somit ‚abgeschnitten‘. Mit diesem kire (‚Schnitt‘)4 aber beginnt zugleich der nächste Schritt, so dass das Voranschreiten fortgesetzt wird. Es ist also eine Kontinuität zu erkennen, die in sich ein kire, einen ‚Schnitt‘, birgt, da der eine Fuß nicht weiter vorangehen kann, bis nicht der andere seinen Schritt gemacht hat. Das Schreiten des Menschen ist jedoch nicht nur im räumlich-zeitlichen Sinn eine ‚diskontinuierliche Kontinuität‘, denn letztlich spiegelt sich in ihm auch sbôji, der als Einheit verstandene Zusammenhang von ‚Tod‘ (ji, shi) und ‚Leben‘ (sbô) bzw. ‚Geburt‘.5 Der Rhythmus des Lebens ist untrennbar verbunden mit den Bewegungen des Ein- und Ausatmens, die im Verhältnis von ‚Schnitt‘ und ‚Kontinuität‘ zueinander stehen. Der Rhythmus des Atmens zeigt, dass sowohl der Atem als auch das Leben – im Japanischen haben beide Wörter die gleiche Aussprache: iki – nicht eine endlose Kontinuität besitzen, sondern endlich sind. EINFÜHRUNG: DIE ‚UNVERGÄNGLICHE BLÜTE‘ IM NÔ 19 Im Nô-Theater ist das kire-tsuzuki (‚Schnitt-Kontinuum‘) des menschlichen Gehens zu einer kata (‚stilisierten Form‘) geworden. Auf den Begriff der kata in der japanischen Kultur werden wir in einem späteren Kapitel näher eingehen. An dieser Stelle soll der Hinweis genügen, dass in dieser stilisierten Form alle sekundären Elemente ‚abgeschnitten‘ sind und nur das Wesentliche, die Grundbewegung, erhalten bleibt. Das Gehen des Schauspielers auf der NôBühne zeigt eben ein solches kire. Die gleiche Struktur ist auch in allem anderen zu entdecken, was sich auf der Nô-Bühne zeigt. Die Bühne selbst bildet einen heiligen Bereich. Der Kies, der sie umgibt, ‚schneidet‘ ihn von der gewöhnlichen Welt ab. Diese Abtrennung des heiligen Gebietes wird jedoch überbrückt von einer kleinen Leiter, die an der Vorderseite der Bühne in den Kies hinunterführt. Ursprünglich wurde sie vom Shôgun benutzt, um auf die Bühne zu gelangen und die Schauspieler mit Preisen zu ehren. Der Kies erweckt den Eindruck von Wasser, das die Bühne umgibt und vom Schmutz der gewöhnlichen Welt reinigt. Ähnlich der Katharsis werden Heiliges und Weltliches voneinander ‚abgeschnitten‘, zugleich aber bilden Wasser und Brücke eine Verbindung zwischen den beiden Bereichen. Im Nô-Spiel selbst spiegelt sich dieses Verhältnis dann in der Begegnung von Mensch und Geistwesen. Die im hinteren Teil der Bühne sitzenden Musiker spielen Bambusflöte, kleine und große Handtrommel sowie Fasstrommel. Sie bringen jeder für sich mit ihren Instrumenten und Stimmen einzelne Töne hervor, die an- und ausklingen. In der Nô-Musik gibt es keine Kontinuität von verschiedenen Tönen, die melodiös miteinander verbunden sind. Vielmehr ist jeder Ton eigenständig, ‚abgeschnitten‘ vom andern. Denn wenn ein Trommelschlag und der dazugehörende stimmliche Laut des Trommlers über die Bühne tönen, ‚löscht‘ dieser Ton den vorherigen Klang aus, wobei auch er sofort wieder vom Schlag eines anderen Trommlers ausgelöscht wird. Der einzelne Ton, der nicht nachklingt und sich nur für den Augenblick hält, löscht sich gleichsam selbst wieder aus. In einer Schrift des Nô-Meisters Zeami (?1364–?1443), dem Blumen-Spiegel (Kakyô), findet sich ein Abschnitt mit dem Titel „Der Tanz wurzelt in der Gesangsstimme“. Dort heißt es: „Geht der Tanz nicht aus dem Klang der Gesangsstimme hervor, kann kein [besonderes] Gemeingefühl entstehen. (…) Weiterhin gibt es einen Bereich, wo der Tanz endet und sich zurückverbindet mit dem klanglichen Gemeingefühl.“6 Diese Beschreibung gilt auch für die Töne der Musiker. Tatsächlich ist es der Klang der Trommel, aus dem der Tanz kommt und in den er zurückkehrt. Doch zugleich ist dieser Klang das Echo der ‚Stille‘. Zeami beschreibt diese Wirkung wie folgt: „Gerade da, wo aus dem Nachklang des Gesangs heraus der Tanz anhebt, liegt wunderbare Kraft verborgen.“ Die ‚Stille‘ ist der Ort dieses Übergangs, wo alle Töne einmal ‚abgeschnitten‘ werden, um die Bewegung zu gebären. Diese Stille ist die wunderbare Kraft des Übergangs. 20 EINFÜHRUNG: DIE ‚UNVERGÄNGLICHE BLÜTE‘ IM NÔ Die Töne, die im Nô-Spiel erklingen, lassen in gewisser Weise an die ‚Punkte‘ impressionistischer Gemälde denken. Im Nô existiert jeder einzelne Ton nur wie ein einmaliger, einzelner Punkt. Die Impressionisten wollten durch die Farbpunkte den unmittelbaren Eindruck wiedergeben, der inmitten des natürlichen Lichts entsteht. Der eigentliche Unterschied zum Nô besteht nicht zwischen der Räumlichkeit des Sehsinns und der Zeitlichkeit des Hörsinns. Vielmehr liegt der entscheidende Unterschied in der Beziehung von ‚Punkt und Punkt‘. Die ‚Punkte‘ der impressionistischen Gemälde negieren einander nicht, d. h. sie werden nicht voneinander abgeschnitten, auch wenn jeder einzelne Punkt, von der Malmethode her gesehen, eigenständig ist. Die Maler wollten Licht und Schatten darstellen, wie sie in der augenblicklichen Impression erscheinen. Ihnen ist es jedoch nicht gelungen, die ursprüngliche Finsternis als Ursprung des Lichts darzustellen, in welche es zurückkehrt. Auf der Nô-Bühne erscheint diese Finsternis durch das kire, wie es etwa in der Musik, im Schreiten des Schauspielers und in der Raumstruktur zum Ausdruck kommt. Ein weiteres Beispiel hierfür ist das Nô-Gewand. Auf der Bühne, die alle Dekorationen vermeidet, ist der Hauptdarsteller des Stückes in ein geschmackvolles, prächtiges Gewand gehüllt, in dem sich die vollendete Reife der traditionellen kunsthandwerklichen Textilherstellung zeigt. Die schlichte Einfachheit der Bühne und die Farbigkeit des Gewandes bilden mehr als nur einen simplen Gegensatz. Denn trotz der prachtvollen Farben vermeidet das Muster des Nô-Gewandes jede Aufdringlichkeit. In dem Gewand zeigt sich eine Schlichtheit, die mit der Schlichtheit der Nô-Bühne wesentlich verbunden ist. Gemeinsam wirkt letztere dann nicht mehr kärglich, sondern wird zu einer unendlich reichen Schlichtheit. Pracht und Schlichtheit, obwohl sie sich eigentlich widersprechen, durchdringen einander, gleichwohl sie voneinander ‚abgeschnitten‘ sind und somit eigenständig bleiben. Auch hier zeigt sich wieder das Phänomen des kire-tsuzuki. Dieses kire-tsuzuki (‚Schnitt-Kontinuum‘) ist, um es nochmals zu betonen, ein Ausdruck der Seinsweise des Menschen und dessen shôji (‚Leben und Tod‘). Der bereits erwähnte Nô-Meister Zeami, der die Kunst der zirzensischtheatralischen Volksbelustigung des sarugaku zum eigentlichen Nô-Spiel verfeinert und erhoben hat, hatte sich tief mit dieser Einheit von ‚Leben und Tod‘ befasst. Zu seinen Lebzeiten wurde das sarugaku noch als Kunst der Bettler und Armen verachtet. Zur damaligen Zeit herrschten vielerorts Unruhen, und Aufstände erschütterten das Land. Wir können uns heute glücklich schätzen, dass unter solchen Umständen die Kunst von Kann’ami (1333–84) und seinem Sohn Zeami dem Shôgun Ashikaga Yoshimitsu (1358‒1408) auffiel. Zugleich war dies aber sicherlich auch das Ergebnis ihrer äußerst harten Schulung und Mühen. Aufgrund der Gunst des Shôgun vermochte Zeami seine Kunst zu vertiefen; er verfasste das Fûshikaden (Das Überliefern der Blüte in ihren Formen), und es wurde ihm gestattet, seine Kunst vor dem Kaiser Gokomatsu (1377–1433) aufzuführen. Zeami, der einst Bettelschauspieler gewesen war, EINFÜHRUNG: DIE ‚UNVERGÄNGLICHE BLÜTE‘ IM NÔ 21 wusste wohl, dass er diese Auszeichnungen nur seiner Kunst verdankte. Zugleich war er sich im Klaren darüber, dass seine Position nicht durch die Kunst allein zu sichern war, sondern stets abhängig blieb von der Gunst der Machthaber. Als Ashikaga Yoshimitsu starb, endete auch die erste, glorreiche Lebenshälfte Zeamis. Der Sohn von Yoshimitsu, Yoshimochi (1386–1428), begünstigte einen anderen an Zeamis Stelle, der folgende Herrscher, Yoshinori (1394–1441), verbannte ihn schließlich auf die nordjapanische Insel Sado. In einem Theaterstück von Yamazaki Masakazu (*1934) mit dem Titel Zeami wird der große Meister als einer charakterisiert, der als ‚Schatten‘ im ‚Lichte‘ Yoshirnitsus zu leben wählte. Dort werden ihm folgende Worte in den Mund gelegt: „Wenn das Licht verlöscht, wird der Schatten für einen Augenblick schärfer. Danach vergeht er sehr schnell. Doch es hat diesen Augenblick gegeben.“ Heute wissen wir, dass der ‚Schatten‘ Zeami nicht erloschen ist. Anschließend an sein Werk Fûshikaden, das er unter dem ‚Licht‘ von Yoshimitsu schreiben konnte, verfasste er in seiner zweiten, unglücklicheren Lebenshälfte noch zahlreiche weitere Schriften. Vielleicht hatte er bereits zuvor geahnt, dass sich der ‚Augenblick, in dem das Licht verlöscht‘, in der Blütezeit seines Ruhmes spiegeln wird. Er hatte erkannt, dass in jeder Bewegung des endlichen Lebens schon die Stille des Todes anwesend ist und dass diese Stille ursprünglicher ist als die Bewegung. Wer in diesen Ursprung hineinblickt, sieht, dass die Kontinuität des Lebens nur eine scheinbare ist und die Bewegung des Lebens in jedem Augenblick durch die Stille des Todes ‚abgeschnitten‘ wird. Wie sonst hätte Zeami seine Nô-Spiele verfassen können, in denen sich durch Bewegung die Stille abhebt und sich durch die Kontinuität der Bewegung der sie abschneidende ‚Schnitt‘ vertieft. Die Nô-Maske In den Titeln der Werke Zeamis ist oft das Schriftzeichen für ‚Blume‘, ‚Blüte‘ (sino-jap.: ka) enthalten. So in den bereits erwähnten Schriften Fûshikaden und Kakyô, im Shikadô (Der wahre Weg zur Blüte), Shûgyoku-tokka (Das Aufnehmen des Kleinods und Erlangen der Blüte), Kashû no uchi nukigaki (Auszüge aus dem Erlernen der Blüte), Kyakuraika (Die Rückkehr zur Blüte) u. a. Bei Zeami symbolisiert die ‚Blüte‘ das ‚Leben‘. Im Fûshikaden werden Kunst und Gestalt des Schauspielers in seiner Entwicklung vom siebten Lebensjahr an metaphorisch in der Seinsweise der Blüte beschrieben. Die Schönheit dieser Blüte ist yûgen (‚geheimnisvolle Tiefe‘). Von den Zwölfund Dreizehnjährigen sagt Zeami, „dank ihrer kindlichen Gestalt erscheint al-