Glasindustrie in Deutschland

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Glasindustrie in Deutschland
Glasindustrie in Deutschland
Eine Branchenanalyse
Glasindustrie in Deutschland
Impressum
Herausgeber:
Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie
VB 1 – Gesamtleitung/Globalisierung/Industrie
Verantwortlich: Michael Vassiliadis
Redaktion:
Iris Wolf/Tomas Nieber
Abt. Wirtschafts- und Industriepolitik
Kontakt: iris.wolf@igbce.de
Layout: BWH GmbH – Die Publishing Company
Hannover, Januar 2014
Inhaltsverzeichnis
Vorwort.............................................................................................5
Dr. Jürgen Dispan
Glasindustrie in Deutschland...............................................................7
Einleitung................................................................................................................................... 8
1. Entwicklung und Strukturen der Branche ...........................................................14
2. Branchentrends und Herausforderungen............................................................33
3.Fazit .....................................................................................................................................67
Literaturverzeichnis.............................................................................................................70
Michael Vassiliadis
Industriepolitik für den Fortschritt – Erfolgsfaktoren und
Herausforderungen für den Industriestandort Deutschland..................73
1. Industrieorientierte Volkswirtschaft mit
spezifischen Erfolgsfaktoren......................................................................................76
2. Den Industriestandort Deutschland zukunftsfest
machen – Die Herausforderungen..........................................................................85
3. Merkmale einer fortschrittlichen Industriepolitik............................................92
Die Autoren........................................................................................................... 95
Bildnachweis......................................................................................................... 96
3
Glasindustrie in Deutschland
Glasindustrie in Deutschland
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Vorwort
Im Dezember 2012 wurde die Erstellung von Branchenstudien im Organisationsbereich der IG BCE im Rahmen eines HBS Projektes in Auftrag gegeben.
Neben der Glasindustrie wurden auch noch weitere Branchenanalysen in
den Industriebereichen Chemie, Kunststoffverarbeitung, Pharma, Kautschuk
und Papier durchgeführt und in einem Sammelband zusammengefasst. Mit der
Durchführung der Branchenstudien wurden das niedersächsische Institut für
Wirtschaftsforschung e. V. (NIW) in Hannover und das IMU Institut Stuttgart
beauftragt.
Die Fertigstellung der Branchenstudien erfolgte im Herbst 2013 und wurden
den Delegierten des 5. ordentlichen Gewerkschaftskongresses der IG BCE zur
Verfügung gestellt. Damit die Ergebnisse der Branchenstudien effektiv in die
Industriegruppenarbeit der IG BCE einfließen können, haben wir uns dazu entschlossen, die jeweiligen Untersuchungen für jede Branche separat zu dokumentieren. Die vorliegende Branchenstudie »Glasindustrie in Deutschland« soll
den Betriebsräten und industriepolitisch interessierten Kolleginnen und Kollegen die Gelegenheit geben, die Strukturen und Entwicklungen in der Glasindustrie detailliert aufzuarbeiten, zu diskutieren und daraus langfristige strategische Entscheidungen abzuleiten. Zukünftig wird es für gewerkschaftlich orientierte Betriebsräte immer wichtiger, die gesamte Branche in der ein Unternehmen aktiv ist, im Blick zu haben. Die vom IMU Institut Stuttgart erstellte
Studie zeigt auf und erläutert anschaulich, die branchenspezifischen Merkmale
der deutschen Glasindustrie. Besonders positiv hervorzuheben ist, dass in der
vorliegenden Studie die fünf Sparten der Glasindustrie (Flachglasveredelung,
Hohlglas, Spezialglas, Flachglasherstellung und Glasfaser) differenziert analysiert wurden. Aus den Analysen der einzelnen Sparten geht hervor, dass ins­
besondere die Hohlglasproduktion und die Herstellung von Flachglas sehr
energie­intensiv und somit im hohen Maße von den energiepolitischen Rahmen­
bedingungen in Deutschland abhängig sind. Aber auch branchenübergreifende
wirtschafts- und industriepolitische Rahmenbedingungen und deren wechselseitige Bedeutung für die Glasindustrie werden ausführlich in dieser Branchenstudie behandelt.
Im zweiten Teil der Studie werden Branchentrends und Herausforderungen für
die deutsche Glasindustrie beschrieben. Zu den Kernaussagen gehört, dass die
5
Vorwort
deutsche Glasindustrie ihre führende internationale Stellung (zweitgrößte
Exportnation hinter China) nur durch neue Produktinnovationen und mit gut
ausgebildeten Arbeitskräften behaupten kann. Grundlage für die Analyse und
Formulierung von Entwicklungstrends in diesem Abschnitt sind die, im Rahmen
der Branchenstudie durchgeführten, Expertengespräche (mit betrieblichen
Experten, Gewerkschafts- und Verbandsvertretern) und die Auswertung von
branchenbezogener Literatur zu diesem Themenkomplex.
Wir bedanken uns bei der Hans-Böckler-Stiftung für die finanzielle Förderung
der Branchenstudien und die hervorragende Begleitung dieses Projektes. Ein
besonderer Dank geht an das IMO Institut Stuttgart und den Autor der Studie
Dr. Jürgen Dispan. Auch möchten wir uns bei den betrieblichen Experten bedanken, die mit ihrem Fachwissen und der Bereitschaft zur Teilnahme an Interviews
einen wichtigen Beitrag im Rahmen dieser Branchenstudie geleistet haben.
Norbert Mikulski
Industriegruppensekretär Glas und Kautschukverarbeitung
Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie
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Dr. Jürgen Dispan
Glasindustrie in Deutschland
Entwicklung und Strukturen der Branche
Branchentrends und Herausforderungen
Zusammenfassung
Glasindustrie in Deutschland
Einleitung
Glas als Werkstoff, Produkte aus Glas als Vorleistungsgüter oder Konsumgüter,
und damit die Branche »Herstellung von Glas und Glaswaren« haben seit Jahrhunderten einen hohen Stellenwert für Wirtschaft und Gesellschaft. Somit
kann auch die Glasindustrie als traditionelle, alteingesessene und technologisch ausgereifte Branche bezeichnet werden. Gleichzeitig ist der Industriezweig inzwischen relativ stark globalisiert. Große, multinationale Unternehmen
dominieren die wichtigsten Sparten der Glasindustrie. Die Unternehmen der
Branche müssen sich den härteren Bedingungen durch die Globalisierung und
dem stärkeren Wettbewerb auf ihren inländischen Märkten durch Länder wie
China, Indien und der Türkei stellen.
In den meisten Industrieländern weist der Markt für Glas und Glaswaren Sättigungstendenzen auf – hier ist jedoch eine differenzierte Betrachtung nach
Sparten der Glasindustrie notwendig. Die bis vor wenigen Jahren starke Substitution von Glasprodukten, insbesondere von Glasflaschen durch PET-Flaschen,
scheint inzwischen weitgehend abgeschlossen zu sein. Heute versucht die Glasbranche insbesondere mit dem Thema Nachhaltigkeit des Werkstoffes Glas zu
punkten und Märkte zurückzuerobern.
Industrielle Produktion erfordert in den meisten Sparten hohe Investitionen in
Glaswannen (z. B. regelmäßig wiederkehrende Wannenreparaturen) und Fertigungsanlagen. Die Glasindustrie ist eine energieintensive und investitionsgetriebene Branche. Die größten Herausforderungen für die Branche und ihre
Unternehmen liegen in den Themen »Energiekosten« und »internationaler
Wettbewerb und Importdruck«, aber auch im »demografischen Wandel« mit
Fragen rund um Arbeitsbedingungen (z. B. alternsgerechte Arbeit), Fachkräftebedarfe, Aus- und Weiterbildung sowie Gesundheitsschutz.
Die Arbeitswelt in der Glasindustrie ist von einem jahrzehntelangen Beschäftigungsabbau geprägt – allein seit der Jahrtausendwende wurde fast jeder sechste Arbeitsplatz abgebaut und die Zahl der Erwerbstätigen reduzierte sich auf
knapp 54.000 im Jahr 2012. Leidtragende des Rückgangs der Beschäftigtenzahl
sind in erster Linie die gering qualifizierten Beschäftigten – das Qualifikationsniveau und damit der Fachkräfteanteil wird in der Glasindustrie immer größer.
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Die Branche »Glasindustrie« ist mit dem in der amtlichen Statistik abgegrenzten Wirtschaftszweig »Herstellung von Glas und Glaswaren« gleichzusetzen.
Ihre Produkte werden unter Verwendung von Stoffen mineralischen Ursprungs
bzw. aus Altglas hergestellt. Die Branche umfasst die Herstellung von Glas (z. B.
in Glashütten für Hohlglas oder in Floatglaswerken für Flachglas) und von
Erzeugnissen aus Glas, und zwar von den Rohstoffen bis hin zu den Fertigwaren.
Damit stellen die Unternehmen der Glasindustrie eine breite Produktpalette
her. Die Glasindustrie ist integrales Element ganz unterschiedlicher Wertschöpfungsketten. So wird in verschiedenen Branchen des Produzierenden Gewerbes
Flachglas (z. B. Bauwirtschaft, Automobilindustrie), Hohlglas (z. B. Nahrungsmittelgewerbe, Pharmaindustrie) oder Spezialglas (z. B. Elektronikindustrie, Chemische Industrie) eingesetzt. Die Branche »Herstellung von Glas und Glaswaren«
umfasst fünf Hauptgruppen:
• Herstellung von Flachglas (Basisglas für verschiedene Anwendungen).
• Veredlung und Bearbeitung von Flachglas (z. B. Fenster, Windschutzscheiben,
Solarglas).
• Herstellung von Hohlglas (z. B. Flaschen, Behälter, Krüge).
• Herstellung von Glasfasern und Waren daraus (Glaswolle, Endlosglasfasern).
• Herstellung, Veredlung und Bearbeitung von sonstigem Glas einschließlich
technischen Glaswaren (Spezialglas, z. B. für Displays, Cerankochfelder).
Aufbau der Branchenstudie
Die Branchenstudie ist in die zwei Hauptkapitel 2 und 3 gegliedert: Im Kapitel 2
werden die Strukturen der Glasindustrie und die Entwicklung der Branche seit
Anfang der 2000er Jahre dargestellt. Basis ist eine eigene sekundärstatistische
Analyse von Wirtschafts- und Beschäftigungsdaten zu Deutschland sowie von
Außenhandelsdaten zur internationalen Entwicklung, die um zusätzliche Informationen aus internationalen und nationalen Verbandsstatistiken und anderen
Quellen ergänzt worden ist.
Das Kapitel 3 widmet sich der Identifikation und Beschreibung branchenspezifischer und globaler Trends sowie den sich daraus ergebenden Herausforderungen für Unternehmen und Mitbestimmung. Hierbei wird auf die Marktentwicklung und ökonomische Trends, auf Innovationstrends und auf Beschäftigungstrends eingegangen. Für die Betrachtung von Entwicklungstrends ist eine
9
Glasindustrie in Deutschland
Differenzierung nach den einzelnen Sparten der Glasindustrie erforderlich, bei
der die Lage und Entwicklungsperspektiven für die Herstellung bzw. Veredlung
von Flachglas, Hohlglas-, Spezialglas und Glasfaserherstellung explizit erörtert
werden.
Vorab wird in den folgenden Abschnitten der Einleitung der Hintergrund für die
Erstellung der Branchenanalyse, deren Zielsetzung und die methodische Vorgehensweise dargestellt.
Hintergrund, Zielsetzung und Fragestellungen
Für Industriebranchen in Deutschland zeichnen sich vielfältige strukturelle Veränderungen ab. Zum einen stellen globale Megatrends wie Globalisierung,
demografischer Wandel, Ressourcenknappheit, Klimawandel, Digitalisierung
und Wissensintensivierung die Unternehmen und die Branchenakteure vor große Herausforderungen. Zum anderen gibt es EU-weite und nationale Rahmenbedingungen, die Branchenentwicklungen beeinflussen. Zu diesen Rahmenbedingungen gehört beispielsweise die Energiewende als sozioökonomisches
Megaprojekt der nächsten Jahrzehnte (BMWi 2012). Im Zuge der Energiewende
wird Energieeffizienz bei Produktion und Produkten in allen Branchen des Verarbeitenden Gewerbes zu einem immer wichtigeren Innovationsfeld (Bauernhansl et al. 2013).
Gleichzeitig ist, spätestens seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009,
eine Renaissance der Industriepolitik zu verzeichnen. Dies zeigt sich z. B. im
zunehmenden Stellenwert der Industrie auf nationaler und auf europäischer
Ebene (»Europa-2020-Strategie«), aber auch in aktuellen Veröffentlichungen
wie »Die Modernität der Industrie« (Priddat, West 2012) und »Zukunft des
Industriestandortes Deutschland 2020« (Allespach, Ziegler 2012). Auch im weltweiten Maßstab zeigt sich eine ähnliche Ausrichtung, z. B. in den USA (»National
Network for Manufacturing Innovation«), in China (der aktuelle »Fünfjahresplan« setzt verstärkt auf eine anspruchsvolle Produktion hochwertiger Güter
durch ausgesuchte Hightech-Industriezweige) und in Indien (»National Manufacturing Policy«).
Wenn es um die zukünftige industrielle Entwicklung einer Volkswirtschaft geht,
ist die Kategorie der »Branche« zum einen eine zentrale Analyseebene, zum
10
anderen ein wichtiger Bezugspunkt für die Akteure der industriellen Beziehungen (Schietinger 2013). Aus branchenspezifischen Entwicklungstrends im Kontext des strukturellen Wandels ergeben sich neue Herausforderungen für die
Standortverankerung der Unternehmen als Voraussetzung für die Sicherung
der Arbeitsplätze, für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen sowie für die strategische Arbeit der Träger der Mitbestimmung. Die differenzierte Analyse einer
Branche kann dazu beitragen, dass Grundlagen für die soziale und politische
Gestaltung der Arbeitswelt in der untersuchten Branche erarbeitet werden.
Nicht zuletzt aus diesem Grund gaben die Hans-Böckler-Stiftung und die IG BCE
im Jahr 2013 sechs Branchenanalysen beim IMU Institut Stuttgart und beim
Niedersächsischen Institut für Wirtschaftsforschung (NIW) in Auftrag. Vom
IMU Institut wurden Strukturen, Entwicklungen, Rahmenbedingungen und Perspektiven für die Branchen Glasindustrie, Kunststoffverarbeitung und Papiererzeugung untersucht (vgl. Dispan 2013 a, b, c); das NIW analysierte die Branchen
Chemische Industrie, Kautschukindustrie und Pharmaindustrie (vgl. Gehrke,
von Haaren 2013 a, b, c).
Die gemeinsamen Fragestellungen für die Analyse aller sechs untersuchten
Branchen Chemische Industrie, Glasindustrie, Kautschukindustrie, Kunststoffverarbeitung, Papiererzeugung und Pharmaindustrie sind:
• Wie haben sich die betrachteten Branchen in Deutschland in den letzten Jahren in quantitativer Hinsicht entwickelt (bezogen auf Beschäftigung und
andere wirtschaftliche Kennziffern)? Wie stellt sich die Situation deutscher
Unternehmen im globalen Wettbewerb dar?
• Vor welche Herausforderungen stellen globale Megatrends wie Globalisierung, demografischer Wandel, Ressourcenknappheit und Klimawandel die
Branchen?
• Welche Entwicklungstrends (z. B. Markttrends, Innovationstrends) beeinflussen die künftige Entwicklung der betrachteten Branchen? Welche Perspektiven haben die Branchen am Standort Deutschland?
• Wie stellt sich die Situation bei Arbeitsbedingungen und Arbeitspolitik in den
Branchen dar? Wie verändern sich Kompetenzanforderungen und Qualifikationserfordernisse? Welche Gestaltungsfelder für die Träger der Mitbestimmung bilden sich heraus?
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Glasindustrie in Deutschland
Die Branchenanalysen wurden zum einen im Sammelband »Industriepolitik für
den Fortschritt – Herausforderungen und Perspektiven am Beispiel zentraler
Branchen der IG BCE« (Vassiliadis 2013) veröffentlicht, zum anderen erscheinen
sie als Einzelveröffentlichung in den Institutsreihen des IMU Instituts und des
NIW.
Methodische Vorgehensweise
Bei der Branchenstudie kam zur Informationsgewinnung und -auswertung ein
Methodenmix zum Zuge, bestehend aus der Aufbereitung und Auswertung statistischer Basisdaten, der Sekundäranalyse von Literatur sowie leitfadengestützten Interviews und Gruppengesprächen mit Akteuren aus der Glasindustrie:
• Aufbereitung und Analyse von branchenbezogenen Wirtschafts- und Beschäftigungsdaten (Bestands- und Verlaufsanalyse). Datenbasis für die auf die Entwicklung und Strukturen in Deutschland bezogene Branchenanalyse waren
vor allem die Beschäftigtenstatistik der Bundesagentur für Arbeit und die
Industriestatistik des Statistischen Bundesamts. Für die Analysen zum internationalen Handel wurde auf Daten der UN Comtrade-Database zurückgegriffen. Ergänzend kamen – sowohl für die nationale als auch für die internationale Perspektive – Angaben aus Verbandsstatistiken und weiteren Quellen
hinzu.
• Sichtung und Auswertung vorliegender Studien, Branchenanalysen, Fachzeitschriften, Unternehmensveröffentlichungen (Geschäftsberichte, Pressemitteilungen) und weiterer Fachpublikationen sowie weiterer branchenspezifischer Informationen aus dem Internet.
• Leitfadengestützte Expertengespräche wurden im Zeitraum März bis Juli
2013 mit Betriebsräten und Geschäftsführern (bzw. leitenden Angestellten)
aus drei Unternehmen der Glasindustrie geführt. Hinzu kamen weitere
Gespräche mit Gewerkschafts- und Verbandsvertretern. Im Zentrum stand
dabei die qualitative Erhebung von Unternehmensstrategien und Arbeitsbedingungen, von Branchentrends und Perspektiven für Betriebe und Beschäftigung, von Innovationstrends sowie von verallgemeinerbaren betrieblichen
Problemlagen und strukturellen Herausforderungen. Informationen aus diesen Expertengesprächen fließen anonymisiert in die vorliegende Branchen-
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studie ein. Zudem konnten durch die Teilnahme an einer Sitzung des Industriegruppenausschusses Glasindustrie der IG BCE wesentliche Entwicklungstrends und Herausforderungen in einem breiteren Kreis von Betriebsräten
führender Unternehmen der Glasindustrie in Deutschland diskutiert werden.
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Glasindustrie in Deutschland
1 Entwicklung und Strukturen der Branche »Glasindustrie«
Die Branche »Glasindustrie« ist mit dem in der amtlichen Statistik abgegrenzten Wirtschaftszweig »Herstellung von Glas und Glaswaren« gleichzusetzen.
Ihre Produkte werden unter Verwendung von Stoffen mineralischen Ursprungs
bzw. aus Altglas hergestellt. Die Branche umfasst die Herstellung von Glas (z. B.
in Glashütten für Hohlglas oder in Floatglaswerken für Flachglas) sowie von
Erzeugnissen aus Glas, und zwar von den Rohstoffen bis hin zu den Fertigwaren.
Die Unternehmen der Glasindustrie stellen eine breite Produktpalette her. In
verschiedenen Branchen des Produzierenden Gewerbes werden beispielsweise
Flachglas (Bauwirtschaft, Automobilindustrie etc.) oder Hohlglas (Nahrungsmittelgewerbe, Pharmaindustrie) eingesetzt. Die Branche umfasst 5 Hauptgruppen:
• Herstellung von Flachglas (Basisglas für verschiedene Anwendungen).
• Veredlung und Bearbeitung von Flachglas (z. B. Fenster, Windschutzscheiben,
Solarglas).
• Herstellung von Hohlglas (z. B. Flaschen, Behälter, Krüge).
• Herstellung von Glasfasern und Waren daraus (Glaswolle, Endlosglasfasern).
• Herstellung, Veredlung und Bearbeitung von sonstigem Glas einschließlich
technischen Glaswaren (Spezialglas, z. B. für Displays, Cerankochfelder).
Im Folgenden werden zunächst die Strukturen der Glasindustrie und die Entwicklung der Branche in den letzten Jahren dargestellt, bevor im 2. Kapitel die
Branchentrends und Herausforderungen analysiert werden.
1.1 Grunddaten zur Struktur der Branche
In der Branche »Herstellung von Glas und Glaswaren« – im Folgenden als Glasindustrie bezeichnet – arbeiteten im Jahr 2012 knapp 54.000 Erwerbstätige in
403 Betrieben (ab 20 Beschäftigte), die einen Umsatz von 8,95 Mrd. Euro erwirtschafteten (Tabelle 1.1). Mit 36,3 % liegt die Exportquote deutlich unter der des
Verarbeitenden Gewerbes (45,2 %). Die Glasindustrie ist ein eher kleiner Wirtschaftszweig: ihr Anteil am Gesamtumsatz des Verarbeitenden Gewerbes liegt bei
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14
Glasindustrie in Deutschland
0,5 %, ihr Beschäftigtenanteil bei 0,9 %. Gesamtwirtschaftlich gesehen ist die
Arbeitsmarktrelevanz der Glasindustrie mit einem Anteil von weniger als 1 % aller
in der Industrie Beschäftigten gering. Jedoch wird die Bedeutung der Branche
durch hoch aggregierte Zahlen unterschätzt, da sie durch ihre räumliche Konzentration eine wichtige Stellung in spezifischen regionalen Wirtschaftsräumen
erlangt hat.
Tabelle 1.1: »Herstellung von Glas und Glaswaren« in Deutschland:
Grunddaten 2012 für die Glasindustrie und ihre Sparten
(Betriebe ab 20 Beschäftigte)
Betriebe
Glasindustrie
insgesamt
Erwerbstätige
Umsatz
(in 1.000 €)
Exportanteil
(in %)
403
53.943
8.948.702
36,3 %
Flachglasherstellung
18
3.977
985.258
40,0 %
Flachglasveredlung
220
24.492
3.489.166
28,7 %
Hohlglasherstellung
64
14.381
2.398.076
33,9 %
Glasfaserherstellung
33
3.638
838.992
36,0 %
Spezialglas,
techn. Glas
68
7.455
1.237.210
59,7 %
Quelle: Statistisches Bundesamt.
Die Glasindustrie setzt sich in der amtlichen Statistik aus 5 Teilbranchen zusammen (Abbildung 1.1). Größte Sparte ist die »Veredlung und Bearbeitung von
Flachglas« (Flachglas-Veredlung), die den Hauptanteil des Umsatzes im Inland
erzielt. Zu den Hauptabnehmern der Flachglasveredlung zählen die Automobilhersteller und die Bauwirtschaft. In der Wertschöpfungskette vorgelagert ist die
kleinere Sparte »Herstellung von Flachglas«, die im Wesentlichen aus Floatglaserzeugern besteht. Viele Betriebe dieser beiden Sparten sind in Konzernzusammenhängen organisiert, z. B. beliefern die Floatglaslinien von Saint-Gobain
Glass oder Pilkington direkt die Werke für die Weiterverarbeitung des Basisglases zu Bauglas oder Autoglas.
282
15
Glasindustrie in Deutschland
Abbildung 1.1: Glasindustrie nach Sparten: Erwerbstätige in Betrieben ab
20 Beschäftigte im Jahr 2012 (in %)
Spezialglas,
technisches Glas
13,8 %
Flachglasherstellung
7,4 %
Glasfaserherstellung
6,7 %
Hohlglasherstellung
26,7 %
Flachglasveredlung
45,4 %
Quelle: Statistisches Bundesamt.
Die »Herstellung von Hohlglas« ist die zweitgrößte Sparte der Glasindustrie, die
in erster Linie aus Unternehmen besteht, die Behälterglas wie Flaschen, Flakonage oder Lebensmittelgläser produzieren, aber auch aus den verbliebenen Herstellern von Wirtschaftsglas, die z. B. »Glaswaren für den gedeckten Tisch« produzieren. Die drittgrößte und gleichzeitig exportstärkste Sparte ist die
»Herstellung, Veredlung und Bearbeitung von sonstigem Glas einschließlich
technischen Glaswaren« (kurz: Spezialglas), zu der z. B. der Schott-Konzern zählt.
Die nach Umsatz und Beschäftigung kleinste Sparte ist die »Herstellung von
Glasfasern und Waren daraus« (Glasfaser-Herstellung), z. B. von Glaswolle oder
Verstärkungsglasfasern.
In der Glasindustrie steht wenigen größeren Betrieben eine Vielzahl von Betrieben in der Größenklasse bis 250 Beschäftigte gegenüber (Abbildung 1.2). In
14 Betrieben (3,5 %) mit mehr als 500 Beschäftigten arbeitet mehr als ein Fünftel
der Beschäftigten (21,5 %). Diesen größeren Betrieben und auch vielen der
283
16
Glasindustrie in Deutschland
Größenklasse 250 bis 500 Beschäftigte sind im Wesentlichen die konzernzugehörigen Flachglaswerke, Behälterglashütten und Spezialglaswerke zuzuordnen.
Abbildung 1.2: Glasindustrie in Deutschland 2012: Verteilung von Betrieben,
Beschäftigten und Umsatz nach (Beschäftigten-) Größenklassen (in %)
50
Betriebe
Beschäftigte
Umsatz
45
40
35
32,0
32,8
29,5
30
28,5
25,8 27,6
24,8
25
21,5
18,7
20
16,0
15
14,0
10,2
10
8,2 6,8
3,5
5
0
< 50
50 < 100
100 < 250
250 < 500
> 500
Beschäftigtengrößenklassen
Quelle: Statistisches Bundesamt.
Mit 134 Beschäftigten je Betrieb liegt die Glasindustrie genau im Durchschnitt
des Verarbeitenden Gewerbes. Flachglas- und Hohlglashersteller sind mit
jeweils über 220 Beschäftigten je Betrieb deutlich größere Einheiten als die
3 anderen Sparten mit jeweils rund 110 Beschäftigten je Betrieb.
Viele kleine und mittlere Unternehmen, vor allem aus der Kristallglaserzeugung
und Hohlglasveredelung mit einem hohen Anteil manueller Arbeit, gaben im
Zeitraum von 1980 bis 2000 ihren Geschäftsbetrieb auf. Vor allem in der Behälterglasindustrie setzte in den 1990er-Jahren ein starker Konzentrationsprozess
durch den Zukauf von Glashütten durch große Konzerne wie Ardagh oder O-I
ein. Und auch der größte Teil der deutschen wie auch der europäischen Flachglasherstellung gehört zu wenigen, international operierenden Konzernen wie
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17
Glasindustrie in Deutschland
Saint-Gobain, Pilkington-NSG, Euroglas und Guardian (ECORIS 2008), die häufig
als vertikal integrierte Unternehmen sowohl in der Flachglasherstellung als
auch in der Veredlung und Bearbeitung tätig sind.
In Europa ist die Glasindustrie Deutschlands führend, wie z. B. ein Vergleich der
Beschäftigtenzahlen zeigt. Laut Glass Alliance Europe liegt der Anteil der deutschen Glasindustrie an der Europäischen Union bei 28,5 %, gemessen an der
Beschäftigtenzahl 2011 (Deutschland: 54.164 Beschäftigte, EU: 189.758). Weitere Länder mit mehr als 10.000 Beschäftigten in der Glasindustrie sind Polen
(29.200), Frankreich (21.202), Tschechien (14.650) und Italien (13.032).
1.2 Produktion
Die Produktion von Glas und Glaswaren entwickelte sich seit 2000 leicht negativ. Im Jahr 2012 lag der Produktionswert um knapp 3 % unter dem Ausgangswert aus dem Jahr 2000. Dagegen legte die Produktion im Verarbeitenden
Gewerbe insgesamt im selben Zeitraum um 20 % zu. Von 2000 bis 2012 lassen
sich mehrere Phasen unterscheiden (Abbildung 1.3): Zunächst ging die Produktion von Glas und Glaswaren bis 2005 um 12 % zurück. In einer 2. Phase legte die
Glasproduktion bis Mitte 2008 erneut zu und erreichte fast wieder den Produktionswert von 2000. Der folgende krisenbedingte Einschnitt verlief weniger
stark wie im Verarbeitenden Gewerbe insgesamt. Anschließend setzte ein
rascher Aufschwung bei der Glasproduktion ein. Bereits 2010 konnte der Produktionswert von 2007 abermals erreicht werden, 2011 lag er erstmals wieder
über dem Stand von 2000. Am aktuellen Rand zeichnet sich ein neuerlicher
Rückgang bei der Glasproduktion ab, während die Industrieproduktion insgesamt im Jahr 2012 stagnierte.
285
18
Glasindustrie in Deutschland
Abbildung 1.3: Entwicklung der Produktion von Glas und Glaswaren im Vergleich
zum Verarbeitenden Gewerbe insgesamt (Index 2000=100)
140
Verarbeitendes Gewerbe
Glasindustrie
2000 = 100
120
100
80
60
2000
2002
2004
2006
2008
2010
2012
Quelle: Statistisches Bundesamt.
Nach Sparten der Glasindustrie differenziert entwickelte sich die Produktion
sehr unterschiedlich (Abbildung 1.4). Besonders hohe Zuwächse gab es bei der
relativ kleinen Sparte Flachglasherstellung: Mit dem Ausbau der Produktionskapazitäten – insbesondere der Inbetriebnahme neuer Floatglaslinien in Ostdeutschland – gab es massive Produktionssprünge bei der Flachglasherstellung.
Der massive Nachfrageeinbruch beim Solarglas wird bei den Produktionszahlen
bis 2012 noch nicht sichtbar. Entsprechend lag der Produktionszuwachs bei
der Flachglasherstellung von 2000 bis 2012 bei 84 %. Und auch bei der 2. relativ
kleinen Sparte Glasfaserherstellung gab es im langfristigen Vergleich 2012 mit
2000 ein klares Produktionsplus von 17 %. Ein leichtes Plus ist bei der größten
Sparte Flachglasveredlung zu verzeichnen (+7 %).
286
19
Glasindustrie in Deutschland
Abbildung 1.4: Entwicklung der Produktion von Glas und Glaswaren
nach Sparten (Index 2000=100)
200
180
Flachglas-Herstellung
Glasfaser-Herstellung
Spezialglas, techn. Glas
Hohlglas-Herstellung
Flachglas-Veredlung
2000=100
160
140
120
100
80
60
2000
2002
2004
2006
2008
2010
2012
Quelle: Statistisches Bundesamt.
Starke Produktionsrückgänge seit 2000 von jeweils 23 % gab es dagegen beim
Spezialglas und bei der Hohlglasherstellung. Beim Hohlglas verlief der Produktionsrückgang relativ kontinuierlich – insbesondere bis 2009 scheinen hier langfristige Substitutionseffekte durch PET-Flaschen durchzuschlagen.
1.3 Entwicklung von Umsatz und Beschäftigung
Umsatzentwicklung
Die Glasindustrie erwirtschaftete im Jahr 2012 einen Umsatz von 8,95 Mrd.
Euro und lag damit um 700 Mio. Euro unter dem Vorjahreswert (-7,3 %). Am bisher höchsten lag der Umsatz der Glasindustrie mit gut 9,9 Mrd. Euro im Jahr
287
20
Glasindustrie in Deutschland
2008 – dem Jahr, in dem auch der Auslandsumsatz und damit die Exportquote
mit Abstand am höchsten waren (Tabelle 1.2). Seit diesem Höchststand des
Exportanteils von 38,5 % pendelte sich die Quote wieder bei einem Wert um
36 % ein.
Tabelle 1.2: »Herstellung von Glas und Glaswaren« in Deutschland:
Umsatzentwickung (in Mio. Euro) (Betriebe ab 20 Beschäftigte)
2000*
2008
2009
2010
2011
2012
Umsatz (insg.)
8.859
9.913
8.383
9.284
9.649
8.949
Inlandsumsatz
5.899
6.092
5.296
5.941
6.193
5.699
Auslandsumsatz
2.960
3.821
3.088
3.343
3.456
3.249
Exportanteil
33,4%
38,5%
36,8%
36,0%
35,8%
36,3%
Quelle: Statistisches Bundesamt (*Jahr 2000 nach WZ 2003).
Während der Gesamtumsatz in der Glasindustrie von 2001 bis 2005 tendenziell
zurückging, legte er dann bis 2008 um 20,1 % (gegenüber 2005) zu (Abbildung
1.5). Im Krisenjahr 2009 brach der Umsatz dann um 1,5 Mrd. Euro ein (-15,4 %).
Bereits 2010 legte der Umsatz wieder deutlich um gut 900 Mio. Euro zu
(+10,7 %), im Jahr 2011 nochmals um 365 Mio. Euro (+3,9 %), bevor es dann 2012
einen neuerlichen Umsatzeinbruch gab (-7,3 %). Somit war der Nachkrisen-Aufschwung bereits 2012 wieder beendet und das »Umsatz-Allzeithoch« von 2008
konnte von der Glasindustrie – im Gegensatz zum Verarbeitenden Gewerbe insgesamt – nicht wieder erreicht werden.
288
21
Glasindustrie in Deutschland
Abbildung 1.5: Umsatzentwicklung in der Glasindustrie im Vergleich
zum Verarbeitenden Gewerbe (Index 2008=100)
120
Gesamtumsatz Glasindustrie
Umsatzentwicklung (Index 2008=100)
110
Gesamtumsatz Verarbeitendes Gewerbe
100
90
80
70
60
50
2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012
Quelle: Statistisches Bundesamt.
Abb. 1.5: Umsatzentwicklung in der Glasindustrie im Vergleich
zum Verarbeitenden Gewerbe (Index 2008=100)
Abbildung 1.6: Entwicklung des Inlands- und Auslandsumsatzes in der
Glasindustrie im Vergleich zum Verarbeitenden Gewerbe (Index 2008=100)
120
Inlandsumsatz Glasindustrie
Umsatzentwicklung (Index 2008 = 100)
Inlandsumsatz Verarbeitendes Gewerbe
110
Auslandsumsatz Glasindustrie
Auslandsumsatz Verarbeitendes Gewerbe
100
90
80
70
60
50
2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012
Quelle: Statistisches Bundesamt.
289
22
Glasindustrie in Deutschland
Das Umsatzwachstum in der Glasindustrie von 2000 bis 2008 war in erster Linie
dem Export zu verdanken (Abbildung 1.6): der Auslandsumsatz (+31,7 %) erhöhte sich deutlich stärker als der Inlandsumsatz (+6,1 %). Nochmals wesentlich
stärker profitierte das Verarbeitende Gewerbe insgesamt vom Boom bis 2008
mit einem Auslandsplus von 56,6 % und einem Inlandsplus von 19,2 % gegenüber dem Jahr 2000. Vom Kriseneinbruch 2009 wurde die Glasindustrie dann
etwas weniger heftig getroffen. Der Rückgang beim Auslandsumsatz verlief in
der Glasindustrie (-19,2 %) parallel zum Verarbeitenden Gewerbe (-20,2 %); beim
Inlandsumsatz büßte das Verarbeitende Gewerbe (-16,8 %) stärker als die Glasindustrie (-13,1 %) ein. Während es in der Krise beim Flachglas einen besonders
starken Einbruch gab, verzeichnete der stärker binnenmarktorientierte und
weniger konjunkturabhängige Bereich Behälterglas im Vergleich zu den übrigen
Sparten die geringsten Umsatzeinbußen.
Der deutliche Nachkrisen-Aufschwung bis 2011 wurde in der Glasindustrie vor
allem durch die hohe Inlandsdynamik erreicht (+16,9 % im Vergleich zu 2009),
aber auch der Auslandsumsatz legte von 2009 bis 2011 um 11,9 % zu. Noch kräftiger verlief der Boom im Verarbeitenden Gewerbe, der im Gegensatz zur Glasindustrie wesentlich stärker vom Export getrieben war: der Auslandsumsatz legte
hier um 33,0 %, der Inlandsumsatz um 22,9 % zu. Die positive Umsatzentwicklung wurde 2012 bereits wieder gebrochen: in der Glasindustrie gingen sowohl
der Auslandsumsatz (-6,0 %) als auch der Inlandsumsatz (-8,0 %) zurück; im Verarbeitenden Gewerbe stagnierte der Gesamtumsatz bei leicht negativer
Inlands- und leicht positiver Auslandsentwicklung. Alles in allem konnte in den
letzten Jahren in der Glasindustrie der Auslandsumsatz den Spitzenwert von
2008 bei Weitem nicht mehr erreichen. Und auch beim Inlandsumsatz lag die
Glasindustrie nach einem leichten Überschreiten der 2008er-Marke im Jahr
2011 zuletzt wieder unter dem Vorkrisen-Umsatzhoch.
290
23
Glasindustrie in Deutschland
Beschäftigungsentwicklung
Im Jahr 2012 waren in der Glasindustrie fast 54.000 Erwerbstätige (in Betrieben
ab 20 Beschäftigte) beschäftigt (Tabelle 1.3). Allein die beiden größten Sparten
Flachglasveredlung mit 24.492 Beschäftigten und Hohlglasherstellung mit
14.381 Beschäftigten machen einen Beschäftigtenanteil von 72 % an der Glasindustrie aus. In diesen beiden Sparten entwickelte sich die Beschäftigung seit
2008 weitgehend synchron: nach einem krisenbedingten Arbeitsplatzabbau
um 5 % bis 6 % zwischen 2008 und 2009 konnte von 2009 bis 2012 wieder
Beschäftigung aufgebaut werden. Während in diesen beiden großen Sparten
der Glasindustrie der Beschäftigungsstand von 2008 im Jahr 2012 wieder
erreicht werden konnte, entwickelte sich die Beschäftigung in den 3 kleineren
Sparten in diesem Zeitraum negativ: Den stärksten Rückgang gab es bei der
Glasfaserherstellung (-13,8 %) und beim Spezialglas (-9,0 %).
Tabelle 1.3: »Herstellung von Glas und Glaswaren« in Deutschland:
Beschäftigungsentwicklung (Betriebe ab 20 Beschäftigte)
Erwerbstätige
2000*
2008
2009
2010
2011
2012
65.562
55.002
51.704
53.355
54.164
53.943
Quelle: Statistisches Bundesamt (*Jahr 2000 nach WZ 2003).
Die Beschäftigungsentwicklung in der Glasindustrie seit dem Jahr 2000 lässt
sich in 4 Phasen einteilen (Abbildung 1.7): In der 1. Phase bis 2006 gab es in der
Glasindustrie einen erheblichen Abbau von fast 11.700 Arbeitsplätzen (-17,8 %).
Zwar gab es in diesem Zeitraum auch einen Beschäftigungsabbau im Verarbeiteten Gewerbe insgesamt, der aber prozentual gesehen deutlich moderater verlief (-7,1 %). Es folgte eine 2-jährige Phase des Beschäftigungsaufbaus in der
Glasindustrie (+4,5 %) wie auch im Verarbeitenden Gewerbe (+5,1 %). Die 3., von
der Weltwirtschaftskrise geprägte Phase mit einem Beschäftigungsabbau, war
zwar relativ kurz, aber umso heftiger: In der Glasindustrie ging 2009 die Anzahl
der Erwerbstätigen um 6,0 % gegenüber 2008 zurück, im Verarbeitenden Gewerbe um 4,5 %. Im Vergleich des Jahres 2012 mit 2009 entwickelte sich die
291
24
Glasindustrie in Deutschland
Beschäftigung sowohl in der Glasindustrie (+4,3 %) als auch im Verarbeitenden
Gewerbe (+4,7 %) positiv, wenn auch der Aufbau in der Glasindustrie zuletzt
abflachte und 2012 wieder ein leichtes Minus verzeichnet werden musste.
Abbildung 1.7: Beschäftigungsentwicklung in der Glasindustrie im
Vergleich zum Verarbeitenden Gewerbe (Index 2008=100)
120
115
(Index 2008 = 100)
110
105
100
95
90
Glasindustrie
Verarbeitendes Gewerbe
85
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
2012
Quelle: Statistisches Bundesamt.
Alles in allem ist der Verlauf des Beschäftigungstrends der Glasindustrie ähnlich
wie im Verarbeitenden Gewerbe, aber über den betrachteten Zeitraum hinweg
deutlich schwächer. Im Ergebnis war der prozentuale Beschäftigungsrückgang
zwischen 2000 und 2012 in der Glasindustrie mit -15,8 % deutlich höher als im
Verarbeitenden Gewerbe (-2,5 %).
Im Jahr 2012 lag die Arbeitsproduktivität je Beschäftigten in der Glasindustrie
um 15 % höher als 2000. Damit ging die Produktivitätsschere in der Branche
weniger stark auseinander als im Verarbeitenden Gewerbe insgesamt mit
einem Produktivitätszuwachs um 23 %.
292
25
Glasindustrie in Deutschland
1.4 Beschäftigungsstrukturen
Die Qualifikations- und Altersstruktur der Beschäftigten in der Glasindustrie
wird auf Basis der Beschäftigtenstatistik der Bundesagentur für Arbeit analysiert. Darin sind die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in allen Betrieben
erfasst, also im Gegensatz zur Industriestatistik des Statistischen Bundesamts
nicht die Erwerbstätigen in Betrieben von Unternehmen ab 20 Beschäftigten.
Neben darin begründeten Unterschieden bei der Beschäftigtenanzahl kann zwischen den beiden Statistiken auch die Zuordnung von Betrieben zu Wirtschaftszweigen voneinander abweichen.
In der Glasindustrie waren Mitte 2012 knapp 52.800 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte tätig (Abbildung 1.8). Damit ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zwischen dem Jahr 2000 und dem Jahr 2012 in der
Glasindustrie um jahresdurchschnittlich 1,7 % zurückgegangen. Zum Vergleich:
Im Verarbeitenden Gewerbe insgesamt ging die Beschäftigung in diesem Zeitraum um 0,5 % pro Jahr zurück.
Abbildung 1.8: Glasindustrie in Deutschland: Entwicklung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von 2000 bis 2012 ( jew. zum 30.06.)
70.000
WZ 2003
WZ 2008
60.000
50.000
40.000
30.000
20.000
10.000
0
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2008
2009
2010
2011
2012
Quelle: Bundesagentur für Arbeit (ab 2008 nach WZ 2008).
293
26
Glasindustrie in Deutschland
Von den 52.800 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Jahr 2012 waren
77,3 % männlich und 22,7 % weiblich. Damit liegt der Frauenanteil in der Glasindustrie um 2,6 Prozentpunkte unter dem Frauenanteil im Verarbeitenden
Gewerbe insgesamt (25,3 %).
Tabelle 1.4: Glasindustrie in Deutschland: Qualifikationsstruktur der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Vergleich zum Verarbeitenden Gewerbe
Herstellung von Glas und Glaswaren
WZ 2003
2000
Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte
insgesamt (in Tsd.)
WZ 2008
2007
2007
2011
66,5
54,9
53,6
53,1
n.a.
6,8
6,6
8,0
darunter (in %)
ohne Angabe
ohne Berufsausbildung
n.a.
21,6
21,2
19,3
61,6
64,9
65,3
65,9
6,1
6,7
6,8
6,8
7.272,5
6.693,4
6.397,1
6.396,4
ohne Angabe
n.a.
9,0
8,6
10,3
ohne Berufsausbildung
n.a.
18,4
18,7
16,7
64,4
62,8
63,2
62,5
8,1
9,8
9,5
10,5
mit Berufsausbildung
mit Hochschulabschluss
Verarbeitendes Gewerbe
Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte
insgesamt (in Tsd.)
darunter (in %)
mit Berufsausbildung
mit Hochschulabschluss
Quelle: Bundesagentur für Arbeit.
Der Bedarf an höher qualifizierten Beschäftigten ist in der Glasindustrie gestiegen (Tabelle 1.4). Insbesondere der Anteil der Fachkräfte mit einer Berufsausbildung im dualen System ist zwischen 2000 und 2011 deutlich von 61,6 % auf
65,9 % gestiegen. Der Anteil der Hochschulabsolventen stieg von 2000 bis 2007
und stabilisierte sich dann bei 6,8 %. Stellt man diesen Fachkräften mit mittleren und höheren Qualifikationen die beiden Gruppen »ohne Berufsausbildung«
und »ohne Angabe« gegenüber (die insbesondere die Gruppe der An- und Ungelernten umfassen), so werden deutliche Verschiebungen erkennbar: Während
sich der Anteil der Fachkräfte von 67,7 % im Jahr 2000 auf 72,7 % im Jahr 2011
294
27
Glasindustrie in Deutschland
erhöhte, ging der Anteil An- und Ungelernter in der Glasindustrie von 32,3 %
zurück auf 27,3 %. Der Arbeitsplatzabbau in der Branche ging demnach in erster
Linie zulasten der An- und Ungelernten bzw. der Einfachtätigkeiten.
Im Vergleich zum Verarbeitenden Gewerbe insgesamt liegt der Akademikeranteil in der Glasindustrie deutlich niedriger, wogegen der Fachkräfteanteil mit
Ausbildung im dualen System in der Glasindustrie höher liegt. Insbesondere für
viele spezialisierte Tätigkeiten in Instandhaltung und automatisierter Fertigung
(Leitstand, Umrüstvorgänge, Qualitätssicherung) ist eine Ausbildung zur Industriemechanikerin/zum Industriemechaniker, zur Mechatronikerin/zum Mechatroniker, zur Elektronikerin/zum Elektroniker oder zur Verfahrensmechanikerin/
zum Verfahrensmechaniker Glastechnik erforderlich.
Abbildung 1.9: Glasindustrie in Deutschland: Altersstruktur der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten 2007 und 2012 im Vergleich zum Verarbeitenden
Gewerbe (in %)
100
90
11,6
17,1
12,8
16,1
55 und älter
30,9
45– 54 Jahre
80
70
27,2
27,2
31,9
60
50
31,9
31,3
40
23,3
35– 44 Jahre
23,9
30
20
25– 34 Jahre
19,0
18,2
18,2
19,0
10,3
9,5
10,5
10,1
Glasindustrie
2007
Glasindustrie
2012
Verarb. Gewerbe
2007
Verarb. Gewerbe
2012
10
0
15– 24 Jahre
Quelle: Bundesagentur für Arbeit.
Eine deutliche Alterung der in der Glasindustrie Beschäftigten zeigt der Vergleich der Altersstrukturen 2012 mit 2007 (Abbildung 1.9). In dieser relativ kur-
295
28
Glasindustrie in Deutschland
zen Zeitspanne ist eine klare Verschiebung in Richtung ältere Kohorten feststellbar: Allein der Anteil der Altersgruppe 55+ an den sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten erhöhte sich von 11,6 % auf 17,1 %. Und 2012 hat die Altersgruppe 45–54 Jahre mit 31,9 % die 35- bis 44-Jährigen als anteilsmäßig stärkste
Kohorte abgelöst. Gleichwohl lag die Anzahl der Auszubildenden in der Glasindustrie 2012 mit 2.042 Auszubildenden leicht über der des Jahres 2007 (2.004
Auszubildende).
Der »Branchen-Alterungsprozess« ist damit deutlich stärker als im Verarbeitenden Gewerbe insgesamt ausgeprägt, was sich auch in der schwächeren »Erneuerungsrate«, also dem geringeren Anteil Jüngerer in der Glasindustrie zeigt.
Laut Verdienststrukturerhebung des Statistischen Bundesamts lag auch das
Durchschnittalter in der Branche mit 43,6 Jahren im Jahr 2010 deutlich höher
als im Verarbeitenden Gewerbe mit 42,1 Jahren.
1.5 Außenhandel
Beim Außenhandel mit Glasprodukten gab es in der Gesamtschau von 2002 bis
2011 Zuwächse (Abbildung 1.10). Die Ausfuhr legte in diesem Zeitraum auf 4,84
Mrd. Euro zu (+22,6 %), die Einfuhr auf 4,2 Mrd. Euro (+50,7 %). Diese deutlich
gestiegene Wareneinfuhr ist ein starkes Indiz für einen wachsenden Importdruck, der auf die deutschen Hersteller von Glas und Glaswaren ausgeübt wird.
296
29
Glasindustrie in Deutschland
Der Außenhandelssaldo als Differenz zwischen Ausfuhr und Einfuhr entwickelte sich von 1,16 Mrd. Euro im Jahr 2002 über den Höchststand von 1,41 Mrd.
Euro im Jahr 2004 zurück auf 639 Mio. Euro im Jahr 2011.
Der Anteil des Glasexports nach Weltregionen zeigt die Dominanz zweier Großregionen beim Außenhandel (Abbildung 1.11): Die Europäische Union (EU-27)
und das »übrige Asien« mit China und Japan dominieren das weltweite Exportgeschehen vor Nordamerika. Eine stark gegenläufige Dynamik wird beim Vergleich zwischen 2002 und 2011 deutlich: Während die Anteile Europas und
Nordamerikas deutlich zurückgingen, wurde der Anteil Asiens fast verdoppelt.
Somit veränderte sich auch die Rangliste der größten Exportländer von Glasprodukten (Abbildung 1.11). China war 2011 »Glas-Exportweltmeister« mit einem
Anteil von gut 18 % am weltweiten Exportgeschehen, nachdem es 2002 noch
den 8. Platz belegte. Der Exportanteil Deutschlands am Weltexport reduzierte
sich von 12 % im Jahr 2002 auf 10 % im Jahr 2011 – damit rutschte die 2002
führende Glas-Exportnation Deutschland auf den 2. Platz.
Abbildung 1.10: Ausfuhr, Einfuhr und Außenhandelssaldo von Glasprodukten
Ausfuhr,
Einfuhr
und Außenhandelssaldo*
von Glas Produkten Deutschlands
von
2002
bis 2011
in Deutschland
Ausfuhr
6
Einfuhr
Saldo
1,6
1,2
4
1,0
3
0,8
0,6
Außenhandelssaldo in Mrd. €
Ausfuhr bzw. Einfuhr in Mrd. €
1,4
5
2
0,4
1
0,2
0
0,0
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
*) Ausfuhr
minus Einfuhr.
Quelle:
Comtrade
Database; Berechnungen des NIW.
297
30
Glasindustrie in Deutschland
Abbildung 1.11: Anteil des Glasexportes nach Weltregionen in Prozent
der
Welt-Glasexporte
Anteil
des Glasimportesnach Weltregionenin % der Welt-Glasimporte
60
2002
50
2011
40
30
20
10
0
EU-27
übriges
Europa
Nordamerika
übriges
Amerika
Naher und
Mittlerer
Osten
übriges
Asien
übrige
Länder
Quelle: Comtrade
Database;Berechnungen
des NIW
Quelle:
Comtrade
Database;
Berechnungen des NIW.
Abbildung 1.12: Die 10 größten Exportländer von Glasprodukten
Die 10 größtenExporteure von Glas Produkten 2011
20
2002
16
2011
in %
12
8
4
0
Quelle: ComtradeDatabase;Berechnungendes NIW
Quelle:
Comtrade Database; Berechnungen des NIW.
298
31
Glasindustrie in Deutschland
Fast zwei Drittel der Glasexporte aus Deutschland gingen im Jahr 2012 in die
Europäische Union (mit Frankreich als wichtigstem Bestimmungsland für deutsche Glaswaren), gefolgt von Asien mit knapp 12 % und Amerika mit fast 11 %
(BV Glas 2013).
Beim Anteil des Glasimports nach Weltregionen liegen die Länder der Europäischen Union nach wie vor vor den übrigen Weltregionen, wenn auch hier die
Dynamik gegenläufig ist (Abbildung 1.13): Das übrige Asien holt auf, insbesondere China und Südkorea importierten 2011 deutlich mehr Glaswaren als 2002.
Damit löste China die USA als Haupt-Importland von Glasprodukten ab, knapp
gefolgt von Deutschland (Abbildung 1.14).
Für Deutschland wichtigste Herkunftsländer ausländischer Glaswaren waren
2012 China mit einem Importanteil von 12 %, gefolgt von Belgien (10 %), den
USA und Frankreich (beide 8 %) (BV Glas 2013).
Abbildung 1.13: Anteil des Glasimportes nach Weltregionen in Prozent
der Welt-Glasimporte
50
2002
40
2011
30
20
10
0
EU-27
übriges
Europa
Nordamerika
übriges
Amerika
Naher und
Mittlerer
Osten
übriges
Asien
übrige
Länder
Quelle: Comtrade Database; Berechnungen des NIW.
299
32
Glasindustrie in Deutschland
Abbildung
1.14: Die 10 größten Importländer von Glasprodukten
Die 10 größtenImporteure von Glas Produkten 2011
20
2002
2011
16
in %
12
8
4
0
Quelle: Comtrade Database; Berechnungen des NIW
Quelle: ComtradeDatabase;Berechnungendes NIW
2 Branchentrends und Herausforderungen
Glas als Werkstoff, Produkte aus Glas als Vorleistungsgüter oder Konsumgüter
und damit die Branche »Herstellung von Glas und Glaswaren« haben seit Langem einen hohen Stellenwert für Wirtschaft und Gesellschaft. Glas »ist der einzige von Menschenhand künstlich geschaffene Werkstoff, der seit etwa sieben
Jahrtausenden ununterbrochen in Gebrauch ist. . . . Aus urzeitlichen Anfängen
hat Glas über Handwerk und Manufaktur den Weg in die industrielle Fertigung
gefunden. Die Herstellung von Glas ist heute eine der wenigen Branchen, in
denen die Produktion von der Schaffung eines Materials aus verschiedenen Rohstoffen bis zu den Enderzeugnissen in einem Wirtschaftsbereich zusammengefasst ist« (Neckermann, Wessels 1987: 21).
Die Glasindustrie kann als traditionelle, alteingesessene und technologisch ausgereifte Branche bezeichnet werden. Gleichzeitig ist der Industriezweig inzwischen relativ stark globalisiert. Große, multinationale Unternehmen dominieren die großen Sparten der Glasindustrie. Die Unternehmen der Branche
300
33
Glasindustrie in Deutschland
müssen sich den härteren Bedingungen durch die Globalisierung und dem
gesteigerten Wettbewerb auf ihren inländischen Märkten durch Länder wie
China und Indien stellen (Europäische Kommission 2009). In den meisten Industrieländern weist der Markt für Glas und Glaswaren Sättigungstendenzen auf
– hier ist jedoch eine differenzierte Betrachtung nach Sparten der Glasindustrie
notwendig. Industrielle Produktion erfordert in den meisten Sparten hohe
Investitionen in Glaswannen (z. B. regelmäßig wiederkehrende Wannenreparaturen) und Fertigungsanlagen. Die Branche ist eine energieintensive und investitionsgetriebene Branche. Steigende Energiekosten und Fragen rund um »Innovation und Investition« sind damit weitere Herausforderungen für die
Glasindustrie. Alle diese Faktoren wirken sich auf Arbeitsplätze und Beschäftigung aus, sowohl in der quantitativen als auch in der qualitativen Dimension,
wie am Schluss des Kapitels untersucht wird.
Grundlage für die folgende Analyse von Entwicklungstrends der Glasindustrie
und künftige Herausforderungen sind die im Rahmen der Branchenstudie
durchgeführten Expertengespräche (mit betrieblichen Experten, Gewerkschafts- und Verbandsvertretern) und die Auswertung von branchenbezogener
Literatur zur Entwicklung der Märkte, zu Innovations- und Beschäftigungstrends. Zur Illustration und zur Unterstützung der Argumentation werden im
Text prägnante Zitate von befragten Experten verwendet, die jeweils durch
(Exp.) gekennzeichnet sind. Zunächst werden die Trends für die Branche insgesamt dargestellt, dann erfolgt die spezifische Analyse ausgewählter Sparten der
Glasindustrie.
2.1 Marktentwicklung und ökonomische Trends
Ausgehend von Erfolgsfaktoren für Unternehmen der Glasindustrie und den
Stärken der Branche in Deutschland, die in den Expertengesprächen hervorgehoben wurden, werden im Folgenden der internationale Wettbewerb und die
branchenspezifischen Wettbewerbsbedingungen in Deutschland untersucht.
301
34
Glasindustrie in Deutschland
Erfolgsfaktoren und Stärken der Branche
Ein genereller, von allen befragten Experten betonter Erfolgsfaktor ist die Nachhaltigkeit des Werkstoffes Glas. Glas besteht aus den Rohstoffen Quarzsand,
Soda, Kalk und Dolomit, die alle in Deutschland reichhaltig vorkommen. Eine
wichtige Rolle spielt dabei Recyclingglas. »Wir können zu 100 % mit heimischen
Rohstoffen arbeiten« (Exp.). Bei Glasverpackungen kommt als »Nachhaltigkeitsplus« die Mehrwegfähigkeit und die aus gesundheitlichen Gründen wichtige Inertheit dazu: »Glas gibt keine Inhaltsstoffe ab und garantiert die Reinheit
von Lebensmitteln und Pharmaprodukten« (Exp.). Demzufolge ist Nachhaltigkeit eines der zentralen Themen für die Glasindustrie. »Mit ihren vielfältigen
Produkten, aber auch als Branche trägt sie dazu bei, nachhaltige Zielsetzungen
zu verwirklichen« (BV Glas 2013: 8).
Für die Unternehmen der Glasindustrie sind in Deutschland bedeutende
Erfolgsfaktoren: das Angebot innovativer, qualitativ hochwertiger, vielfältiger
Produkte, ein breites Kundenspektrum sowie eine hohe Produktivität und große
Flexibilität. Flexibilität bezieht sich auf die Fähigkeit der Unternehmen, sich
schnell auf veränderte Rahmenbedingungen und neue Marktverhältnisse einzustellen, insbesondere auch was konjunkturelle und strukturelle Veränderungen bei den Abnehmerbranchen betrifft. Industrielle Wertschöpfung in
Deutschland setzt auch eine hohe Produktivität voraus. Die Unternehmen der
Glasindustrie sollten demnach über technologisch hochwertige (»best available
technology«), energieeffiziente, weitgehend automatisierte Anlagen und
Maschinen verfügen und eine entsprechend effiziente, motivierende Arbeitsorganisation implementiert haben.
Innovative und erfolgreiche Unternehmen sind oft in Nischenmärkten zu finden, sie sind mit ihren Abnehmerbranchen, insbesondere mit ihren Schlüsselkunden (Key Account Manager), eng verbunden. Für viele, insbesondere die größeren Unternehmen wird die Internationalisierung von Vertrieb und Produktion
immer wichtiger. Grundvoraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg sind qualifizierte und spezialisierte Fachkräfte im technischen und in sonstigen betrieb-
302
35
Glasindustrie in Deutschland
lichen Bereichen, mit denen Innovationen vorangetrieben werden. Für die energieintensive Glasindustrie sind Energiekosten und damit eine Energieversorgung zu wettbewerbsfähigen Preisen, aber auch Energiemanagement und der
effiziente Einsatz von Energie besonders wichtig. Wichtiger Rohstoff für die Glasindustrie ist Recyclingglas – somit sind Preis, Verfügbarkeit und Qualität des
Sekundärrohstoffs »Scherben« ein nicht zu unterschätzender Faktor für die
Unternehmen der Branche. Ein hoher Altglasanteil in der Wanne führt auch zur
Reduktion der Schmelzenergie, damit zu Energieeinspareffekten und letztlich
zur Vermeidung von Treibhausgasemissionen.
Diese Erfolgsfaktoren korrespondieren mit den von den befragten Experten
genannten Stärken der Glasindustrie in Deutschland: Durchweg als Stärken
werden die Kundennähe und Kundenorientierung der deutschen Glasindustrie
betont. Durch ihre Flexibilität können die Unternehmen schnell auf Markterfordernisse reagieren. Fachkräfte und ihr spezifisches Know-how, Ingenieurskunst
und Entwickler, die sich schnell auf neue Lösungen und Produkte einstellen, stehen für die Innovationskraft der Branche. Hier liegt eine explizite Stärke im dualen System der Berufsausbildung und im fachspezifischen Ausbildungsberuf
Verfahrensmechaniker/Verfahrensmechanikerin Glastechnik. Die Technologieführerschaft in vielen Bereichen wird durch einen starken Maschinen- und Anlagenbau für die Glasindustrie gestützt.
Weitere Vorteile liegen in Mitbestimmung und Tarifpolitik im spezifischen deutschen System der industriellen Beziehungen, die für Stabilität und Verlässlichkeit in der Ausgestaltung von Arbeitsverhältnissen sorgen. »Die Sozialpartnerschaft ist ein dickes Pfund für die Branche. Unsere Kunden und die schwankende
Nachfrage fordern von uns eine sehr hohe Flexibilität ab. Und um die zu erreichen, ist eine gute Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehung sehr wichtig« (Exp.).
»Die Tarifpolitik ist im Großen und Ganzen ein Vorteil. Im Detail ist die Tariflandschaft in der Glasindustrie aber zu stark zersplittert. Aber bei Standortfragen
war man in den letzten Jahren immer in der Lage, über flexible Lösungen Antworten zu finden« (Exp.).
303
36
Glasindustrie in Deutschland
Im Sinne einer Analyse von Stärken und Schwächen der Glasindustrie
(SWOT-Analyse) wurden die Experten auch nach branchenspezifischen Standortnachteilen in Deutschland gefragt. Ein zentraler Punkt sind hier die hohen
Energiepreise, »die einer energieintensiven Branche wie der Glasindustrie das
Überleben schwer machen« (Exp.). Auch die große Marktmacht der Abnehmer
führt bei vielen Unternehmen dazu, dass ihre Gewinnspanne immer kleiner
wird: »Preiskorrekturen nach oben sind äußerst schwer durchsetzbar, auch
wenn ihre Notwendigkeit klar auf dem Tisch liegt« (Exp.). Als weiteres Branchenmanko gilt die mangelnde Wertschätzung der Glasindustrie und ihre
Wahrnehmung als wenig innovative Branche beim Kunden, beim Verbraucher
und in der Politik. »Die Stärke der Glasindustrie ist das hervorragende Produkt.
Und unsere Schwäche ist es, dass diese Stärke nicht nach außen kommuniziert
wird und die Branche nicht gemeinsam agiert. Und das wäre wirklich wichtig,
weil es uns als kleiner Industriebranche an politischer Unterstützung mangelt«
(Exp.). Durch das Branchenimage wird es für viele Unternehmen der Glasindustrie auch immer schwieriger, Fachkräfte und geeignete Auszubildende zu rekrutieren. Auf diese und weitere Stärken, Schwächen und Herausforderungen für
die Glasindustrie in Deutschland wird in den folgenden Kapiteln näher eingegangen.
Eine Studie zur Wettbewerbsfähigkeit der Glasindustrie in der Europäischen
Union wurde 2008 für die Europäische Kommission erstellt (ECORYS 2008).
Ergänzend zur bisherigen Darstellung der Stärken, Schwächen, Erfolgsfaktoren
und Herausforderungen für die deutsche Glasindustrie wird die SWOT-Analyse
aus dieser europäischen Studie stichwortartig zusammengefasst:
Strengths (Stärken):
• Große, international wettbewerbsfähige Konzerne mit Sitz in der EU.
• Effiziente Produktion durch Economies of Scale.
• Hohe Qualität der Produkte.
• Technische Prozessinnovationen und hohe Produktivität.
• Gut qualifizierte Fachkräfte.
304
37
Glasindustrie in Deutschland
Weaknesses (Schwächen):
• Reifer Produktionsprozess mit limitierten weiteren Effizienzpotenzialen.
• Hohe Eintrittsbarrieren für neue Unternehmen.
• Lange Investitionszyklen.
Opportunities (Chancen):
• Exportchancen durch Marktöffnung.
• Wachsende Nachfrage nach innovativen und spezialisierten Produkten.
• Ausbau von Forschung und Entwicklung (FuE), um Prozess- und Produktentwicklung zu forcieren.
• Umstellung auf erneuerbare Energien.
• Höhere Arbeitsproduktivität durch den Zusammenschluss von Unternehmen.
• Weitere Substitution von Holz und Metallen durch Glas.
• Wahrnehmung von Glas als ökologisches Produkt.
Threats (Risiken):
• Globaler Wettbewerb und Konsolidierung durch wenige globale Konzerne.
• Zunehmender Wettbewerb aus Niedrigkosten-Ländern (»low-cost-countries«).
• Erhöhung des Kostendrucks durch marktmächtige Abnehmer wie z. B. Automobilhersteller.
• Überkapazitäten in wichtigen Sparten der Glasindustrie.
• Energiepreiserhöhungen und strenge Umweltauflagen (»exclusively in the EU«).
• Substitution von Glas durch Kunststoff, Aluminium, Karton etc.
• Steigende Marktmacht der Abnehmer.
Wirkungen der Globalisierung
Die Studie zur EU-Glasindustrie macht neben der SWOT-Analyse auch Aussagen
zur Wettbewerbsposition und zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit der
Glasindustrie (ECORYS 2008). Demnach müssen sich Unternehmen der Glasindustrie den »härteren Bedingungen durch die Globalisierung und dem gesteigerten Wettbewerb auf ihren inländischen Märkten durch Länder wie China
305
38
Glasindustrie in Deutschland
und Indien stellen. Eine weitere damit verbundene Herausforderung sind die
Energiekosten sowie die Erfüllung der Klimawandelanforderungen. Zum Beispiel hat sich die Finanz- und Ertragslage der Glasindustrie seit 2000 insgesamt
verschlechtert, die Reingewinnmarge ist gesunken. Der Studie zufolge ist ein
Großteil dieses Leistungsrückgangs auf die steigenden Kosten in Europa zurückzuführen, insbesondere bezüglich Energie, Arbeit und Einhaltung der Rechtsvorschriften im Umweltbereich« (Europäische Kommission 2009). Zudem haben
Glasproduzenten innerhalb der Europäischen Union andere Wettbewerbsvoraussetzungen als Produzenten aus konkurrierenden Nicht-EU-Ländern. »Die
europäischen Unternehmen sind bedeutend höheren Kosten ausgesetzt, da in
Nicht-EU-Ländern die Gesetzgebung in den Bereichen Umweltschutz und
Sicherheit weniger streng ist« (Europäische Kommission 2009). Zusätzlich
bestehen bedeutende nicht tarifäre Hemmnisse für den Handel mit Märkten
von Drittländern, wie z. B. Importquoten oder »local-content-Anforderungen«.
Die wesentlichen Ergebnisse dieser auf die Europäische Union bezogenen Studie lassen sich auf die Situation der Glasindustrie in Deutschland im internationalen Wettbewerb übertragen, wie nicht zuletzt die Gespräche mit betrieblichen Experten und Branchenkennern gezeigt haben. Mit der Verschiebung der
weltweiten Nachfrage nach Glas und Glaswaren setzte insbesondere in Asien,
aber auch in Ländern wie der Türkei, ein massiver Aufbau von Produktionskapazitäten ein. Ein hoher Druck wird z. B. auf Flachglashersteller und -veredler durch
neue Wettbewerber aus der Türkei und aus China ausgeübt; gleichzeitig werden
auch innerhalb der Flachglaskonzerne die Aufträge neu verteilt, z. B. nach Osteuropa, wo die Konzerne Werke mit neuesten Technologien aufgebaut haben: So
werden im Automotive-Bereich die Windschutzscheiben für die Kompaktklasse
auch für Automobil-Montagestandorte in Deutschland häufig aus diesen Ländern bezogen, während Scheiben für die Premiumklasse eher noch hierzulande
produziert werden (Exp.). Der Markt für Solarglas brach infolge der Importe
kompletter Fotovoltaikmodule aus China und dem Niedergang der Solarindustrie in Ostdeutschland zusammen. Und auch beim Behälterglas ist ein höherer
Importdruck spürbar, obwohl beispielsweise bei Glasflaschen die Märkte in der
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39
Glasindustrie in Deutschland
Regel nur eine Reichweite von mehreren Hundert Kilometern um die Glashütte
haben. Hier kommt es vor allem durch Produzenten in angrenzenden Ländern
wie Tschechien und Polen zu einer verschärften Wettbewerbssituation.
Moderne Produktionsstätten in Osteuropa und expandierende Anbieter aus
Asien erhöhen nicht nur den Importdruck bei vielen Glasprodukten, sondern
auch den Wettbewerb auf den europäischen und den globalen Auslandsmärkten. Gerade in Europa gibt es in einigen Segmenten bereits erhebliche Überkapazitäten, obwohl sowohl im Flachglas- als auch im Behälterglasbereich bereits
Produktionskapazitäten abgebaut wurden. Zum Teil zulasten von Glashütten in
Deutschland (Standortschließung in Achern und Kapazitätsabbau in Obernkirchen), z. T. profitieren deutsche Werke durch Auftragsverlagerungen infolge von
Standortschließungen im europäischen Ausland. Insgesamt sind die exportierenden Unternehmen einem sich intensivierenden Preiswettbewerb ausgesetzt. Marktchancen für Unternehmen der Glasindustrie aus Deutschland sind
vor allem durch hohe Qualität und innovative Produkte zu erreichen.
Da in allen Abnehmerbranchen mehr oder weniger starke Globalisierungsprozesse stattfinden, werden fast alle Sparten der Glasindustrie mit entsprechenden Anforderungen ihrer Kunden konfrontiert. Flachglasveredler aus dem Automotive-Bereich sollen Produktionsstätten in Nähe der neuen Automobilwerke
ihrer Kunden in China, Indien und anderen Schwellenländern aufbauen. Spezialglashersteller haben ihre Abnehmer für Displayglas hauptsächlich in Südostasien. Behälterglashersteller sollen Flaschen, Flakons, Arzneimittelbehälter
weltweit liefern, am besten »just-in-time« aus einer Produktion vor Ort. Unternehmen aus verschiedenen Sparten der Glasindustrie geraten damit immer
stärker unter Druck, eigene Produktionsstätten in den für ihre Hauptabnehmer
relevanten Märkten aufzubauen, um ihre Lieferantenposition bei diesen zu
sichern.
307
40
Glasindustrie in Deutschland
Marktbedingungen in Deutschland
In der Glasindustrie ist die durchschnittliche Betriebsgröße ähnlich wie im Verarbeitenden Gewerbe insgesamt. Bezogen auf die Eigentumsstrukturen ist die
Glasindustrie aber eine relativ stark konzentrierte Branche. Im Bereich Flachglas
dominieren Konzerne wie Saint-Gobain und NSG/Pilkington die Branchenlandschaft, beim Behälterglas Ardagh, Owens-Illinois (O-I) und Saint-Gobain Oberland sowie beim Spezialglas die Schott AG. Die Mehrzahl dieser Unternehmen
wird mehr oder weniger stark aus dem Ausland gesteuert – die Konzernzentralen sind in Paris, Tokio, Dublin, Perrysburg/Ohio, Bad Wurzach und Mainz. Daneben gibt es weitere große Hersteller wie Gerresheimer, einem Hersteller von
Spezialverpackungen aus Glas und Kunststoff, sowie mittelständische Unternehmen, z. B. Wiegand als Behälterglashersteller. Einige Hersteller aus den verschiedenen Sparten beliefern regionale Märkte, andere wiederum sind multinationale Unternehmen auf globaler Ebene.
Bei den Marktbedingungen für die Glasindustrie in Deutschland spielen verschiedene Kostenfaktoren und die Entwicklung der Erzeugerpreise eine wichtige Rolle. Die für die Herstellung von Glas benötigten Primärrohstoffe Quarzsand, Soda, Kalk und Dolomit sind in Deutschland in ausreichender Menge und
Qualität vorhanden. »Die Preisentwicklung bei den klassischen Rohstoffen der
Glasindustrie ist stabil« (Exp.). Dagegen ist beim wichtigen Sekundärrohstoff
Recyclingglas (»Scherben«) der Preis in den letzten Jahren angestiegen: »Seit
das Duale System Deutschland vor acht Jahren geändert wurde und die Eigentumsrechte von Scherben versteigert werden, sind die Scherbenkosten für die
Glasindustrie deutlich angestiegen. Scherben sind zum Spekulationsobjekt
geworden« (Exp.).
Ein je nach Sparte sehr bedeutender Kostenfaktor sind die Energiekosten. Der
Energiekostenanteil lag im Jahr 2011 in der Gesamtbranche »Herstellung von
Glas und Glaswaren« bei 8,6 % (Kostenstrukturstatistik des Statistischen Bundesamts). Differenziert nach Sparten lag der Energiekostenanteil bei der »Herstellung von Hohlglas« mit 14,9 % am höchsten, gefolgt von der »Herstellung
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41
Glasindustrie in Deutschland
von Flachglas« mit 13,9 %. Geringer, aber immer noch deutlich über dem Durchschnitt des Verarbeitenden Gewerbes (2,1 % im Jahr 2011), ist der Energiekostenanteil bei Glasfasern (8,4 %), Spezialglas (7,4 %) und bei der Flachglasveredlung (4,0 %). Die Energiekosten stiegen in den letzten Jahren stark an: Elektrischer
Strom war 2012 um 30 % teurer als 2005 und Erdgas (bei Abgabe an die Industrie) um 73 %.
Den Energiekosten kommt in der Glasindustrie als einer energieintensiven
Branche eine sehr hohe Bedeutung zu, weshalb die politischen Rahmenbedingungen im Energiebereich für die Branche sehr wichtig sind. Bisher sind besonders energieintensive Unternehmen der Glasindustrie durch die Ausnahmeregelungen für energieintensive Branchen teilweise befreit von der EEG-Umlage
sowie von Netzentgelten und können durch die »Carbon-Leakage-Kriterien«
beim Emissionshandel sparen. Als EEG-Härtefall sind jedoch nur wenige Unternehmen aus der Glasindustrie eingestuft. »Nur wenige Standorte erreichen die
erforderlichen 14 % Stromkosten im Verhältnis zur Bruttowertschöpfung. . . . In
der deutschen Glasindustrie sind es nur 26 von rund 400 Unternehmen, die
die Voraussetzungen für die besondere Ausgleichsregelung erfüllen« (BV Glas
2013: 6). Ohne die diversen Entlastungsregelungen wäre, so die meisten der
befragten Experten, die europäische und die weltweite Wettbewerbsfähigkeit
bedeutender Sparten der Glasindustrie erheblich gefährdet. »Glashersteller
sind auf bezahlbare Energie angewiesen. Und auch bei den Umweltauflagen
darf der Bogen nicht überspannt werden. Die Regeln gelten zwar meist europaweit, aber bei der Umsetzung ist Deutschland besonders gründlich. Deutschland geht da zu 100 % ran, während andere Länder großzügiger sind, was sich
wiederum direkt auf die Wettbewerbsbedingungen für unsere Glashersteller
auswirkt« (Exp.).
Im Gegenzug zu den steigenden Kosten konnten die Erzeugerpreise für Glas und
Glaswaren nur deutlich weniger erhöht werden: von 2005 bis 2012 über alle
Sparten hinweg lediglich um 8 % laut Erzeugerpreisindex des Statistischen Bundesamts. Besonders starke Preisschwankungen gab es bei der Flachglasherstel-
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42
Glasindustrie in Deutschland
lung (Abbildung 2.1): Aufgrund der hohen Nachfrage stieg der Preis für Basisglas von 2005 bis 2007 um mehr als 50 %. Mit dem Ausbau der Basisglaskapazitäten in Ostdeutschland, dem folgenden Niedergang beim Solarglas und
der Wirtschaftskrise 2009 kam es in der Folge zu einem klaren Preisverfall. 2009
lag der Erzeugerpreis für Basisglas um 10 % unter dem Ausgangswert 2005.
Seither erholte sich der jahresdurchschnittliche Preis für Basisglas (abgesehen
von saisonalen Schwankungen) nicht mehr. Die Preisspirale nach unten scheint
sich fortzusetzen: 2012 lag der Erzeugerpreis für Basisglas um 23 % unter dem
Wert von 2005, im ersten Halbjahr 2013 deutlich um über 30 % darunter. Innerhalb der Glasindustrie entwickelte sich der Erzeugerpreis für die Hersteller von
Behälterglas am besten: Beim Hohlglas lag der Erzeugerpreis im Jahr 2012 um
knapp 20 % über dem des Jahres 2005.
Abb. 2.1: Entwicklung der Erzeugerpreise nach den Sparten
Abbildung
2.1: Entwicklung der Erzeugerpreise nach den Sparten
der Glasindustrie (Index 2005= 100)
der Glasindustrie (Index 2005= 100)
Flachglas (Basisglas)
Veredeltes Flachglas
Hohlglas
Glasfasern
Spezialglas
160
150
140
130
120
110
100
90
80
70
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
2012
Quelle: Statistisches Bundesamt, Index der Erzeugerpreise.
310
43
Glasindustrie in Deutschland
Nicht zuletzt aufgrund der divergierenden Entwicklung von Kosten und Verkaufspreisen bleibt die Ertragslage in der Glasindustrie angespannt. Eher die
Ausnahme sind Unternehmen, die in Deutschland einen Ertrag von mehr als
10 % (nach HGB) erwirtschaften und damit auch ein stabil hohes Investitionsniveau halten. »Gerade weil wir nachhaltig investieren, stehen wir wirtschaftlich gut da« (Exp.). Bei anderen Unternehmen, insbesondere aus dem Bereich
Flachglas, wirkt sich die unbefriedigende Ertragslage in den letzten Jahren
direkt auf die Investitionsbereitschaft aus. Und für manche ist die wirtschaftliche Situation so schlecht, dass sie bereits Insolvenz anmelden mussten oder
kurz davor stehen (Exp.). In der investitionsgetriebenen Glasindustrie wird die
Zukunftsfähigkeit von Unternehmen stark in Mitleidenschaft gezogen, wenn
sie sich bei Investitionen zu stark ausklinken. In der Regel erfolgen größere
Investitionen wie ein Wannenbau zyklisch, bei Flachglaswannen ist in der Regel
alle 15 Jahre eine Komplettsanierung (»Kaltreparatur«) notwendig, bei der
»Behälterglasindustrie alle 12 Jahre als geplanter Prozess« (Exp.). Häufig werden Wannenbauten auch zur temporären Herausnahme von Produktionskapazitäten genutzt. Bei Überkapazitäten im deutschen oder europäischen Markt
wird der Umbau von Schmelzwannen verlängert, um zu einer Marktanpassung
zu kommen.
Für die weitere Betrachtung der Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt ist
eine Differenzierung nach den Sparten der Glasindustrie erforderlich. Doch
zuvor wird noch auf verschiedene Strategieansätze von Unternehmen in
Deutschland eingegangen, die in den letzten Jahren eine mehr oder weniger
große Bedeutung erlangt haben.
Strategieansätze von Unternehmen in Deutschland
Die deutschen Hersteller von Glas und Glaswaren ergriffen in den letzten Jahren
unterschiedliche Strategien und Maßnahmen, um sich den veränderten Wettbewerbsbedingungen im Heimatmarkt und auf globaler Ebene zu stellen. Zwar sind
Kosten ein wichtiges Argument und es geht auch darum, Überkapazitäten aus
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44
Glasindustrie in Deutschland
dem Markt zu nehmen. »Obwohl die Preise im Wettbewerb definitiv wichtig sind,
sprechen wir in der Glasindustrie von einem Innovationswettbewerb, weil nur so
Alleinstellungsmerkmale erarbeitet werden können« (Exp.). Zentrale Bestandteile
von Unternehmensstrategien sind demnach das Anstreben der Technologieführerschaft, sowohl auf Produkt- als auch auf Verfahrensseite, die Internationalisierung sowie die Konzentration auf Produkte mit hoher Wertschöpfung:
• Zum Thema Technologieführerschaft gehört die Entwicklung innovativer Produkte und Lösungen in allen Sparten der Glasindustrie. Insbesondere im
Bereich Spezialgläser, die durch »die gezielte Auswahl ihrer chemischen
Zusammensetzung speziellen Anforderungen angepasst werden können und
daher ein nahezu unerschöpfliches Entwicklungspotenzial eröffnen, sind
deutsche Hersteller mit innovativen Erzeugnissen auf internationalen Märkten erfolgreich« (Willett 1998: 433). Im Bereich Flachglasveredlung gilt dasselbe für Funktionsbeschichtungen, im Bereich Behälterglas für Leichtglastechnologien und innovative Designs.
• Das zweite Element von Unternehmensstrategien beim Thema Technologieführerschaft sind Verfahrens- bzw. Prozessinnovationen, die gezielt zur Verbesserung der Effizienz von betrieblichen Abläufen entwickelt werden. Damit
werden Rationalisierungspotenziale durch Automatisierung und Technisierung gehoben, um die Arbeitsproduktivität zu erhöhen. Und dadurch wird
heute verstärkt auch die Ressourcenproduktivität erhöht, indem die Materialeffizienz und die Energieeffizienz optimiert werden.
• Internationalisierung ist das dritte Element bei den Unternehmensstrategien.
Weltweite Märkte werden nicht nur durch Vertriebseinheiten vor Ort, sondern auch durch Produktion und Entwicklung in den jeweiligen Märkten
erschlossen. Beispiele für Strategien der Internationalisierung von Unternehmen der deutschen Glasindustrie sind vielfältig. Vorreiter waren Schott als
führender Spezialglashersteller und seit den 1990er-Jahren Gerresheimer als
Behälterglashersteller, der gleichzeitig auf Produkte mit hohem Wachstumspotenzial, z. B. Glas für die Pharma- und Kosmetikindustrie, fokussierte. Generell war bereits in den 1990er-Jahren »in sämtlichen Sparten der deutschen
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45
Glasindustrie in Deutschland
Glasindustrie eine zunehmend internationale Ausrichtung der Unternehmen
zu beobachten« (Willett 1998: 435).
• Ein viertes Element ist die Konzentration auf Produkte mit mehr Wachstumspotenzial sowie höherer Wertschöpfung und Wertigkeit. Unternehmen aus
der Flachglasindustrie fokussieren auf Premium-Produkte für Automobilhersteller, z. B. funktionsintegrierte Windschutzscheiben, und für die Bauindustrie, z. B. designintensive Elemente für Glasfassaden oder Fenster mit besten
Isoliereigenschaften. Unternehmen aus dem Bereich Behälterglas konzentrieren sich auf qualitativ hochwertige und gleichzeitig leichte Glasverpackungen
oder auf designorientierte Gläser für die Kosmetikindustrie.
Neben diesen vier Strategieelementen sind die Kundennähe, der Service und die
Nachhaltigkeit für viele Unternehmen der Glasindustrie in Deutschland wichtige Alleinstellungsmerkmale gegenüber dem internationalen Wettbewerb. Es
geht den Unternehmen um die »Pflege und Erschließung eines Kundenportfolios, das auf langfristige Zusammenarbeit angelegt ist und auch um dauerhafte
Innovationspartnerschaften mit den Kunden« (Exp.). Zum Service gehört neben
der technischen Betreuung der Kunden auch die Gewährleistung von Flexibilität, Liefertreue und Just-in-Time-Anforderungen. Ziel der Unternehmen ist es,
die heutigen Märkte zu halten, Märkte, die durch Substitutionsprozesse verloren gingen, zurückzuerobern, und neue Märkte zu erschließen. – »Und ein wichtiges Argument dafür ist die Nachhaltigkeit« (Exp.).
2.2 Entwicklungstrends nach Sparten
Die einzelnen Sparten der Glasindustrie sind unterschiedlichen Marktbedingungen ausgesetzt. Die verschiedenen Abnehmerbranchen werden mit einer Vielfalt
unterschiedlicher Produkte beliefert. »Jede Teilbranche ist für sich ein Unikat«
(Exp.). Manche Entwicklungstrends treffen deshalb nur für bestimmte Sparten
der Glasindustrie zu, weshalb die Branche im Folgenden differenziert betrachtet
wird. Nach einem Überblick zu allen Sparten werden dann Entwicklungstrends
bei den großen Teilbranchen Flachglas und Behälterglas ausführlicher betrachtet.
313
46
Glasindustrie in Deutschland
Herstellung von Flachglas: Flachglashersteller produzieren Basisglas für die
Weiterverarbeitung durch Flachglasveredler. Sie machten 2012 einen Umsatzanteil von 11,0 % und einen Beschäftigtenanteil von 7,4 % an der gesamten
Glasindustrie aus. Die Flachglasherstellung ist mit ihren komplexen Großanlagen zur Erzeugung von Basisglas die kapitalintensivste Sparte der Glasindustrie.
Die Unternehmen stellen die Basisgläser aus der eigenen Glasschmelze her. Der
weit überwiegende Anteil des Basisglases wird im Floatverfahren hergestellt,
bei dem das auf über 1.000 °C erhitzte Glas aus dem Wannenofen auf ein Bad
aus flüssigem Zinn fließt und sich dort ausbreitet. Auf dem bis zu 60 m langen
Zinnbad »floated« die Glasmasse als endloses, absolut planparalleles Band und
kühlt auf rund 600 °C ab. Im anschließenden Kühltunnel und offenen Rollengang wird das Glasband weiter abgekühlt und schließlich in geeignete Formate
zugeschnitten (Willett 1998: 285).
Der größte Teil der europäischen Flachglasherstellung befindet sich unter der
Kontrolle weniger internationaler Unternehmen. Die vier Konzerne NSG (Pilkington), Saint-Gobain, Asahi (Glaverbel) und Guardian dominieren den Markt.
Darüber hinaus gibt es in Deutschland weitere Flachglaserzeuger, die in den
letzten Jahren neue, moderne Produktionsstätten im Osten aufgebaut haben,
wie F-Glass und Euroglas. Die großen Überkapazitäten in dieser Sparte resultieren u. a. daraus, dass der Solarglas-Absatz in Deutschland eingebrochen ist.
Solarglas findet aufgrund des Importdrucks bei Fotovoltaikmodulen in Deutschland kaum mehr Abnehmer, obwohl es vor wenigen Jahren noch Hoffnungsträger war und für einen massiven Ausbau der Produktionskapazitäten gesorgt
hat.
Veredlung und Bearbeitung von Flachglas: Flachglasveredler bearbeiten das
von den Herstellern erzeugte Basisglas weiter, sie verfügen also über keine eigene Glasschmelze. Der Umsatzanteil dieser Sparte lag 2012 bei 39,0 %, der
Beschäftigtenanteil bei 45,4 %. Neben den vertikal integrierten Konzernbetrieben wie Saint-Gobain und Pilkington gibt es in Deutschland zahlreiche kleine
und mittlere Flachglasveredler, insgesamt besteht die Teilbranche aus 220
314
47
Glasindustrie in Deutschland
Betrieben (mit mehr als 20 Beschäftigten). Hauptabnehmerbranchen dieser
Sparte sind die Bauwirtschaft und die Automobilindustrie (siehe Teilkapitel
»Flachglas«).
Herstellung von Hohlglas: Die Sparte Hohlglasherstellung besteht aus den
Behälterglas- und den Wirtschaftsglasherstellern. Der Umsatzanteil dieser
Sparte lag 2012 bei 26,8 %, der Beschäftigtenanteil bei 26,7 %. Behälterglas wird
in der Regel in mehrstufigen Betrieben produziert, von der Schmelzwanne über
IS-Maschine, Kühlofen und Qualitätskontrollen bis zur geprüften, versandfertigen Flasche. Hauptabnehmer der Behälterglassparte sind Konsumgüterindustrien wie Getränkehersteller, die Kosmetikindustrie und Nahrungsmittelproduzenten, aber auch die Pharmaindustrie. Behälterglashersteller machen den
größten Teilbereich des Hohlglassegments aus (siehe Teilkapitel »Behälterglas«).
Der kleinere Teilbereich Kristall- und Wirtschaftsglas, also die Herstellung von
Trinkgläsern, Glasgeschirr und Geschenkartikeln aus Glas unterlag in den letzten Jahrzehnten einem Strukturwandel mit massiven Auswirkungen auf die
Unternehmenslandschaft in Deutschland. »Beim Wirtschaftsglas hatte die Produktion von ›Massenware‹ keine Überlebenschance in Deutschland – da gab es
einen Kahlschlag« (Exp.). Zum einen gab es in den 1990er-Jahren einen starken
Trend zur Auslandsverlagerung in die angrenzenden mittel- und osteuropäischen Länder, zum anderen entstand durch Wettbewerber aus der Türkei und
Asien ein starker Importdruck. Nur Unternehmen mit Nischenstrategien rund
um Wertigkeit, Qualität, Design haben überlebt. Lediglich 4 Hüttenunternehmen mit eigener Wanne, die Glas sowohl erschmelzen als auch weiterverarbeiten, sind übriggeblieben: Nachtmann Bleikristallwerke, Ritzenhoff, Stölzle,
Zwiesel Kristallglas. Darüber hinaus gibt es noch einige kleinere Veredlungsbetriebe, die über keine eigene Glasschmelze verfügen. »Früher gab es Dutzende
von Firmen im Bereich Wirtschaftsglas, da ist relativ wenig übriggeblieben«
(Exp.). Seit einigen Jahren scheint aber mit den verbliebenen »Hochqualitäts-Produzenten« der Boden beim strukturell bedingten Rückgang erreicht zu
sein.
315
48
Glasindustrie in Deutschland
Herstellung von Glasfasern: Die Glasfasersparte ist in 2 Bereiche unterteilt: Isolierglasfasern und Verstärkungsglasfasern. Die Sparte ist mit einem Umsatzanteil von 9,4 % und einem Beschäftigtenanteil von 6,7 % die kleinste Teilbranche
der Glasindustrie. Glasfasern werden in einer Vielzahl von Produkten verwendet. »Überwiegend aus Altglas hergestellt, finden sie Anwendung als Dämmstoff. Aus reinstem Quarzsand hergestellt, kommen sie als Glasfaserkabel zur
Datenübertragung zum Einsatz. . . . Einsatzmöglichkeiten gibt es nicht zuletzt
im Bereich der erneuerbaren Energien. Als Verstärkungsglasfasern verleihen
Glasfasern den Rotorblättern von Windkraftanlagen Stabilität« (BV Glas 2013:
23). Innerhalb der Sparte gibt es in den letzten Jahren laut den befragten Experten eine gespaltene Entwicklung: Während die Verstärkungsglasfaser-Hersteller
unter Absatzproblemen leiden, ist der Markt für Glaswolle mit seinen guten
Dämmeigenschaften (energetische Gebäudesanierung) eher stabil.
Herstellung von Spezialglas und technischen Glaswaren: Die Spezialglasherstellung ist die am stärksten exportorientierte Sparte der Glasindustrie. Sowohl
Umsatz- als auch Beschäftigtenanteil dieser Sparte an der Glasindustrie lagen
2012 bei 13,8 %. Spezialgläser entstehen durch eine gezielte Zusammensetzung
chemischer Bestandteile, die dem Glas besondere Eigenschaften verleihen und
es exakt den gewünschten Anforderungen anpassen. Die Anwendungsbereiche
von Spezialgläsern sind breit gefächert: Insbesondere Displayglas, das »in vielen
Cover-&-Touch-Anwendungen eine Rolle spielt, stellt die Spezialglasindustrie
vor immer größere Herausforderungen« (BV Glas 2013: 24). Die Abnehmer aus
der Elektronikindustrie verlangen immer dünnere, dabei aber zugleich transparente und stabile Materialien. Klassische Spezialglassegmente sind z. B. Stangen, Stäbe, Kugeln für vielfältige Anwendungen vom Labor bis in Anlagen der
chemischen und pharmazeutischen Industrie; Glaskolben, optische Gläser und
Glasröhren für verschiedene Einsatzzwecke sowie Glaskeramik für die Hauswirtschaftstechnik und für Cerankochfelder bei Elektroherden.
Für die Spezialglashersteller haben Produktinnovationen einen sehr hohen Stellenwert. In diesem Bereich dominieren in Deutschland im Gegensatz zu den
316
49
Glasindustrie in Deutschland
großen Sparten der Glasindustrie nicht Konzerne mit Sitz im Ausland, sondern
Unternehmen aus Deutschland wie Schott, Osram und Technische Glaswerke
Ilmenau. Der Technologiekonzern Schott AG ist der größte Spezialglashersteller
Deutschlands. Vor mehr als 125 Jahren als Spezialglasfabrik in Jena gegründet,
entwickelt und produziert Schott heute weltweit an zahlreichen Standorten
Spezialwerkstoffe, Komponenten und Systeme für den Einsatz in Hausgeräten,
Pharmazie, Solarenergie, Elektronik, Optik und Automotive. Rund 50.000 Produkte in über 400 Glasarten entstehen in einem aufwendigen Schmelz- und
Verarbeitungsprozess (Siemens 2010: 38).
Flachglas
Der Bereich Flachglas besteht aus den beiden Sparten »Herstellung von Flachglas« und »Veredlung und Bearbeitung von Flachglas«. Flachglas hat insbesondere für die Bauwirtschaft und die Automobilindustrie eine hohe Bedeutung.
Insgesamt ist die Bauwirtschaft seit geraumer Zeit zu einem wichtigen Motor
für die Glasindustrie geworden: »Nicht nur Floatglas als wichtiges Ausgangsmaterial für Fenster und Fassadenelemente, sondern auch Glasbausteine als
wiederentdeckte Designmaterialien sowie Glaswolle als Isolationsmaterial
gehören zu den Sparten, in denen der Markt deutlich wächst« (Siemens 2006: 5).
Bei der Flachglasherstellung gab es in den letzten 10 Jahren einen starken Ausbau von Produktionskapazitäten, u. a. aufgrund des erwarteten Booms der Solarindustrie. Mehrere neue Floatlinien wurden insbesondere in Ostdeutschland
aufgebaut. Nachdem der Markt für Solarglas in Deutschland eingebrochen ist,
gibt es beim Basisglas nun deutliche Überkapazitäten. Dies zeigt sich in Zahlen
zur Entwicklung von 2008 bis 2012: Während die Produktion von Basisglas in
diesem Zeitraum um gut 50 % zulegte, ging der Umsatz um 10 % zurück. Und
der Erzeugerpreis für Basisglas brach im Zeitraum von 2007 bis 2012 gar um
50 % ein. Zitate aus den Experteninterviews untermauern die schwierige Lage:
• »Moderne Hütten, die Solarglas nicht mehr verkaufen können, gehen jetzt ins
Basisglas. Hier ist es zu Überkapazitäten gekommen. Zusätzliche negative
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50
Glasindustrie in Deutschland
Effekte eher kurzfristiger Natur entstehen durch Hersteller aus dem Süden
Europas, die derzeit mit Schleuderpreisen in den Markt gehen« (Exp.).
• »Durch den Fotovoltaik-Boom entstanden in Deutschland massive Überkapazitäten bei der Flachglaserzeugung – heute wird dadurch auch für andere
Märkte im Flachglasbereich, insbesondere bei Basisglas für die Bauwirtschaft,
Preisdruck ausgeübt« (Exp.).
Auch bei der Flachglasveredlung gab es in den letzten Jahren einen deutlichen
Kapazitätsaufbau, jedoch nicht im Osten Deutschlands, sondern vorrangig in
Osteuropa, wo hochmoderne Anlagen aufgebaut wurden. Inzwischen ist im
Flachglasbereich jedoch eine Anpassung der Produktionskapazitäten in Europa
zu erkennen. So hat beispielsweise Pilkington bereits Standorte in Spanien, Italien, Finnland und Schweden geschlossen.
Die Zukunftsaussichten der Flachglassparte werden von Branchenkennern sehr
zwiespältig beurteilt – dazu zwei Beispiele, die für die konträren Statements
verschiedener Experten stehen:
• »Aufgrund der Klimadebatte sehe ich glänzende Aussichten für die nächsten
Jahre, dass sich die Produktion bei der Flachglasindustrie wieder erweitern wird.
Wir sehen zwar in den letzten Jahren einen Preisverfall und teilweise Produktionsrückgänge bei der Flachglasindustrie. Aber längerfristig geht es gar nicht
anders, die Klimaziele können nur erreicht werden, wenn in Wärmedämmung
und damit in innovative Lösungen der Glasindustrie investiert wird« (Exp.).
• »Flachglas ist der am stärksten unter Druck stehende und damit der gefährdetste Bereich der Glasindustrie. Vor allem im Automotive-Bereich, aber auch
beim Flachglas insgesamt verschärft sich der Preiswettbewerb aus dem
Osten. Für Kompaktklasse-Pkw kommt teilweise bereits die komplette Rundumverglasung aus China. Nur das Distributionscenter mit Lagerhaltung sorgt
in Deutschland für ein paar Arbeitsplätze. Auch für den Premiumbereich kommen die Autoscheiben bereits teilweise aus der Türkei oder aus Rumänien und
nur die Hochqualitäts-Windschutzscheiben werden noch aus deutscher Produktion bezogen« (Exp.).
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Glasindustrie in Deutschland
Unter einem besonders hohen Druck stehen – das untermauert dieses Expertenstatement – die Automobilzulieferer unter den Flachglasveredlern. Preisdruck, jährliche Preissenkungen bzw. entsprechende Zugeständnisse seitens
der Zulieferer sind seit den 1990er-Jahren ein die automobile Wertschöpfungskette prägende Themen. Die vor gut 20 Jahre als »Lopez-Effekt« aufgekommene
Problematik verschärft sich tendenziell weiter. Die Autohersteller ziehen die
Preisschraube in Richtung Zulieferer alljährlich an. Der Kostendruck der Hersteller wird damit auf die Zulieferer abgewälzt und von den direkten Zulieferern
ihrerseits als Preisdruck auf die Unternehmen der 2. und 3. Zuliefererebene
durchgereicht.
»Existenzielle Bedrohung insbesondere der kleineren Unternehmen, der Zwang
zur Verlagerung von Arbeitsplätzen und Fertigungen in Low-Cost-Standorte, sinkende Innovationsfähigkeit und abnehmende Qualität bei den Produkten sind
die zumeist unmittelbaren Folgen eines erhöhten Preisdruckes, der an die Grenzen – und zum Teil darüber hinaus – der Überlebensfähigkeit der Zulieferer
geht« (Meißner 2012: 16). Die Auswirkungen des von den Automobilherstellern
ausgeübten Drucks bekommen die Beschäftigten und die Betriebsräte in den
Zulieferunternehmen zu spüren, z. B. bei Zugeständnissen beim Einkommen
(Tarifabweichungen), bei Einsparungen bei der betrieblichen Weiterbildung, bei
Arbeitszeit- und Arbeitsgestaltungsfragen, bei zunehmendem Einsatz von Leiharbeit und Werkverträgen, sowie in letzter Konsequenz bei Arbeitsplatzabbau
infolge von Kapazitätsbereinigung oder Produktionsverlagerung.
Der immense Preisdruck trifft die Zulieferer aus allen Branchen und damit auch
die Unternehmen aus der Flachglasindustrie. Die Automobilhersteller fordern
z. B. bereits beim Vertragsabschluss eine Rabattierung für 3 Folgejahre mit einer
Preisabsenkung um 15 %. »Und das ohne Berücksichtigung von Kostensteigerungen bei Energie, Rohstoffen, Löhnen« (Exp.). Bei Premiumherstellern ist zu
beobachten, dass sie ihre Einkaufsstrategie im Zeichen des Preiswettbewerbs
umgekrempelt haben. Vor Jahren noch wurde von den Flachglaszulieferern das
Angebot kompletter Car-Sets gefordert und auch entsprechend bezahlt. Heute
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Glasindustrie in Deutschland
geht es den Autoherstellern nur noch darum, einzelne Scheiben möglichst
günstig zu bekommen. »Die Car-Sets wurden dem Kostendiktat geopfert. Heute
kommen Windschutzscheiben, Heckscheiben, Seitengläser usw. von unterschiedlichen Lieferanten, um jeweilige Kostenvorteile zu nutzen. Einfachere Produkte wie Seitenscheiben werden z. B. aus der Türkei geliefert, komplexere Produkte wie Windschutzscheiben kommen bei den Premiumautos auch aus
Deutschland« (Exp.).
Und auch innerhalb der Konzerne der Glasindustrie ist bei der Vergabe von neuen Modellen an die Produktionsstandorte der Kostenvergleich entscheidend,
weil es bei der Qualität kaum mehr Unterschiede gibt. »Investitionen in neue
Technologien und neue Produktionsanlagen flossen in den letzten Jahren im
Konzern vor allem nach Polen, weil es dort Fördermittel der EU gab und die
Umweltauflagen nicht so streng sind. Für Deutschland blieben nur notwendige
Ersatzinvestitionen« (Exp.).
Für die Zuliefererwerke in Deutschland bleibt vor allem »die Nische innovative
Produkte in höchster Qualität für Premiumanforderungen« (Exp.). Know-howVorteile gibt es bei komplizierten Fertigungsprozessen und bei komplexen Produkten mit hohen Anforderungen an optische Eigenschaften, an geometrische
Wiederholbarkeit und an Präzision. Beispielsweise muss bei Head-up-Displays,
wie sie in Premiumfahrzeugen eingesetzt werden, der Abstand zwischen Linse
und Projektionsfläche immer exakt identisch sein.
Behälterglas
Als Behälterglas werden in Glashütten gefertigte Hohlglaswaren bezeichnet,
die zur Verpackung, Aufbewahrung, Konservierung sowie zum Transport von
Getränken, Lebensmitteln, kosmetischen und pharmazeutischen Stoffen dienen. Demnach zählen zu den Produkten der Sparte insbesondere Getränkeflaschen, Lebensmittelgläser und weitere Verpackungsgläser. Beim Produktionsvolumen lagen 2009 Getränkeflaschen mit 2,4 Mio. t vor Lebensmittelgläsern
mit 1,1 Mio. t und Pharmazie/Kosmetik mit 0,3 Mio. t (Röhrig et al. 2010: 29).
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Glasindustrie in Deutschland
Erfolgsfaktoren für die Behälterglashersteller liegen neben niedrigen Erzeugungskosten in den Themen Kundenbindung, Flexibilität, Qualität, Gewichtsreduktion, innovatives Design und Individualität.
Behälterglas wird in Glashütten in großen Mengen maschinell hergestellt (Willett 1998: 253). Das Produktionsverfahren in modernen Behälterglashütten ist in
mehrere Schritte aufgeteilt: Die Glasschmelze erfolgt in kontinuierlichen
Schmelzwannen, von denen die sogenannten IS-Maschinen gespeist werden.
IS-Maschinen sind ein wichtiger Maschinentyp am heißen Ende der Produktion
von Behälterglas. Das Herz einer IS-Maschine ist die Schere. Sie spielt eine wichtige Rolle bei der qualitativ anspruchsvollen Produktion von Behälterglas. Der
vom Plunger erzeugte Glastropfen wird von der Schere exakt abgeschnitten.
Anschließend leitet der Tropfenverteiler die Tropfen an die einzelnen Produktionslinien weiter. In den entsprechenden Sektionen werden die Tropfen dann
zur Flasche ausgeformt. Die Flaschen werden von einem Bandsystem übernommen und zum Einschieber befördert, der sie in den Kühlofen transportiert. Dafür
ist eine hochpräzise Bewegungsführung mit absoluter Reproduzierbarkeit nötig
(Siemens 2006: 8). Nach dem kontrollierten Abkühlungsprozess durchlaufen die
Glasbehälter zur Sicherstellung der Qualität verschiedene Prüf- und Sortiereinrichtungen. Die drei größten Behälterglashütten Deutschlands sind die Werke
von Ardagh in Nienburg, Saint-Gobain Oberland in Essen und Saint-Gobain
Oberland in Bad Wurzach mit jeweils 3 Schmelzwannen und 9 Produktionslinien.
Die größten Behälterglashersteller in Deutschland sind die 3 Konzerne Ardagh
(mit 8 Werken), Saint-Gobain Oberland (mit 4 Werken) und O-I, gefolgt von dem
»großen Mittelständler« Wiegand. Diese 4 Unternehmensgruppen decken gut
80 % des Kernmarktes für Behälterglas ab. Dazu kommt Gerresheimer als Anbieter von Behälterglas für pharmazeutische und kosmetische Verpackungen.
Nach wie vor sind die Behälterglashersteller für die Getränke- und die Lebensmittelindustrie in erster Linie regional ausgerichtet. Die Reichweite ihres
Absatzmarktes hat sich aber in den letzten Jahrzehnten von rund 200 km auf
heute rund 400 km (und bei speziellen Produkten darüber hinaus) vergrößert.
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Glasindustrie in Deutschland
Die Nähe zum Kunden und eine starke Kundenorientierung sind sehr wichtig für
die Hersteller: »Die Kunden sind meist nah an der Hütte« (Exp.). Aber auch die
Kundenstrukturen waren in den letzten Jahren in einem starken Umbruch. So
hat sich die Brauereilandschaft neu geordnet, mit der Konsequenz, dass sich
auch die Anforderungen an die Bierflaschenhersteller verändert haben. Und
selbst der Außenhandel mit angrenzenden Ländern gewinnt an Bedeutung.
Zum einen gibt es einen wachsenden Importdruck aus Ländern wie Tschechien
und Polen, zum anderen wird aus Deutschland vermehrt in westliche Länder
exportiert. Deutsche Hersteller haben z. B. trotz höherer Energie- und Arbeitskosten gegenüber französischen Herstellern Kostenvorteile. »Wir machen
Frankreich den Markt kaputt, und dafür machen die osteuropäischen Länder
unseren Markt kaputt« (Exp.).
Starke Substitutionsprozesse gab es insbesondere in den letzten beiden Jahrzehnten. PET-Flaschen haben vor allem bei Mineralwasser klar gegenüber Glasflaschen Marktanteile gewonnen, während andere Segmente wie Bier und Wein
stabil blieben. Insgesamt gab es jedoch einen Rückgang um ca. eine halbe Mio. t
seit 2000. Rückgänge durch Substitution konnten teilweise durch ein stärkeres
Auslandsgeschäft aufgefangen werden. Dieser Substitutionsprozess wird heute
aber als weitgehend abgeschlossen angesehen. Inzwischen versucht die Behälterglasindustrie wieder Märkte zurückzuerobern, indem wichtige Pluspunkte
von Glasverpackungen wie Inertheit und Nachhaltigkeit in den Vordergrund
gerückt und damit ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht werden. Gleichwohl ist beim Behälterglas eher von einer Marktstagnation auszugehen, die von
Überkapazitäten bei der Produktion begleitet wird.
Der konzerninterne Wettbewerb ist in der Behälterglassparte stark ausgeprägt.
Innerhalb der Konzerne wird zum einen permanentes Benchmarking betrieben,
mit dem die Standorte mittels Kennziffern z. B. zum Personalkostenanteil an
den Herstellkosten, zu Produktionszahlen, zur Qualität und auch zur Arbeitssicherheit verglichen werden. Zum anderen gibt es innerhalb der Konzernstrukturen grenzübergreifende Warenlieferungen, die zu Importdruck führen kön-
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Glasindustrie in Deutschland
nen. In den Konzernen ist inzwischen teilweise eine »standortbezogene Investitionszurückhaltung« festzustellen. »15 Mio. Euro werden heute nicht mehr an
allen Standorten für eine neue Wanne investiert. Da konzentriert ein Unternehmen seine Investitionen eher auf weniger Standorte. Und unter Umständen
dann eben lieber auf einen Standort in Tschechien, wo die Energiekosten und
die Lohnkosten geringer sind« (Exp.).
Ein wichtiger Trend in der Behälterglasindustrie ist die deutliche Erhöhung der
Produktvielfalt. Bei vielen Unternehmen steht nicht mehr »Einheitsflasche« im
Vordergrund, z. B. die Massenproduktion von GDB-Mineralwasserflaschen oder
von Bierflaschen, sondern die Fertigung einer Vielzahl verschiedener Flaschen mit
unterschiedlichen Formen und Farben. So hat einer der großen Konzernbetriebe
vor 20 Jahren etwa 50 verschiedene Artikel hergestellt, heute sind es gut 400 verschiedene Produkte. Diese Vielfalt führt zu häufigeren Sortenwechseln und damit
zu höheren Flexibilisierungsanforderungen an die Anlagen. Damit steigen Investitionsbedarfe für neue Anlagen – ein weiterer Punkt der schon heute innerhalb
der Konzerne zu einem Kampf der Standorte um Investitionen führt.
2.3 Innovationstrends
Für die Betrachtung des Innovationsgeschehens in der Glasindustrie wird
zunächst auf Ergebnisse der deutschen Innovationserhebung des Zentrums für
Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) eingegangen. Im Zentrum stehen
dann die branchenspezifischen Innovationstrends entlang der zwei Dimensionen Produktinnovationen und Prozessinnovationen. Bei den Produktinnovationen sind Themen von Bedeutung wie Leichtglastechnologie für die Branche als
Ganzes sowie spartenspezifische Innovationen wie Multifunktionsglas (im
Flachglasbereich) und individuelle Produkte in innovativem Design (im Behälterglasbereich). Bei den Prozessinnovationen geht es um die Optimierung der
Produktionskosten durch technische Maßnahmen und durch organisatorische
Maßnahmen. Eine besondere Rolle spielt hier die Senkung der Energiekosten
durch verschiedene Effizienzlösungen.
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Glasindustrie in Deutschland
Innovationsindikatoren
Die jährliche Innovationserhebung des ZEW geht auf unterschiedliche Innovationsindikatoren ein. Die Glasindustrie wird dabei gemeinsam mit der Keramikund Steinwarenindustrie betrachtet, sodass die folgenden Ergebnisse der ZEWInnovationserhebung 2012 für den gesamten Wirtschaftszweig »Herstellung
von Glas und Glaswaren, Keramik, Verarbeitung von Steinen und Erden« gelten.
Demnach setzte sich der Trend steigender Umsätze in der Glas-, Keramik- und
Steinwarenindustrie merklich fort (im Betrachtungsjahr 2011 der ZEWInnovationserhebung), »wobei der Optimismus der Branche für die Zukunft
eher verhalten ist. Die Innovationsausgaben wurden bis 2011 weiter erhöht
und beliefen sich auf 1,13 Mrd. Euro« (ZEW 2013: 1). Die Innovationsbudgets
wurden weniger stark als der Umsatz erhöht, sodass der Anteil der Innovationsausgaben am Umsatz (Innovationsintensität) leicht auf 2,4 % zurückging
(gegenüber 2,5 % im Jahr 2010). Damit liegt die Innovationsintensität im Vergleich aller Branchen im Mittelfeld. In der Vergleichsgruppe »sonstige Industrie«
lag die Innovationsintensität dagegen bei lediglich 1,4 %.
Die Innovatorenquote (Anteil der Unternehmen, die neue Produkte oder Prozesse
eingeführt haben) fiel bei der Glas-, Keramik- und Steinwarenindustrie von 47 %
auf 42 %. Produktinnovationen haben 2011 eine weitaus geringere Rolle als in den
Vorjahren gespielt: »Der Umsatzanteil mit neuen Produkten insgesamt hat einen
herben Rückschlag erlitten. Er sank von 17,3 % (2010) auf 10,0 % im Jahr 2011«
(ZEW 2013: 1). Damit ist der Umsatzanteil mit Produktneuheiten auf den mit
Abstand niedrigsten Wert der letzten 6 Jahre gefallen. Einen Negativtrend gibt es
bei den Prozessinnovationen. Der Anteil von Unternehmen, die neue Verfahren
eingeführt haben, sank 2011 auf 17 % (2010: 21 %). Prozessinnovationen haben in
der Glas-, Keramik- und Steinwarenindustrie im Jahr 2011 zu Kostensenkungen
um 2,0 % beigetragen. In den Vorjahren lag diese Quote bei über 3 %.
Als Resümee kann festgehalten werden, dass die Glas-, Keramik- und Steinwarenindustrie im Branchenvergleich des Jahres 2011 eher im Mittelfeld bzw. im
unteren Mittelfeld liegt. Bei der Innovationsintensität liegt der Wirtschafts-
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Glasindustrie in Deutschland
zweig mit Innovationsausgaben von 2,4 % des Umsatzes deutlich hinter dem
Fahrzeugbau (9,3 %), der Elektroindustrie (9,2 %), der Chemie-/Pharmaindustrie
(6,6 %) und dem Maschinenbau (5,4 %), aber auch hinter eher vergleichbaren
Branchen wie der Gummi- und Kunststoffverarbeitung (2,6 %) sowie dem Textilund Bekleidungsgewerbe (2,5 %) (ZEW 2013).
Produktinnovationen
Gewichtsreduktion und Leichtglastechnologien sind seit Langem wichtige Innovationsthemen für die Glasindustrie, deren Bedeutung in den letzten Jahren
nochmals größer wurde, weil die Kundenanforderungen an leichte Produkte
steigen. Dazu zwei Beispiele, stellvertretend für alle Abnehmerbranchen:
• Für die Nahrungsmittelindustrie ist das Verpackungsgewicht immer wichtiger geworden. Eine Anforderung, auf die die Behälterglassparte Antworten
finden muss. »In der Substitutionskonkurrenz mit leichteren Werkstoffen
geht es hier bei der Glasverpackung um jedes Gramm« (Exp.).
• In der Automobilindustrie ist im Zuge der weltweiten Anforderungen an
CO2-Reduktion neben neuen Antriebskonzepten der Leichtbau zu einem wichtigen Innovationstreiber geworden. Flachglashersteller, die einen Beitrag zur
Gewichtsreduktion bei Automobilen leisten können, werden zu bevorzugten
Entwicklungspartnern und Zulieferern der Autohersteller.
Neben der Gewichtsreduktion als generellem Innovationstrend in der Glasindustrie gibt es diverse spartenbezogene Trends. Beim Flachglas geht es darum,
mehrere Funktionen im Glas zu vereinen. Multifunktionsgläser im Baubereich
dienen sowohl der Wärmedämmung, dem Sonnenschutz als auch dem Schallschutz. »Wir haben mittlerweile Fenstergläser, die besser isolieren als der Rahmen. Früher war eher das Glas das Problem, heute ist es eher der Rahmen«
(Exp.). Mittels Dreifachisolierglas wird eine sechsmal höhere Wärmedämmung
als bei herkömmlichem Einfachisolierglas erreicht. Bei Glasfassaden, die weiterhin klar im Trend liegen, wird auch der Sonnenschutz immer wichtiger. »Moderne Glasveredelungen sorgen für einen Sonnenschutz, der direkt im Glas inte-
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Glasindustrie in Deutschland
griert ist: Sogenannte elektrochrome Gläser verdunkeln sich z. B. auf Knopfdruck,
ohne die Durchsicht auf die Außenwelt zu behindern« (BV Glas 2013: 16). Eine
weitere Innovation im Bereich Glasfassade sind schaltbare elektronische Gläser.
Im spannungslosen Zustand ist die Scheibe undurchsichtig, weil dann Flüssigkristalle, die mit zwei Spiegelglasscheiben im Verbund stehen, unregelmäßig
angeordnet sind und damit das Licht streuen. Wird der Strom eingeschaltet,
ordnen sich die Flüssigkristalle und die Scheibe ist durchsichtig.
Auch bei Autoglas geht es zum einen um Effizienzlösungen, z. B. sollen innovative Gläser die Einsatzzeit der Klimaanlage begrenzen, was für Elektroautos ein
wichtiger Faktor wäre, weil sich dadurch die Batteriereichweite erhöht. Ein ähnlicher Effekt könnte durch die Integration von Fotovoltaik ins Autoglas erreicht
werden. Zum anderen geht es um wertsteigernde Innovationen, insbesondere
bei den Fahrzeugen der wichtigen Kundengruppe Premiumhersteller. Beispiele
für Innovationen, die in Premiumautos bereits eingesetzt werden, sind Headup-Displays, die sehr hohe Anforderungen an die Präzision von Windschutzscheiben stellen, oder schaltbare Glasdächer (Sundym Select von Pilkington),
die je nach Bedarf Lichteinstrahlung von absoluter Dunkelheit bis zu klarem
Glas regeln können.
Bei den anderen Sparten der Glasindustrie geht es z. B. um Innovationen für
nachhaltige Produkte mit markenindividualisierten Formen und Farben (Behälterglassparte) und um Themen wie »grüne Glaskeramik« beim Spezialglas.
Prozessinnovationen
Bei den Prozessinnovationen in der Glasindustrie liegen die großen technologischen Sprunginnovationen lange zurück. In den 1960er-Jahren war im Flachglasbereich das Floatverfahren eine solche radikale Innovation, die alle anderen
Verfahren der Flachglasherstellung weitgehend verdrängt hat. Heute geht es in
der Branche um die Optimierung und Effizienzsteigerung bei den bewährten
Prozessen. »In den Bereichen, wo noch Potenziale vorhanden sind, wird weiterhin automatisiert. Durch die hohen Flexibilitätsanforderungen und den häufi-
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Glasindustrie in Deutschland
gen Sortenwechsel liegen auch in der Optimierung der Umrüstvorgänge wichtige
verfahrenstechnische Potenziale« (Exp.). Vor allem beim Energieverbrauch werden aufgrund steigender Energiekosten Einsparpotenziale durch Verfahrensinnovationen und Energiemanagement erschlossen (Fleiter et al. 2013). »Glas
gehört zu den ältesten Werkstoffen der Menschheit. Innovationen werden in
der Glasindustrie vielleicht auch aus diesem Grund eher zögerlich umgesetzt.
Um Ressourcen zu sparen und um die Umwelt auch für kommende Generationen erhalten zu können, sah sich jedoch auch die Glasindustrie gezwungen,
über das Thema Energieeffizienz nachzudenken. Und der Schlüssel dazu liegt in
Innovationen« (Siemens 2012: 19).
Je nach Glasart und Produktionsverfahren entfällt mit bis zu 80 % der mit
Abstand größte Energieanteil auf Schmelz- und Läuterungsprozesse. Aufgrund
dieser Tatsache gehört die Glasindustrie zu den energieintensiven Branchen.
Energieeinsparungen lassen sich insbesondere durch technische Verbesserung
der Schmelzwannen und Kühlöfen erzielen (Bauernhansl et al. 2013: 9). Eine
Analyse von Energieeffizienzpotenzialen in der Glasindustrie zeigt vor allem im
Bereich der Glasschmelze Einsparoptionen auf, wie z. B. durch den Einsatz und
die Optimierung von Low-NOx-Brennern, durch innovative Heiztechniken wie
die Glas-FLOX-Hochtemperatur-Verbrennungstechnologie und durch die
Abwärmenutzung mittels kompakter, hocheffizienter Dampfturbinen, mit
deren Hilfe sich die Abwärme von der Schmelzwanne in Strom umwandeln lässt
(Fraunhofer ISI, IREES 2011: 418–422). Aber auch eine leicht zu realisierende
Maßnahme wie der Brennstoffwechsel, d. h. der Wechsel von der Befeuerung
mit schweren Ölen hin zu Erdgas, stellt eine Option dar, die jedoch in vielen
Glashütten bereits umgesetzt wurde (Exp.). Zu bedeutenden Möglichkeiten der
Energieoptimierung gehört auch die Einführung von Energiemanagementsystemen, die Transparenz verschaffen und eine zielgerichtete Energiebetriebsführung ermöglichen.
Bei einigen Unternehmen der Glasindustrie, insbesondere im arbeitsintensiveren Bereich der Veredlung und Bearbeitung von Glas, wurden in den letzten Jah-
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Glasindustrie in Deutschland
ren als neue Rationalisierungsstrategie »ganzheitliche Produktionssysteme«
(GPS) mit Elementen wie KVP und Kaizen eingeführt. Diese Produktionssysteme
nach dem Muster des Toyotismus sollen auf der arbeitsorganisatorischen Ebene
die Produktivität erhöhen. Kern dieser neuen Rationalisierungsstrategie ist eine
kontinuierliche, nivellierte und fehlerfreie Produktion im Kundentakt, die sich
kontinuierlich an veränderte Umwelteinflüsse anpasst (Seibold et al. 2012). Die
Einführung solcher Produktionssysteme, die sich auf die Arbeitsbedingungen
der Beschäftigten auswirken, und ihre spezifische Ausgestaltung erfolgt meist
unter Beteiligung des Betriebsrats. Hier ergeben sich Handlungserfordernisse
und Gestaltungschancen für aktive Betriebsräte (Schwarz-Kocher et al. 2011).
»In der Produktion wurde in den letzten Jahren 5S, Kaizen, Mudo und Weiteres
eingeführt. Mithilfe des Betriebsrats wurde erkannt, dass eine neue Kultur nicht
übergestülpt werden kann, sondern gemeinsam mit den Beschäftigten umgesetzt werden muss, um erfolgreich zu sein« (Exp.).
2.4 Beschäftigungstrends
Bei den »Beschäftigungstrends« werden zunächst Entwicklungstrends bei der
Anzahl der Arbeitsplätze und dann Trends bei den Feldern Qualifikationen und
Arbeitsbedingungen im Kontext demografischer Wandel beleuchtet.
Arbeitsplatzanzahl
Die Beschäftigung in der Glasindustrie entwickelte sich nicht erst seit 2000
rückläufig, wie in Kapitel 1 auf Basis der statistischen Daten erläutert, sondern
bereits seit längerer Zeit. Durch »tiefgreifende Umstrukturierungen und Modernisierungen hatten zahlreiche Sparten und Regionen, die in besonderem Maße
von der Glasindustrie abhängig sind oder waren, schmerzhafte Beschäftigungsrückgänge zu verzeichnen« (Willett 1998: 411). Die Gründe für diesen Abbau
von Arbeitsplätzen in den 1980er- und 1990er-Jahren liegen im »technischen
Fortschritt und der Rationalisierung der Produktionsprozesse«, z. B. durch Automatisierung, sowie in »kostenbedingten Verlagerungen von Produktion ins Aus-
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Glasindustrie in Deutschland
land« (Willett 1998). Ein weiterer Grund, der vor allem in den letzten 15 Jahren,
also nach der Strukturanalyse von Peter Willett, negative Beschäftigungseffekte
bewirkt hat, ist die Substitution von Glas durch andere Werkstoffe, wie z. B. im
Behälterglas durch PET-Flaschen.
Heute sind die großen Abbauwellen durch Automatisierung und Substitutionsprozesse laut den befragten Experten aber beendet. Die Automatisierungspotenziale sind weitgehend ausgeschöpft, beim Thema Substitution geht es
heute in manchen Bereichen eher wieder in Richtung Rückeroberung verloren
gegangenen Terrains, z. B. bei Glasflaschen. Durch eine weitere »Straffung der
Prozesse wird es aber weiterhin zu einem leichten, kontinuierlichen Arbeitsplatzabbau kommen« (Exp.). Aber, so ein anderes Statement, »In der Behälterglasherstellung ist der Boden beim Beschäftigungsabbau so gut wie erreicht.
Da ist in der Branche nicht mehr viel nach unten möglich, wenn man von einem
zumindest konstanten Produktionsvolumen ausgeht« (Exp.).
Von einzelnen Experten wird insbesondere für die Flachglassparte die Gefahr
einer aufkommenden Strukturkrise gesehen. Zum einen, weil es erhebliche
Überkapazitäten gibt. Zum anderen, weil die Herstellung und Bearbeitung von
Flachglas in anderen Ländern, v. a. auch in angrenzenden osteuropäischen Ländern, durch die Investitionen in neueste Technologien an den dortigen Produktionsstandorten immer wettbewerbsfähiger wird (Exp.). Andere befragte Experten halten die Branche in Deutschland auch zukünftig für wettbewerbsfähig,
sofern sie sich auf ihre Stärken besinnt: »Die Frage nach Perspektiven für unsere
Branche hierzulande kann nur aus dem Bauchgefühl heraus beantwortet werden: So lange wir uns auf innovative, qualitativ hochwertige Produkte konzentrieren, sind wir hier sehr wohl in der Lage, wettbewerbsfähig zu produzieren
und damit Beschäftigung zu sichern. Hierfür müssen wir aber bei der Produktivität und Qualität immer an die Grenze gehen. . . . Unsere Vorteile sind die
Genauigkeit, Präzision, Solidität; eine solche Sensibilität für höchste Qualitätsanforderungen wie hier, auch bei den Feinheiten, findet man sonst nirgendwo.
Das ist die Stärke, die wir nutzen müssen, um wirtschaftlich erfolgreich zu blei-
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Glasindustrie in Deutschland
ben und auch um Produktion zu halten« (Exp.). »Jeder Trend, der das Produkt
komplexer und die Fertigung schwieriger macht, z. B. Leichtglastechnologie, ist
ein Vorteil für den Standort Deutschland« (Exp.).
Qualifikationen und Fachkräftebedarfe
In der Glasindustrie werden die Qualifikationsanforderungen weiterhin steigen.
Schon allein der erreichte Stand der Automatisierung und die erhöhten Umrüstfrequenzen erhöhen den Bedarf an qualifizierten Fachkräften. Die Chancen für
geringer Qualifizierte werden sich auch in der Glasindustrie verschlechtern.
Alles in allem wird die Kompetenzintensität bei den Arbeitsplätzen in der Branche, wie in fast allen Bereichen der Wirtschaft, steigen (Cedefop 2013). »An- und
Ungelernte sind in vielen Unternehmen der Branche heute schon ein Auslaufmodell, aber diejenigen die noch da sind, profitieren von ihrem Erfahrungswissen« (Exp.). »Reine Anlerntätigkeiten sind bereits reduziert und fallen weiterhin
sukzessive weg« (Exp.).
Fachkräftebedarfe gibt es hingegen bei Hochqualifizierten wie z. B. Ingenieuren
verschiedener Fachrichtungen, aber auch in Marketing und Vertrieb, und künftig wohl auch verstärkt bei Facharbeitern. Hemmnisfaktoren sind das Branchenimage und die Konkurrenz mit anderen Industriebranchen, in denen es keine
vollkontinuierliche Schichtarbeit gibt und/oder in denen die Bezahlung besser
ist. So ist es für Unternehmen der Glasindustrie immer schwieriger, geeignete
Auszubildende zu finden und auch bei den Höherqualifizierten geht der »Kampf
um die besten Köpfe häufig zugunsten der großen Arbeitgeber aus der Automobil-, IT- und Elektroindustrie aus« (Exp.).
Als Fachkräfte an den Maschinen werden oft Verfahrensmechaniker/Verfahrensmechanikerinnen für Glastechnik eingesetzt. Als Ausbildungsberufe in den
Unternehmen der Glasindustrie werden zunehmend Mechatroniker/Mechatronikerin, Elektroniker/Elektronikerin und Industriemechaniker/Industriemechanikerin angeboten, die z. B. in der Instandhaltung und Wartung, aber auch in
anderen Produktionsbereichen eingesetzt werden. Automatisierung, Flexibili-
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Glasindustrie in Deutschland
sierung und erhöhte Umrüstfrequenzen erfordern hohe Fachkenntnisse und
eine immer höhere Spezialisierung. Gerade in der Behälterglasindustrie ist
Umbauflexibilisierung wegen der häufigeren Sortenwechsel zu einem großen
betrieblichen Thema geworden, und auch in den nächsten Jahren werden
Umrüstvorgänge nochmals deutlich zunehmen. »Durch die Anforderung, jederzeit flexibel lieferfähig zu sein, wird auch der Bedarf an qualifiziertem Personal
bei uns in der Glashütte steigen« (Exp.).
Flexibilität
In der Glasindustrie sind vielfältige Möglichkeiten der internen Flexibilisierung
über Arbeitszeitmodelle vorhanden. Weitere Flexibilisierungserfordernisse, insbesondere bei einfacheren Tätigkeiten, werden z. B. mit Leiharbeitern abgedeckt.
In manchen Betrieben spielt Leiharbeit zwar keine Rolle, weil allein schon die
Ansprüche in der Fertigung zu hoch sind (Komplexität des Produktionsprozesses, hohe Qualitätsanforderungen) und auf dem Zeitarbeitsmarkt keine geeigneten Kräfte zu finden sind. Jedoch sind über die Branche hinweg die Kosten für
Leiharbeitnehmer in der Glasindustrie mit einem Anteil von 1,5 % am Bruttoproduktionswert höher als im Verarbeitenden Gewerbe insgesamt (0,9 %). Gleichzeitig sind laut Kostenstrukturstatistik 2011 des Statistischen Bundesamts
auch die Kosten für industrielle und handwerkliche Dienstleistungen mit einem
Anteil von 2,5 % in der Glasindustrie höher als im Verarbeitenden Gewerbe mit
1,7 %. Beide Indizien sprechen für eine stärkere Nutzung externer Flexibilisierungsmöglichkeiten in der Glasindustrie. In besonderem Maße wird externe
Flexibilisierung durch Leiharbeit in der Sparte »Herstellung von Hohlglas«
genutzt, in der die Kostenanteile für Leiharbeiter mit 2,2 % und für industrielle
Dienstleistungen mit 2,9 % deutlich über dem Industrieschnitt liegen.
Gegen eine zu starke Ausweitung von externer Flexibilisierung in Form von
Outsourcing und Leiharbeit sprechen wissenschaftliche Erkenntnisse, nach
denen es für Unternehmen wichtig ist, eine »relevante Fertigungstiefe« zu halten. Demnach gehören »Wandlungsfähigkeit« und »Flexibilität« zu den ent-
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Glasindustrie in Deutschland
scheidenden Stärken der deutschen Industrie – sie werden in der globalisierten
Wirtschaft zunehmend zum strategischen Wettbewerbsvorteil. Einer der Faktoren, die die Variantenflexibilität und damit die Wandlungsfähigkeit der deutschen Industrie positiv beeinflussen, ist eine relevante Fertigungstiefe. Jedoch
wurde in den letzten Jahren »kostenorientiertes Outsourcing und Offshoring
über das wirtschaftlich sinnvolle Maß hinaus betrieben« (Kinkel 2012: 206).
Und verschiedene Analysen zeigen eindeutig, dass »ein hoher Eigenleistungsanteil (Wertschöpfungstiefe) auch unter Kontrolle intervenierender Faktoren
stark positiv mit einer höheren Gesamtproduktivität (Total Factor Productivity)
des jeweiligen Betriebs korreliert. . . . Eine hohe interne Wertschöpfungstiefe
scheint demnach sowohl zur Sicherung und Generierung zukünftiger Produktivitäts- und Wettbewerbsvorteile als auch zu Wachstum, Wertschöpfung und
Beschäftigung im Inland beitragen zu können« (Kinkel 2012: 210). Demnach
sollten »frühere und zukünftige Outsourcing-Initiativen zur Reduktion der Fertigungstiefe« von den Unternehmen jeweils »sehr kritisch« hinterfragt werden
(Kinkel et al. 2012).
Arbeitsbedingungen und demografischer Wandel
In der Produktion der Glasindustrie, am »heißen Ende«, gibt es nach wie vor
hohe Arbeitsbelastungen durch Lärm und durch Hitze-Arbeitsplätze. Hitzearbeit ist laut berufsgenossenschaftlicher Information Arbeit, bei der es infolge
kombinierter Belastung aus Hitze, körperlicher Arbeit und gegebenenfalls
Bekleidung zu einer Erwärmung des Körpers und damit zu einem Anstieg der
Körpertemperatur kommt. Dadurch können Gesundheitsschäden entstehen.
Gleichfalls ist eine Arbeits- bzw. Leistungsverdichtung infolge reduzierten
Personaleinsatzes in den Unternehmen der Glasindustrie quer über alle Funktionen festzustellen. Von Branchenkennern wird berichtet, dass sich infolge
der Leistungsverdichtung bereits psychische Belastungserscheinungen und
Burn-out-Symptome stärker häufen. Dazu kommen Belastungsfaktoren aus der
Schichtarbeit für Produktionsbeschäftigte. In den Betrieben der Glasindustrie
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Glasindustrie in Deutschland
mit eigener Schmelzwanne wird in der Produktion vom heißen bis zum kalten
Ende meist im Durchfahrbetrieb, also im vollkontinuierlichen Schichtbetrieb
gearbeitet. Auch in Bearbeitungs- und Veredlungsbetrieben ohne Erzeugung
von Basisglas bzw. eigene Schmelzwanne wird häufig im Schichtbetrieb,
teilweise vollkontinuierlich, häufiger im 2-Schicht- oder 3-Schichtbetrieb gearbeitet.
Eine besondere Herausforderung für die Glasindustrie liegt im demografischen
Wandel, wie allein schon die Entwicklung der Altersstruktur der Belegschaften
zeigt (vgl. Kapitel 1.4). Im demografischen Wandel liegen besondere tarifpolitische und betriebliche Handlungsbedarfe. Hier sind insbesondere Lösungen
gefragt, die Schichtarbeiter einen verträglichen Übergang in die Rente, z. B.
durch Altersteilzeit, ermöglichen. Damit ältere Arbeitnehmer bis zum Renteneintrittsalter arbeiten können, sollten auch betriebliche Modelle zur individuellen Verteilung von Lebensarbeitszeit, eine alterns- und leistungsgerechte
Arbeitsgestaltung, eine ganzheitliche aktivierende Gesundheitsstrategie etc.
weiterentwickelt und umgesetzt werden. Außerdem sollten die Bedürfnisse der
Älteren bei der Gestaltung der Arbeitsplätze stärker berücksichtigt werden. Und
auch dem Wissenstransfer zwischen Jung und Alt – im Sinne des »zwischen
Generationen lernen« – kommt eine besondere Bedeutung zu. Gerade für stark
belastete Schichtarbeiter wäre die Option eines flexiblen Ausstiegs wichtig, mit
der ihnen die Möglichkeit eröffnet wird, ohne Rentenabschläge früher in Ruhestand gehen zu können.
Eine besondere Bedeutung kommt bei der Entwicklung von Umsetzungsmaßnahmen zur Bewältigung des demografischen Wandels der betrieblichen Ebene
zu, weil »die Problemlagen im Gefolge des demografischen Wandels in hohem
Maße betriebs- und tätigkeitsspezifisch sind. Die Entwicklung von Gestaltungsmaßnahmen sollte daher konkret vor Ort sowie in enger Zusammenarbeit mit
den Beschäftigten erfolgen« (Buss; Kuhlmann 2013: 358). Für die Ausarbeitung
und Umsetzung demografiebezogener Maßnahmen kommt der betrieblichen
Interessenvertretung eine wichtige Funktion zu.
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Glasindustrie in Deutschland
3 Fazit
Die Glasindustrie ist eine energieintensive und investitionsgetriebene Branche.
Auf der einen Seite kann die Glasindustrie als traditionell und technologisch
ausgereift bezeichnet werden, auf der anderen Seite ist sie inzwischen relativ
stark globalisiert. Große, multinationale Unternehmen dominieren die großen
Sparten der Glasindustrie. Die Unternehmen der Branche müssen sich den härteren Bedingungen durch die Globalisierung und dem stärkeren Wettbewerb
auf ihren inländischen Märkten durch Länder wie China, Indien und der Türkei
stellen. Die bis vor wenigen Jahren starke Substitution von Glasprodukten, insbesondere von Glasflaschen durch PET-Flaschen, scheint inzwischen weitgehend abgeschlossen zu sein. Heute versucht die Glasbranche insbesondere mit
dem Thema Nachhaltigkeit des Werkstoffes Glas zu punkten und Märkte
zurückzuerobern.
Im Jahr 2012 waren in der Glasindustrie knapp 54.000 Erwerbstätige beschäftigt. Seit Jahrzehnten ist die Branche von einem starken Beschäftigungsabbau
geprägt. Allein von 2000 bis 2012 wurden fast 16 % der Arbeitsplätze abgebaut.
Im selben Zeitraum fiel der Produktionswert um knapp 3 %; lediglich der Jahresumsatz (nominal) lag 2012 leicht über dem des Jahres 2000. Das Qualifikationsniveau ist in der Glasindustrie in den letzten Jahren deutlich gestiegen:
Insbesondere der Anteil von Fachkräften mit einer Berufsausbildung im dualen
System ist zwischen 2000 und 2012 merklich gestiegen, der Anteil An- und
Ungelernter ging dagegen zurück. Der Arbeitsplatzabbau in der Branche ging
damit in erster Linie zulasten von An- und Ungelernten. Und auch der demografische Wandel hinterlässt in den letzten Jahren deutliche Spuren: Bei den Belegschaften ist allein zwischen 2007 und 2012 eine immense Verschiebung in Richtung höhere Altersgruppen festzustellen. Der »Branchen-Alterungsprozess« ist
damit deutlich stärker als im Industriedurchschnitt ausgeprägt.
Die Glasindustrie besteht aus mehreren Sparten mit unterschiedlichen Entwicklungstrends. Die beiden größten Teilbranchen sind die Flachglasindustrie
und die Behälterglasindustrie.
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Glasindustrie in Deutschland
Die Flachglassparte besteht aus der kapital- und energieintensiven Flachglasherstellung, in der das Basisglas erzeugt wird, und aus der Flachglasveredlung.
Hauptabnehmerbranchen sind die Bauwirtschaft und die Automobilindustrie.
In der Sparte bestehen Überkapazitäten, insbesondere Flachglashersteller
haben in den letzten zehn Jahren ihre Produktionskapazitäten vor allem in Ostdeutschland ausgebaut, um vom Boom der Solarindustrie und der Bauwirtschaft zu profitieren. Nachdem der Markt für Solarglas eingebrochen ist, leidet
die Sparte unter einem großen Überangebot und stark rückläufigen Erzeugerpreisen. Bei den Flachglasveredlern stehen die Automobilzulieferer unter einem
besonders hohen Druck durch die Autohersteller. Im starken Wettbewerb können die Unternehmen nur überleben, wenn sie neben der preislichen Wettbewerbsfähigkeit auch für innovative Produkte in höchster Qualität und Präzision
für Premiumanforderungen stehen.
Die Behälterglashersteller, die zum Branchensegment Hohlglas gehören, benötigen durch den Schmelzprozess sehr viel Energie. Hauptabnehmer der Behälterglassparte sind Konsumgüterindustrien wie Getränkehersteller, die Kosmetikindustrie und Nahrungsmittelproduzenten, aber auch die Pharmaindustrie.
Erfolgsfaktoren für die Hersteller von Getränkeflaschen, Lebensmittel- und Verpackungsgläsern liegen neben niedrigen Erzeugungskosten in den Themen
Kundenbindung, Flexibilität, Qualität, Gewichtsreduktion, innovatives Design
und markenindividualisierte Produkte. Die Sparte ist durch große Konzernbetriebe und durch wenige mittelständische Glashütten geprägt.
Die Glasindustrie in Deutschland steht vor vielfältigen Herausforderungen.
Hohe Energiekosten belasten eine energieintensive Branche wie die Glasindustrie und beeinträchtigen ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit. In den
meisten Industrieländern weist der Markt für Glas und Glaswaren Sättigungstendenzen auf und es bestehen Überkapazitäten bei der Produktion. Gleichzeitig erfordert die industrielle Fertigung in den meisten Sparten hohe Investitionen in Glaswannen (z. B. regelmäßig wiederkehrende Wannenreparaturen) und
Fertigungsanlagen. Die Innovationstrends liegen bei Produktinnovationen in
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Themen wie Leichtglastechnologie für die Branche als Ganzes sowie in spartenspezifischen Innovationen wie Multifunktionsglas (im Flachglasbereich) und
individuelle Produkte in innovativem Design (im Behälterglasbereich). Bei den
Prozessinnovationen geht es um die Optimierung der Produktionskosten durch
technische Maßnahmen und durch organisatorische Maßnahmen. Eine besondere Rolle spielt hier die Senkung der Energiekosten durch verschiedene Effizienzlösungen.
Die Beschäftigung wird sich in der Glasindustrie voraussichtlich nur noch leicht
negativ entwickeln, nachdem es in den vergangenen Jahrzehnten durchaus
»schmerzhafte Beschäftigungsrückgänge« bei der Glasindustrie in Deutschland
gab. Heute sind die großen Abbauwellen durch Automatisierung und Substitutionsprozesse laut den befragten Experten aber beendet. Die Automatisierungspotenziale sind weitgehend ausgeschöpft, beim Thema Substitution geht
es heute in manchen Bereichen eher wieder in Richtung Rückeroberung verlorengegangenen Terrains, z. B. bei Glasflaschen. Die Qualifikationsstrukturen
werden sich weiter in Richtung Fachkräfte verschieben und auch die Kompetenzintensität der Arbeitsplätze wird steigen. Insbesondere auf Herausforderungen des demografischen Wandels, auch im Zusammenhang mit Schichtarbeit und Arbeitsverdichtung, sollten in den nächsten Jahren Antworten
gefunden werden.
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Glasindustrie in Deutschland
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72
Michael Vassiliadis
Industriepolitik für den Fortschritt
Erfolgsfaktoren und Herausforderungen für den
Industriestandort Deutschland
Industrieorientierte Volkswirtschaft mit
spezifischen Erfolgsfaktoren
Den Industriestandort Deutschland zukunftsfest
machen – Die Herausforderungen
Merkmale einer fortschrittlichen Industriepolitik
Michael Vassiliadis
Michael Vassiliadis
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Vor nicht allzu langer Zeit hob ein »Mainstream« aus Politik und Wissenschaft
zum Abgesang auf den Industriestandort Deutschland an. Dieser Abgesang ist
verstummt. Die deutsche Volkswirtschaft ist eines der wenigen »Schiffe« in
Europa, das nach der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 wieder
Fahrt aufgenommen hat. Die starke Maschine dieses Schiffs ist die Industrie.
Ohne eine kraftvolle Maschine kann keine Überfahrt gelingen, geschweige denn
der Tanker manövriert werden.
Der vorliegende Beitrag will beleuchten, warum sich das deutsche »Schiff« mit
seiner starken Maschine auf vergleichsweise »guter Fahrt« befindet. Gleichzeitig sollen die Herausforderungen aufgezeigt werden, die es auf seiner Fahrt in
die Zukunft zu bewältigen hat. Abschließend werden industriepolitische Vorschläge zur Wartung und zur Leistungssteigerung des Motors vorgestellt.
Die Branchen der IG BCE – Kraftstoffe für den Leistungsmotor Industrie
Die in diesem Band vorgestellten Branchen sind wichtige Stützen der deutschen
Industrie. Sie tragen – zusammen mit den weiteren Industriesektoren, in denen
die IG BCE tarif- und industriepolitische Verantwortung übernimmt – wesentlich
zur Leistungsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft bei. Insgesamt umfasst der
Organisationsbereich der IG BCE rund eine Million Beschäftigte in verschiedenartigen und doch untereinander verflochtenen Industriezweigen. Legt man die
Klassifikation der Wirtschaftszweige der offiziellen Statistik zugrunde, vertritt
die IG BCE Mitglieder in 10 Hauptwirtschaftszweigen mit 26 Untersektoren.
Trotz der Vielfalt zeichnen sich die von der IG BCE vertretenen Branchen durch
eine Reihe von Gemeinsamkeiten aus. Fast alle bewegen sich in einem zunehmend stärker werdenden international geprägten Wettbewerbsumfeld. Sie sind
abhängig von den industrie- und energiepolitischen Rahmensetzungen der
deutschen und europäischen Politik. Gleichzeitig befinden sie sich in unterschiedlicher Intensität im strukturellen Wandel.
Die Branchen der IG BCE konnten nach der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 an ihre gute wirtschaftliche Entwicklung der Zeiten vor Krisenbeginn anknüpfen. Der wirtschaftliche Erholungsprozess nach der schweren
konjunkturellen Krise 2008/2009 wurde durch die pragmatisch funktionierende
Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern, Betriebsräten und Gewerkschaften
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Michael Vassiliadis
entscheidend befördert. Dies ist zu Recht inzwischen im öffentlichen Bewusstsein verankert. Unterstützt durch eine beschäftigungssichernde aktive Arbeitsmarktpolitik des Staates konnten die deutschen Unternehmen ihre Beschäftigungszahlen weitgehend halten und so früher von der konjunkturellen Erholung profitieren als andere Länder in Europa.
Insgesamt haben die IG BCE-Branchen mit der weiteren Industrie in den letzten
Jahren eine wirtschaftliche Dynamik entwickelt, die entscheidend dazu beigetragen hat, dass sich die deutsche Volkswirtschaft im zunehmenden internationalen Wettbewerb behaupten kann.
1. Industrieorientierte Volkswirtschaft mit spezifischen Erfolgsfaktoren
Der Erfolg der deutschen Volkswirtschaft beruht auf bestimmten Elementen, die
es wert sind, in Erinnerung gerufen zu werden. Diese einzelnen Elemente entfalten ihre ganze Wirkung erst dadurch, dass sie sich ergänzen und wechselseitig
bedingen. Eine fortschrittliche Industriepolitik hat sich der Komplementarität
dieser Erfolgsfaktoren bewusst zu sein, genauso wie sie sich der aktuellen und
zukünftigen Herausforderungen bewusst sein muss. Deutschland ist mit seinen
rund 80 Millionen Menschen die größte Volkswirtschaft in der Europäischen Union. Mit dem höchsten Bruttoinlandsprodukt und der größten Einwohnerzahl in
der Europäischen Union ist Deutschland auch der wichtigste Markt in Europa.
Nach den USA, China und Japan ist es weiterhin die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Der große Markt und die leistungsfähige Wirtschaft machen
Deutschland zu einem attraktiven Standort für ausländische Investoren.
Die Industrie ist der Leistungsmotor der deutschen Volkswirtschaft. Dabei bilden große international agierende Industriekonzerne zusammen mit dem
industriellen Mittelstand den Kern. Ihre Stärke zeigt die deutsche Industrie
durch ihre Exportfähigkeit. Über lange Zeiträume hatte Deutschland so viele
Waren und Güter ins Ausland ausgeführt wie kein anderes Land der Welt. Erst
2009 übernahm China die Position des Exportweltmeisters. 2012 fiel Deutschland sogar auf Platz drei – hinter die USA.
14
76
Ist der aktuelle »Rückfall« auf den dritten Platz ein Alarmzeichen? Und sind die
Exporterfolge anderer Länder Zeichen einer beginnenden Schwäche Deutschlands? Aus meiner Sicht nicht. Dagegen sprechen die weiterhin hohen Außenhandelsüberschüsse und die traditionell hohe Einbindung der deutschen Wirtschaft in die Weltwirtschaft. So sind die Exporte in Deutschland auch 2012
stärker als die Wirtschaftsleistung gestiegen. Deutschland profitiert dabei von
den dynamischen Wachstumsprozessen in Asien und auch in Südamerika.
Hoher Industrieanteil mit funktionierenden industriellen
Wertschöpfungsketten
Die Produktion hochwertiger Güter und Anlagen ist eine traditionelle Domäne
unseres Landes. Wohlstand und Beschäftigung hängen deshalb – mehr noch als
in anderen Ländern – weitgehend von der Industrie ab. Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung lag OECD-Erhebungen zufolge 2011
hierzulande mit 23 % weit über dem EU-Durchschnitt von rund 15 %. Diese vergleichsweise große Bedeutung der Industrie ist ein Charakteristikum der deutschen Wirtschaft mit den darauf aufbauenden komparativen Vorteilen. Dazu zählen vollständige und intakte industrielle Wertschöpfungsketten. Deutschland
verfügt noch über starke Unternehmen, die rohstoff- und werkstoffnahe Tätigkeiten ausüben. Es gibt Unternehmen, die sich auf die Zulieferung von Komponenten spezialisiert haben, große Unternehmen, in denen diese einzelnen Komponenten zu komplexem Produkten wie Autos gefertigt werden, und Unternehmen,
in denen die erforderlichen vor- und nachgelagerten Dienstleistungen erbracht
werden. Ergänzt und verstärkt werden die Wertschöpfungsketten durch leistungsfähige regionale Clusterstrukturen mit einem produktiven Mix aus innovativen Klein-, Mittel- und Großunternehmen sowie Forschungseinrichtungen.
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Produktive Verzahnung von Industrie und Dienstleistungen
Wie in allen entwickelten Volkswirtschaften gewinnen Dienstleistungen an
Bedeutung und immer mehr Menschen finden dort Beschäftigung. Nimmt man
die amtliche Statistik, so arbeiten in Deutschland mittlerweile über 70 % aller
Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor, während nur ca. 25 % im produzierenden Sektor tätig sind. Doch ist dieser Rückgang kein Beleg für eine abnehmende
Bedeutung der Industrie. Gerade in Deutschland mit seiner starken industriellen Basis sind viele Dienstleistungen eng mit der Industrie verbunden und von
ihr abhängig. Etliche jetzt selbstständige Dienstleistungsunternehmen sind
Ergebnisse von Outsourcingprozessen einzelner Industriekonzerne und hängen
weitgehend von der Industrieproduktion ab.
Zunehmende Kundenorientierung und wachsende Nachfrage nach Komplettlösungen und maßgeschneiderten Produkten erhöhen den Anteil der Dienstleistungen an der industriellen Produktion. Dabei ersetzen die von den Industrieunternehmen angebotenen Dienstleistungen keine Industrieprodukte, sondern werden um die einzelnen Produkte herum entwickelt und komplettieren
das Angebot. Schon im Jahr 2002 waren laut einer OECD-Studie 40 % der
Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe in den entwickelten Industrieländern mit Dienstleistungstätigkeiten beschäftigt. Im Zuge der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung werden sogenannte wissensnahe
Dienstleistungen immer bedeutender. Diese auch als hybrid bezeichneten
Wertschöpfungsketten bieten Potenziale für die industriellen Branchen auf
weitere Produktivitätsfortschritte und neue Produkte. Sie stärken die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie für die Zukunft.
Starke Kern- bzw. Schlüsselindustrien!
Zwar sind die Begriffe Kern- oder Schlüsselindustrien nicht klar definiert;
gemeinhin bezeichnet jeder Staat aber diejenigen Industrien als seine Kernindustrien, die einen großen Teil der Wertschöpfung und Beschäftigung ausmachen
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78
und darüber hinaus auch eng mit anderen Branchen verflochten sind. Wenn
man aus diesem Blickwinkel heraus auf Deutschland schaut, stehen die Fahrzeugindustrie zusammen mit dem Maschinenbau an erster und zweiter Stelle.
Als dritte deutsche Kernbranche ist die Chemieindustrie zu nennen. Zwar arbeiten in der Metall- und Elektroindustrie deutlich mehr Menschen als in der Chemiebranche, aber für den deutschen Export ist die Chemiesparte besonders
relevant. Zu den größten Unternehmen zählen BASF und Evonik. Die Chemieindustrie in Deutschland zeichnet sich durch eine ganze Reihe weiterer deutscher und internationaler Unternehmen aus. In dieser Branche ist Deutschland
immer noch Exportweltmeister.
Neben diesen Leitsektoren verfügt Deutschland zusätzlich über weitere leistungsfähige industrielle Branchen. Diese stehen zwar in der Regel nicht im
Fokus der Öffentlichkeit, tragen aber entscheidend zur Wettbewerbsfähigkeit
der gesamten deutschen Volkswirtschaft bei. Die Elektro- und Optikindustrie,
die Medizingeräteindustrie, die pharmazeutische Industrie und die Kunststoff
verarbeitende Industrie sind nur einige Beispiele, einer großen Bandbreite. Aber
auch die Glas- und Keramikindustrie, die Papierindustrie und weitere Branchen
sind wichtige Promotoren der deutschen Volkswirtschaft.
Vielfältige Unternehmensstrukturen
Deutschland hat eine sehr vielfältige und breite Unternehmenslandschaft.
Neben den großen Unternehmen, wie die bekannten Automobilhersteller und
Chemieunternehmen, leisten kleinere und mittlere Unternehmen wichtige Beiträge zur Leistungsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft. Der sogenannte
»German Mittelstand« ist im internationalen Vergleich besonders im Industriebereich präsent. Fast ein Viertel aller Beschäftigten der kleinen und mittleren
Unternehmen arbeitet in der Industrie.
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Hohe Innovationsfähigkeit und technologische Leistungsfähigkeit
Ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die stabile Entwicklung der deutschen Wirtschaft sind verstärkte Investitionen von Wirtschaft und öffentlicher Hand in Forschung und Entwicklung. Deutschland hatte in den letzten Jahrzehnten im
Schnitt 2,5 % des Bruttoinlandsproduktes für Wissenschaft und Forschung ausgegeben. In den Jahren nach der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise
2008/2009 hat Deutschland das selbst gesetzte Ziel, 3 % des Bruttoinlandsproduktes für Forschung und Entwicklung aufzuwenden, fast erreicht. Es ist daher
nur folgerichtig, in Zukunft über dieses Ziel hinauszugehen und für 2020 mindestens 3,5 % des Bruttoinlandsproduktes für Forschung und Entwicklung
bereitzustellen.
Auch die Unternehmen in Deutschland nehmen immer mehr Geld in die Hand,
um ihre Wettbewerbsfähigkeit durch neue Produkte zu sichern. Sie dürften ihre
Innovationsausgaben 2012 wohl auf rund 138 Mrd. Euro gesteigert haben.
Dieser Betrag umfasst mehr als die reinen Kosten für Forschung und Entwicklung. Hier gehen zusätzliche Ausgaben für Maschinen, Geräte, Software, Weiterbildung, Marketing, Design und sonstige Aktivitäten in die Entwicklung und
Einführung von Produkt- und Prozessinnovationen ein. Dabei konzentrierte sich
die Zunahme überwiegend auf Großunternehmen. Besonders stark steigerten
in den letzten Jahren die forschungsintensiven Betriebe der industriellen Leitsektoren ihre Innovationsanstrengungen, zum Beispiel der Fahrzeugbau, die
Elektroindustrie und die Chemieindustrie. Aber auch die Pharmaindustrie und
der Maschinenbau verzeichneten höhere Forschungs- und Entwicklungsausgaben.
Leider halten sich kleine und mittlere Firmen bei der Steigerung ihrer Innovationsausgaben zurück. Der Anteil der Unternehmen, die Innovationen eingeführt haben, ist hier teilweise sogar auf unter 40 % gesunken. Auch deshalb
setzt sich die IG BCE für die Einführung einer steuerlichen Forschungsförderung
ein, wie sie in anderen Ländern der Welt üblich ist.
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Unterstützt wird die Industrie durch eine ausgezeichnete Grundlagenforschung. In einigen Forschungsbereichen fehlt zwar im internationalen Vergleich
die Exzellenz, aber in ihrer Breite und ihrer Qualität gehört die deutsche Grundlagenforschung nach wie vor zur internationalen Spitze. Die grundlegende Wissenserweiterung und Schaffung der Voraussetzungen neuer Erkenntnisse findet in Deutschland vorwiegend in großen Forschungsinstitutionen, wie der
Helmholtz-Gemeinschaft, der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder der
Max-Planck-Gesellschaft statt. Aber auch die deutschen Universitäten betreiben
Grundlagenforschung.
Stärke: Qualitätsproduktion
Qualitätsproduktion und entsprechend hochwertige Produkte sind ein zentrales Markenzeichen der deutschen Industrie. Die Qualität, sowohl der im Inland
als zunehmend auch der im Ausland gefertigten Produkte deutscher Unternehmen, festigt die Wettbewerbsfähigkeit. Die deutschen Industrieunternehmen
sind aktuell in der Lage, sich durch ihr Angebot von ihren Wettbewerbern abzusetzen. Ihre Produkte können durch technologische Qualität und Vielfalt an Leistungsmerkmalen hervorstechen. Dafür können die deutschen Unternehmen
auf den Märkten vielfach höhere Preise als ihre Mitbewerber durchsetzen. Diese
Qualitätsproduktion ist aus meiner Sicht gebunden an die spezifischen industriellen Arbeitsbeziehungen, an das sogenannte »deutsche Modell«. Zu diesen
Arbeitsbeziehungen gehört ein spezifisches, wie leistungsfähiges Bildungssystem, um die Betriebe mit qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu
versorgen. Hinzukommen ausgebaute betriebliche Beziehungen zwischen dem
Management und den Beschäftigten. Damit wird ein Regime geschaffen, welches die hohe Motivation und Flexibilität der Beschäftigten mit qualitativ hochwertiger Industriearbeit und guten Löhnen verbindet. Im Zuge der wachsenden
Auslandsexpansion gelingt es vielen deutschen Unternehmen, diese Qualitätsproduktion auch auf ihre Produktionsstandorte außerhalb Deutschlands zu
exportieren.
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Effiziente berufliche Ausbildung
Das deutsche duale System der Berufsausbildung unterscheidet sich deutlich
von fast allen anderen europäischen Berufsbildungssystemen. Im Kern verbindet es Arbeit und betriebliche Ausbildung im Unternehmen mit schulischem
Lernen in der staatlichen Berufsschule. In jüngster Zeit kann festgestellt werden, dass das arbeitsintegrierte Lernen in Europa angesichts hoher Jugendarbeitslosigkeit auf immer größeres Interesse stößt. Es führt nicht nur zu einer
hohen fachlichen Qualifikation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Junge Menschen, die diese Ausbildung durchlaufen, weisen eine hohe Identifikation mit ihrer Arbeit und ihrem Unternehmen aus. Es ist kein Pathos, wenn man
in Deutschland vom »Facharbeiterethos« spricht. Gemeint sind damit Motivation, Zielstrebigkeit, Verantwortungsbewusstsein und die Bereitschaft, Veränderungen wie auch Verbesserungen von Produkten und Prozessen mitzutragen.
Zusammen mit den qualitativ hochwertigen Studiengängen der naturwissenschaftlich-technischen Hoch- und Fachhochschulen garantiert die duale
Ausbildung der deutschen Industrie hoch qualifizierte Facharbeiter und Facharbeiterinnen, Ingenieure und Ingenieurinnen, Naturwissenschaftler und Naturwissenschaftlerinnen. Diese Zweige nehmen im deutschen Bildungssystem
eine zentrale Rolle ein. Ob sie auch weiterhin diese Bedeutung haben können,
wird entscheidend davon abhängen, ob sich zukünftig noch genügend junge
Menschen finden werden, um eine berufliche Ausbildung oder ein technischnaturwissenschaftliches Studium zu absolvieren. Die demografische Entwicklung wird auch hier Herausforderungen mit sich bringen.
Hohe Motivation der Beschäftigten und effektive Mitbestimmung
Das duale System der Berufsausbildung ist eingebettet in und verbunden mit
der Mitbestimmung der Beschäftigten und ihren Interessenvertretungen. Das
Zusammenwirken von Ausbildungssystem, entwickelten Mitbestimmungsstrukturen und funktionierenden sozialstaatlichen Institutionen hat entschei-
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dend dazu beigetragen, die deutsche Industrie erfolgreich an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen. Es hat wichtige Beiträge geleistet, um sich im
internationalen Wettbewerb zu behaupten. Die These, die deutsche Mitbestimmung und die Gewerkschaften wären in Zeiten zunehmender Globalisierung
nicht mehr zeitgerecht, hat spätestens mit der durch die Mitbestimmung
bewältigten Krise 2008/2009 ihre letzten Fürsprecher verloren. Zunehmend
wird anerkannt, dass die durch Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände ausgehandelten Flächentarifverträge einen positiven Einfluss auf die Entwicklung der
Arbeitsproduktivität und Einkommen haben. Durch Mitwirkung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie Gewerkschaften werden die Beschäftigten
und ihre Vertreter in die Unternehmensverantwortung eingebunden sowie
betriebliche Konflikte vermieden. Die Mitbestimmung bewirkt Vertrauen, Loyalität und hohe Motivation bei den Beschäftigten.
Es ist dieses Arrangement, auf dem die technologisch anspruchsvolle Qualitätsproduktion und Exportstärke der deutschen Volkswirtschaft beruhen. Und es
sind gute Voraussetzungen, auch in der Zukunft im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Die Märkte, in denen sich deutsche Unternehmen
bewegen, zeichnen sich durch hohe Dynamik, vielschichtige Produkte, komplexe Prozesse und immer schneller werdende Innovationszyklen aus. Die im Zuge
der Entwicklung von Verkäufer- zu Käufermärkten zunehmende Differenzierung
der Kundenbedürfnisse erfordert neue Anstrengungen, Kunden an sich zu binden. Gleichzeitig wächst mit den kürzer werdenden Innovationszyklen und den
daraus entstehenden neuen Produkten der Anspruch an die Organisation der
gesamten Zulieferketten.
Um diese Herausforderungen zu beherrschen, braucht man künftig noch mehr
Informationen und Wissen. Die Generierung und Aufbereitung von Wissen
sowie die Beherrschung von Informationssystemen werden demnach entscheidende Schlüssel zum Erfolg sein. Damit rücken die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch stärker ins Zentrum unternehmerischer Überlegungen. Trotz aller
modernen Informations- und Kommunikationstechnologien werden nur die
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Unternehmen erfolgreich sein, die den Kampf um die »besten Köpfe« gewinnen
und ihre Belegschaft wirklich »mitnehmen«. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und der höheren Anforderungen seitens der Märkte ist
daher aus meiner Sicht eine moderne Personalpolitik der Unternehmen von
existenzieller Bedeutung. Der wirtschaftliche Erfolg wird künftig noch stärker
von der Qualifikation, der Leistungsbereitschaft und Motivation der Beschäftigten abhängen. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen werden diese Erwartungen nur erfüllen, wenn die Unternehmen deren Partizipationsansprüche akzeptieren. Dazu gehört in Deutschland die Mitbestimmung in Betrieben und
Unternehmen.
Kurz und ergänzend lassen sich die Erfolgsfaktoren der deutschen Volkswirtschaft wie folgt zusammenfassen:
• Deutschland verfügt über ein breites Branchenspektrum und intakte Wertschöpfungsketten.
• Die ausgewogene Struktur der Unternehmen mit Großunternehmen und vielen leistungsfähigen kleinen und mittleren Unternehmen führt zu dichten
industriellen Netzwerken.
• Nicht nur, aber vor allem die industriellen Leitsektoren verfügen über eine
hohe Innovationsfähigkeit.
• Die deutsche Industrie verfügt über starke Kompetenzen im Bereich hochwertiger Technologien.
• Etliche mittelständische Unternehmen sind Weltmarktführer in ihren jeweiligen Märkten.
• Deutschland verfügt über eine leistungsfähige Versorgungs-, Verkehrs- und
Telekommunikationsinfrastruktur und eine differenzierte und leistungsfähige Forschungslandschaft. Im Bereich der Infrastruktur besteht hoher Investitionsbedarf.
• Hoch qualifizierte und motivierte Ingenieurinnen und Ingenieure und Fachkräfte garantieren hohe Produktivität, Produktqualität und Problemlösungskompetenz in der Industrie.
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• Durch die anspruchsvolle Umweltschutzpolitik ist die deutsche Industrie in
den Bereichen der Ressourceneffizienz sowie Umwelt- und Klimatechnologien führend.
• Mitbestimmung und Flächentarifverträge sind Voraussetzung und Bedingung der exportorientierten Qualitätsproduktion Deutschlands.
2. Den Industriestandort Deutschland zukunftsfest machen –
Die Herausforderungen
Doch es ist nicht alles Gold, was glänzt. Zwar hat Deutschland bislang Antworten auf die zunehmende Internationalisierung und den Strukturwandel gefunden; dennoch steht Deutschland vor einer ganzen Reihe aktueller und längerfristiger Herausforderungen. Ich will sieben Punkte kurz benennen, die aus
meiner Sicht in den Fokus von Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften gehören.
Diese können hier nur skizziert werden.
Energiewende gestalten
Die deutsche Regierung hat bekanntlich beschlossen, aus der Kernenergie auszusteigen. Acht Kernkraftwerke sind bereits vom Netz genommen worden. Bis
zum Jahr 2022 sollen die verbleibenden neun folgen. Gleichzeitig verfolgt die
Politik in Deutschland ehrgeizige Klimaschutzziele. Man kann also zu Recht von
einer umfassenden Energiewende sprechen. Deutschland steht damit augenblicklich vor einer gewaltigen Zukunftsaufgabe. Zu bewältigen ist diese Aufgabe
nur, wenn es zu einer übergreifenden Zusammenarbeit und Abstimmung an
der Schnittstelle von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik kommt. Dazu bedarf
es einer intelligenten politischen Steuerung und Entscheidungsbereitschaft.
Leider sind wir davon aktuell weit entfernt. Die Energiekosten in Deutschland
steigen, speziell weil die Kosten für die Förderung der erneuerbaren Energien
aus dem Ruder laufen. Die Energiepreise stellen einen wichtigen Wettbewerbsfaktor für Deutschland im internationalen Wettbewerb dar. Durch die intakten
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Wertschöpfungsketten verfügt das Land noch über eine bedeutende Grundstoffindustrie. Sie hat einen hohen Energiebedarf. In den energieintensiven
Industrien Deutschlands gibt es rund 830.000 Arbeitsplätze, die von bezahlbaren Energiepreisen abhängig sind. Zurzeit bewegt sich hier viel in die falsche
Richtung. Aus meiner Sicht wird die Energiewende nur mit Innovationen und
Investitionen der Industrie gelingen. Deutschland hat eigentlich alles, was
benötigt wird, um eine neue Energieversorgung aufzubauen: eine starke industrielle Basis, leistungsfähige Technologien, zukunftsorientierte Unternehmen
und leistungsfähige Belegschaften. Es fehlt aber an der notwendigen politischen Steuerung und an der Einsicht, dass dieser Prozess nur mit einer wettbewerbsfähigen und innovativen Industrie gelingen kann.
Eurokrise bewältigen – Europa zukunftsfest machen!
Die deutsche Wirtschaft konnte in den letzten Jahren ihre Exportabhängigkeit
vom europäischen Wirtschaftsraum verringern. Der Grund dafür liegt in der
steigenden Nachfrage nach deutschen Gütern und Waren in den aufstrebenden
Volkswirtschaften, vor allem in Asien und Südamerika. Insbesondere der Markt
in China hat in den letzten Jahren erheblich zum Exportwachstum in Deutschland beigetragen. Dennoch ist die deutsche Wirtschaft weiterhin in hohem
Maße von Europa abhängig. Knapp 70 % der deutschen Exporte gehen in die
Länder der Europäischen Union, fast 40 % der deutschen Exporte allein in die
Eurozone. Einzelne Branchen sind noch weit stärker vom europäischen Wirtschaftsraum abhängig. Deutschland hat daher ein vitales Interesse, die Krise
des Euroraums zu überwinden. Ich bin nicht der Ansicht, dass dies mit der bislang praktizierten Politik gelingen kann. Wir brauchen eine andere Politik in
Europa. Das einseitige Sparen schadet am Ende auch der deutschen Exportbilanz. Konsolidierung muss durch Investitionen und Wachstum ergänzt werden.
Aber wir brauchen auch Strukturreformen in den Staaten der Europäischen Union und der europäischen Institutionen. Ausdrücklich will ich an dieser Stelle
darauf hinweisen, dass die Überwindung der Eurokrise auch aus politischen
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Gründen gelingen muss. Trotz aller Widrigkeiten und der bestehenden Defizite
ist der europäische Integrationsprozess bislang ein Erfolg. Er hat Europa zusammengeführt und geeint, er hat soziale Stabilität und wirtschaftliches Wachstum gebracht. Es wäre fatal, wenn dieser Prozess ins Stocken geriete.
Fehlende Ordnung auf dem Arbeitsmarkt herstellen
Der wirtschaftliche Erfolg der exportorientierten deutschen Volkswirtschaft mit
ihrer Qualitätsproduktion war und ist untrennbar mit einer Arbeitsmarktordnung verbunden, die auf mitbestimmte und tariflich geregelte Arbeitsverhältnisse beruht. Diese Arbeitsmarktordnung führt zu wirtschaftlicher Effizienz
und gesellschaftlicher Solidarität. Seit Längerem sind im deutschen Arbeitsmarkt jedoch Entwicklungen zu beobachten, die diese Ordnung infrage stellen.
Diese Entwicklungen bedrohen auf längere Sicht unser erfolgreiches »Produktionsmodell«. Unsichere und schlecht bezahlte Tätigkeiten haben zugenommen, auch in den industriellen Branchen. Seit gut 15 Jahren gehört Deutschland
zu den OECD-Ländern, in denen Niedriglohnbeschäftigung am stärksten zugenommen hat.
Besonders hohe Anteile von Geringverdienern finden sich bei Minijobbern, Leiharbeitskräften, Jugendlichen unter 25 Jahren und befristet Beschäftigten. Oftmals gehen schlechte Einkommen mit hoher Beschäftigungsunsicherheit einher. Mehr als zwei Drittel der Geringverdienenden arbeiteten 2010 in Betrieben
ohne Tarifbindung. Dort wo Tarifverträge und Mitbestimmung ihre Wirkung
entfalten, zahlen sie sich für die Beschäftigten aus.
Aber auch aus ökonomischer Sicht ist eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt
unverzichtbar. Den zunehmenden internationalen Wettbewerb und den absehbaren Fachkräftemangel wird die deutsche Volkswirtschaft nicht mit schlechter
und billiger Arbeit bestehen können. Deutschland braucht eine neue Arbeitsmarktordnung nach dem Leitbild guter Arbeit.
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Demografischen Wandel bewältigen
Der demografische Wandel ist einer der »Megatrends« des 21. Jahrhunderts. Er
wird die politische, soziale und ökonomische Situation, nicht nur in Deutschland, entscheidend verändern. In 25 Jahren wird jeder dritte Mensch in Deutschland über 60 Jahre alt sein. Dies ist ein dramatischer Strukturwandel der deutschen Bevölkerung. Die Alterung unserer Gesellschaft wird tief greifende
Auswirkungen auf die Alters- und Gesundheitsvorsorge haben. Sie ist zudem
eine Herausforderung an unser gesamtes Wirtschaftssystem, an den Arbeitsmarkt, die Produktion sowie den Kapital- und Immobilienmarkt unseres Landes.
Schon heute zeichnet sich ein Ingenieur- und Fachkräftemangel ab, der in
Deutschland zur Wachstumsbremse werden kann. Noch deutlicher wird diese
Tendenz ab 2020 werden, wenn die ersten geburtenstarken Jahrgänge in den
Ruhestand treten. Bereits jetzt versuchen Unternehmen verstärkt, ältere Ingenieurinnen/Ingenieure und Fachkräfte länger in den Firmen zu halten. Deutschland wird erhebliche Anstrengungen unternehmen müssen, um den Alterungsprozess der Bevölkerung zu bewältigen und den Wohlstand zu erhalten: Die
älteren Beschäftigten müssen durch Weiterbildung und eine entsprechende
Arbeitsplatzgestaltung befähigt werden, länger zu arbeiten. Und auch die
Arbeitsproduktivität muss vor dem Hintergrund der absehbaren demografischen Entwicklung gesteigert werden. Unsere Bildungspotenziale müssen entwickelt und besser ausgeschöpft werden, um mehr Menschen Zugang zu qualifizierten Tätigkeiten zu ermöglichen und damit ein ausreichendes Potenzial an
qualifizierten Arbeitskräften zu erhalten.
Bildungssystem verbessern
In Deutschland ist in den letzten Jahren eine lebhafte Debatte über die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems geführt worden. Die sogenannten PISA-Berichte der OECD haben deutlich gemacht, dass Deutschland im Bereich der
Primärbildung viele Defizite aufweist und im internationalen Vergleich in nicht
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wenigen Fächern hinten liegt. Durch die Mängel im Bildungssystem verlieren
junge Menschen ihre Chancen und der Wirtschaft fehlen die notwendigen
Fachkräfte. Erschreckend hoch ist zum Beispiel die Anzahl der Schulabgänger
ohne einen Abschluss.
Auch die Fremdsprachenkompetenz deutscher Schülerinnen und Schüler liegt
beispielsweise weit hinter der aus Skandinavien zurück. Hohe Studienabbrecherquoten und für eine duale Berufsausbildung unzureichende Bildungsergebnisse der Hauptschulen belegen Ineffizienzen. Potenziale bei der Entstehung, Verbreitung und Anwendung von Wissen zu verschwenden, kann sich
eine Volkswirtschaft wie Deutschland nicht leisten. Als rohstoffarmes Hochlohnland können wir nur das Wissen und die Qualifikationen der Menschen in
die Waagschale werfen. Ich wehre mich dabei gegen die Forderung, Bildung sei
allein Aufgabe des Staates. Auch die Unternehmen haben hier eine hohe Verantwortung. Erfolgreiche Unternehmen bilden umfangreich aus und bilden ihre
Beschäftigten intensiv weiter.
Erste Verbesserungen in der schulischen Bildung zeichnen sich ab. Die Politik in
Deutschland hat begonnen, die erkannten Defizite zu bekämpfen. Weitere Verbesserungen im Bereich der Primärbildung sind erforderlich. Damit könnten
jungen Menschen mehr Chancen eröffnet und den Hochschulen sowie Unternehmen junge Menschen mit guter Allgemeinbildung zugeführt werden.
Akzeptanz für Technik schaffen
Die Deutschen sind nicht technikfeindlich. Im Gegenteil! Die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien werden in der ganzen Breite von
der Mehrzahl der Bevölkerung genutzt. Allerdings gibt es durchaus bedenkliche
Ablehnungsfronten und Akzeptanzprobleme bei industriellen Großprojekten
und bestimmten neuen Technologien. Wir sehen das aktuell bei den notwendigen Investitionen in Energienetze und erneuerbare Energien. Fragen der
Akzeptanz von Industrie, Forschung und neuen Technologien sind ernst zu nehmen und differenziert zu betrachten. So wäre es grundsätzlich verkehrt, Akzep-
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tanzprobleme mit Technikfeindlichkeit zu verwechseln. Letztere gibt es in
Deutschland meines Erachtens nicht. Festzustellen ist jedoch eine wachsende
Skepsis gegenüber sichtbaren und teilweise »spürbaren« Großprojekten. Jedoch
kann ein Industrieland wie Deutschland nicht auf industrielle oder infrastrukturelle Großprojekte verzichten. Es kann sich nicht leisten, neue Technologien und
Produkte zu erfinden und zu nutzen, diese aber nicht selbst zu produzieren.
Aus meiner Sicht sind Politik und Unternehmen aufgefordert, durch Information und Transparenz das erforderliche Maß an Akzeptanz und Vertrauen in
Industrie und neue Technologien herzustellen. Dies ist eine große Herausforderung, weil die Technik durch eine zunehmend stärkere »Verwissenschaftlichung« und Komplexität für Laien immer undurchschaubarer zu werden
scheint. Von der Politik muss gefordert werden, dass sie nicht kurzfristig opportunistisch vor dem Hintergrund der nächsten Wahlen entscheidet, sondern verantwortungsvoll die längerfristigen Wirkungen ihrer Entscheidungen im Auge
behält. Wenn es gelingt, den Menschen überzeugend darzulegen, dass die
Industrie bei der Bewältigung der globalen Herausforderungen, wie Ressourcen- und Klimaschutz, Ernährungs- und Energiebedarf, unverzichtbar ist, können die Akzeptanzprobleme abgebaut werden. Hierzu ist es erforderlich, die
Menschen über den Nutzen geplanter Projekte wie auch neuer Technologien
aufzuklären und davon zu überzeugen.
Nachhaltigkeit herstellen
Nachhaltigkeitsfragen spielen in Deutschland, aufgrund des erreichten Wohlstandsniveaus und der damit verbundenen erhöhten Bedeutung immaterieller
oder postmaterieller Werte, eine besondere Rolle. Die Suche nach nachhaltigen
Gesellschafts- und Wirtschaftskonzepten zum langfristigen Erhalt der Lebensgrundlagen für die Menschen, ist – zumindest in Deutschland – zu einem
bestimmenden gesellschaftlichen Leitmotiv geworden. Bestimmt werden die
deutschen Nachhaltigkeitsdiskurse eindeutig von der Ökologie. Die ökonomischen und sozialen Dimensionen der Nachhaltigkeit geraten dabei oft in den
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Hintergrund. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass ohne nachhaltige soziale und
ökonomische Strukturen kein erfolgreicher Schutz der Umwelt und der Ressourcen erreicht werden kann.
Unbestreitbar erfordert die absehbare Endlichkeit fossiler Brennstoffe und Rohstoffe, deren Nutzung oft mit einer hohen Umweltbelastung einhergeht,
globale Umsteuerungsprozesse. Vor diesem Hintergrund sind nachhaltige
Umwelttechnologien sowie die Recycling- und Kreislaufwirtschaft langfristig
für den Erhalt eines lebenswerten Planeten Erde unabdingbar. Schon heute ist
die deutsche Industrie in diesen Feldern führend. Die deutschen Unternehmen
sind gut beraten, ihre Produkte und Dienstleistungen verstärkt unter nachhaltigen Gesichtspunkten zu entwickeln. Sie können damit zentrale Beiträge für den
Schutz der Umwelt und der Ressourcen erbringen, aber auch Arbeitsplätze und
Beschäftigung sichern.
Anforderungen an eine Industriepolitik für den Fortschritt
Vor dem Hintergrund der skizzierten Anforderungen ist es müßig, zu fragen, ob
Deutschland eine aktive und moderne Industriepolitik braucht. Mit ganz wenigen Ausnahmen einiger weniger unbelehrbarer Ökonomen und Politiker wird
dies nicht mehr bestritten.
Von einer klaren Vorstellung oder gar einem gemeinsamen Verständnis, was
eine moderne Industriepolitik ausmachen könnte, sind wir weit entfernt. Es
geht ja nicht mehr allein um Fragen der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie. Die
Industriepolitik steht immer stärker vor der Herausforderung, den auf industrieller Basis entstandenen Wohlstand zu sichern und gleichzeitig unsere Umwelt
lebenswert zu erhalten, um den zukünftigen Generationen genügend Chancen
und Ressourcen zu hinterlassen.
Alte industriepolitische Konzepte werden den Anforderungen der Moderne
nicht gerecht. Das gilt für die Befürworter der horizontalen Industriepolitik, die
lediglich auf eine Verbesserung der allgemeinen Rahmenbedingungen setzen.
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Michael Vassiliadis
Michael Vassiliadis
Die Strategie, auf niedrige Steuersätze, Abbau von Handelshemmnissen und
Harmonisierung von Märkten zu setzen, hat Europa nicht zur wettbewerbsstärksten Region der Welt gemacht. Genauso kritisch sind jedoch auch die
industriepolitischen Ansätze zu betrachten, die in staatlichen Interventionen
jeglicher Art ihr Heil suchen.
Der Aufstieg und Fall der deutschen Fotovoltaikindustrie, das Hin und Her im
Bereich der Biokraftstoffe stehen exemplarisch für gut gemeinte, aber falsche
Eingriffe. Wenn die Politik aktionistisch in wirtschaftliche Abläufe eingreift,
ohne die langfristigen Wirkungen zu erkennen oder die dahinter stehenden
Marktprozesse zu begreifen, wird es kontraproduktive Ergebnisse geben. Selbst
die gut gemeinten Zwecke, eine bessere Umwelt, nachhaltige Wirtschaftsweise
oder der Aufbau neuer Arbeitsplätze können sich dann ins Gegenteil verkehren.
Wie muss eine moderne Industriepolitik aussehen? Welche Elemente muss sie
enthalten, um den heutigen Anforderungen gerecht zu werden und alte Fehler
zu vermeiden? Dazu einige Ansatzpunkte, die sicherlich der weiteren Vertiefung
und Diskussion bedürfen und hier nur grob skizziert werden können.
3. Merkmale einer fortschrittlichen Industriepolitik
• Fortschrittliche Industriepolitik achtet und nutzt das »Koordinationsprinzip«:
Markt. Die Exzesse unregulierter Finanzmärkte sollten nicht den Blick auf
Vorteile von Marktprozessen verstellen. Marktprozesse erzeugen Dynamik
und sie fördern Innovationen. Eine moderne Industriepolitik designt Märkte,
damit im fairen Wettbewerb die besten technologischen und organisatorischen Lösungen für eine nachhaltige Entwicklung erzielt werden.
• Fortschrittliche Industriepolitik bettet Marktprozesse in einen aktiven, immer
wieder neu zu bestimmenden, politischen und sozialen Ordnungsrahmen.
Märkte brauchen feste Strukturen und faire Wettbewerbsbedingungen.
• Fortschrittliche Industriepolitik braucht makroökonomische Flankierung und
Unterstützung. Für die deutsche und europäische Industrie ist die gesamt-
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wirtschaftliche Dynamik in Europa entscheidend. Ohne ausreichende Wachstumsimpulse durch eine gezielte makroökonomische Politik wird es langfristig keine starke deutsche und europäische Industrie geben.
• Eine fortschrittliche Industriepolitik muss europäischer werden. Die bestehenden Kompetenzen, Instrumente und Maßnahmen der europäischen Institutionen müssen gestärkt werden. Während der Klimaschutz und die Energiepolitik weitgehend europäisch gestaltet werden, scheitern zukunftsfähige
und notwendige europäische industriepolitische Initiativen an nationalstaatlichen Egoismen und Kompetenzen.
• Fortschrittliche Industriepolitik ist gleichzeitig aktive Regionalpolitik. Die
Stärkung regionaler Strukturen durch Wettbewerbscluster und innovationsgetriebene Vernetzungen von Unternehmen, Universitäten, Forschungseinrichtungen und Bildungseinrichtungen stärken unsere Wertschöpfungsketten.
• Fortschrittliche Industriepolitik umfasst eine aktive Arbeitspolitik. Sie weiß
um die Bedeutung des Faktors Arbeit für ökonomischen Erfolg und soziale
Stabilität. Durch die Gestaltung eines fairen und geordneten Arbeitsmarktes
trägt sie dazu bei, die Unternehmen langfristig mit qualifizierten und motivierten Beschäftigten zu stärken. Fortschrittliche Industriepolitik stärkt die
Mitsprache und Partizipation der Beschäftigten.
• Fortschrittliche Industriepolitik fördert wissensbasierte und industrielle
Dienstleistungen. Ökologisch und ökonomisch nachhaltige industrielle Produktion wird in Deutschland und Europa nur Zukunft haben, wenn industrielle Dienstleistungen, materielle Produktion und Wissenschaft noch stärker
verzahnt werden.
• Fortschrittliche Industriepolitik stellt die Steigerung der Energie- und Ressourcenproduktivität in den Mittelpunkt. Dabei setzt sie auf langfristig
planbare Rahmenbedingungen und Anreize für die Unternehmen. Sie berücksichtigt die technologischen und physikalischen Grenzen bestehender Produktionsverfahren. Sie ist sich bewusst, dass Sprunginnovationen, die zu
erheblichen Ressourceneinsparungen oder neuartigen umweltverträglichen
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Michael Vassiliadis
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Produkten führen, nicht erzwungen werden können, sondern eines jahrelangen »Innovierens« und auch des Glücks bedürfen.
• Fortschrittliche Industriepolitik fördert Innovationen und Innovationsprozesse. Innovationen sind zentraler Bestandteil für die Lösung globaler (Umwelt-)
Probleme. Innovationen stärken die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen
Industrie. Moderne Industriepolitik sieht sowohl technologische als auch
soziale Innovationsprozesse als Voraussetzung gesellschaftlichen Fortschritts.
Sie ist sich bewusst, dass komplexe Innovationsprozesse den Dialog mit den
Bürgerinnen und Bürgern erfordern.
Eine derart ausgerichtete Industriepolitik ist somit Fortschrittspolitik. Sie gestaltet den Strukturwandel aktiv, damit Unternehmen und ihre Beschäftigten ihn
mitgehen können, und liefert damit wichtige Beiträge um die soziale Marktwirtschaft zukunftsfest und nachhaltig zu machen.
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Autorinnen und Autoren
Dr. Jürgen Dispan
Projektleiter beim IMU Institut.
Seit 1998 ist Jürgen Dispan wissenschaftlicher Mitarbeiter beim IMU Institut
Stuttgart. Inhaltliche Schwerpunkte liegen in analytischen und konzeptionellen
Arbeiten rund um die Bereiche Branche, Cluster, Strukturwandel sowie Innovation, Partizipation und Mitbestimmung in Betrieb und Region. Seine zuletzt veröffentlichten Studien befassen sich mit verschiedenen Branchen des Verarbeitenden Gewerbes, mit Unternehmensstrategien und Industriepolitik sowie mit
Chancen und Risiken durch Zukunftsfelder wie Elektromobilität und Umwelttechnologien.
Michael Vassiliadis
Vorsitzender der IG BCE.
Seit März 2004 Mitglied des geschäftsführenden IG BCE-Hauptvorstandes. Bis
Oktober 2009 zuständig für Betriebsräte – Bildung – Jugend – Vertrauensleute/
Ortsgruppen. Auf dem 4. Ordentlichen Gewerkschaftskongress der IG BCE 2009
ist Michael Vassiliadis zum Vorsitzenden der IG BCE gewählt worden. Seit Mai
2011 Präsident der Föderation Europäischer Bergbau-, Chemie- und Energiegewerkschaften (EMCEF) und seit Mai 2012 der Nachfolgeorganisation IndustriAll
Europe. Stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der K+S AG, Evonik Industries AG und der STEAG GmbH sowie Mitglied im Aufsichtsrat der BASF SE. Stellvertretender Vorsitzender des Kuratoriums der RAG-Stiftung. Mitglied des von
der Bundesregierung berufenen Rates für Nachhaltige Entwicklung, Präsident
der Stiftung Neue Verantwortung sowie Mitglied der Ethikkommission »Sichere
Energieversorgung« der Bundesregierung.
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Bildnachweise
Glasindustrie in Deutschland
Titel: Creativ Collection
Schott AG (6)
Pilkington (2)
Die Keramische Industrie
Titel: CeramTec
CeramTec 2x
Bilderfilm.de 2x
Fraunhofer IKTS Dresden
Fotoatelier Villeroy & Boch
MEV
Industriepolitik für den Fortschritt:
Titel: clipdealer.de/buchachon
LANXESS (2)
Bayer HealthCare AG
RWE AG
Fotolia/lorhelm
LANXESS(C)2011 Thorsten Marti
Fotolia/JWS – Fotolia
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