Neues aus Langen Brütz 11
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Neues aus Langen Brütz 11
NeuesausLangenBrütz Ölf vonSiegfriedWittenburg 11.Ausgabe,imNovember2013 LiebeLeser, wer kennt diese Silhouette? Dieses Schloss steht über einer heutigen Großstadt, dessen Ursprung auf einer wendischen und zwei deutschen Siedlungen zurückzuführen ist. 1243 erhielten sie vom pommerschen Herzog Barnin I. das Magdeburger Stadtrecht. Das Schloss war das Machtzentrum der Greifenherzöge, deren Wappentier, ein roter Greif mit goldener Krone, heute noch in der rot-blau-gestreiften Stadtflagge geführt wird. Die kreisfreie Hauptstadt einer Region mit über 1,68 Millionen Einwohnern zählt heute über 400.000 EU-Bürger und wird zu einer grenzüberschreitenden europäischen Metropolregion mit über 760.000 Einwohnern entwickelt. Es handelt sich um Szczecin (Stettin) in Westpommern, Polen, und ist durch den ehemals Eisernen Vorhang im Bewusstsein der Deutschen und Westeuropäer fast ausgelöscht. Ich war dort und habe Ihnen einige Eindrücke mitgebracht. Siegfried Wittenburg DerAutorundHerausgeber istTrägerdesOrdens „BannerderArbeit“StufeIII 1983,der„Ehrennadelfür Fotografie“inBronze1987 unddes„Friedensnobel- preises“2012inderEU. 1 Poland,Szczecin(Stettin),BlogoslawionejKroloweijJadwigi(KöniginJadwigaBlogoslawa,PariserViertel),2013 2 Poland,Szczecin(Stettin),AlejaPapiezaJanaPawlaII.(AlleePapstJohannesPaulII.),2013 Von Stettin nach Szczecin Ein Riese wird munter Wie sich Menschen fühlen, die wegen eines Krieges ihre Heimat mit einem Köfferchen für die nötigsten Habseligkeiten in der Hand verlassen müssen, wird im zweiteiligen Film „Die Flucht“ mit Maria Furtwängler in der Hauptrolle eindrucksvoll geschildert. Königsberg wurde Kaliningrad. Ostpreußen wurde Russland und Polen. Doch wie sich Menschen fühlen, die unschuldig zwischen den gegnerischen Mächten eines Krieg geraten sind und ihre Heimat, ihre Felder, ihre Haustiere, ihre Werkstätten, ihre Häuser, ihr Hab und Gut und die Gräber ihrer Vorfahren verlassen müssen, hat noch kein deutscher Film gezeigt. Erschwerend für ein neues Leben an einem neuen Ort kommt hinzu, wenn sich dieser als nicht sicher erweist und die durcheinander gewirbelten Menschen glauben und hoffen, dass alles nur von kurzer Dauer, nur ein Irrtum der Geschichte ist. So mussten sich auch Menschen aus Litauen, Weißrussland und der Ukraine gen Westen aufmachen, um in die noch warmen Häuser der Deutschen zu ziehen und sich dort einrichten. Auch diese Vertriebenen haben ihre Heimat, ihre Felder, ihre Haustiere, ihre Werkstätten, ihre Häuser, ihr Hab und Gut und die Gräber ihrer Vorfahren verlassen müssen. So wurde aus Breslau Wroclaw, aus Danzig Gdansk und aus Stettin Szczecin. Doch wer erliegt nicht der Sehnsucht nach den Orten aus den glücklichen Tagen seiner Kindheit? Gefühl geht über Vernunft. 3 Eine Reise um 10 Jahre zurück Die Regionalbahn zwischen Lübeck über Bad Kleinen, Güstrow und Neubrandenburg nach Sczcecin (Stettin) passiert eine hügelige Gegend mit Wiesen und Gestrüpp, als zwei Grenzpfähle auftauchen: ein schwarzrotgelber und ein weißroter. Fortan ist ein stärkeres Rumpeln zu verspüren als auf den Gleisen in Deutschland. Ich erinnere mich an den Erzählungen der DDR-Rentner, die vor dem Fall des Eisernen Vorhangs in den Westen reisen durften. Sie berichteten voller Bewunderung, dass nach dem Grenzübertritt die Bahn nur noch sanft dahin gleitet und das Gras grüner ist. Was das Dahingleiten betrifft, so ist der Westen im Osten Deutschlands weitgehend angekommen, was nicht gerade sanft geschah, doch immerhin. Viele Rentner jedenfalls sind zufrieden. Ich mache eine Reise nach Polen, um die Zeit um etwa ein Jahrzehnt zurückzudrehen und zu erfahren, was gewesen wäre, wenn es keine deutsche Einheit gegeben hätte, sondern irgendetwas dazwischen. Oder wenn keine Osterweiterung der Europäischen Union erfolgt wäre. Ich realisiere diese Reise nicht aus nostalgischen Gründen, sondern um die heutige Zeit zu verstehen, um weiterhin an den Brücken zwischen Ost und West zu bauen und Erkenntnisse für die Zukunft zu gewinnen. Mein Ziel ist Szczecin (Stettin), eine westpommersche Stadt mit einer Geschichte, die im 8. Jahrhundert ihren Lauf nahm, über 700 Jahre eine deutsche war, dem erfolgreichen Kaufmannsbund der Hanse angehörte und 1945 als Ergebnis des Potsdamer Abkommen Polens zugeschlagen wurde. Das historische Stadtzentrum Stettins auf der westlichen Seite der Oder wurde 1944 von den Alliierten dem Erdboden gleichgemacht. Die deutschen Bewohner mussten 1945 ihre Stadt räumen, um sie polnischen Menschen zur Verfügung zu stellen, die ebenfalls ihre angestammte Heimat in Litauen, Weißrussland und der Ukraine in Richtung Westen verlassen mussten. Zig Tausende siedelten mit wenigen Habseligkeiten in das Mündungsgebiet der Oder in die Ostsee über. Bis zur polnischen Revolution lebte die Bevölkerung unter sowjetischer Unterdrückung, unter einer „kommunistischen“ Minderheitsregierung in politisch unklaren und wirtschaftlich provisorischen Verhältnissen. Bereits 1970, zwei Tage vor dem Heiligen Abend, gab es Poland,Szczecin(Stettin),KsiedzaKardynalaStefanWyszynskiego (PriesterKardinalStefanWyszynsky),2013 Poland,Szczecin(Stettin),AlejaNeipodleglosci (AlleederUnabhängigkeit),2013 4 Poland,Szczecin(Stettin),KsiedzaKardynalaStefanWyszynskiego(PriesterKardinalStefanWyszynsky),2013 5 Poland,Szczecin(Stettin),KsiedzaKardynalaStefanWyszynskiego(PriesterKardinalStefanWyszynsky),2013 auf Grund der desolaten Wirtschaftslage im kommunistischen Polen und den enormen Preiserhöhungen kurz vor dem Fest Unruhen in Szczecin (Stettin), die von der Polizei brutal niedergeschlagen wurden. Über 70 vorwiegend junge Menschen verloren ihr Leben. In der DDR hörte ich nichts davon. Zehn Jahre später wurde Szczecin (Stettin) neben Gdansk (Danzig) Zentrum der Solidarnosc-Bewegung, die in der Welt eine Zeitenwende einläutete. In den ersten Jahren der Transformation ab 1989 erlebte die polnische Bevölkerung eine Inflation und eine wirtschaftliche Schocktherapie, die sich schon nach zwei Jahren in Wachstum verwandelte. Zeitgleich grassierte im Osten Deutschlands, von einigen Einheitsgewinnern abgesehen, eine sozial abgefederte Massenarbeitslosigkeit, die viele Menschen bis heute noch nicht verwunden haben. Doch der Aufbruch in Polen bis in die heutige Zeit beruht auf dem Prinzip „Not macht erfinderisch“. Er ist weiterhin auch auf die wiedererlangte Eigenständigkeit als eine freie Nation zurückzuführen. Arbeitslosengeld wird nur für sechs Monate gezahlt, was die Menschen dazu nötigt, selbst aktiv zu werden. Viele Menschen verlassen ihre Heimat, um im westlichen Ausland besser zu verdienen. Viele kommen auch zurück in ihre Heimat, um zu investieren und bringen gute Kontakte mit. Die Arbeitslosigkeit beträgt heute in den Wachstumszentren der Großstädte um 9 Prozent, in strukturarmen, ländlichen Gebieten bis zu 30 Prozent. Die Menschen, die sich in Arbeitsverhältnissen befinden, arbeiten allerdings zu wesentlich geringeren Löhnen als in Ostdeutschland bei etwa gleichen Lebenshaltungskosten. Und es gibt auch eine Grauzone, wo die Menschen arbeiten, sich aber keine sozialen Versicherungen leisten können. Oft leben die Menschen unter wesentlich schlechteren Wohnbedingungen als im heutigen Osten Deutschlands, was nicht heißen soll, dass die Menschen, die ich in Szczecin (Stettin) erlebte, durchweg unglücklich sind. 6 Poland,Szczecin(Stettin),PlacBramaPortowa(Hafentorplatz),2013 7 Poland,Szczecin(Stettin),KsiedzaKardynalaStefanWyszynskiego(PriesterKardinalStefanWyszynsky),2013 Eine Reise in die Gegenwart Im Dreisternehotel an der Ksiedza Kardinala Stefana Wyszynskiego findet sich die dreizehnköpfige Gruppe aus dem benachbarten Mecklenburg-Vorpommern, die fünf Tage gemeinsam das Leben in Stettin erkunden möchte. Ein großer Teil der Teilnehmer lebt im unmittelbar benachbarten Gebiet am östlichen Rand des deutschen Vorpommerns, das nach dem Weltkrieg auf seine historisch gewachsene Metropole verzichten musste. Am Nachmittag begrüßt uns Andrzej Kotula, ein ehemaliger Solidarnosc-Aktivist, und erzählt aus seinem Leben in Szczecin (Stettin). „Meine Generation ist hier geboren. Ich liebe meine Stadt, so wie sie ist. Sie ist ständig auf der Suche nach ihrer Identität und erfindet sich immer wieder neu.“ Dabei blicke ich durch die große Fensterfront auf die Südseite der gotischen, 1187 gestifteten und aus Backstein errichteten Jakobskirche, der zweitgrößten Kirche Polens, und kann ihn verstehen. Am Abend kehren wir in ein schickes italienisches Restaurant ein. Die Kellnerin empfiehlt Bier aus Ungarn. Ich frage, ob es auch Stettiner Bier gibt. Ja, das gibt es. Und ich frage mich, warum sie die regionalen Produkte nicht zuerst anbietet, die an Qualität den Importen nicht nachstehen. Auch die in der Küche zubereiteten Speisen schmecken hervorragend. An der Bar trinke ich anschließend einen Espresso und komme mit dem jungen Barkeeper ins Gespräch, der Englisch spricht. Überhaupt: fast alle jungen Leute sprechen Englisch, manche auch Deutsch. Auf den beiden Bildschirmen unter der Decke läuft ein Spiel der Champions League zwischen Manchester United und Bayer Leverkusen. In der Pause flimmern Werbespots von Opel, Hyundai und dem MediaMarkt über die modernen Flachbildschirme. Zwei gut gekleidete Mädchen neben mir nippen an ihren Cocktails und haben sich etwas zu erzählen. Wie überall auf der Welt. 8 Poland,Szczecin(Stettin),PlacBramaPortowa(Hafentorplatz),2013 Poland,Szczecin(Stettin),PlacOrlaBialego(PlatzWeißerAdler),2013 9 Poland,Szczecin(Stettin),AlejaWyzwolenia(AlleederBefreiung),2013 10 Poland,Szczecin(Stettin),AlejaWyzwolenia(AlleederBefreiung),Galaxy,2013 11 Am nächsten Morgen erwartet uns auf der ehemaligen Burg der Greifenherzöge Pommerns Julita Milosz, Referentin für internationale Zusammenarbeit im Marschallamt der Wojewodschaft Westpommern. Sie erzählt über die Verbindungen nach Deutschland, die mehr zur westdeutschen Partnerstadt Lübeck bestehen als zur ostdeutschen Partnerstadt Rostock. Die engsten Verbindungen bestehen aber hauptsächlich zu Berlin, 140 km entfernt, per Autobahn in 90 Minuten zu erreichen. „Die Bewohner Stettins interessieren sich sehr für die Geschichte ihrer Stadt. In unserem Wohngebäude in der Altstadt haben wir erforscht, welche Menschen dort gewohnt haben. Das ist sehr interessant.“ Ich erfahre, dass die Liste der vor allem deutschen großen Söhne und Töchter der Stadt sehr lang ist und sich unter ihnen Katharina die Große, Alfred Döblin und Knut Kiesewetter befinden. In jüngster Zeit sind auch berühmte Polinnen und Polen aus der Stadt hervorgegangen, wie Aneta Kreglicka, Bartek Nisiol und Tomasz Lazar. Julita Milosz sagt, sie habe aber keine Idee für eine internationale Zusammenarbeit mit Deutschland und den unmittelbar angrenzenden Bundesländern Brandenburg sowie Mecklenburg-Vorpommern. Sie fragt: „Was ist die Herausforderung?“ Ich antworte, dass die Herausforderung zwischen Polen und Deutschland überhaupt darin beseht, sich gegenseitig zu verstehen, um Vertrauen für eine politische und wirtschaftliche Partnerschaft in der Europäischen Union zu entwickeln. Das findet sie gut, ergänzt aber, dass Polen zurzeit am meisten mit sich selbst beschäftigt ist. An der touristischen Stadtführung im Anschluss nehme ich nicht teil, sondern erkunde das Leben auf eigene Faust. Ein historisches Zentrum mit Kirche, Rathaus und prächtigen Giebeln in Hafennähe, wie in alten Hansestädten üblich, existiert nicht mehr. In der Nähe der Jakobskirche, der zweitgrößten Kirche Polens nach der Marienkirche in Gdansk (Danzig), befindet sich der kleine Heumarkt mit dem ehemaligen Rathaus. Dort ist jetzt das Museum für Stadtgeschichte untergebracht und stellt eine gelungene Symbiose zwischen dem Mittelalter und der Moderne dar. Den Heumarkt säumen einige restaurierte Bürgerhäuser, die Touristen zwar zum Bewundern einladen, aber ein wenig den Charme von Disneyland verströmen. Wer dieses sucht, ist in Szczecin (Stettin) falsch. Poland,Szczecin(Stettin),RynekSienna(Heumarkt),2013 Als pulsierender Mittelpunkt der Stadt zwischen dem Brama Portowa (Hafentor) und dem Einkaufszentrum Galaxy sind die Aleja Niepodleglosci (Allee der Unabhängigkeit) und die Aleja Wyswolenia (Allee der Befreiung) zu erahnen. Ein neuer Mittelpunkt ist die Galeria Kaskada am Plac Zolnierza Polskiego (Platz der polnischen Soldaten). An die Gebäude dazwischen muss ich mich erst gewöhnen. Sie entstammen der Vorkriegszeit, der Ära des „Kommunismus“ und der heutigen Zeit. Der Gestaltungswille der ehemals sozialistischen Stadtplaner orientierte sich in Richtung Osten. Das Hauptbauwerk an der Oder ist eine gewaltige Brückenanlage, die die westlich gewachsene Stadt in Richtung Osten anbinden soll. Vom Mittelalter bis in die Zeit der industriellen Revolution hinein diente eine mächtige Zugbrücke der Überquerung der Oder, was von den vielen historischen Gemälden und Fotografien an den Wänder der öffentlichen Gebäude zu erfahren ist. Szczecin (Stettin) ist seit dem Mittelalter eine Brücke zwischen Ost und West. 12 Poland,Szczecin(Stettin),BulwarPiastowski(BoulevardderErinnerung),2013 13 Der Westen kommt in den Osten Ich schließe mich dem Menschenstrom an, der beiderseits der vierspurigen Alleen im Ampeltakt der gestreiften Fußgängerüberwege pulsiert. In der Mitte fahren und halten Straßenbahnen mehrerer Generationen, verschlingen Menschen aller Altersgruppen und speien sie wieder aus. In den Gebäuden sind mittelgroße Läden, ein dänischer Netto, ein McDonald´s und die polnische Postbank untergebracht. Eine Drehtür schleust mich in die Galeria Kaskada und mir stockt wegen der Größe auf mehreren Etagen der Atem. Rolltreppen bewegen die Menschen. Ich treffe alle Läden an, die auch in den modernen Einkaufszentren Schwerins, Hamburgs und Amsterdams anzutreffen sind: Douglas, Zara, New Yorker, Saturn, Swarovski – die Liste umfasst etwa 160 Geschäfte. Das Angebot, die Dekoration und die Preise sind in allen Metropolen Europas nahezu gleich. Kaskada ist ein Treff junger Leute. Sie gönnen sich einen Big Mac, einen Whopper oder das, was sich junge Leute dort leisten können und wachsen so in den westlichen Standard hinein. Auch eine Breitling-Uhr für 79.990 Zloty entdecke ich, was etwa 19.990 Euro entspricht. In einem Shop fallen mir unbekannte Fläschchen mit unbekannten Düften auf. Die junge Verkäuferin spricht mich an, wechselt in die englische Sprache und empfiehlt mir dieses und jenes After Shave. Ich frage, ob es polnische Produkte sind. Sie verneint und sagt, es sind französische. Die Suche nach polnischen Produkten verläuft im Kaskada ergebnislos, was für die Osterweiterung des Westens typisch ist und nicht gerade einer möglichst gerechten Entwicklung dient. Ich gerate ins Untergeschoss und finde dort polnische Magazine, einige Bücher sowie Musik-CDs. Poland,Szczecin(Stettin),PlacZolnierzaPolskiego (PlatzdespolnischenSoldaten),2013 14 Poland,Szczecin(Stettin),AkademiaMorska(Meeresakademie),2013 15 Bogdan Twardochleb, der Stellvertreter des Chefredakteurs vom „Kurier Szczecinski“, empfängt uns mit Kaffee und Gebäck. Während seines Vortrags betont er mehrmals voller Stolz, dass diese Zeitung, die zum großen Teil den Journalisten selbst gehört, eine lange Tradition hat und als einzige in Polen unabhängig geblieben ist. Besonders stark hat in Polen die Verlagsgruppe Passau investiert und verfügt über moderne Redaktionen und Druckereien. Die Arbeit des „Kurier Szczecinski“ ist dadurch erschwert, dass sich die einzige verfügbare Druckerei von der Redaktion sehr weit entfernt befindet. Über eine Kooperation mit dem „Nordkurier“ Neubrandenburg wird schon lange verhandelt, doch die Produktionskosten dort sind für die kleine Redaktion mit etwa 100 fest angestellten Mitarbeitern zu hoch. In Polen gibt es keine Abonnements, sondern jede Ausgabe des „Kurier Szczecinski“ befindet sich im täglichen Wettbewerb mit weiteren vier Konkurrenten. Die Tagesauflage beträgt 13.000 bis 18.000 Stück, je nach Schlagzeile. Ich muss an die wohl zehnfach höheren Tagesauflagen pro Kopf der drei großen Regionalzeitungen in Mecklenburg-Vorpommern denken, die aus den ehemaligen SED-Bezirkszeitungen hervor gegangen sind und auf Grund ihrer hohen Anzahl von Abonnenten und fehlenden Konkurrenten lange Zeit keine Sorgen hatten. Bogdan Twardochleb erzählt von den Versuchen für einen grenzüberschreitenden Informationsaustausch, denn zunehmend leben Szczeciner (Stettiner) auf der deutschen Seite der Grenze. Der Grund sind niedrigere Miet- und Kaufpreise auf deutscher Seite. Einmal im Monat erscheint eine deutschpolnische Beilage. Ich frage den Redakteur, wo denn das ganze Geld aus den verhältnismäßig hohen Mieten in Szczecin (Stettin) bleibt. Genau deshalb sind die Gewerkschaften gerade bei der Regierung in Warschau, antwortet er. Das Institut für Nationales Gedenken, Außenstelle Szczecin (Stettin), vergleichbar in etwa mit einer Außenstelle der Behörde des Bundesbeauftragten für Stasiunterlagen in Deutschland, befindet sich in einer zu einem Bürogebäude umgebauten Kaserne inmitten eines schick hergerichteten Wohngebietes im Bauhausstil. Magda Baran erzählt mit reicher Gestik und in deutscher Sprache vom „großen Schnitt“ Tadeusz Masowieckis, des ersten Ministerpräsidenten der dritten polnischen Republik. Es stellte sich heraus, dass es ein Fehler von ihm war, die „kommunistische“ Vergangenheit nicht systematisch aufzuarbeiten, sondern einfach verzeihen und vergessen und zu wollen. Die Verletzungen, die die Systemträger vor der Revolution vielen Menschen zugefügt hatten, waren einfach zu tief, als dass sie mit einem Schlussstrich „von oben“ beseitigt werden konnten. Die Wunden heilten nicht. So wurde mit der Aufarbeitung der Diktatur erst zehn Jahre später als in Deutschland begonnen. Sicher sind die Aktenberge nicht so hoch wie in Deutschland, doch die Arbeit ist dadurch erschwert, dass sich viele Unterlagen bereits in einem sehr schlechten Zustand befinden und ehemals verbrecherische Systemtreue sich andere Namen zugelegt haben. Im Archiv zeigt Magda Baran auch Alben mit den Gesichtern ehemaliger SS-Leute, die heute noch gesucht werden. BogdanTwardochleb,MagdaBaran 16 ImunterirdischenMuseumüberden2.WeltkriegunddenKaltenKrieg. Abstieg in den Kalten Krieg Eine kleine Tür führt von einem Tunnel des Hauptbahnhofs ins unterirdische Museum für den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg. Die Gruppe entscheidet sich für die Besichtigung des Teils, der sich mit der jüngeren Geschichte beschäftigt. Die unterirdische Stadt dehnt sich über etwa einen Kilometer aus und bot den deutschen Bewohnern Stettins bis 1945 Schutz vor Luftangriffen, während Juden und Kriegsgefangenen der Schutz verwehrt wurde. Angesichts der Gefahr eines Atomkrieges unterhielten in der darauf folgenden Epoche größere Staatsbetriebe Einrichtungen für den Zivilschutz, für deren Nutzung die Beschäftigten regelmäßig und widerwillig üben mussten. Die Menschen spürten, dass die primitiven Einrichtungen für den Schutz vor einer verheerenden Waffe wie einer Atombombe absolut unzureichend waren und ich erinnerte mich an ähnliche Schutzübungen in der DDR, deren Sinnlosigkeit mit sarkastischem Humor ertragen wurde. Die Ausstellungsstücke bzw. Ausrüstungsgegenstände wie Luftfilter entsprachen nicht dem Stand der damaligen Technik. Berührt hat mich die Information, dass sich selbst noch 1995 die Welt wegen einer von den Amerikanern gesendeten und von den Russen vergessenen Mitteilung, die über den Start einer Wetterbeobachtungssonde in Norwegen informierte, am Rande eines atomaren Schlagabtauschs befand. Er wurde in letzter Minute verhindert. Mit einem Grusel und Unverständnis nehmen die Teilnehmer der Gruppe zur Kenntnis, dass die unterirdischen Einrichtungen für Partys und Kindergeburtstage sehr beliebt sind. 17 Poland,Szczecin(Stettin),BlogoslawionejKroloweijJadwigi(KöniginJadwigaBlogoslawa,PariserViertel),2013 18 Das Pariser Viertel Als die Studiengruppe Kurs auf das Regionalstudio des polnischen Fernsehens nimmt, fesseln mich einige Eindrücke am Rande, so dass ich die Gruppe verliere. Ich verirre mich im sternförmig angelegten Straßensystem des Pariser Viertels, einem lebendigen Stadtteil aus der Gründerzeit. Die Architektur ist von überwiegend sanierungsbedürftigen Fassaden im Jugendstil geprägt und erinnert mich an den Prenzlauer Berg und den Kreuzberg Berlins zehn Jahre zuvor. In Stettin und Berlin wirkte zeitgleich am Anfang des 20. Jahrhunderts der Stadtbaurat bzw. Stadtbaumeister James Hobrecht. Im Erdgeschoss der Gebäude befinden sich viele kleine Läden, typischer Ausdruck der kleinteiligen Privatwirtschaft. In winzigen Geschäften werden Gemüse, Schuhe und auch Garn zum Sticken in vielen Farben angeboten. In den Kellerräumen befinden sich Büroräume, kleine Kantinen mit reichhaltiger Speisenauswahl „wie bei Muttern“ und für das kleine Portemonnaie. In den Friseurgeschäften hübschen sich die Frauen wegen der Kundenflaute, die das Regenwetter gerade mit sich bringt, gegenseitig auf. Besonders auffällig präsentieren sich Geschäfte für Hochzeitsmode a la „Pretty Woman“: traumhafte Brautkleider, dazu der passende BH, ein zarter Slip, silberne Kettchen und zur Ergänzung hin und wieder Anzüge für den Bräutigam. An den Straßenecken stehen Container für den Verkauf von Fastfood und Blumen. In einigen Gebäuden sind größere Supermärkte eingefügt, äußerlich erkennbar an einem Geldautomaten und einer Anhäufung von Passanten. Außerdem wird in diesem Viertel das älteste Kino der Welt betrieben. Es heißt „Pionier“, wurde 1907 gegründet und bietet heute in stilvoller Atmosphäre ein anspruchsvolles Programm. Ich stelle fest, dass dieses „Pariser Viertel“ mehr touristisches Potenzial besitzt als dieses Disneyland am Heumarkt und die Promenade an der Oder. Ich werfe einen Blick durch einige offene Hausdurchgänge bis zu den Hinterhöfen in dieser beliebten und teuren Wohngegend. Manche Durchgänge sind aufwändig gefliest, mit Türöffner bzw. einem beschrankten Privatparkplatz ausgestattet. An den Türen weisen Messingschilder darauf hin, dass hier Anwälte und Notare wohnen und arbeiten. Doch eine hohe Zahl der Durchgänge führen in traurige Hinterhöfe, deren Gebäude bewohnt aussehen und als Parkplätze genutzt werden. Von den Fenstern blättert die Farbe ab und aus Erfahrungen weiß ich, dass der Farbauftrag noch aus der Zeit vor dem Weltkrieg stammt. Ich erschrecke, denn ein schick gekleidetes Mädchen kommt durch den Durchgang und ich grüße auf Polnisch. Es grüßt zurück und verschwindet in der Haustür eines der abgewirtschafteten Hinterhofhäuser. Anschließend kommt ein Mann und blickt mich trotz meines möglichst freundlichen „dzien dobry“ so misstrauisch an, dass ich es vorziehe, meine Beobachtungen vorerst zu beenden. Die Gewerkschaften werden sich in Warschau Gehör verschaffen müssen. Ich starte den Versuch, meine Gruppe zu finden und entdecke das Hochhaus von TV Polonia. Im Foyer stehen zwei Männer hinter dem Empfangstresen. Ich grüße mit „Dzien dobry“ (Guten Tag) und frage nach ihrer Erwiderung „Do you speak English?“ (Sprechen Sie Englisch?) „Nie“ (Nein), sagt der rechte Mann. Ich weiß nicht, wie ich mein Anliegen auf Polnisch erklären kann und versuche es auf Deutsch: „Sprechen Sie Deutsch?“ „Nie“ (Nein), antwortet der linke Mann und der rechte antwortet etwas auf Polnisch, das etwa so klingt wie „Wir sprechen nur Polnisch.“ Ich blicke mich ratlos um und hoffe, einen Hinweis auf meine Gruppe zu finden. Plötzlich sagt der linke Mann: „Wenn ich komme nach Deutschland ich sprechen muss Deutsch.“ Ich sage „Do widzenia.“ (Auf Wiedersehen.). Später erzählten mir Mitglieder der Gruppe, dass die Führung durch das Studio sehr interessant war, aber die Anschaffung neuer Technik kaum möglich ist, weil die Fernsehzuschauer ihre Gebühren nicht bezahlen. Vielleicht hat es Gründe. Im Pariser Viertel fotografiere ich ein Wohngebäude. Zwei Jugendliche, die ihre Kapuzen über ihre Köpfe ziehen, treten aus der Haustür, entdecken mich, kommen auf mich zu und fragen erst auf Polnisch, dann auf Englisch, warum ich fotografiere. Ich sage, dass ich viel in Europa unterwegs bin, um das heutige Leben zu erleben und zu fotografieren, in Polen, in der Tschechischen Republik, in Deutschland, in den Niederlanden, in Finnland, so dass mit der Zeit ein europäisches Gesamtbild der heutigen Zeit entsteht. Und ich frage die Jugendlichen, wie es ihnen geht. „Das Leben in Polen ist brutal geworden“, antwortet einer von beiden. Zum Abschied reichen mir beide freundlich ihre Hand. 19 Poland,Szczecin(Stettin),Jagellionska(PariserViertel),2013 20 Poland,Szczecin(Stettin),AlejaPiastow(Hohenzollernallee,PariserViertel),2013 21 Poland,Szczecin(Stettin),ObroncowStalingradu(VerteidigungStalingrads),2013 Poland,Szczecin(Stettin),PlacZwyciestwa(PlatzdesSieges),2013 22 Reise in die Zukunft Im Sitzungssaal des Marschallamtes auf der historischen Burg wird unsere Gruppe von mehreren Mitarbeitern der Wojewodschaftsund Stadtverwaltung erwartet. Der Tisch ist reichhaltig und liebevoll mit Fingerfood, Kuchen und Getränken gedeckt. Über den herzlichen Empfang bin ich sehr gerührt, sage das auch und ernte das charmante Lächeln einer jungen Dame, die gerade aus Berlin kommt, wo sie ihr Studium absolvierte. Nacheinander erfolgen drei Präsentationen über die Wirtschaft und die Vorhaben Szczecins (Stettins) einschließlich der Wojewodschaft, die jeden Wirtschaftsfachmann beeindrucken würden. Ich melde mich zu Wort und erkläre, dass wir gekommen sind, um uns im bisher unbekannten Szczecin (Stettin) gesellschaftspolitisch zu informieren und dass es in Mecklenburg-Vorpommern keine Investoren gibt, die auf Polens Gewerbeflächen ihre Produktionsstätten errichten können. In Ostdeutschland liegen selbst noch genug davon brach. Aber, füge ich hinzu, wir können als Länder der Transformation aus einer gemeinsamen Vergangenheit heraus unsere Erfahrungen austauschen und Ideen für ein gemeinsames, grenzüberschreitendes Europa entwickeln. Ich wechsle in die englische Sprache und es entwickeln sich spontan lebhafte Gespräche, die leider aus terminlichen Gründen sobald beendet werden müssen. Der letzte Besuch der Gruppe findet beim Seehäfenvorstand Szczecin (Stettin) und Swinoujscie (Swinemünde) AG im modern ausgestatteten Sitzungssaal des Hauptgebäudes statt. Die Verantwortlichen für das Marketing erzählen über das Potenzial Szczecins (Stettins) in der Region und in Europa. Der jährliche Warenumschlag beträgt zurzeit etwa 21 Millionen Tonnen. Damit befindet sich Szczecin (Stettin) heute mit Rostock auf einem mittleren Rang der Ostseehäfen und ist nach Gdansk (Danzig) der zweitwichtigste Hafen Polens. Er besitzt eine Anbindung der Binnenwasserstraßen über die Oder zu den oberschlesischen Industriegebieten und über das Schiffshebewerk Niederfinow nach Berlin. Von dort gibt es Transportmöglichkeiten über das deutsche Binnenwasserstraßennetz bis zu den Überseehäfen in Rotterdam und Hamburg. Eine weitere Logistikvoraussetzung für die Warenströme Europas existiert in der unmittelbaren Anbindung an das internationale Autobahnnetz sowie an das Schienennetz mit Schwerpunkt Südosteuropa. In den nächsten Jahrzehnten sind umfangreiche Investitionen geplant, um den steigenden Güterverkehr mit modernen Methoden abwickeln zu können. In Swinjouscie (Swinemünde), etwa 70 km die Oder abwärts und durch das Große Haff hindurch, wird der Ausbau eines Tiefseehafens vorangetrieben. Die maritime Wirtschaft als Schwerpunkt Szczecins (Stettins) ist unschwer an der geografischen Lage zu erkennen. Die Umgebung ist reich an Gewässern und intakter Natur. An der polnischen und deutschen Küste befinden sich wie auf einer Perlenkette schöne und beliebte Seebäder. Was liegt näher, als für die dort lebenden Menschen eine Marina und schwimmende Häuser zu errichten, einzigartig in der Welt? Das ist das Entwicklungsprogramm bis 2050. Vorerst. Die heutigen Bewohner Szczecins (Stettins) habe sich selbst erfunden. Nun, manchmal denke ich frei nach Asterix: „Die spinnen, die Polen!“ Und ich denke an die Visionen, die nach dem Mauerfall im Osten Deutschlands entstanden sind und später im Tagesgeschäft untergingen, aus welchen Gründen auch immer. Trotzdem, auch wenn es Höhen und Tiefen gab und gibt: es ist eine Erfolgsgeschichte. In Szczecin (Stettin) studieren 50.000 junge Menschen. Die jungen Leute heiraten, gründen Familien und wandern bereits als Ärzte, bald auch als Lehrer, dort ein, wo die Orte leergefegt und überaltert sind: im Osten Brandenburgs, im Osten Mecklenburg-Vorpommerns, auch in Berlin. Nicht ohne Grund habe ich gleich auf der 2. Seite dieses Magazins Brautkleider präsentiert. BER wird, wenn der Flughafen in Berlin-Schönefeld einmal fertig sein sollte, auch der Flughafen Szczecins (Stettins). Im Zentrum der Stadt entsteht eine Philharmonie. Und der Bau geht voran. Das architektonische Konzept wurde von spanischen Architekten aus dem Studio Barozzi Veiga aus Barcelona entworfen. Und auch die Oper, noch in einem provisorischen Bau untergebracht, ist ein Zeugnis lebendiger Kultur und einer neuen Identität. So entwickelt sich eine europäische Metropole. Eine Teilnehmerin der Studienreise, im Kreis Vorpommern/ Rügen lebend, sagt abschließend: „Mein Fazit ist, dass wir uns in Zukunft nach Szczecin (Stettin) orientieren. Unsere 23 Landeshauptstadt Schwerin liegt einfach zu weit im Westen und orientiert sich nach Hamburg.“ Driften Mecklenburg und Vorpommern also wieder auseinander? In den beiderseits grenznahen Kindergärten und Schulen wird bereits jeweils Deutsch und Polnisch als Fremdsprache gelehrt. Doch die kommenden Generationen werden sich in englischer Sprache verständigen können. Sie wie es einmal mit Platt war: Diese heute noch lebendige Sprache war die Basis der Verständigung zwischen Tartu (Estland) im Osten und Zwolle (Niederlande) im Westen, zwischen Visby (Gotland) im Norden und Kraków (Krakau, Polen) im Süden - heute Europäische Union. „Wenn ich komme in die EU ich sprechen muss Englisch.“ Und jetzt kann einer sagen: „Der spinnt, der Wittenburg!“ Fahren Sie mal nach Polen! Siegfried Wittenburg im September 2013 Hiemit erlaube ich, diese Datei für nicht kommerzielle Zwecke an weitere Kontaktpersonen zu versenden und auch in gedruckter Form zu verbreiten. HafenSzczecin(Stettin),2013: IndiesemBildhabeichdieFarbebelassen. EswehtdieFlaggederEuropäischenUnion. Viele Grüße! Bis zum nächsten Mal! Herausgeber,Autor,Fotografiker,ProjektentwicklerfürvisuelleKommunikationundRedakteur SiegfriedWittenburg AmSchulacker14 19067LangenBrütz post@siegfried-wittenburg.de 24