Gehirn-Computer-Schnittstellen bei Lähmungen
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Gehirn-Computer-Schnittstellen bei Lähmungen
Gehirn-Computer-Schnittstellen bei Lähmungen Brain-Computer-Interfaces (BCI) in Paralysis Niels Birbaumer, Ander Ramos Murguialday, Angela Straub & Leonardo Cohen Computergestützte Psychologie Zusammenfassung Invasive und nichtinvasive Gehirn-Computer-Schnittstellen, die auf Ableitungen von Nervenzellen, großen Neuronenverbänden wie z.B. Elektrokortikogramm (ECoG) und Elektroenzephalogramm (EEG) oder Messungen der Hirndurchblutung wie funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRI) oder Nah-Infrarot-Spektroskopie (NIRS) beruhen, sind in der Lage, die Kommunikation bei Locked-in-Syndrom und die Wiederherstellung der motorischen Funktionen bei Schlaganfallpatienten zu ermöglichen. Zur abschließenden Beurteilung sind jedoch weitere kontrollierte Studien mit einer größeren Anzahl von schwer betroffenen Patienten erforderlich. Abstract Invasive and non-invasive BCIs using recordings from nerve cells, large neuronal pools such as electrocorticogram (ECoG) and Electroencephalography (EEG), or blood flow based measures such as Functional Magnetic Resonance Imaging (fMRI) and Near-Infrared-Spectroscopy (NIRS) show potential for communication in LIS and movement restoration in chronic stroke, but controlled phase III clinical trials with larger populations of severely disturbed patients are urgently needed. Ziel des Artikels Die Kommunikation mit Patienten, die an einem Locked-in-Syndrom und anderen Formen von Lähmungen leiden, ist noch nicht befriedigend gelöst. Auch die Wiederherstellung der Bewegungsfähigkeit bei Patienten mit Schlaganfall oder anderen Hirnschädigungen bleibt eine therapeutische Herausforderung, da die zur Verfügung stehenden Therapiemöglichkeiten zu keinen zufriedenstellenden Verbesserungen führen. Dieses Ka- 390 Psychologie in Österreich 5 | 2009 pitel zeigt, dass die neueren Forschungsergebnisse bei Gehirn-Computer-Schnittstellen (Brain-Computer Interfaces, BCI) vielversprechende Lösungen für diese drängenden Probleme geben können. Neuere Forschungsergebnisse Tierversuche mit Primaten weisen darauf hin, dass nach einer gewissen Trainingszeit willentliche zielgerichtete Bewegungen der oberen Gliedmaßen über eine relativ kleine Anzahl von Mikroelektroden, die in bewegungsrelevante Hirnareale implantiert wurden, erfasst und an externe Geräte (z.B. Roboterarm) weitergeleitet werden können. Dies eröffnet neue Möglichkeiten für die Entwicklung von Gehirn-Computer-Schnittstellen oder Gehirn-Maschine-Schnittstellen für den Menschen. Nichtinvasive Gehirn-Computer Schnittstellen auf der Basis von EEG-Ableitungen oder ereigniskorrelierten Hirnpotentialen sind zwar in der Lage, bei Gesunden und Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose oder Schlaganfall bis zu 80 bit/Minute an Information zu übermitteln, bei schwer oder völlig gelähmten Patienten hat sich jedoch die Anwendung von sowohl invasiven wie nicht-invasiven Gehirn-Computer-Schnittstellen als unerwartet schwierig erwiesen. Purpose of this Review Communication with patients suffering from locked-in syndrome (LIS) and other forms of paralysis is an unsolved challenge. Movement restoration for patients with chronic stroke or other brain damage also remains a therapeutic problem and available treatments do not offer significant improvements. This review considers recent research in BCIs as promising solutions to these challenges. Niels Birbaumer, Ander Ramos Murguialday, Angela Straub & Leonardo Cohen Gehirn-Computer-Schnittstellen bei Lähmungen Recent Findings Experimentation with non-human primates suggests that intentional goal directed movements of the upper limbs can be reconstructed and transmitted to external manipulandum or robotic devices controlled from a relatively small number of microelectrodes implanted into movement-relevant brain areas after some training, opening the door for the development of brain-computer interfaces (BCI) or brain-machine-interfaces (BMI) in humans. While non-invasive BCIs using electroencephalographic recordings EEG or event-related-brainpotentials (ERP) in healthy individuals and patients with amyotrophic lateral sclerosis (ALS) or stroke, can transmit up to 80 bits/min of information, the use of BCIs – invasive or noninvasive – in severely or totally paralyzed patients have met some unforeseen difficulties. 1. Einführung Eine Gehirn-Computer-Schnittstelle (BCI) oder GehirnMaschine-Schnittstelle benutzt Hirnsignale, um externe Geräte ohne Beteiligung des Rückenmarks oder des peripheren motorischen Systems zu bedienen. Die BCIs erlauben die Ausführung einer Handlung mittels Hirnsignalen wie z.B. dem Spannungsverlauf (Erregungsmuster) einzelner Neuronen (spike trains from single neurons) (1**,2), extrazellulären lokalen Feldpotentialen (LFPs) (3), Elektrokortikogramm (ECoG) (4), Oszillationen des Elektroenzephalogramms (EEG) (5), ereigniskorrelierte Hirnpotenziale (EKPs) (6), real-time funktionelle Magnetresonanztomographie (rt-fMRT) (7) und Nah-Infrarot-Spektroskopie (NIRS) (8). Bei den meisten BCIs wird die Hirnaktivität des Benutzers erfasst und mit einem on-line-Klassifikationsalgorithmus dekodiert. Diese Signale werden dann dem Benutzer rückgemeldet, so dass dieser seine Hirnaktivität beeinflussen kann. Die Rückmeldung kann in Form von sensorischen Reizen erfolgen, z.B. visuell (7), auditorisch (9) oder vibrotaktil, je nach klassifizierter Hirnaktivität, es kann eine Belohnung für eine bestimmte Hirnantwort sein, eine verbale Antwort (wie z.B. „ja“ oder „nein“), das Bewegen einer Prothese oder eines Rollstuhls oder aber die direkte elektrische Stimulation von Muskeln oder Gehirn. Daher ist die Rückmeldung der Konsequenzen der ausgeführten Hirnaktivität ein wesentlicher Teil eines erfolgreichen BCIs. Der Großteil der Forschung, die sich mit der Entwicklung von BCIs befasst, besteht aus methodologischen Studien, die verschiedene mathematische on-line-Algorithmen vergleichen, von der einfachen linearen Diskriminationsanalyse (LDA) (10*) bis zu nicht-linearen künstlichen neuronalen Netzen (KNN) (10*) oder Support Vector Machine (SVM)-Klassifikation (11). Einzelzellableitungen (Single cell spikes) für die Rekonstruktion von Handbewegungen erfordern andere statistische Lösungen (12) als die EEG-Rhythmus-Klassifikation für die Kommunikation (9). Im allgemeinen ist der Algorith- mus für BCI-Anwendungen rechnerisch einfach und die Unterschiede in der Klassifikationsgenauigkeit der für die jeweiligen Zwecke verwendeten Algorithmen sind klein (13). Es steht bisher nur eine sehr kleine Zahl von klinischen Studien mit neurologischen Patienten zur Verfügung, wobei die meisten hiervon Einzelfallstudien sind (14). Die klinische Zielgruppe für die BCI-Anwendung besteht hauptsächlich aus Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) und schweren Schädigungen des ZNS, inklusive Rückenmarksverletzungen und Schlaganfall, die mit schwerwiegenden Beeinträchtigungen der Kommunikation und der motorischen Fähigkeiten einhergehen. In den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts begann sich die wissenschaftliche Literatur intensiv mit dem Neurofeedbacktraining zu befassen (15). Dieses Training zur Selbststeuerung verschiedener EEG-Maße lieferte den Beleg für die positiven Effekte bei sonst medikamentös unbehandelbaren Epilepsien (16) und Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHD) (17). In jüngerer Zeit wurden durch die erfolgreiche Entwicklung und Erprobung eines Real-time fMRT (EchtzeitfMRT) (18) und NIRS-BCI (8) interessante Anwendungen für Patienten mit psychopathologischen Befunden eröffnet. 2. Die gelernte Selbststeuerung von Hirnsignalen Die meisten klinischen Anwendungen der BCI-Forschung beruhen auf der Tradition von Neurofeedback und Biofeedback, wobei beides Konsequenzen technologischer Fortschritte in der schnellen Computeranalyse von EEG-Mustern sind, die on-line-Rückmeldung und Belohnung für verschiedene Arten neuroelektrischer Aktivität ermöglichen (19). BCIs zur Wiederherstellung der motorischen Funktionen beruhen dagegen auf der Steuerung der sensomotorischen Neuronen, die die verschiedenen Bewegungsrichtungen repräsentieren (20). Neurofeedback erlaubte erstmals die willentliche Selbststeuerung der Hirnaktivität durch Rückmeldung und Belohnung. Die Erwartungen waren hoch und viele voreilige klinische Erfolgsmeldungen, die auf Einzelfallstudien oder unkontrollierten Beobachtungen beruhten, diskreditierten das Forschungsfeld von Beginn. Die Ergebnisse von N.E. Miller in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, welche die operante Kontrolle von autonomen (und ZNS-) Funktionen (21) bei kurarisierten Ratten zeigten und somit die „willentliche“ operante Steuerung vieler Körperfunktionen unter Ausschaltung des motorischen Systems durch Kurarisierung beweisen sollten, erwiesen sich als schwierig zu replizieren (22). Zusammen mit den übertriebenen Erfolgsankündigungen im Bereich Biofeedback führte dieses historische Ereignis praktisch zu einem Finanzierungsstop seitens der öffentlichen Förderinstitutionen in den USA und verhinderte lange Zeit kontrollierte klinische Studien trotz Psychologie in Österreich 5 | 2009 391 Niels Birbaumer, Ander Ramos Murguialday, Angela Straub & Leonardo Cohen Gehirn-Computer-Schnittstellen bei Lähmungen einiger Hinweise auf ihre Wirksamkeit. Neuere Studien wiesen jedoch darauf hin, dass Patienten mit medikamentös nicht behandelbaren Epilepsien (zumeist mit sekundär generalisierten Anfällen) eine Reduktion der Zahl von Anfällen während und nach dem Training der Selbstkontrolle langsamer kortikaler Potentiale (Slow Cortical Potentials, SCPs) (23, 24) erzielten. Ein Effekt, der auch bei Biofeedback der Hautwiderstands-Antworten (skin conductance responses, GSR) berichtet wurde (25). Nagai et al. (25) zeigte, dass der gelernte Anstieg der autonomen Erregung durch Reduktion des Hautwiderstandes die negativen langsamen kortikalen Potentiale auf kortikaler Ebene erniedrigte und so die Anfallsschwelle erhöhte, was frühere Studien bestätigte (23, 24, 26). In diesen Studien mit Training und visuellem Feedback von positiven SCPs bei fokalen Epilepsien erreichten einige Patienten nahezu eine Genauigkeit von 100% in der Kontrolle der SCPs nach intensivem Training von 30 bis 50 Sitzungen und ebneten so den Weg für die Anwendung der BCIs zur Kommunikation. Eine weitere vielversprechende Anwendung von Neurofeedback in der Neurologie ist die Selbststeuerung von SCPs und µ-Rhythmus (auch sensomotorischer Rhythmus, SMR, genannt) bei ADHD (Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung). Der sensomotorische Rhythmus ist über den sensomotorischen rolandischen Hirnarealen mit Frequenzen zwischen 12 und 15 Hertz registrierbar und deutet auf einen motorischen Ruhezustand und einen funktionell inhibitorischen Status der thalamokortikalen Schleifen (27) hin. Bewegungsvorstellung und Bewegungsausführung desynchronisiert den SMR (ereigniskorrelierte Desynchronisation, ERD, event-related desynchronization, ERD). Gut kontrollierte Studien mit einer relativ kleinen Anzahl von ADHD-Kindern wiesen auf dauerhafte Effekte für Aufmerksamkeit und Wachheit hin, vergleichbar mit den Effekten der pharmakologischen Behandlung mit Stimulanzien (28). Neurofeedbacktraining zur Verstärkung von negativen SCPs (langsamen kortikalen Potentialen) in präfrontalen Regionen oder das SMR-Training (den sensomotorischen Rhythmus zu verstärken), könnte die Funktionen von subkortikalen Hirnarealen bei dieser Störung beeinflussen. Neuere Studien wiesen auf die Bedeutung der Basalganglien-thalamofrontalen Netzwerke während des Neurofeedbacks der SCPs hin (29,26). Der genaue neurophysiologische Wirkmechanismus, der diesem trainingsbedingten Effekten zugrunde liegt, ist jedoch noch nicht geklärt. Insgesamt zeigten diese bahnbrechenden Studien eindrucksvoll, dass es möglich ist, die menschliche elektrokortikale Aktivität zu steuern und motorische und kognitive Funktionen bei Gesunden und Kranken zu beeinflussen. 3. Kommunikation bei Locked-in-Syndrom Patienten mit progressiver Motoneuronerkrankung, insbesondere ALS, Guillain-Barré-Syndrom und subkorti- 392 Psychologie in Österreich 5 | 2009 kalem Schlaganfall sowie Patienten mit traumatischen Hirnverletzungen im Vegetativen Zustand (30) können an einem Locked-in-Syndrom (locked-in syndrome, LIS) oder völligen Locked-in-Syndrom (TLIS, total locked-in syndrome) leiden. LIS ist definiert als völlige Lähmung mit nur einer oder wenigen verbliebenen willentlichen Funktionen (normalerweise kleine Augenbewegungen). TLIS besteht aus dem völligen Stillstand der bewussten Kontrolle aller willentlichen somatisch-motorischen Funktionen. Sowohl bei LIS wie auch bei TLIS sind jedoch die auditorische und taktile Wahrnehmung sowie die kognitiven Funktionen, die normalerweise mit ereigniskorrelierten Potentialen (ERPs) (30) oder fMRI (31) gemessen werden, intakt. Die visuelle Wahrnehmung ist oftmals durch Lähmung der Augenmuskeln beeinträchtigt. Daher können bei TLIS-Patienten nur BCIs mit auditorischer oder taktiler Rückmeldung Anwendung finden. Seit dem ersten Bericht (14) über zwei LIS-Patienten mit ALS, die mit der gelernten willentlichen Erniedrigung der SCPs in der Lage waren, Buchstaben aus Buchstabenreihen in einem Computer auszuwählen, sind mehrere Publikationen mit einer kleinen Anzahl von ALS-Patienten erschienen, die zeigen, dass Kommunikation mit Hilfe von BCIs bei LIS und fortgeschrittenen Stadien der ALS möglich ist. Eine gründliche Durchsicht der Literatur zeigte, dass BCIs, die durch P300 ereigniskorrelierte Potentiale (32,33), langsame kortikale Potentiale (14) und sensomotorischen Rhythmus (34) gesteuert werden, zwar langsame, aber effektive verbale Kommunikation in allen Stadien der ALS, außer bei TLIS, ermöglichen. Interessanterweise konnte bei zwei Patienten mit TLIS nicht einmal durch ein invasives BCI, mit implantierten epiduralen Elektroden über linksfrontalen Hirnarealen, die Kommunikationsfähigkeit erhalten werden (nicht veröffentlichte Daten, erhältlich von den Autoren). Nur eine Studie (35) berichtete optimistischere Ergebnisse von einem NIRS-gesteuerten BCI bei 17 Patienten mit TLIS. Die Patienten wurden trainiert, mit einem Anstieg der Blutoxygenierung („ja“) oder Erniedrigung der Oxygenierung („nein“) auf verschiedene Fragen, die auf einem Computerbildschirm dargeboten wurden, zu antworten. Mit Hilfe einer off-line-Klassifizierungsmethode war es möglich, bei 7 von 17 Patienten mit TLIS eine 70%ige korrekte Trennung von „ja“ und „nein“ festzustellen. Eine Schwäche dieser Studie ist der Mangel an quantitativen Daten und die fehlende Definition der klinischen Kriterien, die auf die TLIS-Patienten angewendet wurden. Es muss noch untersucht werden, inwieweit BCIs, die mit EEG, ECoG oder NIRS arbeiten, willentliche Hirnantworten und Kommunikation auch bei TLIS erlauben. Eine mögliche Erklärung dafür, dass die operante Kontrolle der autonomen Funktionen bei der kurarisierten Ratte nicht repliziert werden konnte (21,22) und dass die gelernte Selbststeuerung des Gehirns mit BCI bei TLIS nicht funktionierte, könnte darin bestehen, dass zielgerichtete und willentliche Denkprozesse mit der Zeit gelöscht werden, wenn verstärkende Rückmeldungen fehlen – eine Hypothese, die z.Z. geprüft wird (5). Falls diese Hypothese zutrifft, sollte der Transfer eines Trai- Niels Birbaumer, Ander Ramos Murguialday, Angela Straub & Leonardo Cohen Gehirn-Computer-Schnittstellen bei Lähmungen ningserfolgs mit einem BCI vom LIS- zum TLIS-Zustand möglich sein. 4. Die Wiederherstellung der motorischen Fähigkeiten bei Schlaganfall und Verletzungen des Rückenmarks Pfurtscheller et al. (36) berichtete 2003 von einem tetraplegischen Patienten, der nach einem aufwendigen Training der Erhöhung und Erniedrigung des zentralen Mu-Rhythmus (SMR) in der Lage war, ein Elektrostimulationsgerät (FES), das an die Handmuskeln angeschlossen war, zu steuern. Der Patient konnte ein Glas ergreifen und zum Mund führen, nachdem er über einen Zeitraum von 4 Monaten durch Rückmeldung und Belohnung gelernt hatte, seinen Mu-Rhythmus zu regulieren. Hochberg et al (37) implantierten eine 96-MikroelektrodenArray in die Handregion des motorischen Kortex eines anderen tetraplegischen Patienten. Der Patient lernte, eine Handprothese, die nicht mit seiner eigenen Hand verbunden war, mit Hilfe der willentlichen Kontrolle der neuronalen Netze zu öffnen und zu schließen. Es wurde jedoch keine Verbesserung der willentlichen motorischen Kontrolle der gelähmten Hand berichtet. Die Beeinträchtigung der motorischen Fähigkeiten durch chronischen Schlaganfall stellt die Hauptursache für langfristige Behinderung und Erwerbsunfähigkeit bei Erwachsenen dar und hat beträchtliche soziale, finanzielle und psychologische Folgen für die Patienten, ihre Familien und die Gesellschaft. Etwa ein Drittel aller Schlaganfallpatienten ist ein Jahr nach dem Schlaganfall nicht in der Lage, die gelähmte Hand für die Tätigkeiten des täglichen Lebens zu benutzen und es gibt keine wirksame Therapie. Eine neuere Studie unseres Labors (38*) mit einem neuromagnetischen BCI zeigte als „Proof-ofPrinciple“ bei 6 von 8 Patienten erfolgreiche BCI-gesteuerte öffnende und schließende Greifbewegungen einer Orthose, die an der plegischen Hand angebracht war. Die Orthose wurde durch Aktivität in 3 von 275 magnetoenzephalographischen (MEG) Sensoren gesteuert. Der Anstieg des 9-15 Hz Mu-Rhythmus in diesen drei Sensoren öffnete die Hand, Erniedrigung schloss sie. Bei 6 von 8 Patienten wurde die Mu-Aktivität von zentralen ipsiläsionalen Orten nahe der subkortikalen Läsion abgeleitet. Nach 13 bis 22 einstündigen Trainingssitzungen waren die Patienten in der Lage, schließende und öffnende Bewegungen mit der Orthose durchzuführen. Klinische Verbesserungen in der völlig gelähmten Hand außerhalb des Labors konnten jedoch nicht erreicht werden. Das Training führte zu einer Refokussierung der MEG-Aktivität und lieferte damit den ersten Hinweis darauf, dass BCI-Training zu einer deutlichen kortikalen Reorganisation führen könnte. Ob ein invasives BCI mit implantierten Elektroden und internalisierten Verbindungen zu den peripheren Nerven oder nichtinvasive BCIs, die an Prothesen oder Rehabilitationsroboter angeschlossen werden, von diesen Benchmark-Studien zur klinischen Anwendung finden werden, müssen künftige Forschungen zeigen. Es gilt festzustellen, dass die Kluft zwischen dem, was mit einem implantierten Mikroelektroden-Array im motorischen oder parietalen Kortex (39) beim gesunden nicht-humanen Primaten erreicht werden kann, im Vergleich zum gelähmten menschlichen Patienten, groß ist. Während der Affe in relativ kurzer Zeit lernt, sich ohne jede motorische Unterstützung, nur mit Hilfe der Aktivität eines kleinen neuronalen Netzes im Gehirn, selbst zu füttern, braucht der menschliche Patient viele Trainingsstunden, um eine gelähmte Hand zu öffnen und zu schließen. Die Tatsache, dass ein neuronales Erregungsmuster mit Mikroelektroden in der entsprechenden Gehirnregion abgeleitet „näher“ am Ursprung des Bewegungsimpulses ist, kann allein die Erklärungslücke nicht schließen: mit einem dichten Sensor-Array des MEG konnte eine komplexe vier-direktionale Handbewegung mit einer Genauigkeit von 70% (40*) bei Gesunden rekonstruiert werden. Die Vorhersagegenauigkeit bei EEGDaten war nur etwas geringer. Experimente an Tieren mit Hirnschädigungen und gleichzeitiger Aufzeichnung von Spike patterns (Erregungsmustern von Aktionspotenzialen), lokalen Feldpotentialen (LFP) und ECoG sind dringend erforderlich, um die genauen Parameter auf jeder Beobachtungsebene zu erfassen, die notwendig sind, um die Bewegungen im läsionierten Gehirn, den gelähmten Körperteilen oder beidem zu rekonstruieren. 5. Gehirn-Computer-Schnittstellen, die metabolische Veränderungen benutzen NIRS, das Veränderungen des Sauerstoffgehalts der Hirnoberfläche misst, ist eine relativ billige nicht-invasive Methode, deren Kontrolle innerhalb weniger Trainingsstunden mit kontigenter Rückmeldung gelernt werden kann. Sitaram et al (8) trainierten gesunde Versuchspersonen erfolgreich, die Differenz zwischen rechten und linken sensomotorischen Regionen zu maximieren. Die Kontrolle der BOLD (blood oxygenation level dependent)-Antwort mit real-time fMRI (rt-fMRI) stellt eine besonders interessante Entwicklung in der Forschung der Gehirn-Computer-Schnittstellen dar (18). Im Gegensatz zu allen anderen nicht-invasiven BCI-Methoden ist die Kontrolle fest umschriebener kortikaler und subkortikaler Strukturen möglich. Verschiedene experimentelle Studien, die meisten mit jungen gesunden Versuchspersonen, zeigten eine erstaunlich präzise anatomische Auflösung in der Charakterisierung der Hirnregion, die „trainiert“ werden soll. Diese Veränderungen korrelieren dabei gut mit Änderungen im Verhalten. So führte z.B. die Kontrolle der prämotorischen und motorischen Areale zu Veränderungen in der Schnelligkeit der motorischen Antworten, die Kontrolle der Areale des anterioren Cingulums zur Unterdrückung des Schmerzes (41), die Kontrolle der parahippokampalen Areale zu Psychologie in Österreich 5 | 2009 393 Niels Birbaumer, Ander Ramos Murguialday, Angela Straub & Leonardo Cohen Gehirn-Computer-Schnittstellen bei Lähmungen Veränderungen im expliziten Gedächtnis (18) und die der anterioren Insel zu Veränderungen der Valenz von negativen emotionalen Bildern, ohne dass die neutralen oder positiven Emotionen beeinflusst werden (7). Gesunde Versuchspersonen sind in der Lage, die BOLDAktivität in einer bestimmten Hirnregion innerhalb von 1-3 einstündigen Trainingssitzungen zu erhöhen oder zu erniedrigen. Normalerweise erhalten sie positive visuelle Rückmeldung innerhalb einer Sekunde nach der BOLD-Veränderung (die selbst eine Latenz von 2-3 s auf die neuronale Antwort hat). Experimente, welche die Konnektivität zwischen den einzelnen Hirnregionen und die Echtzeit-Kontrolle von neurochemischen Veränderungen in bestimmten Hirnregionen mit Hilfe von Magnetresonanzspektroskopie-Rückmeldung messen, werden zur Zeit durchgeführt. 6. Zusammenfassung Obwohl in der Tierforschung zunehmend über die Möglichkeiten der on-line-Kontrolle von funktionalen Handbewegungen mit Hilfe von Erregungsmustern, die mit Mikroelektroden im Motorkortex abgeleitet wurden, berichtet wird, ist die Anwendung von BCIs bei Patienten mit neurologischen Störungen selten und mit methodischen Schwierigkeiten behaftet. BCIs, die mit EEGMaßen arbeiten, erlauben die verbale Kommunikation bei gelähmten Patienten mit ALS; die BCI-Kommunikation bei völlig eingeschlossenen Patienten (locked-in) muss jedoch noch in Experimenten bestätigt werden. Die Wiederherstellung der Bewegungsfähigkeit bei chronischem Schlaganfall ohne Restbewegung mit nichtinvasiven BCIs ist möglich, doch sind weitere Experimente erforderlich, um diese auf den Alltag der Patienten zu übertragen. Danksagung Unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), National Institutes of Health (NIH, NINDS), Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), EU Marie-Curie IT-LAN, BMBF Verbundprojekt Bernstein Fokus Neurotechnologie. Literatur Veröffentlichungen, die von besonderem Interesse sind, wurden wie folgt hervorgehoben * von besonderem Interesse ** von größtem Interesse **1Velliste, M., Perel, S., Spalding, M.C. et al. (2008). Cortical control of a prosthetic arm for self-feeding. Nature, 453, 10981101.Monkeys were trained to feed themselves with an artificial arm using spike patterns from motor cortex. 2 Riehle, A., Vaadia, E. (2005). Motor Cortex in Voluntary Movements. A Distributed System for Distributed Functions. 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Angela Straub Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie Universität Tübingen, Deutschland Prof. Dr., M.D. Leonardo G. Cohen Human Cortical Physiology Section and Stroke Neurorehabilitation Clinic National Institute of Neurological Disorders and Stroke NIH, Bethesda, USA Psychologie in Österreich 5 | 2009 395