Second Life` – mediale Selbstkonstitution an den
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Second Life` – mediale Selbstkonstitution an den
‚Second Life’ – mediale Selbstkonstitution an den Schnittstellen von Realität und Virtualität (Bettina Schlüter) „Avatarial Operations“ In seinen Überlegungen zu einer Metaphorologie des Computers diagnostiziert Georg Christoph Tholen eine basale Strukturverwandtschaft, eine „mimetische Nähe“1 zwischen digitalen und metaphorischen Operationen: Beide konstituieren sich als „Technik“ des „Transports“, deren Funktionsweise Fragen nach einer „‚ontologischen’ Identität des Computers“2 ebenso obsolet erscheinen lässt wie die nach dem ‚eigentlichen’ Sinn einer sprachlichen Ausssage. Da das digitale Medium daher „nur in seiner vielgestaltigen Metaphorizität ek-sistiert“3 und die Spielräume, die aus den Übersetzungsprozessen zwischen Prozessor, Quellcode, Betriebssystem und Anwenderprogrammen resultieren, die Determination des Computers im Blick auf einen bestimmten, fest definierbaren Verwendungszweck unterlaufen, können sich Verfahrensweisen etablieren, die spielerisch in das Gefüge der internen medialen Repräsentationen eingreifen. Einen prominenten Fall eines solchen Eingriffs (oder ‚Hacks’) bildet Spacewar!4, ein Computerprogramm, das in den Jahren 1961 und 1962 am MIT entwickelt wurde. Die hier realisierte Rekonfiguration des internen Gefüges vereinigt zwei entscheidende Momente: die einer visuellen Repräsentation der Rechenoperationen in der Trennung von Daten und Display, und die Option des Interrupts, die dem Nutzer die Möglichkeit eröffnet, laufende Rechenoperationen durch neue Eingaben zu modifizieren.5 Aus dem Zusammenspiel beider Momente, dem jederzeit möglichen Eingriff in die Datenverarbeitungsprozesse und dem unmittelbaren visuellen Feedback dieser Eingaben, resultiert eine neue Variante der ‚Mensch-Maschine-Kommunikation’: die Interaktion in Echtzeit. Mit Spacewar! werden diese neuen Hardwarefunktionen nicht nur erstmals realisiert, sondern zugleich publikumswirksam inszeniert. Die Form, die die Programmierer der technologischen Präsentation verleihen, ist die eines Spiels. Spacewar! verfügt über eine rudimentäre Rahmenhandlung, an der sich die visuelle Gestaltung des Bildschirminhalts (Weltall) wie auch die Ikonographie des visuellen Feedbacks (Raumschiff) orientiert. Die Dateneingabe erfolgt nicht mehr mittels einer Programmiersprache, sondern per Stick, dessen Richtungsachsen in die Displaykoordinaten übersetzt werden; das visuelle Feedback der Handbewegungen erlaubt damit eine in- 1 Georg Christoph Tholen, Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a.M. 2002, S. 44. Ebd., S. 52. 3 Ebd., S. 54. 4 S. hierzu: http://www.wheels.org/spacewar/creative/SpacewarOrigin.html 5 S. hierzu: Claus Pias, Computer Spiel Welten, München 2002, S. 76-86. 2 tuitive ‚Steuerung’ des ‚Raumschiffs’ und fügt sich damit kohärent in die metaphorische Rekonfiguration der mit Spacewar! demonstrierten Hardwareprozesse ein. Spacewar! (MIT 1962) In der Folgezeit wird der mit diesem Computerprogramm realisierte Inszenierungstypus nicht allein als metaphorische Figuration eines technologisch avancierten ‚Realtime-Processing’ wahrgenommen, sondern setzt unabhängig von seinem eigentlichen Demonstrationszweck eine Vielzahl eigener Effekte frei. Auf diese Weise kann Spacewar! rückwirkend als Initialpunkt der Entwicklung eines neuen Genres − des Computerspiels − gedeutet werden, dessen Strukturen sich der Elaboration der hier realisierten Prinzipien verdanken. In der Rückapplikation späterer Standards sieht Bob Rehak in Spacewar! bereits die wesentlichen Elemente dieses Genres – oder präziser: der in ihnen realisierten „avatarial operations“ – vereinigt: 1. 2. 3. 4. 5. Player identification with an onscreen avatar. Player control of avatar through a physical interface. Player-avatar’s engagement with narrative-strategic constraints organizing the onscreen diegesis in terms of its (simulated) physical laws and semiotic content – the “meaning” of the game’s sounds and imagery – that constitute rules or conditions of possibility governing play. Imposition of extradiegetic constraints further shaping play (for example, timer, music, scorekeeping and other elements perceptible to the player but presumably not by the entity represented by the avatar; an instance of this relatively austere Spacewar! would be the software function that ended a game when one player “died”). Frequent breakdown and reestablishment of avatarial identification through destruction of avatar, starting or ending of individual games as tournaments, and ultimately the act of leaving or returning to the physical apparatus of the computer.6 Dass die visuelle Repräsentation von Rechenoperationen im Kontext von Echtzeitinteraktionen hier bereits mit dem Begriff des Avatars kurzgeschlossen wird, verweist auf einen in den 60er 6 Bob Rehak, Playing at Being, in: The Video Game Theory Reader, hg. V. Mark J. P. Wolf u. Bernard Perron, New York 2003, S. 110. Jahren einsetzenden vielstufigen Prozess, dessen Tendenz einer zunehmenden Anthropomorphisierung aus den damit repräsentierten Rechenoperationen selbst kaum zufrieden stellend ableitbar ist. Er verdankt sich – so scheint es – dem metaphorischen Potential und der vielfältigen Adaptierbarkeit der Kybernetik, die ab den späten vierziger Jahren auf verschiedenen Ebenen wirksam wird: Die mit diesem Theorieansatz verbundenen Modelle liegen ebenso Datenverarbeitungsprozessen wie (etymologisch gewendet) denen ihrer Inszenierungsformen (im Sinne der ‚Steuerung’ eines Raum-‚Schiffs’) zugrunde; sie lenken die Aufmerksamkeit auf die wechselseitigen internen Repräsentationen innerhalb der Rückkopplung zwischen Mensch und Maschine und bieten ein ausreichend hohes Maß an Abstraktion, um unterschiedliche Wissensbereiche in einen einheitlichen Rahmen zu integrieren und einer direkten Vergleichbarkeit zu unterziehen. Auf diese Weise bietet die Kybernetik gleichsam einen Umschlagplatz, an dem soziale, psychologische, physiologische, biologische, physikalische und technologische Strukturen jederzeit aufeinander übertragbar scheinen. Die metaphorischen Prozesse, die an dieser Schnittstelle vielfacher Strukturanalogien einen idealen Einsatzpunkt finden7, legen dann auch eine spezifische Gestaltung des visuellen Feedbacks nahe, bei der die Eingaben computerintern nicht allein als Rechenoperationen verarbeitet, sondern als Handlungsakt im Rahmen einer rechnergesteuerten Umgebung figuriert und durch einen menschenähnlichen Avatar repräsentiert werden; die Technologie des ‚Realtime-Processing’ gibt – übersetzt in ein Kommunikationsmodell – der Interaktion zwischen Mensch und Maschine die Zweitform einer Interaktion des Menschen in der Maschine. Ausgehend von dieser Verschiebung, die bereits auf die Entwicklung virtueller Umgebungen hindeutet, wird nicht nur der Prozess einer visuellen Perfektionierung eingeleitet, der von der Darstellung einfacher vektorbasierter geometrischer Figuren oder der Kombination weniger Pixel zu heute nahezu photorealistischen Darstellungen führt8, sondern es wird eine Akkumulation hybrider Konstruktionen in Gang gesetzt, die spezifische – vielleicht nicht grundsätzlich neue, in ihrer Zuschärfung aber sicherlich mit eigenen Qualitäten ausgestattete – Formen von Automedialität erzeugt. Hybride Konstruktionen I Das frühe Beispiel von Spacewar! demonstriert bereits eindrücklich ein zentrales Charakteristikum vieler späterer Computer- und Videogames: Die visuell repräsentierten und vom Computer 7 Ein eindrückliches Beispiel hierfür bietet Lew P. Teplows Grundriß der Kybernetik, gerade weil hier – vergleichbar den Intentionen der Programmierer von Spacewar! – ein hohes Maß an Anschaulichkeit erzielt werden soll. Lew. P. Teplow, Grundriss der Kybernetik. Ein populärwissenschaftlicher Überblick, Berlin 1967. S. beispielshalber S. 103ff. 8 Vgl. hierzu als kurzen Abriss verschiedener Stationen innerhalb dieser Entwicklung: Bob Rehak, Playing at Being, S. 108-118. gesteuerten Rechenoperationen sind an die sensomotorischen Fähigkeiten des Spielers angepasst; oder anders formuliert: In die Programmierung sind in abstrahierter Form die Informationsverarbeitungskapazitäten des Menschen implementiert. Die hier realisierte Allianz zwischen Wahrnehmungsphysiologie, Motorik und digitaler Datenverarbeitung, die im Modus des Spiels die zeitkritischen Limits beider Seiten – die der Hardware wie die des Menschen – immer wieder neu herausfordert, werden – darauf verweist Claus Pias – durch ausgedehnte Versuche, durch die Vermessung und Parametrisierungen des menschlichen Köpers, die Auslotung seiner Reaktionsvermögen und die Festlegung von Normwerten im Rahmen arbeitswissenschaftlicher Untersuchungen der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts auf vielfältige Weise bereits vorbereitet.9 Die sich in Spacewar! auf diese Weise bereits andeutenden hybriden Konstruktionen verdichten sich in dem Moment, in dem die Metapher des ‚Interface’ (gleichsam wieder wörtlich gewendet) die Inszenierung von Interaktion respektive die Kommunikation zwischen Avataren oder Avatar und NPCs10 im Rahmen einer virtuellen Umgebung (als Möglichkeitshorizont der Interaktion) initiiert. Unter Aussparung zahlreicher Entwicklungsstufen dieses vier Jahrzehnte währenden Prozesses sollen im folgenden exemplarische, an den aktuellen technologischen Standards und Verfahren orientierte Beobachtungen verdeutlichen, in welche hohem Maße Avatare und eine digital erzeugte Umwelt bereits in sich (also nicht erst im Moment der Steuerung durch einen Spieler) hybride Konstruktionen darstellen. Alone in the Dark 5 (Atari 2007) Der hier abgebildete Screenshot zeigt beispielhaft ein solches nahezu photorealistisch anmutendes, aber in Echtzeit berechnetes (und daher im Blick auf Mimik und in Abhängigkeit von Um9 Claus Pias, Computer Spiel Welten, S. 13-56. Der ursprünglich aus den Pen&Paper Rollenspielen stammende Begriff ‚NPC’ (‚non-player Character’) bezeichnet alle Figuren, die nicht durch einen Spieler/eine Spielerin, sondern durch den Computer gesteuert werden. 10 gebungsparametern auch unmittelbar modifizierbares) ‚Gesicht’ eines Avatars, dessen Steuerung der Spieler bzw. die Spielerin übernimmt und dessen Geschichte – teilweise in deutlicher Anlehnung an filmische Erzählstandards – in einer linear angelegten Abfolge von interaktiven Sequenzen und geskripteten Ereignissen entfaltet wird. Solche Darstellungsstandards verdanken sich jedoch nicht primär graphischen Gestaltungsverfahren, sondern basieren auf mehrfach gestuften Transformationsprozessen11: Die 3-D-Modellierung des Avatars orientiert sich an der Vorlage eines (gegebenenfalls zuvor gecasteten) ‚Graphic Novel Models’ oder an den Gesichtszügen prominenter Persönlichkeiten (z.B. von Schauspielern oder Sportlern)12; Mimik und Bewegung dagegen basieren einesteils auf softwaregesteuerten Animationsroutinen, andernteils auf MotionCapturing-Aufnahmen, bei dem Körper- und Gesichtsbewegungen als Datensatz erfasst und dem zuvor erstellten Polygonmodell zugewiesen werden. Die auf diese Weise erzeugten Animationen werden in einzelne, kleinere Einheiten zerlegt, die sich in ihrer Kombinatorik zu flüssigen Bewegungen verbinden und damit die Illusion eines homogenen, kontinuierlichen Ablaufs aufrechterhalten – zugleich aber die Möglichkeit eines zeitkritischen Eingriffs gewähren und damit die konkrete Realisation der Bewegungsabläufe an den Spieler delegieren. NBA Live 07 (Electronic Arts 2006) 11 Die auf den nächsten Seiten referierten Verfahren werden detaillierter dargelegt in: Erik Fischer, Bettina Schlüter, Die akustische Dimension virtueller Welten: Beobachtungen zur Hybridität des Soundtracks von Computergames, in: AudioKult und Hypersound? Ästhetik und Kultur der Audiomedien, hg. v. G. Chr. Tholen [= Baseler Beiträge zur Medienwissenschaft, Bd. 1], Basel 2006 (i.Dr.). 12 Die Charaktermodellierung des Protagonisten der Splinter-Cell-Serie (Ubisoft 2002-2005) basiert nach Aussagen der Entwickler auf der Vorlage gleich mehrerer bekannter Hollywood-Schauspieler, deren Gesichtszüge ineinander geblendet wurden. John Woo’s Bewegungschoreographie, per Motion Capture aufgenommen und dem Polygonmodell – „starring Chow Yun-Fat“– zugewiesen. Stranglehold (Midway Games 2006). Als zentrale Konstituente der spielerischen Interaktion wird das Bewegungsrepertoire des Avatars nicht selten stark ausdifferenziert, durchchoreographiert und um akrobatische Elemente erweitert, deren Vorlage dann entsprechende Spezialisten, die ‚Motion Capture Stuntpeople’, liefern. Motion Capture Stunts, implementiert in die virtuelle Realität. Stranglehold (Midway Games 2006). Die hier exemplarisch vorgestellten Verfahren zeigen, dass die digitale Repräsentation des Körpers auf heterogenen Quellen verschiedenen, teils anthropomorphen, teils algorithmisch gene- rierten Ursprungs basiert. Die damit einhergehenden Kondensierungs- und Transformationsprozesse in der Verknüpfung analoger und digitaler Daten prägen die Gameproduktion mittlerweile in weiten Teilen. Das Leveldesign orientiert sich nicht selten an der Architektur und den Grundrissen bekannter Gebäude, die virtuelle Umgebung mag sich der digitalen Nachmodellierung ganzer Stadtteile oder Landstriche verdanken13 und Oberflächentexturen entstammen in der Regel photographiertem ‚Source Material’ unterschiedlicher Provenienz. Virtuelle Architektur: Der (begehbare) Reaktor 4 (S.T.A.L.K.E.R - Dark Shadows of Tschernobyl, THQ 2007) Das Bellagio Hotel in Las Vegas (Rainbow Six Las Vegas, Ubisoft 2007) 13 So werden laut Aussage der Entwickler für das Spiel S.T.A.L.K.E.R (THQ 2007) ca. 30 Quadratkilometer aus der Sperrzone um den Reaktor 4 in Tschernobyl weitgehend vorbildgetreu nachmodelliert. London (The Getaway, Sony Entertainment 2007). Virtuelle Umgebung: Der Central Park in New York als Schauplatz von Alone in the Dark (Atari 2007). Auf die Ausleuchtung der modellierten Welt, die dynamische Veränderung der Lichtquellen und ihre Anpassung an die Wahrnehmungsperspektive der Spielfigur14 wie auch die Implementierung physikalischer Gesetzmäßigkeiten, die das kinetische Verhalten einzelner Objekte detailliert nachzuvollziehen erlauben, haben sich mittlerweile zahlreiche Zusatzprogramme (wie z.B. die Havok Physik Engine) spezialisiert. 14 Neuere Entwicklungen wie das von Valve auf der Grundlage der Grafikengine von Half Life 2 programmierte Technologie-Demo The Lost Coast berücksichtigen beispielsweise nicht nur die Überstrahlung von Konturen durch helle Lichtquellen (High Dynamic Range Rendering), sondern auch die Adaption des Auges an Helligkeitsschwankungen. Berechnung der Lichtquellen mit High-Dynamic-Range-Rendering-Effekten. Alone in the Dark (Atari 2007). Die Implementierung von (Körper-)Bewegungen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten erzeugt eine Struktur, die, unsichtbar hinter der Grafikoberfläche in die virtuelle Umgebung eingelagert, gleichsam nur im Modus der Potentialität präsent ist. Sie hält Möglichkeiten der Interaktion bereit – fordert sie im Rahmen des Spielablaufs zuweilen auch dezidiert ein –, delegiert Zeitpunkt und Form jedoch weitgehend an Spieler und Spielerin. Dieser Modus der Potentialität bestimmt auch andere Aspekte der hybriden Konstruktion: Der Avatar wird gleichsam mit ‚Sinneswahrnehmungen’ ausgestattet und seine ‚physiologischen’ Fähigkeiten bilden im Zusammenspiel mit physikalischen Berechnungen oftmals eine konstitutives Moment des Gameplays. Die Verfahren, die einer solchen virtuellen Rekonstruktion des Seh- und Hörsinns zugrunde liegen, sind mittlerweile höchst aufwendig. Die Gestaltung der auditiven Dimension beispielshalber basiert (in Produktionen mit größerem finanziellen Budget) auf einer akustischen Nachmodellierung der Levelarchitektur und seiner Umgebungsparameter15: Die jeweilige Raumakustik wird unter den Gesichtspunkten von Raumgröße, Materialeigenschaften, Textur und Form berechnet und als Datensatz – als sogenanntes ‚Potentially Audible Set’ – verfügbar gehalten. Wenn der Avatar sich durch die virtuelle Umgebung bewegt, werden diese ‚Sets’ per Koordinatenabfrage ihm als ‚Listenerobject’ zugewiesen − die Raumakustik wird gleichsam in sein virtuelles Ohr projiziert. Position und Richtungsorientierung des Avatars werden nun in Relation zu den Schallquellen durch virtuelle Schwenks modelliert, die Abstrahlwinkel berechnet, die Geschwindigkeitsrelationen beider Instanzen zueinander bestimmt und über Modifikationen des Frequenzgangs (bis hin zur Berechnung des Dopplereffekts) simuliert; die Anteile von direktem und indirektem Schall, Verzögerungen, Ausschwingvorgang, Hall und Echo werden dann in Echtzeit den jeweils im Rahmen des Spiels aktivierten akustischen Ereignissen zugewiesen16, bevor diese an die Lautsprecherkanäle ausgegeben werden und damit in den Raum des Spielers transplantiert werden.17 15 S. zu den technischen Verfahren im Detail: James Boer, Game Audio Programming, Hingham 2003. Die von der Firma Creative als Quasi-Standard durchgesetzte Programmierschnittstelle EAX („Environmental Audio Extension“) organisiert die statistische Berechnung des jeweiligen akustischen Verhaltens. Diese Standards werden ständig weiterentwickelt und um immer neue Optionen der akustischen Simulation angereichert. 17 Die Interferenzen zwischen dem virtuellen Hörraum und dem Raum, in dem sich der Spieler aufhält, ergäben im Anschluss an filmtheoretische Studien sicherlich reizvolle weitere Anknüpfungspunkte. Hier sei jedoch lediglich darauf hingewiesen, dass neuere Entwicklungen auf eine Verschränkung der beiden Raumdimensionen zielen, die 16 Menschliche Wahrnehmungsstrukturen sind somit auf mehrfache Weise in die virtuelle Welt eingelagert: Als psychoakustische Merkmale bilden sie die entscheidende Instanz, an der sich die Programmierung der virtuellen Umgebung orientieren muss – sowohl in der Gestaltung eines Hörraums, der an natürliche Hörerfahrungen anschließbar sein soll, als auch im Blick auf die Grenzen der Berechnungsverfahren, die ökonomischerweise dort gezogen werden, wo die Grenzen der menschlichen Informationsverarbeitung liegen. Und als Maßstab für die virtuelle Rekonstruktion des Hörsinns, der fundamental auf dem Zusammenspiel vom Ohr des Spielers, der vor dem Computer sitzt, und dem ‚Ohr’ des ‚Listenerobjects’ beruht, legen sie die Basis für erweiterte Interaktionsmöglichkeiten, die in dem Moment zum Tragen kommen, in dem auch die anderen Figuren des Spiels, die NPCs, über ein entsprechendes Abbild dieser auditiven (und in Bezug auf den Sehsinn auch visuellen) Strukturen verfügen, d.h. Klänge (respektive Bilder) gemäß menschlicher Perzeption ‚wahrnehmen’ und sich in der Verbindung mit entsprechenden KIRoutinen entsprechend ‚verhalten’18. Hybride Konstruktionen II Die hybride Grundstruktur der Computergames, die physiologische Verschaltung zwischen Spieler und Avatar19 und die Formen der Simulation, die in die Programmierung der virtuellen Welt Eingang finden, werden auf der einen Seite als verdichtete Form von Selbstbezüglichkeit wahrgenommen – ein Aspekt, der in den Game Studies unter dem Stichwort der ‚Immersion’ diskutiert wird. Auf der anderen Seite sind die „avatarial operations“ der bislang in den Blick genommenen Phänomenbereiche an Konstruktionsprinzipien gebunden, die deutlich erkennbar die Möglichkeiten der Interaktionen steuern und das heißt zuallererst einmal: limitieren. Wenn nach Manfred Schneider autobiographische Texte keine „Kopien von Subjektivitäten und Innerlichkeiten“ darstellen, sondern „Kopien von Vorschriften, die Innerlichkeiten produzierten, um durch diese spirituellen Medien die Politik des Geistes zu sichern“20, und eine entsprechende Konditionierung garantiert, dass diese Vorschriften ihrerseits verinnerlicht und damit der Beoauch in umgekehrter Richtung funktioniert: Die Implementierung der Stimmen von Spielerinnen und Spielern in die virtuelle Welt per Head-Set kann seit kurzer Zeit ebenfalls den Prozess der Echtzeitmodifikation durchlaufen; mit Überschreiten der Grenze werden die Stimmen aus ihrer ursprünglichen Raumakustik gelöst, in den neuen virtuellen topographischen Zusammenhang eingebettet und nach dessen akustischen Parametern modelliert. 18 In die KI-Programmierung fließen – als weiteres Beispiel der hybriden Grundstruktur – auch psychologische Modelle ein. So berücksichtigt die KI verschiedener in Kriegsszenarien angesiedelter Shooter das (unter Umständen auch völlig überraschende und irrationale) Verhalten von Menschen in Extremsituationen, basierend auf Beobachtungen und statistischen Auswertungen von Militärpsychologen. 19 Eine Reihe von Eingabegeräten reichern die in Spacewar! sich bereits andeutende Tendenz einer unmittelbaren Korrelationen von Bewegungsverhalten durch zahlreiche weitere Feed-Back-Mechanismen an. So werden z.B. der Tastsinn miteinbezogen (Force-Feed-Back) oder die Bewegungskorrelationen zwischen realer und virtueller Welt erweitert und intensiviert (s. z.B. die Konzepte des Eye-Toy-Systems oder des Wii-Controlers). 20 Manfred Schneider, Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert, München 1986, S. 13. bachtung entzogen bleiben, so unterscheiden sich Computer- und Videogames auf den ersten Blick deutlich von diesem Wechselspiel zwischen Latenz und Transparenz: Die programmierten Regelsysteme treten im Spiel als Spielprinzip, als Begrenzung der Interaktionsspielräume deutlich hervor. Die Auslenkung einer unmittelbaren Selbstbezüglichkeit zwischen Spieler und Avatar durch diese dritte präfigurierende (eben das Moment des Spiels definierende) Schicht, wird in den letzten Jahren jedoch vermehrt auch als Herausforderung verstanden, sich von der Genese der Computerspiele als sinnfälliger Demonstration von Rechenoperationen mit Echtzeitinteraktion stärker abzulösen und in einer weitreichenden Verselbständigung der metaphorischen Ebene die umfassenden Parametrisierungen auf der Ebene der Form nicht allzu deutlich in Erscheinung treten zu lassen. Die oben abgebildeten Screenshots deuten die Richtung dieser Vorgehensweise nahezu überdeutlich an: Die hybriden Konstruktionen werden durch umfassende Repertoires kultureller Muster geprägt, die als strukturbildende Kraft die konkrete Auswahl und Kombinatorik der Elemente steuern – von der Gestik und Körpersprache über vielfältige visuelle und auditive Darstellungstechniken bis hin zu übergreifenden narrativen Verfahren. Wird die Programmierung interaktiver Optionen mit den Regeln umfassender kultureller Codierungen zur Deckung gebracht, d.h. antizipiert die Programmierung die (zugleich in den gewählten Darstellungsverfahren gezielt aktivierten) Aktionsspielräume, kann dies auf der Ebene des Spiels als Effekt einer ‚Handlungsfreiheit’ zur Geltung gelangen: Die in den Köpfen der Spieler und Spielerinnen eingelagerte kulturelle ‚Programmierung’ invisibilisiert die Programmiertheit der virtuellen Strukturen. Der (von einigen Spieldesignern wie Peter Molyneux angestrebte, zur Zeit jedoch nur in sehr eng begrenzten Kontexten realisierte) Idealfall einer solchen Konzeption wäre die dynamische Erzeugung von Interaktion als emergentem Produkt einer virtuellen Rekonstruktion physiologisch simulierter Sinneswahrnehmung, deren Informationen sowohl dem Spieler wie den NPCs zur Verfügung gestellt werden, und einem daran anschließenden Zusammenspiel zwischen KI-Routinen und Spielerverhalten, deren Interaktionen durch die Aktivierung kultureller Codes und prädefinierter, konventionalisierter Handlungsmuster gleichsam unbemerkt organisiert werden. Die Allianzen, die die Computerspiele mit anderen Medien – und hier in den letzten Jahren insbesondere mit dem Film – eingehen, wirken dann immer auch katalysatorisch im Sinne eines Prägnanzgewinns der Formbildung, die einer Transformation von Handlungsmustern in Programmcode entgegenkommt. Ab dem Punkt, ab dem vielfältige kulturelle Muster weite Teile der Interaktion organisieren, liegt es auch nahe, den Avatar mit einer eigenen Identität auszustatten, die für all diese Einzeloperationen in ein kohärentes Bezugssystem bildet. Ob dies – wie im Genre der Rollenspiele – auf der Grundlage eines ausdifferenzierten Regelsystems funktioniert (und damit dem Verhältnis zwischen Spieler und Avatar eher die Struktur einer Autor-Werk-Relation verleiht) oder ob hier andere Medien wie der Film entsprechende Vorbilder liefern (und gegebenenfalls Effekte einer unmittelbaren Selbstbezüglichkeit fördern) – in beiden Fällen fließen nicht selten populäre Formen der Identitätskonstitution als narrative Versatzstücke in das Gamesdesign mit ein. Die Konstruktion einer virtuellen Identität, die in Korrelation zum Spieler gleichzeitig autobiographische Formen annehmen kann, nutzt in operativer Hinsicht – bezogen auf die Präfiguration von Interaktionsmöglichkeiten – Medien als Informationsquelle, mit deren Hilfe der Spieler Wissen über sein virtuelles Alter Ego erlangt, weist auf der Ebene der Narration diese mediale Zäsurierung jedoch als Teil einer kohärent mit der virtuellen Welt verbundenen kulturellen Praxis aus. In Morrowind21 beispielshalber entfaltet sich dieser Zusammenhang als enzyklopädisches, in Bibliotheken gesammeltes (im Spiel ca. 3000 Textseiten umfassendes) Wissen über historische und politische Ereignisse, soziale Strukturen, kulturelle Traditionen, regionalgeschichtliche Diversifizierungen etc., in deren Rahmen dann apokryphe Schriften die Identität des Avatars sukzessiv profilieren; im Rahmen der an das Genre von Horrorthrillern angelehnten Handlung von Silent Hill 222 aktivieren mediale Bildspeicher als Repräsentationen des Unterbewusstseins verdrängte Erinnerungen – und organisieren auf diese Weise zugleich eine zeitliche Konvergenz des Wissens zwischen Spieler und Avatar.23 Solche hoch standardisierten Figuren medial geleiteter Identitätsbildung wirken als kulturelle Codes, die nicht selten auch auf der Ebene des Spiels als ‚Kultur’ im Sinne einer selbst- und praxisreflexiven Handhabung kommunikativer Strukturen und medialer Techniken inszeniert wird; Regelbildung (beispielshalber der Verhaltenskodex innerhalb eines sozialen Milieus) erscheint dann als kohärentes Element einer in sich konsistenten Umwelt und kaschiert in dieser Form die Logik der Spielmechanik. Oder pointiert formuliert: Die mediale Zäsur, die die Identität des Avatars konstituiert, generiert auf der Ebene Spiels einen stärkeren Transparenzeffekt zwischen Avatar und Spieler. Die über den Avatar geleitete Selbstbezüglichkeit des Spielers orientiert sich dann nicht an einem programmierten Regelsatz, sondern an einer personalen Identität (als Ergebnis metaphorischer Auslenkungen). Die Anreicherung der virtuellen Welt durch mediale und kulturelle Praktiken, die dann (wie in Morrowind und Silent Hill) gegebenenfalls auch Formen medial geleiteter Subjektkonstitution einschließt, kann das Zusammenspiel zwischen Spieler und Avatar jedoch auch in eine gänzlich andere Richtung lenken. Eine durch Medien und Mediengebrauch vermittelte Prägnanz der Strukturbildung (als konstitutiver Teil der Antizipation von interaktiv programmierbaren Handlungsspielräumen) eröffnet die Option, Spielaktionen als Kombinatorik verschiedener Topoi 21 Bethesda Softworks, The Elder Scrolls III: Morrowind, Ubi Soft 2002. Konami, Silent Hill 2, Konami 2001. 23 Präferiert werden, wie diese beiden Beispiele bereits andeuten, oftmals narrative Strukturen, in denen die Identität des Avatars innerhalb des Spiels prozessual entfaltet wird und der Informationshorizont des Spielers damit mühelos auf den ‚seines’ Avatars abgestimmt werden kann. Nahezu idealtypisch für dieses Prinzip: Black Isle Studios, Planescape: Torment, Interplay 2000. 22 gleichsam kreativ zu entwerfen. Indem sie an die vielfältigen medial profilierten Rollenoptionen anknüpft, erzeugt diese Interaktionsweise eine Textstruktur, die ähnlich wie ein Tarantino-Film funktioniert (oder sich diesen − wie weiter unten ausgeführt − gleich selbst als mediales Vorbild nimmt). Die Spiele der GTA-Serie24 beispielshalber sind aufgrund der vielfältigen Aktionsmöglichkeiten innerhalb der ausgedehnten virtuellen Topographie mit mehreren Städten und Umland sowie der vielfältigen Integration alltagskultureller Phänomene ein beliebtes Experimentierfeld solch einer Rekombination. In GTA: Vice City orientiert sich das Design der Alltagskultur explizit (halb als Hommage, halb als Parodie) an der Fernsehserie Miami Vice und stimmt – von der Mode bis zu der von den Radiostationen der Stadt gesendeten Musik – die architektonische, visuelle und auditive Gestaltung der virtuellen Welt ganz auf die 80er Jahre ab. GTA: San Andreas findet seinen Bezugspunkt in den medial vielfältig präfigurierten Milieus afroamerikanischer Jugendgangs, deren Alltagsrealität (in direkter Anlehnung an Präsentationsstrategien von Musikvideos) als Subkultur (HipHop, Streetdance, Kleidung als Code, Slang etc.) inszeniert und mit anderen Milieus konfrontiert wird. Auch wenn der Avatar in den Cutscenes25 immer gemäß dieser in den Spielen inszenierten Muster handelt26, ist der Spieler jedoch freigestellt, mit diesen Topoi zu spielen und dies auch auf der Ebene des Spiels als Strukturüberlagerung zu inszenieren. Beispielshalber kann die in den GTA-Spielen eröffnete Möglichkeit, während der zahlreichen Autofahren aus einer großen Anzahl von Radiosendern frei zu wählen (oder auch eine eigene Musikauswahl auf die Festplatte zu überspielen und als einen weiteren Sender in das Spiel einzubinden), dazu genutzt werden, die kulturelle Verweiskraft der Musiktitel gezielt als narratives Stilmittel, als Zitat oder Allusion einzusetzen. Dieses auch in den Soundtracks seit den 90er Jahren häufiger realisierte und insbesondere durch die Tarantino-Filme popularisierte Konzept kann dann – auf das Spiel adaptiert – zur Gestaltung einer ganzen Mission nach der Logik einer Filmszene inspirieren: Da Spiel und Film die medialen Gewohnheiten ihrer jeweiligen Protagonisten identisch inszenieren, können korrespondierende Szenetypen durch die Musikauswahl miteinander verbunden und die extradiegetischen Potentiale dieser (als Topos zitierten) Source Music zugleich genutzt werden, um die Spielszene auch stilistisch an die Erzähltechniken des Vorbilds anzupassen. Eine solche Hybridität, in dem virtuelle Welt und Realität rekursiv in vielfältigen 24 Rockstar North, Gran Theft Auto: 1-3, GTA: Vice City, GTA: San Andreas, Take 2 Interactive/Rockstar Games 1997-2005. 25 Cutscenes sind meist kurze filmische Einlagen, die der Handlung wichtige neue Impulse verleihen oder Begebenheiten innerhalb des Spielablaufs dramaturgisch akzentuieren. 26 In den beiden Max-Payne-Spielen (Remedy Entertainment, Max Payne, Take2 2001; Remedy Entertainment, Max Payne 2. The Fall of Max Payne. A Film Noir Love Story, Rockstar Games 2003) nimmt der vom Spieler als Avatar gesteuerte, per Voice Ocer die Interaktion kommentierende Protagonist seine Umgebung selbst als Postfiguration einer durch Medien und deren narrative Standards geprägten Realität wahr. Diese (virtuelle) Medienrealität teilt er wiederum unmittelbar mit dem Spieler: Die Filme von John Woo gehören ebenso zum gemeinsamen kulturellen Repertoire wie Erzähltechniken des Film Noir, Humphrey Bogart oder die vielfältigen Formen, in denen ComicStrips und –Figuren der 50er Jahre heute als wertvolles Sammlergut gehandelt werden. Schleifen aufeinander rückverweisen und zugleich eine freie Kombinatorik kultureller Codes herausfordern, wird durch das Spiel selbst zwar nicht einfordert, aber strukturell ermöglicht – und, wie ein Blick auf einschlägige Foren zeigt, auch vielfältig praktiziert. 4. Hybride Konstruktionen III Der mit Spacewar! beschrittene Weg, Computereingaben und Echtzeitverarbeitung als Interaktionen innerhalb einer digital erzeugten Umgebung darzustellen, konvergiert in den 70er Jahren mit Entwicklungen einer vernetzten Kommunikation über das ARPANET27. Auch in diesem Verwendungszusammenhang, in dem der Computer primär als Kommunikationsmedium definiert wird, werden alsbald Tendenzen erkennbar, sprachliche Interaktion in eine (zunächst rein textbasierte) imaginierte Welt (die Multi User Dungeons) einzulagern. Seit Mitte der 90er Jahre, d.h. ab dem Zeitpunkt, ab dem es technologisch möglich wird, die Datenraten audiovisueller Inhalte in Echtzeit über das Internet zu übertragen, kommt es zu einer stärkeren Verschmelzung beider Entwicklungslinien in Form von Interaktionen zwischen den Spielern (respektive ihren Avataren) in einer virtuellen Umgebung.28 Zwar lassen sich auch heute noch prominente Vertreter wie World of Warcraft (mit zur Zeit weltweit etwa 7 Millionen Spielern) oder Second Life (mit aktuell 628.000 ‚Einwohnern’) von ihrer Herkunft her einer der beiden Entwicklungslinien zuordnen, beiden Varianten ist jedoch gemeinsam, dass aus der Interaktion zwischen den Spielern mannigfaltige Formen der Selbstorganisation entstehen und Massive Multiplayer Online Games (MMOGs) längst den Charakter umfassender sozialer Simulationen angenommen haben. Die Dynamik, die aus solchen emergenten Prozessen resultiert, hat innerhalb weniger Jahre neue hybride Konstruktionen hervorgebracht, die durch die etablierten, in den einschlägigen Studien der 80er und 90er Jahre vermittelten Beobachtungskategorien nur noch unzureichend zu fassen sind. Diese früheren Untersuchungen29, die sich primär auf das Wechselspiel zwischen Spieler und Avatar und die damit verbundenen Identitätsbildungsprozesse, sozialen Verhaltensweisen und psychischen Implikationen fokussiert haben, gingen implizit immer davon aus, dass die Differenz zwischen realer und virtueller Welt als primäre strukturbildende Kraft Bestand hat. Auf dieser Grundlage konnten dann Abweichungen als psychische Defekte diagnostiziert, Übergänge als Chancen und Problemstellen beobachtet oder auch gemeinsame Strukturebenen herausgearbeitet werden, die die virtuelle Welt als Figuration postmoderner Ästhetik und Identitätsbildung 27 Zur Entwicklung des Internets s.: Jannet Abbate, Inventing the Internet, MIT Press 1999. Auf Seite der Computergames spielt Quake I (id Software 1996) eine entscheidende Rolle, da neben dem Singleplayermodus auch erstmals eine Multiplayervariante über das Internet gespielt werden kann. Die Gründung von Clans und die Entwicklung des eSport nimmt von hier aus seinen Ausgangspunkt; und die Möglichkeit, die Matches aufzuzeichnen, initiiert zugleich neue kulturelle Formen wie das Genre der Machinima-Filme. 29 Exemplarisch sei hier auf die einflussreiche Studie von Sherry Turkle (Life on the Screen. Identity in the Age of Internet, Simon and Schuster: New York 1995) verwiesen. 28 erscheinen lassen. Diese Grundunterscheidung wird jedoch seit wenigen Jahren für eine rasch wachsende Anzahl von Menschen obsolet, da zentrale Bereiche der Lebensführung nun dauerhaft an die Verschränkung beider Seiten gebunden sind. Dieser Zustand weitreichender Überlagerungen erzeugt neue Formen der Einheitsbildung, die quer zu der Grenze zwischen Realität und Virtualität verlaufen und diese in absehbarer Weise zunehmend unkenntlich machen. Treibende Kraft dieser Entwicklung ist die mit hoher Intensität vorangetriebene Verflechtung realer und virtueller Ökonomien. Mit der Popularisierung der MMOPGs werden die in die Spiele eingelagerten rudimentären Wirtschaftsstrukturen (Ressourcenabbau und Weiterverarbeitung von Rohstoffen, Tauschsysteme, Implementierung eines Marktsystems mit einheitlicher Währung, das sich über Angebot- und Nachfrage reguliert und seine eigenen Inflations- und Deflationszyklen erzeugt) genutzt, um erwirtschaftete virtuelle Ressourcen, Gegenstände, Immobilien oder auch hochentwickelte Charaktere auf entsprechenden Plattformen wie eBay zu ver- oder ersteigern. Der Umsatz, den diese neue Form der Wertschöpfung verzeichnet, beläuft sich nach neuesten Schätzungen bereits auf mehrere Milliarden US-Dollar. Im Kontext dieser ökonomischen Verflechtung spezialisieren sich bestimmte Berufe (wie z.B. der des Architekten) zunehmend auch auf die Entwicklung und den Ausbau einer digital erzeugten Umwelt, andere Aktivitäten (wie die des Journalisten oder Immobilienmaklers) vollziehen sich weitgehend innerhalb der virtuellen Welt, und wieder andere Tätigkeiten (wie die des Modedesigners) verfügen über wechselnde Präsenzen (Produktion am Computer, Werbung und Vertrieb innerhalb der virtuellen Stadt).30 Während diese neuen Erwerbsformen in den westlichen Ländern vor allem von Freiberuflern ausgeführt oder als Zusatzeinkommen in einer Mischform von Freizeitaktivität und Arbeitsleistung genutzt wird, arbeiten in ostasiatischen Ländern hunderttausende von Menschen (nach aktuellen Schätzungen allein in China bereits über eine halbe Millionen) in sogenannten ‚Quotensweatshops’31. Hierbei teilen sich in der Regel jeweils zwei ‚Spieler’ in 12 StundenSchichten einen Account, von dem aus sie eine vorgegebene Menge an Geld pro Tag erwirtschaften müssen. Die gesammelten Items werden vor Schichtwechsel verkauft und das Geld gegen eine Provision an den Besitzer des Shops weitergeleitet. MMOGs wie World of Warcraft, an denen bevorzugt europäische und us-amerikanische Spieler partizipieren, ermöglichen den Export dieser Arbeitsleitung und Ressourcen in die westliche Welt. Diese an das 19. und frühe 20. Jahrhundert gemahnenden Arbeitsstrukturen prägen auch die Aktionen des Avatars: Die Sammeltätigkeit basiert auf der unentwegten Repetition weniger Handlungen (das sogenannte ‚far30 S. hierzu beispielshalber http://secondlife.com Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf den Bericht Secrets of Massively Multiplayer Farming von ‚Paul’, einem World of Warcraft-Spieler, der den Kontakt mit den „professional farmers“ gezielt gesucht und seine Beobachtungen anschließend unter http://www.gameguidesonline.com/guides/articles/ggoarticleoctober05_01.asp niedergelegt hat. 31 ming’) und vollzieht sich meist an einem festgelegten Ort innerhalb der virtuellen Welt. Diese räumliche Begrenzung, die in starkem Kontrast zur ausgebauten, ganz auf eine sukzessive Erschließung der unterschiedlichen Regionen und Städte angelegten Infrastruktur des Spiels steht, konvergiert unmittelbar mit den Arbeits- und Lebensbedingungen in den ‚Sweatshops’, die oftmals Arbeits- und Schlafplatz in einem darstellen. Da die Avatare zudem auf den europäischen und us-amerikanischen Servern gleichsam einen ‚Gastarbeiterstatus’ besitzen und Sprachbarrieren soziale Kontakte über die Nationalitäten hinweg erschweren, bilden sich innerhalb der virtuellen Welt regelrechte ‚Ghetto’-Strukturen, die das vom Spiel als soziales Organisationsprinzip eingerichtete ‚Gilde’-System überformen. Dieses ausführlicher dargelegte Beispiel lässt erkennen, dass sich die ‚Lebens’- und ‚Arbeits’Bedingungen in der realen und in der virtuellen Welt nahezu mimetisch aneinander angleichen. An den Bruchlinien, an denen sich in die Fantasy- oder Science-Fiction-Szenarien industriellkapitalistische Arbeitsstrukturen einlagern, wiederholen sich die sozialen Differenzen (metaphorisch) als „avatarial operations“ unterschiedlicher Ausprägung auf der Ebene der Virtualität. Dies setzt zugleich neue Interpretationsroutinen in Gang, die sich auf diese Differenzen fokussieren und vom Verhalten des Avatars auf die soziale Herkunft des Spielers zurückschließen. Nicht zuletzt scheint auch die Korrelation zwischen Spieler und Avatar von dieser Differenz unmittelbar betroffen. Im Modus einer unmittelbaren Verschaltung zwischen ‚Spieler’ und Avatar durch die Regeln der Arbeitswelt und im Kontext eines ökonomisch ausgerichteten Interesses, das die virtuelle Welt permanent auf die programmierten Strukturen hin befragt, fungiert der Avatar schwerlich als Muster einer personalen Identität, die reflexiv auf Prozesse der Subjektbildung rückbezogen werden könnte. Ein Arrangement dagegen, das (wie oben ausgeführt) Regelbildung auf der Ebene der Programmierung invisibilisiert, indem es kulturelle Muster der Identitätsbildung und der sozialen Interaktion aktiviert, akzentuiert jene Zäsur, die eine Elaboration reflexiver Formen der Selbstbezüglichkeit begünstigt. Dies dokumentiert sich auf unterschiedliche Weise − als autobiographische Erzählung oder Tagebuch in den einschlägigen Spieleforen, als schriftliche Chronik innerhalb der virtuellen Welt oder als Präsentation des Avatars auf eigens dafür eingerichteten Websites − und vermittelt zugleich ein Bild von den vielfältigen Formen, die das Verhältnis zwischen Spieler und Avatar annehmen kann. Diese inflationär sich artikulierenden Formen von Automedialität, die sich an die Prozesse hybrider Identitätsbildung anlagern, reichern das vielfältige Wechselspiel zwischen realer und virtueller Strukturbildung um weitere Schleifen an, die unmittelbar wieder in die hybriden Konstruktionen eingelesen werden. Es scheint, als ob die mit Spacewar! initiierte Verschiebung, die Computereingaben in die Aktionen eines Avatars übersetzt, systematisch diese Rekursivität produziert − oder anders formu- liert: Hybride Formen als Ergebnis „metaphorischer Unbeständigkeit“32, die durch das Prinzip des Computers als Technik der Übertragung erzeugt werden, bringen immer weitere rekursive Prozesse hervor, die a priori Vorstellungen von fixierbaren, ‚authentischen’ Relationen zwischen Ereignissen und ihren medialen Repräsentationen entgegenlaufen. 32 Georg Christoph Tholen, Die Zäsur der Medien, S. 53f.