Jugendschutz im Internet - Schwule fühlen sich - claudio
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Jugendschutz im Internet - Schwule fühlen sich - claudio
Tagesanzeiger vom 27.12.2004 Seite 15 Zürich Von Ralf Kaminski Jugendschutz im Internet - Schwule fühlen sich diskriminiert Die Zürcher Strafbehörden wollen weniger Pornografie auf dem Netz. Als Erstes geriet eine schwule Kontaktseite ins Visier - reiner Zufall, heisst es. Doch die Schwulen sind misstrauisch. Zürich. - Schon die Polizeiaktion im Frühling 2003 hatte in der Schwulenszene für Unruhe gesorgt - in den einschlägigen Medien ist seither vom «Gaynet-Skandal» die Rede. Ein erstes Gerichtsurteil vom August 2004 schien jenen Schwulen Recht zu geben, die der Ansicht waren, die Polizei habe überreagiert: Der Einzelrichter am Bezirksgericht Zürich sprach einen heute 41-jährigen Betriebsökonomen vom Vorwurf frei, Jugendlichen unter 16 Jahren Pornografie zugänglich gemacht zu haben. Doch die Bezirksanwaltschaft zog das Urteil weiter ans Obergericht - und dieses war Mitte Dezember anderer Ansicht als die Vorinstanz und sprach den schwulen Mann schuldig im Sinne der Anklage. Was genau hatte der 41-Jährige getan? Er hat auf der Kontaktplattform Gaynet im Internet ein Profil von sich hergestellt, um andere Schwule kennen zu lernen, durchaus mit sexuellen Hintergedanken. Für dieses Profil hat er einige Bilder von sich aufs Netz geladen, darunter auch eines, in dem bildfüllend ein erigierter Penis aus dem Hosenschlitz ragte. Eben dieses Bild wurde ihm zum Verhängnis - und er war nicht der einzige Gaynet-Benützer, dem im Sommer 2003 auf Grund ähnlicher Fotos ein Strafbefehl ins Haus flatterte. Rund 500 Verfahren habe es gegeben, schätzt Bezirksanwalt Hans Bebié, 300 betrafen andere Kantone, 200 den Kanton Zürich. Dort seien seither rund 40 eingestellt worden. Alle User traf derselbe Vorwurf: Sie hätten «zumindest billigend in Kauf genommen», dass Jugendliche unter 16 Jahren diese pornografischen Bilder hätten betrachten können. Verhaftung wie im Krimi Dabei war die Polizei eher zufällig über die Fotos gestolpert - eigentlich suchte sie nach Pädophilen, die auf Gaynet Jugendliche unter 16 kennenlernen wollten. Ausgelöst hatte die Aktion ein Gaynet-Nutzer, der im Sommer 2002 eine Anzeige machte. Die Kinderschutztruppe der Stadtpolizei beobachtete daraufhin die Internetplattform und setzte Ermittler ein, die sich als Minderjährige ausgaben. So konnten 17 Männer verhaftet werden (TA vom 17. 7. 2003). Nebenbei stiessen die Polizisten auch auf die Gaynet-Profile mit Bildern von erigierten Penissen oder ähnlichem. Am 7. April 2003 verhafteten sie die drei Besitzer von Gaynet und nahmen alle Server mit. «Es war wie im Krimi», erinnert sich Tobias Wernli, einer der drei Verhafteten (Name geändert). «Sie standen zu sechst vor der Tür mit einem Haftbefehl, in dem nichts anderes stand als "Pornografie .» Nach Angaben der Stadtpolizei durchforsteten die Ermittler 52 000 Profile mit 37 500 Bildern, führten gegen 400 Befragungen durch und verfassten schliesslich rund 500 Anzeigenrapporte. Auch gegen die Gaynet-Betreiber selbst läuft laut Bezirksanwalt Bebié ein Verfahren. «Wir finden noch heute, dass wir genug getan haben für den Jugendschutz», sagt Wernli. Kam man auf die Seite, musste man bestätigen, dass man über 18 Jahre alt ist - zudem konnte man die Details der Userprofile, insbesondere die Fotos, nur einsehen, wenn man sich zusätzlich registrierte, wozu man wiederum 18 sein musste. Inzwischen hat Gaynet jedoch sein System geändert: 20 Freiwillige begutachten jedes neue Profil, bevor es aufs Netz kommt. Heikle Texte oder Bilder werden aussortiert. «Seither lässt uns die Polizei in Ruhe.» Wie viele der angezeigten Schwulen ihre Busse von 1000 bis 1500 Franken stillschweigend bezahlt haben, ist unklar. Ein paar jedoch beschlossen, sich gegen den Vorwurf zu wehren. Die Anwälte Pierre André Rosselet in Zürich und Adrian Ramsauer in Winterthur vertreten knapp 40 Schwule. Rosselet war auch der Verteidiger des 41-jährigen Betriebsökonomen, der vom Zürcher Obergericht vor zehn Tagen zu einer Busse von 500 Franken verurteilt wurde, halb so viel, wie der Bezirksanwalt gefordert hatte. Das Verschulden sei leicht, die pornografische Darstellung sei «vergleichsweise harmlos», und es hätten weder finanzielle Interessen bestanden, noch habe der Angeklagte Kontakt zu Minderjährigen gesucht. Rosselet und sein Klient werden den Fall jedoch weiterziehen ans Bundesgericht - ihnen geht es ums Prinzip. In seinem Plädoyer zweifelte Rosselet nicht nur an, dass es sich bei dem «Stillleben mit Penis» um Pornografie handelte, er führte auch aus, dass Jugendliche im «unvorstellbar komplizierten Labyrinth» Internet kaum zufällig auf dieses Bild stossen würden und dass es eine «masslose Überdehnung der Strafbarkeit» wäre, wenn der Begriff des Zugänglichmachens einfach so aufs Internet angewendet würde. Auch den Eventualvorsatz, den die Richter beim Betriebsökonomen erkennen, zweifelt Rosselet an: Der einzelne Benützer könne davon ausgehen, dass der professionelle Betreiber die nötigen Vorkehrungen getroffen habe. Für die Richter jedoch war einzig entscheidend, dass sich ein Jugendlicher gegenüber Gaynet problemlos für älter als 18 hätte ausgeben und so Zugang zu dem Penis-Bild hätte bekommen können. «Das Gesetz will auch jene Jugendlichen schützen, die solche Bilder gezielt suchen, vor sich selbst sozusagen», betonten die Richter. Niggli: «Ein konservatives Urteil» Rosselet spricht von einem «Kreuzzug zur Reinigung des Internets». Das Urteil sei eine «Absage an die Liberalität». Auch Moël Volken von der Schwulenorganisation Pink Cross findet das Urteil des Obergerichts seltsam und hofft auf eine Klärung durch das Bundesgericht und «auf Richtlinien, was bei Kontakt-Sites insgesamt an Vorsichtsmassnahmen nötig ist». Es sind aber nicht nur Schwule und ihre Anwälte, die das Urteil kritisieren, auch der Strafrechtsprofessor Marcel Niggli von der Universität Freiburg bezeichnet es als «konservativ, restriktiv und repressiv». Wenn ein Kind Sicherheitsmassnahmen überwinden müsse, sich etwa älter machen müsse, als es ist, dann stelle sich schon die Frage, wer die Verantwortung trage - die Eltern, der Internetbetreiber oder der -benützer. «In erster Linie wohl die Eltern», findet er. «Dann der Betreiber, aber es ist in der Regel einfacher, gegen die Benützer vorzugehen.» Ebenso stelle sich die Frage, ob so ein Penis-Bild tatsächlich als Pornografie gelten könne, welche die sexuelle Entwicklung eines zum Beispiel 15-Jährigen gefährde. «Das sind alles Wertungsfragen mit Interpretationsspielraum.» Würde man die Auffassung der Richter konsequent weiterdenken, wäre das Internet als Ganzes ein Problem, schliesslich seien solche Bilder dort weit verbreitet. Er frage sich aber schon, ob das Urteil gleich herausgekommen wäre, wenn es sich um einen Hetero-Fall gehandelt hätte, so Niggli. «Ich werde den Verdacht nicht los, dass es etwas mit Homosexualität zu tun hat.» Das vermutet man auch bei Pink Cross, und dies beginnt schon bei der Polizeiaktion im Frühling 2003. «Wir empfinden sie als verunglückt und zutiefst diskriminierend», sagt Moël Volken. Solche Aktionen jagten den «weniger wehrhaften Mitgliedern einer Minderheit» Angst ein, und man könne ihnen problemlos 1000 Franken Busse abknöpfen. «Wir stehen hinter dem Jugendschutz - wenn da etwas nicht korrekt läuft, muss man das ändern, aber nicht so!» Ausserdem warte man noch immer auf ähnliche Aktionen bei Hetero-Sites. Sind Schwule zu empfindlich? Die Zürcher Polizeivorsteherin Esther Maurer (SP) hält den Vorwurf der Diskriminierung «für nachvollziehbar, aber unbegründet». Sobald es die Kapazität der Kinderschutztruppe zulasse, werde sie auch in heterosexuellen Chat-Räumen ermitteln. Auch Bezirksanwalt Bebié versichert, es gehe nicht um schwul oder hetero. «Es geht darum zu zeigen, dass das Internet kein rechtsfreier Raum ist.» Ziel sei, dass Pornografie auch im Internet quasi nur «unter dem Ladentisch» zu haben sei. In diesem Falle habe es halt Homosexuelle betroffen - «und die sind sehr empfindlich». Der schwule Winterthurer Rechtsanwalt Adrian Ramsauer wartet derweil noch immer auf ein Urteil bei seinem ersten Fall vor dem Einzelrichter am Bezirksgericht. Etwas maliziös spricht er im Zusammenhang mit den Ermittlungen von «eventualvorsätzlicher Diskriminierung»: «Es ist zwar keine direkte Absicht, aber Polizei und Justiz nehmen in Kauf, dass Schwule sich diskriminiert fühlen.» Tendenziell sei «bei gleichgeschlechtlichen Sachverhalten ein engeres Denken weit verbreitet», sagt Ramsauer. «Und viele sind sich dessen gar nicht bewusst.» Tabelle: Handelt es sich bei einem «Stillleben mit Penis» wirklich um Pornografie? Datum: 20041227 329227, TAG , 27.12.04; Words: 1230, NO: OI2004122700736 www.gbi.de © GBI-Genios Deutsche Wirtschaftsdatenbank GmbH