Im Leid mit Gott ringen - Christentum und Kultur
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Im Leid mit Gott ringen - Christentum und Kultur
Im Leid mit Gott ringen Eine literarische und dokumentarische Aufarbeitung des Theodizee-Problems Arbeit zum Wettbewerb „Christentum und Kultur“ der evangelischen und katholischen Kirchen in Baden-Württemberg 2007/2008 Kathrin Schölch Hardtweg 1 74838 Limbach Burghardt-Gymnasium, 74722 Buchen Inhaltsverzeichnis Vorwort A Literarischer Teil I. „Wo ist Gott? Wo ist er?“ Selbstverfasste Gedichte und Kurzgeschichten II. Künstlerische Annäherung Bilder und Zeichnung mit meditativen Gedanken B C 1 20 Dokumentarischer Teil I. Gott rechtfertigen – Die Theodizee - Frage 24 II. Gesichter des Leidens 27 III. Theodizee als Schicksalsort der Gottesfrage - Antwortstrategien und Lösungsansätze - 30 IV. „An einen „lieben Gott“ kann ich nicht mehr glauben“ - Kinder und Jugendliche nehmen die Theodizee-Problematik wahr - 39 V. Die Theodizee im Spiegel der Literatur Wolfgang Borchert „Draußen vor der Tür“ 44 VI. Die Theodizee-Frage im Alten Testament - Das Buch Ijob - 52 I. Dokumentation der methodischen Vorgehensweisen und Arbeitstechniken 61 II. Persönliche Stellungnahme 65 Anhang I. „Ohne meinen Glauben könnte ich dies alles nicht aushalten“ Im Gespräch mit dem Leiter der Hospizgruppe Buchen, Stefan Jany II. „Überall ist Leid“ Fotographien von Bittschriften in der Marienkapelle Kloster Engelberg, Miltenberg III. „Mein Gott, mein Gott warum hast du mich verlassen?“ Darstellungen rund um das Kloster Engelberg IV. Denkanstöße - Zitate Literatur- und Quellenverzeichnis Selbständigkeitserklärung Vorwort „Ich schreie zu dir, und du erwiderst mir nicht“ Ijob 30, 20 Auf der Suche nach Gott in der Finsternis…. A I. „Wo ist Gott? Wo ist er?” -Selbstverfasste Gedichte und KurzgeschichtenAls unsere Träume noch Flügel hatten In der Straßenbahn, in einer Stadt, in der ich die Sprache der Menschen nicht kannte, habe ich nach mehr als 30 Jahren sein Gesicht gesehen. Er nickte mir zu - falls er ein Wort zur Begrüßung sagte, hatte ich es in der Distanz überhört. Selbst als sich die Plätze um uns herum leerten, gingen wir nicht zueinander und ich wusste nicht, ob ich je wieder mit ihm gesprochen hätte, wenn wir nicht beide an derselben Station ausgestiegen wären: „Hauptbahnhof“. Draußen, in der Nacht reichte er mir seine Hand und sie fühlte sich fremd und beinahe kraftlos an. Ich erschrak, wie alt er aussah, unter dem gelblichen Licht der Straßenlaterne, wie faltig sein Gesicht und wie müde sein Blick geworden war und ich fragte mich, ob ich mich ebenso sehr verändert hatte und vielleicht auch unbemerkt alt geworden war. „Geht es dir gut, Amanda?“ - „Ja“, ich antwortete wie zu einem Fremden, „natürlich“, als hätte ich den Mann vor mir noch nie umarmt, als hätte ich ihn noch nie geküsst und ihm nie gesagt, dass ich ihn liebte. Wir schwiegen und er erinnerte sich vermutlich wie ich an jene Stunden, Tage, Monate, die Jahrzehnte zurücklagen, in denen unsere gemeinsame Zukunft greifbar war und wir beide noch glaubten, dass das Leben planbar sei. Damals konnten wir noch nicht ahnen, dass der Boden, der uns bis dahin getragen hatte, brüchig ist, dass Glück bedeutet, lachen zu können und dass Weinen unbemerkt verhallen kann. Damals hatten unsere Träume noch Flügel und wir hatten es noch gewagt, einen Anspruch auf Liebe, auf Freiheit und Glück an das Leben zu stellen. Wir sind bescheiden geworden, beide vermutlich, anspruchsloser, oder eben weniger utopisch. „Wohin gehst du?“ - „Nach Hause“, und sein zu Hause waren die engen, nüchternen Hotelzimmer in den Großstädten der Welt, seit Jahren. Die meinen auch, und ich kenne die Lichter fast jeder Stadt in der Dunkelheit und habe mich an beinahe jedem Ort gleichermaßen einsam und verloren gefühlt, wenn ich nachts durch die Fenster blickte und seit ich am frühen Abend meine Arbeit verlassen und kein Wort mehr gesprochen hatte. Wir gingen in die selbe Richtung, wir wohnten im selben Hotel, der Mann im langen schwarzen Mantel neben mir und ich, die ich meinen Kragen hochgeschlagen hatte aus Angst, meine Stimme könnte in der Winterkälte zittern - wir redeten kein Wort, den langen Weg. Später saßen wir uns gegenüber, er aß noch zu Abend, nachts um viertel nach elf und ich wärmte meine Hände an meiner Teetasse. Vielleicht erschien es uns beiden angenehmer, mit jemanden zusammen zu sitzen, der über Jahrzehnte vom Geliebten zum Fremden gewordenen war, als alleine über den Dächern der Stadt einzuschlafen; vielleicht war es die einzige Alternative zu dem Gefühl, von diesem Abend nichts mehr erwarten zu können. Ich wich seinem Blick aus, wenn er mir in die Augen sehen wollte, und ich sah ihn genau an, sobald er seinen Kopf senkte, um von etwas zu essen, wovon wir beide vermutlich noch nie den Namen gehört hatten. Ja, er war erschreckend alt geworden und plötzlich bekam ich Angst, er könne dasselbe über mich denken, solche Angst, dass ich versuchte, mein Gesicht im Fensterglas zu erkennen - aber ich sah nur das junge Gesicht eines Mädchens, das seine Augen erwartungsvoll auf ihrem Gegenüber richtete, mein Gesicht von damals. „Ich habe gelernt, dass es nicht möglich ist, an Gott zu glauben. Mein Resümee aus mehr als 30 Jahren, dass das Leben jedem Gottesglauben widerspricht“. Seine Stimme klang leise, aber fest und sicher und er blickte erst jetzt zu mir auf. „Was hat dein Leben dir mitgeteilt, Amanda?“ Einige Momente konnte ich seinem Blick standhalten und konnte Enttäuschung und Ernüchterung darin lesen, ähnlich wie früher, als ich erkennen konnte, wenn er sich eine Umarmung wünschte. Seine Frage hatte mich überfordert, genau wie die Erinnerungen, die plötzlich alle in mir erwachten - aber ich musste eingestehen, vielmehr noch überfordert hatte mich seine Aussage. Ich schwieg. Ich hatte Ähnliches erlebt wie er, darüber war ich mir sicher, aber ich wusste in diesem Augenblick nicht, ob seine Antwort auf das Leiden am Leben auch die meinige war. Kathrin Schölch, 18. Juni 2008 Warte, bis nächsten Sommer Ihr Zimmer zu betreten, hieß eine Welt zurückzulassen. Eine Welt, die meine Welt war. Sie atmete gleichmäßig, langsam aber kraftlos und hatte die Augen geschlossen. Wenn sie sie öffnen würde, würde sie das bleiche Weiß der Decke und Wände nur daran erinnern, dass sie nicht mehr zu Hause lag, ihr Zimmer würde ihr nicht einmal verraten, ob es Morgen oder Abend war. Alles war immer gleich, die zur Hälfte herabgelassenen Rollläden ließen den Raum im Halbdunkeln, die angenehme Wärme und die Sonne der letzten Septembertage waren nach draußen verbannt, nur ein gelblichkünstliches und düsteres Licht neben ihrem Bett bewies, dass sich überhaupt jemand hier aufhielt. Meine Welt war laut und fröhlich und hell und warm und vor allem unbeschwert, die Stunden flogen wie Luftballone leicht und bunt gegen den Himmel und mein Tagebuch war mit Goldrand gerahmt. Ich half in meinen letzten Ferientagen hier aus, ein Altenpflegeheim, das mir viel eher ein Krankenhaus zu sein schien und ich hatte damals nicht gewusst, dass mich die vielen alten Menschen, für die es keinen Weg aus diesen engen Zimmern geben würde, das blasse Neonlicht der Flure und schweigende Pfleger mich so betroffen machen konnten. An manchen Abenden öffnete ich für sie das Fenster und wollte der alten Frau ein wenig von dem geben, was für mich so selbstverständlich war und die laue Wärme und das angenehme Licht der langen Sommerabende hereinströmen lassen. Kurze Zeit später drehte sie ihren Kopf in Richtung des Fensters, um dem Gesang der Vögel und den Stimmen, die vom Dorf herauf hallten, zu lauschen. „Es ist noch immer Sommer draußen. Aber es ist nicht mehr mein Sommer. Es gab eine Zeit, da gehörten sie mir, die langen erdrückend heißen Tage und die endlosen Abenden. Es war die Zeit, als eine der Stimmen, die du jetzt lachen und fröhlich durcheinander reden hörst, die meinige war.“ Davon redete sie oft, fast ausschließlich, wenn sie überhaupt redete: Vergangenheit, Erinnerung, das war die Welt, in der sie jetzt lebte, eine andere kannte sie vermutlich nicht mehr. Sie sprach ruhig und langsam und ihre Stimme brach häufig mitten im Satz vor Erschöpfung in sich zusammen. Ich erfuhr Bruchstücke ihrer Biographie: Ihren Mann hatte sie noch im Krieg verloren, fünf Kinder alleine erzogen, Armut, Hilflosigkeit, Entbehrung. Obwohl sie direkt neben mir saß war ihr Schicksal meiner eigenen Erfahrung so fremd, dass ich sie beinahe aus spürbarer Distanz sprechen hörte. Ich hatte damals nicht verstanden, wie jemand überhaupt die Kraft haben konnte, in solchen Zeiten weiterleben und sich jetzt noch immer die Wärme des Sommers in sein Zimmer wünschen konnte. Ich begann in jenen Tagen, die alte Frau, die vor mir krank und hilflos und schwach in einem Bett lag, das nicht einmal das Ihrige war und die nichts mehr vom Leben zu erwarten hatte, zu bewundern. Manchmal hatte ich sie leise beten hören, zumindest glaubte ich, dass sie betete, wenn sie nahezu geräuschlos zu sich selbst sprach. Sie blickte dabei auf das Holzkreuz, das gegenüber ihrem Bett angebracht worden war - vermutlich das einzige Andenken an ihre Wohnung oder ihr Haus, das sie mit in dieses Zimmer nehmen konnte. „Glauben sie denn an Gott?“ Ihre Stimme klang an jenem Abend ein wenig kräftiger, ihr Händedruck war ein wenig fester und ich wagte es daher eine Frage zu stellen und mehr als nur zu zuhören. „Natürlich“, antwortete sie nur und nickte, „natürlich“, und ich ahnte in diesem Augenblick zum ersten Mal, dass ihre Selbstverständlichkeit nicht die Meinige war. „Wieso fragst du, mein Kind?“ Ich wollte andeuten, dass ihr Schicksal allein in meinen Augen bereits Einwand und Widerspruch, oder zumindest Grund zu zweifeln, darstellte. „Nach allem, was Sie erlebt haben…, ich meine, was Sie mir alles erzählt haben…, ich meine, mir würde es wahrscheinlich schwer fallen…“ - „Ja, natürlich, du hast Recht. Traurige Zeiten führen den Menschen zu Gott und Schicksalsschläge zeigen dir den Weg zu ihm. Vielleicht hätte ich nicht einmal zu ihm gefunden, wenn mein Leben anders verlaufen wäre, vielleicht…“, und sie verstummte und schien nachzudenken, wo sie heute stehen würde, wenn sie all das nicht erfahren hätte, was ihr Leben hart und einsam gemacht hatte. „Es ist immer jemand da, zu dem du sprechen kannst, auch wenn dir niemand gegenüber sitzt und zuhört. Ich war damals oft alleine und habe gezweifelt, ob ich am nächsten Morgen überhaupt noch aufstehen konnte und so für die Kinder da sein, wie ich es gerne wollte und mich gefragt, wie lange ich es noch aushalten würde, niemanden zum Reden zu haben. Dass Gott sich niemals abwandte, hat mir geholfen - ich habe zu ihm gesprochen, zu ihm geweint und manchmal auf eine Antwort gewartet, wie Menschen sie dir geben…“ - „Sie haben in dieser Zeit also, … zu Gott gefunden? Sie waren nie unsicher, sie haben nie gezögert?“ - „Mein Kind, ich habe Gott angeklagt, ich habe mich von ihm verlassen gefühlt und die Verantwortung bei ihm gesucht. Manchmal war es unglaublich schwer, Gott als denjenigen anzunehmen, der Leid zulässt und es überwindet, der deine Hilflosigkeit mit ansehen und zugleich den Namen Beschützer für sich beanspruchen kann.“ - „Genau dann einzuwilligen - das hätte ich vermutlich nicht geschafft.“ - „Der Krieg hat meinen Mann als Opfer gefordert, nicht Gott, der Krieg hat unsere Familie zerrissen, nicht Gott, und mir gelehrt, was Einsamkeit bedeutet. Gott abzulehnen, hieße das nicht, die Schuld an den heranzutragen, der unschuldig ist?“ Ich hatte nicht geantwortet und hatte vermutlich auch nichts entgegenzusetzen. Sie schien sich in Gedanken noch einmal zu vergewissern und im Nachhinein noch einmal zu zustimmen. „Natürlich glaube ich an Gott, natürlich.“ Sie flüsterte ihre Einwilligung immer wieder zu sich selbst oder in den leeren Raum, als hätte ich nicht nur einmal, sondern immer wieder gefragt oder als hätte sie nichts mehr zu sagen, als ihren Glauben zu bekennen. Ich habe nie wieder einen Menschen getroffen, der so überzeugt und vorbehaltlos im Glauben Halt finden konnte, wie diese alte kranke Frau, deren Leben die starken Einwände gegen Gott in ihre Hände gelegt hatte. Gerade in diesen Dingen, die meine Argumente gegen den Glauben an Gott gewesen waren, hatte sie den Weg zu Gott gefunden. Ein solches Verständnis war mir bis zu jenem Abend fremd und unbekannt gewesen und ich begann damals, die Kluft zwischen meiner kritischprovokativen Sicht und der Lösung, die die Kranke für sich gefunden hatte, zu begreifen. Seit jenem Abend hatte ich nie mehr mit ihr darüber gesprochen. Sie öffnete meist nicht einmal mehr die Augen, wenn ich das Zimmer betrat. Ihre Haut wurde täglich blasser, ihr Blick dunkler und ihre zitternden Hände kraftloser. Dass es mein letzter Tag war, an dem ich hierher kam, wusste sie und durch das offene Fenster drängte bereits kühle Luft und statt der fröhlichen Stimmen hörte ich die leisen Regentropfen auf dem Fensterbrett. Die eingefallenen Augen der alten Frau schienen sehnsuchtsvoll darauf zu warten, dass etwas von der Lebendigkeit, die sie in den letzten Wochen sehen, fühlen, riechen und hören konnte, durch das Fenster in den Raum hinein geflogen kam. „Warte, bis nächsten Sommer.“ Ich kehrte zurück, im nächsten Sommer, aber ich fand sie nicht mehr dort vor ihrem Fenster. Sie war gestorben, kurz bevor es Frühling wurde. Kathrin Schölch, 29. Juni 2008 Mit dem Rücken zur Wand „Es ist leicht, Gott anzuklagen. Der dir nicht widerspricht. Der sich nicht verteidigt. Oh, es ist so einfach, seinen Vorwurf gegen jemanden auszusprechen, wenn du ihm dabei nicht in die Augen sehen musst, wenn du ihm nicht gegenüberstehst und ihm nicht ins Gesicht schreien kannst. Es ist beinahe Feige. Würdest du noch immer so reden, wenn er neben dir säße und dein Arm den seinen berührte, so unerbittlich, so radikal. Würdest du dann noch immer die Last der Verantwortung für das Leiden der Welt in seinen Schoß legen? Würdest du noch immer das Wort „Schuld“ auf seinen Rücken schreiben?“ Er wusste, seine Worte waren hart, im Grund unzumutbar für einen Menschen, der gerade vor den Trümmern seines Hauses stand in dem er sein Kind verlor, der immer wieder dort, wo die Türe war bevor sie nieder brannte, nach innen stolperte und ein paar Steine zur Seite legte, als ob er sein Kind noch in der Asche finden könnte oder die Mauern wieder aufbauen. Er wusste es und es fiel ihm schwer, so zu sprechen. „Was wirfst du mir vor?“, seine Stimme zitterte und bebte und sein Blick suchte verstört nach Halt, in einer Welt, die gerade um ihn herum zusammen gebrochen war. „Was wirfst du mir vor? Dass ich frage, wo Gott gewesen ist, als das Feuer ausbrach, ob er die Flammen nicht gesehen hat und den Schrei meines Kindes nicht gehört? Ich klage ihn nicht an, als den Verursachenden, als den Urheber des Leides, ich klage ihn an als den Duldenden, den Zulassenden. Und diese Klage ist berechtigt, siehst du, diese Klage ist berechtigt.“ Und er warf ein Stück zerbröckelten Beton gegen eine Glasscheibe, die klirrend zersprang und sank auf die Knie, als täte es ihm weh, an dem völlig niedergebrannten Haus auch nur irgendwas zerstört zu haben. „Richte deinen Vorwurf nicht gegen Gott, richte ihn an den Menschen. Verlangst du, dass Gott einsteht für die Fehler der Menschen? Du hast von Kriegen gesprochen, von Unfällen, von Trauer und du stehst vor den Trümmern deines Hauses, am Grab deines Kindes - sind es nicht die Menschen, die hier versagen? Die Asche unter unseren Füßen und der Rauch den wir hier noch atmen, bezeugen das Scheitern des Menschen deine Anklage verhallt, wenn du sie an Gott richtest.“ - „Sicher, weil Gott schweigt, weil er schweigt, wenn die Menschen um Hilfe rufen und verstummt, wenn sie ihn um dieses Schweigens Willen anklagen. Müsste Gott nicht trotzdem einschreiten? Wenn die Menschen versagen, meine ich, müsste er doch eingreifen, oder zumindest, wenn Unschuldige die Opfer sind.“ Er sprach nicht weiter für einen Moment, er kapitulierte vor dem, was er forderte. „Die Menschen sind schrecklich gutgläubig, oder blind, oder hilflos, wenn sie Gott loben und preisen und irgendwann erwachen und einsehen, dass die schützende Hand Gottes, die sie in den Kirchen besingen, sie nicht schützt. Was verlangst du, das ich tue? Dass ich mich je wieder von den verbrannten Schutthaufen, der meine Existenz ist, aufrichte und Gott dafür danke, dass ich noch am Leben bleiben durfte, um mein Kind noch in den Trümmern des Hauses, das ich erbaute, zu suchen? Lausche nach einem Bekenntnis zu Gott in den Krisengebieten der Welt, in den Krankenzimmern oder irgendwo sonst, wo Menschen leiden - du wirst genau hinhören müssen und gerade hier neben dir werde ich schweigen.“ Beide spürten die Kälte die sie plötzlich mit dem Hereinbrechen der Dunkelheit umgab und ihre Körper zittern ließen. Beide sehnten sich nach der Geborgenheit und der Wärme eines Hauses, genau wie das, das unter ihnen niedergebrannt war und nach der Stimme eines Kindes, die daran erinnert, dass man glücklich sein kann. „Es fällt mir so schwer, noch an Gott zu glauben. Ich stehe mit dem Rücken zur Wand.“ Kathrin Schölch, 03. Juli 2008 Nachmittage auf der Kellertreppe Er schrieb häufig in jenen Wintertagen. Manchmal ein Vers, manchmal ein Gedicht, manchmal wusste er nach Stunden über dem weißen Papier lediglich, worüber er schreiben wollte. Die späten Nachmittage und frühen Abende verbrachte er daher meist auf der Kellertreppe. Über den Stufen lag ein dichter Teppich und hinter der dünnen Wand an der er lehnte, wärmte der Kachelofen aus dem Wohnzimmer nebenan. Einen Bogen Papier und sein Bleistift - mehr benötigte er nicht über Stunden hinweg: Gedichte waren immer vorläufig, deshalb benutzte er keine Tinte. Er erhob sich erst, wenn er seine Frau in der Wohnung mit dem Geschirr klappern hörte, genauer: Wenn er bemerkte, dass sie das Besteck auf die Teller legte. Meistens war dies auch die Zeit, in der der Raum zu dunkel wurde und der schwache Lichtschein, der durch die Spalte der Tür hinter ihm auf sein weißes Blatt fiel, überanstrengten seine müden Augen, obgleich er zum Schreiben seine Brille trug. Danach ging er in die Küche und setzte sich zu seiner Frau, mit der er nun seit über 50 Jahren zu Abend aß. „Ich war in der Stadt und im Kino…“ oder „Vorhin habe ich unseren Vermieter getroffen und…“ oder „Der Weihnachtsschmuck von Familie…“ - so ähnlich begann seine Frau fast täglich belanglose Gespräche, die erst nach ein paar Minuten ein wenig an Bedeutung gewannen, wenn sie einander wieder näher gekommen waren, der Mann, der die Stunden zuvor schweigend auf der Kellertreppe verbrachte und die Frau, die in der Stadt oder bei Freunden oder beim Einkaufen die Gesellschaft gesucht hatte. „Ich mag es, wenn du mir Gedichte vorträgst“, meinte sie manchmal, niemand anders könnte Texte so ruhig und betroffen vorlesen.“ Und er lächelte dann zu ihr hinüber und schien sich damit zu bedanken für die seltenen Augenblicke, in denen sie aussprach, dass sie seine Arbeit schätzte oder es auch wirklich nur dann tat. „Zu emphatisch“, kommentierte sie, wenn er von Liebe schrieb, oder „zu kalt und sachlich“ „Du machst die Menschen nur traurig“, meinte sie seine dunklen Gedichte und „Mitleid ist immer zu wenig“. In diesen Momenten ging er dazu über, das Essen zu loben und die Mühe, die sie dafür aufgewendet hatte oder erkundigte sich tatsächlich nach dem Weihnachtsschmuck von nebenan. Er wusste, dass sie nur desinteressiert zugehört hatte und ihre verbitterten Urteile nur Verlegenheit und mangelnden Literaturverständnis entstammten. Meist waren es eigentlich Belanglosigkeiten, die ihn inspirierten, aufgrund derer er plötzlich den Titel eines Gedichtes vor sich sah, Nebensächlichkeiten, die andere unbemerkt passierten und die in seinem Kopf Gegenstand der Literatur, Ansatzpunkt des Analysierens und Problematisierens wurden. Einmal in diesem Winter war eine solche Nebensächlichkeit eine Todesanzeige in der Wochenzeitung, die der neben ihm im Bus Sitzende vor sich nach oben hielt. Er kannte weder den Verstorbenen, noch die Angehörigen, er las nur den Spruch in der rechten oberen Ecke des schwarz gerahmten Kastens, oder vielmehr eine Frage: Warum Gott einen Menschen wegnehmen, oder es zulassen konnte, sinngemäß. Der alte Mann ahnte das Gewicht dieser Überlegung. Er hastete durch die grauen, überfüllten Straßen, Hut und Mantel waren bald vom Regen, auch auf der wollenen Innenseite, durchnässt und er setzte sich zu Hause auf die teppichweichen Kellerstufen und hielt die Bleistiftmine über das weiße, leere Blatt. Er rang nach Worten, er suchte nach Worten, selbst wenn ihm sonst die Sprache versagt blieb, konnte er ein paar Verse immerhin mit „Wortlos“ oder „Ohne Titel“ überschreiben. An jenem Nachmittag war es anders - „Frage nach Gott“, schrieb er, dann „Frage an Gott“, Variationen von Titeln mit „Vorwurf“, „Anklage“ usw. Auch nach Stunden hatte er noch immer den Eindruck und das beängstigende Gefühl, kapitulieren zu müssen. Zum ersten Mal erschien er beim Klirren des Geschirrs nicht in der Küche und erst, als seine Frau mehrere Male seinen Namen rief, ging er langsam auf den Tisch zu. Er sah ungewohnt alt aus an diesem Abend, merkwürdig erschöpft und trostlos mit seinem leeren Papier in den Händen. Sie schwiegen. „Meine Gedichte geben keine Antwort mehr“, bemerkte er plötzlich, „sie fragen nicht einmal mehr, sie problematisieren nicht, sie stoßen nicht an, sie schweigen.“ Die Frau gegenüber blickte ihm in die Augen, irgendwie hilflos, irgendwie überfordert, vermutlich war ihr klar, dass sie an diesem Abend nicht ihre üblichen nichtssagenden Neuigkeiten preisgeben konnte und sie schwieg und er schätzte dieses Schweigen so sehr, dass er ihr zum ersten Mal überhaupt erzählte, worüber er nachdachte und schreiben wollte. Sie schwieg noch immer, die ganze Zeit während der Mann redete, manchmal mehr zu sich selbst Fragen aufwarf, Gedanken einbrachte, Erkenntnisse formulierte und zurücknahm. Nach dem Essen erhoben sich beide, schweigend - sie hatte den Überlegungen ihres Mannes nichts Eigenes entgegenzusetzen; er war abgewandt und vertieft. Am folgenden Tag schlürfte der alte Mann beim Klappern der Teller in seinen durchgelaufenen Pantoffeln wieder von der Kellertreppe zum Küchentisch. Er hielt ein Papier in der Hand, beschrieben, mit Tinte. Er reichte es seiner Frau. „Wovon wir nichts wissen“, war die Überschrift der Verse, die die müden Augen der alten Frau langsam und andächtig lasen. Das Gedicht war ein einziges Eingeständnis menschlichen Unvermögens. „Mein Gedicht gibt keine Antwort“, bemerkte der Mann. „Das braucht es auch nicht“, sie sah ihn lange und ehrlich an, „das braucht es auch nicht.“ Kathrin Schölch, 17. Juli 2008 Die Stimme der Trauer Du fehlst mir morgens, wenn ich aufwache und lausche, bis ich deine Schritte im Nebenzimmer höre; du fehlst mir die langen, leeren Tage, an denen ich mich zwingen muss, zu arbeiten, zu lesen, zu Mittag zu essen, zuzuhören, zu lachen - ohne dich; du fehlst mir am Abend, wenn ich in die stillen, dunklen Räume zurückkomme, die doch immer so lebendig waren; du fehlst mir in der Nacht, selbst wenn ich von den schönsten und hellsten Stunden des Lebens träume und im Schlaf deinen Namen rufe - du fehlst mir noch immer so sehr, dass ich es mir nicht vorstellen kann, dich nie wieder zu sehen. Ich verbringe Stunden am Tag in deinem Zimmer, das noch immer dir gehört und an den ich es nicht wage, etwas zu verändern oder auch nur hochzuheben, aus Angst, es nicht so ablegen zu können, wie du es zurückgelassen hast. Ich wage nicht, das Fenster zu öffnen, weil ich fürchte, dein Duft könnte verschwinden. Deine Kleider auf deinem Bett; Postkarten und Grüße von Freunden und Verwandten an der Wand; Südafrika - dein Traumziel - die Decke, die Schränke, selbst deine Holztüre, überfüllt mit Postern und Bildern von Orten, an denen du noch nie gewesen bist; dein Buch liegt noch aufgeschlagen auf dem Tisch, gerade so, als ob du heute Abend darin weiterlesen würdest… Du bist so nahe und wirklich, dass ich mich umdrehe, weil ich glaube, du würdest jeden Moment das Zimmer betreten. Deine Kleider sind beinahe zerknittert, wie immer, und ich überlege, wie ich es dir nur beibringen soll, Dinge aufzuräumen, bevor mir einfällt, dass ich dich nicht mehr schimpfen kann, dass ich dich nicht mehr kritisieren kann, nicht mehr anschreien und verletzen und dass ich auch von dir nie mehr angeschrien und verletzt werden würde. Ich werde dich nie mehr umarmen, nie mehr trösten, wir werden nie mehr zusammen weinen und am Ende wissen, dass doch eigentlich alles gut ist, solange wir nur zusammen sind, ja, das solange alles gut sein wird. Lange halte ich es nicht aus, in deinem Zimmer, in dem wir immer zu zweit waren, oder allenfalls du alleine warst, ich jedenfalls nie, in dem ich nie alleine war. Ich glaube dann zu ersticken, sodass ich nicht einmal mehr weinen kann, weil du hier drinnen so lebendig bist, dass ich für Sekunden vergesse, dass du genau dies nie mehr sein wirst. Die Menschen sprechen nicht mehr zu mir, sie reden verwirrt, sinnlos, belanglos an mir vorbei, sie erwähnen nicht einmal deinen Namen. Ich so einsam, so schrecklich einsam - wie konntest du mich nur so alleine lassen? Verzeihung, ich wollte dir nichts vorwerfen, ich verstehe nicht mehr, wie ich dir überhaupt jemals irgendetwas vorwerfen konnte… vielleicht bin ich den anderen auch nur zu schweigsam geworden, ja, vielleicht bin ich zu still geworden, zu schwierig oder zu traurig, und dabei wünsche ich mir doch nur, reden zu können wie früher, bedeutungslos, nebensächlich; lachen zu können, wie früher und den anderen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern - ich habe begriffen, wie herrlich und leicht und farbenfroh mein Leben gewesen ist. Inzwischen weiß ich nicht mehr, dass es ein Wort wie „Zukunft“ gibt. Ich lebe in der Vergangenheit und in diesem Moment und hier verwischen die Grenzen, wenn ich mir sicher bin, dass du mir im nächsten Moment um den Hals fallen wirst und es gleich darauf so schrecklich real ist, dass du nicht mehr lebst. Seit wie vielen Tagen nicht mehr, Wochen? Oder sind es erst ein paar Stunden, seit ich an deinem Grab stand und mich zwingen musste, daran zu denken, dass du es bist über den sie ihre Blumen werfen und den sie mit Erde ersticken, dass du es bist, der du doch eben noch geredet, gelacht und vor allem mich zum Lachen gebracht hast. Ich glaubte damals wirklich, du würdest zu Hause auf mich warten, wie immer, wen ich von einer Beerdigung zurückkam, auf die du mich nie begleitet hattest. „Zu traurig, ich kann es nicht mit ansehen“ - waren deine Worte und sie waren so verdammt ehrlich und offen. Als ich zurückkam, hast du nicht dort gesessen, wie sonst, und ich bin durch die Wohnung gerannt und habe dich gesucht und deinen Namen in die leeren Zimmer gerufen und geweint, wie ich noch nie zuvor geweint hatte. Und an diesem Tag wurde es dunkel und du warst noch immer nicht wieder zurück, als es Abend wurde, Nacht und … -AbrissKathrin Schölch, 15. Juni 2008 Lass uns die Sterne zählen Fast immer war es still, wenn er nachts nach Hause kam und vorsichtig den Schlüssel umdrehte. Auf den kalten Fliesen tastete er sich im Dunkeln zur Küche, wo die knarrende Holztüre kein Licht in das Zimmer ließ, in dem seine Frau seit Stunden schlief. Vier Scheiben Brot, Milch, Käse stellte sie immer für ihn bereit - während der Arbeit blieb ihm nie Zeit, zu Abend zu essen. 20 Minuten saß er jede Nacht alleine in der halbdunklen Küche und obwohl ihm die Augen vor Müdigkeit zufielen und die Kälte an seinen Beinen nach oben schlich, fühlte er sich geborgen und willkommen. „Hier ist mein Platz“, dachte er jeden Abend, „genau hier an diesem Tisch“, von dem er danach aufstehen würde und zusehen, wie sich sein kleiner Sohn unter seiner großen warmen Hand schläfrig zu ihm umdrehte, um dann selbst neben seiner Frau einzuschlafen. An diesem Tag war die Wohnung nicht völlig dunkel, als er leise die Tür öffnete. Schwaches Licht entkam aus dem Zimmer seines Kindes und er schritt geräuschlos dem Lichtkegel entgegen. Mit dem Rücken an die Wand neben dem Fenster gelehnt, war der kleine Junge auf seinen angewinkelten Knien eingeschlafen, die Nachtlampe brannte. Er hatte seine Füße mit seinen kurzen Armen umarmt und sein Gesicht dem Licht zugewandt - der friedliche, aber allzu leicht verletzbare Gesichtsausdruck eines Kleinkindes. „Papa“, flüsterte seine leise Stimme, als er näher kam und die Bettdecke nach oben zog, „ich habe auf dich gewartet, Papa“, und es schien ihm fast peinlich darüber eingeschlafen zu sein. „Lieb von dir“, er redete langsam und ruhig und möglichst ohne seine Erschöpfung allzu deutlich werden zu lassen. „Lieb von dir, aber was wolltest du mir denn so spät noch sagen?“ Der Kleine hob den Kopf und schien für einen Augenblick nachzudenken, was denn der Grund dafür gewesen war, weshalb er seien Vater zum ersten Mal nachts noch antreffen wollte, wenn dieser heimkam. „Der liebe Gott ist nicht mehr lieb, Papa, er hat Tiger überfahren lassen. Dann kann er doch nicht länger lieb sein, Papa, oder, wenn er mit ansehen kann, wie ein kleines Kätzchen überfahren wird - dann kann er doch nicht mehr lieb sein, oder?“ Trotz seiner Müdigkeit spürte der Mann, dass es diesmal nicht einfach sein würde, eine Antwort zu geben, er ahnte es zumindest, freilich ohne zu wissen, wie die Erklärung, die in den nächsten Sekunden von ihm erwartet wurde, aussehen würde. „Weißt du“, setzte er an, „weißt du“, und er zögerte und überlegte und sah in die kleinen, verschlafenen, traurigen Augen, die sachte verrieten, dass hinter ihnen eine zerbrechliche Welt gerade einen Riss erlitten hatte und plötzlich wusste er genau, was er zu antworten hatte. „Natürlich ist der liebe Gott lieb, er ist immer lieb und er ist trotzdem lieb. Er kann nur nicht ständig überall sein und alle im Auge haben. Manchmal - ganz selten allerdings - ist er vielleicht ein klein wenig überfordert und schafft es einfach nicht, jeden Menschen und überhaupt jeden Winkel der Erde gleichzeitig zu beobachten. Er ist ja auch schon alt und da fallen ihm manchmal die Augen zu, so wie dir vorhin die Augen zugefallen sind, obwohl du doch eigentlich auf mich warten wolltest. Das verstehst du doch, oder? Wie schnell das manchmal geht? Und dann passieren solche Dinge, wie, dass eine kleine Katze überfahren wird, in diesen Augenblicken - aber sonst ist Gott immer aufmerksam und schützend.“ - „Und immer lieb?“ - „Ja, deshalb ist Gott trotzdem lieb. Lass uns die Sterne draußen zählen - du wirst merken, dass es viel zu viele sind. Auf alle die muss Gott aufpassen. Solange du die Sterne nicht zählen kannst, wirst du immer wissen, dass Gott lieb ist.“ - Weil er zu viel zu tun hat, Papa, richtig?“ - „Genau, weil er zu viel zu tun hat!“ Das Kind zog die Decke fest zu sich heran und seine kleinen Hände klammerten sich im weichen Stoff fest. „Papa, ich habe es auch gar nicht so richtig geglaubt, dass der liebe Gott nicht lieb sein soll, meine ich, das habe ich auch gar nicht so richtig geglaubt.“ - „Solange du die Sterne nicht zählen kannst“, wiederholte er, „kannst du immer sicher sein, dass Gott lieb ist.“ Die letzten Worte hatte der Junge schon nicht mehr gehört. Er knipste das Licht aus und tastete sich im Dunkeln zur Türe und ließ zum ersten Mal in dieser Nacht sein Abendessen unberührt auf dem Küchentisch stehen. Er war müde - schrecklich müde und drückte sich erschöpft in das Kissen neben dem Bett seiner Frau. Ihr Atem war langsam und ruhig genau wie der seines Sohnes in diesem Moment im Nebenzimmer sein würde. Und damals fühlte er, dass er das Richtige gesagt hatte. Ja, für diesen Augenblick war es das Richtige gewesen. Sein Magen knurrte, aber er schlief sofort ein, obwohl er sonst nie hungrig schlafen konnte. Kathrin Schölch, 23. Juni 2008 Erinnerung in tiefblau Ihre Augen getuscht, ihr Abendkleid über der Bettkante, in die Stadt hinaus zu hasten, in die Nacht. Im nächsten Sommer: Spätzug, Zwischenstationen, ein verlassener Ort an der Küste, wo man das Wort „Horizont“ nicht kennt. Briefpapier, Füller, Grüße zu beantworten, Wiedersehen zu versprechen. Tanz auf dem Klavier - Melodien, die Erinnerung und Zukunft vermischen. Blicke, Gedanken, Worte, die nach der Gewissheit suchten, dass das Leben planbar sein wird. Sie wusste damals, dass sie sterben musste. Ich habe auf ihre Träume „irgendwann, vielleicht“ geantwortet. Kathrin Schölch, 16. Juli 2008 Zwischen Abschied und… Eine stumme Umarmung im nasskalten Novembernebel, Kulisse von Menschen und Stimmen. „10 Tage…“ „Ja!“ Ein Unfall. 10 Tage - ich warte und schreie mein „Ja“ in die Stille, in die Leere, die du hinterlässt, in dein Gesicht, das mir noch immer so nahe und wirklich ist. Ich schreie mein „Ja“ gegen die Einsamkeit, und weine mein „Ja“ an deinem Grab und flüstere es nachts in dein Kissen. Nach 10 Tagen suchte ich dein Lächeln unter den winkenden Menschen und stand genau dort, wo ich dich verabschiedete, alleine. Kathrin Schölch, 17. Juni 2008 Bitten, um Liebe Von meinem Fenster aus habe ich ihn gesehen: Gott, der anklopft an die zerbrechlichen Türen der Armen und um Einlass bittet. In den Krankenzimmern habe ich ihn getroffen: Gott, der sich fragt, wie lange er noch einen Platz am Bett jedes Einzelnen haben wird. Wie Gott mühevoll darum kämpfen muss, dass die Trauernden am offenen Grab ihn nicht in die Erde stoßen oder seine Stimme sich in ihrer Klage verliert habe ich beobachtet. Und dass er den Einsamen seinen Namen zuflüstert damit sie sich wieder an ihn erinnern, an Gott, der vom Verzweifelten fordert, trotz seiner Tränen gesehen zu werden. Heute trat Gott zu mir heran und bat, geliebt zu werden - ich habe das Leiden der Welt gesehen und gewusst, dass Gott, bis ich antworte, geduldig sein muss. Kathrin Schölch, 02. Juni 2008 Zugleich Ich habe zum Himmel geblickt und in die Weite gesehen, in seinem Blau stand Freiheit geschrieben und die Sterne haben zueinander von Hoffnung gesprochen. Ich habe zum Himmel geblickt und mit ihm tausend Tränen geweint, er hat sich in Schweigen gehüllt und ich konnte die ziehenden Wolken nicht festhalten. Ich glaube an einen Gott hinter diesem Himmel und ich schreie in das Grau dass ich seine Stimme nicht höre. Kathrin Schölch, 09. Juli 2008 Was offen bleibt Ich hatte zwei Träume, heute Nacht: Ich träumte Gott wäre gut und ich träumte, das Leben wäre schön. Am Morgen habe ich die Augen geöffnet und gewusst, dass der zweite Traum nicht die Wahrheit ist. Über den ersten Traum bin ich mir nicht sicher - ein Leben ist nicht lange genug, es herauszufinden. Kathrin Schölch, 05. Juli 2008 Dir eine Welt zu widmen Ich wollte dir zeigen, wie man Liebe buchstabiert, dass Vertrauen das Wort „endlich“ nicht kennt und dass du „Verzeihung“ aussprechen kannst. Du musst noch wissen, dass Tränen dir die Luft nehmen können, dass du lernen wirst, wegzusehen und dass deine Einsamkeit für andere unsichtbar ist. Ach ja, ich hätte vielleicht noch erwähnen sollen, dass es die Welt Gottes ist, die ich dir widmen wollte, dass du an ihn glauben kannst und zugleich an ihm zweifeln wirst. Ja, das hätte ich noch erwähnen sollen, dass diese Welt die Welt Gottes ist. Kathrin Schölch, 27. Juni 2008 Die Stimme der Engel Schenkt den Menschen Flügel -sie sollen für einen Moment sehen, dass Gott sie liebt. Kathrin Schölch, 27. Juni 2008 Anmerkung Notiz eines Anonymen: dass wohl in einem meiner Gedichte zwei Worte in einer Zeile stünden, die nicht nebeneinander denkbar wären: Gott und Liebe - merkwürdig ich hatte bisher geglaubt, sie seien austauschbar. Kathrin Schölch, 14. Juli 2008 Verblasst Ich wollte eine Welt malen, eine Wahrheit… In die Anonymität der Menschen, in die leeren Straßen und den trostlos grauen Himmel habe ich auf die noch feuchten Farben das Wort „Gott“ geschrieben. Stunden später, konnte ich die weißen Buchstaben nicht mehr erkennen, auf dem düsteren Grund. Kathrin Schölch, 06. Juli 2008 Annonce Ich biete Schweigen und Stille im Tausch gegen Lärm und Lebendigkeit und tausend Tränen gegen ein Lächeln. Die Fähigkeit, wegzusehen und zu vergessen würde ich gerne besitzen und die Kunst des Verdrängens. Stattdessen vergebe ich willig Mitleid, Betroffenheit kostenlos Lieben statt leiden, hoffen statt warten - die Worte sind gleichlang ein Tausch wäre fair und beiläufig dürfte jeder ein paar Silben meiner Einsamkeit mit fortnehmen. Vielleicht würde ich so meinen Glauben in Gott zurückgewinnen oder zumindest den ununterbrochenen Anstoß zu zweifeln verlieren. Kathrin Schölch, 11. Juni 2008 A II. Künstlerische Annäherung -Bilder und Zeichnung mit meditativen Gedanken- Gedanken zur Zeichnung „Verlassen“ Ein leeres Zimmer kahle Wände - nackter, kalter Boden - kein Zuhause mehrIn der finsteren Ecke zusammengekauert und elend ein alter Mann Gleich dem Zimmer - nackt und kahl Seine müden Augen stellen bohrende Fragen schreien lautlos verzweifelte Klagen Wo bist du, Gott? Fremder Gott, wo hast du dich verborgen? Erkläre dich! Beende dein schmerzhaftes Schweigen! Ich will dir meine Not vor die Füße werfen. Warum lässt du das alles zu? Was soll deine Willkür, dein Unrecht? -Sieh, was aus mir geworden istIch dachte, du wärst anders Doch auch du lässt mich allein Allein? Kathrin Schölch, 13. Juni 2008 B I. „theon dikein“-Gott rechtfertigen – Die Theodizee-Frage Sie lässt Gläubige, Leidende, Theologen stutzen, zweifeln, verbittert um eine Auflösung ringen oder an ihr scheitern: 1697 prägt Gottfried Wilhelm Leibnitz für eine christliche Grundproblematik den 1 Begriff der Theodizee , bezugnehmend auf eine Kernfrage/Fragestellung, die schon viel älter ist, jene nach der Vereinbarkeit von Leid und Übel in der Welt mit dem Glauben an einen liebenden Gott. Demnach liegt der Theodizee-Problematik eine innere Widersprüchlichkeit zweier Aussagen zugrunde: 1. die Erfahrung entsetzlichen Unheils 2. die Annahme der Allgüte und Allmacht Gottes, woraus hervorgeht, dass nicht das Nebeneinanderbestehen von irdischem Leid und der Existenz eines Gottes die besagte Antithetik hervorruft, sondern vielmehr die speziellen Attribute und Wesenszüge, die der christliche Glaube in Gott annimmt. Erst wenn Gott Allgüte und Allmacht als dessen Eigenschaften zugesprochen werden, erst wenn von dem spezifisch christlichen Gottesbild eines liebenden und guten Gottes ausgegangen wird, scheinen beide Aussagen der Unvereinbarkeit ausgesetzt. Dabei wagt es die Theodizee, diesen Bruch einzugestehen, zunächst (im Gegensatz zu verschiedenen Antwortstrategien) keine der beiden Komponenten zu relativieren, abzuschwächen oder gar zu leugnen und ganz ohne die Problematik als bloßen Scheinwiderspruch abzutun. 2 Wie kann der Mensch daher „ja-sagen zur Welt und zu Gott“ ? Die Theodizee fordert dabei heraus, mit und um Gott zu ringen, ihn den leidvollen Strukturen der Welt abzuringen; aus der Theodizee heraus erwachsen Zweifel, gerät der Gottglaube ins Wanken, gerade da aus der Erfahrungswirklichkeit heraus Leid real und „unbedingt“ besteht, d.h. der ersten Aussage nur schwer ein Abbruchgeben oder sie eingeschränkt werden kann. Ist Gott daher gerecht? Ist er allmächtig? Existiert er überhaupt? Die Theodizee-Problematik profiliert 3 sich als „Schicksal der Gottesrede“ , da Leid als existentiell stärksten Einwand den Gottesglauben in Frage stellt oder sich gar als schwerstes Argument für dessen Ablehnung herauskristallisiert: Die Theodizee zwingt nahezu, anzuzweifeln, unsicher zu werden, zu schwanken, fordert den Menschen heraus und irritiert oder erlaubt scheinbar gar eine logisch aufgebaute Argumentation/Untermauerung, Gott (dessen Existenz oder auch wesentliche Grundzüge) zu leugnen, zu negieren, zu verweigern - ein Muster, welches im Folgenden völlig unvoreingenommen betrachtet und auf dessen Stichhaltigkeit hin untersucht werden soll. Zumindest und in jedem Fall aber stimmt sie nachdenklich und trägt selbst an den unbeirrt Glaubenden die Aufgabe heran, seinen Gottesglauben neu zu definieren, zu überdenken oder schließlich zu festigen, will er ihn nicht in Widersprüchlichkeit und Zwiespalt verlieren. Aus diesem Impuls heraus oder allein aufgrund der Herausforderung, die die Theodizee-Frage stellt, wird unerschöpflich versucht, diese „uralte Menschheitsfrage“ zu beantworten, aufzulösen, ihren inneren Bruch aufzuheben, Grund genug, einen Blick auf die lange Tradition differenzierter Antwortstrategien zu werfen. Gerade da diese Streitfrage letztlich zumindest nach kritisch begründeter Auseinandersetzung und fundierter Reflexion verlangt, erscheint eine präzise Definition und Abgrenzung ihres Charakters unerlässlich, wobei allein schon die etymologische Untersuchung des Theodizee-Begriffes Aufschluss über Grundzüge der Problematik liefert, sowie Anstoß- und Anknüpfungspunkt für weitere Präzisierung darstellt. Als Begriff, Ende des 17. Jhd. von Gottfried Wilhelm Leibnitz (1646 - 1716), einem deutschen Philosophen, der selbst zahlreiche theoretische Abhandlungen bezüglich dieser Streitfrage vorlegt und so ihr Wesen entscheidend (mit)prägt, eingeführt, leitet sich „Theodizee“ von den beiden Worten 4 griechischen Ursprungs ab: „theon dikein“, was bedeutet „Gott rechtfertigen“ . In seiner klassisch gewordenen Definition bezeichnet die Theodizee nach Leibnitz’ Verfahren, also die aus der 5 „apologetischen Perspektive“ herausgeführte Rechtfertigung Gottes angesichts des Leidens und der Unvollkommenheit der Welt - eine theoretisch-abstrakt anklingende Vorgehensweise, die derart 1 Griech. Rechtfertigung Gottes hinsichtlich des von ihm in der Welt zugelassenen Übels. „Leid erfahren - Sinn suchen“, M. Böhnke S. 74 Ebd. S. 72 4 „Warum lässt uns Gottes Liebe leiden“, G. Greshake, S. 37 5 Ebd S. 45 2 3 unkommentiert in den Raum geworfen, weiterer Erläuterung und Analyse bedarf. Es gilt also, Gott zu rechtfertigen, d.h. zu verteidigen oder gar zu entlasten von dem an ihn herangetragenen Vorwurf, für irdisches Leiden verantwortlich zu sein, sei es in der aktiven Form als Urheber oder in der passiven des Zulassens und Nicht-Verhinderns. Auch ohne theologisches Hintergrundwissen und ganz ohne auf theologische Argumentationsstrukturen zurückzugreifen zu müssen, wird schnell klar, dass dieses Vorhaben „aneckt“, unbefriedigt lässt, und nicht völlig unproblematisch zu sein scheint: Wem obliegt es überhaupt, Anklage gegen Gott zu erheben? Ist es nicht eine Anmaßung, Gott verständlich machen zu wollen und seine Wege zu begründen? Und schließlich der jahrhunderte alte Vorwurf, der die Theodizee-Frage seit ihrer derartigen Definition zu begleiten scheint: Ist es überhaupt möglich oder vielmehr noch: Sind wir dazu legitimiert, Gott „vor dem Gerichtshof der menschlichen Vernunft“ zu rechtfertigen? Würde dies in letzter Konsequenz bedeuten, Gott in die begrenzten Strukturen der menschlichen Vernunft zu zwängen und seine Transzendenz aufzuheben, zu leugnen? Zwischen Anmaßung und menschlicher Hybris auf der einen und der Überzeugung, es handle sich um ein für den Menschen durchaus berechtigtes Vorhaben, auf der anderen Seite steht das Ziel, welches eine derartige Beschäftigung mit der Theodizee-Frage zumindest im Ansatz doch zu legitimieren scheint: die Vergewisserung über seinen Glauben und über Gott, Auflösung (wirklicher oder nur scheinbarer) Glaubenswidersprüche und die Bewältigung von Leid und Sinnlosigkeit. Auf diese Weise konkretisiert und ausgelegt wird deutlich, dass wir bereits, wenn wir die scheinbar einfache Frage: „Warum lässt der liebe Gott uns leiden?“ stellen, die Theodizee-Problematik anschneiden. Sobald Leid nicht als selbstverständlich hingenommen, sondern - unter christlichen Gesichtspunkten - problematisiert wird, wird und wurde die Theodizee zur Unumgänglichkeit - angefangen von Ijob, der bereits im Alten Testament mit Gott ringt, bis in die jüngste Zeit, in der exemplarisch von Hans Jonas versucht wird, 6 sich angesichts des „Gottesbegriffs nach Ausschwitz“ neu im Glauben zu vergewissern. Gerade weil Menschen die Theodizee-Problematik so leicht berührt und diese so sehr betroffen macht kann sich eine tiefere Einsicht als aufrichtend oder zumindest lehrreich erweisen, weshalb im Folgenden eine möglichst variierte Annäherung geschaffen werden soll. Um schließlich nach diesem Umweg bezüglich der Legitimation des klassisch definierten TheodizeeProblems auf den konkreten historischen Ausgangspunkt zurückzukehren: Den Theodizee-Begriff entscheidend prägend, kommt Leibnitz in seinem Werk „Essais de Theodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal“ zu der Einsicht, dass diese Welt „die beste aller möglichen 7 Welten“ sei und daher das „Böse in der Welt nicht der Allmacht und Güte Gottes widerspreche“ , nachdem bereits seit Platon eine Traditionslinie zur Annäherung an diese Grundproblematik erkennbar ist, wenn beispielsweise bereits Boethius (490 - 524) im 5. Jh. n. Chr. die Frage aufwirft: „Si quidem deus est, unde male? Bona vera unde, si non est?“ (wenn Gott ist, woher das Böse? Woher 8 9 aber das Gute, wenn er nicht ist?” ). Die Überlegungen des vorchristlichen Philosophen Epikur (341 – 270 v. Chr.), später eingegangen in die christliche Theologie des Laktanz, konstituieren sich als nahezu grundlegende programmatische Abfassungen zur Theodizee-Frage, sodass nicht ungerechtfertigt auf folgende Zeilen als die klassische Formulierung der Aporien, in die die Theodizee 10 führt, Bezug genommen wird“ . Ohne dass dieser näher bzw. endgültig definiert und präzisiert wäre, stoßen sich Menschen, stößt sich die menschliche Vernunft seit Alters her am Zwiespalt zwischen einer Welt, welche sie als leidvoll erfahren, und ihrem Gottglauben, welcher mit ihrer unbestreitbaren Erfahrungswirklichkeit absolut nicht vereinbar zu sein scheint. Erst der Königsberger Philosoph Immanuel Kant wagt in Anlehnung und Tradition des etymologischen Begriffsursprungs eine umfassende, präzisierende Definition der Theodizee: „Unter einer Theodizee versteht man die Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen 11 jenen erhebt. Man nennt dieses die Sache Gottes verfechten…“ , wie Kant in seiner Abhandlung „Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“ ausführt. Auch Immanuel Kant ermutigt folglich zu einer Abhandlung der Theodizee-Problematik aus rein apologetischer Perspektive, das heißt mit dem Ziel, Gott zu rechtfertigen und zu verteidigen und dessen „höchste Weisheit“ den leidvollen/ unheilvollen Strukturen dieser Welt abzuringen, dabei in keinem Falle auf der Stufe einer Anklage an Gott verharrend. Kant thematisiere, so M. Böhnke in 6 „Warum lässt uns Gottes Liebe leiden“, G. Greshake, S. 62 „Leid erfahren - Sinn suchen“, M. Böhnke S. 73 8 Ebd. S. 73 9 griech. Philosoph, Begründer des Epikureismus 10 „Leid erfahren - Sinn suchen“, M. Böhnke S. 74 11 „Warum lässt uns Gottes Liebe leiden“, G. Greshake, S. 37 7 12 seinem Beitrag zum Theodizee-Problem, „die Theodizee in einem theologischen Horizont“ , innerhalb dessen Böhnke sich mit dem Ausdruck des Zweckwidrigen auf das Böse und das Übel beziehe. B II. Gesichter des Leidens Sicherlich bietet eine theoretische Abhandlung des Leids zumindest genügend Angriffsfläche, um umstritten zu sein. Natürlich wird an sie die Anschuldigung herangetragen werden, „dem Leidenden etwa so viel 13 zugeben, wie dem Hungernden und Durstenden einer Vorlesung über Lebensmittelchemie“ - und jegliche rein geistige Annäherung muss sich entweder gegen diese Art der Anklage zur Wehr setzen und ihre Sinnhaftigkeit verteidigen oder aber schweigend die moralisch-ethische Problematik dieses Vorhabens eingestehen. Hierzu eine kurze Legitimierung des folgenden Abschnitts, dazu dass er überhaupt abgefasst wurde und nicht einmal am Ende aus dem Gesamten verbannt: Jedes, womöglich schrittweise, Bewusstwerden erfordert Reflexion, setzt eine gedankliche Beschäftigung voraus, um letztlich erst zur vollen Einsicht zu gelangen, um etwas bewusst zu begreifen und dessen unbedingte Realität zu erfassen. Vielleicht kann diese theoretische Bestandsaufnahme der Gesichter des Leidens ein wenig besser in diesem Sinne verstanden werden, als Reflexion, als Nachdenken über die Gesichter des Leids, die in keiner Weise versucht, Leid und Schmerz zu „abstrahieren“, das heißt es abstrakt und unwirklich erscheinen zu lassen, es zu systematisieren oder in Kategorien zu zwängen, die den Eindruck erwecken, Leid sei beherrschbar und an den Maßstäben dessen, was Menschen rational erfassen und katalogisieren, um es „handhaben“ zu können, messbar. Ein derartiges Wagnis, wäre es nicht Schmach und Beleidigung für jeden vom Leid Getroffenen, für den seine Verzweiflung, sein Schmerz so entsetzlich real, so wirklich ist, dass er eine „Theoretisierung des Leidens“ nicht einmal erahnen kann? An dieser Stelle soll zudem auf das Gesamte verwiesen werden, auf die Theodizee-Problematik, mit der auch dieser Abschnitt überschrieben ist: Eine Auseinandersetzung mit der Theodizee-Frage muss zwangsläufig immer geistig und abstrakt erfolgen (übrigens Grund genug für viele, die Sinnhaftigkeit dieses Vorhabens grundsätzlich anzuzweifeln oder gar zu negieren, was daher untersucht werden soll). Deshalb wird auch eine theoretische Betrachtung des Leids gewissermaßen zur Notwendigkeit - auch diese wieder gewagt unter dem Vorzeichen des Sich-Bewusst-Werdens, aber eindeutig mit dem Ziel einer begründend/fundierten und verantworteten Reflexion der Theodizee-Problematik. Zweifellos kann sich geistiges Nachsinnen nicht engagieren, sich nur begrenzt solidarisch erweisen, sodass 14 Kardinal Lehmann gar anklagend von „abstraktem Mitleid“ spricht - aber eine Überlegung kann zum Ausgangspunkt wirklichen Mit-Leidens oder auch aktiven Engagements/Einsatzes werden, zumindest aber zu einem umfassenderen Nachsinnen über die Theodizee beitragen. Auf diese Weise seien die folgenden Zeilen möglicherweise ein wenig gerechtfertigt und legitimiert, in diesem Lichte sei ihnen ihre Sinnhaftigkeit zugesprochen. 12 „Leid erfahren - Sinn suchen“, M. Böhnke S. 74 „Warum lässt uns Gottes Liebe leiden“, G. Greshake, (H. Küng) S. 20 14 Ebd. S. 21 13 Zunächst soll eine scheinbar einfache Frage vorangestellt werden: „Was ist eigentlich Leid? Was bedeutet es zu leiden?“ Krankheiten, Trauer, Einsamkeit, Hunger oder Gewalt - an die Ketten der Beispiele, der unmittelbaren Erfahrungswelt der Menschen entnommen, ließen sich beliebig weitere Glieder anfügen und dennoch niemals alle Facetten des Leidens erfassen. Nicht nur aus diesem Grund bliebe eine Aneinanderreihung der verschiedenen Arten, in denen das Leid im Menschen weint, unbefriedigend, verlangt die Frage nach dem Leid doch ebenso oder vielmehr eine Erfassung des Grundcharakters von Leid, will wissen, was den Menschen überhaupt zu einem leidfähigen Wesen macht und erkundigt sich, nicht zuletzt, nach den so verschiedenen Ausdrucksformen des Leidens. „Ein Übel ist das, 15 was schadet“ , könnte der Kirchenlehrer Augustinus zitiert werden. Käthe Kollwitz, „Kind im Arm des Todes“ Und M. Böhme fügt in seinem Beitrag „Die Theodizee-Frage“ hinzu: „Von Leid kann erst dort sinnvoll 16 gesprochen werden, wo die Natur auf ein empfindsames und leidfähiges Lebewesen trifft“ , was bedeutet, dass an dieser Stelle Leiden nicht als gegeben existierend angenommen wird, sondern der Akzent von der Frage noch dem Charakter des Leidens verschoben wird hin zu den Vorbedingungen, welche die Fähigkeit zu leiden überhaupt erst ermöglichen. Innerhalb dieses Zusammenhangs wird deutlich, dass, sobald, von Leid des Menschen gesprochen wird, dieser als ein schmerzempfindliches und leidfähiges Wesen vorausgesetzt wird, das heißt, dass der Mensch über die biologische Fähigkeit, leiden zu können, überhaupt verfügt. Jegliche biologischen, psychologischen oder soziologischen Bedingungen, die den Menschen erst angreifbar und sensibel machen, seien an dieser Stelle gerechtfertigt zu vernachlässigen, betont sei lediglich die Leidfähigkeit des Menschen in vielerlei Hinsicht. Erst aus dieser heraus kann Leid überhaupt erfahren werden, im weitesten Sinne differenzierbar zwischen − physischen Leid (Schmerz und Mangelempfindungen) und − psychischen Leid (Angst, Trauer, Verzweiflung, Sinnlosigkeit) Nach ganz anderen Kriterien kategorisiert H. Kessler, wenn er jegliches Übel nicht nach dem „Ort“ der Betroffenheit für den Menschen, sondern rein nach ihren Ursachen und Entstehungsfaktoren in fünf 17 Gruppierungen strukturiert : 1. „Malum physicum“, das natürliche Übel, das aus den vorgegeben, nicht vom Menschen herbeigeführten Strukturen der Wirklichkeit, theologisch gesprochen, „von der Schöpfung 18 her“ entgegentritt (Naturkatastrophen, Krankheiten, usw., existierend und nicht menschlich verursacht). Bereits an dieser Stelle sei die Frage vorweggenommen, ob diese Form des Leidens gerade im Rahmen der Theodizee, im Hinblick auf die Rechtsprechung Gottes, erheblich größere Schwierigkeiten bereitet als die folgende Art von Leid. 2. „Malum morale“, das moralische Übel, das heißt das vom Menschen schuldhaft gesetzte, sittlich Schlechte oder Böse (Krieg, Gewalt, Unrecht). 3. Malum metaphysicum“, das metaphysische Übel, sich auf die menschliche Begrenztheit in all ihren Ausdrucksformen beziehend: Endlichkeit, Irrtumsfähigkeit, Fehlbarkeit, Vergänglichkeit oder Sterblichkeit. 15 „Leid erfahren - Sinn suchen“, M. Böhnke S. 70 Ebd. S. 69 17 Ebd. S. 70 18 „Warum lässt uns Gottes Liebe leiden“, G. Greshake, S. 36 16 4. „Strukturelles Übel“, welches durch (gesellschaftliche, rechtliche, politische, wirtschaftliche, ideologische) Strukturen bedingt ist, die von Menschen geschaffen sind, aber die sich ihnen gegenüber verselbstständigt haben. 5. „Theologisches Übel“, - das Abgeschnitten und Getrenntsein von Gott, dem wahren Lebensgrund, eine Kategorie, die aus dem Standpunkt des Glaubens heraus hinzugefügt wurde. Käthe Kollwitz, „Eltern am Grab“ Eine solche wissenschaftliche Klassifizierung kann sichtlich nur von jenen vorgenommen werden, die von keiner Form des Leidens unmittelbar betroffen sind, eine derartige strukturelle Analyse setzt eine gewisse Distanz voraus. Allein aus jenem Standpunkt heraus kann Leid nüchtern und unbeteiligt problematisiert werden - unmittelbares Mitansehen verlangt Solidarität und aktives Engagement; unmittelbares Betroffensein lässt keinerlei Theoretisieren der entsetzlich nahen unheilvollen Lebenswirklichkeit zu. Eine derartig rationale Erfassung des Leids kann schmerzliche Einzelschicksale lediglich in Umrissen erahnen, in keinem Falle jedoch nachempfinden lassen oder verstehbar machen. B III. Theodizee als „Schicksalsort der Gottesfrage“ -Antwortstrategien und LösungsansätzeDie Unvereinbarkeit zwischen menschlicher Leiderfahrung und der Existenz eines guten und allmächtigen Gottes ist aufgehoben; die Widersprüchlichkeit im Nebeneinanderbestehen beider Aussagen aufgelöst, ohne dass einer der beiden Komponenten im Ansatz einen Abbruch getan oder gar geleugnet wurde und ohne den Zwiespalt zu akzeptieren. In letzter Konsequenz kann sich der Gläubige seines Glaubens vergewissern und ihn bestärken, muss er ihn doch nicht länger inneren Widersprüchen aussetzen. Eine solche Annahme und Hoffnung für den, der die Auseinandersetzung mit der Theodizee-Frage wagt, wird sich als Illusion erweisen. Seit Jahrhunderten bleibt die Theodizee als letztlich ungelöste Problematik, als noch immer offene Frage bestehen, lässt Theologen und Gläubige sich noch immer an ihr wund reiben oder völlig scheitern und mutet Christen weiterhin die Unausweichlichkeit einer im Keim unlösbaren grundlegenden Glaubensfragen zu. Allen bisher entwickelten Antwortstrategien - von Immanuel Kant, der die Begrenzung der Vernunft durch die Metaphysik in den Mittelpunkt rückt und daher für die prinzipielle Unlösbarkeit der Theodizee-Frage eintritt, bis zu Hans Küng, der anstatt der Suche nach rationalen Lösungen für unbedingtes Vertrauen in Gott plädiert - blieb eine allgemeingültige Lösung unzugänglich, sie weichen den zu Grunde liegenden Widersprüchen aus, vernachlässigen Notwendiges, verschieben den Akzent der Problematik oder präsentieren Alternativen zu einer Lösung der Theodizee. Mehr oder minder 19 kommt in allen Versuchen das Verfahren der Depotenzierung zum Tragen. Angewandt bedeutet dies, dass entweder das Leid in der Welt relativiert oder abgeschwächt wird, sodass Gott schließlich die Last der Verantwortung genommen werden kann, bzw., dass die Wesenszüge Gottes neu durchdacht und definiert und auf diese Weise entkräftet und eingeschränkt werden, sodass auch in jenem Fall Gott gerechtfertigt werden kann. In letzter, radikalster Konsequenz, wird die Existenz Gottes völlig negiert: Die Theodizee als Ausgangspunkt des Atheismus. Weitere Argumentationstechniken haben sich herauskristallisiert und etabliert, unter anderem auch mehr oder minder begründete “Ausweichstrategien“. Grundsätzlich jedoch kann im Kern zwischen zwei gegensätzlichen Strömungen unterschieden werden: Die der affirmativen und die der negativen Theodizee. Erstere umfasst alle Argumentationsstrukturen, die letztlich auf den Schluss hinauslaufen, Gott könne selbst angesichts des Leidens gerechtfertigt und daher gerecht gesprochen werden, wobei die negative Theodizee, aus welchen begründend-argumentativen Mustern auch immer sich einer Rechtfertigung Gottes verweigern: Gott könne im Licht des real existierenden Übels nicht verteidigt werden. Auf wesentliche Antwortstrukturen soll im Folgenden möglichst unvoreingenommen und objektiv eingegangen werden, wobei die Selektion nicht willkürlich, sondern entsprechend den Hauptströmungen vorgenommen wurde und, angesichts der Pluralität historischer und aktueller Antworten, zudem an der jeweiligen „Glaubwürdigkeit“ bzw. am Abstraktionsgrad festgemacht werden musste. (An dieser Stelle sei somit zugegeben, dass einzelne, allerdings schwach vertretene Theorien bewusst vernachlässigt wurden, da derartige Ansätze nur schwerlich zu verantworteten Auseinandersetzung mit der Theodizee-Frage auffordern und kaum glaubwürdige oder sogar widersprüchliche Lösungen bereitstellen). Jegliche subjektive Bewertung soll dennoch unter Wahrung der Unvoreingenommenheit vermieden werden, was allerdings begründete Kritik bzw. Aufzeigen der Schwachstellen nicht ausschließt. 1. „Die Übel sind so übel nicht“20 - Leid wird relativiert Ein derartiges Vorhaben wird ungewöhnlicher Überzeugungskraft und argumentativer Stärke bedürfen, um Glaubwürdigkeit aufzubauen und aufrecht zu erhalten, weckt es doch den Skeptiker in jedem nach Antwort Suchenden. Menschlichem Leid soll sein negatives Vorzeichen aberkannt oder zumindest zum Teil abgetönt werden? Die unmittelbare Erfahrungswirklichkeit konstituiert sich als härtester Einwand: Leiden und Schmerzen der Menschen sind in ihrer Entsetzlichkeit so unbedingt, so real, dass sie keinerlei Entkräftung und Relativierung zulassen. Gerade aus diesem Grund, um sich nicht in argumentative Widersprüche mit der Erfahrung und Vernunft des Menschen zu verstricken, versucht diese Antwortstrategie auch meist nicht, den Charakter, das heißt den Schweregrad des Leids zu entkräften, sondern seine Negativität vielmehr dadurch abzuschwächen, dass dem Leid ein Sinn unterstellt wird. Durch eine derartige „Instrumentalisierung des Leids“ wird Leid umgedeutet und 19 20 depotenzieren: Lat. des eigenen Wertes, der eigenen Kraft, Potenz berauben „Leid erfahren - Sinn suchen“, M. Böhnke S. 76 neu interpretiert, überschrieben von einem letztlich guten Zweck – unter Umständen gar gewichtiger 21 als das Leid selbst - wird das Übel als „verkannte Bonität “ präsentiert, beispielsweise durch: − „Pädagogisierung des Leidens“ - ein Ansatz nach dem „das Negative als der Reifung und 22 Erziehung des Menschen dienend“ betrachtet wird: ein Plädoyer für die in manchen Fällen sicher zutreffende Tatsache, dass Menschen an Leiderfahrungen wachsen und aus ihnen lernen, dass Schmerzen Menschen vervollkommnen und moralisieren. Konkret umgesetzt schließt diese Pädagogisierung z.B. die nicht selten vorgetragene Aussage, eine überstandene Krankheit habe einer Person erlaubt, ihr Leben völlig neu zu definieren und zu wertschätzen, d.h. sie diene der Läuterung des Menschen, ein. − „Ästhetisierung des Übels“, wonach „die Negativität des Übels als notwendiges 23 Kontrastmittel zur Erkenntnis des Guten“ fungiere. Allein durch die Erfahrung von Leid, durch Negativerfahrung könne der Mensch das Gute überhaupt erfassen und dankbar anerkennen, nur durch Hinzufügen des Dunklen könne das Helle als solches wahrgenommen werden. Der folgende Ansatz, die sogenannte Privationslehre, fällt ebenfalls in den Bereich der Depotenzierung des Übels, wobei allerdings in diesen Fall der Akzent dahingehend verschoben ist, dass Leid nicht mehr instrumentalisiert und ihm ein Sinn unterstellt wird, sondern dass vielmehr eine Aussage über den Charakter des Leids gemacht und diese als das Übel relativierend eingestuft wird: 24 die „Ontologische Depotenzierung des Negativen“, wonach dem Übel kein eigenständiges Sein zukomme, sondern es sich vielmehr nur als Mangel an Guten (privatio/boni) und Verneinung des Guten erweise. Auf diese Weise sei, so die Vertreter dieser Annahme, das Wesen des Leids geschwächt und die Welt könne grundlegend als eine gute und harmonische angenommen werden, da ja das Negative dem Guten nicht länger auf gleicher Höhe gegenüberstehe, sondern vielmehr gar nicht eigen- ständig existiere. In den größeren Rahmen der Theodizee gestellt, wird erkennbar, dass die, wie auch immer erfolgte, Relativierung des Leids darauf abgezielt, Gott zu entlasten, und ihn so zu rechtfertigen und in letzter Konsequenz die Theodizee-Frage aufzulösen. Dennoch ist dieses Verfahren gerade für den Leidenden in keiner Weise aufrichtend oder hilfreich, sondern kann eher nahezu als Kränkung aufgelastet werden, da menschliches Leiden scheinbar entdramatisiert und banalisiert wird. Die Relativierung des Negativen hinterlässt den Eindruck der Theodizee-Problematik auszuweichen, wenn sie doch versucht den Widerspruch dadurch aufzulösen, dass einer Komponente ihre Unbedingtheit abgesprochen wird. 2. In die Freiheit gestellt - Missbrauch der Freiheit und Leiden „Der Preis der Liebe“ - unter diesem ausdrucksstarken Titel veröffentlicht Gisbert Greshake 1978 eine theologische Abhandlung zur Theodizee-Thematik, in der er die These vertritt, dass in der Schöpfung 25 die „Möglichkeit von Leid notwendig als Preis der Liebe Gottes mitgegeben “ sei. 21 Bonität: Ruf einer Person/Firma in Bezug auf ihre Zahlungsfähigkeit, Kreditwürdigkeit „Leid erfahren - Sinn suchen“, M. Böhnke S. 77 „Leid erfahren - Sinn suchen“, M. Böhnke S. 77 24 Ontologie: Wissenschaft vom Seienden 25 „Warum lässt uns Gottes Liebe leiden“, G. Greshake, S. 42 22 23 Dies ist ein weiterer Lösungsversuch der Theodizee, der nicht nur Gott zu verteidigen gedenkt, sondern auch das Leid begründend erklärbar zu machen versucht und Verantwortung an den Menschen heranträgt. Gott habe die Welt „aus Liebe zur Liebe“ erschaffen, weshalb Freiheit die einzige und absolute „Sinnspitze der Schöpfung“ sei - so der Ausgangspunkt einer Argumentationsstruktur, die gerade diese von Gott geschenkte unbedingt gewahrte Freiheit hervorhebt. Da wirkliche Liebe nur ohne Zwang überhaupt existieren könne, verwirkliche Gott den Spielraum menschlicher Freiheit, damit diese Kraft ihrer Entscheidungsunabhängigkeit das Angebot der Liebe Gottes annehmen oder sich in ihr verewigen könne. Um der Liebe zwischen Gott und seinen Geschöpfen willen, sei der Mensch in die Freiheit gestellt, eine Ungebundenheit, die nicht nur ein souveränes Ja zu Gott zulasse sondern auch - als Kehrseite der menschlichen Selbstbestimmung - negative Freiheitsentscheidungen, den Missbrauch der eigenen Freiheit dulde. Christa Purschke, Liebe 1 Derartig verfehlte Freiheitsentscheidungen betreffen das Subjekt selbst, welches auf diese Weise schuldig wird, und prägen den Charakter der Welt, indem sie ihre Grundzüge in leidvolle verwandeln. Leiden Konstituiere sich demnach als Missbrauch der von Gott aus Liebe geschenkten Freiheit, als Konsequenz verfehlter Freiheitsentscheidungen des Menschen. Innerhalb dieser Argumentationsstruktur wird überzeugend ersichtlich, dass das Negative nicht der Intention Gottes unterstellt werden kann, sondern dass dieser die Möglichkeit des Freiheitsmissbrauchs notwendigerweise in die Schöpfung integrieren muss, sobald er den Menschen Freiheit schenkt, die unerzwungene Liebe in ihrer dialogischen Strukturen zu Gott und den Menschen erst zulassen kann. Leiden sei, so Gisbert Greshake „in keiner Weise Gegenstand göttlichen Wollens (…) sondern 26 vielmehr die allein vom Menschen verschuldete Kehrseite seiner unendlichen Güte“ . Durch diese leidverursachenden Verfehlungen wird der Mensch für die Konsequenzen seines Handelns verantwortlich und schuldig - eine Schuld, die dadurch als Möglichkeit gegeben ist, dass der Mensch von Gott zur Freiheit und Eigenwirken befreit ist und „aufgrund seiner Endlichkeit hinter dem Guten 27 zurückbleibt und das Böse willentlich setzt“ . Vertreter dieses Lösungsansatzes zur Theodizee-Problematik resümieren folglich, dass dieses „Leid, welches der Sünde entspringt, (…) in seiner Möglichkeit wesensnotwendig mit der Freiheit des 28 Menschen gegeben [ist] und daher keinen Einwand gegen Gottes Allmacht und Güte“ darstellt. Aus diesem Grund sei Gott angesichts des bestehenden Leidens zu rechtfertigen und gerecht zu sprechen. Allerdings ist auch diese Antwort auf die Theodizee-Frage angreifbar oder zumindest bezüglich ihres Anspruchs auf universale Gesamtgültigkeit einzuschränken, da die Widersprüchlichkeit der Theodizee-Thematik allein für das vom Mensch schuldhaft gesetzte sittlich Schlechte aufgelöst werden kann, im Hinblick auf das strukturelle verschuldete existierende Leid besteht sie jedoch weiterhin. 26 „Warum lässt uns Gottes Liebe leiden“, G. Greshake, S. 45 Ebd. S. 74 28 „Leid erfahren - Sinn suchen“, M. Böhnke S. 48 27 3. Ein gütiger und allmächtiger Gott? - Gottes Wesenszüge werden neu durchdacht „Wann bist du eigentlich lieb, lieber Gott? Warst du lieb, als du meinen kleinen Jungen von einer brüllenden Bombe zerreißen ließt? (…) Wo warst du da eigentlich, als die Bomben brüllten, lieber Gott? W. Borchert Allzu leicht lässt die Erfahrungswirklichkeit des Leidens die Menschen an Gottes Eigenschaften zweifeln, wenn der „liebe Gott“ zu schweigen scheint und scheinbar alleine lässt oder seine Macht wohl doch nicht ausreicht, einzugreifen und zu verbinden. An diesem Punkt setzt ein weiterer Lösungsversuch der Theodizee-Frage an, der die entscheidenden, mit dem Leiden der Welt unvereinbaren Eigenschaften Gottes hinterfragt oder gar relativiert und auf diese Weise Gott rechtfertigt, kann er doch ohne die angenommene Allgüte und Allmacht nicht länger zur Verantwortung gezogen werden. a) Infragestellung der Allmacht Gottes 29 „Ein Gott, der Auschwitz aus Liebe mit ansieht, nur weil er die Freiheit des Menschen respektiert?“ . 30 „Und da sage ich nun; nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte, griff er nicht ein“ . Gerade im Hinblick auf den Freiheitsmissbrauch der Menschen, auf das willentlich gesetzte Böse wird Gott aus der Verantwortung nicht entlassen. Müsste er sich nicht Kraft seiner Allmacht als derjenige erweisen, der leidbringende menschliche Verfehlungen mildert, korrigiert oder gar abwendet? Ein angetragenes Postulat, dem Gott nicht gerecht zu werden scheint, wenn unschuldige Mobbingopfer an psychischer Gewaltanwendung verzweifeln, wehrlose Kriegsflüchtlinge zu Leidtragenden werden, angesichts der Machtfülle des Despotismus oder wenn ein Kind durch verkehrswidriges Verhalten eines anderen stirbt- willentlicher Freiheitsmissbrauch mit entsetzlichen Auswirkungen auf Unbeteiligte, der kaum noch Anknüpfungspunkte für begründeten Glauben an Gottes Allmacht liefert. Auch der Ansatz, Gott seine in ihm geglaubte Allmacht abzuerkennen, um die Theodizee-Frage zu lösen, zerbricht ohne die zuerkannte Allmacht als wesentliches Kennzeichen der Göttlichkeit Gottes, denn so kann nur schwerlich von einem Gott gesprochen werden: Auf ihren Trümmern lässt sich jedoch die im Folgenden angedeutete Annahme einer göttlichen Allmacht, die sich um den Preis der Liebe und Freiheit der Menschen zurücknimmt, erbauen- Gottes Allmacht besteht weiterhin, die Theodizee-Frage bleibt noch immer unbeantwortet. Vom Paradoxon (Widerspruch) der menschlichen Freiheit und Allmacht Gottes: Zum Streitgegenstand bezüglich der Frage nach Gottes Allmacht konstituiert sich die menschliche Freiheit: das Verhältnis von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung durch Gott, von Eigenwirken des Menschen und Gottes Handeln. Sollte Gott nicht aufgrund seiner Allmacht den menschlichen Freiheitsraum beschneiden dürfen, um leidverursachendes Schuldigwerden des Menschen zu unterbinden? Wenn das freie Ja der Menschen zu Gott, wenn ein dialogisches Verhältnis wirklicher, zwangsfreier Liebe als oberstes Sinnziel der Schöpfung bestehen solle, müsse Gott seine Allmacht bewusst so weit zurücknehmen, dass die zugestandene Freiheit nicht eingeschränkt werde. Die göttliche Allmacht dürfe ihre Geschöpfe nicht erdrücken, in Abhängigkeitsverhältnisse fesseln, sondern müsse sie befreien. Leidensverursachender Freiheitsmissbrauch sei daher um der menschlichen Freiheit und Liebe willen unvermeidbar. b) Infragestellung der Güte Gottes 29 30 „Warum lässt uns Gottes Liebe leiden“, G. Greshake, S. 54 „Leid erfahren - Sinn suchen“, M. Böhnke S. 83 „ Und siehe, ich bin bei euch bis an der Welt Ende“ (Mat. 28,16) „Viele beten Gott an, aber warum dürfen sie dann Wale töten, und warum gibt es Hochwasser und Krankheiten? Ich wünsche mir, Gott würde uns helfen“ Zum Gottesbild von Kindern und Jugendlichen Obwohl mediale oder unmittelbare Leidenssituationen einem vorwiegend oder ausschließlich positiv konnotierten Gottesbild zu widersprechen scheinen, erweist es sich als problematisch, Gott die Allgüte abzusprechen, wie es zuvor unmöglich war, ihm seine Allmacht zu entsagen. Gerade diese beiden Eigenschaften konstituierten sich doch als so wesentliche Grundzüge des christlichen Gottes, dass ohne sie ein Festhalten am christlichen Gottesbild kaum begründet wäre. Gott wäre zwar entschuldigt, aber zugleich seiner Göttlichkeit beraubt. Dennoch versuchen verschiedene Ansätze im Hinblick auf die Gott einbeschriebene Allgüte die Theodizee-Problematik zu lösen, indem − Gottes Güte seiner Gerechtigkeit gegenübergestellt wird und menschliches Leiden als gerechte Strafe für Fehlverhalten, Ungehorsam gegenüber Gottes Geboten oder Sünde interpretiert wird. Allerdings ist diese Strategie dem Einwand ausgesetzt, dass das Leid häufig in keinem Verhältnis zur Schuld des Betroffenen steht und nicht länger von einem gerecht strafenden, sondern von einem willkürlich strafenden Gott ausgegangen werden muss, der allerdings für den christlichen Glauben nicht tragbar ist: Die Annahme eines willkürlich strafenden Gott kann die Theodizee-Problematik kaum lösen. − Auf die Unerforschlichkeit und Transzendenz Gottes verwiesen wird, wonach Gottes Güte nicht mit menschlichen Begriffen erfassbar und nicht an irdischen Maßstäben messbar ist. Diese Darlegung untersteht letztlich der Annahme, dass - mit Verweis auf die Transzendenz Gottes dieser gegenüber der menschlichen Vernunft der „ganz Andere“ bliebe, was im Gesamten auf eine negative Theodizee hinausliefe. 4. „Mit ihm (dem leidenden Menschen) bin ich im Leid“ Psalm 91,15 - Der mit-leidende Gott Diese Annahme gedenkt nicht, die Wirklichkeit und Entsetzlichkeit menschlichen Leidens abzuschwächen oder zu relativieren; sie will in keinem Fall grundlegende Wesenszüge des christlichen Gottes anzweifeln - die zentrale christliche Antwort auf die Theodizee-Frage verweist auf die Solidarität und Nähe Gottes zu den Menschen in der Passion, um, in der Konsequenz, Schmerz bestehbar und überwindbar zu machen. Auch ein Gott, der menschliches Leid bewusst übernehme und mit seinem Geschöpfen leide, könne diese nicht von der Schwere ihres Leidens entlasten oder gar befreien, die leidvollen Strukturen nicht aus der Welt verbannen - so ein zumindest nachdenklich stimmender Entwurf, der den Argumentierenden stutzen lässt und auf den bereits hier zu Beginn eingegangen werden soll: Trotz des Eingeständnisses, dass irdisches Leid durch Gottes Solidarität nicht ausgewischt und aufgehoben wird, erfährt diese Antwort keinen Abbruch, da sie an Gott nicht die Forderung richtet, Leid zu exterminieren, sondern vielmehr aus der Absicht heraus gewählt wird, Leid, als existierend anerkannt, zu bestehen. Zugegeben: Der der Theodizee-Frage zugrunde liegende Widerspruch kann höchstens dadurch gelöst werden, dass es schwerer fällt, Gott des Negativen anzuklagen, woran er selbst willentlich Anteil nimmt: „Wenn Gott selbst leidet, ist das kein Leid, kein Einwand mehr gegen Gott“ (Kaspar, S. 85). Gottes, dem Leid der Welt widersprechende Charakterzüge, werden hierbei nicht in Frage gestellt und auch das Leid braucht nicht länger reaktiviert zu werden, sondern wird faktisch anerkannt vielmehr sei bestehendes Übel, so die Wortführer, viel leichter oder gänzlich mit den Leidenden solidarisiert. Dennoch wird der Akzent der Theodizee-Frage dahingehend verschoben, dass das Nebeneinander des Leidens und eines guten Gottes akzeptiert wird und es viel eher gilt, Leid bestehen zu können und zugleich an Gottes Liebe nicht zu verzweifeln. Zumindest zu einem gewissen Grad seien auf diese Weise die Leiden der Welt und die Liebe Gottes nebeneinander denkbar. Ein Gott, der am Schmerz der Menschen Anteil nimmt und beisteht? Weinende und ihre Bitten an Gott artikulierende Menschen fühlen sich von Gott im Stich gelassen, empfinden Einsamkeit und Distanz viel eher als die Nähe Gottes. In radikalster Form versucht der jüdische Denker H. Jonas unter dem Titel „Gottesbegriff nach Auschwitz“ „einen Gott [zu] verstehen, der sich angesichts des millionenfachen Mordes an den in Europa lebenden Juden in Schweigen 31 gehüllt hat“ . Und dennoch: Die Bibel bezeugt einen Gott, der aus Liebe mit-leidet, und dieses Leid nicht aus Schwäche heraus ohnmächtig und passiv erträgt, sondern willentlich und bewusst auf sich nimmt. Der ersten Annahme, der eines Gottes, der wehrloses Opfer wird, ließe sich kaum noch Trost und Unterstützung für den Menschen, der selbst dem Leid ausgeliefert ist, abgewinnen. Unbekannter Künstler, Passion Ein Gott jedoch, der aktiv wollend Opfer bringt, sich absichtlich vom Leid treffen lässt, anstatt getroffen zu werden, zeugt nicht von Schwäche oder eigener Ohnmacht, sondern von einer Größe, die noch alles menschliche Leid bergen kann, die Hilfestellung gibt und stützt. Indem sich Gott mit den Leidenden solidarisiert und diese sich ihm gegenüber öffnen, sei der Mensch aus der Ausweglosigkeit und Dunkelheit herausgerissen, sei das Leiden in einem völlig neuen Sinnzusammenhang gestellt und 32 33 vom „befreienden Licht der Hoffnung“ erhellt. „Nicht um das Leid zu verdoppeln“ , sondern um aufzurichten und zu überwinden, verlagere Gott das Leid der Menschen in sich selbst. Kaum eindrucksvoller kann Gott seine bis ins Leiden durchgehaltene Liebe bezeugen, und diese zur letzten Solidarität motivierte Liebe Gottes ist es, die Hoffnung und den Glauben an einen neuen Anfang gewährt. „In all ihrem Leid geschah ihm Leid“ (Jesaja 63, a). Bereits im Alten Testament wurzelt die Theologie des sich erbarmenden Gottes, die im Neuen Testament anschaulich in Leben und Sterben Jesu hervortritt: Jesus wendet sich den Kranken zu, wie Gott den Leidenden beisteht, und heilt - „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken“ (Markus 2, 17) -, predigt Mitleid mit dem Leidenden, wie er es selbst gezeigt hat - „Als er die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen, denn sie waren müde und erschöpft“ (Matthäus 9, 36) -, oder er lehrt und fordert in Gleichnissen, wie dem des barmherzigen Samariters oder des verlorenen Sohnes, solidarisches Engagement und Anteilnahme am Leid des anderen: Leben und Wirken Jesu lässt Gottes Liebe und Opferbereitschaft für die Menschen durchscheinen und Gottes Nähe, insbesondere zu Leidenden, sichtbar werden. Dies ständig artikulierte und umgesetzte Mitleid wird zu einem wahren Mit-leiden am deutlichsten im Kreuz Jesu Christi. Indem er seinen eigenen Sohn dem Martyrium und der Passion aussetzt, offenbart Gott un-überbietbar sein Eingehen in die Leidensgeschichte der Menschen aus Liebe. 31 „Leid erfahren - Sinn suchen“, M. Böhnke S. 82 „Warum lässt uns Gottes Liebe leiden“, G. Greshake, S. 87 33 „Leid erfahren - Sinn suchen“, M. Böhnke S. 82 32 Entnommen aus: Ich wünsch Dir gute Träume, S. 38 5. Leiden - „Fels des Atheismus“ Vom zaghaften Infragestellen der Güte Gottes bis zum konsequenten Anzweifeln seiner Existenz: Für Fürsprecher dieser Richtung kann der christliche Gott, sobald er der Theodizee ausgesetzt ist, nur einbüßen, da die Wirklichkeit des Leidens der Welt nicht relativierbar oder zu leugnen sei. Das christliche Gottesbild sei nicht haltbar und werde vom Gewicht der ihm gegenübergestellten Leiden verletzend erdrückt oder gar völlig zerbrochen: Die Aberkennung der Güte und Allmacht Gottes, die Gott letztlich seiner Gottheit berauben würde, oder das zur Verantwortung Ziehen für das Negative, das unausweichlich ad absurdum führen würde, wird noch einmal radikalisiert durch die Negation der Existenz Gottes. Das Leiden der Welt ist der härteste Einwand gegen den Gottesglauben - „Die einzige Entschuldigung für Gott ist, dass er nicht 34 existiert“ , d.h. Gott könne allein dadurch gerechtfertigt werden, dass er nicht ist. Georg Büchner legt einen Protagonisten in seinem Revolutionsdrama „Dantons Tod“ folgende Worte in den Mund, mit denen die „Voraussetzung“ für Göttlichkeit impliziert, auf der anderen Seite das Argument des Atheismus angeführt wird: „Schafft das Unvollkommene weg, dann allein könnt ihr Gott demonstrieren“. (Auf die schweigend angenommene Prämisse, dass die Existenz Gottes überhaupt beweisbar sei, sei an dieser Stelle nicht näher eingegangen). Büchner legt nahe, dass im Angesicht eines Gottes, das Unvollkommene, das Negative, nicht bestehen dürfe, dass also ein Gott in jedem Fall gütig und allmächtig sein müsse, um das Unvollkommene zu verbannen. Ein nicht-gütiger und nicht-allmächtiger Gott wäre zuvor mit dem Leid der Welt vereinbar, aber nicht länger göttlich. Folglich könne Gott also, da das Unvollkommene besteht, nicht existieren. Christa Purschke, Nacht In radikalster und extremster Konsequenz wirft die erhobene Theodizee-Frage den Menschen auf den Atheismus, auf die Annahme der Nicht-Existenz Gottes, zurück - Leiden etabliert sich zum „Fels des Atheismus“, zum vielleicht einzigen, zumindest aber zum stärksten Ansatzpunkt, an den sich die Atheisten argumentativ klammern. 6. Theodizee - Ein sinnloses Unternehmen? Zwischen Scheitern und Alternativen Alle bisher kommentierten und diskutierten Ansätze versuchen die Widersprüchlichkeit der Theodizee argumentativ aufzuheben. Stillschweigend und selbstverständlich wird dabei vorausgesetzt, dass eine Rechtfertigung Gottes gelingen wird oder zumindest unternommen werden kann und vor allem soll: Weder wird der Mensch auf seine Befähigung zu antworten hin befragt, noch wird die Sinnfrage aufgeworfen. Im 17 Jhd. publiziert Immanuel Kant eine philosophische Abhandlung deren Titel allein alle angenommenen Selbstverständlichkeiten erschüttert: „Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“. Der Aufklärer untersucht Befähigung und Urteilskompetenz der menschlichen Vernunft, mit der allein sich der Mensch rational der Theodizee-Problematik annähere: Einzig aus Gründen und mit Mitteln der Vernunft beabsichtigt er eine Aussage über Gott zu machen. Nach umfassenden Abwägungen kommt Kant dennoch zum Schluss, dass die Ratio des Menschen an allem Metaphysischen und somit nicht rational Erfassbaren scheitern werde und dabei nicht in der Lage sei, über die Gottesfrage zu entscheiden. „Dass unsere Vernunft zur Einsicht des Verhältnisses, in welchem eine Welt, so wie wir sie aus Erfahrung immer kennen mögen, zur höchsten Weisheit stehe, schlechterdings unvermögend sei“, formuliert der Denker, um die mangelnde Tauglichkeit der reflektierenden Instanz des Menschen zu präzisieren. In theologischem Sinne verweist Kant auf die Transzendenz Gottes, auf dessen Unergründlichkeit, wonach Gott jede menschliche Erfahrung und Erkenntnis übersteige. Gerade gegenüber der Vernunft, deren Erkenntnisvermögen auf die Welt der Erfahrung beschränkt sei, bleibe der erfahrungs- und welttranszendente Gott verborgen, der ganz „Andere“. Nicht allein die Tauglichkeit der menschlichen Vernunft wird in Frage gestellt, sondern die Sinnhaftigkeit des gesamten Theodizee-Bemühens wird angezweifelt oder gar völlig bestritten. Als konsequenter Verfechter der letzteren Behauptung prägt E. Zenger ein eindrucksvolles Argument, welches im Hin-blick auf die entsetzliche Wirklichkeit des Leidens auf die Nachrangigkeit des Sinnfrage verweist und vielmehr solidarisches Engagement fordert: „In der Arena des Leids ist das 34 „Leid erfahren - Sinn suchen“, M. Böhnke S. 87 Leiden kein Problem, sondern die Wirklichkeit“. Jegliche theoretische Problematisierung des Leids im Sinne der Theodizee vermöge nicht zu trösten, zu lindern oder die Not zu bekämpfen; Reflexion über Gründe und Zwecke sei höchstens Reaktion der Distanzierten und selbst dann durch den Vorwurf mangelnder Solidarität angreifbar. Leid wolle nicht verstanden, sondern bestanden werden, oder wie Hans Küng radikalisierend formuliert: Abstraktes „Argumentieren gebe dem Leidenden etwa so viel, 35 wie dem Hungernden und Durstenden eine Vorlesung über Lebensmittelchemie“ . Der Theologe bezeugt nicht allein die Kapitulation, das Versagen der Theorie vor der Wirklichkeit, die Einsatz statt Überlegungen fordert, sondern verweist auch auf die Schmach und die Beleidigung einer abstrakten Diskussion des Leids im Angesicht der Hilfsbedürftigen. Provokativ und jegliche Skepsis gegenüber der Theodizee-Erörterung überbietend äußert sich Kardinal Lehmann, wenn er von einem 36 „theologischen Missbrauch mit dem menschlichen Leiden“ spricht und vielmehr der praktischen Dimension solidarischen Einsatzes und Mit-Leidens höchste Priorität zuweist, welche sich jedoch weigert nach einer Lösung des Theodizee-Problems zu suchen. Engagement gegen Leid statt Reflexion über Leid - so das Postulat derer, die die Theodizee-Bemühungen überzeugend ablehnen. Allerdings sei auch an dieser Stelle ein kleiner Einwand oder besser Zusatz zur Verteidigung der Theodizee-Bemühungen angebracht: Die Theodizee kann Leid zwar nicht aktiv bekämpfen, aber dennoch helfen, es zu bestehen, wenn sich zweifelnde Gläubige nach begründeter TheodizeeReflexion in ihrem Glauben vergewissern und so in Gott wieder Halt und Erbauung finden. 7. Der Theodizee verhaftet - Von Antworten, die ihre Frage verfehlen Die ungeheure Pluralität der Antwortsuche, aus der freilich nur ein Teil angeführt werden konnte, bezeugt eindrucksvoll die letztliche Unlösbarkeit des Theodizee-Dilemmas zwischen der rational erfassten Erfahrungswelt und dem christlichen Gottesverständnis. Alle bisher von Menschen gefundenen Ansätze scheitern, sobald sie das Leiden relativieren oder auch das Gottesbild auf mit der Theodizee-Frage vereinbare Wesenszüge modifizieren bzw. reduzieren und auf diese Weise vor der Schärfe der Theodizee-Widersprüchlichkeit kapitulieren. Ebenso versagt letztlich auch die Strategie, Alternativwege zur Auflösung der Theodizee-Problematik anzubieten, da diese vielmehr eine ausweichende oder bewusst begründete Umgehung oder Flucht als ein Sich-Stellen beinhalten. Und dennoch oder gerade deshalb lässt die Theodizee als konsequente Schlussfolgerung aus der biographischen und medial vermittelten Lebenswirklichkeit den Menschen in ihrer Herausforderung nicht los, die Problematik bleibt unabgeschwächt bestehen, auch wenn menschliche Antworten zu kurz greifen. Sie verlangt keine Resignation von der ihr immanenten Radikalität, sondern will vielmehr wahrgenommen, ausgehalten und ins Leben integriert werden. Für den Menschen, der sich an ihr wund reibt, wird sie zum Stein des Anstoßes sowohl einer kritischen Anfrage an das eigene Gottesverständnis als auch einer hintergründigen Auseinandersetzung mit unmittelbar oder mittelbar bestehendem Leid. Vor diesem Hintergrund fordert Johann Baptist Metz eine gewisse „Theodizee-Sensibilität“, das heißt eine Empfindlichkeit des Menschen gegenüber dem Theodizee-Dilemma, da insbesondere die Theodizee-Frage das Bewusstsein für immer neu errungene Reflexion über das Verhältnis, über die Spannung zwischen dem christlichen bzw. eigenen Gottesbild und einer leidbehafteten Welt wach hält: Die Theodizee will weder die Tragik der Welt verleugnen noch Gott anzweifeln, sondern diese Spannung aushalten. Anzumerken bleibt lediglich, dass existentielle geistige Erwägungen über die Theodizee ein aktiv solidarisches Engagement nicht ausschließen, sondern sehr wohl bewusst zulassen. 35 36 „Leid erfahren - Sinn suchen“, M. Böhnke S. 20 Ebd. S. 21 B IV. „An einen `lieben Gott´ kann ich nicht länger glauben“ – Kinder und Jugendliche nehmen die Theodizee-Problematik wahr Sobald menschliches Leiden - in direkter Konfrontation erlebt oder medial vermittelt erfahren - von Kindern als unbedingter Bestandteil der Wirklichkeit erfasst wird, kann das kindliche Gottesverständnis eines „lieben Gottes“ erschüttert werden. Lebensrealität und ein ausschließlich unter positivem Vorzeichen stehendes Gottesbild prallen in der Wahrnehmung Heranwachsender (freilich in unterschiedlichem Alter) aufeinander - ein nahezu unumgänglicher Anstoß zur Reflexion. Bereits in der Formulierung (scheinbar) einfacher Fragen wie „Warum lässt Gott die Not so vieler Menschen zu?“ schneiden Kinder und Jugendliche die Theodizee-Problematik an und empfinden durchaus das Spannungsverhältnis beim Versuch, eine leidvolle Welt und einen guter Gott nebeneinander zu denken. Im folgenden Abschnitt wird sowohl das ursprüngliche, vom christlichen Glauben unreflektiert übernommene kindliche Gottesbild als auch die Überlegung, was die Theodizee-Frage im kindlichen Alltag wirklicher aufbrechen lässt, zum Gegenstand näherer Betrachtung. Ebenfalls soll folgerichtig eine Untersuchung der so differenzierten und variierenden alltagstheologischen Umgangs-, und Bewältigungsansätze des Theodizee-Dilemmas nicht vernachlässigt werden. Die folgenden empirisch ermittelten Ergebnisse, sowie die zentralen entwicklungspsychologischen Koordinaten sind dem Dissertationsprojekt von Eva Stögbauer entlehnt, wobei Kommentierung und 37 Analyse an dieser Stelle eigenständig und vertiefend vorgenommen werden sollen. Die Integration dieses Abschnitts in das Gesamte der Arbeit sei vom abgesteckten Rahmen dieses Wettbewerbs her gerechtfertigt, Ein von Jugendlichen wahrgenommener Schülerwettbewerb, sollte gerade diese auch zu Wort kommen lassen. a) „Ich stelle mir Gott vor als einen älteren Mann mit Bart…“ - der positiv besetzte kindliche Gottesbegriff als Hintergrund und Prämisse des Theodizee-Dilemmas Insbesondere das Gottesbild des Kindesalters wird geprägt von unkritischer und unreflektierter Übernahme des traditionellen christlichen Verständnisses und der äußeren dargebotenen Annäherungsmuster, d.h. vom Rahmen der religiösen Sozialisation. Innerhalb des kindlichen, bzw. altersentsprechenden Gedankenhorizontes werden von außen übernommene Strukturen besetzt und in Beziehung gebracht, so wie beispielsweise den angenommenen Eigenschaften Gottes entsprechende personifizierende Synonyme zur erleichterten Gottesdarstellung Anwendung finden. Charakteristisch ist nicht das Abstrakte, jede konkrete Vorstellung Ablehnende, sondern die Personifizierung und ein Vergleich mit dem Vertrauten und Sicherheit Gebenden. „Ich stelle mir Gott als eine allgegenwärtige Vertrauensperson vor, die mir hilft, schwierige Situationen 38 zu meistern“ - geradezu klassisch für ein derartiges, noch nicht von der Lebenswirklichkeit erschüttertes Gottesbild ist der Vorstellungskomplex des Schöpfergottes, welcher durch die Gestaltung eines guten Anfangs das Leben einem Sinnpotential unterstellt und sich für eine endgültige Vollendung der defizitären Welt verbürgt. Ebenso Sicherheit versprechend sind anthropomorphe Anschauungen, wie die des alten Mannes oder Vatergottes, welcher insbesondere Gott als Dialogpartner und Helfer suggeriert und dessen Nähe und Kraftquelle intensivierend hervorhebt. Eine magisch-mythische Erhöhung Gottes ist für das kindliche Gedankengefüge in gleicher Weise charakteristisch wie die Einschätzung und Erwartung eines belohnenden, bewahrenden oder sanktionierenden direkten Eingreifens Gottes, um die von Gott angelegten Strukturen als gute zu erhalten. Nur ein solches nahezu ausschließlich positiv besetztes Gottesverständnis kann sich überhaupt als Widerspruch zur rational erfahrenen, leidverhafteten Wirklichkeit etablieren. Als solches - hier liegt der Grund für die zuvor durchgeführte Nachzeichnung des kindlich-christlichen Gottesbildes - wird es zum Ausgangspunkt der Theodizee-Frage, sobald sich 39 die Gott zugesprochenen Attribute an die Wirklichkeit nicht mehr verifizieren lassen . 37 Eva Stögbauer: „Die Theodizee-Frage bei Jugendkichen wahrnehmen“. Eine qualitativ-empirische Spurensuche(Universität Regensburg) 38 „Leid erfahren - Sinn suchen“, M. Böhnke S. 147 39 Vgl. „Leid erfahren - Sinn suchen“, M. Böhnke S. 152 Allein vor dem Hintergrund des positiv koordinierten christlichen Gottesbildes, welches von Kindern übernommen und womöglich gar noch intensiviert wird, kann die TheodizeeFrage überhaupt gestellt werden. Entnommen aus: „Ich wünsche dir gute Träume“, S. 8 b) Was lässt die Theodizee-Problematik aufbrechen? - Ausgangspunkt und Anbindung des Dilemmas in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen „Ich kann nicht an ihn glauben, wenn ich daran denke, wie schlecht es vielen Menschen in der Welt geht“ - „Ich stelle mir Gott vor und frage mich, ob es ihn wirklich gibt…“. Bereits Kinder und Jugendliche sind schmerzlichen Erfahrungen ausgesetzt, wenn Freundschafts- oder Liebesbeziehungen zerbrechen, eine nahestehende Bezugsperson stirbt oder sie selbst zum Opfer des steigenden Leistungsdrucks werden. Neben direkter persönlicher Konfrontation wird auch die entfernte Umwelt als defizitär wahrgenommen, wenn Massenmedien, Natur- und daraus folgende Menschheitskatastrophen vermelden, Forscher vor der Klimakatastrophe warnen oder Hilfswerke Armut, Hunger und Krankheit ins kollektive Gewissen rufen. Derartige Traumatisierung oder leidvolle Erfahrungen verlangen primär nach Bewältigung, Milderung oder Integration in die eigene Lebenswirklichkeit; Jugendliche greifen laut den erhobenen Daten der dieser Abfassung zugrunde liegenden Studien auf differenzierte Verarbeitungsstrategien zurück: Sie führen die Unterstützung von Familie oder Freunden und die Hoffnung auf begrenzte Dauer des Leidens an oder nennen eine „religiöse Sinngebung“ als Unterstützung, welche „konstruktive Momente der Leidverarbeitung“ eröffnet. Schlagartig oder schrittweise erfolgt die Ernüchterung und Desillusionierung des jungen Menschen; dennoch muss in dieser Zeit die Theodizee-Frage nicht zwangsläufig oder notwendigerweise aufbrechen. Insbesondere Gläubige oder in religiöser Sozialisation gefestigte Jugendliche müssen feststellen, dass an ihrem bisherigen Gottesbild nur schwer festgehalten werden kann und dieses, am Maßstab der Realität gemessen, nur allzu leicht versagt. Die Wahrnehmung der Theodizee-Problematik fällt im Leben Heranwachsender nicht zufällig vom Himmel, sondern ist „die konsequente Schlussfolgerung aus der biographischen und/oder medial vermittelten Erfahrungswelt“, sobald das übernommene traditionell christliche Gottesbild am Maßstab der Wirklichkeit nicht länger verifiziert werden kann. Zum Stein des Anstoßes der Theodizee-Frage in der Alltagswirklichkeit etabliert sich gemäß den erhobenen Angaben die biographische, direkte und medial vermittelte Konfrontation, mit singulären und universalen/globalen Leid, dem „male morale“, d.h. dem vom Menschen schuldhaft gesetzten Schlechten, und dem „male physicum“, natürlichem, vom Menschen nicht verursachtem und nicht zu verantwortendem Leid. Obwohl persönliche schmerzliche Momente nur selten als Ausgangspunkt des Aufbrechens der Theodizee-Frage angeführt werden - was die Autorin der angesprochenen Arbeit anmerkt und auf Zurückhaltung aufgrund der Datenerhebung verweist -, kann existentiell widerfahrenes Leid am intensivsten für die Auseinandersetzung mit der Theodizee sensibilisieren. Dieser Richtung entsprechend und diesen Ansatz bestätigend betont eine weitere Erkenntnis die Relevanz der Gottesfrage, aber auch des Gegenkonzeptes zur Theodizee, der Hinwendung zu Gott, in schwierigen und problematisch erlebten Zeiten: „Die Theodizee, aber auch das Gebet“, so Eva 40 Stögbauer , „sind weniger im Alltag als in den Brüchen und Grenzen desselben präsent.“ Gerade diese kontrastierenden Reaktionen, die des Zweifelns, die der Rückbindung in Gott auf erlittenes Leid, verweisen auf differenzierte Verarbeitungsstrategien Jugendlicher und lassen bereits die variierenden und zum Teil auch gegensätzlichen Lösungspotentiale des Theodizee-Dilemmas erahnen. c) Konsequenzen der Theodizee-Wahrnehmung: Zwischen dem Ringen um und zweifelnden Anfragen an das eigene Gottverständnis Die Auseinandersetzung mit der Theodizee kann in der Lebenswirklichkeit Heranwachsender unterschiedliche Positionen besetzen, nicht zuletzt von religiöser Selbstwahrnehmung und der Position zu Gott, genauso wie sie die eigene Gottesbeziehung beeinflusst, ob diese als plausibel, ambivalent oder unsicher empfunden wird. Die lange Kette verschiedener Reaktionen reicht von der Unempfindlichkeit gegenüber der Theodizee, wenn Leid und die Frage nach Gott in Beziehung gesetzt werden, über das radikalste Verhaltensmuster, welches Leid zum stärksten Argument gegen den Gottesglauben grundsätzlich deklariert, bis zur Wahrnehmung der Theodizee als Herausforderung, als Prüfstein des Glaubens. Verschiedene entwicklungspsychologische Analysen betonen unterschiedliche Konsequenzen der Theodizee-Wahrnehmung: Die Theodizee wird als „erste, zentrale Einbruchstelle für Verlust des Glaubens“ bezeichnet, eine aus ihrem Dilemma resultierende Überzeugung der Nichtexistenz Gottes wird als „Protest-Atheismus“ völlig verworfen oder die Relevanz der Theodizee für den Glauben Heranwachsender wird als Grundlegend “gering“ eingestuft. Diese breite Palette der Möglichkeiten Jugendlicher, mit der Theodizee-Frage umzugehen und ihre Widersprüchlichkeiten zu lösen, spiegle, so die Autorin, die „Individualisierung und Säkularisierung“ der Welt und des Glaubens auf der einen Seite, und bezeuge auf der anderen Seite den „Entwicklungsprozess der Gottesvorstellung Heranwachsender, dessen weiterer Verlauf nicht 41 eindeutig zu prognostizieren ist“ . Ein alternativer Umgang mit der Theodizee wird angedacht, relativiert und verworfen; persönliche Deutungen in produktivem Dialog mit klassisch christlichen Antworten lassen diese erweitern, fundieren, modifizieren. Ebenfalls wurde festgehalten, dass unterschiedliche Argumentationsstrukturen altersabhängig als, besonderes attraktiv erscheinen, wobei zugleich gewarnt wird, die Reaktion Jugendlicher nicht auf Altersstufen zu fixieren und daher zu schematisieren und reduzieren, sondern viel eher der „reellen Selbsteinschätzung und Sozialisation“ Beachtung zu schenken und aktuelle biographische Ereignisse und deren Einfluss auf die Antwortsuche zur Theodizee zu berücksichtigen. Ein Argumentationsmuster, welches sich unter allen konstruktiven Lösungspotentialen eindrücklich etabliert und bei Heranwachsenden durchsetzt, ist die, durch Umfragen bestätigte, Arbeit am Gottesbild, die Modifizierung der Wesenszüge Gottes, dass diese mit einer leidvolleren Lebenswirklichkeit leichter und rational zu vereinbaren sind. 40 41 Eva Stögbauer: Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Religionspädagogik, Universität Regensburg „Leid erfahren - Sinn suchen“, M. Böhnke S. 158 Entnommen aus: „Ich wünsche dir gute Träume“, S. 72 Die Tendenz junger Menschen ist gerade nicht darauf ausgerichtet, das Leid einem letztlich guten Zweck zu unterstellen oder es zu beschönigen, sondern viel eher in seiner Härte als bestehend anzuerkennen und ihr ursprünglich ausschließlich positiv besetzten Gottesverständnis auf Vereinbarkeit mit der als unvollkommen wahrgenommen Welt hin zu befragen. Jugendliche oder bereits Kinder versuchen die Spannung zwischen realer Erfahrungswelt und ihrem eigenchristlichen Gottesbegriff abzubauen, indem sie diesen modifizieren und der Tatsache des Leidens anpassen, wie das folgende Beispiel, welches einem eher kindlichen Verstehenshorizont entstammt, beweist: Das bisherige Gedankenmuster eines „alten Mannes mit Bart“ wird dahingehend verändert, dass dieser aufgrund seines „hohen Alters“ und seiner „Einzigartigkeit“ zu gestresst und mit allen unheilvollen Komponenten der Welt schlicht überfordert sei - eine Modifikation, die den Gottesglauben nicht preisgibt, sondern die Existenz von Leid und einen guten Gott wieder nebeneinander denkbar macht. In analogen Strukturen ringen viele junge Menschen um ihren Glauben, der für sie zu kostbar ist, um ihn zugunsten einer als leidvoll erfahrenen Welt aufzugeben. Eine Option, die Arbeit am Gottesbild, wird für sie zur gangbaren Alternative: Durch Abwendung von traditionell christlichen Gottesattributen und bewusste Setzung neuer teils kontrastierender Prädikate wird innerhalb des Vernunftrahmens von Kindern und Jugendlichen das aufgezeigte Theodizee-Dilemma gelöst und Gott vor allem für sie wieder verstehbar. Eva Stögbauer verweist zudem auf die durch empirische Ermittlungen bestätigte Tatsache, dass junge Menschen häufig eine Verbindung der Theodizee zu weiteren für sie relevanten theologischen bzw. philosophischen Fragen knüpfen. Die Auseinandersetzung mit dem Theodizee-Dilemma geht stark mit Reflexion über die Sinnfrage einher: Jugendliche wollen trotz der Theodizee-Widersprüchlichkeit an Gott als „begleitendem Sinnpotential und Hoffnungshorizont“ festhalten, die Zukunft nicht als sinnlos, leer und gefährdend wahrnehmen, sondern ihren Glauben auch gegen die Theodizee verteidigen. In strukturell ähnlicher Weise sind Jugendliche dazu geneigt, von der Theodizee angestoßen, den Rahmen der Theodizee-Auseinandersetzung zu verlassen und darüber hinaus das Spannungsverhältnis von menschlicher Autonomie und göttlicher Heteronomie auszuhalten: Insbesondere ältere Jugendliche weisen mit Blick auf die Wahrung der Freiheit des Menschen eine direkte Intervention Gottes zur Vermeidung menschlicher leidverursachender Verfehlungen zurück. Dennoch stehe, so die Autorin, der „Imperativ, dass Gott einschreite“, um Leid zu verhindern weiterhin im Raum, sodass selbst der „Rekurs auf menschliche Handlungsfreiheit (…) Gott nicht von der Letztverantwortung“ entlaste. In dieser Richtung bewegen sich die grundsätzlichen Erwägungen der Jugendlichen bezüglich der menschlichen Freiheit und der im Grunde abgelehnten, aber in manchen Fällen dennoch gerechtfertigten Beschneidung dieses Freiheitsraumes durch Gottes Eingreifen. Die Wahrnehmung der Theodizee-Problematik wird folglich zum Ausgangspunkt mit weiteren religionsphilosophischen Fragestellungen. Das Qualifikationsprojekt empirisch ermittelter und ausgewerteter Ergebnisse bezüglich der Wahrnehmung der Theodizee-Frage bei Kindern und Jugendlichen belegt eindrucksvoll, dass insbesondere junge Menschen nicht vor der Radikalität des Theodizee-Dilemmas kapitulieren, sondern sich existentiell mit der Spannung ihrer Erfahrungswelt mit dem eigenem Gottverständnis auseinandersetzen. Innerhalb ihres jeweiligen Verständnishorizonts bemühen sich junge Heranwachsende um konstruktive Lösungspotentiale, zumeist in der Absicht, ihr Gottesverständnis, welches angesichts einer mehr und mehr realisierten leidvollen Wirklichkeit nicht länger verifiziert werden kann, zu verteidigen. Ihr ursprünglich ausschließlich positiv konnotiertes Gottesbild wird erschüttert von der Wahrnehmung einer defizitären und damit mit ihrem Gottbegriff unvereinbaren Welt, hinterfragt und, insbesondere von jüngeren, dahingehend modifiziert, dass die Widersprüchlichkeit des TheodizeeDilemmas in ihren Augen aufgehoben ist; selten wird die Theodizee-Problematik zum härtesten Argument gegen die Existenz Gottes – vielmehr reiben sich junge Menschen, von der Wirklichkeit angestoßen, an der rational nicht auflösbaren Widersprüchlichkeit, da sie sich weigern, Gott und damit einen sinngebenden Horizont ihres Lebens und ihrer Zukunft leichtfertig aufzugeben. Entnommen aus: „Ich wünsche dir gute Träume“, S. 58 B V. Die Theodizee im Spiegel der Literatur Der Hilferuf eines Kriegsheimkehrers an einen schweigenden (als schweigend erfahrenen) Gott in Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ Fieberkrank und gebrochen kehrt 1945 der erst 24-jährige Wolfgang Borchert von der Ostfront in die Trümmer Hamburgs zurück: Knapp zwei Jahre werden seine Kriegsleiden den jungen Mann noch überleben lassen, knapp zwei Jahre werden dem von Krieg und Gefangenschaft Gezeichneten noch bleiben, um zu einer der erschütterndsten Stimmen der unmittelbaren Nachkriegszeit zu werden. 42 „Wann hast du dich jemals um uns gekümmert, Gott“ - im Spätherbst 1946 legt der junge todkranke Autor dem Protagonisten seines einzigen Dramas diese Worte in den Mund - und lässt die Theodizee zum Thema werden in der Literatur nach der „Stunde Null“. Nicht allein sachlich-dokumentativ, sondern kreativ und unmittelbar im fiktivem oder realen Geschehen situiert, erlaubt die Literatur eine Annäherung an die Theodizee-Problematik: Sie bietet Gestaltungsspielraum für lebendiges Ausspielen differenzierter oder gegensätzlicher Positionen, sie kann Lösungsansätze gefahrlos durchprobieren, anwenden und scheitern lassen oder/und zur Projektionsfläche aktueller und wirklicher Geschehnisse, in denen die Theodizee-Frage aufbricht: sicherlich genügend Ansatzpunkte, die eine nähere Betrachtung der Theodizee im Spiegel der Literatur zumindest rechtfertigen und im Rahmen dieser Arbeit angebracht erscheinen lassen. „Wie wird das Theodizee-Dilemma gestalterisch dargestellt?“ - „Wie wird die Frage thematisch aufgearbeitet und welche möglichen Umgangsformen werden aufgezeigt?“ - „Ist ihr Aufbrechen typisch für einen bestimmten literaturhistorischen Hintergrund oder Autor?“ - Fragen und potentielle Untersuchungsgebiete ließen sich weiterführen, verdeutlichen aber vor allem auch, dass in diesem Kapitel nicht länger Charakter und einzelne Facetten der Theodizee im Mittelpunkt stehen werden, sondern der Betrachtungsschwerpunkt sich nun viel mehr auf die höhere Ebene des Umgangs, der Verarbeitung der Theodizee-Frage verlagert . Wolfgang Borcherts Nachkriegsdrama „Draußen vor der Tür“ thematisiert die Theodizee-Frage nicht als Hauptgedanke oder Leitfrage, dennoch kommt sie zur Sprache, wird angerissen und problematisiert, was allerdings nicht einmal als zeittypisch betrachtet werden kann: Die Erschütterung durch den Zweiten Weltkrieg, Exil, Völkermord und Holocaust oder die Soldatenexistenz lassen die Theodizee nicht zwangsläufig und notwendig zum literarischen Thema werden, wie die Werke der Exil- und Nachkriegsliteratur beweisen. Bei Borchert jedoch bricht sie auf, innerhalb einer sinnentleerten und nur noch zum Tod hin offenen Existenz des literarischen Hauptcharakters, aufgrund der völligen menschlichen Inhaltslosigkeit eines Lebens und der äußeren Trostlosigkeit, sowie tiefster innerer Verzweiflung abgerungen. Die Erfahrung äußerster Grausamkeit und Hoffnungslosigkeit sowohl des Protagonisten als auch des jungen Autors radikalisieren die Theodizee in dem Maße, dass sie zur existentiellen Frage werden und jeden Lesenden erschüttern und betroffen machen muss. a) „Schreiben im Wettlauf mit dem Tode“ - Die Stimme Wolfgang BorchertsWolfgang Borchert, geb. am 20. Mai 1921 in Hamburg, war zuerst Schauspieler, dann Buchhändler, bevor er 1940 von der Gestapo verhaftet und 1941 zur Soldatenausbildung eingezogen wurde. Die Erfahrung von Drill und Unmenschlichkeit des Soldatentums und der Eindruck des nahe gelegenen KZ Buchenwald schürten seine Ablehnung gegenüber dem nationalsozialistischen Staat. 1941, im Jahr des Überfalls auf die Sowjetunion, wurde er an die Ostfront geschickt, wo er auch zum Einsatz kam und seit 1942 an Gelbsucht erkrankte. Aufgrund „staatsgefährdender“ Briefe verbrachte er acht Monate in Haft, wurde wieder zum Tode verurteilt und schließlich freigesprochen, um 1945, nach mehreren Krankheitsanfällen und Lazarettaufenthalten, ins kriegszerstörte Hamburg zurückzukehren. Nach erneuter Theaterarbeit war er seit dem Winter 1945/46 bis zu seinem Tod fast vollständig ans Bett gefesselt. An einer Leberkrankheit leidend und vom Krieg und Russlandeinsatz aufgezehrt, verfasste der todkranke Borchert in den folgenden zwei Jahren sein gesamtes Werk: 24 Erzählungen und Kurzgeschichten, einen Gedichtband und sein einziges Drama „Draußen vor der Tür“, welches er innerhalb weniger Tage niederschrieb. Am 20. November 1947 starb Wolfgang Borchert, mittlerweile 42 „Leid erfahren - Sinn suchen“, M. Böhnke S. 142 zur wichtigsten Stimme der deutschen Nachkriegsliteratur geworden, in einem Spital in Basel - einen Tag bevor „Draußen vor der Tür“ in Hamburg uraufgeführt wurde. „Er hatte keine Zeit und er wusste es“ - „über die Schwelle des Krieges war ihm nur eine kurze Frist gegeben“, schreibt Heinrich Böll 1955, „um den Überlebenden zu sagen, was die Toten des Krieges, zu denen er gehört, nicht mehr 43 sagen konnten.“ „Trümmerliteratur“ und „Stunde Null“ - die unmittelbare Nachkriegszeit (kurzer Abriss) 8. Mai 1945 - bedingungslose Kapitulation des besiegten Deutschland, das noch im selben Jahr auf der Potsdamer-Dreimächte-Konferenz in vier Besatzungszonen eingeteilt wird. Die erschütternde Bilanz von sechs Kriegsjahren: 55 Millionen Menschen sterben europaweit, ca. 6,3 Millionen Opfer fordert der Holocaust, Deutschland beklagt 7,8 Millionen Tote der Kriegs- und der unmittelbaren Nachkriegszeit. 10 - 11 Millionen deutsche Soldaten befinden sich bei Kriegsende in Kriegsgefangenschaft, von denen die letzten 1956 aus der Sowjetunion heimkehren. Durch Flucht und inhumane Vertreibung müssen weitere 12 -14 Millionen Menschen aus den deutschen Ostgebieten in die zerbombten Städte des ökonomischen auf eine Tausch- und Naturalwirtschaft zurückgeworfenen Deutschland integriert werden. Ziffern helfen jedoch wenig, um die Gesellschaft und das kulturelle Leben, das sich langsam nach 13 Jahren Unterdrückung der Naziherrschaft wieder zu regen begann, zu charakterisieren, das Umfeld, in dem und für das Wolfgang Borchert eine kurze Zeit schrieb. Bestandaufnahme und Neuanfang konstituieren sich zu dominierenden Tendenzen der Literatur; „Kahlschlag“ oder „Trümmerliteratur“ prägen als Schlagworte die kurze intensive Periode bis 1947, in der eine neue Generation von Schriftstellern die Sprache vom Gestrüpp der nationalsozialistischen Propagandasprache befreit, was zu einer Verkargung der Sprache, zum „Kahlschlag“ führt. „Die Kahlschläger fangen in Sprache, Konzeption und Substanz von vorne an.“ Während die ältere Generation sich in Vergangenheitsverdrängung, Aufbaueuphorie und „Wirtschaftswunder“ flüchtet, setzten sich junge Autoren kritisch und analytisch mit der jüngsten Vergangenheit auseinander, eine junge Generation, die nach Kriegsende lange geschwiegen hat und von der viel mehr Anklage erwartet wird an die Älteren, die die deutsche Demokratie der Ideologie der Nationalsozialisten preisgegeben haben. In diese Erwartungshaltung hinein publiziert Borchert 1946 sein Drama: „Die oft gestellte Frage, „Wo bleibt die Jugend?“ ist schlagartig beantwortet worden,“ kommentiert die „Hamburger Freie Presse“ am 26.02.1947, „aus dem Mund eines jungen talentierten Dichters hat die Jugend gesprochen, klar und aufrüttelnd. Aus tiefster Not und in vollster Bedrängnis stellt sie die große Frage nach dem Sinn und Zweck dieses Lebens, Antwort von Gott und den Menschen fordernd.“ 43 „Leid erfahren - Sinn suchen“, M. Böhnke S. 115 Deutschland nach dem Krieg 1945 b) „Ein Mann kommt nach Deutschland…“ - Die Thematik 1946: Nach 3 Jahren ist der Unteroffizier Beckmann vom Krieg gezeichnet und verletzt von der Ostfront in die Trümmer seiner Heimatstadt Hamburg zurückgekehrt. „Einer von denen, die nach Hause kommen und die dann doch nicht nach Hause konnten, weil für sie kein Zuhause mehr da ist“, 44 charakterisiert der Autor jene Kriegsheimkehrer. Traum und Wirklichkeit verschwimmen im scheiternden Selbstmordversuch Beckmanns, der sich ohnmächtig und erschüttert vor seiner zerbrochenen Existenz wiederfindet: Sein kleiner Sohn - Todesopfer des Bomben-hagels; sein Platz an der Seite seiner Frau Beckmann ist ersetzt durch einen Fremden, die Tür eines sicheren Zuhauses –verschlossen. Wolfgang Borchert lässt seinen Protagonisten verstört und ohne Halt im Leben durch die finsteren und kalten Gassen der zerstörten Stadt irren, der „Andere“, der „Ja sagt, wenn du Nein sagst, der antreibt, wenn du müde wirst“ 45 - die zur Todessehnsucht Beckmanns gegensätzliche personifizierte Bewusstseinsebene wird zu seinem einzigen Begleiter, dessen Plädoyer für individuelle Sinngebung im Leben er dem sinnvernichtenden Nihilismus des Todes abzuringen versucht. Eine Gasmaskenbrille, die er selbst jetzt noch zu tragen gezwungen ist und die andern allein den Verständnislosen und spottenden Kommentar „Der Krieg ist doch vorbei!“ entlockt, wird zum charakteristischen Symbol seiner Soldatenexistenz, die noch immer unverblasst und traumatisierend in sein Leben hineinragt. Illusionslos und unermüdlich wird Beckmann in diesem Sinne von seiner schuldbehafteten Vergangenheit eingeholt, seit in den Kampfhandlungen bei Stalingrad „elf Männer seines Spähtrupps und somit seiner Verantwortung unterstehenden fehlten“, sodass Beckmann ein nächtliches Martyrium grotesker Träume und Anklagen durchlebt, welches ihn letztlich um den Schlaf bringt. Nur „um endlich 46 mal wieder schlafen“ zu können, versucht er die Verantwortung für seine Kriegsschuld an seinen Vorgesetzten zurückzugeben - einen jener militärischen Eliten, die sich bereits kurz nach Kriegsende wieder existentiell und ökonomisch etabliert hatten, und jegliche Aufarbeitung mit der Vergangenheit mieden. In die Reihe dieser Opportunisten reiht der Autor weiterhin einen Kabarett-Direktor, der „Wahrheit“ und nüchterne Bestandsaufnahme der Jugend fordert und dennoch für Beckmanns Wahrheitsbegriff - seinen ungeschönten menschlichen Zerfall - zu feige ist, und Frau Kramer, deren Weltbild allein an Besitzverhältnissen festgemacht ist, ein. An beiden Repräsentanten einer eigennützigen Gruppierung der deutschen Nachkriegsgesellschaft kann Beckmanns Hilferuf nur scheitern und abprallen - Borchert gibt diese verdrängende und vorwärtsfliehende Generation unerbittlicher Kritik preis. 47 „Ich will das alles nicht mehr aushalten“ : Allein der Körper schleppt sich vom „Andern“ unermüdlich aufgerissen und angetrieben noch wenige Meter vorwärts, sein Geist ist erfüllt von einem „schönen, 48 wunderschönen Traum“ von einer für ihn einzig im Tod noch offen gehaltenen Tür und unerreichbar für den Lebenswillen des „Anderen“ - das Leben schlechthin ist für Beckmann „weniger als Nichts“. Nachdem er mit dem personifizierten „Lieben Gott“ zusammengetroffen ist - seine Leiderfahrung hat den Glauben und jede sinngebende Jenseitshoffnung längst verunmöglicht -, wird Beckmann, durch Personen repräsentiert, mit den Stationen seiner Rückkehr konfrontiert. All jenen weist der Leidende 49 das Maß ihrer Schuld an seinem Elend zu, alle jenen, die ihm „in aller Güte (…) umgebracht“ 50 haben, „gehen an meinem Tod vorbei“ . Am Ende der Reihe der Vorbeigehenden, hinkt ein 51 „Einbeiniger“: „Du hast mich ermordet, Beckmann“ - Beckmann, der Mörder, Beckmann, das Opfer, 44 „Draußen vor der Tür“, Wolfgang Borchert S. 8 Ebd. S. 15 Ebd. S. 25 47 Ebd. S. 38 48 Ebd. S. 45 49 Ebd. S. 45 50 „Draußen vor der Tür“, Wolfgang Borchert S. 45 51 Ebd. S. 52 45 46 ringt existentiell um die Aussage: „Wir werden jeden Tag ermordet und jeden Tag begehen wir einen 52 Mord“ , und um die eigene Verstrickung von Täterschaft und Opferdasein. Später erst wurde auf das Drama, als den „Aufschrei Borcherts“ Bezug genommen, eine radikale Charakterisierung, die vom Ende her zu rechtfertigen sind: „Wo ist der alte Mann, der sich Gott nennt? Warum redet er denn nicht? Gebt doch Antwort! Warum schweigt ihr denn? Warum? Gibt denn keiner eine Antwort? Gibt keiner Antwort??? 53 Gibt denn keiner, keiner Antwort???“ Beckmann schreit seine verbitterte Frage nach dem Sinn dieses Lebens in die noch zertrümmerte, aber bereits ohne Rückblick aufbrechende Nachkriegsgesellschaft, er sucht taumelnd und klagend nach Orientierung und Halt in einer erschütterten Welt und verlangt unerbittlich eine Auseinandersetzung mit der Frage nach Schuld. Bewusst verneint Borchert den Tod seines Helden nach diesen letzten Zeilen des Drama; vielmehr hält er einzig am Nachhall dieses Aufschreis fest. Edvard Munch, „Der Schrei“ Als „Spiegel der Zeit und Abdruck des Jahrhunderts“, räumte die Literaturkritik Borcherts Drama der „Verzweiflungsliteratur“ aufrüttelnde und eindrucksvolle Gültigkeit ein. Wolfgang Borchert gab den Heimkehrenden des Zweiten Weltkriegs ein Gesicht und wagte es, die Wahrheit eines Krieges auszusprechen, von der in gleichem Maß die Biographie des Autos selbst zeugt. c) Die Theodizee in Borcherts Drama - Spurensuche und Analyse „Wo ist der alte Mann, der sich Gott nennt? Warum redet er nicht?“ - eine der vielen Fragen, die Beckmann am Ende des Dramas aus tiefstem Leiden in die Trümmer seiner kriegszerstörten Welt hinausschreit, die verhallt und auf die er keine Antwort bekommt. Die Frage nach dem Schweigen Gottes, nach der so verspürten Abwesenheit Gottes auf einen menschlichen Hilferuf in den letzten Zeilen des Stücks bezeugen, dass die Theodizee auch hier zum Thema wird, sobald die Erfahrung des Leidens den Glauben an die Güte Gottes erschüttert. In ganz besonderer Weise problematisiert Borchert die Theodizee in „Draußen vor der Tür“ in der Schlussszene seines Werkes: Er lässt seinen Protagonisten nicht innerlich um Gott ringen und an der Unlösbarkeit deines Dilemmas scheitern, sondern er lässt Gott in Gestalt eines alten Mannes als direkten Dialogpartner Beckmanns auf die Bühne treten und sich selbst definieren. Hinter dieser Selbstoffenbarung Gottes verbirgt sich nicht etwa - und nur unter dieser Prämisse kann die weitere Betrachtung erfolgen - die Erkenntnis letzter Wahrheiten über Gott, sondern einzig das subjektive Gottesbild des Autors. Der Gott des Dramas ist folglich Ausdruck des menschlichen Glaubens und Gottesverständnisses und als solcher notwendigerweise spekulativ. Durch Gestaltung der Selbstenthüllung Gottes gelingt es Borchert aber dennoch, menschliches Bemühen um die Theodizee sowie eine mögliche Antwort auf die Theodizee-Frage zu verweben: Beckmanns Fragen, Beckmanns Unverständnis spiegeln den Umgang des Menschen mit dem Dilemma der Theodizee, während der Autor in den Worten Gottes eine - allerdings seine subjektive - Lösung anbietet. 52 53 Ebd. Ebd. S. 54 Von dieser Struktur ausgehend, soll im Folgenden zuerst die Person Beckmanns betrachtet werden, um danach den Blick auf die von Borchert dargebotene Antwort im personifizierten Gott zu lenken. Beckmann, der einen „Lieben Gott“ zu verstehen versucht… Zunächst bleibt festzuhalten, dass der Protagonist im gesamten Verlauf des Dramas von jeglicher Reflexion über sein Leid distanziert und unberührt bleibt: Beckmann leidet, er leidet existentiell und dieses Leiden - seine Einsamkeit, seine Schuld, sein Hunger und seine Lebensmüdigkeit - ist für ihn so wirklich und nimmt ihn in einer solchen Absolutheit ein, dass er sich nicht einmal im Ansatz davon lösen und gewissermaßen darüber nachdenken kann. Für ihn ist sein Schicksal nicht Problem, sondern unmittelbare und entsetzliche Realität. Zur Theodizee-Frage gelangt er daher nicht von selbst, d.h. aus eigener Reflektion heraus, für die ihm seine Not keinerlei Raum lässt, sondern er wird vielmehr angestoßen durch das Erscheinen eines alten Mannes, der ihn an Gott erinnert. Beckmanns Bemühungen um die Theodizee erfolgt in schrittweiser Steigerung, vom Zusammenprall seines naiven, ungetrübten Gottglaubens mit der Realität bis zur offenen Anklage. Zunächst muss er 54 feststellen, wie leicht es für die „Zufriedenen, die Satten, die Glücklichen“ ist, auf einen guten und schützenden Gott zu bauen, da dieses Gottesbild sich in keiner Weise an der Wirklichkeit, an ihrer Wirklichkeit reibt oder einen Bruch erfährt. Eine unbelastete Lebensrealität scheint das ausschließlich positiv konnotierte Gottesbild gar zu bestätigen und in keiner Weise in Frage zu stellen. Freilich folgt daraus, dass erst die Erfahrung von Leid, das Erlebnis einer defizitären Welt zum Prüfstein des Glaubens wird - eine Erkenntnis, die stark an das alttestamentliche Buch Ijob erinnert. „Ist Ijob ohne 55 Grund gottesfürchtig?“ - muss sich Gott vom Satan fragen lassen, der dadurch eine gewisse Eigennützigkeit und Selbstgefälligkeit von Ijobs Glauben vorwirft. Durch die Erfahrung von Unheil werde sich, so die Spekulation des Satans, Ijobs Gottvertrauen nicht länger bewähren und „er wird dir 56 [Gott] ins Angesicht fluchen“ . Sobald Beckmann zugeben muss: „Ich kenne keinen, der ein lieber 57 Gott ist“ hat sein Glaube und Gottesverständnis bereits eine Erschütterung erfahren: Die ursprünglich Gott zugestandenen Attribute wie Güte oder Gerechtigkeit lassen sich an der Wirklichkeit nicht länger verifizieren, Beckmanns unmittelbare Leiderfahrung scheint seinem Gottesbild von einst zu widersprechen. Diese Unvereinbarkeit, dieses Unverständnis führt folgerichtig in eine kritische Anfrage an die Güte Gottes, die sich nun angesichts der Lebenswirklichkeit bewähren muss und nicht 58 länger als bestehend angenommen werden kann: „Wann bist du eigentlich lieb, lieber Gott?“ . Beckmann hat den Blick von seinem eigenen Martyrium erhoben und versucht, Gott angesichts der Schreckenswirklichkeit des Krieges zu rechtfertigen. Auffallend hierbei ist der kindliche Fragecharakter und die Ansprache an Gott durch „du“, sowie die Anrede „lieber Gott“: Alle Äußerungen dieser Dialogszene mit Gott bezeugen keine radikale Absage an den alten Mann, der vor ihm steht, sondern vielmehr das Bemühen und dem Erhalt des Bezugs, ein verzweifeltes Festhalten oder die Sehnsucht nach Geborgenheit, wie auch die bittende Klage „Wann hast du dich jemals um uns gekümmert, 59 Gott?“ bestätigt. Dennoch: Beckmanns Ringen um Gott steigert sich in einen offenen Vorwurf, die Anklage, das Übel passiv duldend zuzulassen. Der Kriegsheimkehrer weist dadurch Gott nicht die Verfügungsgewalt über das Böse zu oder bringt ihn ursächlich mit existierendem Leid in Verbindung, sondern beklagt vielmehr dessen Schwäche und Ohnmacht angesichts der Radikalität des Leidens - eine auf der einen Seite anklagende, auf der anderen Seite apologetische Aussage, die sich von nun an durch alle Äußerungen Beckmanns zieht. Der „Märchenbuchliebegott“ komme, so Borchert mit „unseren langen 60 61 Listen von Toten und Ängsten nicht mehr mit“ , er sei zu „unmodern“ . Der Protagonist formulieret seine Erklärungsversuche als Vorwurf, aber auch als Entlastung Gottes, der in seinen Augen aufgrund seines hohen Alters und seines Alleinseins völlig überfordert sei mit der Not der Menschen und nur noch schwach und hilflos der Eigendynamik des Leidens zusehen könne, das dem „alten Mann“ längst entglitten sei. Innerhalb seines (menschlichen) Verstehenshorizontes bestätigt er die Aussage 62 Gottes („Ja, das ist es, Gott. Du kannst es nicht ändern“ ) und reiht sie in seine Argumentationsstruktur ein. Beckmanns Bitterkeit und Verzweiflung gipfelt schließlich in dem Glauben, sich besorgt um den hilflosen alten Mann kümmern zu müssen (vgl. S.43),womit er auf diese Weise sein letztes Vertrauen auf eine sinngebende Perspektive im Leben durch Gott dementiert. Gott ist für den leidenden Beckmann „funktionslos“ geworden, die Problematik der Theodizee auf diese Weise aufgehoben. 54 „Draußen vor der Tür“, Wolfgang Borchert S. 41 Ijob 1, 9 56 Ijob 1, 10 57 „Draußen vor der Tür“, Wolfgang Borchert S. 42 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Ebd. 61 Ebd. 62 „Draußen vor der Tür“, Wolfgang Borchert S. 43 55 Festzuhalten bleibt, dass Borcherts Held von einem grundsätzlich positiven Gottesbild nicht abweicht, aber seine Verbitterung nur noch wächst, dadurch dass Gott jeglichen vertrauenswürdigen und sinnstiftenden Anhaltspunkts enthoben ist. Anzumerken sind zudem noch zwei weitere Aspekte bezüglich der Analyse von Theodizee-Bemühen: Durch seinen gesamten Dialogteil zieht sich eine Anklage und Verweigerung der Theologie, wenn z.B. 63 Gott ernüchternd als ein „weinerlicher Theologe“ charakterisiert wird oder er gegenüber den 64 Theologen den Vorwurf formuliert, sie lasse Gott „alt werden“ . Beckmann empört sich auf diese Weise über einen „Apathie-Gehalt“ der Theologie, über ein Argumentieren und Reflektieren „am Leben vorbei“ und verlangt konkret solidarischen Einsatz der Kirche aus der Perspektive des real Leidenden, der eine theoretische Problematisierung von Leid nicht verstehen kann. Ebenso ist der Charakter des Leidens zu definieren, anhand dessen in „Draußen vor der Tür“ die Theodizee reflektiert wird: Beckmann spricht ausschließlich das so genannte „malum morale“, d.h. das vom Menschen selbst schuldhaft gesetzte sittlich Schlechte oder Böse an, nicht das Leid, welches strukturell vom Menschen unbeeinflussbar in der Welt als gegeben existiert. Unter psychologischen Vorzeichen betrachtet, bedeutet dies, dass selbst für menschliche Verfehlungen Gott nicht aus der Verantwortung entlassen und von Beckmann stattdessen erhofft und erwartet wird, dass Gott sanktionierend, abmildernd oder abwendend eingreift, um die Entstehung des „malum morale“ zu verhindern. Diese menschliche Erwartungshaltung, wie sie von Beckmann repräsentiert wird, bildet jedoch einen krassen Widerspruch zu dem Gott, der sich in Borcherts Drama selbst offenbart. Ein Gott, der verstanden werden will… Noch einmal sei an dieser Stelle daran erinnert, dass die Umrisse dieses Gottesbildes allein das Gottesverständnis des Autors durchscheinen lassen und der Gott, wie er sich dem Leser öffnet, als Ausdruck des speziellen Gottesglaubens von Borchert betrachtet werden muss. Dieser „literarische Gott“ tritt im Stück in Gestalt des „Alten Mannes“ auf; es handelt sich hierbei um ein beliebtes anthropomorphes Gottesbild, welches alle vom christlichen Glauben in Gott angenommenen Attribute in sich vereinigt. Bereits die ersten Worte eines Gottes, der um seine 65 leidenden Geschöpfe trauert und sein verzweifeltes „Kind“ Beckmann beweint, zeugen von einem ausschließlich guten und liebenden Gott. Jegliche Spekulation eines von ihm bewusst gesetzten Bösen weist er von sich und leugnet selbst im Ansatz jede ursächliche Beteiligung an der Tragik dieser Welt (vgl. S. 42). In absolutem Kontrast zu einer solchen Annahme steht die Aussage Gottes: 66 „Ich kann es nicht ändern! Ich kann es doch nicht ändern!“ , mit der er seine völlige Einflusslosigkeit und Ohnmacht gegenüber dem sich verselbstständigenden leidverursachenden Verfehlungen des Menschen. Borchert zeichnet einen Gott, der unter Wahrung des menschlichen Freiheitstraumes in den Lauf der Geschichte nicht direkt eingreifen und dabei das so genannte „malum morale“ unmöglich verhindern kann. Der sich an dieser Stelle offenbarende Gott verweigert es, als „deus ex machina“ die 67 menschliche Autonomie durch göttliche Heteronomie zu beschneiden und zu ersetzen; vielmehr will er seinen Menschen die ihnen zugestandene Wesensfreiheit erhalten. 63 Ebd. S. 42 Ebd. S. 43 65 Ebd. S. 42 66 Ebd. 67 Heteronomie: freiwilliger Willensgehorsam gegenüber natürlichen Autoritäten 64 Christa Purschke, „Dort“ In letzter Konsequenz muss er daher auch menschlichen Missbrauch der Freiheit und die Entscheidung des Menschen gegen Gott respektieren - und an diesem Fehlverhalten, an der Abwendung des Menschen, leidet der Gott des Dramas bitterlich. „Keiner glaubt mehr an mich. Du nicht, keiner. Ich bin der 68 Gott an den keiner mehr glaubt“, muss er beklagen und so seine Ohnmacht, seine Abhängigkeit von der Liebe der Menschen eingestehen. Zugleich konstituiert er sich aber, als der Gott, der dennoch existiert, der sich den Menschen anbietet und von ihnen angenommen werden will. Wenn die Menschen sich ihm zuwenden würden, wenn sie ihn hören würden, so scheint Gott zu suggerieren, könnte er ihnen sinngebende Perspektiven eröffnen, Hoffnung stiften und sie begleiten. Nicht er habe sich von der Welt abgewandt und sie der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs preisgegeben, sondern die Menschen sich von ihm, wodurch alles „malum morale“ erst ursächlich entstehe. Borchert zeichnet einen Gott, der an der Sünde der Menschen und mit dem Schmerz der dadurch unschuldig Betroffenen leidet. d) Schlusswort zu einer literarisch geleiteten Reflexion Auch nach dieser werkimmanenten Analyse, die zum Umgang mit der Theodizee-Problematik innerhalb des Dramas untersucht, bleiben darüber hinausgehende Fragen offen, die nach der Vermittlungsintention Borcherts beispielsweise oder die Möglichkeit der Zeittypik. Ansätze zu Antworten, die die Grenzen des literarischen Werkes transzendieren, sollen hier aufgezeigt werden. Unbestritten gelingt Borchert in der Schlussszene von „Draußen vor der Tür“ die authentische Darstellung eines Theodizee-Bemühens, indem er im Dialogteil seines Protagonisten ein erbittertes Ringen um die Bewährung des christlichen Gottesbildes am Maßstab der Wirklichkeit dokumentiert. Seine besondere Dynamik erfährt diese existentielle Auseinandersetzung mit der Gottesfrage als Theodizee-Frage dadurch, dass nicht nur innerlich reflektiert, sondern Gott selbst kritisch angefragt wird. In der literarischen Gestaltung Gottes vermittelt Borchert nicht nur sein Gottesverständnis, sondern lässt die Szene transparenter erscheinen für sein Lösungsangebot zur Theodizee: Auch wenn sich das Bild eines „lieben Gottes“ an der empirischen Wirklichkeit reibt und dessen Plausibilität infrage stellt, fällt es dem Autor schwer, die Güte Gottes oder gar seine Existenz zu leugnen. Der Autor modifiziert das Gottesbild eher in der Hinsicht, dass er diesem die Allmacht abspricht, in menschlichen Freiheitsspielraum und in leidverursachendes Schuldig-Werden direkt einzugreifen, um es so der Tatsache bestehenden Leidens anzupassen. Ein Schritt in den Atheismus fiel Borchert aufgrund seiner Biographie und vor dem konkreten Kriegshintergrund offenbar zu schwer: Obwohl die unbeschreiblichen Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf die Einzelschicksale sicher für viele Einwand und Grund gegen Gottesglauben lieferten und der Glaube zur Bewältigung von Leid und Sinnlosigkeit freilich einbüßte, hielt Borchert womöglich gerade aus den Gründen der Kriegserfahrung und der eigenen Todesnähe an der Existenz eines guten Gottes fest: Menschliche Möglichkeiten, die Negativität des Leidens auszuhalten, wären überfordert, wenn es keinen Gott mehr gäbe. Auch wenn seitens des Autors der Hoffnung auf direkte leidverhindernde Intervention Gottes in der Welt eine Absage erteilt wurde, kann die Existenz eines guten Gottes als sinnstiftender Hintergrund Halt geben, um die Welt nicht der Absurdität preiszugeben. Dies könnte der kleine Hoffnungsschimmer sein, der aus Borcherts finsterem Drama entgegen strahlt. Am Ende bleibt die Frage zu beantworten, ob die Auseinandersetzung mit der Theodizee als Motiv der Literatur einen weiteren Schritt in Richtung einer breit gefächerten und fundierten Reflektion der Theodizee-Problematik darstellt. Dahingehend gilt es anzumerken, dass die Literatur authentische Anstoßpunkte aufzeigen kann, an denen die Theodizee-Frage möglicherweise aufbricht und die der Leser nie erfahren konnte, wie in Borcherts Drama das Kriegserlebnis. Ebenfalls ist es ihr möglich, differenzierte Arten der Auseinandersetzung mit diesem Dilemma zu vermitteln, anhand derer der Außenstehende seinen Weg der Reflektion erweitern, modifizieren oder auch fundieren kann. Literatur kann eine religionsphilosophische Frage ebenso gut erläutern, debattieren und reflektieren wie ein darstellender Sachtext und zudem die alltagstheologische Verortung der Theodizee-Frage im Leben häufig authentischer und näher verdeutlichen, an der nie vorbeiargumentiert werden darf. Gerade im 68 „Draußen vor der Tür“, Wolfgang Borchert S. 42 Hinblick auf die Erweiterung des eigenen Verständnises und Reflexionshorizontes ist die Beschäftigung mit der Theodizee im Spiegel der Literatur sicher ein mühevoller, aber in jedem Fall lohnender Schritt. B VI. Die Theodizee-Frage im Alten Testament - Das Buch Ijob 1. Leiderfahrungen der Bibel - wesentliche Grundaussagen Vom Menschen wird Leid als das Desintegrierte, das Widernatürliche zur grundsätzlich guten und sinnstiftenden Weltordnung Gottes wahrgenommen - die Heilige Schrift bezeugt jedoch das Gegenteil: Menschliche Not steht in keiner Weise im Widerspruch zur Bibel, sondern erweist sich vielmehr als integraler Bestandteil derselben. Leid und Unglück werden als Teil der Schöpfung, als Teil der menschlichen Existenz dargestellt. Dass bereits die Bibel Leiderfahrungen kennt, stellen diese den christlichen Glauben nicht in Frage - eine Aussage von besonderer Relevanz, die insbesondere Professor Ludger Schwienhorst-Schönberger vertritt, da gerade immer wieder dazu geneigt wird, das Leid und die Heilige Schrift als das Unvereinbare anzunehmen. Ist die Theodizee somit aufgebrochen, ist ihr Dilemma aufgelöst? Auch wenn wir Leid nun als Bestandteil der Bibel betrachten können, steht weiterhin die Aussage im Raum: „Gott ist die 69 Liebe“ . Die Widersprüchlichkeit zwischen dieser Annahme eines guten, lieben Gottes und dem Leid der Menschen bleibt noch immer bestehen, auch wenn diese Teil der Heiligen Schrift sind, ist die Theodizee nicht beantwortet. Aber die Bibel führt uns ein anderes Verständnis der Aussage „Gott ist Liebe“ vor Augen: Gottes Liebe führt nicht am Leid vorbei, sondern aus dem Leiden heraus, Gott bewahrt die Menschen nicht vor Not und Schmerz, sondern hilft, es zu bestehen. So wie Gott sein Volk aus Ägypten heraus und sicher durch die Wüste führte, eröffnet Gott den Menschen im Glauben, in seinem Sohn, der mit ihnen solidarisch mit-leidet, einen Weg aus der Not heraus. Auf diese Weise will die Heilige Schrift die Liebe Gottes verstanden wissen: Nicht als Weg am Leiden vorbei, sondern aus dem Leid heraus. Unter diesem Gesichtspunkt soll auch die folgende Auslegung des Ijob-Buches erfolgen: Gott bewahrt seinen untadeligen Diener Ijob nicht vor seinem Unglück, aber in größter Not hilft diesem sein unbedingtes Gottesvertrauen und seine Glaubensgewissheit, sie zu bestehen. Willi Jaeckel, „Ijob“, Lithographie von 1917 2. Das Buch Ijob a) „Im Lande Uz lebte ein Mann…“70 - Der Inhalt Ein Gespräch im Himmel zwischen Gott und dem Satan bildet Hintergrund und Voraussetzung des Ijob-Geschehens: Der Satan behauptet, der Gottesglaube des Ijob, eines „untadeligen“ und rechtschaffenen Mannes, sei eigennützig und bewähre sich nur, so lange Gott ihn beschütze. 69 70 1.Joh. 4, 16 Ijob 1, 1 William Blake, „Satan schüttet die Plagen über Ijob aus“, 1826 Er fordert Gott zu einer Prüfung der Glaubensfestigkeit seines Dieners heraus, wozu dieser einwilligt und Ijob dem Satan überlässt, unter der Bedingung, das Leben des Mannes zu schonen. Von nun an wird Ijob von schrecklichem Leid getroffen, welches zuerst seinen Besitz, seine Diener und Kinder trifft und später in gesteigerter Form sogar ihn selbst. Ijobs Reaktion jedoch bestätigt den Verdacht Satans nicht, denn er bleibt trotz allem der gottergebene Duldende: „Der Herr hat gegeben, der Herr hat 71 genommen, der Name des Herrn sei gepriesen“ . Nach einem Besuch seiner Freunde, welche Ijob theologisch fundierte Deutungsangebote, basierend auf der traditionellen Vergeltungslehre, darlegen, bricht die Klage über die Sinnlosigkeit seinen Leidens und die Anklage gegen Gott aus ihm heraus, die jedoch trotz allem im Unschulds- und Glaubensbekenntnis Ijobs gipfelt: „Ich aber weiß, mein 72 Erlöser lebt“ . In dieser Situation öffnet sich Gott (Jahwe) Ijob und tadelt zugleich dessen Freude: Ijob muss erkennen, dass er ohne Einsicht gesprochen hat, und erfährt den Ausweg aus seinem Leid: „Gott schauen“. Am Ende wird Ijob von Gott wieder hergestellt und erhält das zurück, was der Satan zerstört hat. Nach aller Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei dem Ijob-Buch um eine fiktionale Erzählung: Ijob wird zum Bedeutungsträger. Dem Ijob-Geschehen liegt folgende strenge Gliederung zugrunde: I Prolog II Dialog III Epilog Der mittlere Dialogteil kann jedoch noch weiter unterteilt werden, wie folgendes Schema beweist: - Ijobs Monolog: Klage - Gespräch mit Freunden (3 Redegänge) - Ijobs Monolog: Herausforderung Gottes - die Elihu-Reden - zwei Reden Jahwes und Ijobs Antworten Prolog und Epilog sind hierbei in Prosa verfasst, während der Dialogteil in Poesie gehalten ist. Form, Sprache und Inhalt deuten darauf hin, dass das Buch Ijob nicht von einem Autor, sondern in einer längeren Entstehungszeit verfasst wurde, die die meisten Exegeten auf das 6 - 2 Jhd. v. Chr. festlegen. Ein dreiphasiges Entstehungsmodell unterscheidet zwischen der ältesten 71 72 Ijob 1, 21 Ijob 19, 25 Rahmenerzählung, welche in zwei Schritten um den Dialogteil und später um die Elihu-Reden erweitert wurde. b) Interpretation/Auslegung ausgewählter Textstellen - Der biblische Ijob 73 „Im Lande Uz lebte ein Mann mit Namen Ijob. Dieser Mann war untadelig und rechtschaffen, er 74 fürchtete Gott und mied das Böse“ Mit diesem Portrait des Ijob wird die Erzählung eingeleitet, indem dieser als gottergebenen und glaubensstarken Mann beschrieben und weiterhin seine familiären und wirtschaftlichen Verhältnisse hervorgehoben werden. Neben „7.000 Stück Kleinvieh, 3.000 Kamelen, 500 Rinder, 500 Eselinnen 75 und einer großen Dienerschaft“ sind Ijob 7 Söhne und 3 Töchter geboren. Diese reiche Nachkommenschaft ist vor dem Hintergrund der altisraelitischen Gesellschaft als besonderer Segen zu verstehen, sichern sie doch das Auskommen der Eltern im Alter und den Fortbestand der Familie. Zum Namen Ijob sei anzumerken, dass die Einheitsübersetzung ihn mit Ijob wiedergibt, während die lateinische Bibelübersetzung die Schreibweise Job verwendet und Martin Luther von Hiob schreibt. Als ein Mann voll innerer Gottesfurcht und äußerer Vollkommenheit wird Ijob zum Angriffsziel des Satans und Gegenstand von dessen Prüfung. - Leid als Prüfstein des Glaubens 76 “Ist Ijob ohne Grund gottesfürchtig? Beschützt du ihn nicht, sein Haus und alles, was ihm gehört, von allen Seiten? (…) Aber steck doch deine Hand aus und rühr alles an, was ihm gehört. Wahrhaftig, er 77 wird dir ins Angesicht fluchen!“ Dies sind die Worte des Satans, der behauptet, Ijobs Glaube sei eigennützig und im Grunde wertlos, da er nur in guten Zeiten der Unversehrtheit Bestand habe, und daher leicht entgegengebracht werden könne. In der Notsituation aber und schweren Zeiten würde sogar Ijob, der gottergebene Diener, von seiner Glaubensgewissheit abfallen, dann nämlich, wenn er von seiner Gottesfurcht nicht länger selbst profitiere. Ein derartiges Argumentationsmuster, wie es der Satan hier anführt, verweist auf menschliche Schwächen und ist sicher auch heute noch vielen nicht fremd: Wie leicht fällt es uns doch, auf Gott zu vertrauen und zu glauben, solange wir glücklich sind, gesund und von keinerlei existentiellen Sorgen belastet? Schließlich gibt es keinen unmittelbaren Grund, Gottes Güte in Frage zu stellen. Sobald der Alltag, unsere Existenz, allerdings brüchig wird, wird unser Glaube erschüttert, Zweifel an der Gerechtigkeit Gottes kommen auf und wir beginnen, kritische Fragen aufzuwerfen: Warum bin ausgerechnet ich von Leid betroffen? Wie kann eine guter Gott seine Menschen leiden lassen? Auch Wolfgang Borchert greift diesen Gedanken auf, indem er seinem Protagonisten Beckmann folgende Worte in den Mund legt: „Die im Sonnenschein gehen, verliebt oder satt oder zufrieden (…), 78 die können sagen: Lieber Gott! Lieber Gott! , er jedoch, der gebrochene Kriegsheimkehrer Beckmann, kann Gott nur noch schwerlich als „lieben Gott“ anreden. Leid und Schmerz werden folglich zur stärksten Herausforderung für den Gottesglauben des Menschen, da sie den härtesten Einwand gegen die Güte und Liebe Gottes darstellen. Auf diese Angreifbarkeit, auf diese Verwundbarkeit des Glaubens durch Leiderfahrung, greift nun der Satan des Ijob-Buches zurück: Leid wird zum „Prüfstein des Glaubens“ Im weiteren Verlauf der Himmelsszene willigt Gott, überzeugt von der Unerschütterlichkeit des Glaubens Ijobs, ein, die Treue seines Dieners zu prüfen, und legt alle Lebensumstände Ijobs, außer ihn selbst, in die Hand des Satans. Auch an dieser Stelle sei eine etymologische Namenserklärung hinzugefügt: Der hebräische Ausdruck „Satan“ bedeutete ursprünglich in säkularem Sinne „sich anfeinden, feindlich gesinnt sein“, wandelte sich jedoch in der Zeit des Exils (586 - 538) zur Funktionsbezeichnung des himmlischen Anklägers. Die griechische Entsprechung „diabolos“ kann am ehesten mit der Übersetzung „derjenige, der Zerwürfnis stiftet“ wiedergegeben werden. Und in diesem Sinne erhellt die Übersetzung die 73 Ijob 1, 1-5 Ijob 1, 1 75 Ijob 1, 3 76 Ijob 1, 6-12 77 Ijob 1, 10-11 78 „Draußen vor der Tür“, Wolfgang Borchert S. 41/42 74 Ijob-Erzählung: Der Satan versucht, zwischen Gott und Ijob ein Zerwürfnis zu stiften. - Ijob, der Duldende 79 Eine weitere Schlüsselszene beschreibt die Reaktion auf die Prüfung des Satans. Von schrecklichen Unglücksfällen - dem Tod seiner Kinder und wirtschaftlichen Ruin - die ihm alle durch Boten (→ „Hiobsbotschaften“) überbracht werden, heimgesucht, bleibt Ijob dennoch seinem Glauben treu. Nach vollzogenen Riten der Trauer, spricht er einen Lobpreis auf Gott, durch den er nicht nur den gebenden sondern auch den nehmenden Gott ergeben anerkennt: „Der Herr hat gegeben, der Herr 80 hat genommen, der Name des Herrn sei gepriesen“ . Unverzichtbar bleibt dabei die Anmerkung, dass Ijob von der vorausgegangen „Wette“ nichts weiß. Jegliche gegen Ijob gerichtete Argumentation, er könne die Leiden im Bewusstsein einer zeitlich begrenzten „Prüfung“ durch den Satan leicht und ohne Gotteszweifel ertragen, muss daher misslingen. Ijob hat keine Kenntnis davon, dass sein Unglück vom Satan und nicht von Gott verursacht, dass es lediglich Bestandteil einer Prüfung ist. Berechtigung, an der Güte Gottes zu zweifeln und Einwand gegen Gottesvertrauen wäre ihm folglich ebenso gegeben, wie jedem anderen, der Gottes Liebe aufgrund erfahrenen Leidens in Frage stellt. Ebenso könne eingewandt werden, Ijobs Unglück sei allein aus dem Fehlverhalten der Menschen hervorgegangen, das so genannte „malum morale“ also, von dessen Verantwortlichkeit Gott zumindest bedingt freigesprochen werden könne, da es der Sünde des Menschen entspringt. Ijob könnte demnach leicht seinen Glauben erhalten, da er wisse, dass nicht Gott, sondern der Mensch seine Notsituation verursache. Auch dieser Argumentation zu Ungunsten Ijobs muss scheitern. In gleiche Maße, wie Ijob am „malum morale“ leidet, erfährt er das „malum physicum“, das Leid der Natur, welches strukturell und vom Menschen unbeeinflussbar der Schöpfung Gottes innewohnt. In diesem Punkt kann Ijob Gott nur schwerlich aus der Verantwortung entlassen; ebenso Grund genug für die Erschütterung seines Glaubens. Trotz alledem bleibt er der gottergebene Duldende und „stieß 81 keine Verwünschungen aus gegen Gott“ - Vom Scheitern der verschärften Prüfung 82 „Noch immer hält er fest an seiner Frömmigkeit, obgleich du mich [Gott] gegen ihn aufgestachelt 83 hast“. Dieser Triumph Gottes in einer zweiten Himmelsszene, die nahezu wörtlich mit der vorausgegangenen übereinstimmt, ist das zentrale Resümee der bisherigen Handlung. Satans Verdacht hat sich als Täuschung erwiesen, weshalb er eine Verschärfung der Probe fordert, welche Gott ihm ebenfalls, unter der Bedingung, Ijobs Leben zu schonen, zubilligt: Ijob selbst, nicht nur sein Besitz und seine Familie, wird nun von entsetzlicher Krankheit angegriffen. Ohne Klage, ohne ein Aufschrei gegen Gott lässt er auch dieses Leid über sich ergehen: „Das Gute 84 sollen wir annehmen und Gott und das Übel sollen wir nicht annehmen?“ - Ijob dementiert in kaum zu überbietender Deutlichkeit einen eigennützigen Glauben, und bleibt selbst dann standhaft, als seine Frau ihn auffordert, Gott zu verfluchen, da sein Glaube sich doch als nutzlos erwiesen habe. Ijobs Glaubensüberzeugung übersteigt jedes menschenmögliche Maß: Selbst am Tiefpunkt seines Leidens hadert er nicht ein einziges Mal mit Gott. 79 Ijob 1, 13-22 Ijob 1, 21 81 Ijob 1, 22 82 Ijob 2, 1-10 83 Ijob 2, 3 84 Ijob 2, 10 80 - Ijobs Klage 85 Der Dialogteil des Buches eröffnet mit einer großen Klage Ijobs: Er verwünscht den Tag seiner Geburt, allein der Tod bedeutet für ihn noch Erlösung. Ijob, der um seine Unschuld weiß, weint aus der zutiefst verspürten Sinnlosigkeit seines Leidens, weint über die Unerträglichkeit seiner Not und seine Ausweglosigkeit. Er klagt zu Gott und er klagt über Gott, wobei er deutlich anklingen lässt, dass er Gott in der Verantwortung für sein Elend sieht (vgl. Ijob 6,4). Dieser Aufschrei kann als Wendepunkt der Entwicklung Ijobs aufgefasst werden: Von Annahme des Gottgegebenen wandelt sich seine Reaktion in aufbegehrende Klage, selbst der Duldende von einst kann sein Unglück nicht länger schweigend über sich ergehen lassen. Aus den Blickwinken der Psychologie erweist sich Ijobs Verhaltensmuster als ein typisch-menschlicher Ablauf der Reaktionen. Die Tauerforschung hat in diesem Zusammenhang festgestellt, dass auf eine unmittelbare Leiderfahrung zuerst ein einige Stunden oder gar Tage andauernder Zustand der Empfindungslosigkeit folgt, eine Art Gefühlsschock, welcher dem zutiefst getroffenen Menschen jede Werner Habedank: Hiob, Holzschnitt emotionale Reaktion verunmöglicht. Erst daran reiht sich die Phase des Aufbrechens der Emotionen, sobald sich der Mensch des Ausmaßes seines Unglücks voll und ganz bewusst wird. Eine analoge Verhaltensstruktur ist also auch bei Ijob überliefert: Sie ist in keiner Weise als Bestätigung des Verdachts des Satans einzustufen, sondern lediglich als natürlich menschliches Reaktionsverhalten. -Deutungsangebote der Freunde Ijobs Die Ansprache der Freunde Ijobs sind es durchaus wert, näher analysiert zu werden , nicht, weil sie eine Verhaltensänderung Ijobs herbeiführen oder seine Resonanz auf erfahrenes Leid in irgendeiner Weise beeinflussen würden, sondern allein aus dem Grund, dass sie allgemein menschliche Erklärungsversuche widerspiegeln. 86 „Wer geht ohne Schuld zugrunde“ - Diese zentrale Frage verweist auf ein Deutungsmuster, welches aus der theologischen Perspektive als „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ bezeichnet wird. Er besagt, dass es einem Menschen so ergeht, wie er sich verhält. Daraus folgt zwangsweise, dass Leid die Folge menschlichen Fehlverhaltens und der Sünde ist, dass aber untadeliges, rechtschaffendes Verhalten ausnahmslos ein in jeder Hinsicht vollkommenes Leben nach sich ziehen muss. Bereits an dieser kompromisslosen Logik des „Tun-Ergehen-Zusammenhangs“ strauchelt der Mensch: Nur selten entspricht das Ausmaß des Leidens dem Maß der vorausgegangenen menschlichen Schuld; sind Unschuldige, wie Kinder, etwa von Leid und Schmerzen ausgenommen? Und ist es nicht häufig zu beobachten, dass rücksichtslose, böswillige Menschen sich einen einwandfreien Lebensstil erhalten können? Der „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ bleibt lediglich eine Theorie, geboren aus dem Erklärungsbedürfnis des Menschen, und vielleicht auch aus dem Wunsch heraus, die TheodizeeProblematik aufzulösen. Das Leiden einer schuldhaften Person wird in unseren Augen und an menschlichen Maßstäben gemessen für gerechtfertigt oder gar gerecht betrachtet und widerspricht folglich nicht einem guten Gott, der den „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ letztlich aufrechterhält. Im Rahmen des Ijob-Buches bedeutet die Anwendung des „Tun-Ergehen- Zusammenhangs“,dass Ijob leidet, weil er gesündigt hat, was von den Freunden nicht als direkten Vorwurf formuliert, sondern vielmehr als Frage und möglichen Erklärungsangebot in den Raum gestellt wurde. Ijobs Antwort jedoch ist überwältigend: Der traditionelle Vergeltungsglaube ist unvereinbar mit seinem persönlichen Schicksal. Er hält weiterhin überzeugt an seiner Unschuld, an seiner Rechtschaffenheit fest und stößt sich an einem Gott, der den Gerechten schlägt, freilich ohne sich trotz dieses Unverständnisses auch nur im geringsten von seinem Glauben zu distanzieren, wie die folgende zentrale Stelle des Ijob-Buches beweist. 85 86 Ijob 3, 1-10 Ijob 4, 7 Marc Chagall, „Hiob in der Verzweiflung“, 1960 - „Ich aber weiß: Mein Erlöser lebt!“ 87 Zweifellos ist dies der bekannteste Vers des Ijob-Buches, der bereits eine enorme Wirkungsgeschichte entfaltet hat. Eine vierzeilige Versgruppe des 19. Kapitels bündelt das zentrale Vertrauensbekenntnis des biblischen Ijobs zu Gott und zugleich die Gewissheit, dass er trotz seiner Klage zu und über Gott von seiner früheren Glaubenssicherheit keinen Moment abgewichen ist: „Ich aber weiß: Mein Erlöser lebt! Als letzter erhebt er sich über dem Staub. Ohne meine Haut, die so zerfetzte, 88 und ohne mein Fleisch werde ich Gott schauen“ . Der Erlöser, an den Ijob zutiefst glaubt, ist Gott selbst, in ihn gründet er all seine Hoffnung. Noch auf dem Höhepunkt irdischer Not, verleiht er an dieser Stelle seinem Vertrauen zu Gott, seinem Glauben durch ein eindrucksvolles Bekenntnis zu seinem Erlöser Ausdruck. Gerade dadurch dass er sich auf Gott mit dem Wort „Erlöser“ bezieht, bezeugt er sein Glauben, der hier bereits in „Wissen“ übergeht, dass Gott ihn erlösen, dass er ihn von allen Leiden befreien wird. Ijob stellt sein Gottesglauben nicht in Frage, sondern bekräftigt seine unbedingte, selbst im Leid noch durchgehaltene Treue. Dieser an Überzeugungskraft unmöglich zu überbietende Ausruf schließt aber auch einen Prozess der, allerdings nur bedingten, Wandlung seines Gottesbildes ab. Marc Chagall, „Der betende Hiob“, 1960 Vor seiner Leiderfahrung war Gott für Ijob der ausschließlich „gute und gerechte“ Gott, im Leid tritt eine weitere Komponente hinzu, die jedoch die erstere in keiner Weise entkräftet: die ursächliche 87 88 Ijob 19, 25 Ijob 19, 25 Beziehung zwischen Gott und dem Leiden des Menschen. Jetzt überspannt das Bekenntnis zu seinem Erlöser beide Größen - die Wirklichkeit des Erlösergottes wird zum wichtigsten und letzten Wesenszug Gottes. Selbst, wenn der „gute und gerechte“ Gott die Leiden Ijobs zulässt, wird er ihn wieder erlösen; von dieser Gewissheit zehrt Ijob, sie erhält seinen Glauben selbst in Notsituationen. Die Erlösung liegt für Ijob darin, „Gott (zu) schauen“ - eine Erlösung, die für ihn freilich noch nicht Wirklichkeit wurde, aber die ihn hoffen und glauben lässt. - Die Elihu-Reden Noch einmal meldet sich ein Freund Ijobs zu Wort, Elihu, von dem der Leser bisher nichts erfahren hat: Obwohl Ijob gerade in einem eindrucksvollen Bekenntnis seine Hoffnung auf Erlösung durch Gott artikuliert hat, geht dieser noch auf die zuvor immer wieder und in vielfältigen Variationen vorgetragene Klage Ijobs ein, warum Gottes Antwort ausbleibt. Elihu bietet Ijob eine überraschende Deutung: Gott wendet sich im Verborgenen den Menschen zu, er schweigt nicht, sondern spricht zu ihnen, es sind vielmehr die Menschen, die sein Wort nicht beachten. Elihu erbringt das „Modell einer therapeutischen orientierten spirituellen Theologie“, ein Trost, aber auch eine Aufforderung an Ijob, noch bevor er von Gott selbst unterbrochen wird. - Die Jahwe-Reden In zwei langen Ansprachen wendet sich Gott nun direkt an Ijob. Allerdings leitet die Bibel diese Reden nicht als die Worte Gottes, sondern als die des Jahwe ein. Dieser Wechsel von der Gottesbezeichnung zum Gottesnamen Jahwe ist bereits Hinweis und eine Antwort auf die Klage Ijobs. In Exodus 3, 14 offenbart Gott dem Mose die Bedeutung seines Namens: „Ich bin der: Ich-bin-da“, und dies ist der Kern biblischer Gotteserfahrung: Gottes Wesen ist Da-sein, ein Da-sein, das allerdings nicht verfügbar ist. Diese Anspielung ist Trost und Aufrichtung für Ijob: Gott ist gegenwärtig, auch wenn er dem Menschen, wie in Leidsituationen, verborgen ist. Der weitere Verlauf der Gottesreden allerdings verwirrt. Wie kann ein Vortrag über die Entstehung der Erde, über Ordnung und Wesen der Welt den leidenden Ijob trösten? Der Schlüsselsatz zum Verständnis dieser Antworten ist folgender: „Wer ist es, der den Ratschluss verdunkelt 89 mit Gerede ohne Einsicht?“ Abzielend auf Ijob bedeutet diese Aussage: Jahwe führt Ijob sein Nicht-Wissen vor Augen, er konfrontiert ihn aufs härteste damit, dass alles irdische Wissen in Bezug auf Gott nur vermeintlich ist. Der schmerzvolle und langwierige Prozess der Bewusstwerdung des eigenen Nichts-Wissens, der Einsicht Ijobs dauert an, solange Gott zu ihm spricht. Als die Worte Gottes verstummen, hat Ijob eine Wahrnehmungsveränderung durchlaufen, einen veränderten erweiterten und aufgeklärten Bewusstseinszustand erlangt. Davon, von dieser inneren Wandlung ausgehend, könnten die Antworten Jahwes verstanden werden: Gott hilft, Leid zu bestehen, er zeigt einen Weg durch das Leid hindurch. Obwohl sich an der äußeren Realität, an der Wirklichkeit des Leidens nichts ändert, kann das Leiden durch Veränderung des inneren Bewusstseins bestanden werden. Genau wie Ijob von fälschlicher Wahrnehmung zur Einsicht in sein eigenes Unvermögen gelangt, muss die zum Leid unangebrachte Einstellung, die klagende, an Gott zweifelnde Haltung, überwunden werden. In welcher Richtung diese innere Bewusstseinsveränderung verlaufen soll, zeigt der folgende Abschnitt als Lösung des Ijob-Buches. Zudem kann gerade in Bezug auf das Verständnis der Jahwe-Reden angemerkt werden, dass Ijob auch die von Gott beschriebene Weltordnung, das Leben nicht länger als sinnentleert und finster (vgl. Ijobs Klage) wahrnehmen soll. Stattdessen wird er aufgefordert, die Welt und das Leben in sinnstiftendem Verweis auf Gott anzuerkennen und sich darüber klar zu werden, dass alles, die guten Seiten seines Lebens wie schwere Zeiten, seine gesamte Existenz auf Gott hin bezogen ist. 89 Ijob 38, 2 - Gott schauen 90 Rainer Oberhansli-Widmer, „Hiob-Hiob-Hiob“ „Von Hörensagen nur hatte ich von dir vernommen; jetzt aber hat mein Auge dich 91 geschaut“ Dies ist die Lösung, die das Ijob-Buch anbietet, und zugleich die Bewusstseinsveränderung, auf die die Jahwe-Reden metaphorisch anspielen. Ijob kontrastiert an dieser Stelle in Bezug auf die Wahrnehmung Gottes die beiden „Gotteserfahrungen“ durch „hören“ und „schauen“, auch sein eigenes „hören“ von einst und sein „Schauen“ der Gegenwart. Gott zu „hören“ bedeutet eine äußere, passivaufnehmende Wahrnehmung Gottes, beispielsweise die Aufnahme von Gotteswissen, welches narrativ durch Tradition vermittelt wird. Gott zu „schauen“ bezieht sich dagegen auf einen inneren Vorgang aktiver Einsicht, welcher mit einer Bewusstseinserweiterung einhergeht. Mit dem Ausdruck des Gott-Schauens wird eine existentielle Gotteserfahrung aufgegriffen, beispielsweise die Erfahrung der Anwesenheit Gottes selbst im Leid, so wie Ijob sie erleben darf. Nicht verwechselt werden darf dieses „Schauen“ allerdings mit einem äußeren Sehen von Gottesbildern: Es ist ausschließlich Metapher für einen inneren Vorgang. In tiefstem Leid hat Ijob in einem einzigartigen Vertrauensbekenntnis seine Gewissheit ausgedrückt: 92 „Ich aber weiß: Mein Erlöser lebt“ (…) ich [werde] Gott schauen“ . Diese Hoffnung ist nicht enttäuscht worden: Ijob darf die Anwesenheit Gottes existentiell erfahren. Das Ende des Buches Ijob bezeugt auch seine äußere Wiederherstellung: Ijob erhält nicht nur seine Kinder, sondern auch seinen materiellen Besitz zurück. Erst viel später stirbt er hochbetagt und satt 93 an Lebenstagen“ c) Die Botschaft des Buches Ijob Das alttestamentliche Buch Ijob behandelt das Menschheitsthema Leid, nicht theoretisch, sondern persönlich und existentiell in der Person des Ijob. Es will keine Antwort auf die „Frage nach dem Leid“ geben, menschliches Leiden nicht abstrakt problematisieren, sondern vielmehr die Thematik des Umgangs mit dem Leid, das Verhalten im Leid ansprechen. Daher macht der Verfasser dieser Erzählung nicht nur grundlegende Aussagen über den Menschen, sondern auch über Gott: „Gott führt den Menschen nicht am Leid vorbei, sondern weist ihm den einen Weg aus dem Leiden heraus“, scheint die zentrale Botschaft zu sein, die die Bibel an dieser Stelle durch das Buch Ijob wiedergibt. Gott liebt seinen rechtschaffenen Diener Ijob und lässt dennoch zu, dass ihm durch den Satan Unheil widerfährt genau wie Gott die Menschen liebt und sie dennoch nicht vor allem Leid bewahrt. Ob in diesem Zusammenhang die aus dem IjobBuch abgeleitete mögliche Aussage, dass Gott bewusst Leiden in die Welt integriert, um den Glauben der Menschen zu prüfen, gehalten werden kann, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden. Genau wie das Buch Ijob seinen Schwerpunkt auf die Frage nach dem Bestehen des Leids setzt, soll sich die Auslegung vielmehr auf die Grundaussage des Buches konzentrieren: „Gott führt aus dem Leid heraus“. In den beiden Jahwe-Reden am Ende des Dialogteils bezeugt Gott eindrucksvoll seine Anwesenheit, indem er sich dem Leidenden direkt offenbart. Wie der Gottesname bereits 90 Ijob 42, 1-6 Ijob 42, 5 92 Ijob 19,25-26 93 Ijob 42, 17 91 suggeriert, wendet sich Gott den Menschen zu, er will von ihnen erhört und angenommen werden, er bietet sich ihnen an, und seine Nähe kann erfahren werden, solange sich der Mensch nicht von Gott abwendet. Die Aussage, die das Ijob-Buch über den Menschen macht, lehnt sich an Ijob als zentrale Person und Bedeutungsträger. Gleich zu Anfang bezeugt der Satan, dass Leiden für Ijob und so für jeden Menschen zur härtesten Herausforderung seines Gottesglaubens werden wird: Leiden gilt als der „Prüfstein des Glaubens“, im Leiden muss sich der Glaube bewähren und festigen. Redlich-Kocks, „Hiob“ Ijob ist Abbild des „leidenden Gerechten“, weshalb die traditionellen Antworten auf die Sinnfrage des Leidens, welche Leid als die Folge menschlicher Schuld interpretieren, bereits am alttestamentlichen Ijob scheitern und sie zudem von Gott in keiner Weise legitimiert, sondern eher getadelt werden. Selbst im Moment äußerster Not weicht Ijob nicht im Geringsten von seiner Glaubensfestigkeit ab, auch wenn er zu und über Gott klagt, auch wenn sich sein Verstand an einem Gott stößt, der Gerechte und Unschuldige leiden lässt. Ijob verharrt im Glauben und durchlebt sein Leid in der Hoffnung, ja gar in der Gewissheit auf Erlösung. Selbst in seiner äußersten Krise, in der er nach dem Sinn seines Leidens fragt, ist Ijob ein Glaubender geblieben und nur auf diese Weise kann er die Zeit des Leidens überstehen. Am Ende erhebt sich sein Verhältnis zu Gott gar auf eine neue Ebene: Vom bedingungslosen Glauben, der Hoffen, Vertrauen, ja nahezu Gewissheit ist, zum Schauen Gottes, der existentiellen Erfahrung der Nähe Gottes im Leid. Ijobs äußerer Zustand erfährt keine Veränderung, sein Leid besteht in all seiner Radikalität weiter. Es ist vielmehr der Mensch, der ein 94 anderer wird, dessen innere Transformation nach dem „Schauen Gottes“ ihm die Kraft und Gewissheit gibt, das Leid bestehen zu können. Daher lautet der Appell des Ijob-Buches an den Menschen: Auch wenn sein Verstand im Leiden keine Befriedigung erfährt (da der Mensch sich mit der Theodizee auseinandersetzt, ebenso wie sich Ijob am unschuldigen Leiden reibt), muss der Mensch im Glauben verharren. Das Buch Ijob bezeugt den Glauben eindrucksvoll als einen Weg durch das Leid, als einen Weg aus dem Leid. 94 Transformation: Umformung, Umwandlung, Umgestaltung C I. Dokumentation der methodischen Vorgehensweisen und Arbeitstechniken a) Motivation Als uns zu Beginn der 11. Klasse der Wettbewerb „Christentum und Kultur 2007/2008“ vorgestellt wurde, zog ich sofort in Erwägung, daran teilzunehmen. Er sprach mich besonders deshalb an, weil die Arbeitsweise, die Thematik und überhaupt die Art der Darstellung offen gelassen und genügend Freiraum für eigene Ideen und eigene Gestaltung gewährt wurde. Der Wettbewerb regte dazu an, eigenverantwortlich an einem selbst gewählten Thema zu arbeiten und sich über längere Zeit mit Dingen auseinanderzusetzen, die Jugendliche interessieren wofür gerade im Schulalltag häufig keinen Platz mehr bleibt. Persönlich war für mich wichtig, nicht nach vorgelegtem Konzept arbeiten zu müssen und eine bereits festgelegte Thematik unter von vornherein fest definierten Gesichtspunkten zu untersuchen, sondern mich eigenständig für einen Aufgabenbereich entscheiden zu können, diesen selbst zu konzipieren, zu gestalten und auszuarbeiten. Natürlich war mir bewusst, dass diese Art der Vorgehensweise ein hohes Maß an Kreativität, Ausdauer und Eigenverantwortung erfordern würde, aber ich betrachtete es als eine Herausforderung, die ich entschlossen war, aufzunehmen. Nach der ersten Euphorie kam dann die nüchterne Überlegung, dass ich aufgrund meines Zeitplans im nächsten Jahr, welcher mit Nachmittagsunterricht, Unterrichtsstunden zum Erwerb des Führerscheins, Nachhilfe für einen jüngeren Schüler sowie einem geplanten Ferienjob in den Sommerferien schon ziemlich ausgereizt war, wohl doch lieber von einer Teilnahme absehen sollte. Dennoch ließ mich die Sache nicht los, und ich beschloss, eine abschließende Entscheidung von der Themenfindung abhängig zu machen. Dass ein Bereich, mit dem ich mich über ein Jahr hinweg so intensiv auseinandersetzen würde, zu meinen Interessenschwerpunkten gehören musste und echte Wissbegierde erforderte, war mir bewusst. Gerade deshalb entschied ich mich, im Rahmen dieses Wettbewerbs Antwort auf eine Frage zu suchen, die mich seit längerer Zeit beschäftigte, und meine Arbeit dafür zu nutzen, mich mit einer Problematik auseinanderzusetzen, die immer wieder, selbst im Alltag, angestoßen wird und daher immer aktuell ist: „Wie kann eine guter Gott zulassen, dass so viel Leid in der Welt existiert?“ Es war eine Frage, auf die ich täglich in irgendeiner Weise traf, selbst, wenn ich am Abend in den Tagesthemen sah, dass beispielsweise eine Naturkatastrophe wieder einmal die Ärmsten der Armen nicht verschont hatte, eine Frage, die sich jeder stellen konnte und bei der jeder um eine Antwort ringt. Auch ich bemerkte bei solch einer Konfrontation mit der Thematik in mir eine Mischung aus Unverständnis, Enttäuschung, vielleicht sogar Zorn oder Ablehnung und musste zugeben, dass sich dazu immer mehr Fragen auftürmten. So hoffte ich letztendlich auch für mich in diesem Dilemma Klarheit zu gewinnen auf die Frage: Stehe ich aufgrund all dessen eigentlich noch hinter meinem Glauben,- wo stehe ich eigentlich? Der Wettbewerb wurde für mich somit auch zur Chance, mich vor einer wichtigen Entscheidungsfindung zeitlich und sachlich ausführlich mit der Thematik beschäftigen zu können. Meine Motivation, mich mit diesem Thema zu befassen war somit auf der einen Seite eine ganz persönliche, auf der anderen Seite die dramatische Aktualität dieser Problematik, die nie verblassen würde. An dieser Stelle erst erfuhr ich, dass meine Frage, die an so verschiedenartigen Situationen aufbrach, eine der Kernfragen des christlichen Glaubens war und einen eigenen Namen trug: Die Theodizee-Frage. So entschied ich mich jetzt endgültig zur Teilnahme am Wettbewerb und dafür, den Ferienjob auf das nächste Jahr zu verschieben, da ich aufgrund der oben genannten Gründe die Hauptarbeit zu meinem Beitrag in die Sommerferien legen wollte. b) Arbeitsweise Dass die Aufarbeitung einer derartigen religionsphilosophische Frage unvergleichbar schwieriger ist, als die Darstellung eines Sachthemas, wurde mir bereits in den Anfängen meines Arbeitens bewusst. Eine solche Problemstellung verlangt nicht allein reine Analyse, reine Dokumentation oder lediglich die Beschreibung eines „Ist-Zustandes“, sondern sie erfordert darüber hinaus eigene Reflexion und kritische Auseinandersetzung. Mir wurde schnell klar, dass ich zu diesem Aspekt nicht einfach „nur“ recherchieren, mich informieren und gefundene Ergebnisse wiedergeben konnte - eine derartige ausschließlich rezitierende Arbeitsweise würde zu kurz greifen und der Komplexität meines Themas weitaus nicht gerecht werden. Zu Beginn fühlte ich mich daher schnell überfordert: Ich spürte, wie diese Frage mich selbst ansprach, an mich gerichtet war und mich selbst herausforderte. Gerade daher konnte meine Arbeit keinesfalls ausschließlich darin bestehen, Tatsachen und Fakten aus literarischen und religiösen Quellen wiederzugeben. Die Frage nach einem guten Gott angesichts des Leidens der Menschen verlangte einen Schritt mehr, gewissermaßen zusätzlich auf einer höheren Ebene zu arbeiten. Obwohl ich mir dessen recht schnell bewusst wurde, bestand die erste Phase meines Arbeitens aus langwierigen Überlegungen, aus kritischem Nachdenken bezüglich einer Möglichkeit, wie ich mich dieser religionsphilosophischen Frage im Rahmen meiner Wettbewerbsarbeit am ehesten annähern konnte, um ihrem hohen Anspruch gerecht zu werden. Da dieser Anspruch wie gesagt insbesondere auch an mich selbst gerichtet war, entschloss ich mich dazu, meine Arbeit in zwei Teile zu gliedern, um beiden methodischen Vorgehensweisen, die der persönlich-reflektierten Gestaltung und die der Analyse und Dokumentation, Raum zu bieten. Ich entschied mich folglich also für eine ganz besondere Arbeitsweise. Im ersten Teil wollte ich die angesprochene Problematik selbst reflektieren und eine literarische Aufbereitung wagen, während der zweite Teil aus einer möglichst umfassenden und differenzierten Annäherung in Form von Analyse und Darstellung von verschiedenartigen Quellenmaterial bestehen sollte. Dabei war es mir besonders wichtig, dass der oben angesprochene erste Teil dem zweiten vorausgehen sollte: Bevor ich überhaupt fremdes Material, fremde Antworten und Darstellungen lesen bzw. bearbeiten wollte, hatte ich vor, eigene Gedanken, das Ergebnis selbstständigen Nachsinnens zu Papier bringen. Ich bemühte mich folglich um keine Literatur, näherte mich keinem Quellenmaterial, bevor ich nicht meine eigenen Überlegungen zu Ende geführt und niedergeschrieben hatte! Mein derartiges Vorgehen war ein Experiment: Würde ich meine Betrachtung, meine mögliche Antwort ändern, modifizieren, umformulieren, nachdem ich theologisch und philosophisch fundierter Quellenmaterial sichten würde? Müsste ich das Resultat meines Nachdenkens einschränken oder gar ganz widerlegen, falls ich zur Ansicht kommen würde, dass meine Anschauungen letztendlich wertlos seien? Oder würden sie sich, zumindest in Ansätzen, mit denen der Theologen decken und übereinstimmen, sodass ich sie fundieren und ausbauen konnte? Um all dies beantworten zu können, müsste ich eigene Gedanken möglichst umfassend, möglichst detailliert festhalten. Ich wählte, wie bereits erwähnt, die literarische Aufbereitung, das heißt ich wollte meine Thematik in Form eines kleinen literarischen Werkes eigenhändig analysieren. Meine anfängliche Begeisterung wurde bald auf eine harte Probe gestellt, als verschiedenartige literarische Rahmen zur Ausgestaltung meiner Thematik andachte und wieder verwarf, als ich die Anfänge mehrerer „Hintergrunderzählungen“ niederschrieb und bis zu zehn Seiten, eine halbfertige Erzählung, im Papierkorb landete, weil ich feststellte, dass der literarische Rahmen sich zur Aufbereitung meines Themas doch nicht eignete, zu sehr ablenkte oder unglaubwürdig war. Herausforderung und Zeitaufwand waren dermaßen groß, dass ich immer wieder daran zweifelte, den richtigen Weg gewählt zu haben und mich fragte, ob ich denn beide Dinge zugleich, eine Erzählung und eine religionsphilosophische Problematik, bearbeiten konnte. Trotz allem habe ich mich nach reiflichen Überlegungen, bei denen so viele Fragen und Schwierigkeiten aufbrachen, die ich hier gar nicht alle erwähnen kann, letztlich dann doch dazu durchgerungen, mich dem Thema in Form von Kurzgeschichten und Gedichten zu nähern. Dies hatte den Vorteil, die Problematik von mehreren Seiten reflektieren zu können und verschiedene stilistische Mittel zum Tragen kommen zu lassen. Zudem denke ich, dass sich auf diese Weise auch der Leser leichter und gezielter zum Nachdenken anregen lässt, als durch eine seitenlange Erzählung bei der man als Verfasser doch sehr auf der Hut sein muss, dass diese nicht ermüdend wirkt und ihre Aussagekraft verliert. Dennoch hatte ich auch beim Abfassen der Gedichte bzw. Kurzgeschichten einige Niederlagen zu verzeichnen. So empfand ich einmal das Niedergeschriebene als zu kitschig, das andere Mal fehlte der dem Thema entsprechende Tiefgang. Ich ging dann dazu über, das Geschriebene tagelang aus der Hand zu legen und es dann erst nochmals zu lesen bzw. zu überarbeiten. Da ich mich auf diese Weise mehrmals und sehr intensiv mit den beschriebenen Situationen auseinandersetzte, kam mir die Idee, meine weiterführenden Gedanken bildlich zu Papier zu bringen. Obwohl ich in dieser Hinsicht nicht unbedingt die Begabteste bin, drängte es mich doch dazu, mir meiner Gedanken und Empfindungen durch das Malen noch bewusster zu werden und ggf. noch zu vertiefen. So entstanden noch zwei Bilder bzw. eine Zeichnung mit meditativen Gedanken, die neben den, zum sachlichen Teil meiner Arbeit, ausgesuchten Bildern aus Büchern bzw. dem Internet sowie einigen gesammelten Fotographien ganz nebenbei die Arbeit etwas auflockerten. Trotz diesem „eigenen“ Anteil an meiner Arbeit hatte ich das Gefühl, dass etwas fehlte, das den praktischen Bezug zu dieser Thematik, die ja ein vor allem praktisches und lebensnahes Problem aufgreift, herstellen könnte. Ich kam auf die Idee, einen Außenstehenden zu interviewen, der mit dem Thema Leid und dem Umgang damit vertraut war. Dabei wagte ich jedoch nicht einen unmittelbar Betroffenen zu befragen, obwohl ich doch von solchen Menschen in unserer Umgebung wusste. Zum einen fand ich es irgendwie unpassend und entwürdigend, sie für meine Arbeit zu ihrer Situation zu befragen, zum anderen kann man auch schlecht einschätzen, was man bei den Betroffenen damit auslöst. So kam ich darauf, den Leiter der hiesigen Hospiz Gruppe in Buchen, Herrn Stefan Jany, für ein Interview anzusprechen. Über ihn und seine Tätigkeit wurde vor einige Zeit in der „Rhein-NeckarZeitung“ berichtet. Ich möchte mich an dieser Stelle bei Herrn Jany, der meiner Arbeit sofort sehr aufgeschlossen gegenüberstand, und sich für das Gespräch viel Zeit nahm, sehr herzlich bedanken. Nach Fertigstellung des extrem zeitaufwändigen und arbeitsintensiven literarischen und künstlerischen Teils, folgte dann erst die Arbeit am zweiten Teil, dem Sachteil. Auch bezüglich dieses Bereichs meiner Arbeit möchte ich nun zusammenfassend mein methodisches Vorgehen und die von mir angewandten Arbeitstechniken darlegen. Die an dieser Stelle durchgeführte Vorgehensweise kontrastiert sich allerdings stark zu der vorangehend beschriebenen Technik des ersten Teils. Während dort kreatives Arbeiten und eigenständige Reflexion bezüglich der TheodizeeProblematik gefordert wurden, verlangte dieser Sachteil nun analytisches Ausarbeiten verschiedenartiger Literatur und anschließende Dokumentation/Darstellung der gewonnenen Ergebnisse. Am Beginn einer Reihe aufeinander folgender Arbeitsschritte stand die Recherche im Internet, Büchereien und dem Angebot verschiedener religiöser Verlage, wie dem Schwaben- oder Herder Verlag, mit dem Ziel der Auswahl und Beschaffung von schriftlichem Quellenmaterial. Allein dieser Schritt eröffnete mir eine breite Übersicht über den so differenziert behandelten Gesamtkomplex der Theodizee, sodass bereits aufgrund des zwangsläufigen Selektierens der so vielfältigen literarischen Quellen an dieser Stelle eine Festlegung über die künftigen Schwerpunkte meiner Arbeit unumgänglich wurde. In dieser Hinsicht und auch bezüglich eines ersten Einlesens wurde die themenbezogene Internetrecherche zum wichtigen Hilfsmittel, welches mir anhand kurzer Berichte oder veröffentlichter Kommentare zum einen, einen groben Überblick, zum anderen, bereits Einblick in zentrale Aspekte meiner künftigen Arbeit bot. Nach intensiver Beschäftigung und Auseinandersetzung mit darstellender theologischer Literatur galt es zunächst zu konzipieren, den genauen Rahmen abzustecken und die von mir zu behandelnden Inhaltspunkte einzugrenzen und näher zu definieren. Die nun von mir angewandte Methode zur Verwertung des schriftlichen Quellenmaterials war die des Exzerpierens (lat. herausklauben), eine Textverarbeitungstechnik, nach der in mehreren Schritten der wesentliche Gehalt eines Textes herausgearbeitet und in komprimierter Form zusammengetragen wird. Auch bei der Fassung meines Textes fanden verschiedene Techniken fachlichen Arbeitens Anwendung, wie beispielsweise korrekte Zitierweise und weitere formale, bzw. stilistische Besonderheiten, die es zu berücksichtigen galt. Bei der eigenen Textzusammenstellung kann ich im Nachhinein als besondere Schwierigkeit den Sprachwechsel von der frei kreativen, literarischen Ebene des ersten Teils zu dem sachlich-nüchternen Stil, welchen die analytische Vorgehensweise erforderlich machte, nennen, ebenso wie die angemessene Präzisierung, welche angesichts des philosophischen Charakters mehrerer Beiträge erschwert wurde. Die größte Herausforderung lag allerdings in der Wertung und Selektion der verschiedenen Antwortstrategien auf die Theodizee-Problematik, da sich im Hinblick auf eine nahezu unübersichtliche Vielzahl schriftlicher Lösungsansätze eine Auswahl als absolut unumgänglich herausstellte. Hiermit sei zugegeben, dass eine gewisse Subjektivität hinsichtlich der Selektion unvermeidbar wurde, und dass Theorien absolut unglaubwürdigen Charakters, bewusst vernachlässigt wurden. Um dem Ziel einer umfassenden und möglichst differenzierten Annäherung an die TheodizeeProblematik weitgehend gerecht werden zu können und, da im ersten Teil bereits auf die Literatur als Darstellungsmittel zurückgegriffen wurde, entschloss ich mich, auch in der bestehenden Literatur nach dem Motiv der Theodizee zu suchen. Als Gegenstand meiner Analyse wählte ich Wolfgang Borcherts Nachkriegsdrama „Draußen vor der Tür“, eine Analyse, die nun auch wieder eigenständiges Arbeiten und Interpretieren notwendig machte, da ich nicht auf die Grundlage von Sekundärliteratur ausweichen konnte und wollte. Im Hinblick auf die Gesamtheit meiner Arbeit kann ich abschießend festhalten, dass die Thematik der Theodizee sehr differenziert und auch zum Teil kontrastierende Vorgehensweisen und Arbeitstechniken erforderte, dass aber gerade diese die Grundlage einer umfangreichen und variierenden Annäherung an die Theodizee-Problematik legten. C II. Persönliche Stellungsname Das Leid der Menschen als Anstoßpunkt für die Frage nach Gott. Am Anfang meiner Arbeit stand eine einfache Frage, etwas, dass ich nicht verstehen konnte und das auch nach Phasen langen Nachdenkens nicht erklärbarer oder weniger widersprüchlich wurde: „Wie kann ein guter Gott die Menschen leiden lassen?“ Ich begriff diesen Wettbewerb als Chance, als den Rahmen für eine tiefere Auseinandersetzung, für einen weiterführenden Denkprozess, wobei dieser Rahmen beliebig vergrößert, gedehnt und von mir geformt werden konnte. Ich schätze, ich habe ihn als Raum genutzt, nicht nur ein Thema zu bearbeiten, das mich interessierte, sondern eine Suche zu beginnen, nach einer Antwort. Nun schreibe ich die letzten Sätze meiner Arbeit, ich bin gewissermaßen am Ende meiner Suche angekommen - die Konsequenz daraus wäre, inzwischen eine Antwort zu gefunden haben. Ich habe keine Antwort gefunden, in dem Sinne, dass die Widersprüchlichkeit meiner Frage, die Widersprüchlichkeit zwischen einem guten Gott und dem Leiden der Welt für mich nun aufgehoben ist; auf eine solche Lösung bin ich auch während meiner langen Suche nicht gestoßen. Aber dennoch war dieser Weg nicht wertlos: Was ich sammeln konnte, sind neue Erkenntnisse, die Gewissheit beispielsweise, dass ich mit meiner Frage nicht allein stand und dass sie seit dem Buch Ijob im Alten Testament immer wieder angedacht wurde, und dass Menschen genauso oft um eine Erklärung gerungen haben. Ich durfte ebenfalls erkennen, dass diejenigen, die unmittelbar vom Leiden betroffen sind, sich kaum um eine Antwort auf die Theodizee bemühen können, und dass diese für sie überhaupt nur schwerlich zum Problem wird - darüber nachdenken zu dürfen ist folglich, das Privileg derer, die ein wenig außerhalb stehen, aber doch nicht soweit, dass sie blind sind für das Leid der anderen. In diesem Sinne wurde mir bald bewusst, dass ich mich glücklich schätzen konnte, überhaupt darum ringen zu dürfen. Allerdings stimmt es nicht, wenn ich nun behaupten würde, noch immer so unbeholfen und ratlos zu sein, wie zu Beginn meiner Suche - ich fand zwar keine abschließende Erklärung, keine endgültige Lösung, sondern für mich eine andere Antwort. Die Antwort, die schon zu Beginn meiner Arbeit aus meinem literarischen Teil hindurch scheint, damals zwar nur als reine Vermutung, meinerseits zwar reflektiert, aber noch nicht der theologischen Untersuchung ausgesetzt, die ich im zweiten Teil vorgenommen habe: „Wir können keine Lösung finden - dies allein ist die Antwort“. Seitdem ich den Beginn meiner Arbeit schrieb, habe ich den Charakter des Theodizee-Problems analysiert und Lösungsansätze betrachtet und abgewogen, ich habe die Frage von Seiten der Bibel beleuchtet und untersucht, wie sie den Menschen unseres Jahrhunderts begegnet. Zudem bin ich über die Erklärungsversuche anderer Jugendlicher gestoßen. Natürlich habe ich Antwortversuche entdeckt, die meinen eigenen Blickwinkel im Wesentlichen erweiterten und meinen Weg mit immer neuen Erfahrungen erhellten: Dinge, die ich zuvor nicht bedacht hatte und die alle gemeinsam den Widerspruch ein wenig abmilderten und, zumindest stellenweise, seine Härte nahmen, obgleich er noch immer besteht. Ich hatte nie erwägt, dass das von Menschen verursachte Leid Folge eines Schuldig -werdens ist, welches in der menschlichen Freiheit gründet oder dass es nicht nur die Menschen sind, die leiden, sondern dass Gott selbst in Jesus mit ihnen leidet, genauso wie ich nicht überdacht hatte, dass das Verharren im Glauben trotz des eigenen Leids, dass dieser Appell des Bedeutungsträgers Ijob für manche ein Weg aus der Theodizee-Problematik darstellen konnte. Dies alles, diese gesamten Ansätze und Lösungsversuche, diese weiteren Thematisierungen der Theodizee waren Trittsteine auf meiner Suche, auf die ich meinen Fuß setzen konnte und die es mir ermöglichten, weiterzugehen. Ohne diese neuen Einblicke und Erkenntnisse wäre ich der Unsicherheit des Anfangs verhaftet geblieben und obgleich sie für mich vielleicht keine Lösung waren: sie waren mein Weg. Mein Weg, der mich nicht zu Georg Büchners Zitat „Leid ist der Fels des Atheismus“ , also ins Nichts und zur Abwendung von Gott geführt hat, sondern der mich in einer anderen Sphäre des Nichterklärbaren, des „ewig Geheimen“ ankommen ließ und damit die Suche zu einer Entdeckung hat werden lassen. Ich konnte meine zu Beginn der Arbeit angedachte Antwort halten, aber - und das ist der entscheidende Unterschied - ich kann sie nun begründend vertreten. Ich habe mich so intensiv und über einen langen Zeitraum hinweg mit der Theodizee befasst, dass ich nicht länger an meiner Antwort, die ich während meiner Suche bekräftigen konnte, zweifeln muss. Aber meine Arbeit ist nicht nur mein rein persönlicher Gedankengang. Sie soll umfassende Annäherung und Erörterung der Theodizee sein, für alle die, die - genauso wie ich es tat - nun selbst um eine Antwort ringen und in denen die Theodizee-Frage aufbricht. Sie soll - wie für mich - ein Weg zu dem erhellenden Gefühl sein, sich mit der Theodizee auseinander gesetzt zu haben. I. „Ohne meinen Glauben könnte ich dies alles nicht aushalten“ -Im Gespräch mit dem Leiter der Hospizgruppe Buchen, Stefan Jany Sonntag, den 17. August 2008 Beschreibung seiner Tätigkeit Die freiwillige Aufgabe von Herrn Jany ist die Sterbe- und Trauerbegleitung. Menschen, die vor dem Tod stehen, würden nicht alleine gelassen, sie müssten nicht alleine sterben, erzählt Herr Jany, die Trauerbegleitung umfasse die Begleitung der Angehörigen vor und nach dem Ableben der Patienten. Die Begleitung der Betroffenen erfolge ambulant in Krankenhäusern, Altenheimen und Wohnungen. Ein stationäres Hospiz existiere nicht. Die Begleiter stände den Betroffenen nach Absprache zur Verfügung. Hierbei richte sich die konkrete Begleitung nach den Vorstellungen der Patienten und deren Angehörigen. Oft würde um Beistand gebeten bei physischer und psychischer Erschöpfung der Angehörigen, bei Unstimmigkeiten unter den Verwandten, sowie bei Überforderung des gesamten Umfeldes des Betroffenen mit einer akuten oder schon länger andauernden Krankheit. Die Begleiter seien oft einfach nur da und überläsen die Art und Weise der Begleitung ganz und gar den Patienten, natürlich nicht ohne ein umfassendes Handlungskonzept im Hintergrund bereit zu halten. Sie seien fähig und auch willens, den Sterbenden und deren Angehörigen umfassend in allen Nöten, Fragen und Zweifeln zur Seite zu stehen. Welche leidvollen Erfahrungen machen Sie bei Ihrer Arbeit? Leidvolle Erfahrungen gäbe es zur Genüge: Langsames Sterben eines Patienten, schwere Erkrankung eines jungen Menschen, Tod eines Elternteils mit noch kleinen Kindern, Streitigkeiten unter den Angehörigen, Eheprobleme eines Patienten, unausgesprochen Erwartungen, ein Sterbender/Angehöriger kann nicht loslassen, Problemverdrängungen. Sehr belastend seien auch folgende Vorkommnisse: Der Betreute und die Angehörigen wüssten unausgesprochen um den Zustand des Betroffenen, jedoch würden wichtige Tatsachen tabuisiert. Selbst der bevorstehende Tod werde verdrängt und man flüchte sich gemeinsam in Oberflächlichkeiten. Auch die Ärzte seien nicht aufrichtig gegenüber dem Patienten und läsen den Angehörigen gegenüber die tatsächlichen Gegebenheiten unausgesprochen. Selbst im Angesicht des Todes tausche man nur Worthülsen und Floskeln aus. Nicht selten komme es vor, dass die Patienten nicht mit ihrer Umgebung über das bevorstehende Ende reden können. Schweigen umgebe sie. Darauf angesprochen bräche es aus ihnen heraus. Erleichterung über das stattgefundene Gespräch, Wut und Zorn über die Angehörigen mache sich breit. Wie bewältigen Sie die Konfrontation mit menschlichem Leid? Stefan Jany berichtet, dass auch nach all den Jahren als Krankenpfleger, Sterbe - und Trauerbegleiter in ihm immer wieder die Frage nach dem „Warum; weshalb lässt Gott das zu“? aufkomme. Manchmal stiegen auch Verzweiflung und Wut auf. In Momenten des Alleinseins werde ihm aber immer wieder die Katastrophe von Lockerbie 1988 bewusst, als der Kardinal beim Requiem die gleichlautende Frage stellte und zur Antwort gab: „Aber Gott war mit in diesem Flugzeug, Gott ist mit abgestürzt“. Beim Sterben Kinder und Jugendlicher lasse sich beobachten, wie diese innerhalb kurzer Frist heranreifen und oftmals eine Weisheit erlangen, die der Erwachsenen übersteigt. Durch die Hospizarbeit stehe für ihn fest: Die Patienten sterben an einer Krankheit, aber dies sei nicht das Ende. Das Leben gehe weiter, nur in einer andern Form. Diesbezüglich habe sich mit der Zeit bei ihm eine gewisse Gelassenheit breit gemacht. Beispielhaft sei für diesen auch der Jahreskreislauf, das Werden und Vergehen in der Natur. Weiterhin das Gleichnis vom Samenkorn, das in die Erde fällt und stirbt… Spielt für Sie bei der Begegnung mit Leid die Frage nach Gott eine Rolle? „Für mich unbedingt! Gott ist unser Ursprung und zu ihm gehen wir zurück. Ohne meinen Glauben könnte ich dies alles nicht aushalten, ja, ich hätte keine Motivation für meine Arbeit“, erklärt Herr Jany, bei all seinen offenen Fragen wisse er sich dennoch geborgen in Gott. Im Wissen um die Gegenwart Gottes fände Herr Jany oftmals eine Entgegnung auf dessen Zweifel und Suche. Hat Leid für Sie einen Sinn? Herr Jany verstehe Leid eher aus der Sicht eines Krankenpflegers. Leid in der Form, wie sie ihm begegne, muss bekämpft werden mit dem Ziel, es weitest gehend auszuschalten. Dies sei sein Beruf und so sehe er auch seine Hospiztätigkeit: Der Tod sei unausweichlich und den Weg dorthin möchte er mit möglichst viel Sinnhaftem erfüllen. „Wenn dies geschieht, und die Sterbenden das hinter, sowie das vor ihnen liegende Leben zumindest teilweise annehmen können, erfahre ich einen Schimmer davon, dass Leiden einen Sinn haben kann“, so der Leiter der Hospizgruppe. Wie gehen Patienten mit Leid um, Gläubige und Ungläubige? Herr Jany erklärt, er habe bereits schon alle Facetten von totaler Ablehnung bis zur bewussten Annahme erlebt. Gläubige täten sich in der Annahme des Leids leichter, dies sei aber durchaus nicht die Regel. Allein durch die Art und Weise der Leidbewältigung, könne man keine Schlüsse daraus ziehen, ob der Patient Vertrauen in Gott besitze. Auch Nichtgläubige wüssten sich bei entsprechendem Umfeld gehalten und angenommen. Oftmals erlebe Stefan Jany, wie Sterbende in der permanenten Wiederholung eines Gebets (z.B. „Amen, Amen, Amen…“) verharren, seien es Gläubige, oder Ungläubige. Dies werde als Abschluss eines Lebens und gleichzeitig als Zwiesprache mit Gott bzw. einem unbestimmten „Höheren“, verstanden. II. „Überall ist Leid“ - Fotographien von Bittschriften in der Marienkapelle Kloster Engelberg, Miltenberg- III. „Mein Gott, mein Gott warum hast du mich verlassen?“ - Darstellungen rund um das Kloster Engelberg- V. Denkanstöße - Zitate Gibt deinen Schmerz Worte. Harm, der nicht spricht, erstickt das volle Herz und macht es brechen Friedrich Schiller Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz, nur der Verstand kann Gott beweisen. Georg Büchner Der Schmerz ist der große Lehrer der Menschen. Unter seinem Hauche entfalten sich die Seelen Marie v. Ebner, Eschbach Warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus. Das leiseste Zucken des Schmerzes, und rege es sich nur in einem einzigen Atom, macht einen Riss in der Schöpfung von oben bis unten Georg Büchner Das Leiden verwandelt Materie in Geist, Schatten in Licht, Hartes in formbares Leben Teilhard de Chardin Die SS erhängt in Auschwitz einen Jungen. Sein Todeskampf dauert eine halbe Stunde. „Wo ist Gott? Wo ist er?“ - „Hier ist er. Er hängt hier am Galgen.“ Elie Wiesel Nie erfahren wir unser Leben stärker als in großer Liebe und tiefem Schmerz Rainer Maria Rilke Und da sage ich nun: Nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte, griff er nicht ein Hans Jonas - Gott nach Auschwitz Der Schmerz ist ein heiliger Engel, durch ihn sind Menschen größer geworden, als durch alle Freuden dieser Welt. Adalbert Stifter Woher kommen all die Übel, und warum nimmt Gott sie nicht hinweg? Epikur nach Laktanz Literatur- und Quellenverzeichnis Böhnke, Michael u.a.: Leid erfahren - Sinn suchen, Das Problem der Theodizee, Freiburg (Herder), 2007 Borchert, Wolfgang: Draußen vor der Tür, Hamburg (Rowohlt Taschenbuch Verlag), 2007 Braukmann, Werner: Die Facharbeit - Pocket Teacher, Berlin (Cornelsen), 2001 Greshake, Gisbert: Warum lässt uns Gottes Liebe leiden?, Freiburg (Herder), 2007 Hahne, Peter: Leid, Warum lässt Gott das zu?. Lahr (St.-Johannis-Druckerei), 2007 Kaiser, Johannes: Abitur-Training Religion, Freising (Stark), 1998, Band 1 und 2 Passende Worte im Trauerfall, Mannheim (Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG), 2007 Wissenschaftlicher Rat der Duden Redaktion: Duden, die Deutsche Rechtschreibung, Mannheim (Duden-Verlag) 21. Auflage Internetquellen http://www.kath-pfarrgemeinde-gimborn-nochen.de/aktuelles2003.htm Dr. von Stasch, Klaus: Gott und das Leid. 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Hiob, entnommen am 13.08.08 Selbständigkeitserklärung Hiermit versichere ich, diese Wettbewerbsarbeit ohne fremde Hilfe angefertigt und nur die im Literaturverzeichnis angeführten Quellen und Hilfsmittel benutzt zu haben: Limbach-Scheringen, den 05. September 2008 Kathrin Schölch