Mein Friedensdienst in Belfast 2013 bis 2014
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Mein Friedensdienst in Belfast 2013 bis 2014
Mein Friedensdienst in Belfast 2013 bis 2014 Zusammengefügte Rundbriefe von Martha Gieselmann, Wishing Well Family Centre, Belfast – VORWORT – Dank „Ein Traum ist unerlässlich, wenn man die Zukunft gestalten will.“ (Victor Hugo) Diesen und andere Gedanken gab mir meine Philosophie- und Deutschlehrerin mit auf den Weg nach Belfast, auf den Weg aus der Geborgenheit und Sicherheit meiner Schulzeit in ein eigenständiges Leben. Und damit hat sie genau das ausgedrückt, was mich dazu bewogen hat, diesen Schritt zu gehen und ein Jahr meines Lebens im Ausland zu verbringen. Ein Traum. Ein Traum von Selbstständigkeit. Ein Traum von selbstständigem Leben im Ausland. Jetzt bin ich hier angekommen und mir gehen Gedanken an Menschen durch den Kopf, die mich auf diesem Weg begleitet und geführt haben. Zuallererst fällt mir dabei meine Mutter ein, ohne die ich diesen großen Schritt überhaupt nicht gegangen wäre. Sie hat mir immer wieder Mut gemacht, wenn es kleinere oder größere Rückschläge gab und mich immer darin bestärkt, dass dieser Freiwilligendienst das Richtige ist und ich mich durch nichts davon abhalten lassen soll. Zum anderen möchte ich mich auch bei meinem Vater bedanken, der mit mir vor vielen Jahren zum ersten Mal nach England in den Urlaub gefahren ist und dort meine Faszination und Liebe zu den britischen Inseln geweckt hat. Auch meinem Onkel und meiner Tante bin ich sehr dankbar, dass sie mir von ihrer Zeit hier in Belfast berichtet und mich dadurch bestärkt haben, dass auch eine Großstadt es wert sein kann, darin zu leben. Meinen Großeltern bin ich ebenfalls zu Dank verpflichtet, da sie mich, obwohl ihre Zeit vielleicht knapp bemessen ist, immer unterstützt haben und stolz auf mich sind, dass ich den Dienst angetreten habe. Des Weiteren freue ich mich, dass auch meine Freunde, der Pfadfinderstamm St. Hedwig und der Rest meiner Familie, insbesondere aber meine Freundin Felicitas, hinter mir stehen und ich immer auf sie zählen kann, wenn es kleinere oder größere Phasen der Unsicherheit gab oder gibt. Ganz besonders möchte ich mich auch bei meinem gesamten Unterstützerkreis dafür bedanken, dass sowohl die finanziellen als auch die geistigen Mittel stimmen, um einen Freiwilligendienst im Ausland zu leisten. Zu guter Letzt möchte ich es aber nicht versäumen, meiner Entsendeorganisation EIRENE und besonders Ralf Ziegler zu danken, dass sie mir dieses Jahr voller Erfahrungen und Erlebnisse ermöglichen und mich immer unterstützen, wo immer ich Hilfe benötige. – KAPITEL EINS – Bewerbung und Seminare Schon vor langer Zeit kam mir die Idee, dass ich das erste Jahr nach Beendigung der Schulzeit dazu nutzen wollte, Erfahrungen im Ausland zu sammeln. Ebenfalls klar war mir, dass es ein englischsprachiges Land sein sollte und dass ich etwas Sinnvolles tun wollte. Bei der Suche nach einer passenden Entsendeorganisation stieß ich im Sommer 2012 auf EIRENE, die ein Projekt an der Nordküste Nordirlands unterstützen, in dem ich ursprünglich gerne arbeiten wollte. Im darauf folgenden November besuchte ich ein Infoseminar von EIRENE, das Voraussetzung für eine Bewerbung ist. Danach begriff ich immer mehr, dass ein Dienst mit EIRENE in Nordirland genau das war, was ich wollte. Als Antwort auf meine Bewerbung bekam ich dann Anfang des Jahres 2013 eine Einladung zu einem Bewerberauswahltreffen in der Geschäftsstelle in Neuwied, zu dem ich mich gespannt und aufgeregt auf den Weg machte, würde es doch über meine nähere Zukunft und die meines Freiwilligendienstes entscheiden. Nach intensiven Gesprächen und vielen Informationen bezüglich des Dienstes fuhr ich nervös und erwartungsvoll wieder nach Hause, um eine Woche später eine E-Mail zu bekommen, in der Ralf mir mitteilte, dass ich für einen Dienst in Nordirland ausgewählt worden sei. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich mein Glück noch gar nicht fassen. Leider stand aber noch nicht fest, in welchem Projekt ich arbeiten würde und es dauerte weitere zwei Monate, bis feststand, dass ich meinen Dienst im Wishing Well Family Centre im Norden Belfasts leisten würde. Ende Mai, nach meinen Abiturprüfungen, fuhr ich dann bereits zum ersten Mal nach Belfast, um das Wishing Well Family Centre zu besuchen, mit meiner Vorgängerin über ihren eigenen Dienst zu sprechen und mir daraufhin klar zu werden, dass ein Dienst dort mein fester Wunsch ist. Anfang Juli fand der Ausreisekurs von EIRENE statt, bei dem ich die anderen Freiwilligen kennen lernte und gemeinsam mit ihnen auf den Dienst vorbereitet wurde. Dort haben wir Einheiten zu unseren Ängsten und Erwartungen bezüglich unseres Dienstes, zum Welthandel, zur Gewaltfreiheit und anderen wichtigen Themen gehabt. In diesen Zeitraum fiel aber auch meine Zeugnisvergabe und der Abiball sowie der Abschied von meiner Schule, die mir immer sehr wichtig gewesen ist, sodass ich nach der Hälfte des Seminars einen kurzen Besuch zu Hause machte, bevor ich mich den anderen Freiwilligen zum zweiten Teil der Vorbereitung auf unseren Dienst anschließen konnte. Alle EIRENE-Freiwilligen des anglophonen Nordprogramms (USA, Kanada, Irland, Nordirland) – KAPITEL ZWEI – Ausreise heißt Abschied und Anfang Nach dem Ausreisekurs gab es für mich nicht mehr viel Zeit zu Hause in Paderborn. Ich begann immer intensiver zu überlegen, welche Dinge es wert seien, mich nach Belfast zu begleiten. Je nach Tageszeit begann meine Stimmung zu schwanken und immer öfter hatte ich das Gefühl, dass ich doch eigentlich viel lieber in Deutschland bei meiner Familie und meinen Freunden bleiben würde. Gleichzeitig wurde ich gespannter und aufgeregter, wie es in Belfast werden würde. Ob ich mich mit den anderen deutschen Freiwilligen verstehen würde, die ich ja doch nur kurz kennen gelernt hatte; ob es besonders mit Alexandra, meiner deutschen Mitbewohnerin und ebenfalls EIRENEFreiwilligen und den anderen im Haus funktionieren würde; ob mir die Arbeit gefallen würde; ob die Kollegen nett sein und mir am Anfang helfen würden mich einzugewöhnen; ob ich die englische Sprache verstehen würde, die sich hier in Belfast zum Teil doch zu einer ganz besonderen und speziellen Form weiterentwickelt hat, die doch etwas Zeit zum Verstehen benötigt; ob ich gut Abschied von meinem bisherigen Umfeld würde nehmen können… Mit diesen Gedanken im Kopf verabschiedete ich mich nach und nach von meinen Freunden und meiner Familie, bis ich plötzlich am 1. August mit meiner Mutter und meinem Stiefvater in Düsseldorf am Flughafen stand und gar nicht glauben konnte, dass erst Monate würden vergehen müssen, bis ich die beiden wieder sehen würde. Nach einem reibungslosen Flug nach Dublin und der anschließenden Busfahrt nach Belfast – Gott sei Dank mit meinem gesamten Gepäck samt Übergepäck – kam ich dann müde in 144 Ulsterville Avenue an, wo ich von nun an für ein Jahr leben sollte. Der Vermieter lehrte mich gleich Geduld und dass ich in Nordirland nicht ohne weiteres ein deutsches Verständnis von Pünktlichkeit erwarten darf – er kam anderthalb Stunden später als verabredet. Als dann die ersten Formalitäten geklärt waren, konnte ich müde mein neues Zimmer beziehen. Mein neues Zuhause in Belfast – KAPITEL DREI – Neue Heimat In den folgenden Tagen begann ich vorsichtig und zunächst zögerlich Belfast zu erkunden. Immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass ich von nun an hier leben würde, nahm ich gewöhnliche Dinge wie den Duft von Herbstblättern, kleine Vorgärten, weite Aussichten, das Wetter und Wolkenformationen sehr viel deutlicher wahr, als ich es in Deutschland getan habe. Mit fiel direkt die Freundlichkeit und Höflichkeit der Nordiren auf, die einem auf nette Weise den Weg erklären und ins Reden kommen. So kann es etwa leicht passieren, dass man in der Innenstadt auf eine lange Schlange von Menschen stößt, die scheinbar auf etwas warten und erst nach einigen Augenblicken merkt, dass es der nächste Bus ist, den sie alle geordnet und der Reihe nach betreten wollen. Zu Beginn meines Auslandsjahres musste ich wie alle anderen Freiwilligen jede Menge Formalitäten und Papierkram erledigen: ich brauchte eine neue Handykarte; ein Bankkonto bei einer irischen Bank; ich musste Housing Benefit beantragen (eine staatliche Unterstützung für Menschen, die ihre Mietkosten nicht selbst tragen können); ich musste eine National Insurance Number und eine Medical Card beantragen; ich habe an einem Einstufungstest an einem Belfaster College teilgenommen, um einen Platz in einem entsprechenden Englischkurs zu bekommen; etc. Das hat mich sehr viel Zeit und Nerven gekostet, aber Dank Alexandra, die ich in der Zeit, die wir hier in Belfast schon gemeinsam verbracht haben, sehr lieb gewonnen habe, habe ich dabei auch viel Spaß gehabt. Nachdem ich das Gröbste erledigt hatte, konnte ich endlich anfangen, mich in Belfast zu Hause zu fühlen. Meine neue Familie in Belfast: Johanna, Judith, Melina, Oliver, Malte, Alexandra, Steffi und ich – KAPITEL VIER – Wishing Well Family Centre Der Grund, warum ich nun in Belfast lebe, ist meine Arbeit im Wishing Well Family Centre. Das Wishing Well ist ein „cross–community“ (religionsübergreifend für Protestanten und Katholiken) Familienzentrum, das im Jahre 1989 im Norden von Belfast gegründet wurde, um vom Konflikt gebeutelten Familien Unterstützung in sozialen, erzieherischen, ökonomischen und ökologischen Bereichen zukommen zu lassen. Heute spielt besonders die Kinderbetreuung eine wichtige Rolle im Wishing Well: Kinder ab dem Alter von 6 Wochen bis 9 Jahren verbringen ihre Zeit in unterschiedlichen Spielgruppen, angefangen mit den Babies (6 Wochen bis 12 Monate) und Toddlers (12 bis 22 Monate) über die Juniors (22 bis 30 Monate) und Seniors (ab 30 Monate) bis zur Preschool (3 bis 4 Jahre) und die Out-of-Schools (5 bis 9 Jahre). Da das neue Schuljahr noch nicht begonnen hatte als ich im August in Belfast ankam, hatte ich während des Summer Schemes (ein Sommerprogramm für die älteren Kinder) ein wenig Zeit mich in meinem neuen Umfeld einzuleben. Jeden Tag gab es größere Aktionen wie einen Kinobesuch, Bowling, Outdoor- und Indoor-Spielplätze, einen Besuch eines interaktiven Museums oder den Besuch des Belfaster Zoos bei uns im Wishing Well. Dabei konnte ich mich schon an die Sprache der Kinder und Kollegen und an die hiesigen Erziehungsmethoden gewöhnen, was mir anfangs doch zum Teil Schwierigkeiten bereitet hat, da ich von meinem deutschen Umfeld und meiner Erziehung her das ständige Spielen von Video-Spielen nicht gutheißen kann und will. Diese im Nachhinein recht stressfreien Wochen hatten ab September dann ein Ende, als alle Kinder wieder zur Schule zurück oder neu zur Schule kamen und ich mit meinen Kolleginnen eine völlig neue Gruppe neugieriger und aufgeregter Preschool-Kinder begrüßen konnte. Damit begann mein normaler Arbeitsalltag. Ich arbeite vormittags von 9 bis 12 Uhr in der Preschool und nachmittags von 13 bis 17 Uhr mit den Out-of-Schools. Die Preschool, eine Art Vorschule, besuchen hier im United Kingdom alle Kinder in ihrem letzten Jahr vor der Primary School, zu der sie ab dem Alter von 4 oder 5 Jahren gehen. Sie lernen bei uns zur gegebenen Zeit still zu sein, den richtigen Umgang mit Gleichaltrigen und Erwachsenen, und werden spielerisch an einen strukturierten und routinierten Alltag gewöhnt. Die Out-of-Schools sind Grundschulkinder, die ich von der Schule abhole und mit denen ich den Nachmittag über spiele oder andere Aktivitäten anleite. In unserer Preschool haben wir in diesem Jahr 16 Kinder, mit denen ich spiele und lache, denen ich Dinge erkläre und zeige, und die ich leider oft zur Ruhe ermahnen muss. Mit meinen Kolleginnen bin ich daher damit beschäftigt den Jahresplan zur umfassenden Erziehung möglichst gut umzusetzen und die Kinder in ihrer individuellen Entwicklung bestmöglich zu unterstützen. Dabei kann ich den Jahreszeiten entsprechend kreative Bastelaktionen anleiten, ihnen zeigen, wie man eine Schere richtig benutzt, wie man aus Knete Bälle oder Pfannkuchen knetet und vieles mehr. Andere Aufgaben sind es dann, dass ich eine kleine Zwischenmahlzeit, bestehend aus gebuttertem Toast, Obst und Milch oder Wasser, vorbereite und die Kinder anschließend beim Zähneputzen beaufsichtige, dass ich den Raum für den nächsten Tag vorbereite und Spielsachen auf den Tischen auslege und dass ich die Kinder, die zum Mittagessen noch bleiben, beaufsichtige und zum ordentlichen Essen anhalte. Nach dem Mittagessen nehme ich die Kinder, die den Nachmittag auch noch bei uns verbringen, mit in den Out-of-Schools-Raum, wo sie sich ein wenig selbst beschäftigen, bis ich die Grundschulkinder abgeholt habe. Im Moment kommen Kinder von drei unterschiedlichen, sowohl katholischen als auch protestantischen, Schulen. Gemeinsam mit unserem Busfahrer fahre ich meistens um 14 Uhr und 15 Uhr die Schulen ab, wobei es im Bus meine Aufgabe ist, zu sehen, dass die Kinder angeschnallt sind und sich einigermaßen ruhig verhalten. Fahren muss ich auf der linken Straßenseite glücklicherweise nicht. Zurück im Wishing Well helfe ich den Kindern bei den Hausaufgaben, male oder bastle mit ihnen oder beaufsichtige ihr freies Spielen. Das bereitet mir meistens Freude, sehe ich doch wie sich meine Stimmung auf die Kinder überträgt und sie mir immer vertrauter werden. Das Wishing Well Family Centre in Belfast Der Raum der Preschool im Wishing Well Family Centre – KAPITEL FÜNF – Belfast Belfast. Ein kurzer Name. Bloß zwei Silben, die aber, wenn man schon einmal etwas von dieser Stadt gehört hat, eine Flut von Assoziationen hervorrufen können. Belfast ist die Hauptstadt Nordirlands und gespalten in zwei große Lager, die mehrheitlich loyalistischen Protestanten und die größtenteils republikanischen Katholiken. Die Konflikte zwischendiesen beiden großen Parteien dauern seit vielen Jahrhunderten an und, da die Trennung tief in beiden Kulturen verwurzelt ist, werden sie wohl auch noch einige Zeit anhalten. Als ich erfuhr, dass ich meinen Friedensdienst in Belfast leisten würde, wusste ich zunächst nicht viel von dieser außergewöhnlichen Stadt. Obwohl sie ein Teil Europas ist, scheint mir das Bewusstsein in Deutschland für diese - um nicht zu sagen vom Bürgerkrieg erfasste - Stadt leider kaum vorhanden zu sein, denn auch in der Schule habe ich nur wenig über den Nordirlandkonflikt gehört. Mit dem Wort „Bürgerkrieg“ meine ich nicht unbedingt nur eine bewaffnete Auseinandersetzung, sondern vielmehr eine unterschwellige Anspannung, die fast überall, oft jedoch unmerklich, herrscht. So fällt es zum Beispiel einer meiner protestantischen Kolleginnen auf ihre Art schwer, eine katholische Grundschule für einen Theaterbesuch zu betreten. Nicht, dass sie diesen Besuch absagen würde – wir sind ja eine cross-communityEinrichtung – und sie betont auch ihre Toleranz der „anderen Seite“, aber allein die Tatsache, dass sie solche Dinge anspricht und hervorhebt, gibt mir zu denken. Eine andere Situation, die mich zum Nachdenken gebracht hat, war, als ich aus der Stadt vom Einkaufen kam, dass eine Parade von vielen protestantischen Gruppen mit Fahnen und Trommeln auf einer von der Polizei abgesicherten Hauptstraße entlang zog. Und das an einem ganz normalen Tag. Leider habe ich bisher noch nicht die Möglichkeit gefunden, mich intensiver mit diesem Thema des Nordirlandkonfliktes zu befassen, weil die meisten Menschen hier eher ungern darüber sprechen und es für Außenstehende sehr schwierig ist, diese komplexen Gefüge und Strukturen des Hasses und der Auseinandersetzungen zu verstehen und nachzuvollziehen. Ein Leben hier in Belfast sehe ich aber, trotz immer wieder auftretenden offenen Auseinandersetzungen zwischen beiden Seiten, als eine große Chance, ein ganz spezielles Aufeinandertreffen von (eigentlich sehr ähnlichen) Kulturen hautnah zu erleben und davon zu lernen. Belfast bei gutem Wetter: das Europa-Hotel und das Grand Opera House Eine protestantische Parade Ich habe einen Wunsch an dich an jedem Tag: Möge dein Herz so leicht sein wie ein Lied. Mögen deine Gedanken so frisch sein wie irische Kleeblätter. Möge jeder Tag dir strahlende, glückliche Stunden bringen, die das ganze Jahr bei dir bleiben. (Irischer Segenswunsch) – KAPITEL SECHS – Weihnachtszeit in Belfast Weihnachten in Belfast – feiern die Nordiren dieses besondere Fest genauso wie wir? Während es in Deutschland meistens darauf ankommt, Dekoration mit der Einrichtung und einem einheitlichen Stil abzustimmen, sieht man in Belfast oft Gegenteiliges: Berge von bunten Christbaumkugeln, Glitzer-Girlanden, Schneemännern, Rentieren, Weihnachtsmännern und –elfen bestimmen ab Halloween das Stadtbild. Kaum sind alle Kürbisse, Gespenster und Vogelscheuchen verschwunden, nehmen Santa und seine Freunde ihren Platz ein. Das heißt auch, dass man selten durch eine Straße geht, in der es nicht aus Wohnzimmerfenstern oder von der Hausfassade in den buntesten Farben blitzt und blinkt. Und genauso sieht es im City Centre, der Innenstadt von Belfast, aus. Abgesehen von weihnachtlichen Schaufenstern blinkt es auch dort aus allen Winkeln und Gassen. Die größte Attraktion ist aber immer wieder und unbestritten die beleuchtete City Hall mit ihrem Weihnachtsbaum und dem davor gelegenen „Christmas Market“, einem den deutschen angelehnten Weihnachtsmarkt. Der Moment, in dem die Lichter des Baumes offiziell angeschaltet werden, ist ein großes Ereignis, auf das tage- und wochenlang hin gefiebert wird. Im Gegensatz zu diesen doch recht friedlichen und - trotz Hektik - manchmal auch besinnlichen Adventsmomenten, gab es aber auch in diesem Jahr eine weniger ruhige Seite der Vorweihnachtszeit: verstärkte Bombendrohungen und -anschläge, Schießereien und Fahrzeugkontrollen brachten Unruhe in die sonst friedliche Zeit. Daran habe ich wieder gemerkt, dass ich doch nicht mehr im beschaulichen Paderborn, sondern in einer von tief verwurzeltem Hass geprägten Stadt lebe. Und auch im Wishing Well Family Centre wurde es recht bald weihnachtlich: Im Eingangsbereich und den einzelnen Spielgruppen schossen neben lebensgroßen Weihnachtsmännern, Lebkuchenhäusern und Postkästen für Briefe an den Weihnachtsmann die buntesten Plastik-Weihnachtsbäume aus dem Boden - wobei ich hier anmerken möchte, dass diese in Belfast sehr viel verbreiteter sind als ich es von Deutschland kenne - und gleichzeitig machten sich die Kinder fleißig ans Werk auch die Wände mit glitzernder Weihnachtsdekoration zu schmücken. So wurden Kränze, Christbäume, „Christmas Stockings“ (Kinder dort bekommen ihre Geschenke am 25. Dezember in Socken gesteckt, die sie an ihrem Bett oder über dem Kamin aufgehängt haben) und Schneeflocken von den Preschools geschnitten und geklebt und mit Glitter verziert, und auch die After-Schools schnitten jede Menge Schneeflocken und bastelten Weihnachtskarten. Zusätzlich zu dem normalen Tagesprogramm gab es eine „Magic Show“ mit einem mehr oder weniger ulkigen Zauberer, ein „Christmas Elf’s Storytelling“ (eine sehr pädagogisch aber trotzdem spannend erzählte Weihnachtsgeschichte) und eine „Santa Show“ im Wishing Well. Mit den Preschools fuhren wir außerdem noch zu zwei Grundschulen in der Umgebung, die als Werbung für neue Erstklässler ein kleines Chorprogramm, eine weitere Magic Show und ein Krippenspiel vorbereitet hatten. Mit meinen Kolleginnen bin ich am Nikolaustag in einem noblen Restaurant zum Christmas Dinner eingeladen worden. Im Wishing Well wir haben gewichtelt („Wichteln“ heißt hier „Secret Santa“) und am letzten Donnerstag vor Weihnachten gab es für alle eine kleine Geschenktüte mit Leckereien und ein traditionelles Christmas Dinner bestehend aus gefülltem Truthahn mit Schinken, Kartoffelbrei, Erbsen, Karottengemüse und brauner Soße. Auch außerhalb des Wishing Well Family Centres wurde es für mich natürlich immer weihnachtlicher. Rechtzeitig Ende November erreichten mich Adventskalender aus Deutschland und ich plante einen Adventskalender mit Alex, meiner liebsten Mitbewohnerin. Mit den anderen EIRENE-Freiwilligen trafen wir uns zum Plätzchenbacken und –verzieren und gingen zu einer Christmas Party bei einem anderen Freiwilligen. Abschluss dieser Adventszeit in Belfast war das gemeinsame Christmas Dinner und Wichteln mit allen EIRENE-Freiwilligen. Danach mussten bloß noch die Koffer gepackt werden, um die Urlaubsreise nach Deutschland anzutreten. Ein geschmückter Tannenbaum, ein gebasteltes Lebkuchenhaus und gebastelte Weihnachtsfiguren im Wishing Well Family Centre Für Weihnachtskarten gebastelte Geschenke, Sterne und Tannenbäume Die beleuchtete City Hall in der Weihnachtszeit Der geschmückte Weihnachtsbaum vor der City Hall We Wish You A Merry Christmas We wish you a merry Christmas And a happy New Year Glad tidings we bring To you and your kin Glad tidings for Christmas And a happy New Year We want some milk and cookies Please bring it right here Glad tidings we bring To you and your kin Glad tidings for Christmas And a happy New Year We won't go until we get some So bring it out here Glad tidings we bring To you and your kin Glad tidings for Christmas And a happy New Year We wish you a Merry Christmas And a happy New Year Glad tidings we bring To you and your kin Glad tidings for Christmas And a happy New Year! – KAPITEL SIEBEN – Arbeiten im Wishing Well Family Centre Die Arbeit wird zur Routine. Was mich anfangs noch viel Überlegung und Anspannung gekostet hat, geht mir nun leicht von der Hand. Ich muss nicht mehr vor jedem Handgriff fragen, ob es so gewünscht ist oder doch eine andere Weise angemessener erscheint. Ich merke, wie ich mich in meiner Rolle als Freiwillige im Wishing Well verändere, selbstbewusster und eigenständiger werde. Und nicht nur mir fällt das auf, auch meine Kolleginnen übertragen mir wichtigere Aufgaben und Verantwortung. Ich spüre, dass ich inzwischen eine wirkliche Hilfe und nicht mehr nur ein unbequemes Anhängsel bin. Eine Aufgabe, die mir persönlich viel Freude bereitet hat, war zum Beispiel die, dass ich an einem Tag zwei Kolleginnen zum „Resource Centre“, einem Großmarkt für Bildungseinrichtungen, begleiten durfte. Dort konnte ich im Rahmen unseres Budgets selbst entscheiden, welche Bastelmaterialien für die Preschool und die Afterschool wir einkaufen und mitnehmen, denn es gibt dort auch Materialien, für die man nicht bezahlen muss. Eine andere Situation vor ein paar Tagen zeigte mir auch, dass das Management auf mich vertraut und ich auch hier wertgeschätzt werde: Ich durfte die Finanzbücher des vergangenen Jahres in die Stadt zu einem Wirtschaftsprüfer bringen. Aber auch im normalen und stressigen Alltag habe ich nun mehr Möglichkeiten. Wenn meine Kolleginnen also gerade beschäftigt sind, kann ich eigenständig zum Beispiel die Bastelaktivitäten mit den Kindern durchführen. Dabei muss ich mir Notizen dazu machen, was die Kinder mir zu ihren Bildern erzählen, damit wir nachher ihre Bilder beschriften und meine Kolleginnen Beobachtungen über das Verhalten und die Entwicklung der Kinder schreiben können. Einfach für mich und alle anderen Beteiligten wäre es nun gewesen, wenn alles so geblieben wäre und sich - bis auf die Kinder natürlich - nichts verändert hätte. Aber wie es dann manchmal so kommt, passierten einige wichtige und weniger wichtige Dinge, die die Routine in der Preschool und der Afterschool ganz gehörig aus der Bahn geworfen haben. Es fing damit an, dass eine meiner Kolleginnen vorzeitig in Mutterschutzurlaub gegangen ist. An sich ist das nicht weiter schlimm, aber da sie schon die dritte – und noch nicht die letzte – schwangere Kollegin im Wishing Well war, wurde es mit ihrer Vertretung etwas kompliziert. Diese vertretende Kollegin hatte schon vorher ab und zu bei uns gearbeitet und ist glücklicherweise eine sehr nette, die es gut versteht mit den Kindern umzugehen und ihnen den Weg in die richtige Richtung zu weisen. Sie fiel aber schon nach kurzer Zeit ebenfalls aus und für die folgenden Wochen bekamen die Kinder wieder eine neue Bezugsperson vorgesetzt. Diese neue Kollegin wiederum ist zwar auch sehr nett, hat aber, da sie erst so alt ist wie ich, noch recht wenig Erfahrung in ihrem Beruf, was sich auf den Alltag in der Preschool nicht gerade förderlich ausgewirkt hat. Hinzu kam noch, dass wir im März eine offizielle Inspektion hatten. Wäre die personelle Situation wie üblich gewesen, wäre dies nur ein wenig mehr Arbeitsaufwand für alle gewesen. So allerdings lag die ganze Verantwortung auf meiner verbleibenden ursprünglichen Kollegin, die das komplette Aufräumen, Umgestalten und in Stand setzten von sieben Räumen und drei Abstellkammern in kürzester Zeit organisieren musste. Ich habe ihr selbstverständlich dabei geholfen und drei Räume sowie viele Beschilderungen und Bilder aufgeräumt, geputzt, ausgestattet bzw. erneuert und auch einige Arbeiten am Computer übernommen. Trotzdem waren wir erst Mitte März mit dem Gröbsten fertig, was nicht nur uns, sondern auch das Management ziemlich nervös gemacht hat, wussten wir doch nicht, wann genau im März die Inspektion stattfinden würde. Sie verlief dann doch besser als ich zu hoffen gewagt hatte und zum Dank bekamen alle Kolleginnen einen Tag frei. Ein Bild, dass ich mit den Afterschools nach Figuren aus dem Film „Frozen“ und Spongebob gemalt habe Ein Ausschnitt aus dem Wandbild, das ich gemalt habe Freddys Bus, mit dem ich die Kinder von der Schule abhole – KAPITEL ACHT – Zwischenseminar in Castlerock Das obligatorische Zwischenseminar fand für alle Nordirland- und Irland-Freiwilligen in Castlerock an der nordirischen Küste statt. Das Hauptanliegen dabei war nicht nur eine gemeinsame Reflexion unseres Dienstes, sondern auch ein wenig Abstand zum Alltag zu gewinnen, um anschließend mit neuem Elan an die Arbeit im Projekt gehen zu können. In Castlerock hatten wir ein ganzes Hostel für eine Woche zu unserer Verfügung. Das Haus ist wunderbar am Strand und inmitten von wilder und typisch irischer Natur gelegen, man muss nur aus der Tür heraustreten und einige Meter laufen und man ist direkt am Wasser. Schon das allein war Grund genug für eine gute Stimmung. Aber auch das ausgewogene Programm und das Beisammensein mit netten Menschen trugen dazu bei, dass ich am Ende der Woche eher ungern ins graue und verregnete Belfast zurückkehren mochte. Ralf, unser Referent von EIRENE, hatte das Programm in einer Weise aufgebaut, dass sich Spaß mit Denkarbeit abwechselte, wobei trotz allem genügend Zeit für Gespräche und Strandspaziergänge blieb. So machten wir zum Beispiel kleine Wanderungen in der Umgebung und genossen dabei ausgiebig die Weite und die Natur, wohnen viele von uns doch in der Stadt, wo es zwar Parks, nicht aber unberührte Natur gibt. Wir sprachen in der ganzen Gruppe über unsere derzeitige allgemeine Situation und stellten alle unsere Projekte noch einmal vor, jetzt vor allem mit unseren sowohl positiven als auch negativen Erfahrungen. Darüber hinaus führten wir Einzelgespräche mit Ralf, um Dinge zu erzählen, für die bisher kein Raum gewesen war und um persönliche Probleme in angemessenem Rahmen auszusprechen, nach passenden Lösungen zu suchen und allgemein Unterstützung zu erfahren. Eine Kollegin einer Mitfreiwilligen kam vorbei, um uns aus ihrer Sicht - die ich persönlich erstaunlich sachlich und weniger vom gegenseitigen Hass der gegenseitigen Positionen beeinflusst war - über den Nordirlandkonflikt zu erzählen. Besonders diese Einheit war mir wichtig, da ich bis zu diesem Zeitpunkt zwar einige Dinge über den Konflikt wusste, sie aber als Einzelteile in meinem Kopf herumschwirrten und ich sie nicht einmal ansatzweise zusammen bringen konnte. Das fällt mir wegen der Vielschichtigkeit der Auseinandersetzungen zwar immer noch schwer, aber langsam setzen sich die Teile zu einem Ganzen zusammen. An einem Abend schauten wir alle gemeinsam im Dorfpub vorbei, sonst spielten wir abends meistens das Spiel „Werwolf“, so auch an jenem Abend, als in ganz Castlerock wegen des starken Windes der Strom ausfiel und wir das Haus ab dem romantischen „Candlelight-Dinner“ mit Kerzen beleuchten mussten. Ein besonderer Punkt war für die meisten das „Blowcarting“ am Strand, bei dem wir auf segelgesteuerten Carts (Fahrzeuge mit drei Rädern, auf denen man halb sitzt, halb liegt) über den Sand gedüst sind. Mein persönliches Highlight allerdings war das Baden im Meer an einem Morgen im November. Eine besondere Freude bereitete Ralf uns allen noch mit richtigem Körnerbrot aus dem örtlichen Lidl. Wir aßen riesige Mengen davon, weil für viele von uns der Lidl recht schlecht zu erreichen ist und wir uns, wenn wir das Toastbrot nicht mehr sehen können, das Brot selbst backen müssen. Nach dieser schönen Zeit, die mir sicherlich noch lange in guter Erinnerung bleiben wird, fiel mir die Ankunft in Belfast schon etwas schwer und ich dachte anfangs voller Wehmut an die Tage in Castlerock, aber der Alltag holte mich schnell wieder ein und ich konnte mich bald wieder an den kleinen Freuden bei der Arbeit und danach erfreuen. Ralf hat gesagt, dass wir, wenn wir die Schafe selbst fangen, doch nicht ganz vegetarisch leben müssen bei den Seminaren. Auch im November kann Baden im Meer Spaß machen. – KAPITEL NEUN – Belfast II Obwohl Belfast sehr vom immer noch unterschwellig herrschenden Konflikt geprägt ist, ist die Stadt kulturell doch sehr vielfältig. Und das liegt bestimmt nicht nur daran, dass in den letzten Jahren viele Ausländer, besonders Polen, Spanier, Asiaten und Afrikaner den Weg in ein Land gefunden haben, das Bedürftigen großzügige Unterstützung zukommen lässt. Auch die eigentliche (nord)irische Kultur hat einiges Spannendes zu bieten. Zwei sehr polarisierende Feste sind dabei der katholische St. Patrick’s Day, an dem der irische Nationalheilige St. Patrick gefeiert wird, und das Fest zum 12. Juli, an dem die protestantische Bevölkerung Nordirlands den Jahrestag des „Battle of the Boyne“, den Sieg des protestantischen Königs William the Orange über den katholischen James II., feiert. Beide Veranstaltungen haben ihren Charme und ihre ganz eigene Atmosphäre und werden vom jeweils anderen Teil der Bevölkerung weitestgehend vermieden. Der „St. Paddy’s Day“, wie der St. Patrick’s Day auch genannt wird, wird jedes Jahr am 17. März feucht fröhlich gefeiert. Selbst in Belfast sieht man im City Centre viele feiernde und gut gelaunte Menschen, obwohl es kein Vergleich zu den Feierlichkeiten in Dublin ist. In diesem Jahr fand die kleine Parade und ein anschließendes Konzert allerdings schon am Sonntag, einem Tag zuvor, statt. Trotz aller Ausgelassenheit und Freude empfand ich eine leichte Anspannung, besonders als ich mit grünen Kleeblättern im Haar später nach Hause lief, wusste ich doch nicht genau, wie die Menschen auf diese offensichtliche Bekundung zum St. Patrick’s Day reagieren würden. Ganz anders dann war die Stimmung am nächsten Tag in Dublin, wo ich mit zwei Freundinnen für die „richtigen“ Paraden und Feierlichkeiten am 17. März hinfuhr. Dort war die Stimmung schon früh morgens ausgelassen und deutlich gelöster als in Belfast. Auch die Parade war natürlich größer und aufwändiger und sogar das Fernsehen und Radio mischten sich unter die Leute, um von der tollen Stimmung zu berichten. Nach der langen und spannenden Parade gesellten wir uns zu der feiernden Menschenmasse und besuchten unter anderem auch die bekannte „Temple Bar“ im Herzen des Temple Bar Bezirks in der Innenstadt Dublins. Insgesamt war es ein einmaliges Erlebnis, dieses traditionelle Fest einmal hautnah in Dublin erlebt zu haben. Das werde ich bestimmt so schnell nicht vergessen! Dagegen gibt es für das Fest des 12. Juli -soweit ich weiß- kein Pendant in der Republik Irland. Schon Wochen zuvor begannen Gruppen des einzelnen Communities (Wohnbezirke) mit dem Bauen ihrer Bonfire (Freudenfeuer, ähnlich unseren Osterfeuern). Es entwickelten sich regelrechte Wettstreite um das höchste und größte (was leider letztlich nicht mehr ganz ungefährlich ist, besonders, wenn man schon etwas angetrunken bis an die Spitze klettern will), sodass über die gesamte Stadt verteilt riesige Bonfire emporschossen. Dass selbst das Bauen dieser Feuer ein wichtiger Bestandteil der Feierlichkeiten ist, wurde mir besonders in einem Gespräch mit einem meiner kleinen Jungen bewusst, der mir voller Stolz erzählte, dass sein Papa auch an einem Bonfire baut und dass sein Onkel Autoreifen dafür besorgt (was natürlich nicht ganz legal ist). Abgebrannt wurden die Bonfire dann in der Nacht des 11. Juli, was aufgrund der aufgeheizten Stimmung einen großen Polizeieinsatz hervorrief. Polizisten standen mit Schusswesten, Schutzschilden und Maschinengewehren an Hausecken und Kreuzungen, was aber für Belfaster im Prinzip kein großartiger Grund zur Beunruhigung ist, wie mir die Reaktion eines Taxifahrers zeigte. Um in dieser Nacht einen Überblick über Belfast zu haben, stiegen wir Eirenies auf den Cave Hill hinauf, einen Berg am Rande der Stadt. Ab neun Uhr und dann noch einmal ab 12 Uhr erwachten immer wieder kleinere und größere Bonfire und verwandelten den Himmel über Belfast in ein orange-rotes Schattenspiel. Der eigentliche 12. Juli fiel in diesem Jahr leider etwas ins Wasser, sodass die vielen Bands in der unglaublich langen Parade durchnässt und verfroren durch die menschenbepackten Straßenzüge marschieren mussten. Die Stimmung war aber nicht schlecht, im Gegenteil: auch hier waren die Menschen stolz auf das Fest, das fröhliche Beisammensein und die Teilnahme an der Parade. Ich werde auf jeden Fall beide Tage in Erinnerung behalten als einen wichtigen kulturellen Teil meines Jahres in Belfast. St. Patrick’s Day in Dublin Eine protestantische Band der Parade am 12. Juli – KAPITEL ZEHN – Urlaub auf der „Grünen Insel“ Meine freien Tage während des Jahres habe ich nicht nur genutzt, um Belfast kennen zu lernen oder um zu faulenzen (obwohl auch das durchaus vorgekommen sein mag). Meine freien Tage wollte ich so gut wie möglich ausfüllen, um möglichst viel Neues zu sehen und zu erleben. Und das hat mir nicht nur notwendigen Abstand zur Arbeit gewährt, sondern auch meine Augen für die unendliche Schönheit der „Grünen Insel“ geöffnet. Mein erster größerer Urlaub führte mich allerdings nicht durch eine wunderbare saftiggrüne Wiesenlandschaft, sondern nach Hause ins kalte Deutschland. Da alle meine deutschen Mitfreiwilligen über Weihnachten ihre Familien besuchen wollten, flog auch ich kurz vor Weihnachten voller Vorfreude nach Hause und verbrachte dort einige schöne Tage bei meiner Mama. Und obwohl ich mich in Belfast immer sehr wohlgefühlt habe, fiel es mir letztlich doch sehr schwer wieder zurück zu fliegen. Das lag bestimmt daran, dass ich bei der Arbeit einen Konflikt zu klären hatte, aber auch die Aussicht auf dunkle Regentage, an denen man im Dunkeln morgens aus dem Haus geht und abends im Dunkeln heim kommt, und die erdrückende Stimmung, die damit einhergeht, trugen nicht gerade dazu bei, dass ich mich auf meine Rückkehr nach Belfast freute. Letztlich gelang mir die Wiedereingewöhnung aber schneller als gedacht und ich konnte voller Tatendrang in ein zweites Halbjahr starten. Der nächste Urlaub war wohl einer der schönsten, die ich in diesem Jahr erlebt habe. Über Ostern reiste ich mit meiner Freundin und Lieblingsmitbewohnerin Alex auf die Insel Inishmore, die größte bewohnte Insel der Aran Islands an der Westküste der Republik Irland. Dort verbrachten wir ein paar wunderbare gemeinsame Tage, an denen wir die Insel, die nur 14 Kilometer in der Länge und drei Kilometer in der Breite misst, zu Fuß und mit dem Fahrrad erkundeten. Wir trafen dort neben unzähligen Touristen auch Seerobben, die sich im seichten Küstenwasser sonnten, die inzwischen zum gewohnten Anblick gewordenen Schafe, aber auch Kühe, Esel und Ziegen, sowie einige Einheimische, die den meist englischsprachigen Touristen nicht immer nur skeptisch und ablehnend gegenüberstanden (die Aran Islands gehören zu den Gaeltacht-Gebieten, in denen das irische Gälisch immer noch Amtsspracht ist), sondern teils auch offen und hilfsbereit über ihre Insel erzählten. Ein heimlicher Höhepunkt dieser Osterreise war für uns beide wohl die Osternachtsmesse, die wir besuchten: Wir hatten uns zwar schon gedacht, dass große Teile dieser Messe auf Gälisch gehalten würden, aber dass es uns gänzlich unmöglich war auch nur den kleinsten Teil dessen zu verstehen, was um uns herum geschah, hatte ich doch nicht erwartet. Der Ablauf des Gottesdienstes war zwar dem deutschen sehr ähnlich, aber mir fiel auf, dass besonders viel und besonders schön gesungen wurde, und dass nicht nur von einer kleinen Chorgruppe, sondern von der gesamten Gemeinde. Und gesungenes Gälisch klingt wirklich sehr schön, sodass mich die Gänsehaut gar nicht mehr loslassen wollte. Nach diesem intensiven Erlebnis schlugen wir uns die seit Beginn der Fastenzeit gähnend leeren Mägen mit Schokoladeneiern und Chips voll und konnten es nicht fassen, dass wir den gesamten nächsten Tag im Bus würden sitzen müssen, bis wir wieder zu Hause in Belfast wären. Direkt am nächsten Tag erwartete mich schon mein nächster Urlaub: eine ganze freie Woche, die ich mit meiner Mama und meinem Stiefvater in Belfast verbringen konnte. Nach einem freudigen Wiedersehen war es mir ein großes Bedürfnis ihnen „mein“ Belfast, die Stadt, wie ich sie tagtäglich erlebt habe, zu zeigen. Es machte mir eine große Freude mit ihnen durch den Botanic Garden zu wandeln; auf einer Stadtführung noch einmal einen groben Überblick über die gesamte Stadt zu bekommen; das recht neu eröffnete Titanic Museum zu besuchen (die RMS Titanic ist nämlich 1912 in Belfast von der „Harland and Wolff“-Werft für die Reederei „White Star Line“ fertig gestellt worden!); am Strand entlang bis in einen Nachbarort von Belfast zu laufen; eine Bustour entlang der nordirischen Küste bis zum Giant’s Causeway, dem atemberaubenden Weltnaturerbe bestehend aus unzähligen sechseckigen Basaltsäulen, die in die Luft ragen, zu machen; durch Belfast zu bummeln und ihnen natürlich das Wishing Well und einige meiner Kollegen vorzustellen. Ich glaube, auch die beiden hatten ihren Spaß, auch wenn das Wetter auf der Insel nicht immer zum besten Urlaubswetter zu werden scheint. Es hat aber nur dreimal geregnet. Meine weiteren Urlaube verbrachte ich mit den anderen EIRENE-Freiwilligen. Ich kürze den Bericht hier etwas ab, weil ich einerseits viel zu viel zu erzählen hätte, denn eine Reise bringt ja bekanntermaßen zahlreiche neue Erlebnisse und Begebenheiten, von denen man berichten kann, mit sich und andererseits möchte ich niemandem die Vorfreude auf eine ganz eigene Reise auf die grüne Insel nehmen. Gemeinsam mit den anderen Freiwilligen also fuhr ich mit einer Fähre nach Schottland, wo wir uns über ein verlängertes Wochenende Glasgow und Edinburgh anschauten. Unsere geplante Wandertour am Loch Lomond fiel leider ins Wasser, aber auch im Regen kann man der wilden romantischen Natur Schottlands durchaus etwas abgewinnen. Eine Woche verbrachten wir gemeinsam in Athenry in der Nähe von Glasgow, von wo aus wir uns einer eintägigen Bustour durch den Burren, eine Karstlandschaft, die sowohl von Mystik als auch von Tier- und Pflanzenreichtum schier zu sprudeln scheint, anschlossen. Ein besonderer Höhepunkt dieses Tages und der gesamten Woche waren für uns alle die Cliffs of Moher. Mit acht Kilometern Länge und einer Höhe von über 200 Metern zählen diese Steilklippen nicht ohne Grund zu den spektakulärsten Orten in Irland. An einem anderen Wochenende fuhren wir in die Wicklow Mountains südlich von Dublin, um dort für einen Tag wandern zu gehen. Obwohl wir an diesem Tag wohl mehr Zeit im Bus als in den Bergen verbracht haben, können wir alle sagen, dass es sich gelohnt hat von Belfast aus dorthin zu fahren. Die Landschaft in den Wicklow Mountains ähnelt zwar oft dem Schwarzwald in Deutschland, sodass sich einige Freundinnen doch auf eine Art nach Hause versetzt fühlten, aber die Ausblicke und Seen zeigten uns doch oft genug, dass wir uns in Irland befanden. Am Wochenende vor meiner letzten Arbeitswoche fuhr ich mit zwei Freundinnen ins County Donegal, das im Norden der Republik Irland liegt. Dort übernachteten wir in einem alten Eisenbahnwagon, der zu einem Hostel umgebaut worden war und wanderten vom kleinen Örtchen Dunfanaghy ins gut zehn Kilometer entfernte Falcarragh, von wo aus ich den Bus nach Belfast nahm, um die letzte Woche zu arbeiten. Meine letzte Reise innerhalb Irlands führte mich an meinem letzten Wochenende nach Dublin, wo ich mit ein paar Freunden als Freiwillige beim Longitude Festival aushalf. Nicht nur das wahnsinnig gute irische Frühstück, das wir bekamen, und die vielfältige Musik, sondern besonders die letzte Zeit, die ich mit meinen Freunden in Irland verbringen durfte, bleiben mir in guter Erinnerung. Auf den Aran Islands An den Ciffs of Moher in Irland In den Wicklow Mountains bei Dublin In Glasgow in Schottland – KAPITEL ELF – Mein Jahr im Wishing Well Family Centre Mein Jahr im Wishing Well Family Centre im Norden von Belfast ist nun beendet. Ich werde nun nicht mehr morgens früh in die Stadt laufen, um den Bus in den Norden zu nehmen. Ich werde nicht mehr bekannte Gesichter auf dem Weg wahrnehmen, werde nicht mehr den netten Herrn in der Bedford Street grüßen, der morgens, wenn ich zur Arbeit ging, schon seine erste Zigarettenpause machte. Ich werde nicht mehr mit dem netten Busfahrer plaudern. Ich werde der hektischen Dame nicht mehr sagen müssen, dass sie ihren Bus um eine Minute verpasst hat. Ich werde nicht mehr die vielen Schüler sehen, die mit mir im Bus fahren und die mir, obwohl ich noch nie ein Wort mit ihnen gewechselt habe, ans Herz gewachsen sind. Ich werde nicht mehr neben der Frau sitzen, die gerne ihre Haarfarbe wechselt und mir immer ein Lächeln schenkt. Ich werde nicht mehr im Bus einschlafen und nie mehr fast die Bushaltestelle verpassen. Ich werde morgens im Wishing Well nicht mehr um die Ecke schauen, um zu gucken, ob Tracey in ihrem Büro sitzt. Ich werde meine Kolleginnen nicht mehr mit einem freundlichen „Good morning!“ begrüßen und mit ihnen einen kleinen Plausch über das Wetter halten. Ich werde nicht mehr überlegen müssen, ob wir noch genug Butter und Milch im Kühlschrank und Toast in der Küche haben und gegebenenfalls mitnehmen. Ich werde nicht mehr meine Kinder einsammeln müssen, um gemeinsam mit ihnen in unsere Räume zu gehen. Ich werde nicht mehr die Lichter anschalten, Fenster und Türen öffnen müssen. Ich werde nicht mehr nett mit den Eltern plaudern und auf meine Kolleginnen warten müssen, die sich mal wieder verquatscht haben. Ich werde nicht mehr gerufen werden, um mit dem Bus Kinder von zu Hause abzuholen. Ich werde nicht mehr kontrollieren, ob noch genug Papiertücher und Toilettenpapier da ist. Ich werde kein Papier mehr für die Kinder zurechtschneiden müssen. Ich werde den kleinen Künstlern keine Schürzen mehr umbinden, um ihre ausladenden Kunstwerke von ihren kleinen Uniformen fern zu halten. Ich werde die Kinder nicht mehr zur Ruhe und gesittetem Spielen ermahnen müssen. Ich werde ihnen kein Toast mehr schmieren und Obst schneiden. Ich werde meinen Kolleginnen keinen Tee mehr kochen müssen (yeah!) und anschließend alles wegspülen. Ich werde meinen kleinen Kindern nicht mehr zeigen müssen, wie man sich die Zähne „properly“ putzt (Das können sie nämlich jetzt!). Ich werde in meiner Mittagspause nicht mehr vor Kälte schlotternd am Küchentisch schlafen, um unsanft durch lautes Klopfen an der Tür oder durch eine unsensible Kollegin geweckt zu werden. Ich werde die Kinder nach meiner Pause nicht mehr zurück ins andere Gebäude bringen und erst im Gehen wieder richtig wach werden. Ich werde nicht mehr fegen, aufräumen, Farben nachfüllen, Pinsel auswaschen, Spielzeuge rauslegen und Namensschilder auslegen. Ich werde die kleinen Kinder nicht mehr ermahnen, ihren Lunch zu essen (Brote und Äpfel zuerst, dann die Schokolade) und davon überzeugen, nicht alles über den Boden zu verteilen. Ich werde ihnen nicht mehr „Frozen“ (meinen nicht ganz heimlichen Lieblingsfilm) im Fernsehen anschalten. Ich werde keine Bus-runs mehr haben und meine lieben, nicht mehr ganz so kleinen, Kinderlein von ihren Schulen abholen. Ich werde nicht mehr mit Freddy über mein Wochenende und vergangene rauschende Partynächte plaudern. Ich werde nicht mehr von Freddy aufgezogen und mit den Worten „Do you want me to wait on you?“ aus dem Bus gelassen werden. Ich werde nicht mehr dem kleinen Jungen auf dem Schulhof bei seinen ersten Gehversuchen beobachten. Ich werde nicht mehr mit dem ein oder anderen Erwachsenen sprechen, der das Wishing Well von seinen eigenen Kindern her kennt und mich um meine Arbeit nicht gerade beneidet. Ich werde nicht mehr mit den Lehrern sprechen und die Kinder in ihren Schulen suchen müssen. Ich werde nicht mehr mit den Kindern durch den Regen laufen und über die „drops of happiness“ einer kleinen Freundin fachsimpeln. Ich werde nicht mehr fast täglich einen wunderbaren Regenbogen am sonnigen, wolkenverhangenen Himmel beobachten können. Ich werde die Kinder nicht mehr mit meinem Namenskürzel in eine Liste eintragen. Ich werde ihnen nicht mehr bei den Hausaufgaben helfen und verhindern, dass sie trödelnd den gesamten Nachmittag damit zubringen. Ich werde ihnen nicht mehr beim Wii spielen zusehen. Ich werde kein Memory, „Feuer, Wasser, Luft“, „Simon says“ oder „Mensch-ärgere-dich-nicht“ mehr mit ihnen spielen können. Ich werde keine Bastelaktionen mehr machen können. Ich werde keine Fensterdekoration mehr mit meinen Kindern kreieren. Ich werde keine ganze Wand mit Bildern aus meiner Fantasie bemalen. Ich werde nicht mehr im Büro sitzen und mich mit Muriel über den Konflikt, ihre Enkel, ihren Hund Buddy, die Kinder oder andere interessante Themen unterhalten. Ich werde ihnen kein Toast mehr machen und nachher alle Krümel beseitigen. Ich werde auch nachmittags keinen Tee mehr kochen (yeah!). Ich werde nicht mehr versuchen, meine Kollegin davon zu überzeugen, dass die Kinder am liebsten draußen spielen würden. Ich werde gewisse Damen nicht mehr auffordern müssen rechtzeitig zur Toilette zu gehen. Ich werde nicht mehr meinen Bus verpassen und eine halbe Stunde warten müssen. Ich werde nicht mehr darüber nachdenken, was ich im Tesco einkaufen muss. Ich werde nicht mehr voller Verlangen ins Schreibwarengeschäft schauen. Ich werde mich vorm Bus nicht mehr in die lange Schlange der Wartenden einreihen und gelassen und völlig entspannt auf den Bus warten, auch wenn er zu spät ist (obwohl das hierzulande, in Deutschland, bestimmt auch seinen Reiz hätte). Ich werde nicht mehr eingequetscht nach Hause fahren und völlig erledigt zu Hause ankommen. Ich werde nicht mehr mein Abend- und Mittagessen für den nächsten Tag kochen und in meine geliebte Lunchbox füllen. Ich werde dabei nicht mehr die Ereignisse des Tages mit Alex besprechen und Pläne für die nächsten Abende und Wochenenden schmieden. Ich werde nicht mehr verspätet den Tatort gucken und den Tag gemütlich ausklingen lassen. Mein Jahr im Wishing Well ist mit seinen Höhen und Tiefen einzigartig und unbeschreiblich schön gewesen. Ich habe eine Menge von meinen Kolleginnen, meinen Kindern und auch mir selbst gelernt und diese Erfahrungen möchte ich um nichts in der Welt missen. Ich habe meine Probleme mit meiner Kollegin direkt angesprochen und dadurch nicht nur Respekt geerntet, sondern auch die Stimmung zwischen mir und meinen Kolleginnen entscheidend gebessert. Ich habe an der ergreifenden GraduationZeremonie meiner kleinen Preschools teilgenommen, die nun zur Schule gehen werden. Ich habe in den letzten Wochen montags eher gehen dürfen, um in Alex‘ Projekt HAPANI („Horn of Africa People’s Aid Northern Ireland“) zu arbeiten. Ich habe Tage voller Langeweile durchgestanden. Ich habe die Kinder auf Trips in Parks, auf Spielplätze, zum Bowlen, ins W5, auf einen Bauernhof und ins Kino begleitet. Ich habe sie vor Schlangen und Spinnen beschützt als der Zoo zu uns kam und vor den großen unheimlichen Männern von der Polizei und Feuerwehr, die uns über ihre Arbeit berichtet haben. Ich habe alle albernen und langatmigen Magic-Shows und sogar meine lackierten Fingernägel beim „Pampering-Day“ überlebt. Ich habe einen Tag an einem Training fürs Kinderschminken teilgenommen. Ich bin mit dem angepassten Lied „For she’s a jolly good fellow“, guten Wünschen und einem wunderschönen silbernen Taschenspiegel von allen verabschiedet worden. Und ich habe das ganze Wishing Well lieb gewonnen. Eins ist sicher: Ich werde das Wishing Well, meine Kolleginnen, Freddy und besonders „me wee children, them cheeky rascals“ vermissen und noch oft an sie denken. Die Küche im Wishing Well Fotos aller Eirene-Freiwilligen im Wishing Well Eine „Fruit Pizza“, mein Abschiedsgeschenk an die Afterschools – KAPITEL ZWÖLF – Mein Friedensdienst in Belfast Mein Jahr des Friedensdienstes in Belfast ist nun um und ich kann noch gar nicht glauben, dass es nun vorbei sein soll und für mich ein neuer Lebensabschnitt beginnen wird. Ich habe im letzten Jahr so viel Neues gesehen und erlebt, Freunde gefunden und einfach Freude am Leben gehabt, bin gewachsen und habe mich verändert, dass ich mein Glück dort gewesen sein zu dürfen nicht fassen kann. Dieses Jahr in Belfast hat mich sehr geprägt und wirkt noch immer auf mich. Immer wenn ich in Belfast unterwegs gewesen bin, habe ich gedacht, wie glücklich ich mich schätzen darf, einen Freiwilligendienst in dieser Stadt zu leisten. Es war ganz eindeutig das Beste, was mir nach meiner Schulzeit passieren konnte. Ich möchte nicht eine einzige Stunde davon missen müssen. Dieses Jahr in Belfast umfasst so viel, dass ich gar nicht weiß, wo ich beginnen soll. Zusammen mit den anderen Eirenies habe ich so viel Zeit verbracht und Spaß gehabt. Viele schöne Abende zu Hause und in Pubs. Das eine oder andere ausgiebige Frühstück. Eine lustige Stadtrundfahrt. Zwei haushoch verlorene Abende beim Pub-Quiz (das ist wirklich schwieriger als man denkt!). Batiken mit erstaunlichen Ergebnissen. Wanderungen auf den Cave Hill in Belfast. Fahrten an den Helen’s Bay Beach. Schöne Momente in Botanic Garden um die Ecke. Die eine oder andere feucht-fröhliche Party. Geburtstagsfeiern. Die Engagement Party (Verlobungfeier) einer Kollegin. Hallowe’en mal ein bisschen anders als in Deutschland. Pancake Tuesday. Eine Karnevalsparty in einem Land, in dem Karneval eigentlich nicht gefeiert wird und völlig unbekannt ist. Der Besuch des Musicals „“Fiddler on the Roof” im Grand Opera House in Belfast (ich freue mich immer, wenn ich Musik höre, die mich an die schönen Zeiten im Schulchor erinnert!). Besuche der Projekte der anderen Eirenies zu besonderen Anlässen: ein Charity-Abend des WAVE-Trauma-Centres mit dem Motto “WAVE’s Got Talent” und die selbstinszenierte Theateraufführung im Forthspring Youth Centre. Das Mela-Festival. Zahlreiche Besuche des St. George’s Market, des größten und schönsten Indoor-Marktes im Königreich. … Ich wusste nicht genau, wo ich anfangen soll, aber wo ich aufhören soll, weiß ich erst recht nicht. Und nicht nur diese Aspekte des Jahres sind mir wichtig und wertvoll. Auch der Friedensdienst von EIRENE als solcher war immer ein Teil meines Lebens dort, auch wenn ich nicht immer in meiner alltäglichen Arbeit sehen konnte, was mein Tun dort konkret mit Friedensarbeit zu tun haben könnte. Im Laufe der Zeit habe ich aber gemerkt, dass nicht nur politische Arbeit an der Konfliktlösung und die Aufarbeitung des Konflikts im Friedensprozess in Nordirland und speziell Belfast eine Rolle spielen, sondern auch kleinere Dinge im Hintergrund wichtig sind. Dass kleine Kinder früh lernen müssen, dass Waffen keine Spielzeuge, sondern gefährlich sind, dass man Auseinandersetzungen mit Worten und nicht nur durch handgreifliche oder sogar gewalttätige Taten lösen kann, dass das Leben jedem Menschen etwas zu bieten hat und vor allem, dass Menschen anderer Konfessionen oder politischer Ansichten auch nur Menschen sind und vielleicht sogar gute Freunde sein können. Friedensdienst heißt für mich aber auch, dass zwei meiner Kollegen, die das gesamte Jahr über nicht ein Wort miteinander gewechselt und viel Schlechtes übereinander gesagt haben, an meinem vorletzten Tag ein kurzes Gespräch mit mir und über mich führten. Eine der beiden stellte anschließend fest, dass ich somit an dieser Stelle auf jeden Fall einen kleinen „Friedensdienst“ geleistet hätte. Oft genug habe ich mich als einfache deutsche Freiwillige gefühlt, aber im Nachhinein betrachtet sehe ich den Sinn der Friedensarbeit EIRENEs in Belfast, insbesondere im Wishing Well. Deshalb bin ich umso trauriger, dass es durch äußere Umstände bedingt keine weiteren Freiwilligen im Wishing Well mehr geben wird und die Kooperation mit EIRENE vorerst beendet worden ist. Ich glaube, in den letzten 20 Jahren, in denen dort Freiwillige aus Deutschland gearbeitet haben, konnten beide Seiten viel voneinander lernen und für die eigene Zukunft mitnehmen. Ich wünsche mir daher, dass der Kontakt bestehen bleibt, bis vielleicht die Zeit kommt, in der wieder Freiwillige dort Erfahrungen sammeln und ihr „bisschen Deutschland“ weitergeben können. Die City Hall in Belfast Ein Blick ins City Centre von Belfast Die Ulsterville Avenue, „meine Straße“ Die Ulsterville Avenue nach einem kleinen Regenguss – KAPITEL DREIZEHN – Belfast III In der letzten Woche vor meiner Abreise nach Deutschland tat ich etwas, was ich das ganze Jahr über nicht geschafft hatte: eine Black Taxi Tour durch Belfast. Zusammen mit einer Freundin ging ich in die Stadt zur Zentrale eines Taxiunternehmens. Dort wurden wir sehr freundlich von dem Taxifahrer begrüßt, der mit uns die Tour machen sollte. Er nannte sich Jimmy, obwohl wir beide uns nicht sicher waren, ob das wirklich sein Name war. Schnell wurde uns klar, dass es sich bei Jimmy um einen waschechten Republikaner mit zweifelhafter Vergangenheit handelte, was uns schon den einen oder anderen Moment des Schauderns und der Gänsehaut bescherte. Er fuhr mit uns entlang der Falls und Shankhill Road Murals, Gedenktafeln und Denkmäler ab, die mit dem Konflikt in Zusammenhang stehen. Dabei erzählte er eine Anekdote nach der anderen, erzählte viele Details und ordnete einige Ereignisse in den geschichtlichen Zusammenhang ein, um uns die Thematik näher zu bringen. Er wirkte trotz der recht einseitigen Erzählweise (was er offen zugab) sehr authentisch, denn er schien alle Menschen, von denen er sprach, selbst gekannt zu haben. An vielen Stellen wirkte er selbst betroffen und den Tränen nahe, besonders als er uns eine Gedenktafel für seinen besten Freund Finbarr McKenna zeigte, der bei einem misslungenen Anschlag ums Leben gekommen war. Besonders interessant war es für uns, als wir vor dem Büro der Sinn Féin, der stärksten republikanischen Partei in Nordirland, Alex Maskey trafen, einen Politiker und den ersten republikanischen Bürgermeister von Belfast. Auch ein ehemaliger Gefängnisinsasse der H-Blocks (Gefängnis in der Nähe von Belfast, in dem während des Konflikts Gefangene beider Seiten einsaßen), der am Hungerstreik von 1981 beteiligt gewesen war, lief uns dort über den Weg. Ganz besonders angespannt wurde die Stimmung im Taxi nicht nur, als wir ins loyalistische Terrain vordrangen, wo Jimmy plötzlich die Fenster des Taxis schloss und nur noch leise sprach, sondern besonders, als meine Freundin nichtsahnend nach den „on the runs“ (Verurteilten auf der Flucht) fragte, die einige Monate zuvor in der Presse heiß diskutiert worden waren. An dieser Stelle zeigte sich uns, dass Jimmy wohl kein unbeschriebenes Blatt im Nordirlandkonflikt war und selbst in die eine oder andere Aktion der republikanischen Seite verstrickt war. Wirklich ein bisschen unheimlich. Und unsere interessierten Nachfragen schienen ihm aber zu gefallen, denn er erzählte und erklärte drei Stunden lang, viel länger als die Tour ursprünglich dauern sollte. Jimmy gab uns so viel Stoff zum Nachdenken und wir waren dankbar für seine offenen Worte zu einem Konflikt, der in Nordirland jeden auf seine Weise betrifft, den Alltag bestimmt und der sich aus der nordirischen Gesellschaft immer noch nicht wegdenken lässt. (Zu diesem und den anderen Kapiteln, in denen ich etwas zum Nordirlandkonflikt geschrieben habe, möchte ich anmerken, dass ich weit davon entfernt bin eine Expertin dieses Themas zu sein und ich mir nicht anmaßen möchte politisch korrekte Zusammenhänge zu schildern. Das, was ich geschrieben habe, wurde mir von den unterschiedlichsten Menschen erzählt, unterliegt daher einer gewissen Subjektivität und kann deshalb nicht ausschließlich als allgemeingültige und „richtige“ Aussagen gewertet werden. Ich möchte außerdem nicht den Eindruck erwecken Partei für eine Seite zu ergreifen, da es mir nicht zusteht über irgendjemanden in diesem Land zu urteilen. Alle Menschen in Nordirland haben ihre persönliche Geschichte im Zusammenhang mit dem Konflikt, fast alle Familien haben Opfer zu beklagen und ich glaube nicht nur mir als Außenstehender fällt es manchmal schwer das Ausmaß des Konflikts zu begreifen. Ich bedauere es, dass Kinder in diesem spannungsgeladenen Teil Europas und der Welt aufwachsen müssen, aber ich bewundere die Nordiren auch teils für ihren Umgang mit dieser festgefahrenen Situation, ganz besonders diejenigen, die sich für eine Verständigung zwischen den Gesellschaftsgruppen, die trotz ihrer Unterschiede doch auch viele Gemeinsamkeiten haben, vermitteln und den Friedensprozess in Gang halten. Für dieses Land wünsche ich mir, dass trotz aller aktuell aufkommenden Konflikte und Kriege auf der Welt auch diesem uns so nahen Land ein wenig mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird und dass sich Loyalisten und Republikaner, wenn sie auch keine besten Freunde werden, trotzdem einander annähern und eine friedliche Lösung für die Auseinandersetzungen finden werden.) Einige Murals (Wandbilder) auf der Falls Road (oben) Das bekannte Mural von Bobby Sands, Mitglied der IRA und Hungerstreikender (unten) – KAPITEL VIERZEHN – Rückkehr nach Deutschland Ein trauriges Kapitel. Ein Kapitel, das ich so schnell wie möglich hinter mich bringen möchte. Der Abschied aus Belfast, vom Wishing Well und von meinen Freunden ist mir sehr schwer gefallen. Ich habe mich das ganze Jahr über dort so wohl gefühlt, dass ich am liebsten dort bleiben wollte und ganz gewiss nicht über meine Zukunft, ein Studium, einen erneuten Ortswechsel und all dies nachdenken wollte. Aber am 21. Juli war es dann so weit und ich stieg morgens in Belfast in den Bus, der mich nach Dublin zum Flughafen bringen sollte. Dort hatte ich noch viel Zeit bis zum Abflug, las noch einmal in einer englischsprachigen Zeitschrift, freute mich, dass man mich für eine Muttersprachlerin und ganz bestimmt keine Deutsche hielt, und bekam am Gate fast einen Anfall, als ich mit geballter Ladung Deutsch konfrontiert wurde. Eine SeniorenReisegruppe machte sich wohl nach ein paar Tagen auf der Insel auch wieder auf die Rückreise und plapperte in einem fort in einer engstirnigen und für mich unverständlich festgefahren deutschen, allem Fremden und Neuen gegenüber ablehnenden Weise über Irland, dass ich vor lauter Scham meinen Personalausweis versteckte, damit etwaige irische Fluggäste mich nicht mit diesen Leuten gleichsetzten sollten. In Deutschland wurde ich dann von meiner Mama, meinem Stiefvater und meinem Onkel am Flughafen begrüßt und gemeinsam fuhren wir zurück nach Paderborn. In den nächsten Tagen und Wochen versuchte ich dort wieder anzukommen, aber das fällt mir auch heute noch manchmal schwer. Ich vermisse Belfast einfach zu sehr. Im August fand aber glücklicherweise noch das Rückkehrerseminar von EIRENE in Neuwied statt, sodass ich die anderen Eirenies noch einmal wiedersah. Bei diesem Seminar lag der Schwerpunkt natürlich auf der Reflexion unseres Dienstes und auf dem Erfahrungsaustausch, aber auch Themen wie Nachhaltigkeit, Diskriminierung, Stipendien und mögliches weiteres Engagement bei EIRENE wurden angesprochen. Besonders wichtig waren mir die Einheiten, in denen wir über unsere Rückkehr vom Dienst und die Berichterstattung sprachen, denn ich merkte, dass es den anderen ähnlich ging und wir ähnlich über Fragen wie „Wie erzähle ich meinen Bekannten von meinem Jahr im Ausland?“ dachten. Zum guten Abschluss des Jahres trug auch Ralf bei, der mit uns allen Einzelgespräche führte und uns auf seine ganz besondere Art aus dem Dienst bei EIRENE entließ. Jetzt liegt es an mir, wie ich die gesammelten Erfahrungen in mein weiteres Leben einbinden und mit den Erinnerungen an das soweit beste Jahr meines Lebens in einen neuen Lebensabschnitt in Bonn starten werde. Eins ist aber sicher: Belfast hat mich geprägt, meine Augen für Vieles geöffnet und mir die Kraft und den Mut gegeben, aus meinem Leben genau das zu machen, was mir gut tut und was mich glücklich macht. – NACHWORT – Dank II „Ein Traum ist unerlässlich, wenn man die Zukunft gestalten will.“ (Victor Hugo) Mit diesen Worten begann vor einem Jahr mein erster Rundbrief. Und wenn ich auch nicht mit diesen Worten schließe, so möchte ich sie doch noch einmal aufgreifen und auf diesen Gedanken eingehen. Rückblickend kommt mir mein Jahr in Belfast wirklich wie ein Traum vor, aus dem ich nur langsam wieder erwache. Die große Seifenblase, der geschützte Raum, in dem ich wachsen und reifen konnte, ist geplatzt und hat mich mehr oder weniger unsanft in die Realität in Deutschland zurück geworfen. Was mir aber bleibt, sind Erinnerungen an ein wundervolles Jahr. Und dafür möchte ich Danke sagen. Danke, liebe Mama, dass du immer für mich da warst (und immer noch bist) und mich besonders in den Zeiten, in denen es mir nicht so gut ging, unterstützt hast. Danke, Eirenies, dass wir so ein fantastisches und wundervolles Jahr zusammen in Belfast verlebt, gelacht, geweint und gesungen, unser Leben in vollen Zügen genossen haben. Ich werde euch nie vergessen! Danke, meine liebe Alex, dass du mit mir gewohnt hast (ohne dich wäre das zweite halbe Jahr in 144 nicht halb so unterhaltsam gewesen), dass du mich zum Lachen bringst, dass du zuhörst, dass wir so viel gemeinsam erlebt haben, dass du mir „Wild Child“ gezeigt und oft genug wieder mit mir angeschaut hast. Einfach, dass du bist, wer du bist. Danke, EIRENE und besonders Ralf, dass ihr mir dieses Jahr und den Friedensdienst im Wishing Well ermöglicht und mich sehr persönlich begleitet habt. Danke, Wishing Well Family Centre, liebe Kolleginnen, Kinder und Freddy, dass ich über das Jahr diejenige geworden bin, die ich nun bin. Danke, für unzählige schöne Momente, besonders mit den Kindern, die mir sehr ans Herz gewachsen sind und die jetzt in die große weite Welt außerhalb des Wishing Well gehen werden. Ich denke an euch und wünsche euch alles Gute für die Zukunft! Danke an meinen Unterstützerkreis und alle, die mir über das Jahr zur Seite gestanden haben. Ohne euch wäre mein Dienst in Belfast so nicht möglich gewesen. Das werde ich euch nie vergessen! Gesegnet deine Wünsche und deine Sehnsucht und alles, was in dir lebendig ist. Gesegnet die Tage und die Jahre, in denen deine Träume zu leben du nicht vergisst. Gesegnet die Zeiten deiner Trauer, dass du ihnen nicht entfliehst. Gesegnet, wenn du sie durchgestanden und wieder neue Wege vor dir siehst. Gesegnet jeder Augenblick, der dich zur Freude und zum Glücklichsein verführt. Gesegnet jeder Mensch, der mit Zärtlichkeit und Liebe dein Herz berührt. (Irischer Segenswunsch) Meine Entsendeorganisation EIRENE „Eirene“ ist griechisch und heißt Frieden. EIRENE, internationaler christlicher Friedensdienst, gehört zu den sieben in Deutschland staatlich anerkannten Personaldiensten in der Entwicklungszusammenarbeit. Außerdem ist EIRENE anerkannt, Freiwilligendienste im Rahmen der Förderprogramme IJFD (Internationaler Jugendfreiwilligendienst) und „weltwärts“ (Förderprogramm des BMZ) durchzuführen. Bereits seit 1957 unterstützt EIRENE im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit Projekte in Afrika und Lateinamerika durch finanzielle Hilfen und durch Fachkräfte (Südprogramm). In der Entsendung von Freiwilligen kann EIRENE auf mehr als 30 Jahre Erfahrung zurückgreifen. Bis dato haben über 2500 Menschen mit EIRENE in den verschiedenen Teilen der Welt einen Freiwilligendienst geleistet. Jährlich arbeiten ca. 100 Freiwillige in sozialen und ökologischen Projekten mit EIRENE im Ausland. Die Freiwilligen lernen dabei unterschiedliche Lebensrealitäten aus dem Blickwinkel von Armut, Ungerechtigkeit und Ausbeutung innerhalb unserer globalisierten Welt kennen. Über eine besondere Auswahl der Partnerorganisationen in den Einsatzländern, die sich an der Basis für soziale und ökologische Belange, die Einhaltung der Menschenrechte und für gewaltfreie Konfliktlösungen einsetzen, möchte EIRENE Menschen ermöglichen, eine Sensibilität für andere Gesellschaften zu entwickeln. Um einen Freiwilligendienst im Ausland zu absolvieren, ist eine pädagogische und organisatorische Begleitung sehr wichtig. Für die Vorbereitung, Begleitung, für Versicherungsfragen, Zwischenseminare und Auswertungstreffen ist EIRENE verantwortlich. Das Spendensiegel des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen (DZI) wird EIRENE seit 1993 jährlich neu zuerkannt und belegt, dass die Organisation verantwortungsvoll mit den Spendengeldern umgeht (weitere Informationen unter www.dzi.de). Das Qualitätssiegel der Agentur „Qualität in Freiwilligendiensten“ Quifd hat EIRENE seit 2005. Dies wird im Abstand von zwei Jahren überprüft.