09 Deutsch SEK I KL 9/10 (PDF – 0,3 MB)
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B A U K U LT U R G E B A U T E U M W E LT Deutsch: Sek I, Klasse 9/10, Erweiterung für Sek II geeignet Modul: Stadtbilder: Straßen – Plätze – besondere Orte Großstadtlyrik im Vergleich: Hinterhaus und Hochhaus – Lebenswelten Verglichen mit Frankreich und England hat sich die Großstadtlyrik in Deutschland spät entwickelt, und zwar insbesondere wegen der verzögerten Industrialisierung und der damit einhergehenden langsameren Herausbildung städtischer Zentren. Anfang des 20. Jahrhunderts wird die „Großstadt“ mit ihren anonymen Mietskasernen, lichtlosen Hinterhöfen, der Gleichzeitigkeit von Glamour und sozialen Verwerfungen ein entscheidendes Motiv für Schriftsteller (z. B. G. Heym, A. Lichtenstein, O. Loerke, P. Boldt, M. Kaléko, E. Kästner) und Maler, Kabarettisten, Theaterleute und Filmemacher. Dabei fallen signifikante formale und sprachliche Veränderungen auf. Die Wahrnehmung im urbanen Raum wird zum „dynamischen Sehen“, mit simultanen Eindrücken, neuen Formen der Verschränkung von Wahrnehmung und Reflexion und häufig drastisch-realistischer Metaphorik. „Die Poesie der Großstadt kann man nicht fassen mit den Augen Eichendorffs“, A. Bölsche (1890). Obwohl zwischen beiden Gedichten ein Jahrhundert mit einschneidenden Veränderungen liegt, scheint das Thema angesichts verwahrlosender Trabantenstädte und der Ballung alter und neuer sozialer Probleme nach wie vor aktuell. Arbeits-/ Umsetzungshinweise Das Unterrichtsangebot eignet sich sowohl als Einzelstunde zur Übung und Vertiefung der Untersuchungsmethode „Gedichtvergleich“ wie auch als Einstieg in eine Unterrichtsreihe zur „Großstadtlyrik“ mit dem Schwerpunkt der literarischen Spiegelung gebauter Umwelt. Dies kann auch zu einem größeren fächerverbindenden Projekt erweitert werden (z. B. mit G / Sz, FS, M, Ku, Mu, Rel / Ethik), in dem weitere literarische Texte mit Textskizzen der Schüler zum Thema, Bildern, Fotografien, Songtexten, Architekturzeichnungen, Bebauungsplänen zusammengeführt werden, außerschulische Recherche in entsprechenden Stadtquartieren dokumentiert und auch dem jeweiligen Menschenbild nachgegangen wird. Baukasten Angefertigt auf der Basis des Werkes „Baukultur – Gebaute Umwelt. Curriculare Bausteine für den Unterricht“ Hg. Wüstenrot Stiftung, Ludwigsburg 2010, ISBN 978-3-933249-72-2 © Wüstenrot Stiftung, Ludwigsburg 2016 1 Gedichtanalyse / Interpretation – Gedichtvergleich Hinterhaus, Oskar Loerke (1910), Im Schatten der Hochhäuser, Jürgen Becker (1977) Schwerpunkt bildet die Untersuchung beider Gedichte unter gleichen Fragestellungen: Die Texte entweder nacheinander oder arbeitsteilig in Partnerarbeit analysieren / interpretieren und dann in einem Fazit vergleichen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede festhalten. Etwas schwieriger, aber meist effizienter: Die Texte bereits bei jedem Untersuchungsschritt gegenüberstellen. Mögliche Untersuchungsschritte: – Formulierung eines ersten, vorläufigen Gesamteindrucks: Worum scheint es in beiden Gedichten zu gehen – z. B. Beschreibung eines bestimmten Gebäudes bzw. einer bestimmten Wohn- und Lebenssituation, damit offenbar auch eines sozialkritischen Ansatzes. – Welche formalen Strukturen und sprachlichen Mittel fallen auf, mit welcher Wirkung? – Aus welchem Blickwinkel schreibt Loerke, aus welchem Becker? – Welche Textaussagen machen über den jeweiligen Titel hinaus deutlich, um welche Art von Gebäude es geht? – Unterschiede und Gemeinsamkeiten sollten z. B. in einer Tabelle zusammengetragen werden. – Vertiefung: Auswertung der Bezüge zwischen den Gedichttexten und den Fotos. – Welche Rolle spielen die Menschen, die Bewohner in den Gedichten, und wie werden sie einbezogen? – Goldene Sterntapeten – Fertighaus auf dem Land – wofür stehen diese Sprachbilder? – Wo finden sich Belege für Sozialkritik? – Hintergrundinformationen zur Entstehungszeit sollten genauso einbezogen werden wie die Suche nach weiteren Fotografien und Bildern (z. B. des Expressionismus), die zu den Gedichten passen. 2 Erweiterung / Vertiefung und Projektarbeit Für leistungsstarke Lerngruppen und die Sek II kann dieser Ansatz in mehreren Schritten vertieft werden: Erweiterung des literarischen Spektrums auf Erzählungen, z. B. F. Kafka, „Der Nachbar“, I. Aichinger, „Wo ich wohne“. Für den LK Deutsch: A. Döblin, „Berlin Alexanderplatz“ oder R. Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“ als multiperspektivische Beispiele (vgl. Modul 6: Stadt – Perspektiven und Diskurs). Möglich wäre auch die Ausweitung zu einem Projekt, bei dem in verschiedenen Arbeitsgruppen in Zusammenarbeit mit den anderen Fachkollegen (siehe Umsetzungshinweise) Material recherchiert, geordnet, ausgewertet und dann in einer Ausstellung mit Lesungen, Diskussionsforen u. Ä. zusammengeführt wird, und zwar zum Thema: „Bauen – Wohnen – Leben,“ z. B. auch zu Lichteinfall, thermischen Gegebenheiten, Fernsehempfang, Umfeld, Infrastruktur. Ausgangsfragen könnten sein: Wie werden die Phänomene der gebauten Umwelt beschrieben, beobachtet, personalisiert, existentiell bewertet? In welchem Spannungsverhältnis stehen Gebäude – Mensch – Stadt? Wie spiegeln sich in den verschiedenen Zugängen Erfahrungen und Empfindungen der Menschen im urbanen Lebensraum? (Fortsetzung auf Seite 2) G E B A U T E U M W E LT © Kai Sternberg B A U K U LT U R Pallasseum (der „Sozialpalast“), Berlin 2015 © Timeline Images Im Schatten der Hochhäuser Jürgen Becker (1977) Mietskaserne, Berlin 1935 Hinterhaus Oskar Loerke (1910) In kalten, steifen Engen, An gelben Schornsteinlängen, Verirrten Schieferdächern, Verstaubten Lukenfächern, An braunen glatten Röhren, An roten Drahtes Öhren, Verblichnen blauen Flecken Und blechbehuften Ecken Liegt Sonne, wie nach Winkelmaß gemessen Und wie von einem Handwerksmann vergessen. Hier hinter Luken wimmeln, In Kellerlöchern schimmeln Und tanzen unter Sparren Wir galgenfrohen Narren, Die sich in Kammern bücken, Doch ihre Wände schmücken Mit goldnen Sterntapeten, Weil wir vom Himmel wehten, Wir Fetzen Licht, nach Winkelmaß gemessen, Und wie von einem Handwerksmann vergessen. Quelle: Oskar Loerke, Sämtliche Gedichte, adlima – Die grüne Reihe, 2010, S. 56 Die Leute unten haben schlechten Fernseh-Empfang. Ihre Kinder, die kleinen, schießen den ganzen Tag; die größeren schaffen mehr noch mit ihren Mofas. Die Leute, die unten leben in der Nähe der Wiesen, die mit leeren Fläschchen und Päckchen, Kippen und Hundekacke bestreut sind. Die Leute unten haben weniger Himmel und zahlen weniger Miete; sie sparen für Fertighäuser auf dem Land, wo die Autobahn nahe, das Kraft- und Klärwerk im Bau und der Fernseh-Empfang klar ist. Quelle: Jürgen Becker, in Lesebuch 9. Schuljahr, Cornelsen-Verlag, 1997, S. 124 — — — — — — Materialien / Literatur / Links Faschingeder, Kristian, Das Unheimliche in der Stadt, Diss. BauhausUniversität Weimar 2010, www.db-thueringen.de/servlets/Derivate Servlet/.../Sammelmappe 1.pdf (10.03.2016) Hauser, Susanne, Weber, Julia (Hg.), Architektur in interdisziplinärer Perspektive, transcript-verlag, 2015 Kabisch, Eva-Maria, Schreibformen 9/10, u. a. Gedichte untersuchen, vergleichen, Klett, 2007 Meyer-Sickendiek, Burkhard, Die Stimmung einer Stadt, Urbane Atmosphären in der Lyrik des 20. Jahrhunderts, in Weimarer Beiträge, Heft 4, 2013 Nerdinger, Winfried (Hg.), Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur, Verlag Anton Pustet, 2006 Wende, Waltraud, Großstadtlyrik, Reclam, 1999