Schuhbidu

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Schuhbidu
Carmen Reid
Schuhbidu
Roman
Aus dem Englischen
von Sabine Schilasky
Knaur Taschenbuch Verlag
Die englische Originalausgabe erschien 2008
unter dem Titel »Late Night Shopping«
bei Transworld Publishers, London.
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Deutsche Erstausgabe März 2011
Copyright © 2008 by Carmen Reid.
Published by arrangement with REIDQUINN LTD.
Copyright © 2011 für die deutschsprachige Ausgabe
bei Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Kathrin Stachora
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: FinePic®, München
Satz: Adobe InDesign im Verlag
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-426-50490-1
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1.
Annie an ihrem Schreibtisch:
Maßgeschneidertes graues Kleid (Alexander McQueen!
Ja, aber abzüglich Mitarbeiterrabatt, und die Hosen in
dieser Saison sind einfach zu schräg: Jodhpurs?
Hallo!)
Geniale Stiefeletten mit extraweitem Schaft und Krempe,
Wildleder (Pucci, ebenfalls Mitarbeiterrabatt)
Schwarze Strumpfhalter mit Spitze (Asda)
Eckige, halbgerahmte, ingwerfarbene Lesebrille für den
extrem privaten Gebrauch (Moschino)
Extrembikini – Hollywood Waxing Co. (Aaaaauuutsch!)
Gesamtkosten: ca. 780 £
»Annie, nimm mich, kauf mich! Nur du kannst mich so
lieben, wie ich geliebt werden muss!«
K
ommst du jetzt ins Bett? Bitte!«
Annie, immer noch an ihrem Schreibtisch und ohne
den Blick vom Bildschirm abzuwenden, rief zurück: »Ja,
Babe, ich komme! Ich komme sofort, versprochen!«
Sie rührte sich nicht von der Stelle. Es war das dritte Mal,
dass Ed sie rief, aber sie konnte unmöglich schon Schluss
machen. Immerhin brummte ihr Online-eBay-Shop, Annie
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V’s Trading Station, in der Zeit zwischen zehn Uhr abends
und Mitternacht.
Was kein Wunder war. Bei einem Zehn-Stunden-Job, Arbeitswegen, bei denen einem der Hintern einschlief, Abendessenkochen für alle, Putzen, noch mehr Putzen und Aufräumen, war es schnell mal zehn Uhr, ehe eine Frau dazu kam,
sich endlich mit einem Glas Wein hinzusetzen, den Computer anzuwerfen und sich einem bisschen lebensnotwendigen
Nacht-Shoppen zu widmen.
Im Zeitalter des Multitaskings nahmen sich die meisten Leute neben Annie Valentine wie Schnarchnasen aus. Vier Tage
die Woche arbeitete sie von früh bis spät als Einkäuferin,
Stilberaterin und Expertin für Rundumerneuerung bei The
Store, dem absolut angesagten Londoner Modemekka, in
dem jeder einkaufen musste, der wissen wollte, was gerade so
in war, dass es wehtat.
Waren Ärmel in dieser Saison eng oder weit? Unten eng und
oben weit oder oben eng und unten weit? Wie müssen die
Taschen sitzen? Hoch? Tief? Auffällig? Unsichtbar?
Annie war von zehn Uhr morgens bis neun Uhr abends im
Laden, weil sich anders ein Fulltime-Job nicht auf vier Tage
raffen ließ. Währenddessen klickte sie stündlich die ModeWebsites an und war folglich die Frau, die alle Fragen beantworten konnte.
Ist die Balenciaga-Swing-Jacke etwas für mich? Oder eher
die mit der Wespentaille von St. Laurent? Wo bekomme ich
diese Miu Mius in Größe 39? Gehe ich in dieser Saison zu
Missoni oder lieber zu Proenza Schouler? Derlei konnte Annie sagen.
Natürlich war ein topmodischer Look nicht für jede ihrer
Klientinnen das Richtige. Aber Annie sah auf einen Blick,
welche Frauen dringend ins 21. Jahrhundert katapultiert wer6
den mussten. Und diese vernachlässigten grauen Mäuschen
wandten sich ebenso an sie wie die passionierten Modefans,
die nach Insider-Informationen suchten, damit sie den anderen Modefans einen Schritt voraus waren. (Wie jeder in der
Modewelt weiß, ist ein Schritt voraus ideal, wohingegen zwei
Schritte fatal wären. Da konnte man genauso gut zwei Schritte hinterherhinken.)
Wenn Annie gerade nicht bei The Store war oder ihren eBayLaden betrieb, kurvte sie in ihrem großen schwarzen Jeep
kreuz und quer durch London, die Ladefläche voller Kleiderständer und Kartons mit Secondhand-Sachen. Entweder war
sie damit zu einer Klientin unterwegs, die unbedingt ihre
Garderobe umgestalten musste, oder sie befand sich mit den
aussortierten Sachen, die sie auf Provisionsbasis verkaufte,
auf dem Rückweg.
Wie gut sie war, hatte sich schnell herumgesprochen, so dass
Annies Name und Telefonnummer überall in London auftauchten, mal in Notizbüchern, mal auf Blackberrys. Befördert worden? Nach einer längeren Pause wieder in den Job
zurück? Der Ehemann droht, einen gegen ein jüngeres Modell auszutauschen? Schon flüsterten die Freundinnen einander zu: Ruf Annie an!
Sie schaffte es, dass ihre Klientinnen eleganter, gebildeter,
zehn Zentimeter größer, zehn Zentimeter schmaler, fünf Jahre jünger, sexy, stilsicher und selbstbewusst wirkten. Eine
Radikal-Einkaufstour, und sie hatte ein bejammernswertes
Fashion-Victim in eine Trendsetterin verwandelt. Inzwischen
gab es verblüffend viele wohlhabende, aber unsichere Frauen in der Stadt, die nicht einmal einen Gürtel oder ein Paar
Ohrringe kaufen würden, ohne vorher Annie zu fragen.
Und weil sie so eine gefragte Frau war, hatte Annie es permanent eilig und war erst halbwegs zufrieden, wenn sie zwei
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Dinge auf einmal tat: fahren und telefonieren (Freisprechanlage), auf stelzenhohen Absätzen laufen und telefonieren,
einen figurfreundlichen Snack essen und telefonieren (figurfreundlich gebot der immerwährende Kampf, Größe 36 zu
behalten, denn sonst würde sie in kein einziges Designerstück mehr passen). Leider Gottes konnte man sich ja nicht
einmal mehr darauf verlassen, dass Donna Karan etwas großzügiger schnitt – nicht, nachdem sie sich mittels AshtangaYoga auf Größe 34 herunterasketisiert hatte.
Bei Annies hundertzehnprozentiger Hingabe in ihren zahlreichen Jobs durfte man allerdings nicht vergessen, dass es in
ihrem Leben noch andere wesentliche Elemente gab. Annie
widmete all ihre verfügbare Freizeit, Liebe und Aufmerksamkeit ihren beiden Kindern und ihrem Liebhaber, der eine
relativ neue Ergänzung ihres Haushalts darstellte.
Ihre Tochter Lana war sechzehn und wurde zusehends
schwieriger. Sie hatte dunkles Haar, zumeist ein noch dunkleres Gemüt und erinnerte bisweilen an ein Pulverfass, das
kurz vor der Explosion stand. An Tagen, an denen Lanas
PMS zufällig mit dem ihrer Mutter zusammentraf, herrschte
wahrlich eine Mordsstimmung im Haus.
Owen war zehn, schüchtern, niedlich und eine vergleichsweise sonnige Natur – ein musikalischer Junge, umgänglich
und ausgesprochen froh, dass der neue Mann im Leben seiner Mutter nebenbei sein Musiklehrer in der Schule war.
Ed Leon, mit dem Annie und ihre Kinder erst knapp über
ein Jahr zusammenlebten, hatte einige sehr wichtige Vorzüge
zu bieten, die er größtenteils jedoch recht geschickt verbarg.
So verdeckten seine wuscheligen Locken seine warmen blauen Augen fast vollständig. Unter der schlimmsten tweeddominierten Schlabbergarderobe, die Annie jemals untergekommen war, versteckte sich ein unerwartet durchtrainierter,
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muskulöser Körper. Und Eds kleine, leicht feuchte Souterrainwohnung entpuppte sich als bloß ein halbes Stockwerk
des bezaubernden georgianischen Stadthauses, von dem Ed
im überaus begehrten Norden Londons einen Teil geerbt
hatte.
Ach ja, und natürlich war Ed ein wunderbarer Mann –
witzig, einen Tick jünger als Annie, ihr vollkommen und
leidenschaftlich ergeben. Auch diese Tatsache hatte er gut zu
tarnen gewusst, bis Annie es schließlich selbst entdeckte.
Als eine Frau, die keinem Projekt widerstehen konnte, hatte
Annie beachtliche Zeit damit verbracht, sowohl Ed als auch
das Stadthaus zu renovieren. Sie hatte ihr eigenes schönes
Haus verkauft, eine gigantische Hypothek aufgenommen
und einen Anteil an seinem Haus erworben, so dass sie alle
zusammenwohnen konnten. Wie sich herausstellte, war die
Renovierung des Hauses ungleich leichter als die Eds, der
sehr an seinem schäbigen Wohlfahrtsladen-Look hing und
keinerlei Verständnis für die Preise anständiger Kleidung
aufbrachte.
Das Haus gab sich ungleich offener für Neuerungen, beklagte sich nicht und platzte nicht mit Sätzen heraus wie: »Du
willst wie viel für Walnussdielen in meinem neuen Bad ausgeben? Für einen Bruchteil davon besorge ich dir einen völlig passablen Linoleumboden!« Nein, das Haus schien sogar
dankbar, weil Annie sich seiner mit solcher Begeisterung annahm. Wenn sie heimkam, fühlte sie, wie es sie mit einem
Zwinkern begrüßte; die Bodendielen leuchteten ihr entgegen, die hellen Wände und seidenmatten Treppenaufgänge
signalisierten ihr, dass sie ganz für sie da waren; und die
reparierten Fenster, neuen Bäder sowie die Hochglanzküche
schienen sie strahlend anzulächeln.
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»Miss Annie Valentine!«, rief die Stimme aus dem Schlafzimmer. »Dies ist Ihr letzter Aufruf!«
»Fünf Minuten noch, Babe!« Da sie sehr wohl wusste, warum er sie unbedingt bei sich haben wollte, ergänzte sie keck:
»Fang schon mal ohne mich an! Ich mach gleich mit, Ehrenwort!«
Ihre Angebote liefen im Abstand von wenigen Minuten
aus, die letzten drei für die hochpreisigsten Artikel um kurz
vor zwölf: eine phantastische braune Mulberry-Handtasche,
schenkelhohe Designerlederstiefel und ein verführerischer
bodenlanger Nerzmantel.
Pelz sah man in London nicht oft. Annie würde nie einen
tragen. (Na ja … vielleicht einen schönen Wollmantel mit
Nerzbesätzen, zum Beispiel in Form eines sehr dunkelbraunen Schalkragens, breiter Armaufschläge …) Aber bei einigen der Damen, die sie einkleidete, war Nerz von Kopf bis
Fuß nach wie vor sehr, sehr in – trotz Pelzgegnern mit roten
Farbspraydosen.
Allerdings gehörten diese Damen auch in die oberste Luxusriege. Sie konnten sich mit unbezahlbarem Schmuck behängen, gläserne High Heels riskieren und sich in Pelz hüllen,
weil sie in Limousinen von Tür zu Tür gelangten. Sie brauchten sich nicht einmal wegen Türgriffen zu sorgen, denn ihnen
wurden alle Türen geöffnet, die Klimaanlagen nach ihrem
Wunsch eingestellt und getönte Scheiben herauf- oder hinuntergefahren, wie sie es wollten. Ihre diamantenbesetzten
Sonnenbrillen trugen sie nur, um nicht angesprochen zu
werden.
Eine von Annies Klientinnen wollte tatsächlich diesen bodenlangen Nerz verkaufen lassen, damit sie das Geld auf
ein Bankkonto einzahlen konnte. Wenn der Ehemann die
Finanzen komplett kontrollierte, hatte ein Notgroschen auf
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einem Schweizer Nummernkonto bisweilen etwas Beruhigendes. Die betreffende Frau hatte Annie gebeten, die Transaktion für sie vorzunehmen, wie viele, die sie einkleidete, sie
überhaupt erstaunlich nahe an sich heranließen. Sie zogen
Annie ins Vertrauen und erzählten ihr Dinge, die sonst niemand erfahren durfte.
Nun ging Annie die Liste der Sachen durch, die sie heute
online verkauft hatte. Es handelte sich um eine recht wilde
Mischung von Luxusstiefeln und Edelschuhen über Handtaschen bis hin zu Kleidern und Tops gängiger Ketten.
»ANNIE!«
Wahrscheinlich war Ed nackt, weich und duftend von der
Dusche, sein Haar noch feucht. Gewiss lag er auf der Decke
und wartete auf sie – mit seinem höchst einladenden Körper.
Er war muskulös mit gerade eben genug Fleisch auf den
Knochen, kein bisschen hart. Nein, Ed war stark, aber weich,
und Annie liebte es, sich mit ihm zu verschlingen. Frisch
geduscht und sehr, sehr wild auf sie, lag er in ihrem Bett.
Allein der Gedanke an seinen warmen Körper und die Dinge, die sie gern damit tat, brachte sie zum Lächeln, aber …
Pling! Ein neues Gebot.
Ende August war die letzte Chance, Sommerkleidung zu guten Preisen loszuwerden. Schon jetzt sahen sich alle, die auch
nur ein bisschen modeinteressiert waren, nach Kaschmirjacken, groben Strickwaren, dunklen Ledertaschen, Stiefeln
und edlen Herbst-Winter-Artikeln um.
Als sie sich in dem Gästezimmer umschaute, das sie als
Arbeitszimmer nutzte, stellte Annie fest, dass sie noch ständerweise Sommersachen aus den Kleiderschränken ihrer Klientinnen zu verkaufen hatte. Es handelte sich bei allen um
Sachen, die seit Jahren nicht getragen worden waren: strenge
Jigsaw-Leinenkostüme, Röcke mit Mördertaillen, die schon
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beim Kauf zu eng gewesen waren und nach zwei Babys unerreichbar; dünne durchsichtige Kleider, die einen Sommer
nach dem anderen durch den hinteren Teil des Schranks gegeistert waren, ungetragen und ungeliebt, dennoch nicht
weggeworfen, weil sie einmal so teuer gewesen waren.
»Sie kommen drüber weg, versprochen!«, pflegte Annie in
solchen Momenten zu sagen und den Klientinnen die Bügel
aus der Hand zu nehmen. »Das Geld ist futsch, und Sie bekommen es nicht wieder, indem Sie eine Erinnerung daran
hier hängen lassen. Was soll’s? Es ist doch bloß Geld! Sie
drucken täglich neues.«
Die Uhr schlug zwölf, und der Pelz war für verblüffende
3 420 £ verkauft. Eine Menge sehr vermögender Frauen mit
guten Beziehungen kannten Annies virtuelle Boutique.
Und bei fünfzehn Prozent von 3 420 £ lohnte es sich, vor
dem Bildschirm zu sitzen, hymnische Artikelbeschreibungen
einzutippen und ganze Vormittage auf der Post zu verbringen. Weniger als ein durchschnittliches Versandkaufhaus
dürfte sie kaum zu tun haben.
»Sie sollten Ihr eigenes Geschäft aufmachen«, rieten ihr dauernd Frauen, die zu ihr in die Einkaufsberatung kamen. »Sie
sind wirklich gut, und Sie könnten die nächste Miuccia Prada sein – oder, besser noch: Johnnie Boden. Nutzen Sie Ihr
Talent!«
Kurz bevor sie sich abmeldete, klickte Annie die andere
Website an, die sie aufgerufen hatte: die mit all den tollen
Tipps, wie man sich selbständig machte.
Sie hatte sich schon mehrfach durch die hilfreichen Hinweise, Regeln und ermutigenden Anregungen geblättert. Doch
obgleich es ihr Traum war, richtig ins Geschäft einzusteigen,
war Annie noch nicht wirklich für einen solchen Schritt
bereit. Vielleicht lag es daran, dass sie ihre Zukunft zwar in
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Handtaschen oder Schuhen sehen konnte, aber noch nicht
die perfekte Gelegenheit entdeckt hatte. Bis es so weit war,
suchte sie eifrig, und sie war sicher, dass sie ihre Chance erkennen würde, wenn sie da war. Bald.
Am liebsten sehr bald, dachte sie mit Blick auf den Haufen
Post in ihrer obersten Schublade, wo ein besorgniserregender brauner Umschlag lauerte. Als aktive eBay-Händlerin,
die darüber hinaus einige wenige Monate in diesem Jahr
selbständig gearbeitet hatte, musste Annie sich mit einem
»Steuerproblem« befassen. Sie wusste davon, hatte es nur erfolgreich verdrängt. Und sie hatte das dumpfe Gefühl, dass
dieser Umschlag sie an das Unvermeidliche erinnern wollte.
Es war ja nicht so, als hätte sie den Umschlag ignoriert. Ihr
war lediglich klar gewesen, dass sie in der entsprechenden
Stimmung sein musste, wenn sie ihn öffnete – unerschütterlich. Und nachdem der Pelz bei eBay einen Spitzenpreis
erzielt hatte, glaubte sie, mit dem fertig zu werden, was in
dem Schreiben stand.
Ehe sie es sich wieder anders überlegte, griff sie nach dem
Umschlag, riss das braune Papier auf und glättete das einzelne Blatt, um die Worte zu überfliegen.
»Letzte Aufforderung«, »10 199,28 £« und »innerhalb von
30 Tagen« waren in Fettdruck hervorgehoben.
Es dauerte ein bis zwei Momente, ehe der Schock seine volle
Wirkung entfaltete.
Sie sollte Zehntausend in dreißig Tagen aufbringen? Zehntausend Pfund?! Das war annähernd doppelt so viel, wie sie
erwartet hatte.
Konnte sie so viel binnen dreißig Tagen verdienen? Nein.
Mit ihren eBay-Provisionen brachte sie in guten Wochen
600 £ zusammen … in extrem guten Wochen. Konnte sie
sich irgendwo das Geld leihen? Nicht schon wieder! Ihre drei
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Kreditkarten waren alle zu dicht am Limit. Und sowieso
nahm die Steuerkasse Ihrer Majestät wohl keine Visakarten
an.
Stehlen konnte sie eine solche Summe natürlich nicht. Selbst
wenn sie gewusst hätte, wem sie einen derartigen Batzen
klauen könnte, war Annie unglücklicherweise moralisch entschieden zu gefestigt. Sie würde es nicht einmal schaffen, bei
der Selbstbedienungssüßigkeitentheke von Woolworth ein
Gummibärchen zu klauen.
Eines stand jedenfalls fest: Ed durfte hiervon nichts erfahren.
Was Geld, Schulden und Leihen anging, war er durch und
durch altmodisch. »Geld, das man nicht hat, gibt man nicht
aus«, lautete eine seiner ärgerlichen Devisen. Annies Einstellung hätte gegensätzlicher nicht sein können. Sie handelte
eher nach den Grundsätzen »Mal gewinnt man, mal verliert
man« oder »Nur wer spekuliert, häuft an«.
Wie dem auch sei: In dreißig Tagen zehntausend Pfund
aufzutreiben würde … sie strich »unmöglich« oder »ein Albtraum«, die ihr als Erstes in den Sinn kamen, und entschied
sich für »eine Herausforderung«.
Jetzt aber war es Zeit, den Laptop auszuschalten und ins Bett
zu gehen.
Als Annie sich der Tür näherte, war das Licht drinnen sehr
gedämpft. Nur die kleine Blumenlichterkette auf dem Kaminsims leuchtete, deren matter Schein alles sehr romantisch wirken ließ. Die ideale Stimmung, um ins Bett zu gehen, und besonders ideal, um sich gegenseitig liebevoll zu
mustern, bevor das Berühren, Streicheln und Küssen begannen.
»Ed?«, flüsterte sie, als sie ins Zimmer kam. »Ich bin hier.«
Er lag mit dem Rücken zu ihr auf der Seite. Das machte er
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doch extra! Annies Blick wanderte von seinen breiten hellen Schultern zu seiner schmalen Taille hinab und weiter zu
seinem ziemlich reizvollen pfirsichförmigen Po und seinen
muskulösen haarigen Beinen.
»Ich ziehe mich nur rasch aus«, schnurrte sie, öffnete eilig den
Reißverschluss ihres Kleids und ließ es auf den Boden fallen,
so dass sie in Unterwäsche, Strumpfhaltern und schwarzen
Stiefeletten vor dem Bett stand. Sensationellen schwarzen
Stiefeletten, dachte sie unwillkürlich und sah bewundernd
auf ihre Füße. Bei diesem Anblick verzieh sie gern, dass sie
spitz, die Absätze zehn Zentimeter hoch waren und das Gehen darin einem Zehenmassaker gleichkam.
Ed rührte sich nicht. Na gut, selbst wenn er schmollte, würden die Stiefel und die Dessouskombination ihm ganz gewiss schnell darüber hinweghelfen.
»Baby«, versuchte sie es erneut und kniete sich auf die Bettkante. Sanft strich sie mit einem Finger von seiner Schulter
über seine Seite.
»Babe?«
Sie beugte sich über sein noch feuchtes Haar und sah ihm
ins Gesicht. Nein, seine geschlossenen Augen und sein ruhiger Atem sprachen eine deutliche Sprache. Ed war eingeschlafen.
Annie hakte ihren BH auf und warf ihn über einen Stuhl.
Dann zog sie sich die Stiefel und die Strümpfe aus. Vielleicht
war es sogar ganz gut, wenn sie gleich schlief. Morgen war
Mittwoch, der erste von ihren vier Tagen bei The Store, und
für die nächsten Tage hatten sich ein paar äußerst interessante Klientinnen angekündigt.
Nachdem sie die Lichterkette ausgeschaltet hatte, stieg sie
ins Bett, zog die Decke über sie beide und kuschelte sich so
dicht wie möglich an Eds warmen nackten Leib. Jahre in
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Internatsschlafsälen hatten ihn zu einem sehr tiefen Schläfer
trainiert, so dass er sich nicht einmal regte.
Kaum hatte Annie die Augen geschlossen und ließ sich in die
Dunkelheit gleiten, sah sie die Handtasche vor sich: die auf
dem Extrapodest in der Handtaschenabteilung im Erdgeschoss; die mit der vierstelligen Zahl auf dem Preisschild, die
Annie mit einem Nimm-mich-Lächeln bedachte, sowie sie
an ihr vorbeikam; die violette Lackledertasche mit den Goldbeschlägen, die ihr schmeichelnd entgegenblinkten.
Sie wusste schon genau, wie groß sie war, wie gut sie sich
an ihrer Schulter trug und wie herrlich geräumig sie innen
war. Natürlich wusste sie ebenfalls, wie das rosa Wildlederfutter sich anfühlte und wie viele Innenfächer sie besaß.
Ja, Annie wusste sogar, wie viele Stunden es dauerte, diese
Tasche zusammenzunähen. Sie war topmodisch und extravagant, ohne »It«-Tasche zu schreien.
Leider war Annie überdies bewusst, dass die Tasche nie ihre
werden konnte, weil sie viel zu viel kostete. Und sie hatte ein
Versprechen abgelegt. Sie hatte Ed versichert, dass sie fortan
alle Ausgaben über 200 £ vorher mit ihm besprechen würde.
Ohnehin besaß sie genug Handtaschen, und diese kostete
fast einen Monat Schulgebühren. Ihr fiel gleich eine Vielzahl
von Gründen ein, weshalb sie nein sagen und sich dieses
sündhaft verlockende Anhängsel ein für alle Mal aus dem
Kopf schlagen sollte. Doch morgen würde sie sicher noch da
sein, oder? Sie würde auf ihrem blanken Glaspodest stehen
und Annie zu sich rufen.
Sie seufzte leise. In ihrem Leben gab es schlicht zu wenig
Glamour, dachte sie nicht zum ersten Mal. Obwohl sie inmitten all der wunderschönen Dinge arbeitete, die The Store
anzubieten hatte, konnte sie sich dort höchstens einige wenige Sachen leisten. Ihre Unterwäsche kaufte sie hingegen bei
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Marks & Spencer, ihre Tops waren von Oasis, die Hosen von
Jigsaw, und bis heute musste sie sich durch die Kleiderständer des TopShops wühlen.
Sie mochte die gesellschaftliche Elite bei der Auswahl ihrer
Garderobe beraten, aber in Annies Leben hieß Einkaufen,
weite Wege zu Fuß oder per Bus und Bahn statt Limousine
zurückzulegen. Sie musste ihrer Familie die Lunchpakete
morgens selbst zusammenbasteln und Tüten aus dem Supermarkt herbeischleppen. Und erst recht verfügte sie nicht
über ein Heer von Hausangestellten, das ihr alles und jedes
abnahm.
Wäre aber diese sehr teure, außergewöhnliche Tasche ihre,
würde Annies Leben schlagartig um so vieles glamouröser!
Mit der atemberaubenden Tasche an der Schulter käme sie
sich selbst an der Bushaltestelle wie ein Filmstar vor. An
der Supermarktkasse ihr Portemonnaie herauszuholen, würde sich in einen unglaublich eleganten Akt verwandeln, wäre
es die Tasche, aus der sie es holte.
Nur, wie in aller Welt wollte sie das einem Mann klarmachen, der fand, dass seine speckig abgegriffene Brieftasche,
die er seit seinem dreizehnten Geburtstag besaß, noch »vollkommen in Ordnung« war?
Nein, während Annie in einen süßen Schlummer sank,
wusste sie, dass sie Ed niemals erklären könnte, dass sie den
Ruf der Tasche gehört hatte, die ihr zuflüsterte: »Annie, besitze mich! Nimm mich! Nur du kannst mich so lieben, wie
ich geliebt werden muss!«
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