Ehrenamtliches Engagement in der Selbsthilfe.
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Ehrenamtliches Engagement in der Selbsthilfe.
Ehrenamtliches Engagement in der Selbsthilfe. Eine Rekonstruktion latenter Sinn- und Motivstrukturen von Roland Bauer 2 „Jahrtausendelang war der Mensch Jäger. Im Verlauf zahlreicher Verfolgungsjagden lernte er es, aus Spuren im Schlamm, aus zerbrochenen Zweigen, Kotstückchen, Haarbüscheln, verfangenen Federn und zurückgebliebenen Gerüchen Art, Größe und Fährte von Beutetieren zu rekonstruieren. Er lernte es, spinnwebfeine Spuren zu erahnen, wahrzunehmen, zu interpretieren und zu klassifizieren. (...) Charakteristisch für dieses Wissen ist die Fähigkeit, in scheinbar nebensächlichen empirischen Daten eine komplexe Realität aufzuspüren, die nicht direkt erfahrbar ist.“ (Carlo Ginzburg) 3 Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 4 2 Eine Positionierung des Ehrenamtes 5 3 Selbsthilfe als besondere Form bürgerschaftlichen Engagements 7 4 Zu den Methoden 9 4.1 Die Datenerhebung - das narrative Interview 9 4.2 Die objektiv - hermeneutische Einzelfallrekonstruktion 11 5 Interpretation des Fallmaterials 13 5.1 Fall 1 Marianne, Selbsthilfekultur als Sinnquelle 14 Interpretation der objektiven Daten 14 Interpretation der Erzählung 15 Fallstrukturhypothese 24 Fall 2 Hans, der gestandene Ehrenamtliche 29 Interpretation der objektiven Daten 29 Interpretation der Erzählung 30 Fallstrukturhypothese 44 Fall 3 Heide, die Expertin 48 Interpretation der objektiven Daten 48 Interpretation der Erzählung 49 Fallstrukturhypothese 61 6 Komparative Verdichtung - Kontraste und Konvergenzen der Fallstrukturen 65 6.1 Minimaler Kontrast 65 6.2 Maximaler Kontrast 68 6.3 Selbsthilferelevante Befunde 69 5.2 5.3 6.3.1 Tabellarische Gegenüberstellung selbsthilferelevanter Befunde 69 6.3.2 Evidenzen der Fallstrukturen 71 7 72 Literaturverzeichnis 4 1 Einleitung Die Studie untersucht, auf der Basis objektiv-hermeneutischer Rekonstruktionen der Strukturen narrativer Interviews von in der Selbsthilfe Engagierten, die Motive und Intentionen ehrenamtlich Tätiger sowie qualitative Aspekte ihrer Arbeit. Ihr Fokus liegt somit in der Schnittmenge der Rekonstruktion von latenten Sinn- und Motivstrukturen ehrenamtlich Tätiger und mit der an die Einzelfallrekonstruktionen anschließenden Typenbildung, einer soziologischen Dimension des Ehrenamtes. Das Forschungsinteresse der Einzelfallrekonstruktionen gilt nicht der Person des Erzählers, vielmehr werden die rekonstruierten Strukturen als über die Person hinaus auf eine Typik verweisend aufgefasst. Hinsichtlich der gesundheitsbezogenen Selbsthilfe ist eine Fragestellung, inwieweit die Forschungsergebnisse mit Konzepten der Salutogenese, der Resilienzforschung und des Coping korrelieren. Die Rezeption der Ehrenamtskultur im Sektor sozialer Dienstleistungen von Seiten der Professionellen ist ambivalent, neben gelungenen Kooperationen in einer Vielzahl von Arbeitsfeldern werden Interpretationen wie die des ehrenamtlichen sozialen Helfers, der primär eigenen Problemlagen kompensiere, eines übermäßiges Geltungsbedürfnisses als faktischer Motiviertheit des freiwilligen Handelns sowie die fehlender Kompetenzen geäußert. Das Engagement in Selbsthilfe und ehrenamtlicher Selbsthilfeunterstützung ist gerichtet auf die wechselseitige, expertenlose Hilfe in den Feldern gesundheitsbezogener Gruppen, Gruppen zur gemeinsamen Bewältigung von biografischen Krisen und psychisch bzw. psychosozial orientierten Gruppen. Der Interpretationstradition der objektiven Hermeneutik folgend, werden die Interpretationen der untersuchten Fälle, ihrer einzelnen Sequenzen, in ihrer ganzen Ausführlichkeit dargestellt. Der ergebnisorientiert Lesende könnte sich auf die Strukturhypothesen und die Kontrastierung der Fallstrukturen konzentrieren. 5 2 Eine Positionierung des Ehrenamtes Charakteristisch für ehrenamtliche Arbeit ist, dass diese nicht auf die Sicherung der individuellen Existenz des Akteurs bezogen ist, nicht den materiellen und beruflichen Sicherheitsbedürfnissen (Maslov) dient, sondern eine unentgeltliche Leistung für Gemeinschaften und Gesellschaft erbringt. In der abendländischen Tradition war der unentgeltliche Einsatz für das Gemeinwesen ein wichtiger Baustein für eine sinnstrukturierte Lebenspraxis, im antiken Griechenland wurde derjenige, der nicht an öffentlichen Versammlungen teilnahm und sich den Belangen der Gemeinschaft verweigerte, als idiòtes, als Privatmensch bezeichnet. Aristoteles definierte die zum Wohl der Gemeinschaft erbrachten Leistungen als Freigebigkeit. Ein ähnlich hohes Ansehen genoss die aktive Bürgerschaft bei den Römern. In beiden Kulturen basierten weite Teile der Beamtenschaft, das griechische Archonat wie der römische Magistrat, auf Ehrenämtern. Die Geschichte des Ehrenamtes in Deutschland beginnt zunächst mit politischen, gefolgt von sozialen Ehrenämter. Als solche galten unter anderem Referendarien und Assessorenstellen bei Landeskollegien. War Armut im Mittelalter den besitzenden Ständen ein willkommener Anlass, ihrer in der Religion begründeten Verpflichtung zur Gabe von Almosen nachzukommen, änderte sich unter dem Einfluss des Protestantismus diese Haltung, Armut galt nun als Arbeitsunlust und fehlende Gnade Gottes. Ehrenamtliche Tätigkeiten wie die Armenfürsorge blieben zunächst dem Bürgertum vorbehalten. Das Hamburger Armensystem von 1788 teilte die Stadt Hamburg auf in sechzig Bezirke mit je drei ehrenamtlichen Armenpflegern. Dieses Prinzip wurde aufgegriffen vom Elberfelder System, einer 1853 eingeführten ehrenamtlichen und dezentralen Armenverwaltung. Hierbei sollte der Armenpfleger maximal vier Familien betreuten, er entschied selbst über die Vergabe von Mitteln. Mit dem Elberfelder System 1 kam es zur Trennung zwischen dem unbesoldeten, ehrenamtlichen Außendienst und einem Innendienst der Aktenverwaltung. Zwei Grundkonflikte sozialer Arbeit, der zwischen einer klientelbezogenen Sozialarbeit und den institutionell-administrativen Tätigkeiten sowie der zwischen bezahlter, hauptberuflicher Sozialarbeit und ehrenamtlicher Helfertätigkeit, begannen mit dieser Aufteilung. Ehrenämter, im ursprünglichen Wortsinn eines unentgeltlich geleisteten öffentlichen Amtes, sind heute Tätigkeiten wie die des ehrenamtlichen Richters, des Gemeinderatsmitglieds oder des Helfers bei allgemeinen Wahlen. Eine ganzer Komplex von Begriffen, die zum Teil auf unterschiedliche Bedeutungszusammenhänge verweisen, wird zur Kennzeichnung ehrenamtlicher Tätigkeiten verwandt: Freiwilliges Engagement, bürgerschaftliches Engagement (Bürgerengagement), Ehrenamt, Freiwilligenarbeit, Selbsthilfe, Initiativen- und Projektarbeit. Heute sind viele Bereiche des öffentlichen Lebens existentiell auf die Leistungen ehrenamtlich Täti1 vgl. Wörterbuch Soziale Arbeit, 1988, S.146 ff. 6 ger angewiesen. Dem Freiwilligensurvey2 des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend von 2005 zufolge, sind 36 % aller Bürgerinnen und Bürger ab 14 Jahren, mehr als 23,4 Millionen Menschen, in der Bundesrepublik Deutschland freiwillig engagiert. Neben der Betreuung von Kindern und alten Menschen, sind dies insbesondere Dienste in der Telefonseelsorge, Helfer in Spitälern, Altenheimen und Behinderteneinrichtungen, sogenannte Grüne Damen und Herren, Engagierte in Sport- und Kulturvereinen. Die Dienste des Katastrophenschutzes und die der Freiwilligen Feuerwehr basieren nahezu ausschließlich auf ehrenamtlichem Engagement. Entsprechend werden diese Leistungen politisch mit einer „Anerkennungskultur“ gewürdigt, neben traditionellen Auszeichnungen mit Landesehrenbriefen, Bundesverdienstorden etc. sind regionale Ehrenamtskarten mit vergünstigten Konsummöglichkeiten und regelmäßige öffentliche Würdigungen zum festen Bestandteil dieser Kultur geworden. 2001, im internationalen Jahr der Freiwilligen, galt die politische Prämisse, verschiedene Akteure bürgerschaftlichen Engagements zu vernetzen. Eine Empfehlung der mit Bundestagsabgeordneten und Sachverständigen besetzten Enquete-Komission an den Gesetzgeber war die Gründung eines bundesweiten Netzwerkes. Diese erfolgte im Jahr 2002 in Berlin als Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement. Seit 2004 initiiert das BBE jährlich eine Woche des bürgerschaftlichen Engagements. In der Präambel der Statuten des Bundesnetzwerks in der Fassung vom 3. November 2006 heißt es: „Anliegen des bundesweiten Netzwerks ist die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements in der Vielfalt seiner Formen (Ehrenamt, Freiwilligenarbeit, Selbsthilfe u. a.). Dabei orientiert sich das Netzwerk am Leitbild einer aktiven Bürgergesellschaft, die durch das Engagement der Bürgerinnen und Bürger und die verantwortliche Mitgestaltung des Gemeinwesens geprägt ist. Eine aktive Bürgergesellschaft stärkt die Demokratie und das soziale Kapital der Gesellschaft.“ Eine erste Formulierung des Konzepts einer Bürgergesellschaft, der civil society, im Sinne einer sittlichen Kategorie, findet sich erstmals im Jahre 1767 bei Adam Ferguson 3 als Erörterung des Zusammenhangs von individueller Tugend und Gesamtgesellschaft. Hegel verwandte den Begriff der Zivilgesellschaft in den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ von 1821. 2 Gensicke,Thomas et. all, 2005 3 Adam Ferguson (1723- 1816), Historiker und Sozialethiker, gilt als Mitbegründer der Soziologie; An Essay on the History of Civil Society, 1767 7 3 Selbsthilfe als besondere Form bürgerschaftlichen Engagements Die Wortschöpfung Selbsthilfe setzt das Vorhandensein der Alternativen von Fremdhilfen im Allgemeinen und professioneller Hilfe im Besonderen voraus. Zur Selbsthilfe kommt es, in der Abgrenzung zu diesen Alternativen, erst in einer ausdifferenzierten und spezialisierten Gesellschaft. Vorläufer der Selbsthilfe sind Zusammenschlüsse, in denen Menschen eigene Not- und Problemlagen bearbeiteten, wie die mittelalterlichen Gilden 4 und die Genossenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In der Literatur zur Geschichte der Selbsthilfe wird zur Frage ihrer Anfänge auf die Anony men Alkoholiker verwiesen, deren Entstehung auf das Jahr 1935 in Akron im Staat Ohio zu rückgeht. Der Beginn der Selbsthilfe in ihrer heutigen Form allerdings findet statt in den sechziger und siebziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts. Als spezifische Form ehrenamtlichen Engagements entstanden Zusammenschlüsse von Betroffenen, um Ursachen und Folgen einer ihnen gemeinsamen Erkrankung oder Problemlage zu bearbeiteten. Im Zuge der 68er Bewegung formierten sich eine Vielzahl politischer Gruppen, Frauen- und Jugendprojekte, Kinderläden und sozial- und gemeinwesenorientierte Zusammenschlüsse wie die der „sozialen Brennpunkte“. Erste Gruppen mit psychotherapeutischen Arbeitsansätzen entstanden; deren Foki blieben nicht zwingend auf den einzelnen Teilnehmer und Gruppenprozesse beschränkt; unter dem Stichwort der „sozialen Selbsthilfe“ agierten diese Gruppen zwischen den Polen sozialer, beziehungsweise politischer Interessen und Eigenhilfe, einer wechselseitigen Hilfe in eigener Sache. In den letzten beiden Jahrzehnten verschob sich diese Polarität, einhergehend mit dem Prozess der Institutionalisierung der Selbsthilfe und ihrer unterstützenden Strukturen zur komplementären Krankheitsbearbeitung. Die ersten Initiatoren und Teilnehmer von Selbsthilfegruppen waren noch Pioniere in einem Feld der Selbstexperimente, in dem Gruppenanalyse, Selbst- und Fremdreflexion, Permanenz der Wandlung und eine basisdemokratisch orientierte Diskurskultur zu Profil und Regeln der Gruppe das Geschehen dominierten. Traten Selbsthilfegruppen zunächst an zum Zwecke der Selbsterhaltung gegenüber einem übermächtigen medizinischen System und wurden in den Anfängen entsprechend skeptisch von der medizinischen Fachwelt zur Kenntnis genommen, sind bis heute grundlegende Wandlungen zu verzeichnen: Es besteht nunmehr eine Reihe gelungener Kooperationen von Krankenhäusern, Fachärzten und Selbsthilfegruppen, mehr noch, über ihr Engagement für bzw. mit Selbsthilfegruppen erhalten Mediziner und Psychotherapeuten für ihre Qualitätszirkel relevante Zertifizierungspunkte. Das Gütesiegel „selbsthilfefreundliches Krankenhaus“ wird seit 2006 an Kliniken vergeben. 4 vgl. Moos-Hofius / Rapp, 2012 8 Tragendes Prinzip der Selbsthilfe ist nun die wechselseitige Hilfe in autonomen Gruppen, von an der gleichen Krankheit, Krisen- oder Problemkonstellation Betroffenen. Nunmehr ist die Arbeit an Bewältigungstrategien ein häufiges, teils latentes Motiv, das Betroffene zum Besuch von Selbsthilfegruppen animiert. Hierbei gilt es, die spezifischen, aus ähnlich gelagerten Erfahrungshintergründen geronnenen Kompetenzen zur Selbsthilfe in der Gruppe und zur Hilfe anderer Betroffener nutzbar zu machen. Die Selbsthilfe zeichnet sich dadurch aus, dass nicht der Professionelle, sondern der Betroffene als „Experte in eigener Sache“ dahin wirkt, andere Gruppenmitglieder zu stabilisieren, eigene Ressourcen der Krisen- und Krankheitsbearbeitung zu aktivieren und Bildungsprozesse zu den je spezifischen Themen der Gruppen zu initiieren. Die in der Selbsthilfe Engagierten stellen ihren Gruppen, Neuerkrankten und Angehörigen Unterstützung, Beistand und ein spezifisches erfahrungsbasiertes Wissen zur Verfügung, das, gebündelt in den Strukturen der Selbsthilfe, so an keinem anderen Ort in der Gesellschaft abgerufen werden kann. Insofern handelt es sich bei den Kompetenzen der Aktiven der Selbsthilfe um ein aus Selbstbezügen gewachsenes, erfahrungsbasiertes Expertentum. Bildungsprozesse in Selbsthilfegruppen münden in der Ausformung eines krankheits- und selbsthilfespezifischen Habitus. Der Begriff des Habitus wird hierbei im Sinne Bourdieus verstanden, als Fähigkeit, wesentliche Teile der Wissensbestände, Haltungen und Gedanken der medizinischen und therapeutischen Kultur einer spezifischen Krankheit abrufen und auf einen Einzelfall beziehen zu können. Zugleich bieten die Selbsthilfegruppen dem Teilnehmer eine Erfahrungswelt, in der er eine Solidarität und Teilnahme erleben kann, die das medizinische Versorgungssystem nicht leistet und die er im Hinblick auf die Vereinzelung vieler Menschen und eine gesellschaftlichen Tendenz der Entsolidarisierung, weder in der Arbeitswelt, noch im privaten Umfeld findet. 9 4 Zu den Methoden Ulrich Oevermann geht für die Methode der objektiven Hermeneutik davon aus, dass grundsätzlich jede protokollierte Wirklichkeit interpretierbar ist, sei es, dass sie in Form eines Bildes, ein Videos oder als Verschriftlichung einer autobiografischen Stegreiferzählung vorliegt und bietet, basierend auf diesem Anspruch, keine eigene Erhebungsmethode an. Daher kommt für diese Studie zur Erhebung und zur Auswertung ein gängiger Methodenmix zur Anwendung, die Datenerhebung erfolgt mittels des narrativen Interviews, die Fallrekonstruktionen werden in Anwendung der objektiven Hermeneutik vorgenommen. Oevermann zufolge ist das Spektrum rekonstruierbarer Typen in der Regel mit dreizehn Fäl len ausgeschöpft. Diesen Anspruch löst die vorliegende Studie nicht ein, in einem explorativen Sinn werden drei Einzelfälle rekonstruiert und kontrastiert, um die Ergebnisse im Hinblick auf Verallgemeinerbares und Besonderes zu präsentieren. 4.1 Die Datenerhebung - das narrative Interview Das von Fritz Schütze maßgeblich entwickelte narrative Interview wird nach einer erzählungseröffenden Eingangsfrage im Hauptteil der Erzählung ohne Unterbrechungen durch den Zuhörer geführt, es werden keine weiteren Stimuli, außer aufmunternden Signalen wie „hm, hm“ oder nonverbalen Gesten gesetzt. Im Sinne einer nicht-direktiven Gesprächsführung wird dem autobiografischen Stegreiferzähler Raum für seinen Erzählfluss gewährt, einschließlich der Wahl, beispielsweise heikle Passagen zu thematisieren oder zu umschiffen. Das autobiografisch-narrative Interview umfasst drei Hauptteile, zunächst die vom interviewenden Forscher nicht unterbrochene Erzählcoda, im zweiten Hauptteil, den immanenten Nachfragen, wird das „tangentiale Erzählpotential“ 5 ausgeschöpft, es erfolgen Fragen zum Beispiel nach wichtigen, aber nur flüchtig erwähnten oder unklar gebliebenen Stellen. Der dritte Hauptteil mit exmanenten Nachfragen enthält die Aufforderung zur „abstrahierenden Beschreibung von Zuständen“6 und Fragen nach systematischen Zusammenhängen. Schütze geht in seiner Erzähltheorie davon aus, dass jedes einen Sachverhalt darstellende Kommunikationsschemata aus einem Gesamtvorrat kognitiver Figuren schöpft, dass diese für eine Erzählung „elementare Ordnungsbausteine für die Erfahrungsrekapitualion“ 7 bilden. „Zugzwänge des Stegreiferzählens“8 entstehen an den Passagen, an denen der Erzähler über keine Erfahrungsvoraussetzungen für die Sinnerschließung verfügt und daher im Erzählfluss blockiert ist. Weitere Zugzwänge des Stegreiferzählens sind der Zwang zur Schließung der 5 6 7 8 Schütze, 1983, S. 285 Schütze, 1983, S. 285 Schütze, 1984, S. 79 f. Schütze, 1984, S. 81 10 Gestalt, der Kondensierungs- und der Detaillierungszwang: Anfang, Ende und dazwischenliegender Korpus bilden den Rahmen, innerhalb dessen alle Details sinnvoll repräsentiert werden müssen, so dass die Gestalt der Erzählung geschlossen ist. Die erzählungsimmanente Sequenzialität gibt die zeitlogische Ordnung der Präsentation vor. Als Kondensierungszwang charakterisiert Schütze den Sachverhalt, dass vergangene Ereignisse von langer Dauer einer zeitlichen Raffung bedürfen, der Detaillierungszwang ist Ausdruck des Umstandes, dass alle wichtigen Teilabschnitte und -ergebnisse der Gesamtgeschichte verständlich dargestellt werden müssen. Verlaufskurven sind nach Schütze lebensgeschichtliche Konstellationen, in der die Ereignisse den Biografieträger überwältigen, und er auf diese nur noch 'konditionell' reagiert, um einen labilen Gleichgewichtszustand der alltäglichen Lebensgestaltung zu erreichen. 9 Schütze zufolge besteht eine empirisch fundierte Prozessstruktur von Verlaufskurven: Auf die Stationen des Aufbaus eines Verlaufskurvenpotentials folgt die Grenzüberschreitung von einem intentionalen zu einem konditionellen Aggregatzustand sozialer Aktivitäten. Finden und Bewahren eines labilen Gleichgewichts werden abgelöst von einem Trudeln, einer Entstabilisierung der Lebenssituation, von einem Orientierungszusammenbruch und anschließender theoretischer Verarbeitung sowie der handlungsschematischen Bearbeitungs- und Entkommensstrategie. 9 vgl. Schütze 1984, S. 92 11 4.2 Die objektiv - hermeneutische Einzelfallrekonstruktion „Die Problemlandschaft ändert sich schlagartig, sobald wir uns von der Kategorialität des subjektiv gemeinten Sinns als der einzig denkbaren Fassung von Normalität und Sinnstrukturiertheit trennen und eine eigenlogische Realität von objektiven Bedeutungen und Sinnzu sammenhängen konzipieren, die nicht durch psychische Operationen oder eine subjektive innerpsychische Realität, z.B. durch subjektiv - reflexive Operationen erzeugt ist, sondern durch Regeln mit algorithmischem Status.“ (Oevermann 1999) Den Mittelpunkt des Forschungsinteresses der objektiven Hermeneutik bilden latente, dem Texterzeuger nicht bekannte und jenseits seiner Meinung von sich liegende Strukturen. Wie schon beim narrativen Interview, ist das Konzept der Sequenzialität von grundlegender Bedeutung. Demnach ist das Verhältnis der Sequenzialtität von Lebenspraxis und der sequenzanalytischen Textrekonstruktion ein homologes. Die Rekonstruktion nimmt Bezug auf die wirklichkeits- und die texterzeugenden Regeln, das Regelwissen bildet eine Stütze für die Explikation von Textbedeutung. Aus objektiv-hermeneutischer Sicht sind die Handlungsspielräume einer je konkreten Lebenspraxis durch Regeln gesetzt. Bereits die Welt sozialer Regeln bestimmt Möglichkeiten und Folgen einer Handlung, nicht erst die Lebenspraxis. Die Struktur, die sequenzanalytisch rekonstruiert wird, formiert sich mit der Nicht-Zufälligkeit der Selektionen innerhalb der Handlungsoptionen; diese selbst folgen einer Struktur. Das Spezifische und das Charakteristische der Auswahl innerhalb der durch Regelgeltung bestimmten Optionen ist kennzeichnend für die Lebenspraxis und bildet die Fallstruktur. Universelle, da in ihrer Geltung nicht kritisierbare Regelkomplexe sind nach Oevermann: • die universellen und einzelsprachspezifischen Regeln der sprachlichen Kompetenz, • die Regeln der kommunikativen oder illokutiven Kompetenz (Universalpragmatik), • die universellen Regeln der kognitiven und moralischen Kompetenz. Für die interpretatorische Praxis bilden die Prinzipien objektiv-hermeneutischer Interpretation10 eine Brücke zwischen Methode und Methodologie. (1) Kontextfreiheit: Die kontextfreie Interpretation, als erster und vorläufiger Interpretationsschritt, wendet sich dem Text in der Haltung „künstlicher Naivität“ zu. Um eine Zirkularität durch Kontextbezogenheit zu vermeiden, wird methodisch bewusst Wissen um den Forschungsgegenstand ausgeblendet. Nach dieser ersten Form der Bedeutungsexplikation erfolgt nachgeordnet die Kontextuierung, so dass diese beiden Dimensionen der Interpretation analytisch voneinander unabhängig sind11. 10 die folgende Zusammenfassung interpretatorischer Prinzipien basiert auf Wernet, 2000 11 vgl. Bauer, 2007, S. 25 12 (2) Wörtlichkeit: Gemäß des objektiv-hermeneutischen Theorems der „Textförmigkeit sozialer Wirklichkeit“ fordert das Prinzip der Wörtlichkeit, den Text mit einer Exaktheit zu untersuchen, die in alltäglichen Kontexten des Verstehens inadäquat wäre. Zur Erläuterung führt Oevermann Freuds Untersuchungen zu Fehlleistungen an, bei denen es um Bedeutungsexplikationen von Differenzen geht, die in einer textimmanenten Gestalt vorliegen und ohne Vorwissen zum Text wahrgenommen werden können. (3) Sequentialität: Von besonderer Bedeutung ist das Konzept der Sequentialität, die Logik der Sequenzanalyse besteht darin, den tatsächlichen Ablauf des natürlichen Protokolls als eine sequentielle Strukturiertheit zu sehen, deren Einzelakte unter nach gültigen Regeln möglichst sinnvollen Anschlüssen getroffen worden sind und aus deren Gesamtheit sich die konkrete Struktur des Gebildes ergibt. „Konstitutionslogisch ist die Sequentialitäts-Thematik das Schlüsselkonzept einer vor allem an Mead und Pierce entfalteten Theorie der Entstehung des Neuen, einer Theorie der Lebenspraxis und ihrer Zukunftsoffenheit und einer Theorie der Bildungsprozesse.“ 12 (4) Extensität: Für die Extensität ist ein detailliertes, akribisches Bearbeiten geringer Textmengen charakteristisch. Die methodologische Annahme, dass sich aus protokollierten Ausschnitten sozialer Wirklichkeit ein Allgemeines rekonstruieren lässt, liegt dem Prinzip extensiver Feinanalyse zugrunde. Die Extensität ist begründet in Adornos Begriff der Totalität, der verdeutlicht, dass keine unvermittelten Einzelphänomene existieren, sondern jedes konkrete Phänomen in einen allgemeinen Zusammenhang eingebettet ist. Entsprechend der Dialektik vom Allgemeinen und Besonderen, nach der das Besondere sich erst auf der Folie des Allge meinen bildet, lässt sich für die objektive Hermeneutik formulieren, dass ein soziales Gebilde mit keiner Äußerungsform die Sinnstrukturiertheit verlassen kann. 13 (5) Sparsamkeit: Dem Prinzip Sparsamkeit folgend, werden nur solche Lesarten gebildet, die ohne weitere Zusatzannahmen zum Fall vom Text erzwungen sind. Dies dient zum einen der umfangslogischen Begrenzung der (extensiven) Interpretation, forschungsökonomisch wird mit der vorgenommenen Selektion der Lesarten der Interpret auf den Text verpflichtet. „Das Prinzip Sparsamkeit bringt den Aspekt der Regelgeleitetheit und Wohlgeformtheit in besonderem Maße interpretationstechnisch zur Geltung. Denn es erlaubt nur diejenigen Bedeu tungsexplikationen, die den Text als regelgeleitetes und wohlgeformtes Gebilde ansehen und verbietet diejenigen Lesarten, die den Text, ohne dass dieser selbst darauf verweist, als fallspezifisch motivierte Regelabweichung interpretiert.“ 14 12 13 14 Wernet, 2000, S. 27 vgl. Bauer, 2007, S. 29 Wernet, 2000, S. 36 13 5 Interpretation des Fallmaterials Zur Transkription Für diese Studie erfolgte die Anonymisierung der personen- und institutionsbezogenen Daten und Orte mit der Intention, deren Sinngehalt weitestgehend zu erhalten. Die objektiven Daten wurden mittels eines standardisierten Fragebogens erhoben und das Datenmaterial vollständig transkribiert, unter Kennzeichnung der folgenden auditiven Signale: Transkriptionszeichen: (.) Pause ca. 1 Sek; (..) Pause ca. 2 Sek (...) Pause ca. 5 Sek; (Pause) längere Pause [Lachen] Lachen; (') Anheben der Stimme (?) Frageintonation (,) Absenken der Stimme unterstrichenes Wort Betonung ; - Unterbrechung bzw. Neuaufnahme eines Gedankenganges 14 5.1 Fall 1 Marianne, Selbsthilfekultur als Sinnquelle Interpretation der objektiven Daten 1950 geboren, wächst Marianne in Uedern auf, einer Kleinstadt am Niederrhein nahe der holländischen Grenze im Landkreis Kleve. Sie ist Mitglied der katholischen Kirche, vorläufig gehen wir davon aus, dass Mariannes Zugehörigkeit zur katholischen Kirche nicht mit einer fundamentalistischen religiösen Haltung verbunden ist, sondern dass aus einer lebenspraktischen Rationalität eine gewisse Distanz zu Positionen der Kirche, wie denen zur Empfängnisverhütung und zur Abtreibung resultiert. Die Herkunftsfamilie der Erzählerin entstammt dem Kleinbürgertum oder dem Arbeitermilieu, ihr kann nur die Pflichtleistung an Bildung gewährt werden, nach Volksschulbesuch und Lehre ist sie als Wäscheschneiderin tätig. Die IchErzählerin charakterisiert ihre Ausbildung in dem standardisierten Fragebogen zur Erhebung objektiver Daten als „Lehre + Gesellenbrief“, sie wählt eine unübliche, den Status betonende Formulierung, sie möchte nicht auf Volksschulbesuch und Lehre reduziert werden. Als Bildungsdefizit verarbeitet und im Verbund mit vorhandenen Ehrgeiz, könnte dieser Umstand zum Motivator für weitere, unter Umständen „wilde“ Bildungsprozesse im späteren Leben werden. Zum Zeitpunkt der Interviewerhebung achtundfünfzig Jahre alt, erlebt die Erzählerin den Übergang ins Erwachsenenleben in der Zeit, als die Protestbewegung von '68 ihren Höhepunkt erreicht. Da Marianne Kindheit und Jugend in Uedern verbringt, bleiben Einflüsse wie die der 68er Protestbewegung marginal und medienvermittelt. Einen unmittelbaren Niederschlag dieser Bewegung auf ihr Leben, zum Beispiel in Form eines ausgeprägten politischen Interesses, der Teilnahme an Demonstrationen gegen die amerikanische Intervention in Vietnam oder dezidierte Positionen zur Emanzipation sind, als vorläufige Hypothese, nicht zu erwarten. Im Jahr der Heirat bezieht das Ehepaar eine gemeinsame Wohnung in Offenbach, das Motiv für den Umzug ist mutmaßlich die Arbeitsstelle des Mannes. Ein weiterer Umzug erfolgt achtzehn Jahre später nach Gladenbach in Nordhessen, die nunmehr vierköpfige Familie bezieht dort zu günstigen Konditionen ein Haus. Mit den biografischen Passagen des Volksschulbesuchs, der Lehre zur Wäscheschneiderin, Berufstätigkeit und einer neunundzwanzig Jahre währenden Ehe, lebt Marianne eine Normalbiografie, die einen jähen Einschnitt durch die Trennung vom Partner erfährt. Die Auflösung der Ehe mündet in einem Trennungsvertrag mit Unterhaltsregelung, einem Statement beider Ehepartner, mit dem gemeinsam begründeten Mythos formal nicht vollständig zu brechen, ihn aus Gründen der wechselseitigen Absicherung und wegen der gemeinsamen Kinder in ein kooperatives und distanziertes Verhältnis zu überführen. 15 Interpretation der autobiografischen Erzählung Erzählungsgenerierende Eingangsfrage: Ich möchte dich bitten, von deiner Lebensgeschichte unter besonderer Berücksichtigung deiner ehrenamtlichen Tätigkeiten zu erzählen. Welche hat du ausgeübt und übst Du aus, wie bist zu diesen Tätigkeiten gekommen? Was hast du hierbei für Erfahrungen gemacht und wie nimmst du in der Rückschau dazu Stellung? Hierbei interessiert mich alles, was dir einfällt und was du erzählen möchtest. Sequenz 1 Marianne: Hm, jo. Also das war vor siebeneinhalb Jahren ('), als mein Mann gesagt hat, er zieht mal aus, er wird sich trennen. (..) Wo mein ganzes Leben von heut' auf morgen auf den Kopf gestellt war('). Nach einer kurzen Phase der Einstimmung auf die Interviewsituation, („Hm, jo..“), eröffnet die Sprecherin ihre autobiografische Erzählung mit dem Ereignis, das zum Auslöser und zum Katalysator ihres ehrenamtlichen Engagements wurde, sie kommt gleich zur Sache, was den Schluss nahe legt, dass ihre Erzählintention die einer offenen und geradlinigen Präsentation ist. Die siebeneinhalb Jahre zurück liegende Trennung vom Lebenspartner markiert einen gravierenden Einschnitt im Erwachsenenleben der Erzählerin. Der Trennung geht eine über knapp drei Jahrzehnte geführte Ehe voraus, die Eröffnung der Trennungsabsicht kommt für die Erzählerin anscheinend unverhofft. Marianne spricht nicht von einem langwierigen Prozess der Auseinandersetzung um Fortbestand oder Scheitern der Ehe, sie schildert vielmehr, dass ihr von ihrem Mann mehr oder weniger beiläufig eröffnet wird, „er zieht mal aus, er wird sich trennen.“ 2001 folgt nach 29 Jahren Ehe mit zwei gemeinsamen Kindern die Trennung. In der Erzäh lung wird an keiner Stelle von vorausgehenden Schwierigkeiten und Konflikten der Partner gesprochen, die Trennung wird nicht als Schlusspunkt eines Prozesses des Auseinanderlebens präsentiert, vielmehr als eine überfallartige Eröffnung des Ehemanns, etwa „so, ich zieh' dann mal aus.“ Dieser Präsentation zufolge besteht in Mariannes Ehe seit längerem eine massive Kommunikationsstörung. Zwar wäre es möglich, dass Mariannes Partner, über lange Zeit mit der Ehe unzufrieden, diese Problematik mit sich trug und in einer lakonischen Weise seine Frau ausschließlich am Ergebnis, der Trennung teilhaben lässt, doch mutmaßlich gewährt die Erzählerin darüber hinaus keinen Einblick in die der Trennung vorausgehenden Schwierigkeiten und Konflikte. Marianne gelingt es, Zugzwänge der Erzählung in Bezug auf die Passagen, die der Trennung voraus gehen zu umschiffen, sie hat gelernt die Geschichte ihrer Trennung als die einer „spontanen Trennung“ zu erzählen. Möglich auch, dass die Erzählerin jegliche Antennen für die Dynamik der Beziehung zum Ehepartner eingefahren hielt und allein in der Illusion einer funktionierenden Partnerschaft lebend, von der Trennungsabsicht des Mannes überrascht wurde, wie ihre Schilderung nahe legt. Ein Ende der Ehe war von ihr nicht als konkrete Option vorgesehen, sie erleidet die Trennung; nicht die beiden 16 Ehepartner trennen sich in Streit oder Einvernehmen, ihr Mann trennt sich und Mariannes Leben „wird auf den Kopf gestellt“. Vermutlich hat Marianne ihren früheren Beruf lange nicht mehr ausgeübt, war hauptberuflich Mutter und Hausfrau und ihr Alltag, ihre Ziele sowie die Planung des künftigen Lebens, waren auf dieses Modell zugeschnitten. Insofern steht sie nun nicht nur ob des Partnerverlustes seelisch am Abgrund, sondern sie muss auch in einem Akt der Emergenz neue Alltagsstrukturen erzeugen, ihrem Leben neue Impulse und Ziele geben. Mutmaßlich wird sie mit ihren Kindern gemeinsam in dem 1980 erworbenen Haus wohnen. Doch Mariannes kann ihr bisheriges Lebensmodell nicht fortsetzen, der Partner ist gegangen und die Kinder werden in den nächsten Jahren altersentsprechend folgen; nach einer Phase der Trauer um den Verlust, wird sie sich neue Ziele und Aufgaben setzen. 17 Sequenz 2 Und hab' dann per Zufall in der Tageszeitung gesehen, das war gleich die Woche danach schon, dass es bei der SHK [anonymisiert, Selbsthilfekontaktstelle] eine Gruppe gibt für Trennungs- und Scheidungsbetroffene. Die faktische Auflösung der Ehe mündet in einer Krise. Für diese Situation einer von der IchErzählerin nicht allein auflösbaren Lebenskrise sind einige Optionen möglich. Der Rat einer Freundin, die gute Erfahrungen in einer Selbsthilfegruppe gemacht hat, wäre ebenso denkbar, wie die telefonische Erstberatung durch eine Familienberatungsstelle. Als Betroffene könnte sich Marianne an eine psychologische Beratungsstelle wenden, an einen Pfarrer, an Profamilia, die Familienberatungen der Diakonie oder der Caritas. Ihre Strategie der Krisenbearbeitung ist das Zufallsprinzip, bei der Lektüre der Tageszeitung stößt sie auf den Artikel einer Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung und kommt beim Lesen zu der Auffassung, dass diese Selbsthilfegruppe genau das Unterstützungsangebot ist, dass sie nun braucht. Die Formulierung „und hab dann per Zufall in der Tageszeitung gesehen, ... dass es bei der SHK eine Gruppe gibt für Trennungs- und Scheidungsbetroffene“ weist darauf hin, dass bis zu diesem Zeitpunkt kein Bezug zur Selbsthilfe besteht. Dieser Sachverhalt macht darüber hinaus deutlich, dass die Erzählerin nicht krisenerfahren ist und in ihrer Biografie bisher keine Experten zur Bearbeitung lebensimmanenter Krisen benötigte. Die Entscheidung für das Konzept der Selbsthilfe in einer Gruppe Gleichbetroffener basiert auch auf Mariannes Selbstverständnis, sie will aktiv und gemeinsam mit anderen ihre Krise lösen. Insofern ist ihre Wahl eine markante Aussage über ihr Selbstkonzept, sie geht ihre Lebensaufgaben aktiv an und benötigt keine Expertenunterstützung. Der Besuch einer krisenspezifischen Selbsthilfegruppe markiert zugleich einen aktiven Umgang mit den Trennungsfolgen und die Öffnung für neue soziale Erfahrungen. Zum Konzept einer Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung Charakteristisch für Selbsthilfegruppen allgemein ist das Prinzip wechselseitiger, erfahrungsbasierter Hilfe in Abgrenzung zur professionalisierten Hilfe durch Experten. Eine besondere Qualität bekommt diese Hilfe aufgrund des persönlichen Zugangs jedes Gruppenmitglieds zur jeweiligen Krise / Erkrankung, hierdurch ist ein hoher Grad empathischen Verstehens möglich, darüber hinaus werden auch praktische, auf die jeweilige Krankheit bezogene Tipps gegeben, die in Selbsthilfegruppen als einem krankheitsspezifischen Wissenspool bereitstehen. Die Dauer der Teilnahme an der Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung variiert zwischen einigen Wochen und mehreren Jahren. Der Partnerverlust, als das zentrales Thema der Trennungssituation, wird bearbeitet, wie auch Problemlagen im Anschluss an die neue Lebenssituation. Entwicklung neuer Perspektiven, Organisation gemeinsamer Aktivitäten und gelegentliche Informations- und Beratungsabende zu psychischen, rechtlichen und finanziellen Aspekten der Trennung ergänzen das Konzept dieser Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung. 18 SHK – Selbsthilfekontaktstelle Die Abkürzung SHK (anonymisiert) steht für Selbsthilfekontaktstelle, einen Typus von sozialen Institutionen zur lokalen / regionalen Unterstützung von Selbsthilfegruppen, die in den alten Bundesländern vor allem in den Jahren ab 1985 entstanden. Professorin Dr. Rita Süßmuth, Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit a.D., initiierte zu dieser Zeit ein Modellprojekt zur Etablierung einer Struktur der Selbsthilfeunterstützung. Bundesweit bestehen im Jahr 2007 ca. 270 lokale Selbsthilfekontaktstellen. 15 „Die Selbsthilfelandschaft, die sich in Deutschland bis heute herausgebildet hat, ist sehr dif ferenziert und vielfältig. Vertikale (Organisationen und Verbände) und horizontale Organisationsformen (kleine Selbsthilfegruppen, Selbsthilfekontaktstellen und Netzwerke) sind nicht immer strikt zu trennen, sondern sie ergänzen sich, bestehen nebeneinander oder gehen ineinander über.“16 Neben den Selbsthilfekontaktstellen und deren Strukturen, den Landesarbeitsgemeinschaften der Selbsthilfe, der Nakos, der Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Unterstützung von Selbsthilfegruppen sowie der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe (BAGSH) sind es Landes- und Bundesverbände der je spezifischen Erkrankung, die Selbsthilfegruppen unterstützen, informieren und vernetzen. Zum Aufgabenprofil von Selbsthilfekontaktstellen gehört das Bereitstellen von Räumen für Gruppentreffen, von Ressourcen wie Flipcharts, Beamern etc., Beratung, in wie weit der Besuch einer Selbsthilfegruppe im Einzelfall sinnvoll ist, Unterstützung und Begleitung von Gruppen sowie Neugründungen. Als Teil des Netzwerks der sozialen Dienste einer Region, nehmen Kontaktstellen die Funktion einer Drehscheibe wahr, sie stellen Informationen und Adressen, beispielsweise zu Kontaktpersonen bei seltenen Erkrankungen, bereit. Die Aufgaben der Mitarbeiter von Selbsthilfekontaktstellen umfassen weiterhin Beratungen von Gruppen, z.B. bei Konflikten, die Organisation von Gruppengesamttreffen sowie Supervision für Selbsthilfegruppen. 15 Hundertmark-Mayser, 2007, S.43 -45 16 op. cit. 19 Sequenz 3 Und da hab' ich bei der SHK [anonymisiert, Selbsthilfekontaktstelle] (')angeru- fen und die haben mir dann gesagt, dass das für Menschen wär', die also schon länger geschieden oder getrennt wären. Beim Erstkontakt mit der Selbsthilfekontaktstelle muss Marianne zunächst zur Kenntnis nehmen, dass es Anfänger und Fortgeschrittene in Sachen Trennung und Scheidung gibt. Ihr, als einer gerade Getrennten, steht die nachgefragte Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung nicht zur Verfügung. Das Fachpersonal bei Kontaktstellen, das hier Auskunft zur Trennungsgruppe gibt, besteht in der Regel aus Psychologen und / oder Pädagogen bzw. Sozialpädagogen. Aufgabe der Mitarbeiter beim telefonischen Erstkontakt und eventuell anschließendem persönlichen Beratungsgespräch ist, neben der Information zu den Treffen der jeweiligen Gruppe, gemeinsam mit dem Hilfesuchenden zu klären, ob diese spezifische Form der Selbsthilfe im Einzelfall die geeignete Form der Krankheits- bzw. Krisenbearbeitung ist. Die gegebene Information, dass die Selbsthilfegruppe ausschließlich für Personen mit einem gewissen Abstand zur Trennung offen ist, wirft das Problem auf, welche Hilfe Menschen in der akuten Phase eines Partnerverlustes erhalten. Als Anschlusssequenzen währen hier mehrere Varianten denkbar, die Mitarbeiter der Kontaktstelle könnten auf andere Fachdienste verweisen, bei der Selbsthilfekontaktstelle könnte ein Beratungsangebot bestehen oder auch eine spezifische Selbsthilfegruppe. Es wäre möglich, dass Marianne, frustriert durch diesen Erstkontakt mit der Selbsthilfe, dieser den Rücken kehrt und sich einer anderen Hilfeform zu wendet, vorläufig gehen wir jedoch davon aus, dass sie ein Angebot einer adäquaten Selbst hilfegruppe erhält und diese auch aufsuchen wird. Sofern keine weitere Hilfeangebote vermittelt werden, wäre die gegebene Beratung und die Eingrenzung der Selbsthilfegruppe auf Personen, die bereits länger getrennt oder geschieden sind, nur bedingt, basierend auf der Autonomie der Selbsthilfegruppe, nachvollziehbar. 20 Sequenz 4 Es gäb' da aber noch 'ne andere Gruppe ('), diese Montagsgruppe (') und das wär' so praktisch 'ne Anfängergruppe sach' ich mal und das wär' wohl besser für mich. Die von der Erzählerin gewählte Form des Konjunktivs verdeutlicht möglicherweise eine gewisse Skepsis gegenüber der Information der Kontaktstellenmitarbeiter, dass der angefragten Selbsthilfegruppen Trennung / Scheidung die Montagsgruppe als der Ort, an dem frisch Getrennte zusammenkommen, vorzuziehen sei. Zugleich legt dieses Werturteil den Schluss nahe, dass Marianne heute über gute Kenntnisse der Strukturproblematik von Selbsthilfegruppen zum Thema Trennung verfügt. Bei dieser Selbsthilfekontaktstelle existieren zwei Selbsthilfegruppen Trennung / Scheidung, die Montagsgruppe fokussiert die Problemlage im unmittelbaren Anschluss an eine Trennung, das Angebot der zweiten Gruppe ist bezogen auf Menschen mit einem gewissen zeitlichen und emotionalen Abstand zur Trennungssituation. Diese Ausdifferenzierung des Selbsthilfeangebots ermöglicht zwar eine Gruppenbildung, die Menschen in einer eins zu eins kompatiblen Situation zusammen bringt, ob dies so sinnvoll ist oder ob gegenteilig den „Anfängern“ die Erfahrungspotentiale der „Fortgeschrittenen“ verloren gehen, ist zunächst fraglich. Neben einer hohen Zahl Scheidungsbetroffener, könnten die Motive für ein Splitting der Selbsthilfegruppen darauf zurück zu führen sein, dass einige Teilnehmer von Selbsthilfegruppen Wert darauf legen, dass die Themen der Treffen weitestgehend mit ihrer Lebenssituati on korrelieren. Insofern der Partnerverlust eine narzisstische Kränkung hervorrufen kann, reagieren einige Teilnehmer verletzt auf die Wahrnehmung, dass andere Gruppenmitgliedern einen als besser empfundenen Stand in der gemeinsamen Situation haben, seien es neue Kontakte, neue Partner oder eine bessere Krisenbewältigung. Gelegentlich wollen die „alten Hasen“ auch nicht mit den Leidenspotentialen frisch Getrennter konfrontiert werden. „Das wär' so praktisch 'ne Anfängergruppe, sach' ich mal und das wär' wohl besser für mich.“ Die Empfehlung der Fachkraft der Selbsthilfekontaktstelle verweist auf eine Gruppe für Menschen mit geringem zeitlichen Abstand zur Trennung. In dieser Phase sind der Partnerverlust, dessen emotionale Verarbeitung, die Neuorganisation des Lebens sowie möglicherweise der Verlust weiterer sozialer Kontakte zentrale Themen. Mit einem gewissen Abstand wandeln sich die Themen, materielle Aspekte der Trennung, rechtliche Fragen wie Unterhaltsansprüche werden in der Selbsthilfegruppe diskutiert und gegebenenfalls von hinzugezogenen Anwälten referiert. Gerade in einer Scheidungsgruppe werden intensiv soziale Kontakte gepflegt und neue Partner gefunden. Insofern wird das Gruppensplitting dieser Selbsthilfeeinrichtung wie auch die Beratung der Erzählerin plausibel. 21 Sequenz 5 Das war [anonymisiert] bei der Sparkasse in dem Gebäude und da bin ich dann auch montags hin. Da war das erst (Luft ausstoßen) zwei oder drei Wochen her, wo ich die Neuigkeit bekommen hatte und em (..) da war der Horst [anonymisiert], der das gemacht hat, gar nicht da und da war nur einer, der aufgeschlossen hat und eine neue Frau war da noch. Dem Interviewerhebenden wird mitgeteilt, dass das erste Treffen in einem Gebäude bei der Sparkasse stattfand. In der Regel stellen Selbsthilfekontaktstellen Räume für Gruppentreffen bereit, vermutlich ist die Ortsangabe auf die Gladenbacher Kontaktstelle bezogen. Die Erzählerin bestätigt noch einmal die Schilderung aus der ersten Sequenz, die überfallartige Eröffnung ihres Mannes, dass er sich nun trennen wolle. Noch acht Jahre nach dieser Eröffnung ruft die Erinnerung eine von Marianne durch starkes Ausstoßen des Atems verarbeitete Belastungsempfindung hervor. Beim ersten Gruppenbesuch, etwa zwei bis drei Wochen nachdem der Ehemann seine Trennungsabsicht eröffnet hat, ist die Person, die als Moderator oder Leiter der Gruppe fungiert, nicht anwesend. Die Erzählerin charakterisiert dies mit den Worten, „der Horst, der das gemacht hat...“, die Wortwahl basiert auf ihrer Wahrnehmung von Gruppentreffen. Handelt es sich hier um einen erfahrenen Mann, der sich für seine Kombattanten in der Selbsthilfegruppe engagiert und so zu einer Autorität in der Gruppe wurde oder ist es eher eine (semi-) professionelle Begleitung von Trennungsprozessen? In den theoretischen Konzepten, auf die sich Selbsthilfeunterstützung bezieht, wird Wert darauf gelegt, dass Selbsthilfegruppen Gruppen von Gleichbetroffenen ohne Leitung sind. Diese Konzepte gehen zum Teil zurück auf die Zeit, als mit der Psychiatrie Enquete von 1975, dem antipsychiatrischen Diskurs mit Vertretern wie David Cooper, Klaus Dörner, Ronald D. Laing, Erving Gofmann und anderen sowie Zusammenschlüssen wie der Blauen Karawane für die Auflösung der Großpsychiatrien gekämpft wurde. Psychiatrieerfahrene Menschen hatten über Jahrzehnte Bevormundungen durch Experten17 erfahren und dies sollte sich nun nicht noch in Selbsthilfegruppen fortsetzen. Bei Mariannes ersten Besuch der Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidungs ist von der bestehenden Gruppe nur ein Teilnehmer anwesend, mit der autobiografischen Erzählerin und einem weiteren weiblichen Neuzugang kommen drei Personen zum Gruppenabend zusammen. Dieser erste Abend ist m. E. weniger durch eine strukturierte Gruppenarbeit geprägt, die beiden Frauen nähern sich einander in der wechselseitigen Schilderung ihrer Ehe- und Trennungserfahrungen an, sie kommen damit dem oft vorrangigen Bedürfnis der Teilnehmer von Selbsthilfegruppen nach, ihre Erfahrungen auszutauschen. 17 vergleiche etwa: Ivan Illich, Entmündigung durch Experten 22 Sequenz 6 Sonst war da niemand den Abend. Aber das war für mich an dem Abend schon klipp und klar, das ist meine Gruppe. Da bleib' ich. Mit dieser Frau bin ich noch gleich bis nachts um zwölf, ein Uhr weg gewesen, dann also. Hinsichtlich der Rahmenbedingungen, mit denen die Erzählerin ihren Weg in der Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung beginnt, stellt sich die Frage, was Marianne zu dem eindeutigen Votum bewegt, „aber das war für mich an dem Abend schon klipp und klar, das ist meine Gruppe. Da bleib' ich.“ Nach dem ersten Besuch der Gruppe ist Marianne durch die Erfahrung, im eigenen Trennungsleid verstanden zu werden und die Erzählungen der beiden anderen Gruppenteilnehmer zu verstehen, zum Verbleib in der Selbsthilfegruppe motiviert. Ihre emphatisch vorgetragene Position resultiert auch aus den in der Ehezeit spärlich gewordenen sozialen Kontakten, die sich nach der Trennung noch weiter reduzieren und sich mit der Trauer um den Partnerverlust zu einer depressiven Stimmungslage verdichten. Hier greift das therapeutische Potential von Selbsthilfegruppen, Marianne gelingt mit den Kontakten und Gesprächen in der Trennungsgruppe eine Veränderung ihrer Sichtweise. Das Gefühl, als Mensch angenommen und mit ihrer Problemlage verstanden zu werden, wirkt heilsam auf ihre Emotionen und so wird die Gruppe zum archimedischen Punkt einer Umstrukturierung, primär ihrer sozialen Kontakte und sekundär ihrer gesamten Lebenspraxis. Die Parallelität in den Trennungsverläufen der beiden Frauen, möglicherweise auch in weiteren biografischen Segmenten, schafft zusätzliche Nähe, nach der Gruppe verbringen sie den weiteren Abend gemeinsam. 23 Sequenz 7 Mit der hab' ich sogar heute Kontakt und - ja gut das em wurden dann da auch immer 'n paar mehr dann auch, wir waren dann so den Sommer über fünf, sechs, sieben Leute dann. Und das hat sich auch ziemlich schnell gezeigt dann, dass ich so kleinere Aufgaben übernehmen konnte, ja? In den nächsten Monaten stabilisiert sich die Trennungs- / Scheidungsgruppe. Marianne ist nach der Scheidung nicht in ihren Beruf als Wäscheschneiderin zurückgekehrt, sie lebt nun von Unterhaltsansprüchen und baut ein langfristiges soziales Netz über die Selbsthilfegruppe auf. Nachdem die Kindererziehung nun nicht mehr so zeitintensiv ist und keine sozialen Kontakte mehr über ein Arbeitsverhältnis bestehen, engagiert die Erzählerin sich in der Gruppe. „Und das hat sich auch ziemlich schnell gezeigt dann, dass ich so kleinere Aufgaben übernehmen konnte, ja?“ Die Erzählerin wandert ein in die Kultur der Selbsthilfe, übernimmt zunächst „kleinere Aufgaben“ und diese erst, nachdem sie sich bewährt hat. In dieser Sequenz spricht Erzählerin von ihrer Sichtweise der Selbsthilfe, davon, dass es schon einiger Kompetenzen bedarf, um Aufgaben in der Gruppe zu übernehmen. Hier schwingt Respekt mit vor den Anforderungen des Engagements in der Gruppe, die Erzählerin bewährt sich „ziemlich schnell“. Mariannes Selbstbewusstsein ist insgesamt nicht stabil, sie dokumentiert zwar, dass sie jemand ist und etwas kann (vergleiche objektive Daten, Sequenz 5), wirkt jedoch etwas unsicher, wenn die Erwartungen der anderen in Spiel kommen, wie in dieser Passage. Als biografischer Anschluss wäre denkbar, dass Marianne ihr Engagement ausweitet, eine eigene Trennungsgruppe übernimmt, in einem spekulativen Sinne könnte sie sich auch ehrenamtlich in einer sozialen Institution, zum Beispiel in der Selbsthilfekontaktstelle, die ihre Trennungs- Scheidungsgruppe fachlich begleitet, betätigen. 24 Strukturhypothese 1950 geboren, wächst die Erzählerin in Uedern am Niederrhein nahe der holländischen Grenze auf. Marianne lebt mit den biografischen Passagen des Volksschulbesuchs, der Lehre zur Wäscheschneiderin und einer neunundzwanzig Jahre währenden Ehe eine Normalbiografie. Die Planung der Familie bringt mehrere Umzüge mit sich, der Ortswechsel von Uedern nach Offenbach im Jahr der Heirat ist in der Arbeitssituation des Ehemannes begrün det, zu einem weiteren Umzug nach Gladenbach kommt es achtzehn Jahre später durch die Möglichkeit, kostengünstig ein Haus zu bewohnen oder zu erwerben. Selbsthilfe als Medium zur Bearbeitung einer Lebenskrise Marianne eröffnet ihre Erzählung mit den Worten „Hm, jo. Also das war vor siebeneinhalb Jahren ('), als mein Mann gesagt hat, er zieht 'mal aus, er wird sich trennen. (..) Wo mein ganzes Leben von heut' auf morgen auf den Kopf gestellt war (').“ Es handelt sich hier um den freudschen Abwehrmechanismus der Verleugnung, die Realität einer Beziehungsstörung, die zu der geäußerten Trennungsabsicht führt, wurde geleugnet, der Sinn der Leugnung ist die Abwehr der Verlustangst und der mit einer Trennung einhergehenden Krise. Mit der Trennung endet eine über knapp drei Jahrzehnte bewährte Routine, die die gesamte Lebenswelt der Erzählerin ausmacht. Marianne stürzt in eine Krise, sie muss neben der Verarbeitung des Verlustes in einem Akt der Emergenz neue Strukturen und Perspektiven erzeugen. Diese findet sie in der Selbsthilfegruppe für Trennungs- / Scheidungsbetroffene. Die Entscheidung für das Modell Selbsthilfe gegenüber einer Krisenbearbeitung mit Expertenunterstützung verweist auf Mariannes Meinung von sich selbst, sie sieht sich als jemanden, der aktiv auf die Lebensanforderungen zugeht, der Probleme gemeinsam mit anderen löst. Die Erzählerin trifft mit ihrem Exmann ein pragmatisches Arrangement, ein Trennungsvertrag mit Unterhaltsregelung ohne Scheidung hebt den gemeinsam begründeten Mythos nicht vollständig auf und dient der wechselseitigen Absicherung und Steuerersparnis. Den Kindern wird das Fortbestehen eines partnerschaftlichen Verhältnisses signalisiert. Mit der Trennung wird ihr bisheriger Lebensentwurf obsolet, eigene soziale Kontakte sind in der Ehezeit wenige geblieben, Freizeitinteressen wie singen, wandern etc. wurden über Jahrzehnte vernachlässigt. Die Erzählerin ist nicht krisenerfahren, in ihrer Biografie hat sie bisher keine Experten zur Bearbeitung lebensimmanenter Krisen benötigt. Vorherige Erfahrungen mit Selbsthilfe bestehen nicht, die Entscheidung, die Gruppe Trennung / Scheidung aufzusuchen, der Besuch einer krisenspezifischen Selbsthilfegruppe markiert einen aktiven Umgang mit den Trennungsfolgen und die Öffnung für neue soziale Erfahrungen. Das Hauptthema der Erzählung ist der Prozess der Enkulturation in die Selbsthilfe, von dem Marianne immer wieder Ausschnitte präsentiert, die Teilnahme an der Selbsthilfegruppe wird zur „Schließung von Zukunftsoffenheit“ (Oevermann). Der Erstkontakt der Erzählerin 25 mit der Selbsthilfeguppe ist objektiv ungünstig, Marianne trifft auf eine in ihrer Funktionalität eingeschränkte Kleinstgruppe, dennoch urteilt sie „aber das war für mich an dem Abend schon klipp und klar, das ist meine Gruppe. Da bleib' ich.“ Dieses von Beginn an positive Verhältnis der Erzählerin zur Selbsthilfe geht mit auf die Defizite zurück, mit denen Marianne nach der Trennung lebt, die Gruppenteilnahme wird für sie zu einer Erweiterung des Horizonts. Sie verfügt über wenige sozialen Kontakte außerhalb des Familiensystems, hat ihre früheren Hobbys lange zugunsten des Dienstes an der Familie aufgegeben und kommt nun mit Menschen in einer vergleichbaren Lebenssituation zusammen, mit denen sie sich empathisch versteht und verbunden fühlt. Nach der Trennung nicht mehr berufstätig, engagiert sie sich in der Trennungs-/ Scheidungsgruppe und baut sich ein neues soziales Netz auf. Im Verlust des Partners auf sich selbst verwiesen, entdeckt sie in der Selbsthilfegruppe kommunikative Seiten an sich, die lange nicht gelebt wurden, geht nun auf Menschen zu und ver bringt mit anderen Gruppenmitgliedern gemeinsame Abende beim Kartenspiel. Selbstpräsentation der Ich-Erzählerin Die Selbstpräsentation der Erzählerin ist durch ein gelegentliches Overstatement gekennzeichnet, in dem eine Unzufriedenheit mit dem erreichten Status mitschwingt. Ihr Selbstbewusstsein ist nicht stabil, geht es um die Auseinandersetzung mit Erwartungen von anderen, wie im Falle der Bewährung als Mitarbeitende in der Selbsthilfegruppe, wirkt sie etwas unsicher. Marianne wandert ein in die Selbsthilfekultur, besonders der Scheidungsgruppe, engagiert sich dort, um schließlich längerfristig eine eigene Gruppe übernehmen. Ihre Beschreibung des Prozesses, in dem sie mit dem Modell Selbsthilfe in einer Trennungsgruppe vertraut wird, ist gekennzeichnet durch Respekt vor den Kompetenzen, die diese besondere Form der Gruppenarbeit bedarf. In ihrer Selbstsicht hat sie diese von der Pike auf gelernt, zunächst Kontakte gepflegt, später als telefonischer Ansprechpartner zur Verfügung gestanden, dann gelegentlich Treffen moderiert, um schließlich eine eigene Gruppe zu übernehmen. In dem Lebensabschnitt nach der Trennung, die zum Zeitpunkt der Interviewerhebung siebeneinhalb Jahre zurückliegt, erhält das Engagement in der Selbsthilfe einen Stellenwert, der weit über das ursprüngliche Anliegen, Unterstützung in einer Lebenskrise zu erhalten, hinausgeht. Die Motivlage der Erzählerin für ihr langfristiges Engagement in der Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung ist mehrschichtig, ein intrinsisches, selbsterfahrungsbasiertes Helfen-Wollen sowie eigene Kontaktbedürfnisse sind wichtige Faktoren. Als allein lebende Frau ohne Berufstätigkeit schöpft Marianne einen Teil ihres Selbstwerts aus der Anerkennung, die sie aus ihrer Rolle als Leiterin der Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung bezieht. Mutmaßlich legt sie diese quasi-therapeutisch an und sieht ihre Tätigkeit als therapienahe Lebenshilfe. Vom politisch-gesellschaftlichen Diskurs zum Bürgerschaftlichen Engagement ist dieser Effekt der Anerkennung, in diesem Fall zur Stärkung des Selbstwertes, nicht nur gewünscht, er wird gezielt gefördert. 26 Selbsthilfe als Selbstverwirklichung und Sinnquelle Zu dem Zeitpunkt, als die eigene Betroffenheit nicht mehr wirksam war, hätte Marianne eine Neustrukturierung ihrer Freizeit und ihres sozialen Netzes vornehmen können, beispielsweise in einen Gesangsverein gehen und Volkshochschulkurse besuchen; sie wählt stattdessen ein nunmehr fast achtjähriges Engagement in der Selbsthilfe. Nachdem die Erzählerin in ihrer Ehe als Managerin ihrer Familie für die Belange des Ehemannes und die ihrer Kinder aktiv war, wechselte sie in das Feld der Selbsthilfe. Ihr Motiv ist ein Konglomerat aus Altruis mus, mit dem Gewinn des erfolgreichen Helfens und der Dankbarkeit ihrer Gruppenmitglieder sowie eine reproduzierte Haltung, die die eigenen Bedürfnissen zurückstellt, ein dependentes Verhaltensmuster. In einem gewissen Sinne gelingt der Erzählerin ihre Selbstverwirklichung über das Selbsthilfeengagement. 27 Überprüfung der Strukturhypothese Sequenz 8 Damals sind wir 'mal so 'n bisschen fortgegangen zusammen, da haben wir noch nicht Karten gespielt, dass wir am Wochenende wenigstens was zusammen gemacht haben. Wir haben viel telefoniert zusammen, das hab' ich auch immer so 'n bisschen angetrieben, ja ('), den Kontakt eben so ´n bisschen gehalten, ja ('). Telefonisch unterstützen sich die Gruppenmitglieder in Krisen und Alltagsproblematiken. Die Gruppenabende, Telefonate und gemeinsame Unternehmungen wie Restaurantbesuche und Kartenspiele füllen einen Teil der Lücke, die unter anderem durch den Partnerverlust entstanden ist. Im Verbund mit gemeinsamen Weihnachts-, Geburtstagsfeiern etc. wird die Selbsthilfegruppe zum integrativen Medium, ein häufig anzutreffendes und vom Selbsthilfebzw. Selbsthilfeunterstützungskonzept erwünschtes Phänomen in einer Zeit der Vereinzelung. Gelegentlich besuchen Personen themen- bzw. krankheitsspezifische Selbsthilfegruppen, ohne selbst oder als Angehöriger betroffen zu sein, sie bevorzugen diese Gruppe gegenüber Angeboten wie Singletreffs, Seniorenfrühstück oder Frauengesprächskreisen, die konzeptionell weniger spezifisch und tendenziell offener für die sozialen Interessen der Besuchenden sind. Das beschriebene Amalgam von Teilnehmerbedürfnissen ist typisch für Selbsthilfegruppen. Mariannes Einstieg in die Selbsthilfearbeit ist das Pflegen von Kontakten, die Erzählerin schafft sich eine Position im Gefüge der Trennungsgruppe, die sie langsam, doch stetig ausbaut. Mit der wechselseitigen Unterstützung in Krisen und den gemeinsamen Aktivitäten erhält die Gruppe eine kooperative Struktur, die deutlich über das Maß an Gemeinschaftsorientierung hinausgeht, wie wir sie beispielsweise in einem Sportverein vorfinden. Ihr Engagement für die Gruppe erfährt die Erzählerin langfristig und über die wechsel seitige Unterstützung zu den Trennungs- / Scheidungsfolgen hinaus als Sinnquelle. 28 Sequenz 9 Ich hatt' den Schlüssel nachher ja davon, also (pf..) so dass der Horst ja nicht immer da sein musste, gell, da konnte ich das dann schon machen auch. Die Erzählerin wandert ein die Kultur der Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung. Nachdem sie eine Einsozialisation in die Praxis der Arbeitsmethoden dieser Gruppe erfahren hat, gilt sie als befähigt, Gruppenabende zu gestalten. Marianne baut ihre Position weiter aus, übernimmt gelegentlich die Moderation an Gruppenabenden und entlastet damit die Person, die für die Gesprächsführung der Gruppentreffen verantwortlich ist. Die gewählte Formulierung, „... gell, da konnte ich das schon machen auch“, ist eine Reproduktion der Struktur des schwankenden Selbstbewusstseins. Deutlich wird aber auch der hohe Anspruch, mit dem diese Selbsthilfegruppe arbeitet, mit selbstgesetzten Standards, die eine effektive Hilfe für Betroffene gewährleisten. Marianne, sonst darauf bedacht Selbstbewusstsein zu dokumentieren und zu zeigen, dass sie jemand ist, nimmt sich in ihren hier gewählten Formulierungen sehr zurück. In diesen schwingt Respekt mit gegenüber den Leidenspotentialen, mit denen sie in der Praxis konfrontiert ist, wie auch gegenüber den Kompetenzen, die sie in dem durchlaufenen Prozess von der Selbsthilfeanfängerin zur Expertin in eigener Sache erworben hat. Ihrem Anspruch und Selbstverständnis zufolge sind diese für die Gruppenarbeit zum Thema Trennung unerlässlich. 29 5.2 Fall 2 Hans, der gestandene Ehrenamtliche Interpretation der objektiven Daten Hans, der Erzähler, ist 1944, in der Endphase des Zweiten Weltkrieges, im Jahr der Landung der Alliierten Truppen in der Normandie, in Bösel in Niedersachsen geboren. Als Kriegskind erlebt er in Kindheit und Jugend den Mangel an aus heutiger Sicht alltäglichen Gütern. Hans entstammt einer Handwerkerfamilie, der Vater ist als Zimmermann und Tischler tätig, er trifft seine Berufswahl im Alter von 15 Jahren, nach achtjährigem Besuch der Volks- und Hauptschule, im gleichen Milieu. Sechsundzwanzigjährig heiratet er, die Ehe besteht bis zum heutigen Tag fort. Hans beginnt 1968 als Fahrer für die Deutsche Bahn zu arbeiten, bis zu seiner vorzeitigen Verrentung ist er dort als Busfahrer tätig. Ohne die Berufsausbildung zum Maurer ist er 29 Jahre berufstätig, Hinweise auf die Erkrankung, die zur Verrentung führt, er halten wir in den objektiven Daten nicht. Zum Zeitpunkt der Interviewerhebung ist der Erzähler 66 Jahre alt. Hans ist Mitglied der katholischen Kirche, fraglich bleibt zunächst, ob er dort über die Mitgliedschaft hinaus engagiert ist, an Gebets- und Bibelkreisen teilnimmt, in einer kirchlichen Gesangsgruppe aktiv ist oder ähnliches. Der gesellschaftspolitische Kontext während Hans' Adoleszenz, um 1960, war unter anderem die Unabhängigkeit von siebzehn afrikanischen Staaten von ihren Kolonialmächten; das erste Sit-in von afroamerikanischen Studenten fand in Greensboro in North Carolina statt. Dem Mossad gelang es, Adolf Eichmann festzusetzen, in den USA wurde John F. Kennedy zum Präsidenten gewählt und in der Sowjetunion wurde Leonid Breschnjew Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets. Hans erlebt den Wiederaufbau mit, die Neuorientierung der Generation seiner Eltern und deren Aufbau neuer Existenzen. Das politische Denken dieser Zeit war geprägt durch den kalten Krieg, omnipräsent war die Erinnerung an den Bau der Mauer, die Deutschland teilte. Wettrüsten und Konkurrieren um technische Überlegenheit bestimmten die Medieninhalte, ein schockartiger Zustand in der westlichen Welt war der Raumflug von Juri Gargarin, bei dem er 1961 die Erde in 108 Minuten umrundete. Hans' Start ins Erwachsenenleben findet statt in einer prosperierenden Wirtschaft, den Deutschen geht es materiell wieder gut, mit dem VW Käfer oder dem Ford 17 M, der „Badewanne“, sind sie mobil und reisen, bevorzugt noch Italien. 30 Interpretation der autobiografischen Erzählung Erzählungsgenerierende Eingangsfrage: Lieber Hans, ich möchte dich bitten, von deiner Lebensgeschichte unter besonderer Berücksichtigung deiner ehrenamtlichen Tätigkeiten zu erzählen. Welche hat du ausgeübt und übst Du aus, wie bist zu diesen Tätigkeiten gekommen? Was hast du hierbei für Erfahrungen gemacht und wie nimmst du in der Rückschau dazu Stellung? Hierbei interessiert mich alles, was dir einfällt und was du erzählen möchtest. Sequenz 1 Hans: Gut. Tja, ich hab' angefangen zu lernen, Maurer, 1959. Und eigentlich wollt' ich Autoschlosser lernen. Aber das war aus rein technischen Gründen nicht machbar. Mit der Berufsausbildung als Erzählungseinstieg wählt der Erzähler den Beginn seines Erwachsenenlebens, er will uns seine Lebensgeschichte schildern, die er weitgehend entkoppelt von Kindheit und Herkunftsfamilie präsentiert. Im Anschluss an die Regelschulzeit von acht Jahren Grund- und Hauptschule beginnt der Erzähler eine Ausbildung zum Maurer, wie er sofort betont, war dies nicht sein Wunschberuf. Bei den angeführten technischen Gründen, die der Autoschlosserlehre im Weg standen, handelt es sich wahrscheinlich um ein Entfernungsproblem zur potentiellen Ausbildungsstätte, nicht völlig ausgeschlossen ist eine körperliche Einschränkung. In diesen Jahren war es anders als heute ungewöhnlich, dass Lehrlinge am Ausbildungsort eine eigene Wohnung nehmen, üblicherweise wohnten die Auszubildenden im Elternhaus. Für tägliche Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln über längere Strecken war kein Geld vorhanden, oft wurde von dem vergleichsweise schmalen Lehrlingsgehalt ein Kostgeld an die Eltern abgegeben. Pflichten wie das Versorgen von Tieren oder Arbeit am eigenen Land und einem Garten, in dem Nutzpflanzen angebaut wurden, galten als obligatorisch. Diese Rahmenbedingungen werden vom Erzähler verdichtet zu „rein technischen Gründen.“ Er entscheidet sich für den als solide geltenden Handwerksberuf. Der Vater war von Beruf Zimmermann / Tischler, Hans zeigt keine Tendenzen, das Handwerksmilieu, in dem er aufgewachsen ist, zu verlassen. Er scheint mit sich, seiner Familie und der Welt in einem span nungsfreien Verhältnis zu leben, dem mit der Maurerausbildung verfehlten Wunschberuf allerdings trauert er nicht nur nach, wie wir aus den objektiven Daten wissen, beginnt der Erzähler acht Jahre später, 1968, als Berufsfahrer für die Deutsche Bahn zu arbeiten. Im Weiteren, bis zur krankheitsbedingten vorzeitigen Verrentung, ist er als Busfahrer tätig. Mit der Fahrertätigkeit ist es dem automobil-affinen Hans auf Umwegen gelungen, sein ursprüngliches Berufsziel zu verwirklichen. 31 Sequenz 2 Ich hätt' immer außerhalb fahren müsse, von Bösel her und em, das war bei meine Eltern nicht ganz so gesehen. Also hab' ich dann Maurer gelernt und hab' dann 1962 meine Gesellenprüfung gemacht und war eigentlich mit dem Beruf sehr zufriede'. Die Formulierung „...das war bei meinen Eltern nicht ganz so gesehen“ ist eine verniedli chende Umschreibung dafür, dass die Eltern den Plänen des Jugendlichen eine klare Ansage entgegenstellten, etwa „ zwei Stunden Fahrzeit pro Tag und 40 Mark im Monat für die Busfahrkarte, das machst du nicht.“ In den fünfziger und frühen sechziger Jahren betrieben viele Familien neben der Berufstätigkeit eine kleine Landwirtschaft, überwiegend für den Eigenbedarf. Eventuell war für den Erzähler vorgesehen, vor und nach der Arbeit zu melken, Tiere zu versorgen etc.. In der Herkunftsfamilie wird Wert auf eine solide handwerkliche Ausbildung gelegt, ein Aufstieg über Bildung ist nicht vorgesehen. Das Veto der Eltern zu einer kosten- und zeitintensiven Fahrt zum Ausbildungsort greift fundamental in Hans' Lebensplan ein. Ein Auflehnen gegen die elterliche Autorität steht als Option nicht zur Verfügung. Der Erzähler betont heute, dass er mit dem Maurerberuf zufrieden war, er arrangierte sich zunächst mit den berufli chen Fakten, etwa nach dem Motto, „wenn das Leben dir eine Zitrone gibt, mach' eine Limo nade daraus“. Er findet Gefallen an den Tätigkeiten auf dem Bau, erweitert sein handwerkliches Können, in einem Winkel seiner Seele allerdings bewahrt Hans den Wunsch, als KFZMechaniker zu arbeiten. Im Anschluss an die Lehrzeit ist er sechs Jahre als Geselle im erlernten Beruf tätig, um dann sein Berufsziel in einer modifizierten Form zu realisieren. Als Element der Fallstruktur zeigt sich, dass der Erzähler in der Lage ist, flexibel mit widrigen Lebensbedingungen umzugehen. Konflikte, wie im Falle des Vetos der Eltern zur Ausbildung, werden heruntergespielt bzw. nicht thematisiert. Dieser Umstand kann darauf hinweisen, dass die Gestalt des Erzählers im Hinblick auf seine Vergangenheit zu weiten Teilen geschlossen ist, dass er auch auf die von den Eltern aufgebauten Hürden ohne Ressentiment zurück blicken kann. 32 Sequenz 3 Hab' mich da weitergebildet, hab' dann auch bei de' Zimmerleut mitgearbeitet und was da alles so dezu gehört. Em, ich war ziemlich (.') vielseitig gewese'. Der Erzähler teilt uns mit, dass er nicht nur seinen Job durchgezogen hat, sondern mit einer lernoffenen Haltung gearbeitet hat und neben den Maurertätigkeiten bei den Zimmerleuten beschäftigt war. Mutmaßlich fand ein Großteil des weiteren Lernens auf dem Bau, „on the job“ statt, möglicherweise kamen weitere praxisbezogene Lernanteile wie das Lesen von Bauplänen nach Feierabend hinzu. Der Beruf des Zimmerers oder Zimmermanns ist ein eigenständiger Ausbildungsberuf, die Tätigkeit umfasst sämtliche Holzarbeiten am Bau, wie das Errichten des Dachstuhls, Innenarbeiten mit Holz sowie das Erstellen kompletter Holzhäuser. Hans wurde im Laufe seiner sechsjährigen Tätigkeit im Baugewerbe zu einem Generalisten, der von seinem Arbeitgeber nach Bedarf an jedem Ort der Baustelle eingesetzt werden konnte. Der Erzähler ist sich dieses Umstands bewusst, in der Rückschau ist er zufrieden mit der Leistung, die er als Handwerker, im Maurerberuf, erbracht hat. Die Rückschau, die für den Erzähler im narrativen Interview immanent ist, die Stellungnahme zum eigenen bisherigen Lebensweg, ist beim Erzähler durch eine positive Sicht gekennzeichnet, entsprechend positiv ist auch sein Selbstbild. Dieses positive Bild wird eher beiläufig, mit einer gewissen - natürlichen oder aufgesetzten - Bescheidenheit vermittelt, Hans ist nicht der narzistische Typ, für den das Interview eine passende Gelegenheit ist, seinen Mitmenschen einmal mehr zu verdeutlichen, was er für ein toller Typ ist, er ist eher bodenständig, er weiß was er kann - und was nicht. 33 Sequenz 4 Nachher wollte halt mein innere Trieb doch wieder auf e Auto, entweder Bus fahren oder LKW fahren, was dann immer gezoge' hat, kam dann immer wieder 'raus. Hans' Affinität zum Beruf des Kraftfahrers, sein erster Berufswunsch, wird nun umgesetzt. Seine Vorannahme ist, dass tägliches gewerbsmäßiges Autofahren ihm ein befriedigendes und sinnerfülltes Arbeitsleben ermöglichen wird. Berufskraftfahrer will Hans sein, LKW- oder Busfahrer, hierzu wechselt seine Ansicht gelegentlich. Seine Neigung zum Autofahren charakterisiert er selbst zutreffend als „inneren Trieb“, das Autofahren ist libidinös besetzt. Persönliches Ego, Macht und Freiheit sind mit dem Auto verbundene Assoziationen und waren dies auch zu der Zeit, als Hans seine Berufswahl traf. In den 'Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie' (1905)18 beschreibt Freud, dass die mechanischen Erschütterungen des Eisenbahnfahrens, das Wiegen und Schaukeln, eine Quelle der Sexualerregung seien. M. E. kann das Eisenbahnfahren in der beschriebenen Art und Weise wirken, wie, in einem hypothetischen Sinne auch das aktive Autofahren sexualisierend sein kann, gekoppelt mit dem Potenzgefühl, der Steuermann dieses Prozesses zu sein. Doch vor allem gilt das Autofahren den jungen Männern als Symbol der Freiheit, der Geschwindigkeit, einschließlich der Möglichkeit, sich an dieser zu berauschen. Im Sinne Paul Virilios handelt es sich um „rasenden Still stand“, so die Übersetzung des Titels eines seiner Werke und eine Macht- bzw. Gewalterfahrung. Der Erzähler bewegt sich mit den Prozessen seines Unbewussten, er orientiert sein Leben an dem, „was immer gezoge' hat.“ Die Wahl der Fahrertätigkeit und das Festhalten am ursprünglichen Berufsziel sind motiviert durch das Lustgefühl, dass ihm das Fahren vermittelt und das gehobene Selbstwert- und Machtgefühl am Steuer großer Maschinen als Kapitän der Straße. Eine triebhafte Beziehung zur Geschwindigkeit, zu Auto und Motorrad entwickeln viele junge Männer, sie mutieren zu Hobby-Rennfahrern - „ich will Spaß – ich geb' Gas.“ Hans hingegen integriert seine Liebe zum Fahren, im Sinne einer gewissen Bodenständigkeit, in seinen berufsbiografischen Entwurf. Möglicherweise ist das Unterwegs-Sein für den Erzähler mit einem Gefühl der Freiheit gegenüber Alltagszwängen und -routinen verbunden. Allerdings werden diese euphorischen Momente der Fahrertätigkeit schnell der Gewohnheit und dem Stress des Berufs zum Opfer fallen. 18 hier nach Freud, 1982, S. 243 34 Sequenz 5 Und dann hab' ich 1968 angefange' bei der Bundesbahn, zuerst als PKW- Fahrer, dann als LKW-Fahrer und hab' dann 1969 bei der Bahn meinen Busführerschein gemacht. Und hab' dann em, von da an gefahren, von 1969 im September bis (')1991, Omnibus im Linienverkehr. Mit der Umsetzung des ursprünglichen Berufsentwurfs nimmt Hans seinen biografischen Faden wieder auf. Berufskraftfahrer ist heute ein Ausbildungsberuf mit einer dreijährigen Lehrzeit, Hans schafft den Wechsel in diesen Berufszweig ohne große finanzielle Einbußen, indem er bei der Bahn eine Anstellung als PKW-Fahrer annimmt. Konsequent nutzt er die Chancen, die gewünschten Qualifikationen zum LKW- und Busfahren über die Bundesbahn zu erlangen. 23 Jahre, bis 1991, ist er nun als Fahrer tätig, 21 Jahre davon als Linienbusfah rer. Der Berufsweg wird, nach dem Umweg über die Maurertätigkeit, als eine logische Folge präsentiert – 1) angefange' bei der Bundesbahn, zuerst als PKW-Fahrer, 2) dann als LKW-Fahrer, 3) dann Omnibus im Linienverkehr. Hans betont die Länge seiner Tätigkeit als Busfahrer, leichtgefallen ist ihm, vermutlich entgegen seiner Vorannahmen, diese Zeit nicht. Der biografische Verlauf zeigt, dass Hans' Berufsplanung realitätsnah war, den einmal angestrebten Beruf als Kraftfahrer übt er bis zur vorzeitigen Verrentung aus. Wie wir aus den objektiven Daten wissen, wird Hans nach 29 Berufsjahren vorzeitig verrentet, mit den sechs Jahren Maurertätigkeit lässt sich der Zeitpunkt auf 1991 datieren. Der Erzähler ist nun 47 Jahre alt, in den besten Jahren und steht beruflich vor dem Aus. Um was für eine Erkrankung es sich handelt, wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wir wissen nicht, ob es eine organische, somatische oder neurologische Krankheit ist, mit Sicherheit handelt es sich um eine schwere, möglicherweise unheilbare Krankheit, deren Verlauf, Behandlung und Verarbeitung Hans einiges an Kraft abverlangt hat. 35 Sequenz 6 Und das in einem unregelmäßigen Schichtdienst. Das heißt, im Schnitt jeden Tag eine andere Schicht. Warum das nachher komme ist, warum ich krank geworden bin, weiß' ich bis heut' net. Als Zusatzinformation wird eingeführt, dass es sich bei der angesprochenen, aber nicht näher bezeichneten Krankheit um eine neurologische Erkrankung, um Morbus Parkinson handelt. Durch das Absterben von Nervenzellen der Substantia Nigra im Mittelhirn kommt es zum Ausfall dieses dopaminergenen Systems und in der Folge zu einem Ungleichgewicht der Funktionen der Basalganglien. Ohne das in der Substantia Nigra produzierten Dopamin fehlt die aktivierende Wirkung der Basalganglien auf die Großhirnrinde. Die Krankheit wurde erstmals im Jahre 1817 von James Parkinson 19 beschrieben. Kernsymptome des Parkinson sind Muskelstarre, verlangsamte Bewegungen, bis hin zur Bewegungslosigkeit, Muskelzittern sowie Haltungsinstabilität. Mindestens 40% aller Erkrankten leiden an niedergedrückter Stimmung als einem Frühsymptom, bereits Jahre, bevor die Diagnose gestellt wird. „Und das in einem unregelmäßigen Schichtdienst. Das heißt, im Schnitt jeden Tag eine andere Schicht.“ Ein Zuckerschlecken war das nicht, will Hans uns mitteilen, 22 Jahre in einem permanent wechselnden Schichtrhythmus zu fahren, denn vor allem der tägliche Wechsel des Schichtdienstes bringt eine hohe Belastung für den Organimus mit sich. In der retrospektiven Erzählung gelangt Hans an einen Punkt, der ihn des öfteren beschäftigt, die Vermutung, dass es einen Zusammenhang zwischen der Stressbelastung als Busfahrer und dem Ausbruch der Parkinsonerkrankung geben könnte. Seine Spekulation ist mutmaßlich, dass die Krankheit bei einer weiteren Tätigkeit im Maurerberuf möglicherweise nicht ausgebrochen wäre. Er fragt sich, „warum habe ich den Job als Maurer aufgegeben und als Fahrer angefangen, hätte ich das nicht gemacht, wäre mir vielleicht die ganze Krankheit erspart geblieben.“ Diese Überlegungen sind insofern nicht völlig von der Hand zu weisen, als nicht eindeutig geklärt ist, welchen Stellenwert Stress und das Arbeiten im Schichtrhythmus auf die Entstehung von Parkinson haben könnten. „Warum das nachher komme ist, warum ich krank geworden bin,weiß' ich bis heut' net.“ Diese Passage ist ein Ausdruck von Hans' tiefem Bedürfnis, einen existentiellen Sinn in der Erkrankung zu erkennen. Warum bin ich krank geworden, wäre der Parkinson vermeidbar gewesen, ist die Krankheit selbstverschuldet – wo ist der Sinn, (religiös: die Absicht), dass ich aus der Bahn geworfen wurde und mein Leben eine neue Richtung erhalten hat? In diese Richtung könnten Fragen und Überlegungen gehen, die Hans immer wieder aufwirft. Diese werden dann möglicherweise mit religiösen Bedürfnissen, Sinnbedürfnissen und subjektiven Werten von Gerechtigkeit (warum gerade ich?) verbunden. Dieses Denkmuster weist eine depressive Tendenz auf. 19 Parkinson, James : An Essay on the Shaking Palsy (Eine Abhandlung über die Schüttellähmung), 1817 36 Sequenz 7 (') Aber, angefange' mit meine ehrenamtliche Tätigkeite', muss ich noch 'mal aushole, war seit 1961 etwa, wo ich in Bösel bei die freiwillige Feuerwehr gegange' bin. Organisierte Feuerwehren gab es bereits im aIten Rom. In Deutschland ist der größte Teil des Brandschutzes durch freiwillige Feuerwehren abgedeckt. Freiwillige Feuerwehren sind in der Regel eine Einrichtung der Kommunen, bereits im Mittelalter waren die Gemeinden verpflichtet, einen Brandschutz aufzubauen. Hans ist siebzehn Jahre jung, als er sein ehrenamtliches Engagement für die freiwillige Feuerwehr beginnt. Der Entscheidung für eine Tätigkeit als Feuerwehrmann haftet die gleiche Bodenständigkeit an, die der Erzähler bei der Berufswahl und dem Wechsel in den gewünschten Job als Berufsfahrer an den Tag legte. Diese Sequenz markiert einen Bruch im Erzählfluss, Hans möchte an dieser Stelle nicht tiefer in die Geschichte der angesprochenen Krankheit einsteigen. „Wie ist das gekommen, warum bin ich an Parkinson erkrankt?“ ist das Thema, dass nun nicht weiter verfolgt wird. Er umschifft diese innere Logik der Erzählung, indem er Bezug nimmt auf das in der Eingangsfrage formulierte Interesse des Interviewpartners an ehrenamtlichen Tätigkeiten. Die Formulierung „Aber, angefange' mit meine ehrenamtliche Tätigkeite'...“ lässt die Vermutung zu, dass bürgerschaftliches Engagement ein mehr oder weniger kontinuierliches Element in der Biografie des Erzählers ist, vielleicht sogar ein konstanter Faktor in von Umbrüchen bestimmten Lebensabschnitten. Davon ausgehend, dass Hans kein pyromanisches Verhältnis zum Feuer hat, stellt sich die Frage, was den Erzähler zu diesem frühen Einstieg bei der freiwilligen Feuerwehr motiviert, zu einem komplexen Ehrenamt, dessen Praxis nicht nur im Warten auf und löschen von Bränden besteht, zu dem Tätigkeiten wie das Bergen von Unfallopfern, Belastungs- und Brandschutzübungen, instandhalten des Maschinen- und Fahrzeugparks, der Hydranten usf. gehören. Ist es der Wunsch integriert zu sein, im Zentrum einer dörflichen Gemeinschaft zu leben, ist es eine Haltung zur Gesellschaft im Sinne des Ausspruchs von John F. Kennedy, „frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst“, die Hingabe an die Gemeinschaft? War es eine pragmatische Entscheidung, um freie Ressourcen sinnvoll zu nutzen, oder wird der eigenen Lebenspraxis über das Engagement Sinn verliehen? Der Beginn des bürgerschaftlichen Engagements fällt mit dem Lebensalter von 17 Jahren bei Hans in eine Zeit, in der Menschen für einen von zweckgebundenen Motiven freien Idealismus offen sein können, in dem, wie in diesem Fall, das integrierende Moment der Tätigkeit und die Präferenz zu dieser, in einem langjährigen ehrenamtlichen Engagement münden können. Für die Fallstruktur Hans gilt, dass ehrenamtliches Engagement eine biografische Konstante ist, über das Berufsleben hinaus, Engagement ohne unmittelbare monetäre Interessen ist Bestandteil von Hans' Selbstkonzept. 37 In den folgenden fünf Sequenzen schildert Hans einen Umzug und spricht von seiner aktiven Zeit bei der freiwilligen Feuerwehr, die er wegen der 1990 diagnostizierten Parkinsonerkrankung beenden musste. Im Folge der Erkrankung wurde Hans frühpensioniert und musste seinen Busführerschein abgeben. Um die Interpretation nicht zu ausufernd werden zu lassen und diese auf die ehrenamtliche Tätigkeit in der Selbsthilfe und ihre biografischen Bezüge zu konzentrieren, wende ich mich nun direkt der 12. Sequenz zu. Sequenz 12 Em ich hab' dann (.) in Gespräche, war depressiv gewese' und diese ganze Sache wurde dann mit der Zeit ein bissche' viel. Zuhause, jung gewese', mit 46 Jahr'. Und anschließend, wie soll ich sage, (.) net mehr gekonnt. Konnt' nix mehr schaffe, es ging net mehr. In der Frühphase der Erkrankung, im Anschluss an die vorzeitige Pensionierung, gerät Hans in eine tiefe Krise, einhergehend mit einer Depression. Depressive Verstimmungen treten bereits im Vorfeld einer Parkinsonschen Erkrankung auf, betroffen sind hiervon 40 % der Erkrankten. Dass die vom Erzähler angeführten Lebensbedingungen, mit 46 Jahren nur noch zuhause zu sitzen und nichts mehr arbeiten zu können, zur Krise führen und einen Anteil an der depressiven Episode haben, ist nicht ungewöhnlich. Bereits die erste Studie zu Folgen von Arbeitslosigkeit, „die Arbeitslosen von Marienthal“ 20, verdeutlicht, wie Arbeitslosigkeit zu Krisen, Strukturverlusten und Depressionen führen kann. Als Resümee der damaligen Situation fasst Hans zusammen: „...net mehr gekonnt. Konnt' nix mehr schaffe, es ging net mehr.“ Zu der aktuell krisenhaften Situation kommt noch die Perspektive einer zeitlebens fortschreitenden Parkinsonerkrankung, mit sich weiter verengenden Handlungsspielräumen. Die Diagnose der Parkinsonerkrankung markiert einen krisenhaften Wendepunkt in der Biografie des Erzählers, er kommt ins Trudeln, eine Anpassung seiner Alltagsstruktur an die veränderten Bedingungen gelingt zunächst nicht. Hans erkennt, dass er diese Situation nicht allein auflösen kann und begibt sich auf die Suche nach Hilfe, zunächst mittels Gesprächen mit ihm nahestehenden Personen. Mutmaßlich ist er bereits in neurologischer Behandlung, Parkinsonerkrankte werden in der Regel mit Dopaminagonisten behandelt, Medikamenten, die bei gravierenden Nebenwirkungen wie Dopamin in der Lage sind, die Dopaminrezeptoren zu stimulieren. Somit wird, falls nötig, eine medikamentöse Behandlung der Depression erfolgen; fraglich ist welche komplementäre Hilfen er noch in Anspruch nimmt, Psychotherapie, Selbsthilfe? Aufgrund seiner bisherigen Lebenserfahrungen ist der Erzähler zu diesem Zeitpunkt der Erzählung keinesfalls Experte im Umgang mit der Erkrankung und ihren Folgen, insofern könnte er hilfesuchend nach jedem angebotenen Strohhalm greifen, hypothetisch von der Geistheilung über Reiki bis zur Magnetfeldtherapie. 20 Jahoda, Marie / Lazarsfeld, Paul-Felix / Zeisel, Hans: Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit, 1933 38 Sequenz 13 und äh, was dann dazu kam – äh geführt hat, dass ich em mal bei einer Selbsthilfegruppe - mir geraten wurde von meiner Schwägerin mal äh, die hat gehört, dass da ein Vortrag ist über Parkinson und da bin ich dann auch hingegangen. Die unscharfen Formulierungen zum Beginn dieser Sequenz (... und äh, was dann dazu kam – äh geführt hat, dass ich em 'mal bei einer Selbsthilfegruppe - mir geraten wurde...) verweisen darauf, dass der Prozess, der im Gruppenbesuch mündet, für den Erzähler auch im Nachhinein diffus bleibt. Die jetzige Situation des nunmehr 46jährigen Frührentners weist Parallelen zum Fall 1, Marianne auf, von einem Tag auf den anderen wird das bisherige Lebenskonzept hinfällig. Wie schon bei der Fallstruktur „Marianne“ mündet dieser Bruch in einer Krise, deren Bearbeitung mit Unterstützung einer Selbsthilfegruppe erfolgt. Hans spricht über die Situation mit Personen in seinem nahen Umfeld, mit Verwandten und Freunden. Er erhält dann den Rat, bei einer Selbsthilfegruppe einen Vortrag zur Parkinsonschen Erkrankung zu besuchen und kommt über einen eher zufälliger Tipp der Schwägerin mit einer Selbsthilfegruppe in Kontakt. Diese Gruppe bietet ihm die Möglichkeit, die Krise der Neuerkrankung mit Gleichbetroffenen zu teilen, zu bearbeiten und sich das Wissen der „Experten in eigener Sache“ zu Nutze zu machen. Die Krankheitsbearbeitung ist, wie bei vielen anderen Erkrankten, ein Bildungsprozess zu Parkinson im Besonderen und Gesundheit und Krankheit im Allgemeinen. Hierüber und über die Erfahrung einer Solidargemeinschaft in der Selbsthilfegruppe entfaltet sich ein salutogenetisches Potential21, dass dem Neuerkrankten ermöglicht, sich Struktur und eine Perspektive in dieser Lebensübergangssituation zu erarbeiten. Robert Musil schreibt in „ Der Mann ohne Eigenschaften“: „Die Krankheit selbst kann ein Stimulans des Lebens sein, nur muss man gesund genug für dieses Stimulans sein.“ Das salutogenetische Potential, das in Selbsthilfegruppen entfaltet werden kann, ist die Besinnung auf und die Verstärkung der gesunden Anteile gegenüber Krankheit und Krise. Wird der ehrenamts-affine Hans sich nun mit einem Engagement in der Selbsthilfe ein neues Betätigungsfeld schaffen? 21 vgl. Antonovsky 1997 39 Sequenz 14 Hab' mich mal schlau gemacht, was das überhaupt is, denn die Neurologen hier, die ham uns gar net richtig (.) beraten , die ham uns keine Informati..- mir kein Informationsmaterial gegeben, nichts. Hans artikuliert eine typische und in jedem Falle berechtigte Patientenklage, die der mangelhaften Information durch die behandelnden Medizinern. Seiner Schilderung zufolge gaben ihm die Ärzte nicht viel mehr mit auf den Weg, als die Diagnose und die entsprechende medikamentös-apparative Versorgung. Weder die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, noch die entsprechende Patientenleitlinie enthalten Empfehlungen für eine nicht-medikamentöse, nicht-technische, für eine therapeutische Beratung durch die behandelnden Neurologen. Wünschenswert wäre, dass die Patienten neben einer fachlichen Beratung über die Krankheit und ihren Verlauf, Behandlungsmöglichkeiten und psychosoziale Folgen, auch Informationsmaterial über Selbsthilfegruppen erhielten. Dieses Beratungsdefizit kompensiert Hans über den Vortrag eines Mediziners und die Informationen der Teilnehmer der Selbsthilfegruppe. Die Aussage, von den behandelnden Ärzten nicht richtig beraten und informiert worden zu sein, ist insofern ein Klassiker des Selbsthilfebedarfs, als dieses Defizit sowie das Gefühl als Erkrankter oder Angehöriger allein gelassen zu werden, in den siebziger Jahren dazu führte, dass sich Selbsthilfegruppen bildeten, um die Folgen dieses Mangels zu lindern. Die Eingangsformulierung der Sequenz, „hab' mich mal schlau gemacht, was das überhaupt is' ..“, markiert einen Wendepunkt, die kognitive Auseinandersetzung mit den Themen Parkinson und Depression ist der Beginn eines aktiven Umgangs mit der Krankheit, die Hinwendung zum salutogenetischen Potential, das dem autobiografischen Erzähler eine veränderte Sichtweise auf seine Lebenssituation und deren Chancen ermöglicht. Sie verdeutlicht, dass, aus der Selbstsicht des Erzählers, für ihn relevantes Wissen zur Parkinsonerkrankung und zum Umgang mit dieser in der Selbsthilfegruppe abrufbar war. Als biografischen Anschluss könnte Hans nun neue Aufgaben im Feld ehrenamtlichen Engagements übernehmen. 40 Sequenz 21 Und so hab' ich dann angefange, die Gruppe zu leiten seit – die Gruppe wurde gegründet 1997 im Februar und seitdem leite mir jetzt die Gruppe in – erst waren wir beim Roten Kreuz in Bösel (..) und von dort aus sind wir dann 'rüber gegangen zum Hasen nach Aumühlen. Und dort sind wir bis heute noch. Zum Zeitpunkt der Interviewerhebung besteht die Parkison Selbsthilfegruppe Bösel dreizehn Jahre, der Erzähler gibt an, die Gruppe seit ihrer Gründung zu leiten. Hans möchte mitteilen, dass die Parkinsongruppe eine Konstante in der Region geworden ist und er selbst eine Institution als Gruppenleiter. Der Wechsel des Ortes des Gruppentreffens von einer sozialen Institution (dem DRK) zur Gastronomie (dem Hasen) verweist darauf, dass auf ein gepflegtes Ambiente und Bewirtung bei den Gruppentreffen Wert gelegt wird. Das vorrangige Motiv für den Wechsel des Raumes ist vermutlich die Gruppengröße, mit dem Anwachsen der Gruppe auf möglicherweise bis zu 40, 50 Personen wurde ein größerer Raum notwendig. Die Leitung der Gruppe ist eine Teamarbeit („...seitdem leite mir jetzt die Gruppe...“), Hans und seine Ehefrau teilen sich die anfallenden Arbeiten. Auch die Selbsthilfegruppe setzt überwiegend aus Ehepartnern zusammen, jeweils dem / der Erkranktem und dem Lebenspartner. 22 Mit dem dreizehnjährigen Bestehen der Gruppe ist davon auszugehen, dass die Teilnehmer hinsichtlich der Komponenten Erfahrungsaustausch und Informationen zur Krankheit, Behandlungs- und Selbsthilfemöglichkeiten gesättigt sind, sodass in der Gruppe die Pflege von Gemeinschaft und Gemeinsamkeiten, von Grillfesten und Weihnachtsfeiern an Bedeutung gewonnen haben. Parkinson, als fortschreitende Krankheit und die Neuerkrankten, die sich der Gruppe anschließen, machen eine regelmäßige Zusammenarbeit der Gruppe mit Fachärzten, zum Beispiel in Form einer Sprechstunde, erforderlich. Beim derzeitigen Informationsstand lässt sich die Selbsthilfegruppe als eine Gemeinschaft, die durch Kontinuität gekennzeichnet ist, charakterisieren. Wie aus den Sequenzen 17 und 18 hervorgeht (vgl. Fußnote 22), verändert der Ich-Erzähler das Setting der Gruppe zu einem gemütlichen Beisammensein bei Kaffee und Kuchen mit Informationsaustausch. Hiermit macht Hans, so seine Selbstevaluation, gute Erfahrungen, das Gruppengeschehen wird aufgelockert, wandelt sich von der Sachlichkeit zum Familiären. Insofern ist der Wechsel vom DRK zum Hasen ein folgerichtiger Schritt innerhalb des Gestaltwandels der Selbsthilfegruppe. 22 Sequenz 17 Da war meine Frau, die war dann schon so weit, dass sie da mitgemacht hat, mir haben dann Kaffee gekocht in de` Gruppe, haben Kuchen mitgebracht. Sequenz 18 Und dann wurde das Ganze bisschen aufgelockert, was dann den einzelne Patienten, die – un` Angehörige, die dabei waren – auch sehr gefallen hat. Und dadurch ist auch die Zugehörigkeit zu de` Gruppe besser geworden. 41 Zusatzinformation Was der Erzähler im gesamten Interview nicht thematisiert ist, dass die bei ihm diagnostizierte Parkinsonerkrankung nach einiger Zeit zum Stillstand kommt. Der Proband lebt seit Jahren ohne sichtbare Krankheitsfolgen, dieser Sachverhalt hat sein Engagement für die Parkinsongruppe in keiner Weise gemindert. Nach Aussagen von Experten ist eine Spontanheilung bei Parkinson nicht möglich, es sei denn es handelt sich um eine medikamenteninduzierte oder psychogene Form der Erkrankung. Die Daten von Hans' Biografie geben zunächst keine Hinweise auf den Gebrauch von Medikamenten wie Psychopharmaka, die Auslöser einer Parkinsonerkrankung sein könnten. Ebenso wenig spricht der Erzähler von krisenhaften Episoden zu der Zeit seiner Busfahrertätigkeit. Eine Hypothese wäre, dass der Erzähler unter psychischen Problemen, insbesondere depressiven Zuständen litt und diese weder damals noch heute thematisiert. Konsultationen eines Facharztes wegen Symptomen, wie sie bei Parkinson auftreten, beispielsweise eine Einschränkung der Bewegungsfähigkeit oder ein Tremor, führten in Verbindung mit diagnostizierten Veränderungen der substantia nigra zur Diagnose Parkinsonerkrankung. Sequenz 26 jetzt sind's mittlerweile äh (..) fünf Jahr, fünfeinhalb Jahr, wo ich de zweite Vorsitzende geworden bin, was natürlich schon wieder mehr Arbeit gemacht hat, aber auch – ich muss sage - es hat sehr viel Spaß auch gemacht. Hans ist nun als zweiter Vorsitzender des Landesverbandes Parkinson, Leiter einer Selbsthilfegruppe und mutmaßlich als Akteur einiger weiterer Ehrenämter tätig. Mehrfach trifft der Erzähler, nachdem er Frührenter wurde, biografisch relevante Entscheidungen für ein ehrenamtliches Engagement bzw. dessen Ausweitung. Mit seinem handwerklichen Können wäre die Wahl einer kleinen Nebentätigkeit, als Maurer oder Zimmerer, bei Bau- und Umbauprojekten der Nachbarschaft und des Bekanntenkreises zur Aufbesserung der Rente eine denkbare Variante, hierfür scheint keine Veranlassung zu bestehen. Mit sechsundsechzig Jahren führt er nun ein aktives, von materiellen Sorgen unbelastetes Leben. Mit seiner ausgleichenden Art empfahl sich Parkinson-Regionalgruppenleiter Hans als Kandidat für den Landesverband, bei der Entscheidung für ein Amt innerhalb des Verbandes greift ein Schuss persönlichen Ehrgeizes, er wird künftig nicht nur als regionaler Gruppenleiter wirken, sondern über das Amt zum Spieler auf Landes- und Bundesebene aufsteigen. Der Tätigkeit als zweiter Vorsitzender des Landesverbandes geht ein Bewährungsmythos voraus, ein Engagement für den Verband zum Beispiel als Beisitzer, Kassenwart oder Schriftführer. Das Engagement führt zwangsläufig zu einer Erweiterung des Horizonts, selbsthilfe- und krankheitsrelevante Informationen, die der Erzähler erhält, kommen auch der Parkinson-Selbsthilfegruppe zugute. Hans lernt andere Gruppen kennen, hat Austausch auf 42 der Bundesebene; der Fokus des ehrenamtlichen Engagements wandelt sich von der wechselseitigen Selbsthilfe zu einer strukturellen und gesundheitspolitischen Arbeit im Verband. Das transportierte Bild des Engagements, im weiteren Sinne der Arbeit, ist das eines ausgewogenen Kompromisses - es ist Arbeit, Belastung, macht aber auch (viel) Spaß. Der autobiografische Stegreiferzähler ist von der Jugend bei der freiwilligen Feuerwehr an ein kontinuierlicher ehrenamtlicher Akteur, aus seiner Sicht ist das Ehrenamt eine Tätigkeit, die gemacht werden muss. Insofern gilt für Hans, dass sein Gesellschaftsverständnis nicht anfallende Aufgaben an den Staat delegiert, sondern eine Bürgerbeteiligung impliziert. Er selbst ist bereit, seinen Beitrag zu leisten, ehrenamtliches Engagement ist eine biografische Konstante seines Lebens. Der Erzähler, in einem traditionellen Wertekanon sozialisiert, übt seine bürgerschaftlichen Aktivitäten motiviert durch Pflichtgefühl, Leistungsbereitschaft und eine Ethik sozialen Handelns und Helfens aus. Ein intrinsischer Aspekt der Motivation ist die ehemalige eigene Erkrankung, die besondere Anteilnahme und Empathie, die aus der Mitbetroffenheit entstehen. 43 Da zu diesem Zeitpunkt die Strukturhypothese weitestgehend herausgearbeitet ist, wende ich mich nun der hinsichtlich der Tätigkeit im Landesverband interessanten Sequenz 31 zu. Sequenz 31 Ich hab ja mal [unverständliches Wort] gesagt, 'ihr seit ja all' besser wie ich, ihr seit geschulte Leut, ihr habt studiert' und so weiter. Und da sage die immer zu mir „Eins musst dir merke: Wenn mir dich net hätte, hätte 's schon manchmal mehr gekracht, aus dem einfache Grund weil (.) du des in Ruhe machst.'' Gegenüber Hans' Selbstbild wirkt das Bild der Verbandskollegen nahezu übermächtig. In schwarz-weiß Manier entwirft der Erzähler eine Skizze, in der er zwischen den Studierten und Geschulten, den Besseren und den Anderen, Menschen wie er selbst, unterscheidet. Als Lebensstil bezeichnet Alfred Adler23 eine psychische Struktur, die Elemente wie Selbstbild, Bild der Eltern, Bild der Mitmenschen usf. enthält. Diesen Lebensstil bildet das Kind aus, Adler zufolge ist dieser bereits im Alter von vier bis fünf Jahren deutlich erkennbar. Die vom Erzähler angeführten übermächtigen Mitmenschen könnten in diesem Sinne auf die frühkindliche Apperzeption der sozialen Mitwelt zurückgeführt werden. „Und da sage die immer zu mir...“ verdeutlicht, dass die Kommunikation im Team des Landesvorstands eingespielt und kalkulierbar ist. Die bereits beschriebene Bodenständigkeit wird nun gesteigert zu einer strategischen Selbstentwertung. Strategisch wird die Selbstentwertung, weil ein gewisses Minderwertigkeitsgefühl gegenüber 'den Studierten' durch die provozierte Reaktion, das massive Lob, kompensiert werden kann. Dem Erzähler wird attestiert, dass seine Kommunikation und sein ehrenamtliches Engagement nicht durch Emotionen bestimmt sind, dass er ruhig und sachdienlich handelt. Er ist ausgleichend, der ruhige Pol des Verbandsgeschehens und seine Arbeit wird von den Kolleginnen und Kollegen dafür geschätzt. Den studienvermittelten Kompetenzen der Kollegen werden die soft skills des Erzählers, seine sozialen Kompetenzen, gegenüber gestellt. Insofern die Vorstandsarbeit des Landesverbandes aufgrund von Konflikten der übrigen Vorstandsmitglieder tendenziell schnell blockiert, sind eher deren Einstellungen und Zielorientierungen interpretationsbedürftig, als die sozialen Fertigkeiten des Erzählers. Hans kann möglicherweise nicht immer mit relevantem Wissen und klugen Vorschlägen zur Verbandsführung punkten, dies kompensiert er erfolgreich mit seinem moderaten und harmonisierenden Verhalten, hiermit ist es ihm gelungen, seinen Platz im Vorstand zu finden. 23 Adler, 1990, S. 17 ff. 44 Strukturhypothese Berufsbiografie und Krankheit In der Herkunftsfamilie des Erzählers wird Wert auf eine solide handwerkliche Ausbildung gelegt, ein Aufstieg über Bildung ist nicht vorgesehen. Sein beruflicher Weg ist bestimmt durch eine libidinöse Beziehung zum Autofahren, gegen elterliche Widerstände und auf Umwegen realisiert er seinen Berufswunsch und ist bis zur vorzeitigen krankheitsbedingten Verrentung als Busfahrer tätig. Der Erzähler bewegt sich mit den Prozessen seines Unbewussten, er orientiert sein Leben an dem, „was immer gezoge' hat.“ Er ist ein bodenständiger Typ, führt sein ehrenamtliches Engagement bei der freiwilligen Feuerwehr von Jugend an fort bis zur diagnostizierten Parkinsonerkrankung. Diese tritt im Alter von 46 Jahren auf, ob die Diagnose richtig war und die Krankheit zum Stillstand kam, ob es sich um eine Depression mit parkinsonähnlichen Symptomen oder um einen medikamentös induzierten Parkinson handelte, ist nicht eindeutig klärbar. In der Folge kommt es zur Krise, die durch eine möglicher weise krankheitsimmanente Depression verstärkt wird, der Autor gerät ins Trudeln. In der Krise schließt Hans eine Zufallsbekanntschaft mit der Selbsthilfegruppe für Parkinsonkranke vor Ort, zunächst um dort mangels ärztlicher Beratung entstandene Informationsdefizite aufzuarbeiten. Er avanciert schnell zum Leiter der Selbsthilfegruppe, übt dieses Ehrenamt kontinuierlich über mehr als fünfzehn Jahre aus. Ehrenamtliches Engagement ist eine biografische Konstante im Leben des Erzählers, nach dem Krankheitsausbruch imigriert er in die Selbsthilfekultur, wird zum Leiter der Parkinson – Selbsthilfegruppe und später zunächst zweiter, dann erster Vorsitzender des Parkinson Landesverbandes Niedersachsen. Insofern ist es Hans über seine ehrenamtlichen Aktivitäten geglückt, die Weichen für eine gelungene Lebenspraxis im Alter zu stellen. Selbsthilfeengagement als Sinn- und Werterfahrung Die kognitive Auseinandersetzung mit den Themen Parkinson und Depression ist der Beginn eines aktiven Umgangs mit der Krankheit, die Hinwendung zum salutogenetischen Potential, dass dem autobiografischen Erzähler eine veränderte Sichtweise auf seine Lebenssituation und deren Möglichkeiten erschließt. Vom Erwerbsleben und den einhergehenden Sinn- und Anerkennungsquellen abgeschnitten, öffnet das Feld der Selbsthilfe ihm neue Sinnstrukturen. Im Laufe seines Selbsthilfeengagements erfährt Hans, dass bei ihm kein Parkinson (mehr) vorliegt, er baut Distanz auf zu den Patienten, die er in seiner Parkinsongruppe betreut. Der Erzähler führt zum Zeitpunkt der Interviewerhebung ein aktives Leben, übt als sechsundsechzigjähriger mehrere Ehrenämter aus, sein wöchentlicher Arbeitsaufwand entspricht etwa einer halben Arbeitsstelle. Die ehrenamtlichen Tätigkeiten ermöglichen eine Wende, weg vom Depressiven, vom teilnahmslosen zuhause sitzen, hin zu einem kontinuierlichen Engagement, das zur Quelle von Sinn- und Werterfahrung wird. 45 Seelischer Gewinn – Identitätsgewinn In der Selbsthilfegruppe wird ein familiärer Umgang miteinander gepflegt, man kennt sich seit fünfzehn Jahren, feiert regelmäßig Feste, die jeweiligen Lebenspartner sind ins Gruppengeschehen integriert. Das Engagement in der Selbsthilfegruppe und den Strukturen des Landesverbandes ist die, nach der Verrentung gewählte Lebensaufgabe des Erzählers. Die Entscheidung für das Amt auf Landesebene ist mit motiviert durch einen Schuss persönlichen Ehrgeizes, er wird künftig nicht nur als regionaler Gruppenleiter wirken, sondern über das Amt zum Mitspieler auf Landes- und Bundesebene aufsteigen. Neben einem gewissen Maß an Arbeit, ist sein Gewinn die Dankbarkeit und Anerkennung, die er von den Mitgliedern der Selbsthilfegruppe und den Kollegen des Verbandes erhält. Die Aufgaben als Akteur der Selbsthilfeszene, die Kontakte, Reisen und Informationen, sind summarisch ein Identitätsgewinn, der für Hans zwar eine Bereicherung, aber keine Notwendigkeit darstellt. Im Sinne von Resilienz gelingt dem Ich - Erzähler über sein Engagement im Feld der Selbsthilfe die Wendung weg von einem de pressiv - apathischen Zustand, dem Lebensgefühl, zu nichts mehr nutze zu sein und nicht mehr gebraucht zu werden, hin zu den gesunden und starken Anteilen seiner Persönlichkeit. Als nicht ganz armer Rentner, der bestens in die dörfliche Struktur seiner Gemeinde einge bunden ist und als Familienvater erfährt er auch in einem Alltag ohne Selbsthilfe hinreichend Beschäftigungsmöglichkeiten und Anerkennung. 46 Überprüfung der Strukturhypothese Sequenz 27 Weil, man kann dann eh betroffene Regionalgruppenleiter, die einfach nicht mehr konnte', doch auch schon helfe. Und es war für viele auch ein Vorteil, weil se mich schon gekannt ham. Ja, nun bin ich seit eineinhalb Jahr de Vorsitzende vom Landesverband. Die schwarze Acht ist eingelocht, Hans ist Landesvorsitzender des Parkinsonverbandes geworden. Er vermittelt in obiger Sequenz, in seinem Amt auf der Ebene des Einzelfalls helfen zu können. Als Landesvorsitzender ist der Erzähler eng in die Arbeit der Deutschen Parkinsonvereinigung e.V. eingebunden, Gremienarbeiten, Teilnahme an Mitgliederversammlungen des Bundesverbandes sowie Engagement für dessen Projekte gehören zu seinen neuen Aufgaben. Er ist nun ein bekannter Akteur der Parkinson-Selbsthilfe, verfügt über hilfreiche Routinen und kennt die Handlungsfelder, wie zum Beispiel die Begleitung von Forschungsprojekten zu Morbus Parkinson, in denen der Bundesverband und die Landesverbände aktiv sind. Der Selbstdeutung des Erzählers zufolge ist es nicht für ihn von Vorteil, bereits ein Gros der Regionalgruppenleiter zu kennen, vielmehr sei dies ein Gewinn der Gruppenleiter, die sich mit Problemen an eine ihnen bekannte, konkrete Person wenden können. Als 'Regionalgruppenleiter' werden im Parkinsonverband die Kontaktpersonen der Selbsthilfegruppen bezeichnet. Die an Morbus Parkinson, einer fortschreitenden Erkrankung leidenden Gruppenleiter sind neben den drei Kardinalsypmtomen, Tremor, Akinese (Verlangsamung und Minderung der Bewegung) und Rigor (permanent erhöhter Muskeltonus) durch eine Vielzahl weiterer Symptome belastet, wie Störungen der Mimik, der Haltungsstabilität, der Sprache und der Feinmotorik sowie psychischen Veränderungen, Demenz, Depressionen und Halluzinationen. Bei Krisen einzelner Mitglieder und Gruppen, Überforderung und Frustration der Leiter, steht der Landesvorstand als Ansprechpartner zur Verfügung, hilft, gegebenenfalls auch materiell, vermittelt Kontakte, verhandelt für den Einzelfall mit Kliniken und Rehabilitationseinrichtungen. Hinzu kommen einzelfallbezogene Verhandlungen mit Krankenkassen zur Kostenübernahme von Therapien und Hilfsmitteln, als auch mit den Pflegekassen der Krankenkassen hinsichtlich der Bewilligung von Pflegestufen und mit Rentenversicherungsträgern. 47 Sequenz 28 Und diese Arbeit, da hab' ich grad einmal durchgerechnet, in drei Monaten jeden Tag im Durchschnitt zweidreiviertel Stunde, is e ganz schöne Zeit. Und äh, bin froh, dass ich es gemacht hab' und is' halt auch e' Verantwortung, des ist nicht von der Hand zu weise. Der Erzähler leistet eine Arbeit, die nicht zur Sicherung der eigenen Existenz dient, die primär der Gemeinschaft der Parkinson-Erkrankten zu gute kommt. Diese Konstellation einer Arbeit, die nicht den materiellen und beruflichen Sicherheitsbedürfnissen (Maslov) dient, sondern eine unentgeltliche Leistung für Gemeinschaften und Gesellschaft erbringt, charakterisiert das Ehrenamt. Hans spricht zwei Dimensionen seiner Tätigkeit an, den Arbeitsaufwand und die Verantwortung. Die angegebene Arbeitszeit entspricht mit 19,25 Wochenstunden etwa einer halben Stelle, die angesprochene Verantwortung ist, bezogen auf das Aufgabenprofil von Begleitungen und Interventionen im Einzelfall, mit der Tätigkeit einer professionellen Kraft, einer Sozial-, Diplom Pädagogin oder Psychologin vergleichbar. Entsprechend beschäftigen Landes- und Bundesverbände, sofern finanziell tragbar, für diese Aufgaben eine Fachkraft, gelegentlich allerdings nur als formale Legitimation gegenüber Geldgebern. Entscheidungen über Interventionsformen behalten sich die Mitglieder der ehrenamtlichen Vorstände unter Umständen vor. Hans ist in der Rückschau froh über sein Engagement, neben Anerkennung, Struktur und Kontakten schöpft er Motivation aus Erfolgen in der Arbeit. Ausgehend vom Krankheitsbeginn, als Hans rat- und tatlos zuhause saß, ohne krankheitsbezogene Selbstkompetenz und Struktur, wird das Engagement für Selbsthilfe, für Parkinsonpatienten, -Selbsthilfegruppe und -Landesverband, mit einer weiten Vernetzung im Feld der Selbsthilfe, für den autobiografischen Stegreiferzähler zum Aufschwung in ein aktives, sinnhaftes und erfülltes Leben im zweiten Lebensabschnitt. 48 5.3 Fall 3 Heide – die Expertin Interpretation der objektiven Daten Geboren ist Heide am 1.12.1957 in Köln, der Vater war Exportkaufmann, die Mutter bis zur Geburt der Zwillinge als Flugbegleiterin tätig, beide Eltern verstarben 1999. Die Familie gehört dem gehobenen Mittelstand an, die Eltern ermöglichen Heide im Anschluss an Grundschule und Gymnasium ein Studium, die Erzählerin studiert in Köln Biologie. Nach der Regelschulzeit nimmt Heide 1977 ihr Studium auf, sie schließt sieben Jahre später, 1984, ab. Der Studiendauer zufolge nutzte sie ihre Studienzeit als Moratorium, war eventuell für ein, zwei Semester im Ausland oder pausierte zumindest zwei Semester. Nach dem Studium ist Heide jeweils für zwei bis vier Jahre, zum Teil in ABM-Maßnahmen, als Biologin tätig, anschließend seit nunmehr 15 Jahren in einem Landkreis als Sachbearbeiterin für Naturschutz. Zur Zeit der Datenerhebung ist die Erzählerin 53 Jahre alt. Als Erwachsene beendet sie ihre Zugehörigkeit zur evangelisch-protestantischen Religionsgemeinschaft, Heide heiratet 1992. Die Ehepartner trennen sich nach neun Jahren kinderlos, 2001 erfolgt die Scheidung. Ihre Adoleszenz erlebt Heide in den siebziger Jahren, während des Übergangs der Regierungszeit von Bundeskanzler Brandt zu Schmidt. Materiell ging es der Republik gut, es konnte in den Aufbau von Infrastrukturen wie der von Volkshochschulen investiert werden. Die Linke in Deutschland war in eine Vielzahl von sich bekämpfenden Gruppierungen zersplittert, ein besonderes öffentliches Interesse galt der Roten Armee Fraktion, zur Zeit von Heides Adoleszenz besonders den Stammheimer Prozessen oder etwa dem Besuch, den Jean-Paul Sartrè Andreas Bader in Stammheim abstattete. 1975 wurde die sogenannten KSZE Schlussakte von Helsinki von 35 am Ost-West-Konflikt beteiligte Staaten unterzeichnet. Die Konfliktbearbeitung wurde von der militärischen auf eine gesellschaftliche Ebene gehoben, ein Paket wurde geschnürt, weg von der bipolaren Perspektive des Kalten Krieges hin zu einer multilateralen Zusammenarbeit. 49 Interpretation der autobiografischen Erzählung Erzählungsgenerierende Eingangsfrage: Liebe Heide, ich möchte dich bitten, von deiner Lebensgeschichte unter besonderer Berücksichtigung von ehrenamtlichen Tätigkeiten und Erkrankung zu erzählen. Welche Ehrenämter hast du ausgeübt und übst Du aus, wie bist zu diesen Tätigkeiten gekommen? Was hast du hierbei für Erfahrungen gemacht und wie nimmst du in der Rückschau dazu Stellung? Sequenz 1 Heide: Also. Em, ja. Ich war also ein sagen wir `mal Mensch mit einem relativ, nach dem allgemeinen Konsens normalen Leben – sprich Mann, em Beruf, erfolgreich, em (..) Freunde, man is' ausgegangen, em hat Sport getrieben, em verschiedene Interessen verfolgt. Heide berichtet als Erzählungseröffnung von einem allseits runden und gelungenen Leben in Gesundheit, dass sie führte und durch Krankheit oder andere widrige Lebensumstände verlor. Hierbei bezieht sie als Akademikerin sich auf die Kriterien eines gesellschaftlichen Konsenses. Consensus im Sinne von Übereinstimmung, Zustimmung geht zurück auf das lateinische con-sentire, das zusammenstimmen, übereinstimmen, zustimmen bedeutet. Das Gegenstück zur politischen Konsenstheorie ist die Pluralitätstheorie, „agree to disagree“ (John Locke), als deren Vertreter unter anderem Hannah Arendt und als früher Vorläufer Aristoteles gelten. Diese Erzählungseröffnung lässt zum einen erwarten, dass in Kürze die Schilderung eines krisenhaften Verlaufes folgen wird, zum zweiten setzt die Erzählerin intentional einen ersten Marker hinsichtlich des angestrebten selbstreflexiven Gehalts ihrer Erzählung. Zugleich transportiert sie ein Selbstbild, dass mit dem Reflexionsniveau und der -verlorenengelungenen Lebenspraxis verknüpft ist und vermutlich im Weiteren bedroht sein wird. Als Wert wird nicht das geschlechtsspezifische Frau sein betont, sondern das Menschsein, möglicherweise ein Indiz dafür, dass der Erzählerin menschliche Werte wichtig sind. In dieser Sequenz schwingt Trauer mit um das normale - gelungene - Leben, dass Heide verlor. „Man is' ausgegangen, em hat Sport getrieben, em verschiedene Interessen verfolgt.“ Der Normalitätsfolie einer erfolgreichen Lebenspraxis als Akademikerin zu entsprechen, war eine Quelle des Selbstwertes der Erzählerin, hiervon längerfristig oder dauerhaft abgeschnitten zu sein bedeutet, dass Heide sich neue Quellen mit positiven Verstärkern ihres Selbstwertes erschließen muss und einen gebrochenen Identitätsentwurf leben wird. Entsprechend der Idee von Pluralität liegt ein gelungener, allerdings nicht dem landläufigen Konsens einer Normalbiografie entsprechender Lebensentwurf auch vor, wenn dieser beispielsweise Brüche, Arbeitsplatz-, Orts- und Partnerwechsel beinhaltet, die Pluralisierung von Lebensverläufen ist ja geradezu ein Kennzeichen des ausgehenden 20. und des beginnenden des 21. Jahrhunderts. Mit einer gewissen Affinität zu postmodernen Lesarten lässt sich im Anschluss an Lyotard sagen, dass eine Vielfalt von Erzählungen und erklärenden Theorien der je einzelnen Biografien signifikant für diese Epoche sind. 50 Sequenz 2 Ich war nie krank, ich hatte homöopathische - einen Homöopathen und keinen Hausarzt und war also höchstens `mal erkältet, ich hatte nichts, ich war gesund, sehr sportlich. Intentional knüpft die Erzählerin an die vorhergehende Sequenz an, sie verkörpert Normalität und Gesundheit, 'ein Hausarzt - wozu, ich nehm' höchstens 'mal bei Erkältungen ein paar Globoli.' Heide möchte verdeutlichen, wie weit entfernt sie von einem Leben in Krankheit war, und dass sich ihr Leben mit dem Krankheitsbeginn um 180 Grad wendet. Auffällig ist die Dopplung, die zur Charakterisierung der Gesundheit verwendet wird, diese soll unterstreichen, dass Heide normal und völlig gesund war, sportlich, dass sie der Folie entsprach, nach der viele Menschen streben. Die Erzählerin gebraucht den Tempus des Plusquamperfekts, der mehr als vollendeten Zeit, für die Schilderung ihres Gesundheitszustandes. Entsprechend ist, ausgelöst durch Krankheit und / oder Krise, dieser Zustand eine abgeschlossene Vergangenheit, mit der die Erzählerin selbst hingegen noch nicht abgeschlossen hat. Mutmaßlich ist Heide nun chronisch erkrankt, Hinweise auf die Art der Krankheit erhalten wir bisher nicht. Denkbar wäre, dass eine pathologische Gesundheit und Normalität, die der Erzählerin in ihrer Selbstsicht zu eigen war, ein bestehendes krisenhaftes Potential überdecken soll. Fraglich ist auch, wie objektiv eine Aussage wie „ich war sehr sportlich“ ist. Dieses Attribut, das m. E. zumindest auf regelmäßigen leistungsorientierten Breitensport verweist, wird unter Umständen von Menschen für sich reklamiert, die in der Woche 45 Minuten auf einem Heimtrainer verbringen oder einen einstündigen Spaziergang in schnellem Schritt ab solvieren und steht hier mutmaßlich für ein gewisses Maß an Bewegung innerhalb eines ge sundheitsbewussten Lebenskonzeptes. Eckpfeiler des Bildes des Lebens und Heides Strebens sind Normalität und erfolgreiche Lebenspraxis, an diesem Bild hat sie sich abgearbeitet, ihr Leben optimiert; Krankheit und Krise erfordern nun eine Arbeit am Bild des eigenen Lebens. Heide verabschiedet sich von der brüchigen Normalitäts- und Erfolgsvorstellung, diese ist nun vollendete Vergangenheit. Eine Funktion dieses Bildes war eine Verstärkung des Selbstwertes, eine Selbstaufwertung; es bleibt abzuwarten, ob die Erzählerin nun mit einem gebrochenen Selbstwert weiterleben wird, oder ob sie andere Wege der Selbstwertstärkung findet. Leicht fällt es der Ich-Erzählerin nicht, sich mit ihrer neuen Lebenssituation anzufreunden, die chronische Krankheit oder Behinderung, von der sie betroffen ist zu akzeptieren und in ein neues, den jetzigen Möglichkeiten angepasstes Selbstkonzept zu integrieren. Gerade die zunächst hilfreiche Definition über Gesundheit und Erfolg erschwert nun die Anpassung an die geänderte Lebenssituation, an deren Möglichkeiten und provoziert mutmaßlich eine seelische Krise. 51 Sequenz 3 Em (.) ja, bis es dann eben zu diesem Zeckenbiss gekommen ist, innerhalb von zwei Wochen war ich sehr krank, em (.) konnte gar nichts mehr machen, konnt' keine 100 Meter mehr laufen, hatte furchtbare Schmerzen, Bannwarth-Syndrom, also Neuroborreliose im – die frühe Neuroborreliose, die als solche von Ärzten nicht erkannt wurde. Ich wusste aber, dass ich Borreliose hab', sie wollten 's nicht behandeln. Die Erzählerin schildert den dramatischen Verlauf, in dem sie nach dem Biss einer infizierten Zecke innerhalb von zwei Wochen arbeits- und handlungsfähig wird und von starken Schmerzen belastet komplett ausfällt. Deutlich wird, was sich bereits in den vorhergehenden Sequenzen andeutet: Innerhalb kürzester Zeit verändert die Ich-Erzählerin sich von einer gesunden, sportlichen Person zu einem Menschen, der nicht mehr arbeiten kann, nicht belastbar und körperlich nicht mehr leistungsfähig ist. Die Verarbeitung einer derartigen Transformation mit einer Krise ist der Normalfall, hinzu kommt noch, dass die behandelnden Ärzte dem geschilderten Phänomenen ratlos gegenüber stehen. Die Borrelieninfektion wird mangels richtiger medizinischer Behandlung zu einem markanten Lebensereignis mit weitreichenden Folgen. Wenn zu einer allgemeinen Borreliose eine Hirnbeteiliung hinzukommt, spricht man von Neuroborreliose, diese ist keine eigenständige Krankheit. Das Krankheitsbild des Bannwarth-Syndroms umfasst schmerzhafte Entzündung von peripheren Nerven, Nervenwurzeln und Gehirnnerven, insbesonders des Gesichtsnerves Nervus facialis sowie Gelenkentzündungen, aufgrund von Entzündungsreaktionen im Liquor cerebrospinalis, dem sogenannten Nervenwasser. Einige Jahrzehnte nach dem Tod von Alfred Bannwarth konnte die Genese der von ihm beschriebenen Symptome auf das Borrelia burgdorferi, die Borrelioseoder Lyme Erkrankung zurück geführt werden. Die Lyme-Borreliose wurde 1975 als eigenständige Krankheit erkannt und der Erreger 1981 von Willi Burgdorfer identifiziert. Hautveränderungen, die heute der Infektion durch Borrelia burgdorferi zugerechnet werden, sind seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bekannt, Beschreibungen hierzu lieferten Buchwald (1883), von Pick (1884).24 Die Beiläufigkeit, mit der Heide komplexe Zusammenhänge der Borreliose wie das BanwarthSyndrom erläutert, weist darauf hin, dass sie zur Expertin für Borreliose geworden ist, sie hat sich dem Thema mit aus eigener Betroffenheit gewachsener Hingabe gewidmet. Heide's Erzählung zufolge, war ihr selbst relativ schnell klar, dass sie an Borreliose erkrankt ist, als Biologin und Sachbearbeiterin für Naturschutz ist ihr diese Krankheit nicht fremd, sie kennt Betroffene. Im weiteren Krankheits- und Behandlungsverlauf wird deutlich, dass die Eigendiagnose der Erkrankten richtig war, die behandelnden Ärzte hingegen die Borreliose nicht erkannten. Die Diagnose der Borreliose wird in erster Linie klinisch, nach dem Krankheitsbild, und nicht nach Laborparametern getroffen, in den ersten Wochen nach einer Infektion können keine Antikörper gegen Borrelienantigene nachgewiesen werden. 24 hier nach Hartmann / Müller-Marienburg, 2010, S. 14 52 „Ich wusste aber, dass ich Borreliose hab', sie wollten 's nicht behandeln.“ Heide konfrontierte die behandelnden Mediziner mit ihrer Eigendiagnose, diese ließen sich jedoch in ihren Behandlungsstrategien nicht beirren und versäumten so die wichtige Erstbehandlung nach der Infektion, dies ist in der geschilderten Form eindeutig ein Behandlungsfehler. In der Sequenz wird deutlich, dass Heide gegenüber den Medizinern aufgrund der ihrer Meinung nach falschen Behandlung verletzt ist, mutmaßlich ist die Haltung der Erzählerin gegenüber den sie behandelnden Ärzten nach dieser Erfahrung und ihrer Verarbeitung die einer ausgeprägten Skepsis, möglicherweise kritisch bis hin zur Entwertung. 53 Sequenz 4 Man hat solang' gewartet, nach zwölf Wochen wurden dann 'mal Tabletten gegeben, heute weiß ich, dass man hätte gleich Infusionsbehandlung machen müssen, dann wär' ich gesund geworden, nun hat man das aber nicht gemacht. „Man hat solang' gewartet, nach zwölf Wochen wurden dann 'mal Tabletten gegeben..“ Diese Sequenz liest sich so, als hätten die Ärzte zwölf Wochen in einer diagnostischen Unsicherheit verharrt, nicht wissend, auf welche Krankheit hin sie behandeln sollen. Als Hypothesen wie die einer psychosomatischen Ursache unwahrscheinlicher wurden, entschlossen sie sich, nun versuchsweise mit Antibiotika gegen Borreliose zu behandeln. Der Wissensstand von Ärzten zu Lyme / Borreliose ist überaus heterogen. Das Spektrum umfasst Spezialisten, Allgemeinmediziner mit einem eher begrenzten Wissen zu Erkrankung und Behandlungsmöglichkeiten sowie Ärzte, denen zu Folge es eine Borrelioseerkrankung nicht gibt. Eine S3 Leitlinie zu Lyme / Borreliose besteht noch nicht, ihr Erscheinen ist für 2013 angekündigt. Hierbei ist Lyme-Borreliose im ICD-10-GM Diagnosethesaurus unter A 69.2 „Lyme-Krankheit, Erythema chronicum migrans durch B. Burgdorferi und unter M 01.2 „Arthritis bei Lyme-Krankheit“ 25 verzeichnet, seit etwa 2008 besteht eine Leitlinie der deutschen Borreliose Gesellschaft, darüber hinaus existieren zwei S1 Leitlinien, mit einem geringeren Grad an Evidenz, von der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft und von der Deutschen Neurologischen Gesellschaft. Zwei zentrale Botschaften der Erzählerin sind, dass sie besser als die behandelnden Ärzte über Borreliose informiert ist, und dass diese sie kontinuierlich falsch und verspätet behandelten. Hierzu lassen sich zwei sich nicht gegenseitig ausschließende Lesarten bilden. Die eine wäre, dass die medizinische Behandlung in der Tat von Beginn an fehlerhaft war und die Erzählerin zur Leidtragenden falscher bzw. fehlender Diagnostik und einer zögerlichen Behandlung wurde, dass ihre Sicht von sich als Borreliose-Expertin mit einem Wissensvorsprung gegenüber den behandelnden Ärzten richtig ist. Die zweite Deutung knüpft an die in Sequenz zwei aufgeworfene Frage an, welche Wege Heide finden wird, um ihrem Selbstwert, der durch den Verlust der zentralen Stützen Gesundheit und Erfolg beschädigt wurde, ein neues Fundament zu geben. Die Definition als Borreliose-Expertin, als Expertin in eigener Sache, die in einer kritischen Rückschau auf die Behandlungsansätze der Ärzte kommentierend feststellt, „ich hätte gesund werden können, das habt ihr mit einer falschen Behandlung verbockt“, könnte zur Lösung der Selbstwertproblematik beitragen. Von Nöten wäre noch ein Ereignisfeld, in dem die Anerkennung als Borreliose-Expertin reproduziert werden kann. 25 Diagnostik und Therapie der Lyme-Borreliose, Leitlinien der Deutschen Borreliose-Gesellschaft, Auflage: Mai 2011, Letzte Überarbeitung: Dezember 2010, Ersterstellung: April 2008, http://www.borreliosegesellschaft.de/Texte/Leitlinien.pdf 54 Sequenz 5 Em, es kam dann (.) zu schlimmsten neurologischen Symptomen und einem Rückfall nach der - dem Absetzen dieser Tabletten em, das heißt ich bin dann also in der UniKlinik [anonymisiert] gelandet, bin an Tropf gehängt worden, mit zu wenig Mitteln, das weiß ich heute. Der Schilderung Heide's zufolge scheitert die Krankheitsbehandlung kontinuierlich. Die Suche nach einem erfolgreich behandelnden Arzt wird zur Odysee. Die ausgesetzte medikamentöse Behandlung, wie auch die Infusionstherapie, scheinen auf das Krankheitsbild Borreliose abgestimmt zu sein. Die geschilderten Behandlungsmethoden hinterlassen allerdings den Eindruck, als ob die Ärzte nach dem Credo behandeln: Es könnte Borreliose sein, wir behandeln versuchsweise und mit reduziertem Einsatz von Mitteln hierauf, um zu sehen, wie die Patientin darauf reagiert. Als neurologische Symptome werden im Allgemeinen die Folgen von Funktionsstörungen der Nerven bezeichnet. Im Kontext von Neuroborreliose ist eines der häufigsten Symptome die so genannte periphere Facialisparese. „Weitere Erkrankungen des peripheren Nervensystems im Rahmen einer Borreliose sind die Polyneuritis, die Polyradikulitis und die Polyneuro pathie. Ein in der neurologischen Praxis sehr häufig vorkommendes peripheres Symptom ist das Carpaltunnelsyndrom sowie das Sulcus ulnaris Syndrom und die Polyneuropathie. Auch das vegetative Nervensystem ist im Falle einer erfolgten Borrelioseinfektion häufig befallen.“26 Über mögliche psychiatrische Symptome, von der vor allem Personen mit einer chronischen Borreliose betroffen sind, äußert sich die Ich-Erzählerin nicht, im Weiteren wird darauf zu achten sein, ob dieses Thema ausgeklammert bleibt und wenn, warum. Der Erzählung Heide's zufolge war der geschilderte Rückfall bei richtiger Behandlung vermeidbar; ihrer medizinischen Selbstdeutung nach war es ein Behandlungsfehler, die medikamentöse Therapie zu beenden, die folgende Infusionstherapie sei unterdosiert gewesen. Zu diesem Zeitpunkt ist fraglich, wie die Gestalt der Krankengeschichte geschlossen wird, welchen Grad von Gesundheit die Erzählerin wieder erreichen kann. Mit ihrer Erzählung bescheinigt Heide den Ärzten, die sie konsultierte, eine massive Inkompetenz in Sachen Borreliosebehandlung: Die Krankheit wird nicht erkannt, als Konsequenz erfolgt die Infusionsbehandlung viel zu spät, als die Infusion gegeben wird, ist diese unterdosiert, in Folge des Absetzens der deutlich verspätet verordneten Medikamenten kommt es zum Rückfall. 26 Lorenz, 2008, S. 1 55 Sequenz 6 Em, habe dann das Problem gehabt, keine Antikörper zu haben, das heißt, es war immer fraglich, ob es 'ne Borreliose ist. Die Symptome haben gepasst, ein Drittel der Leute hat das nicht, mit den Antikörpern am Anfang, das weiß ich heute. Heide teilt uns mit, dass bei ihr, trotz Symptomen, die auf Neuroborreliose verweisen, keine eindeutige Diagnose erfolgte. Latent schwingt, wie schon in den vorangegangenen Sequenzen, ein Ohnmachtsgefühl mit über die gescheiterte Behandlung und ihre Folgen sowie die Frage, warum musste mir so etwas widerfahren? Als Borreliose-Expertin weiß die Erzählerin, dass eine mangelhafte Behandlung der Borrelieninfektion, wie sie ihr widerfuhr, kein Ausnahmefall ist, sondern häufig vorkommt, sie hat ihre Krankheitsfolgen entsprechend eingeordnet und sofern sie sich in der Selbsthilfe engagiert, ist ihr Streben darauf gerichtet, neu Erkrankten vergleichbare Odysseen zu ersparen. In der Regel sind die Antikörper, auf die Borreliose-Tests reagieren, in den ersten Wochen nach der Infektion nicht vorhanden. Der Nachweis von Borreliose spezifischen Antikörpern im Liquor ist nur selten möglich. Im Kontext der vorhergehenden Sequenz stellt sich die Frage, wie gut die Chancen für einen Borreliose-Erkrankten sind, bei nicht vorhandenen Antikörpern auf das richtige Krankheitsbild hin behandelt zu werden. Die in der vierten Sequenz erwähnte Leitlinie, die zum Zeitpunkt von Heide's Erkrankung noch nicht erstellt war, gibt heute deutliche Hinweise zur Diagnostik, nach denen eine Lyme-Borreliose auch in Abwesenheit des Leitsymptoms Erythema migrans (Wanderröte) und von Antikörpern symptombasiert erkannt werden sollte. Insofern die Erkrankung der Erzählerin um die Jahrtausendwende auftrat und Borrelia burgdorferi von dem Schweizer Forscher Willy Burgdorfer 1982 erstmals beschrieben wurde, war eine professionelle Behandlung möglicherweise noch nicht lange genug als Standard im Lehrkanon ärztlicher Ausbildungen verankert, um flächendeckend wirksam zu werden. 56 Sequenz 7 Em, ich hab' also diese drei Wochen Behandlung bekommen und danach war ich eigentlich siech und nicht lebensfähig (,). Em, ich hatte Schwindel, ich konnte 'ne Teetasse mit zwei Händen nicht heben, ich konnt' keine 100 Meter mehr laufen, mir fielen die Haare aus em, ich hat überall Schmerzen und ich war furchtbar schwach und müde. Die Erzählerin fasst die Ergebnisse der Behandlungen, die nun auf das Krankheitsbild Borreliose abgestimmt sind, als „eigentlich siech und nicht lebensfähig“ zusammen, es geht nichts mehr, im Anschluss ist Heide physisch und psychisch am Boden. Die angesprochenen Symptome Müdigkeit und Schwäche verweisen vermutlich auf das Chronic Fatigue Syndrome, das als Folge von Lyme-Borreliose auftreten kann. Berufsfähig ist Heide in dem geschilderten Zustand nicht, die Behandlungsergebnisse kommen für die Patientin einem Niederschlag gleich, entsprechend impliziert ihre Schilderung eine harsche Kritik an den Gepflogenheiten der Borreliosebehandlung. Beim Übergang der Borreliose in das chronische Stadium kann es zu schwerwiegenden lebenslangen Beschwerden, wie rheumaähnlichen Gelenkentzündungen und zu chronischen Entzündungen des Gehirns und des Rückenmarks kommen, unter Umständen verbunden mit beträchtlichen Störungen des Nervensystems. Für Neuroborreliose gilt, das sich Lähmungen, Bewegungsstörungen und Gefühlsstörungen ähnlich der Multiplen Sklerose entwickeln können27. Vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob von Seiten der behandelnden Ärzte eine Anschlussbehandlung vorgesehen ist, oder, wahrscheinlicher, ob die Patientin nun in Eigenregie eine Suche nach erfolgreicheren medizinischen Methoden begin nen wird, mit denen sie ihre Gesundheit weitergehend wieder erlangen kann. Zusammengefasst ist die Erzählerin der Auffassung, dass fachliche Inkompetenz der Ärzte bezüglich der Borreliose-Behandlung ursächlich zu den gesundheitlichen Einschränkungen führt, mit denen ihre Behandlungen abschließt und zu den Langzeitfolgen, die sie in der achten Sequenz wie folgt darstellt: „Also normaler Alltag geht, Muskelschwäche ist geblieben, ich kann also, rennen kann ich nicht, Koordination der Füße geht nicht so gut, em und größere Sportambitionen – also mit 'nem siebzigährigen fitten Rentner im Trainigsraum komm' ich etwa gleich, bin gerad' fünfzig.“ In der Erzählungseröffnung beschreibt sich die Erzählerin als sportliche Akademikerin, glücklich verheiratet, aktiv und vielseitig in der Freizeit. Die Borreliose und die wenig erfolgreiche Behandlung werden zu einem biografischen Wendepunkt mit gesundheitlichen Folgen, an denen die Ich-Erzählerin über Jahre arbeiten muss. Rational werden die Krankheitsfolgen akzeptiert, zeitweise trauert Heide ihrem Idealbild der jungen, erfolgreichen und sportlichen Akademikerin nach („also mit 'nem siebzigährigen fitten Rentner im Trainigsraum komm' ich etwa gleich, bin gerad' fünfzig.“). Die Minderung von Lebensqualität, die hier beschrieben 27 hier nach: http://www.internisten-im-netz.de/de_borreliose-auswirkungen_314.html, Herausgeber Bundesverband Deutscher Internisten e.V. 57 wird, ist nach Auffassung der Ich-Erzählerin keine notwendige Folge von Lyme-Borreliose, vielmehr eine Folge falscher und unzureichender Behandlung. Der Erzählerin ist es ein tiefes Bedürfnis, jemandem ihre Kranken- und Leidensgeschichte mitzuteilen, diesem gibt sie im Interview Raum, schildert detailliert ihre Erkrankung, Rückfälle, Behandlungen und Fehlbehandlungen. Daher habe ich mich entschlossen, nun im Text zu wandern, und speziell Sequenzen, die sich mit ehrenamtlichem Engagement befassen oder interpretationsbedürftige Auffälligkeiten aufweisen, auszuwählen. 58 Sequenz 10 Em, was sehr deutlich Veränderung gebracht hat, ist dass ich quasi Hellsicht erlangt hab', wie man das nennt, also das Unbewusste bildhaft sehe, dadurch hat sich das ganze Leben verändert, weil ich die Dinge anders wahrnehm' wie die andere Menschen und em damit auch versucht hab' umzugehen und eben nicht äh äh, irgendwo als Bekloppte eingewiesen zu werden. Eine krankheitsinduzierte Wahrnehmungsveränderung wird von der Ich-Erzählerin als Hellsichtigkeit beschrieben. Beim Begriff des Hellsehers handelt es sich um eine sogenannte Lehnübersetzung (=wörtliche Übersetzung) aus dem Französischen, von clair-voyant, in die deutsche Sprache eingeführt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 28 Zunächst kann nicht geklärt werden ob es sich bei dem angesprochenen Phänomen um „Spökenkiekerei“, das sogenannte zweite Gesicht handelt, die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen und beispielsweise Krankheit und Tod vorherzusagen oder um nicht-alltägliche Wahrnehmungen wie das Visualisieren von Personen, bevor diese einen Raum betreten oder anrufen. Eine erste Hypothese wäre, dass eine psychische Instabilität als Bewusstseinserweiterung präsentiert wird. Erschließt sich die Erzählerin, nachdem die Borreliose ihr Leben grundlegend veränderte und ihr Selbstbild der erfolgreich-sportlichen Akademikerin hinfällig wurde, neue Quellen, wird eine Indivdualität geschaffen, die Selbstbewusstsein und Einzigartigkeit sichern soll? Heide gerät in der Folge der Neuroborreliose, die zeitlich mit dem Tod der Eltern und der Trennung vom Partner zusammenfällt, in eine seelische Krise. Das Unbewusste ist derart überlastet, dass eine Bewegung entsteht, unbewusstes Material dringt ins Bewusstsein vor, die Filterfunktion ist verändert, durchlässiger. Der Erzählerin gelingt es, die veränderte Bewusstseinslandschaft in ihr Selbstkonzept zu integrieren ohne psychiatrisiert zu werden. 28 Mackensen, S. 178 59 Sequenz 11 Em ich hab' das für mich genutzt, das heißt dass ich em auch damit was ma- che, in der Persönlichkeitsentwicklung, was sehr viel gebracht hat. Em und ja: Damit ist manches leichter, man weiß zum Beispiel das 'n Antrag abgelehnt wird, weiß man vorher, dann lässt man ihn gleich liegen, wenn man arbeitsüberlastet is' und hat dann kein Problem. Er wird dann auch abgelehnt, wird dann auch zurückgezogen. Die geschilderte mentale Durchlässigkeit wird mythisch überhöht. Die Erzählerin betreibt die Darstellung des Phänomens als einen Akt von Selbst-Charismatisierung, das geschilderte Phänomen bedeutet ihr einen sekundären Krankheitsgewinn. Für viele Berufe, wie zum Beispiel Verwaltungstätigkeiten und soziale Arbeit ist typisch, dass die Akteure, in einer notorischen Arbeitsüberlastung lebend, nach Abkürzungs- und Vereinfachungsverfahren suchen. In diesem Kontext ist die von Heide geschilderte Prozedur der Ablage von Akten bzw. Anträgen zu verorten. Dass die Autorin eine in der Regel stimmige Einschätzung vornehmen kann, welche Anträge keine Aussicht auf Erfolg haben, könnte eher ein Amalgam aus erfahrungsbasiertem Wissen und Intuition sein, als eine außergewöhnliche Wahrnehmung, insofern löst sich die angesprochene Hellsichtigkeit zumindest in diesem Punkt auf, zugunsten einer subjektiven veränderten Selbstwahrnehmung. Ein Auslöser für die geschilderte Durchlässigkeit des Unbewussten könnte sein, dass dieses dermaßen belastet ist, dass es sich auf diesem Weg Entlastung schafft. Das, was für gewöhn lich als Intuition bezeichnet wird, präsentiert die Erzählerin als außergewöhnliche Wahrnehmung, über die sie Zugang zu Wissensquellen hat, die dem gewöhnlichen Sterblichen verschlossen bleiben. In diesem Kontext wird es notwendig, sich den Beruf der Erzählerin zu vergegenwärtigen, sie ist als Sachbearbeiterin bei einem Amt für Naturschutz tätig. Dies bedeutet, dass über ihren Schreibtisch Anträge gehen wie beispielsweise der eines Bauern, der innerhalb eines geschützten Gebietes einen neuen Unterstand für Pferde errichten möchte. Eine außergewöhnliche Wahrnehmung wird zum Selektionskriterium zwischen zu bearbeitendem Material und Anträgen von Personen, die nach ihrer Auffassung keine Relevanz besitzen. 60 Sequenz 12 Em (.) ja, die Selbsthilfe kam eigentlich zu mir, ohne dass ich das gewollt hab' eigentlich. Em, nämlich als ich in 's Amt zurückkam, riefen die Leute an. Die Bauern, die Forstwirte, ich bin ja im Naturschutz tätig, das heißt, die ganze Leut' in der Landschaft, die sind natürlich auch alle krank. Per Mundpropaganda wird die Erzählerin zu einer telefonischen Anlaufstelle für Borrelioseerkrankte. Die Betroffenen informieren sich bei Heide über Behandlungsmöglichkeiten, Krankheitsverläufe, lassen sich Ärzte empfehlen und schöpfen im Gespräch neue Hoffnung. Heide führt aus, dass sie die Position einer ehrenamtlichen Borrelioseberaterin nicht angestrebt hat, ihrer Schilderung zufolge ist ihr diese Rolle ohne nennenswerte eigene Anstrengung zugefallen. Möglicherweise verlief der Beginn des Prozesses, in dem Heide zur Auskunfts- und Beratungsstelle für Borreliosepatienten wurde etwa so, wie in dieser Sequenz geschildert, sie selbst relativiert mit dem Partikel „eigentlich“ die eigenen Anteile. Die Borre lioseberatungen sind anfangs Teil der eigenen Krankheitsverarbeitung gewesen, weitere Motivatoren sind das Bedürfnis zu helfen und Anerkennung, auch im Sinne von Dankbarkeit. 29 Die Aneignung borrelioserelevanter Inhalte, wie auch der Rollenwechsel von der Erkrankten zur Expertin, setzen das krankheitsimmanente salutogenetische Potential frei. Heide ist in ihrer Selbstsicht nicht mehr das verzweifelte Opfer ärztlicher Fehlbehandlungen, sie hilft anderen Erkrankten Krankheitssymptome zu deuten und zeigt Wege erfolgreicher Behandlung auf. Die weitere Dynamik hatte vermutlich die folgende Gestalt: Für sie als Biologin ist die wissenschaftliche Aneignung des Themas keine große Hürde, sie bildet sich mit der entsprechenden Fachliteratur fort, nimmt Kontakt mit dem deutschen Borreliose und FSME Bund und mit kooperationsbereiten Ärzten auf und schafft so ein lokales Netzwerk der Borreliosehilfe. 29 vgl. Ricœur, 2006, S. 31 f., die Bedeutungen der franz. Vokabel reconnaître 61 Strukturhypothese Eine Struktur, die sich durch die ersten 10 Sequenzen zieht, ist Heide's Aussage, dass die Behandlung ihrer Borrelioseerkrankung ein Prozess des kontinuierlichen Scheiterns ist, mit akuten Auswirkungen, zumindest einem Rückfall sowie mit chronischen Folgen und Einschränkungen, denen sie, die einst sportlich-gesunde Frau, heute unterworfen ist. Im Weiteren verdeutlicht sie, dass aus ihrer Sicht als Borreliose-Beraterin die gescheiterte Behandlung kein Einzelfall ist, sondern viele mit Borrelien Infizierte betrifft. Im Kontext der Selbstdarstellung in den Eingangssequenzen, in denen Heide sich als sportliche, erfolgreiche Akademikerin beschreibt, erfolgreich im Beruf, glücklich verheiratet und mit vielseitigen Interessen in der Freizeit, wird die Borrelieninfektion zu einem Einschlag ins Leben, dessen Folgen die Erzählerin zutiefst deprimieren. Die Borrelieninfektion fällt zeitlich zusammen mit einer biografisch bedingte Krise, ausgelöst durch den Tod der Eltern, das Scheitern der Partnerschaft und Problemen am Arbeitsplatz. In der Selbstdeutung wird dieses krisenhafte Potential subsumptionslogisch der Borreliose zugeschlagen. Zunächst trat 1998 die Neuroborreliose auf, Erkrankung und Tod der Eltern, wie auch das Auflösen der Partnerschaft fallen in die krisenhafte Zeit des Krankheitsbeginns. Psychische Probleme im Zusammenhang mit Borreliose, dem Tod der Eltern und der Trennung vom Lebenspartner werden kurz thematisiert und als nicht zur Persönlichkeit gehörig bewertet. Eine als Hellsicht bezeichnete Krankheitsfolge, eine erhöhte Durchlässigkeit des Unbewussten, wird als Aspekt von Persönlichkeitsentwicklung gedeutet, die Anwendung dieses Phänomens als Abkürzungsverfahren von Arbeitsabläufen ist brisant. Eine reproduzierte latente Sinnstruktur sind die Expression von Ohnmacht und Trauer über die gescheiterte Behandlung und ihre Folgen, eine Anklage der behandelnden Ärzte und die Frage nach dem Sinn, warum musste mir so etwas widerfahren? Rückfälle und Krankheitsfolgen waren vermeidbar, lautet die Überzeugung der Erzählerin, beide seien direkte Folgen falscher Behandlung. Im vorliegenden Fall kommt ein Amalgam zum Tragen, das gelungene Selbsthilfe ausmachen kann. Der Umgang mit der eigenen Krankheit, der Borreliose, wird zu einer akademisch fundierten Aneignung von Behandlungsmöglichkeiten und -standards. Die Erzählerin verfügt diesbezüglich über einen Horizont und Kompetenzen, die manchem Mediziner, der Borreliose-Erkrankte behandelt, gut anstünden. Der Erzählerin gelingt es, ein salutogenetisches Potential zu entfalten, mit ihrer wissenschaftlich fundierte Aneignung des Themas Borreliose relativiert sie die eigene Betroffenheit, die nunmehr einen Platz innerhalb des Ensembles aus fachlichem Wissen, Beratungstätigkeit und Netzwerkarbeit erhält. Insofern ist Heide's Engagement als Borreliose-Beraterin und Leiterin mehrerer Selbsthilfegruppen für die Betroffenen ein echter Gewinn. Eine überkritische Haltung gegenüber den Borreliose behandelnden Ärzten gehört zu den Motivatoren Heide's Beratungstätigkeit. Diese ist 62 intentional darauf gerichtet, die richtigen Weichen der Behandlungen zu stellen. Ein zentrales Element der Fallstruktur hinsichtlich der Motivatoren des Selbsthilfe-Engagements ist die Überzeugung der Erzählerin, dass ein beträchtlicher Teil der Borreliose-Patienten ohne ihre Beratung von den behandelnden Ärzten, wie in ihrem Fall, nicht optimal versorgt werden kann. Vermutlich erhalten die Erkrankten in ihrer Beratungsgesprächen neben Tipps zu Einrichtungen und Ärzten detaillierte Verfahrensanweisungen, mit denen sie sich an die Mediziner wenden können. Insofern leistet die Erzählerin neben dem psychologischen Aspekt ihrer Beratung einen medizinisch wichtigen Beitrag, zumindest solange, bis sich optimierte Behandlungsstrategien etabliert haben. 63 Überprüfung der Strukturhypothese Sequenz 13 Und em, die riefen dann an, „Sie haben 's doch gehabt“, es hat ja jeder mitge- kriegt, es war ja ein Arbeitsunfall, em „ich hab' so Schmerze, hab' ich des auch?“ Per Mundpropaganda wird auf die Erzählerin als helfende Instanz bei Borreliose aufmerksam gemacht, Heide's Klientel ist über ihre Erkrankung informiert und fragt nun bei eigener potentieller Borrelieninfektion um Rat, dies ist der Beginn Heide's Enkulturation in die ehrenamtliche Hilfe für Borrelioseerkrankte. „Sie haben's doch gehabt, Sie kennen sich da aus“, lautet das Motiv von Neuerkrankten, sich an die Erzählerin zu wenden, bei Borreliose besteht ein Informations- und Beratungsbedarf, der nicht durch die behandelnden Ärzte gestillt wird. Die medizinischen Fakten zu Borreliose-Erkrankungen sind unübersichtlich und können verwirren, ein wichtiges Bedürfnis ist, über die medizinische, akademische Information und die Klärung dieser Fakten hinaus, eine gewisse Hilfestellung und Begleitung in dieser individuellen Notsituation zu erhalten. Die Interventionen und Ratschläge der Erzählerin werden von den Ratsuchenden als hilfreich erfahren, ausschließlich per Mundpropaganda und ohne institutionellen Rückhalt verbreitet sich die Information über ihr Angebot, Hilfestellung zum Umgang mit einer Borrelieninfekti on zu geben. Die Erzählerin wird gefordert, Symptome zu deuten und Auskünfte zu Behandlungsformen und -abläufen zu geben. Sie nimmt ihre neue Aufgabe an, ist auskunftswillig, beschäftigt sich intensiv mit Literatur zu Borreliose und beginnt ihre Beratungsgespräche zu systematisieren und zu optimieren. 64 Sequenz 14 Und ich hat' Literatur äh mir zusammengesucht, ich hatte mir äh verschiede - ne Symptome selbst erklärt, die mir die Ärzte halt nicht erklären konnten, em hab' auch wis senschaftlich dann mit Dr. [anonymisiert] zusammen haben wir das wissenschaftlich alles auch em aufgearbeitet. Deutlich wird, wie die Erzählerin sich das Thema Borreliose und ihre neue Rolle als ehrenamtliche Borreliose-Beraterin zu eigen macht, im Prozess der Aneignung vollzieht sich der Perspektivwandel über die eigene Betroffenheit hinaus zur Expertin. Die medizinische Symptomdeutung bei Borrelieninfektionen ist für Heide nicht eindeutig und lässt Fragen offen, auf die sie in Kooperation mit einem Facharzt Antworten sucht. Typisch für eine ganze Reihe der auf ehrenamtlichen Tätigkeiten basierenden Landes- und Bundesverbände zu den verschiedensten Krankheiten ist, dass diese wissenschaftlich fundiertes Material für Neuerkrankte bereitstellen, Hilfen für spezifische Situationen, Krankheitsformen und -stadien 30. Heide versucht sich zunächst im Alleingang und in Zusammenarbeit mit oben genannten Facharzt, vermutlich wird sie über kurz oder lang mit dem Deutschen Borreliose und FSME Bund zusammenarbeiten, sich dort möglicherweise engagieren. Von wissenschaftlicher Bescheidenheit zeugt die Aussage der Erzählerin nicht, dass sie verschiedene Symptome, zu denen sie weder von befragten Ärzten noch von der vorhandenen Literatur Deutungshinweise erhielt, in einen eigenen Kontext stellt. Sie präsentiert sich hier als eine Pionierin der Borrelioseforschung, mit einem Arzt zusammen arbeitet sie wissenschaftliche Fragen zu Borreliose auf. Hiermit ist es der Erzählerin geglückt, ihrem durch die Erkrankung gefährdeten Selbstbild in einem kompensatorischen Sinn wieder den benötigten Glanz zu verleihen, sie ist nun nicht mehr die vielseitig interessierte, erfolgreiche und sportli che Akademikerin, sie ist eine Expertin für Borreliose, die Defizite der Borrelioseforschung aufarbeitet. 30 vgl. beispielsweise den Downloadbereich der Deutschen Alzheimergesellschaft, www.deutsche-alzheimer.de 65 6 Komparative Verdichtung, Kontraste und Konvergenzen der Fallstrukturen 6.1 Minimaler Kontrast Fall 1 Marianne, Selbsthilfekultur als Sinnquelle - Fall 2 Hans, der gestandene Ehrenamtliche Marianne und Hans kommen aus vergleichbaren Herkunftsfamilien, einem Arbeitermilieu, das ihnen die Pflichtleistungen an Schule und eine anschließende Berufsausbildung ermöglichen kann. Beide Erzähler geraten unverhofft in eine Situation, in der ihr bisheriger Lebensentwurf von einem Tag auf den anderen nicht mehr funktioniert. Dieser biografische Bruch mündet in einer Krise, in der die Probanden Selbsthilfegruppen zur Bearbeitung ihrer krisenhaften Konstellation nutzen. Der Zugang zur Selbsthilfe ist bei Marianne zum einen das aktive Streben eine Problemlage zu überwinden, zum anderen führt sie die Scheu vor dem Kontakt zu Psychologen und Beratungsdiensten, wie der Frauen- und Familienberatungen der Träger der freien Wohlfahrt, zur Selbsthilfegruppe. Interessenten der Selbsthilfe sind häufig motiviert durch die Vorannahme, dort auf Menschen mit dem gleichen Krankheits- und Problemhintergrund zu treffen, zu erfahren, wie es anderen Erkrankten geht, allgemein eine Relativierung des eigenen Schicksals durch die Gruppe zu erfahren und an gemeinschaftlichen psychoedukativen Prozessen zu partizipieren. Während Marianne auf einen Zeitungsartikel hin zur Trennungs- / Scheidungsgruppe findet, wird Hans in der Krise von einer Verwandten auf einen von der Parkinson-Selbsthilfegruppe organisierten Vortrag aufmerksam gemacht. Zwar liegt der Zeitpunkt des Zugangs zur Selbsthilfe in beiden Fällen mehr als 10 Jahre zu rück, dennoch bleibt festzustellen, dass es besonders im Fall Hans aus Sicht der Selbsthilfeunterstützung wünschenswert wäre, wenn der Neuerkrankte durch die behandelnden Ärzte, ein Informationsangebot in der Klinik oder spätestens anschließend beim weiterbehandelnden Arzt über das komplementäre Angebot einer Gruppenteilnahme informiert worden wäre. Eher zufällig mit Selbsthilfegruppen in Kontakt gekommen, wird im Weiteren die Selbsthilfe zu einem Weg, der über die eigenen Betroffenheit hinaus fortgeführt wird. Der autobiografische Erzähler wird zunächst Mitglied des Landesverbandes der Parkinson Vereinigung, später Landesvorsitzender. Anders Marianne: In der akuten Krise kommt sie zur Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung, ihr ist am ersten Abend klar, das ist ihre Gruppe, hier bleibt sie, und nach einer Phase der Einsozialisation wird sie zur Ansprechpartnerin dieser Gruppe. Ambitionen, sich darüber hinaus ehrenamtlich zu engagieren, beispielsweise in der lokalen Selbsthilfeunterstützung, sind im Interview nicht aufspürbar, es ist ihre Gruppe, und hier ist sie geblieben. Der Kontrast liegt insofern in der Reichweite des Engagements, Hans wurde zum landes- und bundesweiten Akteur, er agiert als Schnittstelle der Informationsweitergabe zwischen Verband und regionalen Parkinson-Selbsthilfegruppen, ist beteiligt an Entschei- 66 dungsprozessen wie der Unterstützung von Forschungsprojekten zur Erkrankung und aktiv in der Einzelfallhilfe für Betroffene und Gruppenleiter. Die Hypothese zum Engagement von Hans, das an anderer Stelle als biografische Konstante charakterisiert wurde, ist, dass er sich, wie schon bei der Berufswahl, von den Inhalten leiten lässt, die in seinem Unbewussten arbeiten. Diese werden vorläufig als Archetypus des Helfens charakterisiert, in der besonderen Form von Hilfe, die nicht professionell und als Tauschwert angeboten wird, sondern auf Wechselseitigkeit basiert. Gemeinsam ist beiden Fällen, dass ein krisenhaftes Potential durch die Besuche der Selbsthilfegruppen überwunden wird. Diese Konvergenz der beiden Fallstrukturen in Bezug auf den Verlauf ist von besonderer Bedeutung, zunächst in einer Krise verharrend, wird der Selbsthilfegruppenbesuch zum Ausgangspunkt der Entfaltung eines salutogenetischen Potentials. Die Gruppenbesuche wirken aktivierend, das ehrenamtliche Engagement stellt positive Strukturen bereit, in denen die Akteure, die nicht mehr an den immateriellen Verstärkern der Arbeitswelt partizipieren, gefordert sind, Anerkennung und eine Anhebung des Selbstwertes erfahren. Selbsthilfegruppen, die eng an den Landesverband der entsprechenden Krankheit angeschlossen sind, erhalten zum Teil stringente Vorgaben zu Inhalten und Methoden ihrer Gruppenarbeit, zur Öffentlichkeitsarbeit hinsichtlich eines Corporate Designs, ihre Gelder werden unter Umständen vom Landesverband verwaltet. Die Landesverbände bieten Schulungen für Gruppenaktivisten an, hier wäre eine Einsozialisation neuer Gruppenleiter und Moderatoren, wie im Fall 1 von Marianne beschrieben, zu erwarten. Für die Selbsthilfegruppe Tren nung / Scheidung, die über die Angebote der regionalen Selbsthilfekontaktstelle hinaus keinen fachlichen Austausch pflegt, ist ein Bewährungsmythos für Aufgabenträger eine ungewöhnliche Vorgabe. Beide Selbsthilfe-Engagierte sind über 10 Jahre für ihre Gruppen aktiv, sie leiten ihre Gruppen seit einer Reihe von Jahren ohne eigene Betroffenheit. Für die Fall struktur Marianne wurde das Engagement als Konglomerat aus Altruismus und einem dependenten Verhaltensmuster charakterisiert sowie als eine Form von Selbstverwirklichung über Selbsthilfe. Während für viele Erkrankte und in Krisen lebende Menschen der Besuch einer Selbsthilfegruppe eine mehr oder weniger kurze Passage des Lebensweges ist, entdecken die Probanden Hans und Marianne in der Selbsthilfe eine Lebensaufgabe. Hans ist von Jugend an zum ehrenamtlichem Handeln motiviert, seine Motivation mündet, zusammen mit der Selbstbetroffenheit, in einem dauerhaften Engagement. Ein latentes Motiv von Marianne ist ein biografisches Anhaften. Die Partnerschaft wird im Zuge der Trennung in ein ko operatives Arrangement überführt, sie bewohnt gemeinsam mit den Kindern weiterhin das Haus der Familie, nach der erfolgreichen Bearbeitung der Trennungskrise in der Selbsthilfegruppe sucht sich die Erzählerin kein neues Betätigungsfeld, sie bleibt mehr als ein Jahrzehnt, engagiert für an Trennungsfolgen Leidende, in der Selbsthilfegruppe. 67 Eine selbsthilferelevante Kongruenz ist, dass beide Erzähler in einer biografisch bedeutsa men Umbruchsituation zur Selbsthilfe finden. Sie geraten ins Trudeln, die Krise der Trennung bzw. der schweren Erkrankung fordert Orientierungs-, Bildungsprozesse und die Generierung neuer Strukturen, die Probanden benötigen den Beistand einer Solidargemeinschaft und emotionale Teilnahme. 68 6.2 Maximaler Kontrast Fall 1 Marianne, Selbsthilfekultur als Sinnquelle - Fall 3 Heide, die Expertin Marianne wird in der Krise ihrer Trennung auf das Angebot einer Selbsthilfegruppe Trennung/ Scheidung aufmerksam, im Weiteren übernimmt sie Aufgaben in der Gruppe bis zur über zehnjährigen Gruppenleitung. Ihre Entscheidung für die Selbsthilfegruppe ist die Wahl eines aktiven, selbstbestimmten Krisenmanagements. Aus der Sicht der Erzählerin ist die Unterstützung der Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung ein komplexer Prozess, der einer Einsozialisation bedarf. Das ehrenamtliches Engagement bleibt auf diese Gruppe bezogen, die einen hohen Stellenwert für ihren Alltag hat, in der sie soziale Kontakte und Aktivitäten pflegt. Neben den erwachsenen Kindern ist die Selbsthilfegruppe eine sinnstiftende und Anerkennung vermittelnde Säule ihrer Lebenspraxis. Heide, die Expertin mit der überkritischen Haltung gegenüber behandelnden Ärzten, erarbeitet sich medizinische Standards und deutet Symptome der Borreliose. Ihr Zugang ist ein akademischer, sie wird per Mundpropaganda zur Anlaufstelle für Borrelieninfizierte. Selbsthilfe ist für Heide zunächst die allein geleistete Auseinandersetzung mit Borreliose, im Weiteren ihre Tätigkeit als Borreliose-Beraterin. Ohnmacht und Trauer über die gescheiterte Behandlung sowie eine latente Anklagehaltung gegenüber den behandelnden Ärzten sind ein starkes Motiv, sich als Borreliose-Beraterin zu engagieren, zu helfen, unnötige medizinische Leidensgeschichten, Rückfälle und Spätfolgen als Konsequenzen falscher Behandlungen zu vermeiden. Mariannes Motivlage für das langfristiges Engagement in der Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung ist mehrschichtig, zu einem intrinsischen, selbsterfahrungsbasierten Helfen-Wollen kommen eigene Kontaktbedürfnisse. Coping bezeichnet Bewältigungsstrategien, die in schwierigen Lebenssituationen, bei schwierigen Lebensereignissen, im medizinischen Sinne bei chronischen Erkrankungen zur Anwendung kommen. Die wissenschaftliche und lebenspraktische Auseinandersetzung Heides mit Borreliose, ihre Bewältigungsstrategie eigener Betroffenheit, entspricht einem problemorientierten Coping. Selbsthilfegruppen sind insofern Orte der erfolgreichen Bearbeitung schwieriger Lebensumstände, als jedes Gruppenmitglied über die Beiträge anderer Teilnehmer mit eigenen, erfahrenen und potentiellen zukünftigen Problemkonstellationen konfrontiert ist. 69 6.3 Selbsthilferelevante Befunde 6.3.1 Tabellarische Gegenüberstellung selbsthilferelevanter Befunde Marianne Hans Heide Selbsthilfegruppe Selbsthilfegruppe Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung Parkinson Borreliose Zum Kontakt mit der Selbsthilfegruppe kommt es zufällig, auf ein Zeitungsinserat hin Die Diagnose der Parkinsonerkrankung markiert einen krisenhaften Wendepunkt in der Biografie des Erzählers, er kommt ins Trudeln, eine Anpassung seiner Alltagsstruktur an die veränderten Bedingungen gelingt zunächst nicht Die Haltung der Erzählerin gegenüber den Borreliose behandelnden Ärzten ist die einer ausgeprägten Skepsis Selbsthilfe als Medium zur Selbsthilfe als Medium zur Heide ist zur Expertin für BorBearbeitung einer Lebenskri- Bearbeitung einer krankheits- reliose geworden, sie hat sich se basierten Lebenskrise dem Thema mit aus eigener Betroffenheit gewachsener Hingabe gewidmet Selbsthilfe als Selbstverwirklichung, die Gruppe als Ort der Anerkennung vermittelt und als Sinnquelle Ehrenamtliches Engagement ist eine biografische Konstante und Bestandteil des Selbstkonzepts des Erzählers. Die Motivation speist sich aus Prozessen des Unbewussten, geht aus von einem Archetypus des Helfens Die Erzählerin ist in ihrer Selbstsicht nicht mehr das verzweifelte Opfer ärztlicher Fehlbehandlungen, sie hilft anderen Erkrankten Krankheitssymptome zu deuten und zeigt Wege erfolgreicher Behandlung auf Gruppenbegleitung als anspruchsvolle Aufgabe, die einer Einsozialisation bedarf, die Haltung zur Selbsthilfe in einer Trennungsgruppe ist die von Respekt vor den Kompetenzen, die diese besondere Form der Gruppenarbeit bedarf Beratungsdefizite aufgrund fehlender Informationen durch behandelnde Ärzte werden ausgeglichen durch den Arztvortrag einer Parkinson-Selbsthilfegruppe Per Mundpropaganda wird die Erzählerin zu einer telefonischen Anlaufstelle für Borrelioseerkrankte 70 Marianne Hans Heide Selbsthilfegruppe Selbsthilfegruppe Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung Parkinson Borreliose Entscheidung für die Selbsthilfegruppe als Wahl für ein aktives und selbstbestimmtes Krisenmanagement Die kognitive Auseinandersetzung mit den Themen Parkinson und Depression ist der Beginn eines aktiven Umgangs mit der Krankheit, die Hinwendung zum salutogenetischen Potential, das dem autobiografischen Erzähler eine veränderte Sichtweise auf seine Lebenssituation und deren Möglichkeiten eröffnet. Die wissenschaftlich fundierte Aneignung des Themas Borreliose relativiert die eigene Betroffenheit, diese erhält nunmehr einen Platz innerhalb des Ensembles aus fachlichem Wissen, Beratungstätigkeit und Netzwerkarbeit Selbsthilfe setzt verschütte- Mit verschiedenen ehrentes kommunikatives Potential amtlichen Aktivitäten gelingt frei es dem Erzähler, eine aktive, gelungene Lebenspraxis im Alter zu führen Heide nimmt mit dem deutschen Borreliose und FSME Bund und mit kooperationsbereiten Ärzten Kontakt auf und schafft so ein lokales Netzwerk der Borreliosehilfe Motive für ein langjähriges Engagement in der Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung sind ein intrinsisches, selbsterfahrungsbasiertes Helfen-Wollen sowie eigene Kontaktbedürfnisse In der Selbsthilfegruppe wird ein familiärer Umgang miteinander gepflegt, man kennt sich seit fünfzehn Jahren, feiert regelmäßig Feste, die jeweiligen Lebenspartner sind ins Gruppengeschehen integriert Mit der wechselseitigen Unterstützung in Krisen und den gemeinsamen Aktivitäten erhält die Gruppe eine kooperative Struktur, die deutlich über das Maß an Gemeinschaftsorientierung hinausgeht, wie wir sie beispielsweise in einem Sportverein vorfinden Im Sinne von Resilienz gelingt dem Ich - Erzähler über sein Engagement im Feld der Selbsthilfe die Wendung weg von einem depressiv – apathischen Zustand, hin zu den gesunden und starken Anteilen seiner Persönlichkeit Flexibilität im Umgang mit schwierigen Lebenssituationen als salutogenetisches Potential 71 6.3.2 Evidenzen der Fallstrukturen Für alle Probanden wird die Erkrankung bzw. Trennung zu einer Krise, zum alles überformenden Thema, mit Auswirkungen auf die gesamte Lebenswelt. Die kognitive Auseinanderset zung mit dem jeweiligen Thema, allein oder mit anderen in der Selbsthilfegruppe, bildet den Hebel, von dem ausgehend ein salutogenetisches Potential wirksam wird, und Bewältigungsstrategien generiert werden. Gemeinsam ist den Fallstrukturen eine Motiviertheit, die weit über eine konsumtive Haltung gegenüber der jeweiligen Selbsthilfegruppe hinausgeht. Bei allen Ich-Erzählern wird ein krisenimmanentes, transformatorisches Potential wirksam, erstarkt, mit veränderten Haltungen und mit strukturellen Veränderungen gehen sie aus den Krisen hervor. Das in seiner Konsequenz für die Selbsthilfe bereits um die Jahrtausendwende ausgiebig diskutierte Konzept der Salutogenese bekommt im vorliegenden Fallmaterial eine besondere Bedeutung hinsichtlich biografisch relevanter Prozesse. Trudeln, Struktur-, Kontakt- und Informationsdefizite können durch engagierte Teilnahme an Selbsthilfegruppen kompensiert bzw. aufgehoben werden. Eine deutliche Stärkung der Resilienz durch die Teilnahme an Selbsthilfegruppen und die Übernahme von Aufgaben in diesen Gruppen ist in allen Interviews festzustellen. Die Selbsthilfegruppen bilden das Milieu, indem in einem autopoietischen Sinne Bewältigungsstrategien entwickelt werden und zum Tragen kommen. In einem Prozess des Empowerment vollzieht sich bei Heide die Wandlung von der erfahrenen Ohnmacht als Patientin zur Beraterin, die mit Borreliosepatienten über Sinn und Notwendigkeit verschiedener Behandlungsmethoden spricht und nun Empfehlungen zur medizinischen Versorgung bei Borreliose geben kann. Hans, dem bescheinigt wurde, dass er auf dem ersten Arbeitsmarkt nichts mehr leisten kann, der nach der Diagnose Parkinson apathisch und ohne Strukturen zu Hause saß, erfährt über sein Engagement in der Gruppe und später im Landesverband Anerkennung und eine Verstärkung des Selbstbewusstseins. Als Spieler in Gemeinschaften ist er gut vernetzt und mit einem Arbeitspensum, das einer Teilzeitstelle entspricht, einer der alten Hasen der Selbsthilfe. 72 7 Literaturverzeichnis Adler, Alfred: Der Sinn des Lebens (1933), Frankfurt a.M., 1990 Antonovsky, Aaron: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen, 1997 Bauer, Roland: Habitusbildung im Studium der Sozialpädagogik. Eine explorative Studie zur Strukturtypik studentischer Professionalisierungsprozesse, Dissertation Universität Mainz, 2007 Bibliografisches Institut & F.A. 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