Ehrenamtliches Engagement in der Selbsthilfe.

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Ehrenamtliches Engagement in der Selbsthilfe.
Ehrenamtliches Engagement in der Selbsthilfe.
Eine Rekonstruktion latenter Sinn- und Motivstrukturen
von Roland Bauer
2
„Jahrtausendelang war der Mensch Jäger. Im Verlauf zahlreicher Verfolgungsjagden lernte er es, aus Spuren im Schlamm, aus zerbrochenen Zweigen, Kotstückchen, Haarbüscheln, verfangenen Federn und zurückgebliebenen Gerüchen Art,
Größe und Fährte von Beutetieren zu rekonstruieren. Er lernte es, spinnwebfeine
Spuren zu erahnen, wahrzunehmen, zu interpretieren und zu klassifizieren. (...)
Charakteristisch für dieses Wissen ist die Fähigkeit, in scheinbar nebensächlichen
empirischen Daten eine komplexe Realität aufzuspüren, die nicht direkt erfahrbar ist.“
(Carlo Ginzburg)
3
Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung
4
2
Eine Positionierung des Ehrenamtes
5
3
Selbsthilfe als besondere Form bürgerschaftlichen Engagements
7
4
Zu den Methoden
9
4.1
Die Datenerhebung - das narrative Interview
9
4.2
Die objektiv - hermeneutische Einzelfallrekonstruktion
11
5
Interpretation des Fallmaterials
13
5.1
Fall 1 Marianne, Selbsthilfekultur als Sinnquelle
14
Interpretation der objektiven Daten
14
Interpretation der Erzählung
15
Fallstrukturhypothese
24
Fall 2 Hans, der gestandene Ehrenamtliche
29
Interpretation der objektiven Daten
29
Interpretation der Erzählung
30
Fallstrukturhypothese
44
Fall 3 Heide, die Expertin
48
Interpretation der objektiven Daten
48
Interpretation der Erzählung
49
Fallstrukturhypothese
61
6
Komparative Verdichtung - Kontraste und Konvergenzen der Fallstrukturen
65
6.1
Minimaler Kontrast
65
6.2
Maximaler Kontrast
68
6.3
Selbsthilferelevante Befunde
69
5.2
5.3
6.3.1 Tabellarische Gegenüberstellung selbsthilferelevanter Befunde
69
6.3.2 Evidenzen der Fallstrukturen
71
7
72
Literaturverzeichnis
4
1
Einleitung
Die Studie untersucht, auf der Basis objektiv-hermeneutischer Rekonstruktionen der Strukturen narrativer Interviews von in der Selbsthilfe Engagierten, die Motive und Intentionen
ehrenamtlich Tätiger sowie qualitative Aspekte ihrer Arbeit. Ihr Fokus liegt somit in der
Schnittmenge der Rekonstruktion von latenten Sinn- und Motivstrukturen ehrenamtlich Tätiger und mit der an die Einzelfallrekonstruktionen anschließenden Typenbildung, einer soziologischen Dimension des Ehrenamtes. Das Forschungsinteresse der Einzelfallrekonstruktionen gilt nicht der Person des Erzählers, vielmehr werden die rekonstruierten Strukturen als
über die Person hinaus auf eine Typik verweisend aufgefasst. Hinsichtlich der gesundheitsbezogenen Selbsthilfe ist eine Fragestellung, inwieweit die Forschungsergebnisse mit Konzepten der Salutogenese, der Resilienzforschung und des Coping korrelieren.
Die Rezeption der Ehrenamtskultur im Sektor sozialer Dienstleistungen von Seiten der Professionellen ist ambivalent, neben gelungenen Kooperationen in einer Vielzahl von Arbeitsfeldern werden Interpretationen wie die des ehrenamtlichen sozialen Helfers, der primär eigenen Problemlagen kompensiere, eines übermäßiges Geltungsbedürfnisses als faktischer
Motiviertheit des freiwilligen Handelns sowie die fehlender Kompetenzen geäußert. Das Engagement in Selbsthilfe und ehrenamtlicher Selbsthilfeunterstützung ist gerichtet auf die
wechselseitige, expertenlose Hilfe in den Feldern gesundheitsbezogener Gruppen, Gruppen
zur gemeinsamen Bewältigung von biografischen Krisen und psychisch bzw. psychosozial orientierten Gruppen.
Der Interpretationstradition der objektiven Hermeneutik folgend, werden die Interpretationen der untersuchten Fälle, ihrer einzelnen Sequenzen, in ihrer ganzen Ausführlichkeit dargestellt. Der ergebnisorientiert Lesende könnte sich auf die Strukturhypothesen und die
Kontrastierung der Fallstrukturen konzentrieren.
5
2
Eine Positionierung des Ehrenamtes
Charakteristisch für ehrenamtliche Arbeit ist, dass diese nicht auf die Sicherung der individuellen Existenz des Akteurs bezogen ist, nicht den materiellen und beruflichen Sicherheitsbedürfnissen (Maslov) dient, sondern eine unentgeltliche Leistung für Gemeinschaften und Gesellschaft erbringt. In der abendländischen Tradition war der unentgeltliche Einsatz für das
Gemeinwesen ein wichtiger Baustein für eine sinnstrukturierte Lebenspraxis, im antiken
Griechenland wurde derjenige, der nicht an öffentlichen Versammlungen teilnahm und sich
den Belangen der Gemeinschaft verweigerte, als idiòtes, als Privatmensch bezeichnet. Aristoteles definierte die zum Wohl der Gemeinschaft erbrachten Leistungen als Freigebigkeit.
Ein ähnlich hohes Ansehen genoss die aktive Bürgerschaft bei den Römern. In beiden Kulturen basierten weite Teile der Beamtenschaft, das griechische Archonat wie der römische Magistrat, auf Ehrenämtern.
Die Geschichte des Ehrenamtes in Deutschland beginnt zunächst mit politischen, gefolgt von
sozialen Ehrenämter. Als solche galten unter anderem Referendarien und Assessorenstellen
bei Landeskollegien. War Armut im Mittelalter den besitzenden Ständen ein willkommener
Anlass, ihrer in der Religion begründeten Verpflichtung zur Gabe von Almosen nachzukommen, änderte sich unter dem Einfluss des Protestantismus diese Haltung, Armut galt nun als
Arbeitsunlust und fehlende Gnade Gottes. Ehrenamtliche Tätigkeiten wie die Armenfürsorge
blieben zunächst dem Bürgertum vorbehalten. Das Hamburger Armensystem von 1788 teilte
die Stadt Hamburg auf in sechzig Bezirke mit je drei ehrenamtlichen Armenpflegern. Dieses
Prinzip wurde aufgegriffen vom Elberfelder System, einer 1853 eingeführten ehrenamtlichen
und dezentralen Armenverwaltung. Hierbei sollte der Armenpfleger maximal vier Familien
betreuten, er entschied selbst über die Vergabe von Mitteln. Mit dem Elberfelder System 1
kam es zur Trennung zwischen dem unbesoldeten, ehrenamtlichen Außendienst und einem
Innendienst der Aktenverwaltung. Zwei Grundkonflikte sozialer Arbeit, der zwischen einer
klientelbezogenen Sozialarbeit und den institutionell-administrativen Tätigkeiten sowie der
zwischen bezahlter, hauptberuflicher Sozialarbeit und ehrenamtlicher Helfertätigkeit, begannen mit dieser Aufteilung.
Ehrenämter, im ursprünglichen Wortsinn eines unentgeltlich geleisteten öffentlichen Amtes,
sind heute Tätigkeiten wie die des ehrenamtlichen Richters, des Gemeinderatsmitglieds oder
des Helfers bei allgemeinen Wahlen. Eine ganzer Komplex von Begriffen, die zum Teil auf unterschiedliche Bedeutungszusammenhänge verweisen, wird zur Kennzeichnung ehrenamtlicher Tätigkeiten verwandt: Freiwilliges Engagement, bürgerschaftliches Engagement (Bürgerengagement), Ehrenamt, Freiwilligenarbeit, Selbsthilfe, Initiativen- und Projektarbeit. Heute
sind viele Bereiche des öffentlichen Lebens existentiell auf die Leistungen ehrenamtlich Täti1 vgl. Wörterbuch Soziale Arbeit, 1988, S.146 ff.
6
ger angewiesen. Dem Freiwilligensurvey2 des Bundesministeriums für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend von 2005 zufolge, sind 36 % aller Bürgerinnen und Bürger ab 14 Jahren,
mehr als 23,4 Millionen Menschen, in der Bundesrepublik Deutschland freiwillig engagiert.
Neben der Betreuung von Kindern und alten Menschen, sind dies insbesondere Dienste in
der Telefonseelsorge, Helfer in Spitälern, Altenheimen und Behinderteneinrichtungen, sogenannte Grüne Damen und Herren, Engagierte in Sport- und Kulturvereinen. Die Dienste des
Katastrophenschutzes und die der Freiwilligen Feuerwehr basieren nahezu ausschließlich auf
ehrenamtlichem Engagement. Entsprechend werden diese Leistungen politisch mit einer
„Anerkennungskultur“ gewürdigt, neben traditionellen Auszeichnungen mit Landesehrenbriefen, Bundesverdienstorden etc. sind regionale Ehrenamtskarten mit vergünstigten Konsummöglichkeiten und regelmäßige öffentliche Würdigungen zum festen Bestandteil dieser
Kultur geworden.
2001, im internationalen Jahr der Freiwilligen, galt die politische Prämisse, verschiedene Akteure bürgerschaftlichen Engagements zu vernetzen. Eine Empfehlung der mit Bundestagsabgeordneten und Sachverständigen besetzten Enquete-Komission an den Gesetzgeber war
die Gründung eines bundesweiten Netzwerkes. Diese erfolgte im Jahr 2002 in Berlin als Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement. Seit 2004 initiiert das BBE jährlich eine Woche
des bürgerschaftlichen Engagements. In der Präambel der Statuten des Bundesnetzwerks in
der Fassung vom 3. November 2006 heißt es:
„Anliegen des bundesweiten Netzwerks ist die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements in der Vielfalt seiner Formen (Ehrenamt, Freiwilligenarbeit, Selbsthilfe u. a.). Dabei
orientiert sich das Netzwerk am Leitbild einer aktiven Bürgergesellschaft, die durch das Engagement der Bürgerinnen und Bürger und die verantwortliche Mitgestaltung des Gemeinwesens geprägt ist. Eine aktive Bürgergesellschaft stärkt die Demokratie und das soziale Kapital der Gesellschaft.“
Eine erste Formulierung des Konzepts einer Bürgergesellschaft, der civil society, im Sinne einer sittlichen Kategorie, findet sich erstmals im Jahre 1767 bei Adam Ferguson 3 als Erörterung des Zusammenhangs von individueller Tugend und Gesamtgesellschaft. Hegel verwandte den Begriff der Zivilgesellschaft in den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ von
1821.
2 Gensicke,Thomas et. all, 2005
3 Adam Ferguson (1723- 1816), Historiker und Sozialethiker, gilt als Mitbegründer der Soziologie; An Essay on
the History of Civil Society, 1767
7
3
Selbsthilfe als besondere Form bürgerschaftlichen
Engagements
Die Wortschöpfung Selbsthilfe setzt das Vorhandensein der Alternativen von Fremdhilfen im
Allgemeinen und professioneller Hilfe im Besonderen voraus. Zur Selbsthilfe kommt es, in
der Abgrenzung zu diesen Alternativen, erst in einer ausdifferenzierten und spezialisierten
Gesellschaft. Vorläufer der Selbsthilfe sind Zusammenschlüsse, in denen Menschen eigene
Not- und Problemlagen bearbeiteten, wie die mittelalterlichen Gilden 4 und die Genossenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
In der Literatur zur Geschichte der Selbsthilfe wird zur Frage ihrer Anfänge auf die Anony men Alkoholiker verwiesen, deren Entstehung auf das Jahr 1935 in Akron im Staat Ohio zu rückgeht. Der Beginn der Selbsthilfe in ihrer heutigen Form allerdings findet statt in den
sechziger und siebziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts. Als spezifische Form ehrenamtlichen Engagements entstanden Zusammenschlüsse von Betroffenen, um Ursachen und Folgen einer ihnen gemeinsamen Erkrankung oder Problemlage zu bearbeiteten. Im Zuge der
68er Bewegung formierten sich eine Vielzahl politischer Gruppen, Frauen- und Jugendprojekte, Kinderläden und sozial- und gemeinwesenorientierte Zusammenschlüsse wie die der
„sozialen Brennpunkte“. Erste Gruppen mit psychotherapeutischen Arbeitsansätzen entstanden; deren Foki blieben nicht zwingend auf den einzelnen Teilnehmer und Gruppenprozesse
beschränkt; unter dem Stichwort der „sozialen Selbsthilfe“ agierten diese Gruppen zwischen
den Polen sozialer, beziehungsweise politischer Interessen und Eigenhilfe, einer wechselseitigen Hilfe in eigener Sache. In den letzten beiden Jahrzehnten verschob sich diese Polarität,
einhergehend mit dem Prozess der Institutionalisierung der Selbsthilfe und ihrer unterstützenden Strukturen zur komplementären Krankheitsbearbeitung. Die ersten Initiatoren und
Teilnehmer von Selbsthilfegruppen waren noch Pioniere in einem Feld der Selbstexperimente, in dem Gruppenanalyse, Selbst- und Fremdreflexion, Permanenz der Wandlung und eine
basisdemokratisch orientierte Diskurskultur zu Profil und Regeln der Gruppe das Geschehen
dominierten. Traten Selbsthilfegruppen zunächst an zum Zwecke der Selbsterhaltung gegenüber einem übermächtigen medizinischen System und wurden in den Anfängen entsprechend skeptisch von der medizinischen Fachwelt zur Kenntnis genommen, sind bis heute
grundlegende Wandlungen zu verzeichnen: Es besteht nunmehr eine Reihe gelungener Kooperationen von Krankenhäusern, Fachärzten und Selbsthilfegruppen, mehr noch, über ihr
Engagement für bzw. mit Selbsthilfegruppen erhalten Mediziner und Psychotherapeuten für
ihre Qualitätszirkel relevante Zertifizierungspunkte. Das Gütesiegel „selbsthilfefreundliches
Krankenhaus“ wird seit 2006 an Kliniken vergeben.
4 vgl. Moos-Hofius / Rapp, 2012
8
Tragendes Prinzip der Selbsthilfe ist nun die wechselseitige Hilfe in autonomen Gruppen, von
an der gleichen Krankheit, Krisen- oder Problemkonstellation Betroffenen. Nunmehr ist die
Arbeit an Bewältigungstrategien ein häufiges, teils latentes Motiv, das Betroffene zum Besuch von Selbsthilfegruppen animiert. Hierbei gilt es, die spezifischen, aus ähnlich gelagerten
Erfahrungshintergründen geronnenen Kompetenzen zur Selbsthilfe in der Gruppe und zur
Hilfe anderer Betroffener nutzbar zu machen. Die Selbsthilfe zeichnet sich dadurch aus, dass
nicht der Professionelle, sondern der Betroffene als „Experte in eigener Sache“ dahin wirkt,
andere Gruppenmitglieder zu stabilisieren, eigene Ressourcen der Krisen- und Krankheitsbearbeitung zu aktivieren und Bildungsprozesse zu den je spezifischen Themen der Gruppen zu
initiieren.
Die in der Selbsthilfe Engagierten stellen ihren Gruppen, Neuerkrankten und Angehörigen
Unterstützung, Beistand und ein spezifisches erfahrungsbasiertes Wissen zur Verfügung,
das, gebündelt in den Strukturen der Selbsthilfe, so an keinem anderen Ort in der Gesellschaft abgerufen werden kann. Insofern handelt es sich bei den Kompetenzen der Aktiven
der Selbsthilfe um ein aus Selbstbezügen gewachsenes, erfahrungsbasiertes Expertentum.
Bildungsprozesse in Selbsthilfegruppen münden in der Ausformung eines krankheits- und
selbsthilfespezifischen Habitus. Der Begriff des Habitus wird hierbei im Sinne Bourdieus verstanden, als Fähigkeit, wesentliche Teile der Wissensbestände, Haltungen und Gedanken der
medizinischen und therapeutischen Kultur einer spezifischen Krankheit abrufen und auf
einen Einzelfall beziehen zu können.
Zugleich bieten die Selbsthilfegruppen dem Teilnehmer eine Erfahrungswelt, in der er eine
Solidarität und Teilnahme erleben kann, die das medizinische Versorgungssystem nicht leistet und die er im Hinblick auf die Vereinzelung vieler Menschen und eine gesellschaftlichen
Tendenz der Entsolidarisierung, weder in der Arbeitswelt, noch im privaten Umfeld findet.
9
4
Zu den Methoden
Ulrich Oevermann geht für die Methode der objektiven Hermeneutik davon aus, dass grundsätzlich jede protokollierte Wirklichkeit interpretierbar ist, sei es, dass sie in Form eines Bildes, ein Videos oder als Verschriftlichung einer autobiografischen Stegreiferzählung vorliegt
und bietet, basierend auf diesem Anspruch, keine eigene Erhebungsmethode an. Daher
kommt für diese Studie zur Erhebung und zur Auswertung ein gängiger Methodenmix zur
Anwendung, die Datenerhebung erfolgt mittels des narrativen Interviews, die Fallrekonstruktionen werden in Anwendung der objektiven Hermeneutik vorgenommen.
Oevermann zufolge ist das Spektrum rekonstruierbarer Typen in der Regel mit dreizehn Fäl len ausgeschöpft. Diesen Anspruch löst die vorliegende Studie nicht ein, in einem explorativen Sinn werden drei Einzelfälle rekonstruiert und kontrastiert, um die Ergebnisse im Hinblick auf Verallgemeinerbares und Besonderes zu präsentieren.
4.1 Die Datenerhebung - das narrative Interview
Das von Fritz Schütze maßgeblich entwickelte narrative Interview wird nach einer erzählungseröffenden Eingangsfrage im Hauptteil der Erzählung ohne Unterbrechungen durch den
Zuhörer geführt, es werden keine weiteren Stimuli, außer aufmunternden Signalen wie „hm,
hm“ oder nonverbalen Gesten gesetzt. Im Sinne einer nicht-direktiven Gesprächsführung
wird dem autobiografischen Stegreiferzähler Raum für seinen Erzählfluss gewährt, einschließlich der Wahl, beispielsweise heikle Passagen zu thematisieren oder zu umschiffen.
Das autobiografisch-narrative Interview umfasst drei Hauptteile, zunächst die vom interviewenden Forscher nicht unterbrochene Erzählcoda, im zweiten Hauptteil, den immanenten Nachfragen, wird das „tangentiale Erzählpotential“ 5 ausgeschöpft, es erfolgen Fragen
zum Beispiel nach wichtigen, aber nur flüchtig erwähnten oder unklar gebliebenen Stellen.
Der dritte Hauptteil mit exmanenten Nachfragen enthält die Aufforderung zur „abstrahierenden Beschreibung von Zuständen“6 und Fragen nach systematischen Zusammenhängen.
Schütze geht in seiner Erzähltheorie davon aus, dass jedes einen Sachverhalt darstellende
Kommunikationsschemata aus einem Gesamtvorrat kognitiver Figuren schöpft, dass diese
für eine Erzählung „elementare Ordnungsbausteine für die Erfahrungsrekapitualion“ 7 bilden.
„Zugzwänge des Stegreiferzählens“8 entstehen an den Passagen, an denen der Erzähler über
keine Erfahrungsvoraussetzungen für die Sinnerschließung verfügt und daher im Erzählfluss
blockiert ist. Weitere Zugzwänge des Stegreiferzählens sind der Zwang zur Schließung der
5
6
7
8
Schütze, 1983, S. 285
Schütze, 1983, S. 285
Schütze, 1984, S. 79 f.
Schütze, 1984, S. 81
10
Gestalt, der Kondensierungs- und der Detaillierungszwang: Anfang, Ende und dazwischenliegender Korpus bilden den Rahmen, innerhalb dessen alle Details sinnvoll repräsentiert werden müssen, so dass die Gestalt der Erzählung geschlossen ist. Die erzählungsimmanente Sequenzialität gibt die zeitlogische Ordnung der Präsentation vor. Als Kondensierungszwang
charakterisiert Schütze den Sachverhalt, dass vergangene Ereignisse von langer Dauer einer
zeitlichen Raffung bedürfen, der Detaillierungszwang ist Ausdruck des Umstandes, dass alle
wichtigen Teilabschnitte und -ergebnisse der Gesamtgeschichte verständlich dargestellt werden müssen.
Verlaufskurven sind nach Schütze lebensgeschichtliche Konstellationen, in der die Ereignisse
den Biografieträger überwältigen, und er auf diese nur noch 'konditionell' reagiert, um einen
labilen Gleichgewichtszustand der alltäglichen Lebensgestaltung zu erreichen. 9 Schütze zufolge besteht eine empirisch fundierte Prozessstruktur von Verlaufskurven: Auf die Stationen
des Aufbaus eines Verlaufskurvenpotentials folgt die Grenzüberschreitung von einem intentionalen zu einem konditionellen Aggregatzustand sozialer Aktivitäten. Finden und Bewahren eines labilen Gleichgewichts werden abgelöst von einem Trudeln, einer Entstabilisierung
der Lebenssituation, von einem Orientierungszusammenbruch und anschließender theoretischer Verarbeitung sowie der handlungsschematischen Bearbeitungs- und Entkommensstrategie.
9 vgl. Schütze 1984, S. 92
11
4.2
Die objektiv - hermeneutische Einzelfallrekonstruktion
„Die Problemlandschaft ändert sich schlagartig, sobald wir uns von der Kategorialität des
subjektiv gemeinten Sinns als der einzig denkbaren Fassung von Normalität und Sinnstrukturiertheit trennen und eine eigenlogische Realität von objektiven Bedeutungen und Sinnzu sammenhängen konzipieren, die nicht durch psychische Operationen oder eine subjektive
innerpsychische Realität, z.B. durch subjektiv - reflexive Operationen erzeugt ist, sondern
durch Regeln mit algorithmischem Status.“ (Oevermann 1999)
Den Mittelpunkt des Forschungsinteresses der objektiven Hermeneutik bilden latente, dem
Texterzeuger nicht bekannte und jenseits seiner Meinung von sich liegende Strukturen. Wie
schon beim narrativen Interview, ist das Konzept der Sequenzialität von grundlegender Bedeutung. Demnach ist das Verhältnis der Sequenzialtität von Lebenspraxis und der sequenzanalytischen Textrekonstruktion ein homologes. Die Rekonstruktion nimmt Bezug auf die
wirklichkeits- und die texterzeugenden Regeln, das Regelwissen bildet eine Stütze für die Explikation von Textbedeutung. Aus objektiv-hermeneutischer Sicht sind die Handlungsspielräume einer je konkreten Lebenspraxis durch Regeln gesetzt. Bereits die Welt sozialer Regeln
bestimmt Möglichkeiten und Folgen einer Handlung, nicht erst die Lebenspraxis. Die Struktur, die sequenzanalytisch rekonstruiert wird, formiert sich mit der Nicht-Zufälligkeit der Selektionen innerhalb der Handlungsoptionen; diese selbst folgen einer Struktur. Das Spezifische und das Charakteristische der Auswahl innerhalb der durch Regelgeltung bestimmten
Optionen ist kennzeichnend für die Lebenspraxis und bildet die Fallstruktur.
Universelle, da in ihrer Geltung nicht kritisierbare Regelkomplexe sind nach Oevermann:
•
die universellen und einzelsprachspezifischen Regeln der sprachlichen Kompetenz,
•
die Regeln der kommunikativen oder illokutiven Kompetenz (Universalpragmatik),
•
die universellen Regeln der kognitiven und moralischen Kompetenz.
Für die interpretatorische Praxis bilden die Prinzipien objektiv-hermeneutischer Interpretation10 eine Brücke zwischen Methode und Methodologie.
(1) Kontextfreiheit: Die kontextfreie Interpretation, als erster und vorläufiger Interpretationsschritt, wendet sich dem Text in der Haltung „künstlicher Naivität“ zu. Um eine Zirkularität durch Kontextbezogenheit zu vermeiden, wird methodisch bewusst Wissen um den Forschungsgegenstand ausgeblendet. Nach dieser ersten Form der Bedeutungsexplikation erfolgt nachgeordnet die Kontextuierung, so dass diese beiden Dimensionen der Interpretation analytisch voneinander unabhängig sind11.
10 die folgende Zusammenfassung interpretatorischer Prinzipien basiert auf Wernet, 2000
11 vgl. Bauer, 2007, S. 25
12
(2) Wörtlichkeit: Gemäß des objektiv-hermeneutischen Theorems der „Textförmigkeit sozialer Wirklichkeit“ fordert das Prinzip der Wörtlichkeit, den Text mit einer Exaktheit zu untersuchen, die in alltäglichen Kontexten des Verstehens inadäquat wäre. Zur Erläuterung führt
Oevermann Freuds Untersuchungen zu Fehlleistungen an, bei denen es um Bedeutungsexplikationen von Differenzen geht, die in einer textimmanenten Gestalt vorliegen und ohne
Vorwissen zum Text wahrgenommen werden können.
(3) Sequentialität: Von besonderer Bedeutung ist das Konzept der Sequentialität, die Logik
der Sequenzanalyse besteht darin, den tatsächlichen Ablauf des natürlichen Protokolls als
eine sequentielle Strukturiertheit zu sehen, deren Einzelakte unter nach gültigen Regeln
möglichst sinnvollen Anschlüssen getroffen worden sind und aus deren Gesamtheit sich die
konkrete Struktur des Gebildes ergibt.
„Konstitutionslogisch ist die Sequentialitäts-Thematik das Schlüsselkonzept einer vor allem
an Mead und Pierce entfalteten Theorie der Entstehung des Neuen, einer Theorie der Lebenspraxis und ihrer Zukunftsoffenheit und einer Theorie der Bildungsprozesse.“ 12
(4) Extensität: Für die Extensität ist ein detailliertes, akribisches Bearbeiten geringer Textmengen charakteristisch. Die methodologische Annahme, dass sich aus protokollierten Ausschnitten sozialer Wirklichkeit ein Allgemeines rekonstruieren lässt, liegt dem Prinzip extensiver Feinanalyse zugrunde. Die Extensität ist begründet in Adornos Begriff der Totalität, der
verdeutlicht, dass keine unvermittelten Einzelphänomene existieren, sondern jedes konkrete
Phänomen in einen allgemeinen Zusammenhang eingebettet ist. Entsprechend der Dialektik
vom Allgemeinen und Besonderen, nach der das Besondere sich erst auf der Folie des Allge meinen bildet, lässt sich für die objektive Hermeneutik formulieren, dass ein soziales Gebilde mit keiner Äußerungsform die Sinnstrukturiertheit verlassen kann. 13
(5) Sparsamkeit: Dem Prinzip Sparsamkeit folgend, werden nur solche Lesarten gebildet, die
ohne weitere Zusatzannahmen zum Fall vom Text erzwungen sind. Dies dient zum einen der
umfangslogischen Begrenzung der (extensiven) Interpretation, forschungsökonomisch wird
mit der vorgenommenen Selektion der Lesarten der Interpret auf den Text verpflichtet. „Das
Prinzip Sparsamkeit bringt den Aspekt der Regelgeleitetheit und Wohlgeformtheit in besonderem Maße interpretationstechnisch zur Geltung. Denn es erlaubt nur diejenigen Bedeu tungsexplikationen, die den Text als regelgeleitetes und wohlgeformtes Gebilde ansehen und
verbietet diejenigen Lesarten, die den Text, ohne dass dieser selbst darauf verweist, als fallspezifisch motivierte Regelabweichung interpretiert.“ 14
12
13
14
Wernet, 2000, S. 27
vgl. Bauer, 2007, S. 29
Wernet, 2000, S. 36
13
5
Interpretation des Fallmaterials
Zur Transkription
Für diese Studie erfolgte die Anonymisierung der personen- und institutionsbezogenen Daten und Orte mit der Intention, deren Sinngehalt weitestgehend zu erhalten. Die objektiven
Daten wurden mittels eines standardisierten Fragebogens erhoben und das Datenmaterial
vollständig transkribiert, unter Kennzeichnung der folgenden auditiven Signale:
Transkriptionszeichen:
(.) Pause ca. 1 Sek;
(..) Pause ca. 2 Sek
(...) Pause ca. 5 Sek;
(Pause) längere Pause
[Lachen] Lachen;
(') Anheben der Stimme
(?) Frageintonation
(,) Absenken der Stimme
unterstrichenes Wort Betonung ;
- Unterbrechung bzw. Neuaufnahme eines
Gedankenganges
14
5.1 Fall 1 Marianne, Selbsthilfekultur als Sinnquelle
Interpretation der objektiven Daten
1950 geboren, wächst Marianne in Uedern auf, einer Kleinstadt am Niederrhein nahe der
holländischen Grenze im Landkreis Kleve. Sie ist Mitglied der katholischen Kirche, vorläufig
gehen wir davon aus, dass Mariannes Zugehörigkeit zur katholischen Kirche nicht mit einer
fundamentalistischen religiösen Haltung verbunden ist, sondern dass aus einer lebenspraktischen Rationalität eine gewisse Distanz zu Positionen der Kirche, wie denen zur Empfängnisverhütung und zur Abtreibung resultiert. Die Herkunftsfamilie der Erzählerin entstammt
dem Kleinbürgertum oder dem Arbeitermilieu, ihr kann nur die Pflichtleistung an Bildung gewährt werden, nach Volksschulbesuch und Lehre ist sie als Wäscheschneiderin tätig. Die IchErzählerin charakterisiert ihre Ausbildung in dem standardisierten Fragebogen zur Erhebung
objektiver Daten als „Lehre + Gesellenbrief“, sie wählt eine unübliche, den Status betonende
Formulierung, sie möchte nicht auf Volksschulbesuch und Lehre reduziert werden. Als Bildungsdefizit verarbeitet und im Verbund mit vorhandenen Ehrgeiz, könnte dieser Umstand
zum Motivator für weitere, unter Umständen „wilde“ Bildungsprozesse im späteren Leben
werden.
Zum Zeitpunkt der Interviewerhebung achtundfünfzig Jahre alt, erlebt die Erzählerin den
Übergang ins Erwachsenenleben in der Zeit, als die Protestbewegung von '68 ihren Höhepunkt erreicht. Da Marianne Kindheit und Jugend in Uedern verbringt, bleiben Einflüsse wie
die der 68er Protestbewegung marginal und medienvermittelt. Einen unmittelbaren Niederschlag dieser Bewegung auf ihr Leben, zum Beispiel in Form eines ausgeprägten politischen
Interesses, der Teilnahme an Demonstrationen gegen die amerikanische Intervention in Vietnam oder dezidierte Positionen zur Emanzipation sind, als vorläufige Hypothese, nicht zu erwarten. Im Jahr der Heirat bezieht das Ehepaar eine gemeinsame Wohnung in Offenbach,
das Motiv für den Umzug ist mutmaßlich die Arbeitsstelle des Mannes. Ein weiterer Umzug
erfolgt achtzehn Jahre später nach Gladenbach in Nordhessen, die nunmehr vierköpfige Familie bezieht dort zu günstigen Konditionen ein Haus. Mit den biografischen Passagen des
Volksschulbesuchs, der Lehre zur Wäscheschneiderin, Berufstätigkeit und einer neunundzwanzig Jahre währenden Ehe, lebt Marianne eine Normalbiografie, die einen jähen Einschnitt durch die Trennung vom Partner erfährt. Die Auflösung der Ehe mündet in einem
Trennungsvertrag mit Unterhaltsregelung, einem Statement beider Ehepartner, mit dem gemeinsam begründeten Mythos formal nicht vollständig zu brechen, ihn aus Gründen der
wechselseitigen Absicherung und wegen der gemeinsamen Kinder in ein kooperatives und
distanziertes Verhältnis zu überführen.
15
Interpretation der autobiografischen Erzählung
Erzählungsgenerierende Eingangsfrage: Ich möchte dich bitten, von deiner Lebensgeschichte unter besonderer Berücksichtigung deiner ehrenamtlichen Tätigkeiten zu erzählen. Welche hat du ausgeübt und übst Du aus, wie bist zu diesen Tätigkeiten gekommen? Was hast
du hierbei für Erfahrungen gemacht und wie nimmst du in der Rückschau dazu Stellung?
Hierbei interessiert mich alles, was dir einfällt und was du erzählen möchtest.
Sequenz 1 Marianne:
Hm, jo. Also das war vor siebeneinhalb Jahren ('), als mein
Mann gesagt hat, er zieht mal aus, er wird sich trennen. (..) Wo mein ganzes Leben von
heut' auf morgen auf den Kopf gestellt war(').
Nach einer kurzen Phase der Einstimmung auf die Interviewsituation, („Hm, jo..“), eröffnet
die Sprecherin ihre autobiografische Erzählung mit dem Ereignis, das zum Auslöser und zum
Katalysator ihres ehrenamtlichen Engagements wurde, sie kommt gleich zur Sache, was den
Schluss nahe legt, dass ihre Erzählintention die einer offenen und geradlinigen Präsentation
ist. Die siebeneinhalb Jahre zurück liegende Trennung vom Lebenspartner markiert einen
gravierenden Einschnitt im Erwachsenenleben der Erzählerin. Der Trennung geht eine über
knapp drei Jahrzehnte geführte Ehe voraus, die Eröffnung der Trennungsabsicht kommt für
die Erzählerin anscheinend unverhofft. Marianne spricht nicht von einem langwierigen Prozess der Auseinandersetzung um Fortbestand oder Scheitern der Ehe, sie schildert vielmehr,
dass ihr von ihrem Mann mehr oder weniger beiläufig eröffnet wird, „er zieht mal aus, er
wird sich trennen.“
2001 folgt nach 29 Jahren Ehe mit zwei gemeinsamen Kindern die Trennung. In der Erzäh lung wird an keiner Stelle von vorausgehenden Schwierigkeiten und Konflikten der Partner
gesprochen, die Trennung wird nicht als Schlusspunkt eines Prozesses des Auseinanderlebens präsentiert, vielmehr als eine überfallartige Eröffnung des Ehemanns, etwa „so, ich
zieh' dann mal aus.“ Dieser Präsentation zufolge besteht in Mariannes Ehe seit längerem
eine massive Kommunikationsstörung. Zwar wäre es möglich, dass Mariannes Partner, über
lange Zeit mit der Ehe unzufrieden, diese Problematik mit sich trug und in einer lakonischen
Weise seine Frau ausschließlich am Ergebnis, der Trennung teilhaben lässt, doch mutmaßlich
gewährt die Erzählerin darüber hinaus keinen Einblick in die der Trennung vorausgehenden
Schwierigkeiten und Konflikte. Marianne gelingt es, Zugzwänge der Erzählung in Bezug auf
die Passagen, die der Trennung voraus gehen zu umschiffen, sie hat gelernt die Geschichte
ihrer Trennung als die einer „spontanen Trennung“ zu erzählen. Möglich auch, dass die Erzählerin jegliche Antennen für die Dynamik der Beziehung zum Ehepartner eingefahren hielt
und allein in der Illusion einer funktionierenden Partnerschaft lebend, von der Trennungsabsicht des Mannes überrascht wurde, wie ihre Schilderung nahe legt. Ein Ende der Ehe war
von ihr nicht als konkrete Option vorgesehen, sie erleidet die Trennung; nicht die beiden
16
Ehepartner trennen sich in Streit oder Einvernehmen, ihr Mann trennt sich und Mariannes
Leben „wird auf den Kopf gestellt“. Vermutlich hat Marianne ihren früheren Beruf lange
nicht mehr ausgeübt, war hauptberuflich Mutter und Hausfrau und ihr Alltag, ihre Ziele sowie die Planung des künftigen Lebens, waren auf dieses Modell zugeschnitten. Insofern
steht sie nun nicht nur ob des Partnerverlustes seelisch am Abgrund, sondern sie muss auch
in einem Akt der Emergenz neue Alltagsstrukturen erzeugen, ihrem Leben neue Impulse und
Ziele geben. Mutmaßlich wird sie mit ihren Kindern gemeinsam in dem 1980 erworbenen
Haus wohnen. Doch Mariannes kann ihr bisheriges Lebensmodell nicht fortsetzen, der Partner ist gegangen und die Kinder werden in den nächsten Jahren altersentsprechend folgen;
nach einer Phase der Trauer um den Verlust, wird sie sich neue Ziele und Aufgaben setzen.
17
Sequenz 2
Und hab' dann per Zufall in der Tageszeitung gesehen, das war gleich die
Woche danach schon, dass es bei der SHK [anonymisiert, Selbsthilfekontaktstelle] eine Gruppe gibt für Trennungs- und Scheidungsbetroffene.
Die faktische Auflösung der Ehe mündet in einer Krise. Für diese Situation einer von der IchErzählerin nicht allein auflösbaren Lebenskrise sind einige Optionen möglich. Der Rat einer
Freundin, die gute Erfahrungen in einer Selbsthilfegruppe gemacht hat, wäre ebenso denkbar, wie die telefonische Erstberatung durch eine Familienberatungsstelle. Als Betroffene
könnte sich Marianne an eine psychologische Beratungsstelle wenden, an einen Pfarrer, an
Profamilia, die Familienberatungen der Diakonie oder der Caritas. Ihre Strategie der Krisenbearbeitung ist das Zufallsprinzip, bei der Lektüre der Tageszeitung stößt sie auf den Artikel
einer Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung und kommt beim Lesen zu der Auffassung,
dass diese Selbsthilfegruppe genau das Unterstützungsangebot ist, dass sie nun braucht. Die
Formulierung „und hab dann per Zufall in der Tageszeitung gesehen, ... dass es bei der SHK
eine Gruppe gibt für Trennungs- und Scheidungsbetroffene“ weist darauf hin, dass bis zu
diesem Zeitpunkt kein Bezug zur Selbsthilfe besteht. Dieser Sachverhalt macht darüber hinaus deutlich, dass die Erzählerin nicht krisenerfahren ist und in ihrer Biografie bisher keine
Experten zur Bearbeitung lebensimmanenter Krisen benötigte. Die Entscheidung für das
Konzept der Selbsthilfe in einer Gruppe Gleichbetroffener basiert auch auf Mariannes
Selbstverständnis, sie will aktiv und gemeinsam mit anderen ihre Krise lösen. Insofern ist
ihre Wahl eine markante Aussage über ihr Selbstkonzept, sie geht ihre Lebensaufgaben aktiv
an und benötigt keine Expertenunterstützung. Der Besuch einer krisenspezifischen Selbsthilfegruppe markiert zugleich einen aktiven Umgang mit den Trennungsfolgen und die Öffnung
für neue soziale Erfahrungen.
Zum Konzept einer Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung
Charakteristisch für Selbsthilfegruppen allgemein ist das Prinzip wechselseitiger, erfahrungsbasierter Hilfe in Abgrenzung zur professionalisierten Hilfe durch Experten. Eine besondere
Qualität bekommt diese Hilfe aufgrund des persönlichen Zugangs jedes Gruppenmitglieds
zur jeweiligen Krise / Erkrankung, hierdurch ist ein hoher Grad empathischen Verstehens
möglich, darüber hinaus werden auch praktische, auf die jeweilige Krankheit bezogene Tipps
gegeben, die in Selbsthilfegruppen als einem krankheitsspezifischen Wissenspool bereitstehen. Die Dauer der Teilnahme an der Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung variiert zwischen einigen Wochen und mehreren Jahren. Der Partnerverlust, als das zentrales Thema
der Trennungssituation, wird bearbeitet, wie auch Problemlagen im Anschluss an die neue
Lebenssituation. Entwicklung neuer Perspektiven, Organisation gemeinsamer Aktivitäten
und gelegentliche Informations- und Beratungsabende zu psychischen, rechtlichen und finanziellen Aspekten der Trennung ergänzen das Konzept dieser Selbsthilfegruppe
Trennung / Scheidung.
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SHK – Selbsthilfekontaktstelle
Die Abkürzung SHK (anonymisiert) steht für Selbsthilfekontaktstelle, einen Typus von sozialen Institutionen zur lokalen / regionalen Unterstützung von Selbsthilfegruppen, die in den
alten Bundesländern vor allem in den Jahren ab 1985 entstanden. Professorin Dr. Rita Süßmuth, Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit a.D., initiierte zu dieser
Zeit ein Modellprojekt zur Etablierung einer Struktur der Selbsthilfeunterstützung. Bundesweit bestehen im Jahr 2007 ca. 270 lokale Selbsthilfekontaktstellen. 15
„Die Selbsthilfelandschaft, die sich in Deutschland bis heute herausgebildet hat, ist sehr dif ferenziert und vielfältig. Vertikale (Organisationen und Verbände) und horizontale Organisationsformen (kleine Selbsthilfegruppen, Selbsthilfekontaktstellen und Netzwerke) sind nicht
immer strikt zu trennen, sondern sie ergänzen sich, bestehen nebeneinander oder gehen ineinander über.“16
Neben den Selbsthilfekontaktstellen und deren Strukturen, den Landesarbeitsgemeinschaften der Selbsthilfe, der Nakos, der Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Unterstützung von Selbsthilfegruppen sowie der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe (BAGSH) sind
es Landes- und Bundesverbände der je spezifischen Erkrankung, die Selbsthilfegruppen unterstützen, informieren und vernetzen. Zum Aufgabenprofil von Selbsthilfekontaktstellen gehört das Bereitstellen von Räumen für Gruppentreffen, von Ressourcen wie Flipcharts, Beamern etc., Beratung, in wie weit der Besuch einer Selbsthilfegruppe im Einzelfall sinnvoll ist,
Unterstützung und Begleitung von Gruppen sowie Neugründungen. Als Teil des Netzwerks
der sozialen Dienste einer Region, nehmen Kontaktstellen die Funktion einer Drehscheibe
wahr, sie stellen Informationen und Adressen, beispielsweise zu Kontaktpersonen bei seltenen Erkrankungen, bereit. Die Aufgaben der Mitarbeiter von Selbsthilfekontaktstellen umfassen weiterhin Beratungen von Gruppen, z.B. bei Konflikten, die Organisation von Gruppengesamttreffen sowie Supervision für Selbsthilfegruppen.
15 Hundertmark-Mayser, 2007, S.43 -45
16 op. cit.
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Sequenz 3
Und da hab' ich bei der SHK [anonymisiert, Selbsthilfekontaktstelle] (')angeru-
fen und die haben mir dann gesagt, dass das für Menschen wär', die also schon länger geschieden oder getrennt wären.
Beim Erstkontakt mit der Selbsthilfekontaktstelle muss Marianne zunächst zur Kenntnis nehmen, dass es Anfänger und Fortgeschrittene in Sachen Trennung und Scheidung gibt. Ihr, als
einer gerade Getrennten, steht die nachgefragte Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung
nicht zur Verfügung. Das Fachpersonal bei Kontaktstellen, das hier Auskunft zur Trennungsgruppe gibt, besteht in der Regel aus Psychologen und / oder Pädagogen bzw. Sozialpädagogen. Aufgabe der Mitarbeiter beim telefonischen Erstkontakt und eventuell anschließendem
persönlichen Beratungsgespräch ist, neben der Information zu den Treffen der jeweiligen
Gruppe, gemeinsam mit dem Hilfesuchenden zu klären, ob diese spezifische Form der
Selbsthilfe im Einzelfall die geeignete Form der Krankheits- bzw. Krisenbearbeitung ist. Die
gegebene Information, dass die Selbsthilfegruppe ausschließlich für Personen mit einem gewissen Abstand zur Trennung offen ist, wirft das Problem auf, welche Hilfe Menschen in der
akuten Phase eines Partnerverlustes erhalten. Als Anschlusssequenzen währen hier mehrere
Varianten denkbar, die Mitarbeiter der Kontaktstelle könnten auf andere Fachdienste verweisen, bei der Selbsthilfekontaktstelle könnte ein Beratungsangebot bestehen oder auch
eine spezifische Selbsthilfegruppe. Es wäre möglich, dass Marianne, frustriert durch diesen
Erstkontakt mit der Selbsthilfe, dieser den Rücken kehrt und sich einer anderen Hilfeform zu wendet, vorläufig gehen wir jedoch davon aus, dass sie ein Angebot einer adäquaten Selbst hilfegruppe erhält und diese auch aufsuchen wird. Sofern keine weitere Hilfeangebote vermittelt werden, wäre die gegebene Beratung und die Eingrenzung der Selbsthilfegruppe auf
Personen, die bereits länger getrennt oder geschieden sind, nur bedingt, basierend auf der
Autonomie der Selbsthilfegruppe, nachvollziehbar.
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Sequenz 4
Es gäb' da aber noch 'ne andere Gruppe ('), diese Montagsgruppe (') und das
wär' so praktisch 'ne Anfängergruppe sach' ich mal und das wär' wohl besser für mich.
Die von der Erzählerin gewählte Form des Konjunktivs verdeutlicht möglicherweise eine gewisse Skepsis gegenüber der Information der Kontaktstellenmitarbeiter, dass der angefragten Selbsthilfegruppen Trennung / Scheidung die Montagsgruppe als der Ort, an dem frisch
Getrennte zusammenkommen, vorzuziehen sei. Zugleich legt dieses Werturteil den Schluss
nahe, dass Marianne heute über gute Kenntnisse der Strukturproblematik von Selbsthilfegruppen zum Thema Trennung verfügt.
Bei dieser Selbsthilfekontaktstelle existieren zwei Selbsthilfegruppen Trennung / Scheidung,
die Montagsgruppe fokussiert die Problemlage im unmittelbaren Anschluss an eine Trennung, das Angebot der zweiten Gruppe ist bezogen auf Menschen mit einem gewissen zeitlichen und emotionalen Abstand zur Trennungssituation. Diese Ausdifferenzierung des Selbsthilfeangebots ermöglicht zwar eine Gruppenbildung, die Menschen in einer eins zu eins
kompatiblen Situation zusammen bringt, ob dies so sinnvoll ist oder ob gegenteilig den „Anfängern“ die Erfahrungspotentiale der „Fortgeschrittenen“ verloren gehen, ist zunächst fraglich. Neben einer hohen Zahl Scheidungsbetroffener, könnten die Motive für ein Splitting der
Selbsthilfegruppen darauf zurück zu führen sein, dass einige Teilnehmer von Selbsthilfegruppen Wert darauf legen, dass die Themen der Treffen weitestgehend mit ihrer Lebenssituati on korrelieren. Insofern der Partnerverlust eine narzisstische Kränkung hervorrufen kann,
reagieren einige Teilnehmer verletzt auf die Wahrnehmung, dass andere Gruppenmitgliedern einen als besser empfundenen Stand in der gemeinsamen Situation haben, seien es
neue Kontakte, neue Partner oder eine bessere Krisenbewältigung. Gelegentlich wollen die
„alten Hasen“ auch nicht mit den Leidenspotentialen frisch Getrennter konfrontiert werden.
„Das wär' so praktisch 'ne Anfängergruppe, sach' ich mal und das wär' wohl besser für mich.“
Die Empfehlung der Fachkraft der Selbsthilfekontaktstelle verweist auf eine Gruppe für Menschen mit geringem zeitlichen Abstand zur Trennung. In dieser Phase sind der Partnerverlust, dessen emotionale Verarbeitung, die Neuorganisation des Lebens sowie möglicherweise der Verlust weiterer sozialer Kontakte zentrale Themen. Mit einem gewissen Abstand
wandeln sich die Themen, materielle Aspekte der Trennung, rechtliche Fragen wie Unterhaltsansprüche werden in der Selbsthilfegruppe diskutiert und gegebenenfalls von hinzugezogenen Anwälten referiert. Gerade in einer Scheidungsgruppe werden intensiv soziale Kontakte gepflegt und neue Partner gefunden. Insofern wird das Gruppensplitting dieser Selbsthilfeeinrichtung wie auch die Beratung der Erzählerin plausibel.
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Sequenz 5
Das war [anonymisiert] bei der Sparkasse in dem Gebäude und da bin ich dann
auch montags hin. Da war das erst (Luft ausstoßen) zwei oder drei Wochen her, wo ich die
Neuigkeit bekommen hatte und em (..) da war der Horst [anonymisiert], der das gemacht
hat, gar nicht da und da war nur einer, der aufgeschlossen hat und eine neue Frau war da
noch.
Dem Interviewerhebenden wird mitgeteilt, dass das erste Treffen in einem Gebäude bei der
Sparkasse stattfand. In der Regel stellen Selbsthilfekontaktstellen Räume für Gruppentreffen
bereit, vermutlich ist die Ortsangabe auf die Gladenbacher Kontaktstelle bezogen. Die Erzählerin bestätigt noch einmal die Schilderung aus der ersten Sequenz, die überfallartige Eröffnung ihres Mannes, dass er sich nun trennen wolle. Noch acht Jahre nach dieser Eröffnung
ruft die Erinnerung eine von Marianne durch starkes Ausstoßen des Atems verarbeitete Belastungsempfindung hervor.
Beim ersten Gruppenbesuch, etwa zwei bis drei Wochen nachdem der Ehemann seine Trennungsabsicht eröffnet hat, ist die Person, die als Moderator oder Leiter der Gruppe fungiert,
nicht anwesend. Die Erzählerin charakterisiert dies mit den Worten, „der Horst, der das gemacht hat...“, die Wortwahl basiert auf ihrer Wahrnehmung von Gruppentreffen. Handelt es
sich hier um einen erfahrenen Mann, der sich für seine Kombattanten in der Selbsthilfegruppe engagiert und so zu einer Autorität in der Gruppe wurde oder ist es eher eine (semi-) professionelle Begleitung von Trennungsprozessen? In den theoretischen Konzepten, auf die
sich Selbsthilfeunterstützung bezieht, wird Wert darauf gelegt, dass Selbsthilfegruppen
Gruppen von Gleichbetroffenen ohne Leitung sind. Diese Konzepte gehen zum Teil zurück
auf die Zeit, als mit der Psychiatrie Enquete von 1975, dem antipsychiatrischen Diskurs mit
Vertretern wie David Cooper, Klaus Dörner, Ronald D. Laing, Erving Gofmann und anderen
sowie Zusammenschlüssen wie der Blauen Karawane für die Auflösung der Großpsychiatrien
gekämpft wurde. Psychiatrieerfahrene Menschen hatten über Jahrzehnte Bevormundungen
durch Experten17 erfahren und dies sollte sich nun nicht noch in Selbsthilfegruppen fortsetzen.
Bei Mariannes ersten Besuch der Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidungs ist von der bestehenden Gruppe nur ein Teilnehmer anwesend, mit der autobiografischen Erzählerin und einem weiteren weiblichen Neuzugang kommen drei Personen zum Gruppenabend zusammen. Dieser erste Abend ist m. E. weniger durch eine strukturierte Gruppenarbeit geprägt,
die beiden Frauen nähern sich einander in der wechselseitigen Schilderung ihrer Ehe- und
Trennungserfahrungen an, sie kommen damit dem oft vorrangigen Bedürfnis der Teilnehmer
von Selbsthilfegruppen nach, ihre Erfahrungen auszutauschen.
17 vergleiche etwa: Ivan Illich, Entmündigung durch Experten
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Sequenz 6
Sonst war da niemand den Abend. Aber das war für mich an dem Abend schon
klipp und klar, das ist meine Gruppe. Da bleib' ich. Mit dieser Frau bin ich noch gleich bis
nachts um zwölf, ein Uhr weg gewesen, dann also.
Hinsichtlich der Rahmenbedingungen, mit denen die Erzählerin ihren Weg in der Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung beginnt, stellt sich die Frage, was Marianne zu dem eindeutigen Votum bewegt, „aber das war für mich an dem Abend schon klipp und klar, das ist meine Gruppe. Da bleib' ich.“ Nach dem ersten Besuch der Gruppe ist Marianne durch die Erfahrung, im eigenen Trennungsleid verstanden zu werden und die Erzählungen der beiden anderen Gruppenteilnehmer zu verstehen, zum Verbleib in der Selbsthilfegruppe motiviert.
Ihre emphatisch vorgetragene Position resultiert auch aus den in der Ehezeit spärlich gewordenen sozialen Kontakten, die sich nach der Trennung noch weiter reduzieren und sich mit
der Trauer um den Partnerverlust zu einer depressiven Stimmungslage verdichten. Hier
greift das therapeutische Potential von Selbsthilfegruppen, Marianne gelingt mit den Kontakten und Gesprächen in der Trennungsgruppe eine Veränderung ihrer Sichtweise. Das Gefühl, als Mensch angenommen und mit ihrer Problemlage verstanden zu werden, wirkt heilsam auf ihre Emotionen und so wird die Gruppe zum archimedischen Punkt einer Umstrukturierung, primär ihrer sozialen Kontakte und sekundär ihrer gesamten Lebenspraxis. Die Parallelität in den Trennungsverläufen der beiden Frauen, möglicherweise auch in weiteren biografischen Segmenten, schafft zusätzliche Nähe, nach der Gruppe verbringen sie den weiteren Abend gemeinsam.
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Sequenz 7
Mit der hab' ich sogar heute Kontakt und - ja gut das em wurden dann da auch
immer 'n paar mehr dann auch, wir waren dann so den Sommer über fünf, sechs, sieben Leute dann. Und das hat sich auch ziemlich schnell gezeigt dann, dass ich so kleinere Aufgaben
übernehmen konnte, ja?
In den nächsten Monaten stabilisiert sich die Trennungs- / Scheidungsgruppe. Marianne ist
nach der Scheidung nicht in ihren Beruf als Wäscheschneiderin zurückgekehrt, sie lebt nun
von Unterhaltsansprüchen und baut ein langfristiges soziales Netz über die Selbsthilfegruppe auf. Nachdem die Kindererziehung nun nicht mehr so zeitintensiv ist und keine sozialen
Kontakte mehr über ein Arbeitsverhältnis bestehen, engagiert die Erzählerin sich in der
Gruppe. „Und das hat sich auch ziemlich schnell gezeigt dann, dass ich so kleinere Aufgaben
übernehmen konnte, ja?“ Die Erzählerin wandert ein in die Kultur der Selbsthilfe, übernimmt zunächst „kleinere Aufgaben“ und diese erst, nachdem sie sich bewährt hat. In dieser
Sequenz spricht Erzählerin von ihrer Sichtweise der Selbsthilfe, davon, dass es schon einiger
Kompetenzen bedarf, um Aufgaben in der Gruppe zu übernehmen. Hier schwingt Respekt
mit vor den Anforderungen des Engagements in der Gruppe, die Erzählerin bewährt sich
„ziemlich schnell“. Mariannes Selbstbewusstsein ist insgesamt nicht stabil, sie dokumentiert
zwar, dass sie jemand ist und etwas kann (vergleiche objektive Daten, Sequenz 5), wirkt jedoch etwas unsicher, wenn die Erwartungen der anderen in Spiel kommen, wie in dieser Passage. Als biografischer Anschluss wäre denkbar, dass Marianne ihr Engagement ausweitet,
eine eigene Trennungsgruppe übernimmt, in einem spekulativen Sinne könnte sie sich auch
ehrenamtlich in einer sozialen Institution, zum Beispiel in der Selbsthilfekontaktstelle, die
ihre Trennungs- Scheidungsgruppe fachlich begleitet, betätigen.
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Strukturhypothese
1950 geboren, wächst die Erzählerin in Uedern am Niederrhein nahe der holländischen
Grenze auf. Marianne lebt mit den biografischen Passagen des Volksschulbesuchs, der Lehre
zur Wäscheschneiderin und einer neunundzwanzig Jahre währenden Ehe eine Normalbiografie. Die Planung der Familie bringt mehrere Umzüge mit sich, der Ortswechsel von Uedern nach Offenbach im Jahr der Heirat ist in der Arbeitssituation des Ehemannes begrün det, zu einem weiteren Umzug nach Gladenbach kommt es achtzehn Jahre später durch die
Möglichkeit, kostengünstig ein Haus zu bewohnen oder zu erwerben.
Selbsthilfe als Medium zur Bearbeitung einer Lebenskrise
Marianne eröffnet ihre Erzählung mit den Worten „Hm, jo. Also das war vor siebeneinhalb
Jahren ('), als mein Mann gesagt hat, er zieht 'mal aus, er wird sich trennen. (..) Wo mein
ganzes Leben von heut' auf morgen auf den Kopf gestellt war (').“
Es handelt sich hier um den freudschen Abwehrmechanismus der Verleugnung, die Realität
einer Beziehungsstörung, die zu der geäußerten Trennungsabsicht führt, wurde geleugnet,
der Sinn der Leugnung ist die Abwehr der Verlustangst und der mit einer Trennung einhergehenden Krise. Mit der Trennung endet eine über knapp drei Jahrzehnte bewährte Routine,
die die gesamte Lebenswelt der Erzählerin ausmacht. Marianne stürzt in eine Krise, sie muss
neben der Verarbeitung des Verlustes in einem Akt der Emergenz neue Strukturen und Perspektiven erzeugen. Diese findet sie in der Selbsthilfegruppe für Trennungs- / Scheidungsbetroffene. Die Entscheidung für das Modell Selbsthilfe gegenüber einer Krisenbearbeitung mit
Expertenunterstützung verweist auf Mariannes Meinung von sich selbst, sie sieht sich als jemanden, der aktiv auf die Lebensanforderungen zugeht, der Probleme gemeinsam mit anderen löst. Die Erzählerin trifft mit ihrem Exmann ein pragmatisches Arrangement, ein Trennungsvertrag mit Unterhaltsregelung ohne Scheidung hebt den gemeinsam begründeten
Mythos nicht vollständig auf und dient der wechselseitigen Absicherung und Steuerersparnis. Den Kindern wird das Fortbestehen eines partnerschaftlichen Verhältnisses signalisiert.
Mit der Trennung wird ihr bisheriger Lebensentwurf obsolet, eigene soziale Kontakte sind in
der Ehezeit wenige geblieben, Freizeitinteressen wie singen, wandern etc. wurden über Jahrzehnte vernachlässigt. Die Erzählerin ist nicht krisenerfahren, in ihrer Biografie hat sie bisher
keine Experten zur Bearbeitung lebensimmanenter Krisen benötigt. Vorherige Erfahrungen
mit Selbsthilfe bestehen nicht, die Entscheidung, die Gruppe Trennung / Scheidung aufzusuchen, der Besuch einer krisenspezifischen Selbsthilfegruppe markiert einen aktiven Umgang
mit den Trennungsfolgen und die Öffnung für neue soziale Erfahrungen.
Das Hauptthema der Erzählung ist der Prozess der Enkulturation in die Selbsthilfe, von dem
Marianne immer wieder Ausschnitte präsentiert, die Teilnahme an der Selbsthilfegruppe
wird zur „Schließung von Zukunftsoffenheit“ (Oevermann). Der Erstkontakt der Erzählerin
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mit der Selbsthilfeguppe ist objektiv ungünstig, Marianne trifft auf eine in ihrer Funktionalität eingeschränkte Kleinstgruppe, dennoch urteilt sie „aber das war für mich an dem Abend
schon klipp und klar, das ist meine Gruppe. Da bleib' ich.“ Dieses von Beginn an positive Verhältnis der Erzählerin zur Selbsthilfe geht mit auf die Defizite zurück, mit denen Marianne
nach der Trennung lebt, die Gruppenteilnahme wird für sie zu einer Erweiterung des Horizonts. Sie verfügt über wenige sozialen Kontakte außerhalb des Familiensystems, hat ihre
früheren Hobbys lange zugunsten des Dienstes an der Familie aufgegeben und kommt nun
mit Menschen in einer vergleichbaren Lebenssituation zusammen, mit denen sie sich empathisch versteht und verbunden fühlt. Nach der Trennung nicht mehr berufstätig, engagiert
sie sich in der Trennungs-/ Scheidungsgruppe und baut sich ein neues soziales Netz auf. Im
Verlust des Partners auf sich selbst verwiesen, entdeckt sie in der Selbsthilfegruppe kommunikative Seiten an sich, die lange nicht gelebt wurden, geht nun auf Menschen zu und ver bringt mit anderen Gruppenmitgliedern gemeinsame Abende beim Kartenspiel.
Selbstpräsentation der Ich-Erzählerin
Die Selbstpräsentation der Erzählerin ist durch ein gelegentliches Overstatement gekennzeichnet, in dem eine Unzufriedenheit mit dem erreichten Status mitschwingt. Ihr Selbstbewusstsein ist nicht stabil, geht es um die Auseinandersetzung mit Erwartungen von anderen,
wie im Falle der Bewährung als Mitarbeitende in der Selbsthilfegruppe, wirkt sie etwas unsicher. Marianne wandert ein in die Selbsthilfekultur, besonders der Scheidungsgruppe, engagiert sich dort, um schließlich längerfristig eine eigene Gruppe übernehmen. Ihre Beschreibung des Prozesses, in dem sie mit dem Modell Selbsthilfe in einer Trennungsgruppe vertraut wird, ist gekennzeichnet durch Respekt vor den Kompetenzen, die diese besondere
Form der Gruppenarbeit bedarf. In ihrer Selbstsicht hat sie diese von der Pike auf gelernt,
zunächst Kontakte gepflegt, später als telefonischer Ansprechpartner zur Verfügung gestanden, dann gelegentlich Treffen moderiert, um schließlich eine eigene Gruppe zu übernehmen. In dem Lebensabschnitt nach der Trennung, die zum Zeitpunkt der Interviewerhebung
siebeneinhalb Jahre zurückliegt, erhält das Engagement in der Selbsthilfe einen Stellenwert,
der weit über das ursprüngliche Anliegen, Unterstützung in einer Lebenskrise zu erhalten,
hinausgeht. Die Motivlage der Erzählerin für ihr langfristiges Engagement in der Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung ist mehrschichtig, ein intrinsisches, selbsterfahrungsbasiertes
Helfen-Wollen sowie eigene Kontaktbedürfnisse sind wichtige Faktoren. Als allein lebende
Frau ohne Berufstätigkeit schöpft Marianne einen Teil ihres Selbstwerts aus der Anerkennung, die sie aus ihrer Rolle als Leiterin der Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung bezieht.
Mutmaßlich legt sie diese quasi-therapeutisch an und sieht ihre Tätigkeit als therapienahe
Lebenshilfe. Vom politisch-gesellschaftlichen Diskurs zum Bürgerschaftlichen Engagement ist
dieser Effekt der Anerkennung, in diesem Fall zur Stärkung des Selbstwertes, nicht nur gewünscht, er wird gezielt gefördert.
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Selbsthilfe als Selbstverwirklichung und Sinnquelle
Zu dem Zeitpunkt, als die eigene Betroffenheit nicht mehr wirksam war, hätte Marianne eine
Neustrukturierung ihrer Freizeit und ihres sozialen Netzes vornehmen können, beispielsweise in einen Gesangsverein gehen und Volkshochschulkurse besuchen; sie wählt stattdessen
ein nunmehr fast achtjähriges Engagement in der Selbsthilfe. Nachdem die Erzählerin in ihrer Ehe als Managerin ihrer Familie für die Belange des Ehemannes und die ihrer Kinder aktiv war, wechselte sie in das Feld der Selbsthilfe. Ihr Motiv ist ein Konglomerat aus Altruis mus, mit dem Gewinn des erfolgreichen Helfens und der Dankbarkeit ihrer Gruppenmitglieder sowie eine reproduzierte Haltung, die die eigenen Bedürfnissen zurückstellt, ein dependentes Verhaltensmuster. In einem gewissen Sinne gelingt der Erzählerin ihre Selbstverwirklichung über das Selbsthilfeengagement.
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Überprüfung der Strukturhypothese
Sequenz 8
Damals sind wir 'mal so 'n bisschen fortgegangen zusammen, da haben wir
noch nicht Karten gespielt, dass wir am Wochenende wenigstens was zusammen gemacht
haben. Wir haben viel telefoniert zusammen, das hab' ich auch immer so 'n bisschen angetrieben, ja ('), den Kontakt eben so ´n bisschen gehalten, ja (').
Telefonisch unterstützen sich die Gruppenmitglieder in Krisen und Alltagsproblematiken. Die
Gruppenabende, Telefonate und gemeinsame Unternehmungen wie Restaurantbesuche und
Kartenspiele füllen einen Teil der Lücke, die unter anderem durch den Partnerverlust entstanden ist. Im Verbund mit gemeinsamen Weihnachts-, Geburtstagsfeiern etc. wird die
Selbsthilfegruppe zum integrativen Medium, ein häufig anzutreffendes und vom Selbsthilfebzw. Selbsthilfeunterstützungskonzept erwünschtes Phänomen in einer Zeit der Vereinzelung. Gelegentlich besuchen Personen themen- bzw. krankheitsspezifische Selbsthilfegruppen, ohne selbst oder als Angehöriger betroffen zu sein, sie bevorzugen diese Gruppe gegenüber Angeboten wie Singletreffs, Seniorenfrühstück oder Frauengesprächskreisen, die
konzeptionell weniger spezifisch und tendenziell offener für die sozialen Interessen der Besuchenden sind. Das beschriebene Amalgam von Teilnehmerbedürfnissen ist typisch für
Selbsthilfegruppen. Mariannes Einstieg in die Selbsthilfearbeit ist das Pflegen von Kontakten,
die Erzählerin schafft sich eine Position im Gefüge der Trennungsgruppe, die sie langsam,
doch stetig ausbaut. Mit der wechselseitigen Unterstützung in Krisen und den gemeinsamen
Aktivitäten erhält die Gruppe eine kooperative Struktur, die deutlich über das Maß an Gemeinschaftsorientierung hinausgeht, wie wir sie beispielsweise in einem Sportverein vorfinden. Ihr Engagement für die Gruppe erfährt die Erzählerin langfristig und über die wechsel seitige Unterstützung zu den Trennungs- / Scheidungsfolgen hinaus als Sinnquelle.
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Sequenz 9
Ich hatt' den Schlüssel nachher ja davon, also (pf..) so dass der Horst ja nicht
immer da sein musste, gell, da konnte ich das dann schon machen auch.
Die Erzählerin wandert ein die Kultur der Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung. Nachdem
sie eine Einsozialisation in die Praxis der Arbeitsmethoden dieser Gruppe erfahren hat, gilt
sie als befähigt, Gruppenabende zu gestalten. Marianne baut ihre Position weiter aus, übernimmt gelegentlich die Moderation an Gruppenabenden und entlastet damit die Person, die
für die Gesprächsführung der Gruppentreffen verantwortlich ist. Die gewählte Formulierung,
„... gell, da konnte ich das schon machen auch“, ist eine Reproduktion der Struktur des
schwankenden Selbstbewusstseins. Deutlich wird aber auch der hohe Anspruch, mit dem
diese Selbsthilfegruppe arbeitet, mit selbstgesetzten Standards, die eine effektive Hilfe für
Betroffene gewährleisten. Marianne, sonst darauf bedacht Selbstbewusstsein zu dokumentieren und zu zeigen, dass sie jemand ist, nimmt sich in ihren hier gewählten Formulierungen
sehr zurück. In diesen schwingt Respekt mit gegenüber den Leidenspotentialen, mit denen
sie in der Praxis konfrontiert ist, wie auch gegenüber den Kompetenzen, die sie in dem
durchlaufenen Prozess von der Selbsthilfeanfängerin zur Expertin in eigener Sache erworben
hat. Ihrem Anspruch und Selbstverständnis zufolge sind diese für die Gruppenarbeit zum
Thema Trennung unerlässlich.
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5.2 Fall 2 Hans, der gestandene Ehrenamtliche
Interpretation der objektiven Daten
Hans, der Erzähler, ist 1944, in der Endphase des Zweiten Weltkrieges, im Jahr der Landung
der Alliierten Truppen in der Normandie, in Bösel in Niedersachsen geboren. Als Kriegskind
erlebt er in Kindheit und Jugend den Mangel an aus heutiger Sicht alltäglichen Gütern. Hans
entstammt einer Handwerkerfamilie, der Vater ist als Zimmermann und Tischler tätig, er
trifft seine Berufswahl im Alter von 15 Jahren, nach achtjährigem Besuch der Volks- und
Hauptschule, im gleichen Milieu. Sechsundzwanzigjährig heiratet er, die Ehe besteht bis zum
heutigen Tag fort. Hans beginnt 1968 als Fahrer für die Deutsche Bahn zu arbeiten, bis zu
seiner vorzeitigen Verrentung ist er dort als Busfahrer tätig. Ohne die Berufsausbildung zum
Maurer ist er 29 Jahre berufstätig, Hinweise auf die Erkrankung, die zur Verrentung führt, er halten wir in den objektiven Daten nicht. Zum Zeitpunkt der Interviewerhebung ist der Erzähler 66 Jahre alt. Hans ist Mitglied der katholischen Kirche, fraglich bleibt zunächst, ob er
dort über die Mitgliedschaft hinaus engagiert ist, an Gebets- und Bibelkreisen teilnimmt, in
einer kirchlichen Gesangsgruppe aktiv ist oder ähnliches.
Der gesellschaftspolitische Kontext während Hans' Adoleszenz, um 1960, war unter anderem
die Unabhängigkeit von siebzehn afrikanischen Staaten von ihren Kolonialmächten; das erste
Sit-in von afroamerikanischen Studenten fand in Greensboro in North Carolina statt. Dem
Mossad gelang es, Adolf Eichmann festzusetzen, in den USA wurde John F. Kennedy zum
Präsidenten gewählt und in der Sowjetunion wurde Leonid Breschnjew Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets. Hans erlebt den Wiederaufbau mit, die Neuorientierung der
Generation seiner Eltern und deren Aufbau neuer Existenzen. Das politische Denken dieser
Zeit war geprägt durch den kalten Krieg, omnipräsent war die Erinnerung an den Bau der
Mauer, die Deutschland teilte. Wettrüsten und Konkurrieren um technische Überlegenheit
bestimmten die Medieninhalte, ein schockartiger Zustand in der westlichen Welt war der
Raumflug von Juri Gargarin, bei dem er 1961 die Erde in 108 Minuten umrundete. Hans'
Start ins Erwachsenenleben findet statt in einer prosperierenden Wirtschaft, den Deutschen
geht es materiell wieder gut, mit dem VW Käfer oder dem Ford 17 M, der „Badewanne“, sind
sie mobil und reisen, bevorzugt noch Italien.
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Interpretation der autobiografischen Erzählung
Erzählungsgenerierende Eingangsfrage:
Lieber Hans, ich möchte dich bitten, von deiner Lebensgeschichte unter besonderer Berücksichtigung deiner ehrenamtlichen Tätigkeiten zu erzählen. Welche hat du ausgeübt und übst
Du aus, wie bist zu diesen Tätigkeiten gekommen? Was hast du hierbei für Erfahrungen gemacht und wie nimmst du in der Rückschau dazu Stellung? Hierbei interessiert mich alles,
was dir einfällt und was du erzählen möchtest.
Sequenz 1
Hans: Gut. Tja, ich hab' angefangen zu lernen, Maurer, 1959. Und eigentlich
wollt' ich Autoschlosser lernen. Aber das war aus rein technischen Gründen nicht machbar.
Mit der Berufsausbildung als Erzählungseinstieg wählt der Erzähler den Beginn seines Erwachsenenlebens, er will uns seine Lebensgeschichte schildern, die er weitgehend entkoppelt von Kindheit und Herkunftsfamilie präsentiert.
Im Anschluss an die Regelschulzeit von acht Jahren Grund- und Hauptschule beginnt der Erzähler eine Ausbildung zum Maurer, wie er sofort betont, war dies nicht sein Wunschberuf.
Bei den angeführten technischen Gründen, die der Autoschlosserlehre im Weg standen,
handelt es sich wahrscheinlich um ein Entfernungsproblem zur potentiellen Ausbildungsstätte, nicht völlig ausgeschlossen ist eine körperliche Einschränkung. In diesen Jahren war es
anders als heute ungewöhnlich, dass Lehrlinge am Ausbildungsort eine eigene Wohnung
nehmen, üblicherweise wohnten die Auszubildenden im Elternhaus. Für tägliche Fahrten mit
öffentlichen Verkehrsmitteln über längere Strecken war kein Geld vorhanden, oft wurde von
dem vergleichsweise schmalen Lehrlingsgehalt ein Kostgeld an die Eltern abgegeben. Pflichten wie das Versorgen von Tieren oder Arbeit am eigenen Land und einem Garten, in dem
Nutzpflanzen angebaut wurden, galten als obligatorisch. Diese Rahmenbedingungen werden
vom Erzähler verdichtet zu „rein technischen Gründen.“
Er entscheidet sich für den als solide geltenden Handwerksberuf. Der Vater war von Beruf
Zimmermann / Tischler, Hans zeigt keine Tendenzen, das Handwerksmilieu, in dem er aufgewachsen ist, zu verlassen. Er scheint mit sich, seiner Familie und der Welt in einem span nungsfreien Verhältnis zu leben, dem mit der Maurerausbildung verfehlten Wunschberuf allerdings trauert er nicht nur nach, wie wir aus den objektiven Daten wissen, beginnt der Erzähler acht Jahre später, 1968, als Berufsfahrer für die Deutsche Bahn zu arbeiten. Im Weiteren, bis zur krankheitsbedingten vorzeitigen Verrentung, ist er als Busfahrer tätig. Mit der
Fahrertätigkeit ist es dem automobil-affinen Hans auf Umwegen gelungen, sein ursprüngliches Berufsziel zu verwirklichen.
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Sequenz 2
Ich hätt' immer außerhalb fahren müsse, von Bösel her und em, das war bei
meine Eltern nicht ganz so gesehen. Also hab' ich dann Maurer gelernt und hab' dann 1962
meine Gesellenprüfung gemacht und war eigentlich mit dem Beruf sehr zufriede'.
Die Formulierung „...das war bei meinen Eltern nicht ganz so gesehen“ ist eine verniedli chende Umschreibung dafür, dass die Eltern den Plänen des Jugendlichen eine klare Ansage
entgegenstellten, etwa „ zwei Stunden Fahrzeit pro Tag und 40 Mark im Monat für die Busfahrkarte, das machst du nicht.“ In den fünfziger und frühen sechziger Jahren betrieben viele
Familien neben der Berufstätigkeit eine kleine Landwirtschaft, überwiegend für den Eigenbedarf. Eventuell war für den Erzähler vorgesehen, vor und nach der Arbeit zu melken, Tiere
zu versorgen etc..
In der Herkunftsfamilie wird Wert auf eine solide handwerkliche Ausbildung gelegt, ein Aufstieg über Bildung ist nicht vorgesehen. Das Veto der Eltern zu einer kosten- und zeitintensiven Fahrt zum Ausbildungsort greift fundamental in Hans' Lebensplan ein. Ein Auflehnen gegen die elterliche Autorität steht als Option nicht zur Verfügung. Der Erzähler betont heute,
dass er mit dem Maurerberuf zufrieden war, er arrangierte sich zunächst mit den berufli chen Fakten, etwa nach dem Motto, „wenn das Leben dir eine Zitrone gibt, mach' eine Limo nade daraus“. Er findet Gefallen an den Tätigkeiten auf dem Bau, erweitert sein handwerkliches Können, in einem Winkel seiner Seele allerdings bewahrt Hans den Wunsch, als KFZMechaniker zu arbeiten. Im Anschluss an die Lehrzeit ist er sechs Jahre als Geselle im erlernten Beruf tätig, um dann sein Berufsziel in einer modifizierten Form zu realisieren. Als Element der Fallstruktur zeigt sich, dass der Erzähler in der Lage ist, flexibel mit widrigen Lebensbedingungen umzugehen. Konflikte, wie im Falle des Vetos der Eltern zur Ausbildung,
werden heruntergespielt bzw. nicht thematisiert. Dieser Umstand kann darauf hinweisen,
dass die Gestalt des Erzählers im Hinblick auf seine Vergangenheit zu weiten Teilen geschlossen ist, dass er auch auf die von den Eltern aufgebauten Hürden ohne Ressentiment zurück blicken kann.
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Sequenz 3
Hab' mich da weitergebildet, hab' dann auch bei de' Zimmerleut mitgearbeitet
und was da alles so dezu gehört. Em, ich war ziemlich (.') vielseitig gewese'.
Der Erzähler teilt uns mit, dass er nicht nur seinen Job durchgezogen hat, sondern mit einer
lernoffenen Haltung gearbeitet hat und neben den Maurertätigkeiten bei den Zimmerleuten
beschäftigt war. Mutmaßlich fand ein Großteil des weiteren Lernens auf dem Bau, „on the
job“ statt, möglicherweise kamen weitere praxisbezogene Lernanteile wie das Lesen von
Bauplänen nach Feierabend hinzu. Der Beruf des Zimmerers oder Zimmermanns ist ein eigenständiger Ausbildungsberuf, die Tätigkeit umfasst sämtliche Holzarbeiten am Bau, wie
das Errichten des Dachstuhls, Innenarbeiten mit Holz sowie das Erstellen kompletter Holzhäuser. Hans wurde im Laufe seiner sechsjährigen Tätigkeit im Baugewerbe zu einem Generalisten, der von seinem Arbeitgeber nach Bedarf an jedem Ort der Baustelle eingesetzt werden konnte. Der Erzähler ist sich dieses Umstands bewusst, in der Rückschau ist er zufrieden
mit der Leistung, die er als Handwerker, im Maurerberuf, erbracht hat. Die Rückschau, die
für den Erzähler im narrativen Interview immanent ist, die Stellungnahme zum eigenen bisherigen Lebensweg, ist beim Erzähler durch eine positive Sicht gekennzeichnet, entsprechend positiv ist auch sein Selbstbild. Dieses positive Bild wird eher beiläufig, mit einer gewissen - natürlichen oder aufgesetzten - Bescheidenheit vermittelt, Hans ist nicht der narzistische Typ, für den das Interview eine passende Gelegenheit ist, seinen Mitmenschen einmal mehr zu verdeutlichen, was er für ein toller Typ ist, er ist eher bodenständig, er weiß
was er kann - und was nicht.
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Sequenz 4
Nachher wollte halt mein innere Trieb doch wieder auf e Auto, entweder Bus
fahren oder LKW fahren, was dann immer gezoge' hat, kam dann immer wieder 'raus.
Hans' Affinität zum Beruf des Kraftfahrers, sein erster Berufswunsch, wird nun umgesetzt.
Seine Vorannahme ist, dass tägliches gewerbsmäßiges Autofahren ihm ein befriedigendes
und sinnerfülltes Arbeitsleben ermöglichen wird. Berufskraftfahrer will Hans sein, LKW- oder
Busfahrer, hierzu wechselt seine Ansicht gelegentlich. Seine Neigung zum Autofahren charakterisiert er selbst zutreffend als „inneren Trieb“, das Autofahren ist libidinös besetzt. Persönliches Ego, Macht und Freiheit sind mit dem Auto verbundene Assoziationen und waren
dies auch zu der Zeit, als Hans seine Berufswahl traf. In den 'Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie' (1905)18 beschreibt Freud, dass die mechanischen Erschütterungen des Eisenbahnfahrens, das Wiegen und Schaukeln, eine Quelle der Sexualerregung seien. M. E. kann
das Eisenbahnfahren in der beschriebenen Art und Weise wirken, wie, in einem hypothetischen Sinne auch das aktive Autofahren sexualisierend sein kann, gekoppelt mit dem Potenzgefühl, der Steuermann dieses Prozesses zu sein. Doch vor allem gilt das Autofahren den
jungen Männern als Symbol der Freiheit, der Geschwindigkeit, einschließlich der Möglichkeit, sich an dieser zu berauschen. Im Sinne Paul Virilios handelt es sich um „rasenden Still stand“, so die Übersetzung des Titels eines seiner Werke und eine Macht- bzw. Gewalterfahrung.
Der Erzähler bewegt sich mit den Prozessen seines Unbewussten, er orientiert sein Leben an
dem, „was immer gezoge' hat.“ Die Wahl der Fahrertätigkeit und das Festhalten am ursprünglichen Berufsziel sind motiviert durch das Lustgefühl, dass ihm das Fahren vermittelt
und das gehobene Selbstwert- und Machtgefühl am Steuer großer Maschinen als Kapitän
der Straße. Eine triebhafte Beziehung zur Geschwindigkeit, zu Auto und Motorrad entwickeln viele junge Männer, sie mutieren zu Hobby-Rennfahrern - „ich will Spaß – ich geb' Gas.“
Hans hingegen integriert seine Liebe zum Fahren, im Sinne einer gewissen Bodenständigkeit,
in seinen berufsbiografischen Entwurf. Möglicherweise ist das Unterwegs-Sein für den Erzähler mit einem Gefühl der Freiheit gegenüber Alltagszwängen und -routinen verbunden. Allerdings werden diese euphorischen Momente der Fahrertätigkeit schnell der Gewohnheit und
dem Stress des Berufs zum Opfer fallen.
18 hier nach Freud, 1982, S. 243
34
Sequenz 5
Und dann hab' ich 1968 angefange' bei der Bundesbahn, zuerst als PKW-
Fahrer, dann als LKW-Fahrer und hab' dann 1969 bei der Bahn meinen Busführerschein
gemacht. Und hab' dann em, von da an gefahren, von 1969 im September bis (')1991,
Omnibus im Linienverkehr.
Mit der Umsetzung des ursprünglichen Berufsentwurfs nimmt Hans seinen biografischen Faden wieder auf. Berufskraftfahrer ist heute ein Ausbildungsberuf mit einer dreijährigen Lehrzeit, Hans schafft den Wechsel in diesen Berufszweig ohne große finanzielle Einbußen, indem er bei der Bahn eine Anstellung als PKW-Fahrer annimmt. Konsequent nutzt er die
Chancen, die gewünschten Qualifikationen zum LKW- und Busfahren über die Bundesbahn
zu erlangen. 23 Jahre, bis 1991, ist er nun als Fahrer tätig, 21 Jahre davon als Linienbusfah rer.
Der Berufsweg wird, nach dem Umweg über die Maurertätigkeit, als eine logische Folge präsentiert – 1) angefange' bei der Bundesbahn, zuerst als PKW-Fahrer, 2) dann als LKW-Fahrer,
3) dann Omnibus im Linienverkehr. Hans betont die Länge seiner Tätigkeit als Busfahrer,
leichtgefallen ist ihm, vermutlich entgegen seiner Vorannahmen, diese Zeit nicht. Der biografische Verlauf zeigt, dass Hans' Berufsplanung realitätsnah war, den einmal angestrebten
Beruf als Kraftfahrer übt er bis zur vorzeitigen Verrentung aus. Wie wir aus den objektiven
Daten wissen, wird Hans nach 29 Berufsjahren vorzeitig verrentet, mit den sechs Jahren
Maurertätigkeit lässt sich der Zeitpunkt auf 1991 datieren. Der Erzähler ist nun 47 Jahre alt,
in den besten Jahren und steht beruflich vor dem Aus. Um was für eine Erkrankung es sich
handelt, wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wir wissen nicht, ob es eine organische,
somatische oder neurologische Krankheit ist, mit Sicherheit handelt es sich um eine schwere, möglicherweise unheilbare Krankheit, deren Verlauf, Behandlung und Verarbeitung Hans
einiges an Kraft abverlangt hat.
35
Sequenz 6
Und das in einem unregelmäßigen Schichtdienst. Das heißt, im Schnitt jeden
Tag eine andere Schicht. Warum das nachher komme ist, warum ich krank geworden bin,
weiß' ich bis heut' net.
Als Zusatzinformation wird eingeführt, dass es sich bei der angesprochenen, aber nicht näher bezeichneten Krankheit um eine neurologische Erkrankung, um Morbus Parkinson handelt. Durch das Absterben von Nervenzellen der Substantia Nigra im Mittelhirn kommt es
zum Ausfall dieses dopaminergenen Systems und in der Folge zu einem Ungleichgewicht der
Funktionen der Basalganglien. Ohne das in der Substantia Nigra produzierten Dopamin fehlt
die aktivierende Wirkung der Basalganglien auf die Großhirnrinde. Die Krankheit wurde erstmals im Jahre 1817 von James Parkinson 19 beschrieben. Kernsymptome des Parkinson sind
Muskelstarre, verlangsamte Bewegungen, bis hin zur Bewegungslosigkeit, Muskelzittern sowie Haltungsinstabilität. Mindestens 40% aller Erkrankten leiden an niedergedrückter Stimmung als einem Frühsymptom, bereits Jahre, bevor die Diagnose gestellt wird.
„Und das in einem unregelmäßigen Schichtdienst. Das heißt, im Schnitt jeden Tag eine
andere Schicht.“
Ein Zuckerschlecken war das nicht, will Hans uns mitteilen, 22 Jahre in einem permanent
wechselnden Schichtrhythmus zu fahren, denn vor allem der tägliche Wechsel des Schichtdienstes bringt eine hohe Belastung für den Organimus mit sich. In der retrospektiven
Erzählung gelangt Hans an einen Punkt, der ihn des öfteren beschäftigt, die Vermutung, dass
es einen Zusammenhang zwischen der Stressbelastung als Busfahrer und dem Ausbruch der
Parkinsonerkrankung geben könnte. Seine Spekulation ist mutmaßlich, dass die Krankheit
bei einer weiteren Tätigkeit im Maurerberuf möglicherweise nicht ausgebrochen wäre. Er
fragt sich, „warum habe ich den Job als Maurer aufgegeben und als Fahrer angefangen, hätte
ich das nicht gemacht, wäre mir vielleicht die ganze Krankheit erspart geblieben.“ Diese
Überlegungen sind insofern nicht völlig von der Hand zu weisen, als nicht eindeutig geklärt
ist, welchen Stellenwert Stress und das Arbeiten im Schichtrhythmus auf die Entstehung von
Parkinson haben könnten.
„Warum das nachher komme ist, warum ich krank geworden bin,weiß' ich bis heut' net.“
Diese Passage ist ein Ausdruck von Hans' tiefem Bedürfnis, einen existentiellen Sinn in der
Erkrankung zu erkennen. Warum bin ich krank geworden, wäre der Parkinson vermeidbar
gewesen, ist die Krankheit selbstverschuldet – wo ist der Sinn, (religiös: die Absicht), dass ich
aus der Bahn geworfen wurde und mein Leben eine neue Richtung erhalten hat? In diese
Richtung könnten Fragen und Überlegungen gehen, die Hans immer wieder aufwirft. Diese
werden dann möglicherweise mit religiösen Bedürfnissen, Sinnbedürfnissen und subjektiven
Werten von Gerechtigkeit (warum gerade ich?) verbunden. Dieses Denkmuster weist eine
depressive Tendenz auf.
19 Parkinson, James : An Essay on the Shaking Palsy (Eine Abhandlung über die Schüttellähmung), 1817
36
Sequenz 7
(') Aber, angefange' mit meine ehrenamtliche Tätigkeite', muss ich noch 'mal
aushole, war seit 1961 etwa, wo ich in Bösel bei die freiwillige Feuerwehr gegange' bin.
Organisierte Feuerwehren gab es bereits im aIten Rom. In Deutschland ist der größte Teil des
Brandschutzes durch freiwillige Feuerwehren abgedeckt. Freiwillige Feuerwehren sind in der
Regel eine Einrichtung der Kommunen, bereits im Mittelalter waren die Gemeinden verpflichtet, einen Brandschutz aufzubauen.
Hans ist siebzehn Jahre jung, als er sein ehrenamtliches Engagement für die freiwillige Feuerwehr beginnt. Der Entscheidung für eine Tätigkeit als Feuerwehrmann haftet die gleiche Bodenständigkeit an, die der Erzähler bei der Berufswahl und dem Wechsel in den gewünschten Job als Berufsfahrer an den Tag legte. Diese Sequenz markiert einen Bruch im Erzählfluss,
Hans möchte an dieser Stelle nicht tiefer in die Geschichte der angesprochenen Krankheit
einsteigen. „Wie ist das gekommen, warum bin ich an Parkinson erkrankt?“ ist das Thema,
dass nun nicht weiter verfolgt wird. Er umschifft diese innere Logik der Erzählung, indem er
Bezug nimmt auf das in der Eingangsfrage formulierte Interesse des Interviewpartners an
ehrenamtlichen Tätigkeiten. Die Formulierung „Aber, angefange' mit meine ehrenamtliche
Tätigkeite'...“ lässt die Vermutung zu, dass bürgerschaftliches Engagement ein mehr oder weniger kontinuierliches Element in der Biografie des Erzählers ist, vielleicht sogar ein konstanter Faktor in von Umbrüchen bestimmten Lebensabschnitten. Davon ausgehend, dass Hans
kein pyromanisches Verhältnis zum Feuer hat, stellt sich die Frage, was den Erzähler zu diesem frühen Einstieg bei der freiwilligen Feuerwehr motiviert, zu einem komplexen Ehrenamt, dessen Praxis nicht nur im Warten auf und löschen von Bränden besteht, zu dem Tätigkeiten wie das Bergen von Unfallopfern, Belastungs- und Brandschutzübungen, instandhalten des Maschinen- und Fahrzeugparks, der Hydranten usf. gehören. Ist es der Wunsch integriert zu sein, im Zentrum einer dörflichen Gemeinschaft zu leben, ist es eine Haltung zur
Gesellschaft im Sinne des Ausspruchs von John F. Kennedy, „frage nicht, was dein Land für
dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst“, die Hingabe an die Gemeinschaft?
War es eine pragmatische Entscheidung, um freie Ressourcen sinnvoll zu nutzen, oder wird
der eigenen Lebenspraxis über das Engagement Sinn verliehen? Der Beginn des bürgerschaftlichen Engagements fällt mit dem Lebensalter von 17 Jahren bei Hans in eine Zeit, in
der Menschen für einen von zweckgebundenen Motiven freien Idealismus offen sein können, in dem, wie in diesem Fall, das integrierende Moment der Tätigkeit und die Präferenz
zu dieser, in einem langjährigen ehrenamtlichen Engagement münden können. Für die Fallstruktur Hans gilt, dass ehrenamtliches Engagement eine biografische Konstante ist, über
das Berufsleben hinaus, Engagement ohne unmittelbare monetäre Interessen ist Bestandteil
von Hans' Selbstkonzept.
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In den folgenden fünf Sequenzen schildert Hans einen Umzug und spricht von seiner aktiven
Zeit bei der freiwilligen Feuerwehr, die er wegen der 1990 diagnostizierten Parkinsonerkrankung beenden musste. Im Folge der Erkrankung wurde Hans frühpensioniert und musste seinen Busführerschein abgeben. Um die Interpretation nicht zu ausufernd werden zu lassen
und diese auf die ehrenamtliche Tätigkeit in der Selbsthilfe und ihre biografischen Bezüge zu
konzentrieren, wende ich mich nun direkt der 12. Sequenz zu.
Sequenz 12
Em ich hab' dann (.) in Gespräche, war depressiv gewese' und diese ganze
Sache wurde dann mit der Zeit ein bissche' viel. Zuhause, jung gewese', mit 46 Jahr'. Und
anschließend, wie soll ich sage, (.) net mehr gekonnt. Konnt' nix mehr schaffe, es ging net
mehr.
In der Frühphase der Erkrankung, im Anschluss an die vorzeitige Pensionierung, gerät Hans
in eine tiefe Krise, einhergehend mit einer Depression. Depressive Verstimmungen treten
bereits im Vorfeld einer Parkinsonschen Erkrankung auf, betroffen sind hiervon 40 % der
Erkrankten. Dass die vom Erzähler angeführten Lebensbedingungen, mit 46 Jahren nur noch
zuhause zu sitzen und nichts mehr arbeiten zu können, zur Krise führen und einen Anteil an
der depressiven Episode haben, ist nicht ungewöhnlich. Bereits die erste Studie zu Folgen
von Arbeitslosigkeit, „die Arbeitslosen von Marienthal“ 20, verdeutlicht, wie Arbeitslosigkeit
zu Krisen, Strukturverlusten und Depressionen führen kann. Als Resümee der damaligen
Situation fasst Hans zusammen: „...net mehr gekonnt. Konnt' nix mehr schaffe, es ging net
mehr.“ Zu der aktuell krisenhaften Situation kommt noch die Perspektive einer zeitlebens
fortschreitenden Parkinsonerkrankung, mit sich weiter verengenden Handlungsspielräumen.
Die Diagnose der Parkinsonerkrankung markiert einen krisenhaften Wendepunkt in der
Biografie des Erzählers, er kommt ins Trudeln, eine Anpassung seiner Alltagsstruktur an die
veränderten Bedingungen gelingt zunächst nicht. Hans erkennt, dass er diese Situation nicht
allein auflösen kann und begibt sich auf die Suche nach Hilfe, zunächst mittels Gesprächen
mit ihm nahestehenden Personen. Mutmaßlich ist er bereits in neurologischer Behandlung,
Parkinsonerkrankte werden in der Regel mit Dopaminagonisten behandelt, Medikamenten,
die bei gravierenden Nebenwirkungen wie Dopamin in der Lage sind, die Dopaminrezeptoren zu stimulieren. Somit wird, falls nötig, eine medikamentöse Behandlung der Depression erfolgen; fraglich ist welche komplementäre Hilfen er noch in Anspruch nimmt,
Psychotherapie, Selbsthilfe? Aufgrund seiner bisherigen Lebenserfahrungen ist der Erzähler
zu diesem Zeitpunkt der Erzählung keinesfalls Experte im Umgang mit der Erkrankung und
ihren Folgen, insofern könnte er hilfesuchend nach jedem angebotenen Strohhalm greifen,
hypothetisch von der Geistheilung über Reiki bis zur Magnetfeldtherapie.
20 Jahoda, Marie / Lazarsfeld, Paul-Felix / Zeisel, Hans: Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer
Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit, 1933
38
Sequenz 13
und äh, was dann dazu kam – äh geführt hat, dass ich em mal bei einer
Selbsthilfegruppe - mir geraten wurde von meiner Schwägerin mal äh, die hat gehört, dass da
ein Vortrag ist über Parkinson und da bin ich dann auch hingegangen.
Die unscharfen Formulierungen zum Beginn dieser Sequenz (... und äh, was dann dazu kam
– äh geführt hat, dass ich em 'mal bei einer Selbsthilfegruppe - mir geraten wurde...)
verweisen darauf, dass der Prozess, der im Gruppenbesuch mündet, für den Erzähler auch
im Nachhinein diffus bleibt. Die jetzige Situation des nunmehr 46jährigen Frührentners
weist Parallelen zum Fall 1, Marianne auf, von einem Tag auf den anderen wird das bisherige
Lebenskonzept hinfällig. Wie schon bei der Fallstruktur „Marianne“ mündet dieser Bruch in
einer Krise, deren Bearbeitung mit Unterstützung einer Selbsthilfegruppe erfolgt. Hans
spricht über die Situation mit Personen in seinem nahen Umfeld, mit Verwandten und
Freunden. Er erhält dann den Rat, bei einer Selbsthilfegruppe einen Vortrag zur Parkinsonschen Erkrankung zu besuchen und kommt über einen eher zufälliger Tipp der
Schwägerin mit einer Selbsthilfegruppe in Kontakt. Diese Gruppe bietet ihm die Möglichkeit,
die Krise der Neuerkrankung mit Gleichbetroffenen zu teilen, zu bearbeiten und sich das
Wissen der „Experten in eigener Sache“ zu Nutze zu machen.
Die Krankheitsbearbeitung ist, wie bei vielen anderen Erkrankten, ein Bildungsprozess zu
Parkinson im Besonderen und Gesundheit und Krankheit im Allgemeinen. Hierüber und über
die Erfahrung einer Solidargemeinschaft in der Selbsthilfegruppe entfaltet sich ein salutogenetisches Potential21, dass dem Neuerkrankten ermöglicht, sich Struktur und eine Perspektive in dieser Lebensübergangssituation zu erarbeiten. Robert Musil schreibt in „ Der Mann
ohne Eigenschaften“: „Die Krankheit selbst kann ein Stimulans des Lebens sein, nur muss
man gesund genug für dieses Stimulans sein.“ Das salutogenetische Potential, das in
Selbsthilfegruppen entfaltet werden kann, ist die Besinnung auf und die Verstärkung der
gesunden Anteile gegenüber Krankheit und Krise. Wird der ehrenamts-affine Hans sich nun
mit einem Engagement in der Selbsthilfe ein neues Betätigungsfeld schaffen?
21 vgl. Antonovsky 1997
39
Sequenz 14
Hab' mich mal schlau gemacht, was das überhaupt is, denn die Neurologen
hier, die ham uns gar net richtig (.) beraten , die ham uns keine Informati..- mir kein
Informationsmaterial gegeben, nichts.
Hans artikuliert eine typische und in jedem Falle berechtigte Patientenklage, die der
mangelhaften Information durch die behandelnden Medizinern. Seiner Schilderung zufolge
gaben ihm die Ärzte nicht viel mehr mit auf den Weg, als die Diagnose und die entsprechende medikamentös-apparative Versorgung. Weder die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft
für Neurologie, noch die entsprechende Patientenleitlinie enthalten Empfehlungen für eine
nicht-medikamentöse, nicht-technische, für eine therapeutische Beratung durch die behandelnden Neurologen. Wünschenswert wäre, dass die Patienten neben einer fachlichen Beratung über die Krankheit und ihren Verlauf, Behandlungsmöglichkeiten und psychosoziale
Folgen, auch Informationsmaterial über Selbsthilfegruppen erhielten. Dieses Beratungsdefizit kompensiert Hans über den Vortrag eines Mediziners und die Informationen der
Teilnehmer der Selbsthilfegruppe. Die Aussage, von den behandelnden Ärzten nicht richtig
beraten und informiert worden zu sein, ist insofern ein Klassiker des Selbsthilfebedarfs, als
dieses Defizit sowie das Gefühl als Erkrankter oder Angehöriger allein gelassen zu werden, in
den siebziger Jahren dazu führte, dass sich Selbsthilfegruppen bildeten, um die Folgen
dieses Mangels zu lindern.
Die Eingangsformulierung der Sequenz, „hab' mich mal schlau gemacht, was das überhaupt
is' ..“, markiert einen Wendepunkt, die kognitive Auseinandersetzung mit den Themen
Parkinson und Depression ist der Beginn eines aktiven Umgangs mit der Krankheit, die
Hinwendung zum salutogenetischen Potential, das dem autobiografischen Erzähler eine
veränderte Sichtweise auf seine Lebenssituation und deren Chancen ermöglicht. Sie
verdeutlicht, dass, aus der Selbstsicht des Erzählers, für ihn relevantes Wissen zur Parkinsonerkrankung und zum Umgang mit dieser in der Selbsthilfegruppe abrufbar war. Als biografischen Anschluss könnte Hans nun neue Aufgaben im Feld ehrenamtlichen Engagements
übernehmen.
40
Sequenz 21
Und so hab' ich dann angefange, die Gruppe zu leiten seit – die Gruppe wurde
gegründet 1997 im Februar und seitdem leite mir jetzt die Gruppe in – erst waren wir beim
Roten Kreuz in Bösel (..) und von dort aus sind wir dann 'rüber gegangen zum Hasen nach
Aumühlen. Und dort sind wir bis heute noch.
Zum Zeitpunkt der Interviewerhebung besteht die Parkison Selbsthilfegruppe Bösel dreizehn
Jahre, der Erzähler gibt an, die Gruppe seit ihrer Gründung zu leiten. Hans möchte mitteilen,
dass die Parkinsongruppe eine Konstante in der Region geworden ist und er selbst eine
Institution als Gruppenleiter. Der Wechsel des Ortes des Gruppentreffens von einer sozialen
Institution (dem DRK) zur Gastronomie (dem Hasen) verweist darauf, dass auf ein gepflegtes
Ambiente und Bewirtung bei den Gruppentreffen Wert gelegt wird. Das vorrangige Motiv für
den Wechsel des Raumes ist vermutlich die Gruppengröße, mit dem Anwachsen der Gruppe
auf möglicherweise bis zu 40, 50 Personen wurde ein größerer Raum notwendig. Die Leitung
der Gruppe ist eine Teamarbeit („...seitdem leite mir jetzt die Gruppe...“), Hans und seine
Ehefrau teilen sich die anfallenden Arbeiten. Auch die Selbsthilfegruppe setzt überwiegend
aus Ehepartnern zusammen, jeweils dem / der Erkranktem und dem Lebenspartner. 22
Mit dem dreizehnjährigen Bestehen der Gruppe ist davon auszugehen, dass die Teilnehmer
hinsichtlich der Komponenten Erfahrungsaustausch und Informationen zur Krankheit, Behandlungs- und Selbsthilfemöglichkeiten gesättigt sind, sodass in der Gruppe die Pflege von
Gemeinschaft und Gemeinsamkeiten, von Grillfesten und Weihnachtsfeiern an Bedeutung
gewonnen haben. Parkinson, als fortschreitende Krankheit und die Neuerkrankten, die sich
der Gruppe anschließen, machen eine regelmäßige Zusammenarbeit der Gruppe mit Fachärzten, zum Beispiel in Form einer Sprechstunde, erforderlich. Beim derzeitigen Informationsstand lässt sich die Selbsthilfegruppe als eine Gemeinschaft, die durch Kontinuität
gekennzeichnet ist, charakterisieren. Wie aus den Sequenzen 17 und 18 hervorgeht (vgl.
Fußnote 22), verändert der Ich-Erzähler das Setting der Gruppe zu einem gemütlichen
Beisammensein bei Kaffee und Kuchen mit Informationsaustausch. Hiermit macht Hans, so
seine Selbstevaluation, gute Erfahrungen, das Gruppengeschehen wird aufgelockert,
wandelt sich von der Sachlichkeit zum Familiären. Insofern ist der Wechsel vom DRK zum
Hasen ein folgerichtiger Schritt innerhalb des Gestaltwandels der Selbsthilfegruppe.
22 Sequenz 17 Da war meine Frau, die war dann schon so weit, dass sie da mitgemacht hat, mir haben dann
Kaffee gekocht in de` Gruppe, haben Kuchen mitgebracht.
Sequenz 18 Und dann wurde das Ganze bisschen aufgelockert, was dann den einzelne Patienten, die – un`
Angehörige, die dabei waren – auch sehr gefallen hat. Und dadurch ist auch die Zugehörigkeit zu de` Gruppe
besser geworden.
41
Zusatzinformation
Was der Erzähler im gesamten Interview nicht thematisiert ist, dass die
bei ihm diagnostizierte Parkinsonerkrankung nach einiger Zeit zum Stillstand kommt. Der
Proband lebt seit Jahren ohne sichtbare Krankheitsfolgen, dieser Sachverhalt hat sein
Engagement für die Parkinsongruppe in keiner Weise gemindert.
Nach Aussagen von Experten ist eine Spontanheilung bei Parkinson nicht möglich, es sei
denn es handelt sich um eine medikamenteninduzierte oder psychogene Form der
Erkrankung. Die Daten von Hans' Biografie geben zunächst keine Hinweise auf den Gebrauch
von Medikamenten wie Psychopharmaka, die Auslöser einer Parkinsonerkrankung sein
könnten. Ebenso wenig spricht der Erzähler von krisenhaften Episoden zu der Zeit seiner
Busfahrertätigkeit. Eine Hypothese wäre, dass der Erzähler unter psychischen Problemen,
insbesondere depressiven Zuständen litt und diese weder damals noch heute thematisiert.
Konsultationen eines Facharztes wegen Symptomen, wie sie bei Parkinson auftreten,
beispielsweise eine Einschränkung der Bewegungsfähigkeit oder ein Tremor, führten in
Verbindung mit diagnostizierten Veränderungen der substantia nigra zur Diagnose Parkinsonerkrankung.
Sequenz 26
jetzt sind's mittlerweile äh (..) fünf Jahr, fünfeinhalb Jahr, wo ich de zweite
Vorsitzende geworden bin, was natürlich schon wieder mehr Arbeit gemacht hat, aber auch –
ich muss sage - es hat sehr viel Spaß auch gemacht.
Hans ist nun als zweiter Vorsitzender des Landesverbandes Parkinson, Leiter einer Selbsthilfegruppe und mutmaßlich als Akteur einiger weiterer Ehrenämter tätig. Mehrfach trifft
der Erzähler, nachdem er Frührenter wurde, biografisch relevante Entscheidungen für ein
ehrenamtliches Engagement bzw. dessen Ausweitung. Mit seinem handwerklichen Können
wäre die Wahl einer kleinen Nebentätigkeit, als Maurer oder Zimmerer, bei Bau- und
Umbauprojekten der Nachbarschaft und des Bekanntenkreises zur Aufbesserung der Rente
eine denkbare Variante, hierfür scheint keine Veranlassung zu bestehen. Mit sechsundsechzig Jahren führt er nun ein aktives, von materiellen Sorgen unbelastetes Leben.
Mit seiner ausgleichenden Art empfahl sich Parkinson-Regionalgruppenleiter Hans als Kandidat für den Landesverband, bei der Entscheidung für ein Amt innerhalb des Verbandes
greift ein Schuss persönlichen Ehrgeizes, er wird künftig nicht nur als regionaler Gruppenleiter wirken, sondern über das Amt zum Spieler auf Landes- und Bundesebene aufsteigen.
Der Tätigkeit als zweiter Vorsitzender des Landesverbandes geht ein Bewährungsmythos
voraus, ein Engagement für den Verband zum Beispiel als Beisitzer, Kassenwart oder
Schriftführer. Das Engagement führt zwangsläufig zu einer Erweiterung des Horizonts, selbsthilfe- und krankheitsrelevante Informationen, die der Erzähler erhält, kommen auch der
Parkinson-Selbsthilfegruppe zugute. Hans lernt andere Gruppen kennen, hat Austausch auf
42
der Bundesebene; der Fokus des ehrenamtlichen Engagements wandelt sich von der
wechselseitigen Selbsthilfe zu einer strukturellen und gesundheitspolitischen Arbeit im
Verband. Das transportierte Bild des Engagements, im weiteren Sinne der Arbeit, ist das
eines ausgewogenen Kompromisses - es ist Arbeit, Belastung, macht aber auch (viel) Spaß.
Der autobiografische Stegreiferzähler ist von der Jugend bei der freiwilligen Feuerwehr an
ein kontinuierlicher ehrenamtlicher Akteur, aus seiner Sicht ist das Ehrenamt eine Tätigkeit,
die gemacht werden muss. Insofern gilt für Hans, dass sein Gesellschaftsverständnis nicht
anfallende Aufgaben an den Staat delegiert, sondern eine Bürgerbeteiligung impliziert. Er
selbst ist bereit, seinen Beitrag zu leisten, ehrenamtliches Engagement ist eine biografische
Konstante seines Lebens. Der Erzähler, in einem traditionellen Wertekanon sozialisiert, übt
seine bürgerschaftlichen Aktivitäten motiviert durch Pflichtgefühl, Leistungsbereitschaft und
eine Ethik sozialen Handelns und Helfens aus. Ein intrinsischer Aspekt der Motivation ist die
ehemalige eigene Erkrankung, die besondere Anteilnahme und Empathie, die aus der
Mitbetroffenheit entstehen.
43
Da zu diesem Zeitpunkt die Strukturhypothese weitestgehend herausgearbeitet ist, wende ich
mich nun der hinsichtlich der Tätigkeit im Landesverband interessanten Sequenz 31 zu.
Sequenz 31
Ich hab ja mal [unverständliches Wort] gesagt, 'ihr seit ja all' besser wie ich,
ihr seit geschulte Leut, ihr habt studiert' und so weiter. Und da sage die immer zu mir „Eins
musst dir merke: Wenn mir dich net hätte, hätte 's schon manchmal mehr gekracht, aus dem
einfache Grund weil (.) du des in Ruhe machst.''
Gegenüber Hans' Selbstbild wirkt das Bild der Verbandskollegen nahezu übermächtig. In
schwarz-weiß Manier entwirft der Erzähler eine Skizze, in der er zwischen den Studierten
und Geschulten, den Besseren und den Anderen, Menschen wie er selbst, unterscheidet. Als
Lebensstil bezeichnet Alfred Adler23 eine psychische Struktur, die Elemente wie Selbstbild,
Bild der Eltern, Bild der Mitmenschen usf. enthält. Diesen Lebensstil bildet das Kind aus,
Adler zufolge ist dieser bereits im Alter von vier bis fünf Jahren deutlich erkennbar. Die vom
Erzähler angeführten übermächtigen Mitmenschen könnten in diesem Sinne auf die
frühkindliche Apperzeption der sozialen Mitwelt zurückgeführt werden. „Und da sage die
immer zu mir...“ verdeutlicht, dass die Kommunikation im Team des Landesvorstands
eingespielt und kalkulierbar ist. Die bereits beschriebene Bodenständigkeit wird nun
gesteigert zu einer strategischen Selbstentwertung. Strategisch wird die Selbstentwertung,
weil ein gewisses Minderwertigkeitsgefühl gegenüber 'den Studierten' durch die provozierte
Reaktion, das massive Lob, kompensiert werden kann. Dem Erzähler wird attestiert, dass
seine Kommunikation und sein ehrenamtliches Engagement nicht durch Emotionen bestimmt sind, dass er ruhig und sachdienlich handelt. Er ist ausgleichend, der ruhige Pol des
Verbandsgeschehens und seine Arbeit wird von den Kolleginnen und Kollegen dafür
geschätzt. Den studienvermittelten Kompetenzen der Kollegen werden die soft skills des
Erzählers, seine sozialen Kompetenzen, gegenüber gestellt. Insofern die Vorstandsarbeit des
Landesverbandes aufgrund von Konflikten der übrigen Vorstandsmitglieder tendenziell
schnell blockiert, sind eher deren Einstellungen und Zielorientierungen interpretationsbedürftig, als die sozialen Fertigkeiten des Erzählers. Hans kann möglicherweise nicht immer
mit relevantem Wissen und klugen Vorschlägen zur Verbandsführung punkten, dies kompensiert er erfolgreich mit seinem moderaten und harmonisierenden Verhalten, hiermit ist es
ihm gelungen, seinen Platz im Vorstand zu finden.
23 Adler, 1990, S. 17 ff.
44
Strukturhypothese
Berufsbiografie und Krankheit
In der Herkunftsfamilie des Erzählers wird Wert auf eine solide handwerkliche Ausbildung
gelegt, ein Aufstieg über Bildung ist nicht vorgesehen. Sein beruflicher Weg ist bestimmt
durch eine libidinöse Beziehung zum Autofahren, gegen elterliche Widerstände und auf Umwegen realisiert er seinen Berufswunsch und ist bis zur vorzeitigen krankheitsbedingten Verrentung als Busfahrer tätig. Der Erzähler bewegt sich mit den Prozessen seines Unbewussten, er orientiert sein Leben an dem, „was immer gezoge' hat.“ Er ist ein bodenständiger Typ,
führt sein ehrenamtliches Engagement bei der freiwilligen Feuerwehr von Jugend an fort bis
zur diagnostizierten Parkinsonerkrankung. Diese tritt im Alter von 46 Jahren auf, ob die Diagnose richtig war und die Krankheit zum Stillstand kam, ob es sich um eine Depression mit
parkinsonähnlichen Symptomen oder um einen medikamentös induzierten Parkinson handelte, ist nicht eindeutig klärbar. In der Folge kommt es zur Krise, die durch eine möglicher weise krankheitsimmanente Depression verstärkt wird, der Autor gerät ins Trudeln. In der
Krise schließt Hans eine Zufallsbekanntschaft mit der Selbsthilfegruppe für Parkinsonkranke
vor Ort, zunächst um dort mangels ärztlicher Beratung entstandene Informationsdefizite
aufzuarbeiten. Er avanciert schnell zum Leiter der Selbsthilfegruppe, übt dieses Ehrenamt
kontinuierlich über mehr als fünfzehn Jahre aus. Ehrenamtliches Engagement ist eine biografische Konstante im Leben des Erzählers, nach dem Krankheitsausbruch imigriert er in die
Selbsthilfekultur, wird zum Leiter der Parkinson – Selbsthilfegruppe und später zunächst
zweiter, dann erster Vorsitzender des Parkinson Landesverbandes Niedersachsen. Insofern
ist es Hans über seine ehrenamtlichen Aktivitäten geglückt, die Weichen für eine gelungene
Lebenspraxis im Alter zu stellen.
Selbsthilfeengagement als Sinn- und Werterfahrung
Die kognitive Auseinandersetzung mit den Themen Parkinson und Depression ist der Beginn
eines aktiven Umgangs mit der Krankheit, die Hinwendung zum salutogenetischen Potential,
dass dem autobiografischen Erzähler eine veränderte Sichtweise auf seine Lebenssituation
und deren Möglichkeiten erschließt. Vom Erwerbsleben und den einhergehenden Sinn- und
Anerkennungsquellen abgeschnitten, öffnet das Feld der Selbsthilfe ihm neue Sinnstrukturen. Im Laufe seines Selbsthilfeengagements erfährt Hans, dass bei ihm kein Parkinson
(mehr) vorliegt, er baut Distanz auf zu den Patienten, die er in seiner Parkinsongruppe betreut. Der Erzähler führt zum Zeitpunkt der Interviewerhebung ein aktives Leben, übt als
sechsundsechzigjähriger mehrere Ehrenämter aus, sein wöchentlicher Arbeitsaufwand entspricht etwa einer halben Arbeitsstelle. Die ehrenamtlichen Tätigkeiten ermöglichen eine
Wende, weg vom Depressiven, vom teilnahmslosen zuhause sitzen, hin zu einem kontinuierlichen Engagement, das zur Quelle von Sinn- und Werterfahrung wird.
45
Seelischer Gewinn – Identitätsgewinn
In der Selbsthilfegruppe wird ein familiärer Umgang miteinander gepflegt, man kennt sich
seit fünfzehn Jahren, feiert regelmäßig Feste, die jeweiligen Lebenspartner sind ins Gruppengeschehen integriert.
Das Engagement in der Selbsthilfegruppe und den Strukturen des Landesverbandes ist die,
nach der Verrentung gewählte Lebensaufgabe des Erzählers. Die Entscheidung für das Amt
auf Landesebene ist mit motiviert durch einen Schuss persönlichen Ehrgeizes, er wird künftig
nicht nur als regionaler Gruppenleiter wirken, sondern über das Amt zum Mitspieler auf Landes- und Bundesebene aufsteigen. Neben einem gewissen Maß an Arbeit, ist sein Gewinn
die Dankbarkeit und Anerkennung, die er von den Mitgliedern der Selbsthilfegruppe und
den Kollegen des Verbandes erhält. Die Aufgaben als Akteur der Selbsthilfeszene, die Kontakte, Reisen und Informationen, sind summarisch ein Identitätsgewinn, der für Hans zwar
eine Bereicherung, aber keine Notwendigkeit darstellt. Im Sinne von Resilienz gelingt dem
Ich - Erzähler über sein Engagement im Feld der Selbsthilfe die Wendung weg von einem de pressiv - apathischen Zustand, dem Lebensgefühl, zu nichts mehr nutze zu sein und nicht
mehr gebraucht zu werden, hin zu den gesunden und starken Anteilen seiner Persönlichkeit.
Als nicht ganz armer Rentner, der bestens in die dörfliche Struktur seiner Gemeinde einge bunden ist und als Familienvater erfährt er auch in einem Alltag ohne Selbsthilfe hinreichend
Beschäftigungsmöglichkeiten und Anerkennung.
46
Überprüfung der Strukturhypothese
Sequenz 27
Weil, man kann dann eh betroffene Regionalgruppenleiter, die einfach nicht
mehr konnte', doch auch schon helfe. Und es war für viele auch ein Vorteil, weil se mich
schon gekannt ham. Ja, nun bin ich seit eineinhalb Jahr de Vorsitzende vom Landesverband.
Die schwarze Acht ist eingelocht, Hans ist Landesvorsitzender des Parkinsonverbandes
geworden. Er vermittelt in obiger Sequenz, in seinem Amt auf der Ebene des Einzelfalls
helfen zu können. Als Landesvorsitzender ist der Erzähler eng in die Arbeit der Deutschen
Parkinsonvereinigung e.V. eingebunden, Gremienarbeiten, Teilnahme an Mitgliederversammlungen des Bundesverbandes sowie Engagement für dessen Projekte gehören zu
seinen neuen Aufgaben. Er ist nun ein bekannter Akteur der Parkinson-Selbsthilfe, verfügt
über hilfreiche Routinen und kennt die Handlungsfelder, wie zum Beispiel die Begleitung von
Forschungsprojekten zu Morbus Parkinson, in denen der Bundesverband und die Landesverbände aktiv sind.
Der Selbstdeutung des Erzählers zufolge ist es nicht für ihn von Vorteil, bereits ein Gros der
Regionalgruppenleiter zu kennen, vielmehr sei dies ein Gewinn der Gruppenleiter, die sich
mit Problemen an eine ihnen bekannte, konkrete Person wenden können. Als 'Regionalgruppenleiter' werden im Parkinsonverband die Kontaktpersonen der Selbsthilfegruppen
bezeichnet. Die an Morbus Parkinson, einer fortschreitenden Erkrankung leidenden
Gruppenleiter sind neben den drei Kardinalsypmtomen, Tremor, Akinese (Verlangsamung
und Minderung der Bewegung) und Rigor (permanent erhöhter Muskeltonus) durch eine
Vielzahl weiterer Symptome belastet, wie Störungen der Mimik, der Haltungsstabilität, der
Sprache und der Feinmotorik sowie psychischen Veränderungen, Demenz, Depressionen und
Halluzinationen. Bei Krisen einzelner Mitglieder und Gruppen, Überforderung und Frustration der Leiter, steht der Landesvorstand als Ansprechpartner zur Verfügung, hilft, gegebenenfalls auch materiell, vermittelt Kontakte, verhandelt für den Einzelfall mit Kliniken und
Rehabilitationseinrichtungen. Hinzu kommen einzelfallbezogene Verhandlungen mit Krankenkassen zur Kostenübernahme von Therapien und Hilfsmitteln, als auch mit den
Pflegekassen der Krankenkassen hinsichtlich der Bewilligung von Pflegestufen und mit
Rentenversicherungsträgern.
47
Sequenz 28
Und diese Arbeit, da hab' ich grad einmal durchgerechnet, in drei Monaten
jeden Tag im Durchschnitt zweidreiviertel Stunde, is e ganz schöne Zeit. Und äh, bin froh,
dass ich es gemacht hab' und is' halt auch e' Verantwortung, des ist nicht von der Hand zu
weise.
Der Erzähler leistet eine Arbeit, die nicht zur Sicherung der eigenen Existenz dient, die primär der Gemeinschaft der Parkinson-Erkrankten zu gute kommt. Diese Konstellation einer
Arbeit, die nicht den materiellen und beruflichen Sicherheitsbedürfnissen (Maslov) dient,
sondern eine unentgeltliche Leistung für Gemeinschaften und Gesellschaft erbringt, charakterisiert das Ehrenamt. Hans spricht zwei Dimensionen seiner Tätigkeit an, den Arbeitsaufwand und die Verantwortung. Die angegebene Arbeitszeit entspricht mit 19,25 Wochenstunden etwa einer halben Stelle, die angesprochene Verantwortung ist, bezogen auf das
Aufgabenprofil von Begleitungen und Interventionen im Einzelfall, mit der Tätigkeit einer
professionellen Kraft, einer Sozial-, Diplom Pädagogin oder Psychologin vergleichbar.
Entsprechend beschäftigen Landes- und Bundesverbände, sofern finanziell tragbar, für diese
Aufgaben eine Fachkraft, gelegentlich allerdings nur als formale Legitimation gegenüber
Geldgebern. Entscheidungen über Interventionsformen behalten sich die Mitglieder der
ehrenamtlichen Vorstände unter Umständen vor.
Hans ist in der Rückschau froh über sein Engagement, neben Anerkennung, Struktur und
Kontakten schöpft er Motivation aus Erfolgen in der Arbeit. Ausgehend vom Krankheitsbeginn, als Hans rat- und tatlos zuhause saß, ohne krankheitsbezogene Selbstkompetenz
und Struktur, wird das Engagement für Selbsthilfe, für Parkinsonpatienten, -Selbsthilfegruppe und -Landesverband, mit einer weiten Vernetzung im Feld der Selbsthilfe, für den
autobiografischen Stegreiferzähler zum Aufschwung in ein aktives, sinnhaftes und erfülltes
Leben im zweiten Lebensabschnitt.
48
5.3 Fall 3 Heide – die Expertin
Interpretation der objektiven Daten
Geboren ist Heide am 1.12.1957 in Köln, der Vater war Exportkaufmann, die Mutter bis zur
Geburt der Zwillinge als Flugbegleiterin tätig, beide Eltern verstarben 1999. Die Familie
gehört dem gehobenen Mittelstand an, die Eltern ermöglichen Heide im Anschluss an
Grundschule und Gymnasium ein Studium, die Erzählerin studiert in Köln Biologie. Nach der
Regelschulzeit nimmt Heide 1977 ihr Studium auf, sie schließt sieben Jahre später, 1984, ab.
Der Studiendauer zufolge nutzte sie ihre Studienzeit als Moratorium, war eventuell für ein,
zwei Semester im Ausland oder pausierte zumindest zwei Semester. Nach dem Studium ist
Heide jeweils für zwei bis vier Jahre, zum Teil in ABM-Maßnahmen, als Biologin tätig,
anschließend seit nunmehr 15 Jahren in einem Landkreis als Sachbearbeiterin für
Naturschutz. Zur Zeit der Datenerhebung ist die Erzählerin 53 Jahre alt. Als Erwachsene
beendet sie ihre Zugehörigkeit zur evangelisch-protestantischen Religionsgemeinschaft,
Heide heiratet 1992. Die Ehepartner trennen sich nach neun Jahren kinderlos, 2001 erfolgt
die Scheidung.
Ihre Adoleszenz erlebt Heide in den siebziger Jahren, während des Übergangs der
Regierungszeit von Bundeskanzler Brandt zu Schmidt. Materiell ging es der Republik gut, es
konnte in den Aufbau von Infrastrukturen wie der von Volkshochschulen investiert werden.
Die Linke in Deutschland war in eine Vielzahl von sich bekämpfenden Gruppierungen zersplittert, ein besonderes öffentliches Interesse galt der Roten Armee Fraktion, zur Zeit von
Heides Adoleszenz besonders den Stammheimer Prozessen oder etwa dem Besuch, den
Jean-Paul Sartrè Andreas Bader in Stammheim abstattete. 1975 wurde die sogenannten
KSZE Schlussakte von Helsinki von 35 am Ost-West-Konflikt beteiligte Staaten unterzeichnet.
Die Konfliktbearbeitung wurde von der militärischen auf eine gesellschaftliche Ebene
gehoben, ein Paket wurde geschnürt, weg von der bipolaren Perspektive des Kalten Krieges
hin zu einer multilateralen Zusammenarbeit.
49
Interpretation der autobiografischen Erzählung
Erzählungsgenerierende Eingangsfrage:
Liebe Heide, ich möchte dich bitten, von deiner Lebensgeschichte unter besonderer Berücksichtigung von ehrenamtlichen Tätigkeiten und Erkrankung zu erzählen. Welche Ehrenämter
hast du ausgeübt und übst Du aus, wie bist zu diesen Tätigkeiten gekommen? Was hast du
hierbei für Erfahrungen gemacht und wie nimmst du in der Rückschau dazu Stellung?
Sequenz 1 Heide: Also. Em, ja. Ich war also ein sagen wir `mal Mensch mit einem relativ,
nach dem allgemeinen Konsens normalen Leben – sprich Mann, em Beruf, erfolgreich, em (..)
Freunde, man is' ausgegangen, em hat Sport getrieben, em verschiedene Interessen verfolgt.
Heide berichtet als Erzählungseröffnung von einem allseits runden und gelungenen Leben in
Gesundheit, dass sie führte und durch Krankheit oder andere widrige Lebensumstände verlor. Hierbei bezieht sie als Akademikerin sich auf die Kriterien eines gesellschaftlichen Konsenses. Consensus im Sinne von Übereinstimmung, Zustimmung geht zurück auf das lateinische con-sentire, das zusammenstimmen, übereinstimmen, zustimmen bedeutet. Das Gegenstück zur politischen Konsenstheorie ist die Pluralitätstheorie, „agree to disagree“ (John
Locke), als deren Vertreter unter anderem Hannah Arendt und als früher Vorläufer Aristoteles gelten. Diese Erzählungseröffnung lässt zum einen erwarten, dass in Kürze die Schilderung eines krisenhaften Verlaufes folgen wird, zum zweiten setzt die Erzählerin intentional
einen ersten Marker hinsichtlich des angestrebten selbstreflexiven Gehalts ihrer Erzählung.
Zugleich transportiert sie ein Selbstbild, dass mit dem Reflexionsniveau und der -verlorenengelungenen Lebenspraxis verknüpft ist und vermutlich im Weiteren bedroht sein wird.
Als Wert wird nicht das geschlechtsspezifische Frau sein betont, sondern das Menschsein,
möglicherweise ein Indiz dafür, dass der Erzählerin menschliche Werte wichtig sind. In dieser
Sequenz schwingt Trauer mit um das normale - gelungene - Leben, dass Heide verlor. „Man
is' ausgegangen, em hat Sport getrieben, em verschiedene Interessen verfolgt.“ Der Normalitätsfolie einer erfolgreichen Lebenspraxis als Akademikerin zu entsprechen, war eine Quelle
des Selbstwertes der Erzählerin, hiervon längerfristig oder dauerhaft abgeschnitten zu sein
bedeutet, dass Heide sich neue Quellen mit positiven Verstärkern ihres Selbstwertes erschließen muss und einen gebrochenen Identitätsentwurf leben wird. Entsprechend der
Idee von Pluralität liegt ein gelungener, allerdings nicht dem landläufigen Konsens einer Normalbiografie entsprechender Lebensentwurf auch vor, wenn dieser beispielsweise Brüche,
Arbeitsplatz-, Orts- und Partnerwechsel beinhaltet, die Pluralisierung von Lebensverläufen
ist ja geradezu ein Kennzeichen des ausgehenden 20. und des beginnenden des 21. Jahrhunderts. Mit einer gewissen Affinität zu postmodernen Lesarten lässt sich im Anschluss an Lyotard sagen, dass eine Vielfalt von Erzählungen und erklärenden Theorien der je einzelnen
Biografien signifikant für diese Epoche sind.
50
Sequenz 2
Ich war nie krank, ich hatte homöopathische - einen Homöopathen und keinen
Hausarzt und war also höchstens `mal erkältet, ich hatte nichts, ich war gesund, sehr sportlich.
Intentional knüpft die Erzählerin an die vorhergehende Sequenz an, sie verkörpert Normalität und Gesundheit, 'ein Hausarzt - wozu, ich nehm' höchstens 'mal bei Erkältungen ein paar
Globoli.' Heide möchte verdeutlichen, wie weit entfernt sie von einem Leben in Krankheit
war, und dass sich ihr Leben mit dem Krankheitsbeginn um 180 Grad wendet. Auffällig ist die
Dopplung, die zur Charakterisierung der Gesundheit verwendet wird, diese soll unterstreichen, dass Heide normal und völlig gesund war, sportlich, dass sie der Folie entsprach, nach
der viele Menschen streben. Die Erzählerin gebraucht den Tempus des Plusquamperfekts,
der mehr als vollendeten Zeit, für die Schilderung ihres Gesundheitszustandes. Entsprechend ist, ausgelöst durch Krankheit und / oder Krise, dieser Zustand eine abgeschlossene
Vergangenheit, mit der die Erzählerin selbst hingegen noch nicht abgeschlossen hat. Mutmaßlich ist Heide nun chronisch erkrankt, Hinweise auf die Art der Krankheit erhalten wir
bisher nicht. Denkbar wäre, dass eine pathologische Gesundheit und Normalität, die der Erzählerin in ihrer Selbstsicht zu eigen war, ein bestehendes krisenhaftes Potential überdecken
soll. Fraglich ist auch, wie objektiv eine Aussage wie „ich war sehr sportlich“ ist. Dieses Attribut, das m. E. zumindest auf regelmäßigen leistungsorientierten Breitensport verweist, wird
unter Umständen von Menschen für sich reklamiert, die in der Woche 45 Minuten auf einem Heimtrainer verbringen oder einen einstündigen Spaziergang in schnellem Schritt ab solvieren und steht hier mutmaßlich für ein gewisses Maß an Bewegung innerhalb eines ge sundheitsbewussten Lebenskonzeptes.
Eckpfeiler des Bildes des Lebens und Heides Strebens sind Normalität und erfolgreiche Lebenspraxis, an diesem Bild hat sie sich abgearbeitet, ihr Leben optimiert; Krankheit und Krise
erfordern nun eine Arbeit am Bild des eigenen Lebens. Heide verabschiedet sich von der
brüchigen Normalitäts- und Erfolgsvorstellung, diese ist nun vollendete Vergangenheit. Eine
Funktion dieses Bildes war eine Verstärkung des Selbstwertes, eine Selbstaufwertung; es
bleibt abzuwarten, ob die Erzählerin nun mit einem gebrochenen Selbstwert weiterleben
wird, oder ob sie andere Wege der Selbstwertstärkung findet. Leicht fällt es der Ich-Erzählerin nicht, sich mit ihrer neuen Lebenssituation anzufreunden, die chronische Krankheit oder
Behinderung, von der sie betroffen ist zu akzeptieren und in ein neues, den jetzigen Möglichkeiten angepasstes Selbstkonzept zu integrieren. Gerade die zunächst hilfreiche Definition über Gesundheit und Erfolg erschwert nun die Anpassung an die geänderte Lebenssituation, an deren Möglichkeiten und provoziert mutmaßlich eine seelische Krise.
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Sequenz 3
Em (.) ja, bis es dann eben zu diesem Zeckenbiss gekommen ist, innerhalb von
zwei Wochen war ich sehr krank, em (.) konnte gar nichts mehr machen, konnt' keine 100
Meter mehr laufen, hatte furchtbare Schmerzen, Bannwarth-Syndrom, also Neuroborreliose
im – die frühe Neuroborreliose, die als solche von Ärzten nicht erkannt wurde. Ich wusste
aber, dass ich Borreliose hab', sie wollten 's nicht behandeln.
Die Erzählerin schildert den dramatischen Verlauf, in dem sie nach dem Biss einer infizierten
Zecke innerhalb von zwei Wochen arbeits- und handlungsfähig wird und von starken
Schmerzen belastet komplett ausfällt. Deutlich wird, was sich bereits in den vorhergehenden
Sequenzen andeutet: Innerhalb kürzester Zeit verändert die Ich-Erzählerin sich von einer gesunden, sportlichen Person zu einem Menschen, der nicht mehr arbeiten kann, nicht belastbar und körperlich nicht mehr leistungsfähig ist. Die Verarbeitung einer derartigen Transformation mit einer Krise ist der Normalfall, hinzu kommt noch, dass die behandelnden Ärzte
dem geschilderten Phänomenen ratlos gegenüber stehen. Die Borrelieninfektion wird mangels richtiger medizinischer Behandlung zu einem markanten Lebensereignis mit weitreichenden Folgen. Wenn zu einer allgemeinen Borreliose eine Hirnbeteiliung hinzukommt,
spricht man von Neuroborreliose, diese ist keine eigenständige Krankheit. Das Krankheitsbild
des Bannwarth-Syndroms umfasst schmerzhafte Entzündung von peripheren Nerven, Nervenwurzeln und Gehirnnerven, insbesonders des Gesichtsnerves Nervus facialis sowie Gelenkentzündungen, aufgrund von Entzündungsreaktionen im Liquor cerebrospinalis, dem sogenannten Nervenwasser. Einige Jahrzehnte nach dem Tod von Alfred Bannwarth konnte die
Genese der von ihm beschriebenen Symptome auf das Borrelia burgdorferi, die Borrelioseoder Lyme Erkrankung zurück geführt werden. Die Lyme-Borreliose wurde 1975 als eigenständige Krankheit erkannt und der Erreger 1981 von Willi Burgdorfer identifiziert. Hautveränderungen, die heute der Infektion durch Borrelia burgdorferi zugerechnet werden, sind
seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bekannt, Beschreibungen hierzu lieferten Buchwald
(1883), von Pick (1884).24
Die Beiläufigkeit, mit der Heide komplexe Zusammenhänge der Borreliose wie das BanwarthSyndrom erläutert, weist darauf hin, dass sie zur Expertin für Borreliose geworden ist, sie hat
sich dem Thema mit aus eigener Betroffenheit gewachsener Hingabe gewidmet. Heide's Erzählung zufolge, war ihr selbst relativ schnell klar, dass sie an Borreliose erkrankt ist, als Biologin und Sachbearbeiterin für Naturschutz ist ihr diese Krankheit nicht fremd, sie kennt Betroffene. Im weiteren Krankheits- und Behandlungsverlauf wird deutlich, dass die Eigendiagnose der Erkrankten richtig war, die behandelnden Ärzte hingegen die Borreliose nicht erkannten. Die Diagnose der Borreliose wird in erster Linie klinisch, nach dem Krankheitsbild,
und nicht nach Laborparametern getroffen, in den ersten Wochen nach einer Infektion können keine Antikörper gegen Borrelienantigene nachgewiesen werden.
24 hier nach Hartmann / Müller-Marienburg, 2010, S. 14
52
„Ich wusste aber, dass ich Borreliose hab', sie wollten 's nicht behandeln.“ Heide konfrontierte die behandelnden Mediziner mit ihrer Eigendiagnose, diese ließen sich jedoch in ihren
Behandlungsstrategien nicht beirren und versäumten so die wichtige Erstbehandlung nach
der Infektion, dies ist in der geschilderten Form eindeutig ein Behandlungsfehler. In der Sequenz wird deutlich, dass Heide gegenüber den Medizinern aufgrund der ihrer Meinung
nach falschen Behandlung verletzt ist, mutmaßlich ist die Haltung der Erzählerin gegenüber
den sie behandelnden Ärzten nach dieser Erfahrung und ihrer Verarbeitung die einer ausgeprägten Skepsis, möglicherweise kritisch bis hin zur Entwertung.
53
Sequenz 4
Man hat solang' gewartet, nach zwölf Wochen wurden dann 'mal Tabletten
gegeben, heute weiß ich, dass man hätte gleich Infusionsbehandlung machen müssen, dann
wär' ich gesund geworden, nun hat man das aber nicht gemacht.
„Man hat solang' gewartet, nach zwölf Wochen wurden dann 'mal Tabletten gegeben..“ Diese Sequenz liest sich so, als hätten die Ärzte zwölf Wochen in einer diagnostischen Unsicherheit verharrt, nicht wissend, auf welche Krankheit hin sie behandeln sollen. Als Hypothesen
wie die einer psychosomatischen Ursache unwahrscheinlicher wurden, entschlossen sie sich,
nun versuchsweise mit Antibiotika gegen Borreliose zu behandeln. Der Wissensstand von
Ärzten zu Lyme / Borreliose ist überaus heterogen. Das Spektrum umfasst Spezialisten, Allgemeinmediziner mit einem eher begrenzten Wissen zu Erkrankung und Behandlungsmöglichkeiten sowie Ärzte, denen zu Folge es eine Borrelioseerkrankung nicht gibt. Eine S3 Leitlinie
zu Lyme / Borreliose besteht noch nicht, ihr Erscheinen ist für 2013 angekündigt. Hierbei ist
Lyme-Borreliose im ICD-10-GM Diagnosethesaurus unter A 69.2 „Lyme-Krankheit, Erythema
chronicum migrans durch B. Burgdorferi und unter M 01.2 „Arthritis bei Lyme-Krankheit“ 25
verzeichnet, seit etwa 2008 besteht eine Leitlinie der deutschen Borreliose Gesellschaft, darüber hinaus existieren zwei S1 Leitlinien, mit einem geringeren Grad an Evidenz, von der
Deutschen Dermatologischen Gesellschaft und von der Deutschen Neurologischen Gesellschaft.
Zwei zentrale Botschaften der Erzählerin sind, dass sie besser als die behandelnden Ärzte
über Borreliose informiert ist, und dass diese sie kontinuierlich falsch und verspätet behandelten. Hierzu lassen sich zwei sich nicht gegenseitig ausschließende Lesarten bilden. Die
eine wäre, dass die medizinische Behandlung in der Tat von Beginn an fehlerhaft war und die
Erzählerin zur Leidtragenden falscher bzw. fehlender Diagnostik und einer zögerlichen Behandlung wurde, dass ihre Sicht von sich als Borreliose-Expertin mit einem Wissensvorsprung gegenüber den behandelnden Ärzten richtig ist. Die zweite Deutung knüpft an die in
Sequenz zwei aufgeworfene Frage an, welche Wege Heide finden wird, um ihrem Selbstwert,
der durch den Verlust der zentralen Stützen Gesundheit und Erfolg beschädigt wurde, ein
neues Fundament zu geben. Die Definition als Borreliose-Expertin, als Expertin in eigener Sache, die in einer kritischen Rückschau auf die Behandlungsansätze der Ärzte kommentierend feststellt, „ich hätte gesund werden können, das habt ihr mit einer falschen Behandlung verbockt“, könnte zur Lösung der Selbstwertproblematik beitragen. Von Nöten wäre
noch ein Ereignisfeld, in dem die Anerkennung als Borreliose-Expertin reproduziert werden
kann.
25
Diagnostik und Therapie der Lyme-Borreliose, Leitlinien der Deutschen Borreliose-Gesellschaft, Auflage:
Mai 2011, Letzte Überarbeitung: Dezember 2010, Ersterstellung: April 2008,
http://www.borreliosegesellschaft.de/Texte/Leitlinien.pdf
54
Sequenz 5
Em, es kam dann (.) zu schlimmsten neurologischen Symptomen und einem
Rückfall nach der - dem Absetzen dieser Tabletten em, das heißt ich bin dann also in der UniKlinik [anonymisiert] gelandet, bin an Tropf gehängt worden, mit zu wenig Mitteln, das weiß
ich heute.
Der Schilderung Heide's zufolge scheitert die Krankheitsbehandlung kontinuierlich. Die Suche nach einem erfolgreich behandelnden Arzt wird zur Odysee. Die ausgesetzte medikamentöse Behandlung, wie auch die Infusionstherapie, scheinen auf das Krankheitsbild Borreliose abgestimmt zu sein. Die geschilderten Behandlungsmethoden hinterlassen allerdings
den Eindruck, als ob die Ärzte nach dem Credo behandeln: Es könnte Borreliose sein, wir behandeln versuchsweise und mit reduziertem Einsatz von Mitteln hierauf, um zu sehen, wie
die Patientin darauf reagiert.
Als neurologische Symptome werden im Allgemeinen die Folgen von Funktionsstörungen
der Nerven bezeichnet. Im Kontext von Neuroborreliose ist eines der häufigsten Symptome
die so genannte periphere Facialisparese. „Weitere Erkrankungen des peripheren Nervensystems im Rahmen einer Borreliose sind die Polyneuritis, die Polyradikulitis und die Polyneuro pathie. Ein in der neurologischen Praxis sehr häufig vorkommendes peripheres Symptom ist
das Carpaltunnelsyndrom sowie das Sulcus ulnaris Syndrom und die Polyneuropathie. Auch
das vegetative Nervensystem ist im Falle einer erfolgten Borrelioseinfektion häufig befallen.“26 Über mögliche psychiatrische Symptome, von der vor allem Personen mit einer chronischen Borreliose betroffen sind, äußert sich die Ich-Erzählerin nicht, im Weiteren wird darauf zu achten sein, ob dieses Thema ausgeklammert bleibt und wenn, warum. Der Erzählung
Heide's zufolge war der geschilderte Rückfall bei richtiger Behandlung vermeidbar; ihrer
medizinischen Selbstdeutung nach war es ein Behandlungsfehler, die medikamentöse Therapie zu beenden, die folgende Infusionstherapie sei unterdosiert gewesen. Zu diesem Zeitpunkt ist fraglich, wie die Gestalt der Krankengeschichte geschlossen wird, welchen Grad von
Gesundheit die Erzählerin wieder erreichen kann. Mit ihrer Erzählung bescheinigt Heide den
Ärzten, die sie konsultierte, eine massive Inkompetenz in Sachen Borreliosebehandlung: Die
Krankheit wird nicht erkannt, als Konsequenz erfolgt die Infusionsbehandlung viel zu spät,
als die Infusion gegeben wird, ist diese unterdosiert, in Folge des Absetzens der deutlich
verspätet verordneten Medikamenten kommt es zum Rückfall.
26
Lorenz, 2008, S. 1
55
Sequenz 6
Em, habe dann das Problem gehabt, keine Antikörper zu haben, das heißt, es
war immer fraglich, ob es 'ne Borreliose ist. Die Symptome haben gepasst, ein Drittel der Leute hat das nicht, mit den Antikörpern am Anfang, das weiß ich heute.
Heide teilt uns mit, dass bei ihr, trotz Symptomen, die auf Neuroborreliose verweisen, keine
eindeutige Diagnose erfolgte. Latent schwingt, wie schon in den vorangegangenen Sequenzen, ein Ohnmachtsgefühl mit über die gescheiterte Behandlung und ihre Folgen sowie die
Frage, warum musste mir so etwas widerfahren? Als Borreliose-Expertin weiß die Erzählerin,
dass eine mangelhafte Behandlung der Borrelieninfektion, wie sie ihr widerfuhr, kein Ausnahmefall ist, sondern häufig vorkommt, sie hat ihre Krankheitsfolgen entsprechend eingeordnet und sofern sie sich in der Selbsthilfe engagiert, ist ihr Streben darauf gerichtet, neu
Erkrankten vergleichbare Odysseen zu ersparen. In der Regel sind die Antikörper, auf die
Borreliose-Tests reagieren, in den ersten Wochen nach der Infektion nicht vorhanden. Der
Nachweis von Borreliose spezifischen Antikörpern im Liquor ist nur selten möglich. Im Kontext der vorhergehenden Sequenz stellt sich die Frage, wie gut die Chancen für einen Borreliose-Erkrankten sind, bei nicht vorhandenen Antikörpern auf das richtige Krankheitsbild hin
behandelt zu werden. Die in der vierten Sequenz erwähnte Leitlinie, die zum Zeitpunkt von
Heide's Erkrankung noch nicht erstellt war, gibt heute deutliche Hinweise zur Diagnostik,
nach denen eine Lyme-Borreliose auch in Abwesenheit des Leitsymptoms Erythema migrans
(Wanderröte) und von Antikörpern symptombasiert erkannt werden sollte. Insofern die Erkrankung der Erzählerin um die Jahrtausendwende auftrat und Borrelia burgdorferi von dem
Schweizer Forscher Willy Burgdorfer 1982 erstmals beschrieben wurde, war eine professionelle Behandlung möglicherweise noch nicht lange genug als Standard im Lehrkanon ärztlicher Ausbildungen verankert, um flächendeckend wirksam zu werden.
56
Sequenz 7
Em, ich hab' also diese drei Wochen Behandlung bekommen und danach war
ich eigentlich siech und nicht lebensfähig (,). Em, ich hatte Schwindel, ich konnte 'ne Teetasse
mit zwei Händen nicht heben, ich konnt' keine 100 Meter mehr laufen, mir fielen die Haare
aus em, ich hat überall Schmerzen und ich war furchtbar schwach und müde.
Die Erzählerin fasst die Ergebnisse der Behandlungen, die nun auf das Krankheitsbild Borreliose abgestimmt sind, als „eigentlich siech und nicht lebensfähig“ zusammen, es geht nichts
mehr, im Anschluss ist Heide physisch und psychisch am Boden. Die angesprochenen Symptome Müdigkeit und Schwäche verweisen vermutlich auf das Chronic Fatigue Syndrome,
das als Folge von Lyme-Borreliose auftreten kann. Berufsfähig ist Heide in dem geschilderten
Zustand nicht, die Behandlungsergebnisse kommen für die Patientin einem Niederschlag
gleich, entsprechend impliziert ihre Schilderung eine harsche Kritik an den Gepflogenheiten
der Borreliosebehandlung. Beim Übergang der Borreliose in das chronische Stadium kann es
zu schwerwiegenden lebenslangen Beschwerden, wie rheumaähnlichen Gelenkentzündungen und zu chronischen Entzündungen des Gehirns und des Rückenmarks kommen, unter
Umständen verbunden mit beträchtlichen Störungen des Nervensystems. Für Neuroborreliose gilt, das sich Lähmungen, Bewegungsstörungen und Gefühlsstörungen ähnlich der Multiplen Sklerose entwickeln können27. Vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob von Seiten der behandelnden Ärzte eine Anschlussbehandlung vorgesehen ist, oder, wahrscheinlicher, ob die
Patientin nun in Eigenregie eine Suche nach erfolgreicheren medizinischen Methoden begin nen wird, mit denen sie ihre Gesundheit weitergehend wieder erlangen kann. Zusammengefasst ist die Erzählerin der Auffassung, dass fachliche Inkompetenz der Ärzte bezüglich der
Borreliose-Behandlung ursächlich zu den gesundheitlichen Einschränkungen führt, mit denen ihre Behandlungen abschließt und zu den Langzeitfolgen, die sie in der achten Sequenz
wie folgt darstellt:
„Also normaler Alltag geht, Muskelschwäche ist geblieben, ich kann also, rennen kann ich
nicht, Koordination der Füße geht nicht so gut, em und größere Sportambitionen – also mit
'nem siebzigährigen fitten Rentner im Trainigsraum komm' ich etwa gleich, bin gerad' fünfzig.“
In der Erzählungseröffnung beschreibt sich die Erzählerin als sportliche Akademikerin, glücklich verheiratet, aktiv und vielseitig in der Freizeit. Die Borreliose und die wenig erfolgreiche
Behandlung werden zu einem biografischen Wendepunkt mit gesundheitlichen Folgen, an
denen die Ich-Erzählerin über Jahre arbeiten muss. Rational werden die Krankheitsfolgen akzeptiert, zeitweise trauert Heide ihrem Idealbild der jungen, erfolgreichen und sportlichen
Akademikerin nach („also mit 'nem siebzigährigen fitten Rentner im Trainigsraum komm' ich
etwa gleich, bin gerad' fünfzig.“). Die Minderung von Lebensqualität, die hier beschrieben
27 hier nach: http://www.internisten-im-netz.de/de_borreliose-auswirkungen_314.html,
Herausgeber Bundesverband Deutscher Internisten e.V.
57
wird, ist nach Auffassung der Ich-Erzählerin keine notwendige Folge von Lyme-Borreliose,
vielmehr eine Folge falscher und unzureichender Behandlung.
Der Erzählerin ist es ein tiefes Bedürfnis, jemandem ihre Kranken- und Leidensgeschichte
mitzuteilen, diesem gibt sie im Interview Raum, schildert detailliert ihre Erkrankung, Rückfälle, Behandlungen und Fehlbehandlungen. Daher habe ich mich entschlossen, nun im Text zu
wandern, und speziell Sequenzen, die sich mit ehrenamtlichem Engagement befassen oder
interpretationsbedürftige Auffälligkeiten aufweisen, auszuwählen.
58
Sequenz 10
Em, was sehr deutlich Veränderung gebracht hat, ist dass ich quasi Hellsicht
erlangt hab', wie man das nennt, also das Unbewusste bildhaft sehe, dadurch hat sich das
ganze Leben verändert, weil ich die Dinge anders wahrnehm' wie die andere Menschen und
em damit auch versucht hab' umzugehen und eben nicht äh äh, irgendwo als Bekloppte eingewiesen zu werden.
Eine krankheitsinduzierte Wahrnehmungsveränderung wird von der Ich-Erzählerin als Hellsichtigkeit beschrieben. Beim Begriff des Hellsehers handelt es sich um eine sogenannte
Lehnübersetzung (=wörtliche Übersetzung) aus dem Französischen, von clair-voyant, in die
deutsche Sprache eingeführt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 28 Zunächst kann nicht
geklärt werden ob es sich bei dem angesprochenen Phänomen um „Spökenkiekerei“, das sogenannte zweite Gesicht handelt, die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen und beispielsweise
Krankheit und Tod vorherzusagen oder um nicht-alltägliche Wahrnehmungen wie das Visualisieren von Personen, bevor diese einen Raum betreten oder anrufen. Eine erste Hypothese
wäre, dass eine psychische Instabilität als Bewusstseinserweiterung präsentiert wird. Erschließt sich die Erzählerin, nachdem die Borreliose ihr Leben grundlegend veränderte und
ihr Selbstbild der erfolgreich-sportlichen Akademikerin hinfällig wurde, neue Quellen, wird
eine Indivdualität geschaffen, die Selbstbewusstsein und Einzigartigkeit sichern soll? Heide
gerät in der Folge der Neuroborreliose, die zeitlich mit dem Tod der Eltern und der Trennung
vom Partner zusammenfällt, in eine seelische Krise. Das Unbewusste ist derart überlastet,
dass eine Bewegung entsteht, unbewusstes Material dringt ins Bewusstsein vor, die Filterfunktion ist verändert, durchlässiger. Der Erzählerin gelingt es, die veränderte Bewusstseinslandschaft in ihr Selbstkonzept zu integrieren ohne psychiatrisiert zu werden.
28
Mackensen, S. 178
59
Sequenz 11
Em ich hab' das für mich genutzt, das heißt dass ich em auch damit was ma-
che, in der Persönlichkeitsentwicklung, was sehr viel gebracht hat. Em und ja: Damit ist manches leichter, man weiß zum Beispiel das 'n Antrag abgelehnt wird, weiß man vorher, dann
lässt man ihn gleich liegen, wenn man arbeitsüberlastet is' und hat dann kein Problem. Er
wird dann auch abgelehnt, wird dann auch zurückgezogen.
Die geschilderte mentale Durchlässigkeit wird mythisch überhöht. Die Erzählerin betreibt die
Darstellung des Phänomens als einen Akt von Selbst-Charismatisierung, das geschilderte
Phänomen bedeutet ihr einen sekundären Krankheitsgewinn. Für viele Berufe, wie zum Beispiel Verwaltungstätigkeiten und soziale Arbeit ist typisch, dass die Akteure, in einer notorischen Arbeitsüberlastung lebend, nach Abkürzungs- und Vereinfachungsverfahren suchen.
In diesem Kontext ist die von Heide geschilderte Prozedur der Ablage von Akten bzw. Anträgen zu verorten. Dass die Autorin eine in der Regel stimmige Einschätzung vornehmen kann,
welche Anträge keine Aussicht auf Erfolg haben, könnte eher ein Amalgam aus erfahrungsbasiertem Wissen und Intuition sein, als eine außergewöhnliche Wahrnehmung, insofern
löst sich die angesprochene Hellsichtigkeit zumindest in diesem Punkt auf, zugunsten einer
subjektiven veränderten Selbstwahrnehmung.
Ein Auslöser für die geschilderte Durchlässigkeit des Unbewussten könnte sein, dass dieses
dermaßen belastet ist, dass es sich auf diesem Weg Entlastung schafft. Das, was für gewöhn lich als Intuition bezeichnet wird, präsentiert die Erzählerin als außergewöhnliche Wahrnehmung, über die sie Zugang zu Wissensquellen hat, die dem gewöhnlichen Sterblichen verschlossen bleiben. In diesem Kontext wird es notwendig, sich den Beruf der Erzählerin zu
vergegenwärtigen, sie ist als Sachbearbeiterin bei einem Amt für Naturschutz tätig. Dies bedeutet, dass über ihren Schreibtisch Anträge gehen wie beispielsweise der eines Bauern, der
innerhalb eines geschützten Gebietes einen neuen Unterstand für Pferde errichten möchte.
Eine außergewöhnliche Wahrnehmung wird zum Selektionskriterium zwischen zu bearbeitendem Material und Anträgen von Personen, die nach ihrer Auffassung keine Relevanz besitzen.
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Sequenz 12
Em (.) ja, die Selbsthilfe kam eigentlich zu mir, ohne dass ich das gewollt hab'
eigentlich. Em, nämlich als ich in 's Amt zurückkam, riefen die Leute an. Die Bauern, die Forstwirte, ich bin ja im Naturschutz tätig, das heißt, die ganze Leut' in der Landschaft, die sind
natürlich auch alle krank.
Per Mundpropaganda wird die Erzählerin zu einer telefonischen Anlaufstelle für Borrelioseerkrankte. Die Betroffenen informieren sich bei Heide über Behandlungsmöglichkeiten,
Krankheitsverläufe, lassen sich Ärzte empfehlen und schöpfen im Gespräch neue Hoffnung.
Heide führt aus, dass sie die Position einer ehrenamtlichen Borrelioseberaterin nicht angestrebt hat, ihrer Schilderung zufolge ist ihr diese Rolle ohne nennenswerte eigene Anstrengung zugefallen. Möglicherweise verlief der Beginn des Prozesses, in dem Heide zur Auskunfts- und Beratungsstelle für Borreliosepatienten wurde etwa so, wie in dieser Sequenz
geschildert, sie selbst relativiert mit dem Partikel „eigentlich“ die eigenen Anteile. Die Borre lioseberatungen sind anfangs Teil der eigenen Krankheitsverarbeitung gewesen, weitere Motivatoren sind das Bedürfnis zu helfen und Anerkennung, auch im Sinne von Dankbarkeit. 29
Die Aneignung borrelioserelevanter Inhalte, wie auch der Rollenwechsel von der Erkrankten
zur Expertin, setzen das krankheitsimmanente salutogenetische Potential frei. Heide ist in ihrer Selbstsicht nicht mehr das verzweifelte Opfer ärztlicher Fehlbehandlungen, sie hilft anderen Erkrankten Krankheitssymptome zu deuten und zeigt Wege erfolgreicher Behandlung
auf. Die weitere Dynamik hatte vermutlich die folgende Gestalt: Für sie als Biologin ist die
wissenschaftliche Aneignung des Themas keine große Hürde, sie bildet sich mit der entsprechenden Fachliteratur fort, nimmt Kontakt mit dem deutschen Borreliose und FSME Bund
und mit kooperationsbereiten Ärzten auf und schafft so ein lokales Netzwerk der Borreliosehilfe.
29
vgl. Ricœur, 2006, S. 31 f., die Bedeutungen der franz. Vokabel reconnaître
61
Strukturhypothese
Eine Struktur, die sich durch die ersten 10 Sequenzen zieht, ist Heide's Aussage, dass die
Behandlung ihrer Borrelioseerkrankung ein Prozess des kontinuierlichen Scheiterns ist, mit
akuten Auswirkungen, zumindest einem Rückfall sowie mit chronischen Folgen und
Einschränkungen, denen sie, die einst sportlich-gesunde Frau, heute unterworfen ist. Im
Weiteren verdeutlicht sie, dass aus ihrer Sicht als Borreliose-Beraterin die gescheiterte
Behandlung kein Einzelfall ist, sondern viele mit Borrelien Infizierte betrifft. Im Kontext der
Selbstdarstellung in den Eingangssequenzen, in denen Heide sich als sportliche, erfolgreiche
Akademikerin beschreibt, erfolgreich im Beruf, glücklich verheiratet und mit vielseitigen
Interessen in der Freizeit, wird die Borrelieninfektion zu einem Einschlag ins Leben, dessen
Folgen die Erzählerin zutiefst deprimieren.
Die Borrelieninfektion fällt zeitlich zusammen mit einer biografisch bedingte Krise, ausgelöst
durch den Tod der Eltern, das Scheitern der Partnerschaft und Problemen am Arbeitsplatz.
In der Selbstdeutung wird dieses krisenhafte Potential subsumptionslogisch der Borreliose
zugeschlagen. Zunächst trat 1998 die Neuroborreliose auf, Erkrankung und Tod der Eltern,
wie auch das Auflösen der Partnerschaft fallen in die krisenhafte Zeit des Krankheitsbeginns.
Psychische Probleme im Zusammenhang mit Borreliose, dem Tod der Eltern und der Trennung vom Lebenspartner werden kurz thematisiert und als nicht zur Persönlichkeit gehörig
bewertet. Eine als Hellsicht bezeichnete Krankheitsfolge, eine erhöhte Durchlässigkeit des
Unbewussten, wird als Aspekt von Persönlichkeitsentwicklung gedeutet, die Anwendung
dieses Phänomens als Abkürzungsverfahren von Arbeitsabläufen ist brisant. Eine reproduzierte latente Sinnstruktur sind die Expression von Ohnmacht und Trauer über die
gescheiterte Behandlung und ihre Folgen, eine Anklage der behandelnden Ärzte und die
Frage nach dem Sinn, warum musste mir so etwas widerfahren? Rückfälle und Krankheitsfolgen waren vermeidbar, lautet die Überzeugung der Erzählerin, beide seien direkte
Folgen falscher Behandlung.
Im vorliegenden Fall kommt ein Amalgam zum Tragen, das gelungene Selbsthilfe ausmachen
kann. Der Umgang mit der eigenen Krankheit, der Borreliose, wird zu einer akademisch
fundierten Aneignung von Behandlungsmöglichkeiten und -standards. Die Erzählerin verfügt
diesbezüglich über einen Horizont und Kompetenzen, die manchem Mediziner, der Borreliose-Erkrankte behandelt, gut anstünden. Der Erzählerin gelingt es, ein salutogenetisches
Potential zu entfalten, mit ihrer wissenschaftlich fundierte Aneignung des Themas Borreliose
relativiert sie die eigene Betroffenheit, die nunmehr einen Platz innerhalb des Ensembles
aus fachlichem Wissen, Beratungstätigkeit und Netzwerkarbeit erhält. Insofern ist Heide's
Engagement als Borreliose-Beraterin und Leiterin mehrerer Selbsthilfegruppen für die
Betroffenen ein echter Gewinn. Eine überkritische Haltung gegenüber den Borreliose
behandelnden Ärzten gehört zu den Motivatoren Heide's Beratungstätigkeit. Diese ist
62
intentional darauf gerichtet, die richtigen Weichen der Behandlungen zu stellen. Ein
zentrales Element der Fallstruktur hinsichtlich der Motivatoren des Selbsthilfe-Engagements
ist die Überzeugung der Erzählerin, dass ein beträchtlicher Teil der Borreliose-Patienten
ohne ihre Beratung von den behandelnden Ärzten, wie in ihrem Fall, nicht optimal versorgt
werden kann. Vermutlich erhalten die Erkrankten in ihrer Beratungsgesprächen neben Tipps
zu Einrichtungen und Ärzten detaillierte Verfahrensanweisungen, mit denen sie sich an die
Mediziner wenden können. Insofern leistet die Erzählerin neben dem psychologischen
Aspekt ihrer Beratung einen medizinisch wichtigen Beitrag, zumindest solange, bis sich
optimierte Behandlungsstrategien etabliert haben.
63
Überprüfung der Strukturhypothese
Sequenz 13
Und em, die riefen dann an, „Sie haben 's doch gehabt“, es hat ja jeder mitge-
kriegt, es war ja ein Arbeitsunfall, em „ich hab' so Schmerze, hab' ich des auch?“
Per Mundpropaganda wird auf die Erzählerin als helfende Instanz bei Borreliose aufmerksam
gemacht, Heide's Klientel ist über ihre Erkrankung informiert und fragt nun bei eigener potentieller Borrelieninfektion um Rat, dies ist der Beginn Heide's Enkulturation in die ehrenamtliche Hilfe für Borrelioseerkrankte. „Sie haben's doch gehabt, Sie kennen sich da aus“,
lautet das Motiv von Neuerkrankten, sich an die Erzählerin zu wenden, bei Borreliose besteht ein Informations- und Beratungsbedarf, der nicht durch die behandelnden Ärzte gestillt wird. Die medizinischen Fakten zu Borreliose-Erkrankungen sind unübersichtlich und
können verwirren, ein wichtiges Bedürfnis ist, über die medizinische, akademische Information und die Klärung dieser Fakten hinaus, eine gewisse Hilfestellung und Begleitung in dieser individuellen Notsituation zu erhalten.
Die Interventionen und Ratschläge der Erzählerin werden von den Ratsuchenden als hilfreich
erfahren, ausschließlich per Mundpropaganda und ohne institutionellen Rückhalt verbreitet
sich die Information über ihr Angebot, Hilfestellung zum Umgang mit einer Borrelieninfekti on zu geben. Die Erzählerin wird gefordert, Symptome zu deuten und Auskünfte zu Behandlungsformen und -abläufen zu geben. Sie nimmt ihre neue Aufgabe an, ist auskunftswillig,
beschäftigt sich intensiv mit Literatur zu Borreliose und beginnt ihre Beratungsgespräche zu
systematisieren und zu optimieren.
64
Sequenz 14
Und ich hat' Literatur äh mir zusammengesucht, ich hatte mir äh verschiede -
ne Symptome selbst erklärt, die mir die Ärzte halt nicht erklären konnten, em hab' auch wis senschaftlich dann mit Dr. [anonymisiert] zusammen haben wir das wissenschaftlich alles
auch em aufgearbeitet.
Deutlich wird, wie die Erzählerin sich das Thema Borreliose und ihre neue Rolle als ehrenamtliche Borreliose-Beraterin zu eigen macht, im Prozess der Aneignung vollzieht sich der
Perspektivwandel über die eigene Betroffenheit hinaus zur Expertin. Die medizinische Symptomdeutung bei Borrelieninfektionen ist für Heide nicht eindeutig und lässt Fragen offen,
auf die sie in Kooperation mit einem Facharzt Antworten sucht. Typisch für eine ganze Reihe
der auf ehrenamtlichen Tätigkeiten basierenden Landes- und Bundesverbände zu den verschiedensten Krankheiten ist, dass diese wissenschaftlich fundiertes Material für Neuerkrankte bereitstellen, Hilfen für spezifische Situationen, Krankheitsformen und -stadien 30.
Heide versucht sich zunächst im Alleingang und in Zusammenarbeit mit oben genannten
Facharzt, vermutlich wird sie über kurz oder lang mit dem Deutschen Borreliose und FSME
Bund zusammenarbeiten, sich dort möglicherweise engagieren.
Von wissenschaftlicher Bescheidenheit zeugt die Aussage der Erzählerin nicht, dass sie verschiedene Symptome, zu denen sie weder von befragten Ärzten noch von der vorhandenen
Literatur Deutungshinweise erhielt, in einen eigenen Kontext stellt. Sie präsentiert sich hier
als eine Pionierin der Borrelioseforschung, mit einem Arzt zusammen arbeitet sie wissenschaftliche Fragen zu Borreliose auf. Hiermit ist es der Erzählerin geglückt, ihrem durch die
Erkrankung gefährdeten Selbstbild in einem kompensatorischen Sinn wieder den benötigten
Glanz zu verleihen, sie ist nun nicht mehr die vielseitig interessierte, erfolgreiche und sportli che Akademikerin, sie ist eine Expertin für Borreliose, die Defizite der Borrelioseforschung
aufarbeitet.
30 vgl. beispielsweise den Downloadbereich der Deutschen Alzheimergesellschaft, www.deutsche-alzheimer.de
65
6
Komparative Verdichtung, Kontraste und Konvergenzen
der Fallstrukturen
6.1 Minimaler Kontrast
Fall 1 Marianne, Selbsthilfekultur als Sinnquelle - Fall 2 Hans, der gestandene Ehrenamtliche
Marianne und Hans kommen aus vergleichbaren Herkunftsfamilien, einem Arbeitermilieu,
das ihnen die Pflichtleistungen an Schule und eine anschließende Berufsausbildung ermöglichen kann. Beide Erzähler geraten unverhofft in eine Situation, in der ihr bisheriger Lebensentwurf von einem Tag auf den anderen nicht mehr funktioniert. Dieser biografische Bruch
mündet in einer Krise, in der die Probanden Selbsthilfegruppen zur Bearbeitung ihrer krisenhaften Konstellation nutzen. Der Zugang zur Selbsthilfe ist bei Marianne zum einen das aktive Streben eine Problemlage zu überwinden, zum anderen führt sie die Scheu vor dem Kontakt zu Psychologen und Beratungsdiensten, wie der Frauen- und Familienberatungen der
Träger der freien Wohlfahrt, zur Selbsthilfegruppe. Interessenten der Selbsthilfe sind häufig
motiviert durch die Vorannahme, dort auf Menschen mit dem gleichen Krankheits- und Problemhintergrund zu treffen, zu erfahren, wie es anderen Erkrankten geht, allgemein eine Relativierung des eigenen Schicksals durch die Gruppe zu erfahren und an gemeinschaftlichen
psychoedukativen Prozessen zu partizipieren. Während Marianne auf einen Zeitungsartikel
hin zur Trennungs- / Scheidungsgruppe findet, wird Hans in der Krise von einer Verwandten
auf einen von der Parkinson-Selbsthilfegruppe organisierten Vortrag aufmerksam gemacht.
Zwar liegt der Zeitpunkt des Zugangs zur Selbsthilfe in beiden Fällen mehr als 10 Jahre zu rück, dennoch bleibt festzustellen, dass es besonders im Fall Hans aus Sicht der Selbsthilfeunterstützung wünschenswert wäre, wenn der Neuerkrankte durch die behandelnden Ärzte,
ein Informationsangebot in der Klinik oder spätestens anschließend beim weiterbehandelnden Arzt über das komplementäre Angebot einer Gruppenteilnahme informiert worden
wäre.
Eher zufällig mit Selbsthilfegruppen in Kontakt gekommen, wird im Weiteren die Selbsthilfe
zu einem Weg, der über die eigenen Betroffenheit hinaus fortgeführt wird. Der autobiografische Erzähler wird zunächst Mitglied des Landesverbandes der Parkinson Vereinigung, später Landesvorsitzender. Anders Marianne: In der akuten Krise kommt sie zur Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung, ihr ist am ersten Abend klar, das ist ihre Gruppe, hier bleibt sie,
und nach einer Phase der Einsozialisation wird sie zur Ansprechpartnerin dieser Gruppe.
Ambitionen, sich darüber hinaus ehrenamtlich zu engagieren, beispielsweise in der lokalen
Selbsthilfeunterstützung, sind im Interview nicht aufspürbar, es ist ihre Gruppe, und hier ist
sie geblieben. Der Kontrast liegt insofern in der Reichweite des Engagements, Hans wurde
zum landes- und bundesweiten Akteur, er agiert als Schnittstelle der Informationsweitergabe
zwischen Verband und regionalen Parkinson-Selbsthilfegruppen, ist beteiligt an Entschei-
66
dungsprozessen wie der Unterstützung von Forschungsprojekten zur Erkrankung und aktiv in
der Einzelfallhilfe für Betroffene und Gruppenleiter. Die Hypothese zum Engagement von
Hans, das an anderer Stelle als biografische Konstante charakterisiert wurde, ist, dass er sich,
wie schon bei der Berufswahl, von den Inhalten leiten lässt, die in seinem Unbewussten arbeiten. Diese werden vorläufig als Archetypus des Helfens charakterisiert, in der besonderen
Form von Hilfe, die nicht professionell und als Tauschwert angeboten wird, sondern auf
Wechselseitigkeit basiert.
Gemeinsam ist beiden Fällen, dass ein krisenhaftes Potential durch die Besuche der Selbsthilfegruppen überwunden wird. Diese Konvergenz der beiden Fallstrukturen in Bezug auf
den Verlauf ist von besonderer Bedeutung, zunächst in einer Krise verharrend, wird der
Selbsthilfegruppenbesuch zum Ausgangspunkt der Entfaltung eines salutogenetischen Potentials. Die Gruppenbesuche wirken aktivierend, das ehrenamtliche Engagement stellt positive Strukturen bereit, in denen die Akteure, die nicht mehr an den immateriellen Verstärkern der Arbeitswelt partizipieren, gefordert sind, Anerkennung und eine Anhebung des
Selbstwertes erfahren.
Selbsthilfegruppen, die eng an den Landesverband der entsprechenden Krankheit angeschlossen sind, erhalten zum Teil stringente Vorgaben zu Inhalten und Methoden ihrer Gruppenarbeit, zur Öffentlichkeitsarbeit hinsichtlich eines Corporate Designs, ihre Gelder werden
unter Umständen vom Landesverband verwaltet. Die Landesverbände bieten Schulungen für
Gruppenaktivisten an, hier wäre eine Einsozialisation neuer Gruppenleiter und Moderatoren, wie im Fall 1 von Marianne beschrieben, zu erwarten. Für die Selbsthilfegruppe Tren nung / Scheidung, die über die Angebote der regionalen Selbsthilfekontaktstelle hinaus keinen fachlichen Austausch pflegt, ist ein Bewährungsmythos für Aufgabenträger eine ungewöhnliche Vorgabe. Beide Selbsthilfe-Engagierte sind über 10 Jahre für ihre Gruppen aktiv,
sie leiten ihre Gruppen seit einer Reihe von Jahren ohne eigene Betroffenheit. Für die Fall struktur Marianne wurde das Engagement als Konglomerat aus Altruismus und einem dependenten Verhaltensmuster charakterisiert sowie als eine Form von Selbstverwirklichung
über Selbsthilfe. Während für viele Erkrankte und in Krisen lebende Menschen der Besuch
einer Selbsthilfegruppe eine mehr oder weniger kurze Passage des Lebensweges ist, entdecken die Probanden Hans und Marianne in der Selbsthilfe eine Lebensaufgabe. Hans ist von
Jugend an zum ehrenamtlichem Handeln motiviert, seine Motivation mündet, zusammen
mit der Selbstbetroffenheit, in einem dauerhaften Engagement. Ein latentes Motiv von Marianne ist ein biografisches Anhaften. Die Partnerschaft wird im Zuge der Trennung in ein ko operatives Arrangement überführt, sie bewohnt gemeinsam mit den Kindern weiterhin das
Haus der Familie, nach der erfolgreichen Bearbeitung der Trennungskrise in der Selbsthilfegruppe sucht sich die Erzählerin kein neues Betätigungsfeld, sie bleibt mehr als ein Jahrzehnt, engagiert für an Trennungsfolgen Leidende, in der Selbsthilfegruppe.
67
Eine selbsthilferelevante Kongruenz ist, dass beide Erzähler in einer biografisch bedeutsa men Umbruchsituation zur Selbsthilfe finden. Sie geraten ins Trudeln, die Krise der Trennung
bzw. der schweren Erkrankung fordert Orientierungs-, Bildungsprozesse und die Generierung
neuer Strukturen, die Probanden benötigen den Beistand einer Solidargemeinschaft und
emotionale Teilnahme.
68
6.2
Maximaler Kontrast
Fall 1 Marianne, Selbsthilfekultur als Sinnquelle - Fall 3 Heide, die Expertin
Marianne wird in der Krise ihrer Trennung auf das Angebot einer Selbsthilfegruppe Trennung/ Scheidung aufmerksam, im Weiteren übernimmt sie Aufgaben in der Gruppe bis zur
über zehnjährigen Gruppenleitung. Ihre Entscheidung für die Selbsthilfegruppe ist die Wahl
eines aktiven, selbstbestimmten Krisenmanagements. Aus der Sicht der Erzählerin ist die Unterstützung der Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung ein komplexer Prozess, der einer
Einsozialisation bedarf. Das ehrenamtliches Engagement bleibt auf diese Gruppe bezogen,
die einen hohen Stellenwert für ihren Alltag hat, in der sie soziale Kontakte und Aktivitäten
pflegt. Neben den erwachsenen Kindern ist die Selbsthilfegruppe eine sinnstiftende und Anerkennung vermittelnde Säule ihrer Lebenspraxis. Heide, die Expertin mit der überkritischen
Haltung gegenüber behandelnden Ärzten, erarbeitet sich medizinische Standards und deutet Symptome der Borreliose. Ihr Zugang ist ein akademischer, sie wird per Mundpropaganda
zur Anlaufstelle für Borrelieninfizierte. Selbsthilfe ist für Heide zunächst die allein geleistete
Auseinandersetzung mit Borreliose, im Weiteren ihre Tätigkeit als Borreliose-Beraterin. Ohnmacht und Trauer über die gescheiterte Behandlung sowie eine latente Anklagehaltung gegenüber den behandelnden Ärzten sind ein starkes Motiv, sich als Borreliose-Beraterin zu
engagieren, zu helfen, unnötige medizinische Leidensgeschichten, Rückfälle und Spätfolgen
als Konsequenzen falscher Behandlungen zu vermeiden. Mariannes Motivlage für das langfristiges Engagement in der Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung ist mehrschichtig, zu einem intrinsischen, selbsterfahrungsbasierten Helfen-Wollen kommen eigene Kontaktbedürfnisse.
Coping bezeichnet Bewältigungsstrategien, die in schwierigen Lebenssituationen, bei schwierigen Lebensereignissen, im medizinischen Sinne bei chronischen Erkrankungen zur Anwendung kommen. Die wissenschaftliche und lebenspraktische Auseinandersetzung Heides mit
Borreliose, ihre Bewältigungsstrategie eigener Betroffenheit, entspricht einem problemorientierten Coping. Selbsthilfegruppen sind insofern Orte der erfolgreichen Bearbeitung
schwieriger Lebensumstände, als jedes Gruppenmitglied über die Beiträge anderer Teilnehmer mit eigenen, erfahrenen und potentiellen zukünftigen Problemkonstellationen konfrontiert ist.
69
6.3
Selbsthilferelevante Befunde
6.3.1 Tabellarische Gegenüberstellung selbsthilferelevanter
Befunde
Marianne
Hans
Heide
Selbsthilfegruppe
Selbsthilfegruppe
Selbsthilfegruppe
Trennung / Scheidung
Parkinson
Borreliose
Zum Kontakt mit der Selbsthilfegruppe kommt es zufällig, auf ein Zeitungsinserat
hin
Die Diagnose der Parkinsonerkrankung markiert einen
krisenhaften Wendepunkt in
der Biografie des Erzählers, er
kommt ins Trudeln, eine Anpassung seiner Alltagsstruktur an die veränderten Bedingungen gelingt zunächst nicht
Die Haltung der Erzählerin gegenüber den Borreliose behandelnden Ärzten ist die einer ausgeprägten Skepsis
Selbsthilfe als Medium zur
Selbsthilfe als Medium zur
Heide ist zur Expertin für BorBearbeitung einer Lebenskri- Bearbeitung einer krankheits- reliose geworden, sie hat sich
se
basierten Lebenskrise
dem Thema mit aus eigener
Betroffenheit gewachsener
Hingabe gewidmet
Selbsthilfe als Selbstverwirklichung, die Gruppe als Ort der
Anerkennung vermittelt und
als Sinnquelle
Ehrenamtliches Engagement
ist eine biografische Konstante und Bestandteil des
Selbstkonzepts des Erzählers.
Die Motivation speist sich aus
Prozessen des Unbewussten,
geht aus von einem Archetypus des Helfens
Die Erzählerin ist in ihrer
Selbstsicht nicht mehr das verzweifelte Opfer ärztlicher Fehlbehandlungen, sie hilft anderen Erkrankten Krankheitssymptome zu deuten und zeigt
Wege erfolgreicher Behandlung auf
Gruppenbegleitung als anspruchsvolle Aufgabe, die einer Einsozialisation bedarf,
die Haltung zur Selbsthilfe in
einer Trennungsgruppe ist
die von Respekt vor den
Kompetenzen, die diese besondere Form der Gruppenarbeit bedarf
Beratungsdefizite aufgrund
fehlender Informationen
durch behandelnde Ärzte
werden ausgeglichen durch
den Arztvortrag einer Parkinson-Selbsthilfegruppe
Per Mundpropaganda wird die
Erzählerin zu einer telefonischen Anlaufstelle für Borrelioseerkrankte
70
Marianne
Hans
Heide
Selbsthilfegruppe
Selbsthilfegruppe
Selbsthilfegruppe
Trennung / Scheidung
Parkinson
Borreliose
Entscheidung für die Selbsthilfegruppe als Wahl für ein
aktives und selbstbestimmtes
Krisenmanagement
Die kognitive Auseinandersetzung mit den Themen
Parkinson und Depression ist
der Beginn eines aktiven
Umgangs mit der Krankheit,
die Hinwendung zum salutogenetischen Potential, das
dem autobiografischen
Erzähler eine veränderte
Sichtweise auf seine Lebenssituation und deren
Möglichkeiten eröffnet.
Die wissenschaftlich fundierte
Aneignung des Themas Borreliose relativiert die eigene Betroffenheit, diese erhält nunmehr einen Platz innerhalb
des Ensembles aus fachlichem
Wissen, Beratungstätigkeit
und Netzwerkarbeit
Selbsthilfe setzt verschütte- Mit verschiedenen ehrentes kommunikatives Potential amtlichen Aktivitäten gelingt
frei
es dem Erzähler, eine aktive,
gelungene Lebenspraxis im
Alter zu führen
Heide nimmt mit dem deutschen Borreliose und FSME
Bund und mit kooperationsbereiten Ärzten Kontakt auf und
schafft so ein lokales Netzwerk
der Borreliosehilfe
Motive für ein langjähriges
Engagement in der Selbsthilfegruppe Trennung / Scheidung sind ein intrinsisches,
selbsterfahrungsbasiertes
Helfen-Wollen sowie eigene
Kontaktbedürfnisse
In der Selbsthilfegruppe wird
ein familiärer Umgang miteinander gepflegt, man kennt
sich seit fünfzehn Jahren, feiert regelmäßig Feste, die jeweiligen Lebenspartner sind
ins Gruppengeschehen integriert
Mit der wechselseitigen Unterstützung in Krisen und den
gemeinsamen Aktivitäten erhält die Gruppe eine kooperative Struktur, die deutlich
über das Maß an Gemeinschaftsorientierung hinausgeht, wie wir sie beispielsweise in einem Sportverein vorfinden
Im Sinne von Resilienz gelingt
dem Ich - Erzähler über sein
Engagement im Feld der
Selbsthilfe die Wendung weg
von einem depressiv – apathischen Zustand, hin zu den
gesunden und starken Anteilen seiner Persönlichkeit
Flexibilität im Umgang mit
schwierigen Lebenssituationen als salutogenetisches Potential
71
6.3.2
Evidenzen der Fallstrukturen
Für alle Probanden wird die Erkrankung bzw. Trennung zu einer Krise, zum alles überformenden Thema, mit Auswirkungen auf die gesamte Lebenswelt. Die kognitive Auseinanderset zung mit dem jeweiligen Thema, allein oder mit anderen in der Selbsthilfegruppe, bildet den
Hebel, von dem ausgehend ein salutogenetisches Potential wirksam wird, und Bewältigungsstrategien generiert werden. Gemeinsam ist den Fallstrukturen eine Motiviertheit, die weit
über eine konsumtive Haltung gegenüber der jeweiligen Selbsthilfegruppe hinausgeht. Bei
allen Ich-Erzählern wird ein krisenimmanentes, transformatorisches Potential wirksam, erstarkt, mit veränderten Haltungen und mit strukturellen Veränderungen gehen sie aus den
Krisen hervor. Das in seiner Konsequenz für die Selbsthilfe bereits um die Jahrtausendwende
ausgiebig diskutierte Konzept der Salutogenese bekommt im vorliegenden Fallmaterial eine
besondere Bedeutung hinsichtlich biografisch relevanter Prozesse. Trudeln, Struktur-, Kontakt- und Informationsdefizite können durch engagierte Teilnahme an Selbsthilfegruppen
kompensiert bzw. aufgehoben werden.
Eine deutliche Stärkung der Resilienz durch die Teilnahme an Selbsthilfegruppen und die
Übernahme von Aufgaben in diesen Gruppen ist in allen Interviews festzustellen. Die Selbsthilfegruppen bilden das Milieu, indem in einem autopoietischen Sinne Bewältigungsstrategien entwickelt werden und zum Tragen kommen. In einem Prozess des Empowerment vollzieht sich bei Heide die Wandlung von der erfahrenen Ohnmacht als Patientin zur Beraterin,
die mit Borreliosepatienten über Sinn und Notwendigkeit verschiedener Behandlungsmethoden spricht und nun Empfehlungen zur medizinischen Versorgung bei Borreliose geben
kann. Hans, dem bescheinigt wurde, dass er auf dem ersten Arbeitsmarkt nichts mehr leisten kann, der nach der Diagnose Parkinson apathisch und ohne Strukturen zu Hause saß, erfährt über sein Engagement in der Gruppe und später im Landesverband Anerkennung und
eine Verstärkung des Selbstbewusstseins. Als Spieler in Gemeinschaften ist er gut vernetzt
und mit einem Arbeitspensum, das einer Teilzeitstelle entspricht, einer der alten Hasen der
Selbsthilfe.
72
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