Geist und Geld - Universität Mannheim

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Geist und Geld - Universität Mannheim
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Annette Kehnel Hg.
Geist und Geld
Band 1 der Reihe „Wirtschaft und Kultur im Gespräch“
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Annette Kehnel Hg.
Geist und Geld
Band 1 der Reihe „Wirtschaft und Kultur im Gespräch“
F.A.Z.-Institut für Management-,
Markt- und Medieninformationen GmbH
Frankfurt am Main 2009
ISBN: 978-3-89981-211-4
F.A.Z.-Institut für Management-, Marktund Medieninformationen GmbH
Mainzer Landstraße 199
60326 Frankfurt am Main
Gestaltung/Satz
Umschlag:
Titelbild:
Satz Innen:
Druck und Bindung:
F.A.Z., Verlagsgrafik
Anja Schindler
Ernst Bernsmann
Messedruck Leipzig GmbH, Leipzig
Alle Rechte, auch des auszugsweisen
Nachdrucks, vorbehalten.
Printed in Germany
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Inhalt
Geleitwort
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Vorwort
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Kunst und Geld – Antipoden oder Feinde?
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Reinhold Würth
„Die Kunst braucht Mäzene, keine Sponsoren“
22
Interview mit Carla Schulz-Hoffmann
Künstler – Schöpfer – Marktlieferant
36
Die Etablierung des Künstlers im 19. Jahrhundert
Manuela Vergoossen
Unternehmensethik heute
59
Manfred Fuchs
Marketing und Ehtik? – Vermarktete Ethik!
73
Hans Bauer
Was Unternehmen wandelfähig macht –
Wertegeleitete Führungskultur als Modell der Zukunft
90
Konrad Stadler und Jürgen Schott
Der „Geist der Freiheit“ und das „Bürgergeld“
97
Bedingungsloses Grundeinkommen –
Ein Weg aus Arbeitslosigkeit und Bevormundung?
Götz W. Werner
Über Ursache und Wirkung unternehmerischen Erfolgs
107
Frank Merkel
„Von den Älteren lernen, die so gern von Ökonomie sprechen“ 115
Theano über Geist und Geld
Kai Brodersen
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Philosophia und Pecunia
129
Vom Wert des Wissens in Mittelalter und Moderne
Martin Kintzinger
„Mehr Geld – mehr Gold“ (Raffael)?
155
Über das Verhältnis des Künstlers zum Geld
von der Renaissance bis heute
Annette Kehnel
Mit Beiträgen von Anja Schindler, Silja von Kriegstein, Iris Stephan,
Ulrike Draesner und Franziska Gottwald
Kann denn Schenken Sünde sein?
185
Liebesgaben in Literatur und Kunst von Ovid
bis zum Gothaer Liebespaar (um 1480)
Ludger Lieb
Balzac und das Geld
219
Thomas Klinkert
„Ich habe ein Recht auf Comfort, zum Donnerwetter“
233
Thomas Mann und das Geld
Anna Kinder
Die Geburt der Abstraktion aus dem Ungeist des Geldes
258
Hinweise auf Alfred Sohn-Rethels Geld- und Geltungstheorie
Jochen Hörisch
Die Autoren
6
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Geleitwort
Wirtschaft und Kultur sind an der Universität Mannheim seit langem
im Gespräch. Davon zeugt nicht nur dieser erste Band „Geist und Geld“.
Weitere Bände werden folgen.
Das alles reicht jedoch bei weitem nicht aus. Immer wieder wird beklagt,
es handele sich bei Ökonomie und Kultur um zwei getrennte Welten.
In den vergangenen Jahren habe ich zusammen mit vielen Mitgliedern
unserer Universität darüber nachgedacht, wie dies geändert werden
kann. Wir sind überzeugt, dass ein Graben zwischen Wirtschaft und Kultur nicht nur beiden Seiten, sondern auch der Gesellschaft schaden
würde. Die Gesellschaft braucht weitaus mehr Menschen als bisher, die
zugleich in Wirtschaft und Kultur heimisch sind.
Ich freue mich daher besonders, dass der vor drei Jahren an der Universität Mannheim eingeführte Bachelor-Studiengang „Kultur und Wirtschaft“ so erfolgreich ist – bereits jetzt kommen rechnerisch zehn
Bewerber auf einen Studienplatz. Studenten können sich in Mannheim
der Philosophie, der Geschichte oder auch Sprachen widmen, sie müssen in diesen Studiengängen allerdings zugleich die Finanzmathematik
und das Betriebliche Rechnungswesen auf dem Niveau unserer Betriebswirtschaftler erfolgreich bestehen.
So wird bereits im Studium Verständnis für beide Welten geweckt; Engstirnigkeit hat bei uns keine Chance. Auch in den anderen Bachelor- und
Master-Studiengängen bemühen wir uns intensiv darum, statt Gräben
zwischen „Geist und Geld“, zwischen „Kultur und Wirtschaft“ zu ziehen, Brücken zu schlagen, um ein beiderseitig befruchtendes Verhältnis
aufzubauen. Eine dieser Brücken ist der vorliegende Band.
Magnifizenz Professor Dr. Hans-Wolfgang Arndt
Rektor der Universität Mannheim
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Vorwort
Den Impuls zur Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen „Wirtschaft
und Kultur“ gab das Rektorat der Universität Mannheim unter Leitung
von Professor Dr. Hans-Wolfgang Arndt, als das Thema „Wirtschaftsethik
und Wirtschaftswirklichkeit“ zum Leitmotiv des 100-jährigen Universitätsjubiläums 2006/2007 erhoben wurde. „Politik und Wirtschaft
alleine vermögen zentrale Probleme unserer Gesellschaft offensichtlich
nicht mehr zu lösen“, begründete der Dekan der Fakultät für Betriebswirtschaftslehre, Professor Dr. Hans Bauer, die Notwendigkeit der verstärkten Kooperation zwischen Wirtschaft und Kultur. Er rief dazu auf,
das fachspezifische Spartendenken innerhalb und außerhalb der Universitäten zu überwinden. Angeregt durch diesen Aufruf, ist im
Jubiläumsjahr zunächst ein fakultätsübergreifendes Diskussionsforum
entstanden.
Dank der konstruktiven Unterstützung durch den Universitätsratsvorsitzenden Dr. Manfred Fuchs sowie durch die „Freunde der Universität
Mannheim“ und die Heinrich-Vetter-Stiftung hat das im Jubiläumsjahr
begonnene Projekt nun in der Reihe „Wirtschaft und Kultur im
Gespräch“ eine Verstetigung gefunden.
Wie keine andere Universität scheint Mannheim für dieses Thema geeignet: Unter dem Dach eines Barockschlosses, das von der Kunstsinnigkeit
wie von der Geschäftstüchtigkeit seines Erbauers zeugt, arbeiten international führende Wirtschaftswissenschaften mit hervorragenden
Sozial- und Geisteswissenschaften zusammen, die sich nicht vor ökonomischen Tatsachen scheuen.
Hier ist der Ort, an dem sich Wirtschaft und Kultur treffen, an dem
zukunftsfähige Ideen entwickelt und in konstruktiver Zusammenarbeit
umgesetzt werden können. Ziel ist es, zumindest einen Beitrag zu leisten
zur Überwindung der vermeintlichen Opposition, um gemeinsam an
der Gestaltung der Zukunft zu arbeiten.
Den thematischen Fokus der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit
liefert eine Serie von Schlüsselbegriffen, die in Wirtschaft und Kultur
gleichermaßen bedeutsam, aber oft unterschiedlich besetzt sind: Geist
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und Geld, Vertrauen und Kredit, Gewinn und Verantwortung, Nachfrage
und Bedarf, Geld und Geltung, Erfolg und Werte.
„Geist und Geld“, der erste Band dieser Reihe, den Sie in den Händen halten, widmet sich der spannenden und häufig tabuisierten Frage, wie
Kultur und Kapital zueinander stehen. Renommierte Unternehmer
erklären die Prinzipien ihrer Unternehmenskultur; Stifter und Künstler
liefern Selbstbekenntnisse zum Thema Geld; Wissenschaftler erarbeiten
die Grundlagen der ökonomischen Logik des Schenkens und diskutieren die Möglichkeiten und Grenzen der Umrechnung von Wissen, Literatur und Kunst in kalkulierbare Marktpreise seit der Antike über Raffael und Thomas Mann bis hin zur aktuellen Wirtschaftskrise.
Professor Dr. Annette Kehnel
Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte
Universität Mannheim
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Kunst und Geld – Antipoden oder Feinde?
Reinhold Würth
Ich bin gebeten worden, zu diesem Thema einige Gedanken niederzuschreiben und die Begriffe Geist, Kunst, Geld, Wirtschaft und ergänzend
Geld – Kunst, aber auch Kunst – Betrieb oder Kunst – Markt, jeweils Wortverbindungen mit tiefen Wurzeln, zueinander in eine Beziehung zu setzen. In eine Beziehung überdies, die sich über das distanzierte, von hinreichendem Misstrauen begleitete Verhältnis zwischen Geldmächtigen
und Kunstverständigen nicht irritieren lässt. Nähern wir uns also dem
Thema zunächst über den Lauf der Zeit und stellen uns einmal die
Frage, was beständiger sei, Kunst oder Wirtschaft, dann gewinnt, wie ich
an einigen Beispielen aufzeigen möchte, eindeutig die Kunst.
Schauen wir nur auf die 18.000 Jahre alten Höhlenzeichnungen von Lascaux oder auf die noch früheren White-Lady-Felsenmalereien oder jene
wunderbaren Tierdarstellungen, Jagd- und Lebensszenen vom Brandberg im nördlichen Namibia, die vor mehr als 30.000 Jahren entstanden
sein dürften, dann wird deutlich, wie scheinbar mühelos die Kunst die
Zeit überdauert hat, während wir keine Ahnung haben, ob oder wie sich
die damaligen Felsenmaler haben bezahlen lassen, ob Geld, egal welcher
Art, hier überhaupt schon eine Rolle spielte. Im Fokus dieses Zeithorizonts sind die so bewunderungswürdigen Kunstwerke aus persischer,
ägyptischer, hethitischer, griechischer und römischer Zeit scheinbar
erst gestern entstanden und doch sind auch sie 2.000, 4.000 oder mehr
Jahre alt.
Bereits ab der Frühzeit und dann explosionsartig seit den Epochen der
klassischen Antike entstand eine schier unüberschaubare Fülle an
Skulpturen und Bildern in unterschiedlichsten Techniken. Für jedes dieser Kunstwerke gab es einen oder mehrere Initiatoren, jemanden, der
bezahlt hat, und natürlich einen Autor.
Und schon stellt sich die Frage: Waren die heterogenen Elemente „Kunst
und Geld Antipoden oder Feinde“? Oder ziehen sie sich nicht vielmehr
unausweichlich an, wie die berühmten Gegensätze im Sprichwort?
Bereits für die Zeit der ägyptischen Pharaonendynastien gibt es Hinweise, dass Kunstwerke nicht nur aus religiös-kultischer Selbstver11
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pflichtung freiwillig hergestellt oder über Sklavenarbeit erpresst, sondern vielmehr wie freie Kunstwerke in unserem heutigen Verständnis
hergestellt, gehandelt und mit einer Art Geld bezahlt wurden. Neuere
Gold- und Bernsteinfunde der älteren bronzezeitlichen Geschichte belegen darüber hinaus, dass Handelsbeziehungen zwischen dem Ostseeraum, der ägäischen und ostmediterranen Welt, dem gesamten Levantebereich bis nach Ägypten und Indien bestanden. Das Mittelmeer
scheint demnach geradezu ein Binnenmeer gewesen zu sein, um das
herum Kunst- und Kulturgüter in großen Mengen gehandelt wurden. So
markiert der legendäre Fund eines mit Kunstschätzen beladenen
Wracks vor der Küste von Mahdia (Tunesien), den Schwammtaucher im
Jahr 1907 gemacht hatten, den Beginn der Unterwasserarchäologie. Der
schwer beladene Frachtsegler transportierte neuattische Waren – Luxusgüter, darunter Marmorsäulen, ionische und korinthische Kapitelle,
Prunkvasen und Bronzeskulpturen, vielfach neu angefertigt und mit
griechischen Seriennummern versehen – für wohlhabende Kundschaft
in Italien, besonders in Rom. Das Schiff war um 80 vor Christus im Hafen
von Piräus gestartet, hatte aber sein Ziel, einen Hafen in Mittelitalien,
wegen eines Mastbruchs, des Verlusts eines Segels, eines Sturms oder
ähnlicher Widrigkeiten nie erreicht, sondern war stattdessen vom Kurs
abgekommen und nur fünf Kilometer vor der rettenden nordafrikanischen Küste gesunken. Nicht anders erging es den beiden heute im
archäologischen Nationalmuseum von Reggio Calabria befindlichen
bronzenen Kriegern von Riace, die ebenfalls mit einem griechischen
Handelsschiff untergegangen waren. Die beiden imposanten Gestalten
von idealer Schönheit wurden 1972, unweit des kalabrischen Riace, im
Ionischen Meer gefunden. Zweifelsfrei sind sie griechischen Ursprungs
und wurden Mitte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts, möglicherweise
von Phidias (tätig um 470 bis 430 vor Christus), erschaffen.
Erst 3.000 Jahre nach ihrem Untergang kam hingegen die Kultur der
Hethiter wieder zum Vorschein, nachdem im 19. und 20. Jahrhundert
Anatolienreisende auf schmucke Hieroglyphen und Felsreliefs gestoßen
waren. Dann wurden 150 Kilometer östlich von Ankara die Ruinen der
hethitischen Hauptstadt Hattusa entdeckt und dort Vertragsentwürfe
und Briefe aus der Erde geborgen, darunter der erste internationale Friedensvertrag der Weltgeschichte. Die Supermacht, deren Geltungsgebiet
sich seit dem 17. Jahrhundert vor Christus über große Teile der heutigen
Türkei und Syriens, vom Euphrat bis an die ägäische Küste erstreckte,
hatte sich ab 1200 vor Christus praktisch ins Nichts aufgelöst. Der Staat,
der sich erfolgreich dem zweiten Weltmächtigen der damaligen Zeit,
dem ägyptischen Pharao Ramses II., entgegengestellt hatte, verschwand
nicht nur buchstäblich von der Bildfläche, sondern für lange Zeit auch
fast gänzlich aus dem Gedächtnis der Menschheit. Erhalten blieb ledig-
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lich der Name, weil einige Kleinstaaten nach dem Zusammenbruch der
frühen Weltmacht weiterhin hethitische Traditionen pflegten und, was
vermutlich noch wichtiger war, die Bibelschreiber die Vokabel „Hethiter“ in die Neuzeit retteten, indem sie sie mehrfach erwähnten, etwa in
einer Episode um König David, der den Hethiter Urias umbringen ließ,
weil er es auf dessen Frau Bathseba abgesehen hatte.
Dass es sich bei den Hethitern um Bewohner eines früheren Großreichs
gehandelt hatte, wurde indes verschwiegen. Die einzige antike Überlieferung zu einem hethitischen Monument hinterließ uns Herodot – doch
ausgerechnet dem Altmeister aller Historiker unterlief dabei ein folgenreicher Fehler: Beim Betrachten des Felsreliefs von Karabel glaubte
er, das Profil des ägyptischen Pharaos Sesostris III. vor sich zu haben.
Tatsächlich handelt es sich aber, wie wir heute wissen, um Tarkasnawa
von Mirã, verewigt in hethitischer Bildtradition. Wir sehen also: Letztlich sind es stets die Kunstwerke, die Zeugnis ablegen, geraubt werden,
als Beute dazu dienen, den jeweiligen Feind zu demütigen, und mit
denen wir uns nicht selten völkerrechtswidrig schmücken.
Denken wir nur an die schmucken ägyptischen Obelisken in Italien und
Istanbul, die römischen Triumphbögen in Frankreich und die zahlreichen Trouvaillen der kolonialistischen Kunstraubzüge des 19. Jahrhunderts – Grundlage des Ruhmes westlicher Museen vom Louvre über das
British Museum bis zum Pergamon-Museum. Auch wer die Methoden
der Aneignung kritisiert, muss zugeben, dass uns die kostbaren Schätze
der Vergangenheit gerade im Nachhinein dazu dienen, das Andere, das
Fremde, das Großartige und bisweilen auch das Abstoßende einer Kultur zu verstehen.
Als erschütterndes Beispiel der Ausbeutung der Kunst durch das Geld
beziehungsweise des Künstlers durch den Auftraggeber mag hier die
Sage von der Errichtung des Taj Mahals in Agra (Indien) dienen. Darin
heißt es, Großmogul Shah Jahan, der Bauherr des Tempels, habe dem
persischen Baumeister Abu Fazel nach Fertigstellung des so unglaublich
schönen Bauwerks die Augen ausstechen lassen, um zu verhindern, dass
an einem anderen Ort ein ähnlich schönes Bauwerk entstünde – Herrschaftsdenken und Besitzerstolz haben sich hier in abstoßender Form
pervertiert, erhalten aber blieb ein Gesamtkunstwerk allerhöchsten
Ranges.
So zeigt sich, dass Geld, Macht und Kunst manchmal höchst unheilige,
manchmal tragische, im Resultat aber doch immer produktive Allianzen miteinander gepflegt haben. Und letztlich liegen die Gründe ihrer
wechselseitigen Faszination auch auf der Hand, sind doch beide – große
Kunstwerke wie auch Geld – knapp und uns eben deshalb so wertvoll.
Geld, dessen Wortsinn sich etymologisch ohnehin von „Geltung“ ablei13
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tet, hätte seine eigentliche Funktion gänzlich verfehlt, wenn es in inflationärer Überfülle bereitläge. Es könnte seine elementare Funktion,
einen geregelten und einigermaßen friedlichen Zugriff auf knappe und
wertvolle Güter (z.B. einmalige Kunstwerke) zu ermöglichen, nicht erfüllen.
Eine solche auf Knappheit fokussierte Argumentation entlarvt uns allerdings sofort als Vertreter eines neuzeitlichen Denkens, das das Geld zu
seinem Leit- und Steuermedium erhoben hat. In vorneuzeitlichen Epochen hatte die Korrelation von Wert und Knappheit zwar auch bereits
Gültigkeit, doch auf die Frage nach der Herkunft von Werten gab es letztlich eine theologische Standardantwort: Das eigentlich Wertvolle
gehöre Gott und nicht den Menschen. Ein Denken, das sich in dem altbekannten Sprichwort „Der Herr gibt und nimmt“ noch über die Zeit
gerettet hat. Mit dem Bild vom Künstlergenie, das hochrangige Werke
und damit höchste Werte schafft, ist eine solche Theologie natürlich
nicht zusammenzubringen, wohl aber mit unserer neuzeitlichen, vom
Medium des Geldes geprägten Ökonomie.
Die vorneuzeitliche Kunstsphäre indes, so lesen wir bei Martin
Warnke1, war (noch) nicht auf den Typus des genialen, unvergleichliche Werke und Werte hervorbringenden Künstler-Individuums fixiert.
Vielmehr galt die bildende Kunst als durchaus erlernbares Handwerk,
Maler gehörten einer Zunft an, und wer gut kopieren konnte, genoss
hohe Anerkennung. Zwischen den Tätigen einer Werkstatt herrschte
noch nicht die moderne Unterscheidung zwischen Genie und NichtGenie, sondern die „zünftige“ zwischen Handwerksmeister und Gesellen. Herausragende, bedeutende Künstler konnten zwar bisweilen die
Grenzen solcher handwerklichen Zunftzugehörigkeit sprengen. Aber
nicht, indem sie sich sogleich als autonome Genies wahrnahmen, die
auf eigene Verantwortung und Rechnung für den (Kunst-)Markt produzierten, sondern, indem sie als Hofkünstler die Protektion und
Zuwendungen eines Königs, Fürsten, Bischofs oder eines Mäzens
genossen.
Als guter Künstler galt, wer die konventionellen Erwartungen erfüllte,
nämlich die, die der Tradition entsprachen. Allmählich ereichte ein liberaleres Kunstverständnis jedoch nicht nur die potenten Auftraggeber,
sondern verhalf auch den Künstlern zu größerem Selbstbewusstsein. Ihr
daraus resultierender sozialer Aufstieg vom Handwerker zum angesehenen, „dem Hof jedes Herrschers zur Zierde gereichenden Privilegierten“, wie Giorgio Vasari2 schreibt, war nicht zu übersehen. Vasari übertrieb vielleicht die Bedeutung der Rolle, die Künstler an den Quattrocento-Höfen spielten, da er aus der Sicht seiner Zeit, der Mitte des 16.
Jahrhunderts, urteilte. Dennoch sollte beispielsweise die Stellung eines
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Leonardo am Mailänder Hof der Sforza nicht unterschätzt werden.
Warnke hat das Phänomen der „Hofkünstler“ untersucht und ist dabei
der Vorgeschichte des modernen Künstlers ausführlich nachgegangen.
In seiner Untersuchung führt er auf, dass Francesco Gonzaga im Jahr
1480 an die Herzogin von Mailand schrieb, nachdem sich Mantegna weigerte, deren Bildnis „in elegante Formen zu bringen“: „Wenn ich selbst
vollbringen könnte, was Ihr verlangt, würdet Ihr sogleich zufrieden
gestellt sein. Doch diese hervorragenden Maler sind irgendwie seltsam,
und es empfiehlt sich, von ihnen zu nehmen, was immer man von
ihnen bekommen kann.“3
Nicht nur in Italien, auch in Deutschland gehörten „Hofkünstler“ bald
zum guten Stil. So sehen wir auf dem Gemälde eines Anonymus im
Schlossmuseum von Gotha, das die Verabschiedung Johann Friedrichs durch
Karl V. thematisiert, Johann Friedrich mit seinem eher bescheidenen
Gefolge, zu dem allerdings auch der als würdiger Greis dargestellte
Lucas Cranach der Ältere gehört. Berühmte Paarungen dieser Art waren
unter anderem Kaiser Maximilian I. mit Albrecht Dürer, Franz I. von
Frankreich mit Leonardo da Vinci und auch Karl V. mit Tizian.
Bemerkenswert ist ferner, dass sich Geldmotive in der bildenden Kunst
zu Beginn der Neuzeit häufen, also genau zu jener Zeit, in der der Typus
des Malergenies langsam, aber sicher Gestalt annimmt. Ein besonders
eindrucksvolles Beispiel dafür ist das für das Palais du Luxembourg
beauftragte, jedoch heute im Louvre befindliche großformatige
Gemälde „Die glückliche Regentschaft“ aus dem Maria-Medici-Zyklus, den
Peter Paul Rubens (1577–1640) im Auftrag der Regentin Maria di Medici
zwischen 1622 und 1625 malte. Der Auftrag war nicht nur Ausdruck eitler Selbstbeweihräucherung der Noch-Regentin – (ihr königlicher
Gemahl Heinrich IV. war gestorben, ihr ambitionierter Sohn Ludwig
XIII. war noch unmündig) –, sondern auch ein politischer Schachzug im
gespannten Verhältnis Marias zu ihrem Sohn. Rubens, der sich seinen
Themen sonst gerne vom realistischen Standpunkt aus genähert hatte,
wich hier auf eine pompöse Bildsprache aus, die sich jedoch schnell
erschließt. Maria di Medici thront, eine Waage und somit das altehrwürdige Symbol der Gerechtigkeit in ihrer rechten Hand haltend, nicht
in der Bildmitte, sondern schwebt gewissermaßen „über den Dingen“.
Ihr gelten die bewundernden und dankbaren Blicke der Figuren auf der
linken Bildhälfte. Unter ihr tummeln sich Puttengestalten, die sich, mit
Panflöte und Pinsel als Requisiten ausgestattet, als Allegorien der Künste ausweisen. In der rechten Bildhälfte, zu Marias linker Hand, die sie
auf eine Weltkugel stützt und die wir symbolisch als die „öffentliche
Hand“ lesen können, sehen wir in gewohnt weiblicher Gestalt Abundantia, die Allegorie der Großzügigkeit. Abundantias Füllhorn spendet,
so will es die malerische Konvention, üblicherweise Früchte. Hier aber
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hat Rubens ihr nicht nur eine Assistentin zur Seite gestellt, sondern ihr
auch eine gänzlich andere Gabe zugedacht. Seine Abundantia streut
nämlich nicht mehr Naturalien, sondern Münzen über die kunstsinnigen Putten. Diese Münzen hat Rubens bezeichnenderweise genau ins
Bildzentrum gerückt. Den Münzen und nicht etwa der Regentin gelten
auch (mit Ausnahme Minervas) die Blicke der Gestalten, die auf der rechten Bildseite versammelt sind.
Wir dürfen das Ganze durchaus als gewollte Provokation des Künstlers
interpretieren. Schließlich hatte Rubens den Auftrag, ein Huldigungsbild, ja einen ganzen Huldigungszyklus zu gestalten: Im eigentlichen
Bildzentrum seines Werkes sehen wir aber nicht seine Auftraggeberin
Maria di Medici als Gestalt, der gehuldigt wird, sondern ganz unverblümt das Medium „Geld“, das durch die „glückliche Regierung“ der
Kunst zufließt. Dem zollt der Künstler seinen ausdrücklichen Beifall.
Sein Bild huldigt der gelungenen Koexistenz von Auftraggeberin, Kunst
und Geld. Dass die zentrale Rolle des Geldes in diesem Gemälde so
unmissverständlich dargestellt ist, ist das eigentlich Moderne der
Rubensschen Interpretation. Denn in der über viele Jahrhunderte hinweg ausschließlich christlich motivierten Kunst hatten Münzen, Geld
und Kapital es traditionell schwer, als Ikonen geadelt zu werden. Den
Vorzug hatten ganz klar Sujets wie „Jesus treibt die Händler aus dem Tempel“,
„Jesus predigt: ,Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den
Himmel kommt‘“, „Judas empfängt den Verräterlohn der dreißig Silbertaler“ oder
„Der Tanz um das Goldene Kalb“ um nur einige besonders populäre vieler
geldkritischer Szenen des Alten und Neuen Testaments zu erwähnen.
Vor diesem Hintergrund ist es umso bemerkenswerter, dass das religiös
und theologisch geächtete Geld in der Neuzeit so einen rasanten Kursgewinn erfährt, der eben bereits Rubens jene intime Beziehung zwischen Geld und Kunst bemerken und darstellen lässt, die uns heute in
Gestalt einer prosperierenden Kunstszene, eines florierenden Kunstmarktes und der Förderung der Künste als Staatsziel vertraut ist. Das
Bedürfnis, sich als Künstler, Sammler oder Auftraggeber in die
Geschichte einzuschreiben, ist ohnehin ein zutiefst menschliches, und
– wie wir gesehen haben – historisch gewachsenes.
Redewendungen wie „Wer schreibt, der bleibt“ oder „Ars longa – vita brevis“ gelten daher auch heute noch uneingeschränkt, nicht nur für Autoren, bildende Künstler und Komponisten, sondern im übertragenen
Sinne auch für Wissenschaftler: Im Wissen um unsere limitierte Zeit auf
Erden ist das Bestreben, über die eigene Zeit hinaus Spuren zu hinterlassen, sicher auch legitim und nachvollziehbar. Selbst ich, ein künstlerisch absolut unbegabter Kaufmann, versuche, Spuren zu hinterlassen, und zwar über meine Veröffentlichungen und das Hinterlassen der
erfolgreichen Unternehmensgruppe Würth (mit 63.000 Mitarbeitern
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und 8,8 Milliarden Euro Umsatz im Jahr 2008), die in ihren Strukturen
von meinen Vorstellungen und Maximen geprägt ist.
Neben den unerlässlichen hard facts wie Qualität, Lieferbereitschaft und
Bilanzsolidität habe ich dem sogenannten Softfaktor-Bereich der unternehmenskulturellen Identität meines Unternehmens dabei stets besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Ähnlich dem Tun eines Künstlers war
es dabei notwendig, die jeweiligen Voraussetzungen immer wieder von
Grund auf neu zu überdenken, nicht stehenzubleiben und den Mut zu
bisweilen auch ungewöhnlichen Entscheidungen, sozusagen zur Gestaltung, aufzubringen. „Vibrierende Neugier“4 war dabei stets der Motor
meines Schaffens. Die Methoden mögen verschieden sein, das Prinzip
aber, neue kreative Wege zu gehen, gehört zur Kunst wie zum Unternehmertum.
Ich bin daher überzeugt, dass Kreativität als Ausdruck der menschlichen
Natur ihren Platz stets behaupten wird, solange wir Menschen auf der
Erde leben – Archäologen anderer Sternwelten werden sich vielleicht in
Millionen Jahren wundern, welch facettenreiche Hochkultur innerhalb
nur eines kosmischen Augenblicks auf der Erde entstanden ist.
Doch zurück zu unserer Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von Kunst
und Geld: Auch Künstler leben nicht im luftleeren Raum. Sie brauchen,
von einigen Konzeptkünstlern abgesehen, in aller Regel zunächst einmal Materialien, um ihre Kunst zu schaffen; der Maler benötigt seine
Leinwand, seine Acryl- oder Ölfarben, der Zeichner sein säurefreies
Papier, der Bildhauer den Marmor aus Carrara oder Stahl, der Videokünstler technisches Equipment, Transporteure müssen her, um alles
ins Atelier, das nicht selten angemietet ist, zu bringen. Waren die künstlerischen Ein- und Ausfälle erfolgreich und das Resultat zufriedenstellend, braucht der Künstler ein Publikum und seine Kunstwerke brauchen einen Markt. Der Künstler muss also einen Weg finden, seine
künstlerische Autonomie mit der Notwendigkeit der Vermarktung seiner Werke in einen Zusammenhang zu bringen. Und schon befindet er
sich mitten im Kreislauf von Kunst und Geld.
Erfahrungsgemäß haben die meisten Künstler – wie ich schon bei
Rubens gezeigt habe – damit kein Problem. Im Gegenteil: Sie wissen um
die Notwendigkeit von Sammlern, Galeristen, Kunsthändlern, Kunstwissenschaftlern und Museen, der Medien und manchmal auch eines
langen Atems, denn nicht jedem ist es vergönnt, mit seinem Werk
sofort zu reüssieren. Erinnern wir uns nur an van Gogh, der noch zwei
Jahre vor seinem tragischen Ende prophezeite: „Ich glaube, der Tag
wird kommen, an dem meine Bilder mehr als den Preis der Farben wert
sind.“ Nun, der Tag kam tatsächlich, jedoch erst 100 Jahre später, im
Jahr 1990, als das Porträt seines Arztes Dr. Gachet, der dem Gemüts17
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kranken das Malen als Therapie empfohlen hatte, für 95 Millionen USDollar den Besitzer wechselte und van Gogh endgültig zum Mythos
wurde.
An solch schwindelerregende Summen für Kunstwerke haben wir uns
mittlerweile gewöhnt. Im Herbst 2008 brachte Damien Hirsts in Formaldehyd eingelegter Jungbulle mit dem bezeichnenden Titel „Tanz ums
Goldene Kalb“ 13 Millionen Britische Pfund ein. Insgesamt erzielte der
Engländer bei der gleichen Auktion mit einigen weiteren Werken 70,5
Millionen Britische Pfund. Damit übertraf er Pablo Picasso, der bis dahin
den größten Erlös bei einer Versteigerung, die nur einem einzigen
Künstler gewidmet war, erzielt hatte.
Die Summen, die Kunstliebhaber für Werke bezahlen, sagen aber genauso
wenig aus wie das Ansehen kreativer Köpfe ganz allgemein. Ein gegenwärtig Unterschätzter triumphiert vielleicht schon morgen oder auch
einige Jahrzehnte später. Hier ergeht es den Künstlern nicht besser als
manch einem Forscher, dessen Ideen vielleicht heute als Nonsens abgetan
werden, während zukünftige Industriezweige genau diese Ideen später
erfolgreich umsetzen. Wie viele wissenschaftliche Thesen waren 100prozentig richtig, sind aber von der etablierten Wissenschaft in Grund
und Boden verworfen worden, einfach weil die Zeit dafür noch nicht reif
war? Wem fiele nicht sofort der 1564 geborene italienische Mathematiker, Physiker und Philosoph Galileo Galilei ein, auch er ein Kreativer, der
bekanntermaßen als Erster mit einem Fernrohr den Himmel beobachtete, dabei das heliozentrische Weltbild entdeckte und damit das geozentrische Axiom des Aristoteles ablöste. Er schuf die Grundlagen der
klassischen Physik und begründete das experimentelle Denken in den
Naturwissenschaften. Seine Ideen hatten allesamt einen unschätzbaren
Wert, dennoch wurde ihm der inquisitorische Prozess gemacht.
Es stellt sich also die Frage, wie und zu welchem Zeitpunkt ein Kunstwerk angemessen bezahlt ist? Sind Bilder dann berechtigterweise teurer,
wenn Künstler bewusst nur wenige produziert haben, wie etwa der erst
im 19. Jahrhundert wieder entdeckte niederländische Maler Jan Vermeer van Delft (1632–1675)? Dagegen spräche, dass der gegenwärtige
Kunstmarkt gerade der reichlich vorhandenen zeitgenössischen Kunst,
siehe Hirst, Höchstpreise beschert. Ist es also richtig, die Preisgestaltung
dem Geschick und der Cleverness einzelner oder mehrerer pfiffiger
Galeristen zu überlassen, die dann sozusagen den „Markt machen“?
Oder folgen Menschen einfach der eigenen prickelnden Passion, genau
dieses und kein anderes Kunstwerk besitzen zu wollen? Schwer zu
sagen; von Einflüssen ist niemand frei und schlussendlich ist jede Kaufentscheidung wohl immer eine Mixtur aus vielen Komponenten, rationalen wie irrationalen.
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Ich selbst sammle nun seit über 40 Jahren Kunst und habe unter ökonomischen Gesichtspunkten mehrmals schwere „Unterlassungssünden“ begangen, weil mir zum Angebotszeitpunkt ein Kunstwerk vollkommen überteuert erschien, ich aber zehn Jahre später feststellte, dass
ich, nach kaufmännischen Gesichtspunkten, ein Dummkopf war, weil
der damals angebotene Preis zehn Jahre später ein Schnäppchen gewesen wäre. Allerdings wären dann andere Werke, die ich heute noch
schätze und die ich damals stattdessen erwarb, nie in meine Sammlung
gelangt.
Solche Situationen erlebt jeder Sammler. Der Kunst- und Kulturbetrieb
wäre ohne Geld überhaupt nicht denkbar, und gute Kunst wird immer
ihren Markt finden, da „Wandaktien“ allemal und in vielerlei Hinsicht
mehr hergeben als mit falschen Zahlen bedrucktes Papier, weil eminente Qualität – vom Kunsthandwerk über Möbel bis hin zur zeitgenössischen Kunst – garantiert entsprechend hoch bezahlt bleibt.5
Insofern tendiere ich eindeutig dazu, die Kunst und das Geld als siamesische Zwillinge, allenfalls als Antipoden zu betrachten, die ohne einander nicht leben können.
Private und staatliche Sammlungen
Abschließend möchte ich noch einige Gedanken zu privaten und öffentlichen Sammlungen beisteuern, da das Verhältnis der Öffentlichkeit
und der Medien zu den Sammlern von Kunst und Kunstschätzen, wie
mir scheint, nach wie vor ebenso spannungsreich wie ambivalent ist.
Offenbar nur schwer auszurotten ist die Furcht, ein Sammler könne sich
selbst zu sehr ins Rampenlicht stellen und seine persönlichen Vorlieben,
manifestiert in der von ihm geschaffenen Kollektion, könnten das übergreifende Urteil der Kunstgeschichte über Gebühr beeinflussen. Meine
These ist indes, dass final alle privaten Kunstsammlungen direkt oder
indirekt in staatliche Institutionen münden werden, sei es über mäzenatische Stiftungen oder durch die Abgeltung der Erbschaftsteuer, bei
der die Staaten, aus meiner Sicht, recht unverfroren zulangen.
Nicht selten sind die Gründe aber auch viel prosaischer. Die Erben von
Kunstsammlungen erhalten zwar Kunst, sie hegen aber nicht notwendigerweise die Lust und die Begeisterung dafür. Sie wollen lieber den
„Cash“ in der Hand als die zitierte „Aktie an der Wand“. Für bedeutende
Kunstwerke bleibt dann zu hoffen, dass der Staat, wie bislang geschehen, das Patronat übernimmt und die Kunstwerke ankauft – man
denke hier nur an die Schriftensammlungen der Markgrafen von Baden
oder die wichtigsten Bildwerke der Fürstlich Fürstenbergischen Sammlung.
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Im Zuge der gegenwärtig leeren öffentlichen Kassen mag meine These,
dass alle Sammlungen am Ende direkt oder indirekt beim Staat landen,
im Moment verfehlt erscheinen. Die Zeiten werden sich aber auch wieder ändern, dessen bin ich gewiss. Frankreich hat ohnehin schon einen
eigenen Weg der staatlichen Anerkennung von Kunstwerken als Zahlungsmittel im Falle von Steuerschulden gefunden. Die ungewöhnliche
Lösung geht auf den spektakulären Fall der Erben Picassos zurück, deren
umfangreicher, ererbter Bestand an Kunstwerken sie in unlösbare finanzielle Schwierigkeiten zu bringen drohte. Ihre zur Begleichung der
geforderten Erbschaftsteuer eingereichten Kunstwerke sind inzwischen
in Form des staatlichen Musée Picasso in Paris der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Anders sieht die Situation in den USA aus. Der deutsche „Kulturstaatsgedanke“ ist der US-amerikanischen Gesellschaft fremd; Kulturförderung ist dort in erster Linie eine Aufgabe der Gesellschaft und keine
Staatsaufgabe. Kulturförderung und Bildung sind daher ohne großzügiges Mäzenatentum nicht denkbar. So beträgt der staatliche Anteil an
den gesamten Kulturausgaben regelmäßig nur rund 10 Prozent. Private
Spender finanzieren 40 Prozent und die Kulturbetriebe erwirtschaften
selbst die verbleibenden 50 Prozent. Staatliche Kulturförderung erfolgt
darüber hinaus im Wesentlichen indirekt, nämlich durch die Steuerbegünstigung von Spenden für kulturelle Zwecke (geschätzt: über 50 Milliarden US-Dollar im November 2008).6
Bei allen Lobeshymnen auf das „amerikanische Modell“ darf jedoch
nicht übersehen werden, dass angesichts wirtschaftlicher Turbulenzen
derzeit auch in den Vereinigten Staaten der Verlust gesellschaftlicher
Solidarität, mangelnde Bürgerinitiative sowie deren unmittelbare Auswirkungen auf Theater, Museen und Universitäten beklagt werden.7
Dieser Einfluss aus den USA hat in den vergangenen 25 Jahren in Teilen
auch auf Europa übergegriffen. Eine Vielzahl von Sammlermuseen, die
in den zurückliegenden Jahren in Deutschland entstanden sind und die
als dauerhaftes Bekenntnis zur öffentlichen Zugänglichkeit von Kunst
eine höchst erfreuliche Bereicherung der Museumslandschaft bilden,
haben dazu beigetragen, die noch in den 50er und 60er Jahren bestehende, fast fanatische Ablehnung einer Zusammenarbeit zwischen Kultur und Öffentlicher Hand einerseits und privaten Geldgebern andererseits abzubauen. Ob Getty in Kalifornien oder Burda in Baden-Baden, ob
Thyssen-Bornemisza in Madrid, Jensen in Louisiana/Humlebæk (Kopenhagen) oder Beyeler in Basel, all diese Museen werden von exzellenten
Kunstfachleuten geführt, während die Eigentümer der Kunstwerke
dezent im Hintergrund bleiben und kaum Einfluss auf die Inhalte der
Museumsprogramme nehmen. Dies trifft auch auf die Würth-Gruppe
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mit ihren insgesamt 15 Kunstmuseen und Kunstkabinetten in Europa
zu. Kunst und Geld, Wirtschafts- und Kunstbetrieb haben hier ein erfreuliches, sich wechselseitig befruchtendes Miteinander gefunden.
Abschließend lässt sich festhalten, dass Kunst und Geld nicht Feinde
sind, sondern sich zu harmonischer Gesamtheit zusammenfügen –
wobei das Geld nur Katalysator oder Streichholz für künstlerisches
Feuerwerk bleibt: Die Herstellkosten einer Skulptur oder eines Bauwerks mögen den Kostenvoranschlag um das Zehnfache übersteigen –
einhundert Jahre später spricht kein Mensch mehr über den Ärger, der
bei der Schaffung des Kunstwerks um die Kosten entstand. Alle bewundern die Genialität künstlerischer Leistung. Denn: Geld in der Kunst
schmilzt wie das Eis in der Sonne.
Fußnoten
1 Martin Warnke, Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers. Köln 1996.
2 Giorgio Vasari, geboren 1511 in Arezzo in der Toskana, war ein Universalgenie: Maler,
Architekt (u.a. als Baumeister der Uffizien), Berater der Medici, Kunstsammler und
Historiker. Sein Hauptwerk, Vite de‘ più eccellenti pittori, scultori ed architettori (Leben der
hervorragendsten Künstler), kurz: Le vite genannt, erschien erstmals 1550 und brachte
ihm den Ruf ein, der „Vater der Kunstgeschichte“ zu sein. Vasari starb 1574 in Florenz.
Das im Text verwendete Zitat stammt aus ebendiesem Werk, hg. von Paola della Pergola, Luigi Grassi und Giovanni Previtali, 9 Bände, Mailand 1962–1966, hier zitiert
nach: Martin Warnke: Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers, Köln
1996, S. 316.
3 Zitiert nach Warnke a. a. O.
4 Es gehört zu den Gepflogenheiten der Würthschen Unternehmenskultur, jedes
Geschäftsjahr unter ein Motto, eine Losung zu stellen. „Vibrierende Neugier“ begleitete die Würth-Gruppe in den Jahren 2007 und 2008.
5 Wie Rose Marie Gropp, die Kunstmarktspezialistin der F.A.Z., unlängst auf meine Einladung hin im Rahmen eines nicht öffentlichen Vortrages vor dem Kunstbeirat der
Würth-Gruppe überzeugend darlegte.
6 Quelle Auswärtiges Amt: http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Laenderinformationen/UsaVereinigteStaaten/Kultur-UndBildungspolitik.html.
7 Vgl. Manuel Frey, Macht und Moral des Schenkens, Staat und bürgerliche Mäzene vom
späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. von Thomas Gaehtgens, Jürgen Kocha
und Reinhard Rürup, Berlin 1999, Bd VI, S. 210.
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„Die Kunst braucht Mäzene, keine Sponsoren“
Ein Gespräch mit der stellvertretenden Generaldirektorin der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen und Leiterin der Pinakothek der
Moderne Carla Schulz-Hoffmann
Frau Schulz-Hoffmann, Sie leiten seit Jahrzehnten die Sammlung „Moderne Kunst“
in der Pinakothek der Moderne. Was war die schönste Ausstellung, die Sie betreut
haben? Warum?
Die große Retrospektive 1983 zum 100. Geburtstag von Max Beckmann.
Zu dieser Ausstellung kam ich wie die Jungfrau zum Kinde, um es mit
einem Sprichwort zu verbildlichen. Die Herausforderung war gewaltig,
denn ich war damals eigentlich für die internationale Kunst des 20. Jahrhunderts zuständig und steckte mitten in den Vorbereitungen einer
großen Ausstellung über Lucio Fontana, einen abstrakten Künstler, der
mit seinen Schnitten und Perforierungen den „Ausstieg aus dem Bild“
hin zur installativen Kunst entschieden vorbereitete. Mein damaliger
Kollege, Wolf-Dieter Dube, hatte gerade mit der Planung des BeckmannProjektes begonnen, als er als Generaldirektor nach Berlin wechselte
und ich deshalb parallel auch diese Ausstellung auf die Beine stellen
musste. Bis dahin habe ich Beckmann geliebt, wie ich alles liebe, was mit
großer Kunst zu tun hat, aber ansonsten hatte ich ziemlich wenig
Ahnung von diesem deutschen Jahrhundertkünstler. Meine Passion für
Beckmann, der ich bis heute treu geblieben bin, entstand jedoch erst
durch die intensive Auseinandersetzung mit seinen Werken. Die Ausstellung, die nach den deutschen Stationen München und Berlin auch
nach Amerika ging, war sehr erfolgreich und machte international den
außergewöhnlichen Rang Beckmanns deutlich. Die Ausstellung vor
zwei Jahren über die Zeit Beckmanns in Amsterdam – der Künstler hatte
dem nationalsozialistischen Deutschland 1937 den Rücken gekehrt und
war dann 1947 nach Amerika emigriert – baute auf diesem früheren Projekt auf und war die Frucht der damaligen Arbeit. Ohne die langjährigen Beziehungen, die ich in über zwanzig Jahren aufgebaut hatte, wäre
diese Ausstellung nicht zu realisieren gewesen. Nur so bekam ich all die
Leihgaben, die mir wichtig waren, und auch diese Ausstellung war von
spektakulärem Erfolg gekrönt.
Zählen wir alles zusammen, dann sind Sie jetzt seit über dreißig Jahren in der Münchner Pinakothek. In dieser Zeit hat sich München einen Status als moderne Kunststadt erarbeitet, eine Stadt, in die Stifter und Kunstmäzene ganz offensichtlich gern
investieren. Was braucht es dazu?
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Auf einen knappen Nenner gebracht, würde ich sagen, Ideen, den Ort
und Geduld. Oder besser: Kontinuität. Ich meine das ganz wörtlich.
Kontinuität und Ausdauer in persönlichen Beziehungen spielen eine
entscheidende Rolle. Viele der großzügigen Mäzene und Stifter, die uns
bedeutende Kunstwerke oder ganze Sammlungen überlassen oder die
zentrale Erwerbungen mitfinanziert haben, kenne ich seit vielen Jahren, und aus diesen Bekanntschaften haben sich längst Freundschaften
entwickelt. Verena und Bernd Klüser, die uns ihre großartige BeuysSammlung übergeben haben, taten dies nicht zuletzt deshalb, weil die
Chemie stimmte. Und als dann der Bau der Pinakothek der Moderne
beschlossene Sache und damit die räumliche Basis gegeben war, stand
dieser glücklichen Symbiose nichts mehr im Wege.
Was braucht es, um Sammler zu überzeugen, Stifter zu werden?
Man kann solche Prozesse nicht planen und in ihren Resultaten voraussehen, sie müssen sich entwickeln. Und langfristig führt nur Ehrlichkeit zum Ziel, Aufrichtigkeit im Umgang mit potentiellen Stiftern.
So sollte man keine Verträge schließen, die unerfüllbare Konditionen
enthalten. Man darf nicht, wie das auch bei uns in der Vergangenheit
immer mal wieder geschehen ist, Verträge aushandeln, die die gestalterische Konzeption für alle Zukunft massiv einschränken. Man kann keinem Stifter ernsthaft versprechen, die Werke seiner Sammlung immer
und ewig auszustellen. Das macht unglaubwürdig, da man zwangsläufig immer wieder vertragsbrüchig wird beziehungsweise nur für seine
eigene Amtszeit bürgt. Maßstäbe, Beurteilungskriterien können sich
ändern, die räumlichen Kapazitäten sind nicht unbegrenzt et cetera.
Das heißt, wir sollten nur Verträge abschließen, die nach menschlichem Ermessen nicht nur wir, sondern auch nachfolgende Generationen einhalten können.
Sie haben gerade gesagt, dass Sie einem Stifter keine Garantie bieten können, dass
seine Bilder wirklich langfristig und regelmäßig ausgestellt werden. Ist es für einen
Stifter überhaupt attraktiv, nach München zu gehen?
Wir können sicher nicht die Garantie geben, Sammlungen insgesamt
permanent zu zeigen. Das würde schon heute unsere räumlichen Möglichkeiten sprengen. Wir können jedoch etwas viel Wichtigeres anbieten, nämlich Nachhaltigkeit in der wissenschaftlichen und konservatorischen Betreuung und kluge Integration in die vorhandenen Sammlungsbestände. Unser Team von Kunsthistorikern, Restauratoren, Naturwissenschaftlern et cetera. ist hochkarätig. Wir verfügen nicht nur über
die quantitativ größte Gemäldesammlung der Welt, sondern auch über
das berühmte Doerner Institut, das restauratorische und naturwissenschaftliche Kompetenz auf höchstem Niveau verbindet. Diese Ressource,
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die die Pflege der uns anvertrauten Werke langfristig garantiert, ist ein
ganz entscheidendes Pfund, mit dem wir wuchern können. Damit können wir immer wieder, besonders bei der Kunst der Moderne und der
Gegenwart, punkten, die nicht mehr mit klassischen Techniken und
Materialien arbeitet und damit häufig extrem empfindlich auf äußere
Einflüsse, beispielsweise auf klimatische Veränderungen oder Erschütterungen, reagiert, die üblicherweise in privaten Haushalten instabiler
sind als im Museum. Nicht nur unsere Bedingungen sind um ein Vielfaches besser, sondern wir verfügen auch über das nötige Know-how,
eventuelle Schäden zu beheben beziehungsweise diese gar nicht erst
entstehen zu lassen oder auch einen bereits vorhandenen, fragilen
Zustand so zu sichern, dass er sich nicht verschlimmert.
Wie restauriert man Beuys?
Das ist eine extrem komplexe und vielschichtige Frage, die nur von Fall
zu Fall entschieden werden kann und auch kontrovers diskutiert wird.
Inwieweit darf man noch von Beuys selbst installierte Räume, die eine
ganz eigene Aura besitzen, antasten? Das heißt konkret: Inwieweit darf
man den berühmten „Darmstädter Block“, der sich in einem sanierungsbedürftigen Teil des Darmstädter Museums befindet, veränderten
Bedingungen anpassen, oder ist nicht der Alterungsprozess selbst Teil
des Werkes und sollte deshalb konserviert werden? Oder: In unserer
Beuys-Installation „Das Ende des 20. Jahrhunderts“, die aus 77 riesigen
versinterten Basaltblöcken besteht, aus denen Beuys einen trichterförmigen Teil ausgefräst und dann wieder mit Ton und Filz eingesetzt hat,
sind gerade die letztgenannten organischen Materialien durch den
„Zahn der Zeit“ stark reduziert worden. Wie soll man damit umgehen?
Soll man die Materialien ersetzen oder ihr zunehmendes Verschwinden
als zum Werk gehörend akzeptieren? Eine Frage, die von Beuys-Experten leidenschaftlich diskutiert wird. Dies galt und gilt in ähnlicher
Weise für die Frage, ob es richtig war, diese Rauminstallation überhaupt
von ihrem ehemaligen Aufstellungsort im Haus der Kunst in den Neubau der Pinakothek der Moderne zu verlagern, denn es bedeutete
zwangsläufig eine Neudefinition dieser von Beuys selbst eingerichteten,
„authentischen“ Installation.
Unabhängig davon, dass wir auf dieses zentrale Werk unserer Sammlung in den neuen Räumen nicht verzichten wollten, gab es für unsere
Entscheidung einen inhaltlichen Grund: Beuys hatte sein „Ende des 20.
Jahrhunderts“ dezidiert im Obergeschoss, am Ende des Galerierundgangs platziert, eine Situation, die nach dem Auszug unserer Sammlung
nicht mehr gegeben war. Aber wie sollten wir die Neuinstallation in der
Pinakothek der Moderne angehen? Sollten wir uns zu einer möglichst
freien Übertragung oder zu einer strengen Kopie entschließen? Wir
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taten letzteres, das heißt, der Aufbau entspricht mit Hilfe einer „Infrarotvermessungstechnik“ wortgetreu der von Beuys gedachten Version,
aber dennoch könnte der Unterschied nicht größer sein, da Materialien,
Lichtführung und Dimension anders sind. Fazit: Egal, wie wir uns entschieden hätten, Beuys „ohne Beuys“ zu installieren, bedeutet dies leider bis zu einem gewissen Grad immer eine „Fälschung“.
Wenn wir heute in die Uffizien oder in die Alte Pinakothek gehen, dann sehen wir
Bilder, von denen wir wissen, dass sie bedeutend sind, weil sie über die Epochen hinweg nachhaltige Wirkung hatten. Die Zeit hat sozusagen schon eine Auswahl
getroffen. Wie unterscheidet man in der Gegenwartskunst zwischen „guter“ und
„schlechter“ Kunst? Was sind Ihre Qualitätskriterien für gute Kunst?
Unter den vielen möglichen Antworten vielleicht zwei: Kunst muss innovativ sein, darf nicht auf eingefahrenen Wegen epigonal verharren, und
Kunst muss mich berühren, muss sich selbst und gegenüber der Welt
einen kritischen Blick bewahren. Darin unterscheiden sich „gute alte“
und „gute neue“ Kunst nicht prinzipiell.
Kann Kunst, die für einen Markt produziert wird, gute Kunst sein?
Die Frage ist falsch gestellt! Kunst, wenn sie gut ist, wird nie für den
Markt produziert, allerdings von ihm vereinnahmt, was Künstler oft
geschickt auszunutzen verstehen.
Damien Hirst beispielsweise, den ich in weiten Bereichen für überzeugend halte, versteht es perfekt, Marktmechanismen für sich zu instrumentalisieren und gleichzeitig kritisch zu unterlaufen. Das ist wirklich
ein Extremfall. So hat er kurz vor der Bankenkrise einen riesigen
Schwung neu produzierter Werke unter Umgehung seiner Galeristen
spektakulär bei einer Auktion versteigert, ein Coup, der perfekt funktionierte und ihm gigantische Summen einspielte. Ist das skandalös?
Oder zeigt es nicht vielmehr, wie „bescheuert“ der Markt selbst funktioniert, und führt damit diejenigen vor, die gierig genug sind, bei diesem Spektakel mitzuspielen?
Oder der umgekehrte Fall: Als in der gediegenen Royal Academy in London 1997 die Ausstellung „Sensation“ zu einem Skandal und damit
einem riesigen Medien- und Publikumsspektakel wurde, hatte das nicht
zuletzt mit einer raffinierten Marketingstrategie zu tun: Charles Saatchi,
berühmter Werbemogul, Promoter und exzessiver Sammler zeitgenössischer Kunst, wählte gemeinsam mit dem Direktor als Plakat und visuellen Slogan der Ausstellung ein Bild von Marcus Harvey aus, das das Porträt einer Kindermörderin zeigt, „gemalt“ mit den Füßen kleiner Kinder,
und sorgte damit nicht zuletzt wegen der massiven Proteste Londoner
Eltern für Aufsehen. Die Ausstellung wurde zu einem Selbstläufer. In New
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York, wo niemand diese „Pointe“ begriffen hätte, wurde die gleiche Ausstellung mit einem Bild beworben, das der katholische Oberbürgermeister Rudolph Giuliani zu einem medienwirksamen Protestspektakel ausschlachtete, von dem die Ausstellungsmacher blendend profitierten: Als
Plakatmotiv wurde hier ein Madonnenbild des Turner-Preisträgers
Charles Ofili gewählt, auf dem die Brüste der Madonna pikanterweise aus
Elefantendung bestanden und das damit als Sakrileg hochgeputscht und
skandalträchtig vermarktet wurde.
Ihre Antwort ist also ein klares Ja?
Ich fürchte: ja. Man muss akzeptieren, dass es außergewöhnliche Künstler gibt, die sich auch blendend vermarkten. Das war schon immer so,
und wahrscheinlich hat uns erst die frühe Moderne weismachen wollen,
dass nur – siehe van Gogh oder Kirchner – der verkannte, leidende
Künstler ein wahrer Künstler sei. Aber davon unabhängig: Marktmechanismen sind die eine Seite, die andere sind Künstler, die „ihr Ding
machen“. Wenn sie dabei permanent auf den Markt schielen würden,
wären sie schnell draußen.
Nun zur Person des Sammlers. Ich frage mal ganz provokativ: Nicht jeder, der Geld
hat, hat Geschmack?
Das mag häufig für diejenigen stimmen, die Kunst primär deshalb kaufen, weil sich das gut macht. Das sind jedoch keine Sammler im eigentlichen Sinne, die meistens schnell ihren eigenen „Stil“ entwickeln und
Kunst nach bestimmten Gesichtspunkten erwerben. Was allerdings oft
zu beobachten ist: Sammler, die die Kunst ihrer Generation sicher beurteilen, verlieren diese Fähigkeit bei den Künstlern, die irgendwann viel
jünger sind als sie selbst.
Kunstmäzen – ein altmodischer Begriff, der mittelalterlich klingt! Sie sind der
Ansicht, dass die Kunst Mäzene und keine Sponsoren braucht. Wie meinen Sie das?
Ja, zwischen Mäzenen und Sponsoren besteht ein grundsätzlicher
Unterschied, der leider von vielen nicht gesehen wird. Der Mäzen stellt
ohne Gegenleistung finanzielle Mittel oder Kunstwerke der Öffentlichkeit zur Verfügung. Dafür gibt es immer weniger Beispiele, die
jedoch in unterschiedlichen Modellen funktionieren. Auf der einen
Seite stehen Privatmuseen – herausragende Beispiele sind etwa diejenigen der Stiftung Würth oder das Frieder Burda Museum in BadenBaden –, die Sammlung, Bau und Infrastruktur stiften, aber damit
dann weithin ihre eigene Kulturpolitik verfolgen. Auf der anderen Seite
sind diejenigen zu finden, die die Kooperation mit der Öffentlichen
Hand suchen, ihre Bestände direkt in bestehende öffentliche Samm-
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lungen integrieren oder sich finanziell an Erwerbungen beteiligen. So
wäre etwa unsere hochkarätige Sammlung nicht ohne diese glücklichen Zugewinne existent, man denke zum Beispiel an den Expressionismus und die Max-Beckmann-Sammlung, an den Surrealismus, für
den der Grundstock durch private Mäzene gelegt wurde (Stiftung Fohn,
Kruss, Werner, Wormland etc.) oder – in der Gegenwart – an die Erwerbungen unseres Freundeskreises PIN. ebenso wie an die Sammlung von
SKH Herzog Franz von Bayern, die Sammlungen Udo und Anette Brandhorst, Michael und Eleonore Stoffel, Ann und Jürgen Wilde, um nur
einige zu nennen.
Oder: Mir ist kürzlich der Ankauf eines wunderbaren Bildes von George
Grosz „Frau im schwarzen Mantel“ mit folgendem Modell geglückt:
Zwei uns über Jahrzehnte verbundene Mäzene, Dr. Wilhelm Winterstein
und Dr. Hartwig Garnerus (Theo Wormland Stiftung), ließen sich von
meiner Begeisterung für dieses Bild, das in der Pinakothek der Moderne
einen wichtigen neuen Akzent setzt, anstecken, und entschlossen sich
spontan, gemeinsam ein Drittel der Ankaufssumme zur Verfügung zu
stellen. Dieser Betrag wurde von der Kulturstiftung der Länder unter der
Bedingung um ein weiteres Drittel aufgestockt, dass der Freistaat Bayern das restliche Drittel zur Verfügung stellen würde – ein Zugzwang,
dem schwer auszuweichen war.
Ist der Staat ein Mäzen?
Nun, aus meiner Sicht zählt es zu den zentralen Aufgaben des Staates,
unser kulturelles Erbe zu sichern und zu bewahren. Daraus ergibt sich
quasi die Verpflichtung, dafür die entsprechende Infrastruktur zu stellen. Der Staat ist weitgehend für die Riesensummen der Grundfinanzierung verantwortlich. Er stellt die Gebäude, das Personal und trägt die
Kosten für die Bewirtschaftung, das heißt, er finanziert all das, was den
Laden selbst am Laufen hält. Wenn dies gewährleistet ist und zudem –
was bei uns noch Zukunftsvision ist – eine Staatshaftung bei Dauerleihgaben und Ausstellungen die Kosten reduziert und die Ticketeinnahmen insgesamt an das Museum zurückfließen, das heißt, eine Möglichkeit geschaffen ist, Ausstellungen zu einem Teil selbst zu finanzieren, müsste man kein schlechtes Gewissen haben, bei Neuerwerbungen
wesentlich auf die private Hand zu setzen.
Und wie organisieren sich private Förderer?
Hier gibt es diverse Modelle. Eine wichtige Rolle spielen Freundeskreise
und Museumsvereine. Auch diese haben unterschiedliche Strategien: So
gibt es einerseits die riesigen Bildungsvereine mit niedrigen Jahresbeiträgen und extrem hohen Mitgliederzahlen in Zehntausenderberei-
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chen. Andererseits gibt es die überschaubaren Freundeskreise, deren
Mitglieder allerdings viel erklecklichere Beiträge zahlen und die durchaus eine gewisse Exklusivität für sich in Anspruch nehmen. Beide Konzepte, so verschieden sie auch sein mögen, funktionieren auf ihre Weise
gut. Die einen wollen möglichst vielen die Chance geben, unmittelbar
am Kulturbetrieb zu partizipieren, die anderen arbeiten gezielt mit
wenigen engagierten Mitgliedern, die enge Kontakte zu der Institution
und deren Team pflegen. „PIN. Freunde der Pinakothek der Moderne“
stellt unter anderem jedes Jahr im Herbst unter dem Motto „Let’s party
for a piece of art“ ein rauschendes Fest in der Pinakothek auf die Beine,
dessen Höhepunkt eine Auktion mit Kunstwerken ist, die von den Mitgliedern selbst geworben oder gestiftet wurden. Das alles ist sehr arbeitsintensiv und eine logistische Leistung, die das ehrenamtliche Engagement hochkarätiger „Zugpferde“ voraussetzt. Stolzes Resultat war bisher stets ein Erwerb im sechsstelligen Euro-Bereich.
Aber das ist nur eine der vielen Aktivitäten von PIN., ein Freundeskreis,
der seit 1965 sicher die Hälfte aller Erwerbungen für die zeitgenössische
Sammlung unseres Hauses gestemmt hat. Mindestens ebenso spektakulär sind auf einer anderen Ebene die Aktivitäten der „Stiftung Pinakothek der Moderne“, die mit weit mehr als 10 Prozent der gesamten
Bausumme die Anschubfinanzierung für dieses Museum der Spitzenklasse auf die Beine stellte und die auch heute noch als starker Motor für
notwendige Erweiterungen wirkt, wie etwa den zweiten Bauabschnitt
mit Studiensälen und Depot für die Graphische Sammlung oder die
Initiative für ein international besetztes Symposium über die Neuordnung des Kunstareals und damit verbundene städtebauliche Strategien.
Selbstverständlich können und dürfen dafür auch im Rahmen unserer
Möglichkeiten Gegenleistungen erwartet werden. So bieten wir etwa
Previews mit Konservatorenführungen, Sonderöffnungen, Galerierundgänge und begleiten hin und wieder Mitglieder unserer Freundeskreise auf bestens organisierte und vorbereitete Kunstreisen. Daneben
und unabhängig davon ist jeder von uns im Fundraising-Bereich aktiv,
was einen großen Teil der Zeit schluckt. Ohne diese Aktivitäten könnten wir jedoch weder Ausstellungen noch Erwerbungen stemmen.
Erstaunlicherweise ergänzen wir uns dabei bestens und kommen uns
selten in die Quere, denn der eine hat zu diesem, der andere zu jenem
einen guten Draht.
Die Sammlung Brandhorst und die Sammlung Stoffel sowie jüngst die Fotosammlung Ann und Jürgen Wilde sind Zugewinne, die nur über jahrelange Kontakte, gemeinsame Interessen und persönliche Verbundenheit nach München
gelangten. Wie kommen solche Kontakte überhaupt zustande?
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Zunächst handelt es sich meist um Zufälle oder zumindest nicht um
gezielte Kontakte, jedenfalls soweit ich das für mich in Anspruch nehmen kann. Dies gilt für die grandiose Sammlung Udo und Anette Brandhorst, mit der im vom Freistaat Bayern errichteten gleichnamigen
Museum seit Mai dieses Jahres das Kunstareal München glanzvoll erweitert wurde. Dies gilt ebenso für das Ehepaar Stoffel, mit dem ich über
Jahre hinweg locker bekannt war. Ich kann, ohne rot zu werden, behaupten, dass ich mit keiner Faser daran gedacht habe, die Sammlung für
München zu gewinnen. Für mich war das eine Kölner Sammlung, die –
und dafür bin ich genug Rheinländerin, um dies sagen zu können –
auch dort ihren selbstverständlichen Ort gehabt hätte, eine Lösung, die
jedoch leider nicht zustande kam. Erst in den vergangenen Jahren kam
zu unserer eher gesellschaftlich-privaten Verbindung eine auch offizielle Ebene hinzu. Es fiel mir nicht ganz leicht, von der interesselosen,
freundschaftlich gesinnten Bekannten in die Rolle derjenigen zu schlüpfen, die auch konkrete Interessen zu vertreten hatte. Sicher kam mir
dabei ein über lange Zeit aufgebautes Grundvertrauen zugute. Es war
klar und glaubwürdig, dass es mir um eine überzeugende Lösung, das
heißt, um eine gleichberechtigte Einbindung der Sammlung Stoffel in
den Kontext unseres Hauses ging.
Mit Michael und Eleonore Stoffel hat mich insbesondere in ihren letzten Lebensjahren – er starb 2005, sie zwei Jahre später – eine von großer
Bewunderung und Respekt geprägte Freundschaft verbunden. Die Disziplin beider war beeindruckend, und so habe ich mit Eleonore Stoffel
trotz ihrer schweren Krankheit noch Veranstaltungen besucht und Reisen unternommen. Wir haben in vielen intensiven Gesprächen gemerkt,
wie sehr uns, trotz vieler Unterschiede, nicht nur die Leidenschaft für
die Kunst, sondern auch die Leidenschaft für die der Kunst immer wieder zugrunde liegenden gesellschaftspolitischen Kernfragen unserer
Zeit verbunden hat.
Aber all die großen Gemeinsamkeiten und Visionen wären natürlich,
wie schon bei der Sammlung Udo und Anette Brandhorst, ins Leere
gelaufen, wenn es nicht mit dem Bau der Pinakothek der Moderne
gelungen wäre, einen Dreh- und Angelpunkt für die Kunst der Moderne
zu schaffen. Zusammen mit den hochkarätigen Sammlungen der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, der Glyptothek, der Antikensammlung, der Alten und Neuen Pinakothek sowie den bald fertiggestellten
Neubauten für die ägyptische Kunst und die Hochschule für Film und
Fernsehen ist ein Kunstareal von außergewöhnlicher Dichte und Strahlkraft entstanden, das weltweit seinesgleichen sucht. Das sind natürlich
auch Pfunde, mit denen wir wuchern können und die es uns sicher in
manchen Dingen etwas leichter machen!
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Wer hat die entscheidenden Weichen gestellt?
Da muss man weit zurückgehen. Die kulturelle Situation in München,
um die wir mit Recht beneidet werden, ist ohne das Haus Wittelsbach,
ohne die Sammlungen, die sie über Jahrhunderte hin aufgebaut haben,
insbesondere aber auch ohne König Ludwig I. nicht denkbar. Er hat
bereits im 19. Jahrhundert die wegweisende Alte Pinakothek von Leo von
Klenze erbauen lassen und 1853 die Neue Pinakothek als weltweit erstes
Museum errichtet, das ausschließlich der Kunst seiner Zeit, das heißt,
der Gegenwart gewidmet war. Beide Bauten entstanden – auch dies eine
weitsichtige Entscheidung – außerhalb der Stadtmauern, im wahrsten
Sinne des Wortes auf freiem Feld, wie dies alte Aufnahmen zeigen. Die
Kunstbegeisterung des Hauses Wittelsbach lieferte das entscheidende
Fundament für Alte und Neue Pinakothek, wobei alle, und ganz besonders Ludwig I., aktiv und leidenschaftlich die Ankaufspolitik bestimmten.
Was hat er angekauft?
Zum einen alte Meister, insbesondere Italiener, aber eben auch ganz
engagiert und mit Herzblut die Kunst seiner eigenen Zeit. Das waren
damals Neoklassizismus, die Nazarener, die Deutschrömer, die der Italiensehnsucht vieler sichtbaren, bildlichen Ausdruck verliehen. Die
gesamte Sammlung des Wittelsbacher Hauses, so etwa 90 Prozent der
Bestände der Alten Pinakothek, gelangten nach dem ersten Weltkrieg in
den sogenannten Wittelsbacher Ausgleichsfonds, eine ausgeklügelte
Konstruktion mit Kontrollfunktion in beiden Richtungen: Weder der
Vorbesitzer, das heißt das Haus Wittelsbach, noch der Freistaat Bayern
können über die Kunstwerke frei verfügen, beispielsweise Teilbereiche
veräußern. Sie stehen vielmehr dauerhaft der Öffentlichkeit zur Verfügung, sind im Sinne von Ludwig I. kein Luxus, sondern Gemeingut für
alle. Auf der Grundlage dieses reichen kulturellen Erbes hat sich dann
auch das Engagement für Gegenwart und Zukunft allmählich als Notwendigkeit etabliert. Für heute, für unsere Ausweitung und Vervollständigung der Bestände, war der Neubau der Pinakothek der Moderne
zwingende Voraussetzung. Ohne diese, der Bedeutung der Sammlungen
und internationalen Standards angemessene hochkarätige architektonische Hülle wäre eine weitere zukunftsorientierte Sammlungspolitik
nicht denkbar.
Und heute, wer kauft heute für Ihr Haus ein?
Das Haus Wittelsbach hat diese Tradition mit seinem heutigen Chef,
Herzog Franz von Bayern, engagiert und kompromisslos fortgesetzt.
Herzog Franz kaufte schon früh als junger Student Grafik von Kubin,
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und bereits in den 60er Jahren folgten Beuys, Palermo, Baselitz, Lüpertz,
um nur einige zu nennen, alles Künstler, die damals höchst umstritten
waren und als Scharlatane, Querdenker und gar Revoluzzer galten.
Diese heute hochdotierte Sammlung stiftete Herzog Franz ganz im Verständnis der Tradition seiner Familie in den Wittelsbacher Ausgleichsfonds und damit der Öffentlichkeit. Auch die Gründung von PIN., unserem engagierten Freundeskreis, ist ihm entschieden mit zu verdanken:
Mit der spektakulären Erwerbung des nach Auskunft des Künstlers
bedeutendsten Triptychons von Francis Bacon entstand der Grundstock
für einen beispiellosen Bestand mit Werken junger Kunst in unserer
Sammlung, lange Zeit gegen die ausdrückliche und konservative Strategie der verantwortlichen Museumskuratoren. Erst als Peter-Klaus
Schuster und ich – er für deutsche, ich für internationale Kunst des 20.
Jahrhunderts – in den 80er Jahren für die Sammlungspolitik verantwortlich wurden, änderte sich die Situation insbesondere mit Blick auf
die Gegenwart ganz entschieden. Heute ist es völlig selbstverständlich,
dass auch die Erwerbungen des Freundeskreises nur in enger Absprache
mit den Kuratoren vorgenommen werden. Wir machen die Vorschläge,
stellen unsere „Objekte der Begierde“ zur Diskussion, und auf dieser
Grundlage wird über Erwerbungen entschieden.
Zurück noch einmal zum Unterschied zwischen Mäzenen und Sponsoren.
Sponsoring bedeutet – im Gegensatz zum Mäzenatentum – stets auch:
Wie sieht die Gegenleistung aus, was können wir bieten? Natürlich handelt es sich dabei nur indirekt um Gegenleistungen materieller Art, das
heißt um Sonderöffnungen, Previews, hochkarätige Direktoren- oder
Konservatorenführungen, Werbung in den Printmedien (Plakate, Kataloge, Infobroschüren), die eine Ausstellung begleiten et cetera. Für diese
Gegenleistungen wird jeweils ein bestimmter Gegenwert veranschlagt,
der auf die finanzielle Leistung des Sponsors umgerechnet werden
kann. Das ist jedoch nie ein „Eins-zu-eins-Geschäft“ und hängt auch mit
dem jeweiligen Projekt zusammen, das heißt, bei einer BlockbusterAusstellung gelten andere Maßstäbe als bei einem wichtigen, aber nur
Insidern bekannten Künstler. Konkret: Bei einer Picasso-Ausstellung helfen 20.000 Euro wenig, wohingegen damit locker ein spannendes Projekt mit einem jungen Akademieabgänger auf die Beine gestellt werden
kann. Es müssen hier also individuelle „Pakete“ für die unterschiedlichen Zielgruppen geschnürt werden, sozusagen zum einen für die
Hollywood-, zum anderen für die Low-Budget-Produktion.
Ein anderes Problem entsteht durch die Frage nach der „political correctness“. Das mag absurd klingen, aber: Darf man mit Tabakkonzernen
keinen Sponsoringvertrag schließen, weil Rauchen bekanntlich tödlich
sein kann? Was ist mit Automobilkonzernen: Schaden Autos global
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nicht nachhaltig der Menschheit, weil sie Umweltkiller sind? Und was
ist mit der Chemie-, der Pharmaindustrie und, und, und …? Wo zieht
man die Grenze? Dabei hängt viel vom Fingerspitzengefühl, von klaren
Vorgaben und auch hier wieder von Offenheit ab.
Dies ist etwa in der Zusammenarbeit mit Philipp Morris, einem der Millionen-Spender der Pinakothek der Moderne, überzeugend gelungen.
Gemeinsam haben wir ein innovatives Kunstvermittlungskonzept,
PINK, entwickelt, das nicht in erster Linie auf Wissen abzielt, sondern
„Hilfe zur Selbsthilfe“ sein will. PINK wendet sich an gesellschaftliche
Gruppen, die üblicherweise kaum Chancen haben, kulturelle Angebote
wahrzunehmen: Jugendliche aus den sozialen Brennpunkten der Stadt,
Frauen aus Frauenhäusern, aber auch Menschen mit körperlichen Einschränkungen, beispielsweise Blinde. In Zusammenarbeit mit Sozialarbeitern vor Ort, mit Betreuern und hochmotivierten Kunstpädagogen
von uns werden Workshops in Seminarräumen und dem Museum selbst
durchgeführt, deren Ziel es ist, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten
anzustoßen. Es geht PINK nicht um die Vermittlung klassischer Wissensinhalte zur Kunst, wir wollen nicht darauf trainieren, dass die Teilnehmer jede Menge „-ismen“ auseinanderhalten können. Kunstvermittlung heute möchte in erster Linie das Vertrauen in die eigene
Urteilsfähigkeit stärken und Mut machen, sich mit den aktuellen Themen unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen, denn die sind es ja, die
in der Gegenwartskunst verhandelt werden.
Zurück zu Geist und Geld. Sie haben viel Erfahrung im Umgang mit Menschen, die
beides haben und die ihr Geld in das geistreiche Unternehmen Kunst investieren.
Lässt sich eine Art Psychogramm des typischen Stifters zeichnen?
Das fällt mir schwer. Nein, das geht nicht. Die Stifter, die ich kennengelernt habe, sind so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Und natürlich
kann ich nur über die Erfahrungen berichten, die ich selbst gemacht
habe.
Es gibt den Jäger- und Sammler-Typus. Lothar Günther Buchheim war
so einer. Gute Kunst und das Einwickelpapier von Apfelsinen – in seinem
Museum hängen auch gepresste Blütenbilder seiner Frau und „Schneegestöber“, so ungefähr alles, was Kunst- aber auch Freizeit-Produktion
im weitesten Sinne, was High and Low insgesamt betrifft.
Dann gibt es den Strategen wie Peter Ludwig. Der Schokoladenfabrikant
und promovierte Kunsthistoriker hat flächendeckend und systematisch
Sammlungen zu ganz bestimmten Themen aufgebaut, etwa zur Pop-Art,
aber auch zur russischen Kunst oder zu Picasso. Er hat gründlich gesammelt und mit Konzept flächendeckend riesige Werkkomplexe erworben
und planmäßig erweitert.
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Dann gibt es den Sammler, der unabhängig vom Vermögen, über das
er verfügt, jede einzelne Erwerbung ganz bedächtig tätigt, der sich
lange und intensiv mit der Kunst auseinandersetzt, bevor er kauft. Das
Ehepaar Stoffel war ein solcher Fall, es lebte in der Kunst, die es sammelte, und hat sich für jedes seiner „Kinder“ unglaublich viel Zeit
genommen.
Das Ehepaar Udo und Anette Brandhorst hat sich zwar stets breit orientiert, aber dann ganz eindeutig dafür entschieden, wenige Ausnahmen zu sammeln. Die Twombly- und Warhol-Werkgruppen, aber auch
die Bestände von Polke, Kounellis, Gober, Nauman oder Hirst, um nur
einige zu nennen, sind spektakulär. Diese deutliche Konzentration
führte dazu, dass auf höchstem Niveau einzelne monografische Werkblöcke von Spitzenkünstlern zusammenkamen. Viele beginnen schon
ganz jung, leidenschaftlich zu sammeln. Lothar Schirmer etwa hat als
Student Twombly in Italien besucht und sich mit monatlichen Raten
von 50 D-Mark eines der schönsten Twombly-Bilder regelrecht vom
Munde abgespart. Auch Herzog Franz kaufte die Kubin-Zeichnungen mit
seinem Taschengeld.
Auch das Verhältnis der Sammler zu ihren Sammlungen ist unterschiedlich. Es gibt die relativ distanzierten, scheinbar leidenschaftslosen „Jäger“, die Sammlungen zusammentragen, verkaufen und neue
erwerben. Das ist gewissermaßen der Spielertyp. Das Gegenstück ist
jener Sammler, der bedächtig ein Leben lang für und mit seiner Sammlung lebt, der sich erst im Laufe der Zeit darüber im Klaren wird, was
ihn interessiert.
Was können sie zur Rolle der privaten Sammler oder auch der Museums-Kuratoren beim Durchbruch junger Künstler sagen?
Die Frage lässt sich kaum isoliert beantworten, denn bei dem Ganzen
geht es um ein kaum entwirrbares Knäuel unterschiedlicher Interessenvertreter. Wer „macht“ den Künstler? Der, der ihn bekanntmacht?
Und wer ist das? Der Galerist, der ihn vermarktet? Der Kritiker, der seinen Ruf mitbestimmt? Oder der Museumskurator, der ihm die Weihen
öffentlicher Akzeptanz gibt, indem er ihn ausstellt? Oder ist es nicht
vielmehr der schnöde Mammon und damit der potente Sammler, der
ihm durch Ankäufe nicht nur zu Geld, sondern ganz besonders zu
Ruhm verhilft?
Sicher ist es von allem ein bisschen und dann auch wieder nicht, denn
– und das ist meine nicht zu erschütternde Überzeugung: Der Rang
eines außergewöhnlichen Künstlers ist von all dem unberührt, der Glamourfaktor hat nichts mit seiner Bedeutung zu tun. Allerdings lebt es
sich zweifellos bequemer mit als ohne Geld, und für zu viel davon muss
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man schon ziemlich stark sein, um sich nicht korrumpieren zu lassen,
aber das trifft auf alle wirklich guten Künstler ohnehin zu.
Frau Schulz-Hoffmann, man kennt Sie aus dem Fernsehen als Diskussionsteilnehmerin und Moderatorin der Sendung „Bilderstreit“. Warum ist es wichtig, dass
über Bilder öffentlich „gestritten“ wird?
Hier müsste viel mehr passieren. Kultursendungen sind Mangelware
und werden meistens auf absurde Randzeiten verlegt, zu denen kein
normaler Sterblicher fernsehen kann oder will. Das reduziert die Einschaltquoten und führt irgendwann dazu, dass auch diese letzten Biotope verschwinden.
Aber machen wir uns nichts vor: „Bilderstreit“ kommt zwar in seinem
Segment recht gut an, aber in der Summe handelt es sich natürlich nur
um kleine Gruppen, die ihn vermissen würden. Eine Gesellschaft, die
glaubt, musische Schulbildung alternativ auf Musik oder Kunst
beschränken zu können, die die Geisteswissenschaften an den Universitäten zur Diaspora verkümmern lässt und im öffentlich-rechtlichen
Fernsehen auf nahezu denselben Schwachsinn setzt, wie es die meisten
privaten Sender bis zum Exzess praktizieren, sollte sich eigentlich nicht
wundern. Aber dennoch: Als unbelehrbare Optimistin bleibe ich überzeugt, dass „Kleinvieh auch Mist macht“.
Im Senatssaal der Universität Mannheim ist unter anderem Immendorf, Akademie West – Aufgabe Standarten 1984 zu sehen (Leihgabe aus der Sammlung
Würth).
Ein provokatives Bild für den Senatssaal einer ehrwürdigen Universität,
denn Immendorff „kotzt“ sich hier wörtlich seinen Frust gegen die
Hochschule und damit immer noch das Establishment von der Seele. Es
ist zugleich ein ironisch-subversiver Versuch, typische Ost-West-Strukturen aufzuweichen. Denn während die Studenten der Akademie Ost in
einem anderen Beispiel dieser Werkgruppe aus den 80er Jahren die
radikalen Abstraktionen des Systemfeindes Josef Albers malen müssen,
geht es bei den Weststudenten um Standarten. Die geraten allerdings vor
dem Schatten des deutschen Adlers und des Brandenburger Tores zu
ziemlich abgewrackten Modellen, Grund genug für den Künstler, dass
es ihm speiübel wird.
Zum Schluss eine ganz praktische Frage: Lohnt es, in Kunst zu investieren? Welche
Empfehlungen geben Sie?
Die Frage ist ganz typisch, aber dennoch falsch gestellt. Denn wenn der
potentielle materielle Zugewinn der Auslöser für eine Erwerbung wäre:
„Forget it!“ Dann wären Goldbarren langfristig wohl doch sinnvoller. Ich
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empfehle immer noch, Kunst zu kaufen, die einen nicht loslässt, die
irgendwo einen Nerv trifft.
Und ansonsten: Kunst ist im Sinne von Karl Valentin schön, macht aber
viel Arbeit. Das heißt in diesem Fall: Sehen Sie selbst, trauen Sie es sich
zu, immer wieder neu und mit offenem Blick hinzusehen, zu vergleichen, ihr Urteil zu überprüfen, und das geht – wie könnte es anders sein
– nicht im Eiltempo.
Die Fragen stellte Annette Kehnel
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Künstler – Schöpfer – Marktlieferant
Die Etablierung des Künstlers im 19. Jahrhundert
Manuela Vergoossen
Der Werdegang des Künstlerstatus vollzog sich seit der Renaissance
nicht bruchlos. Seine historische Rekonstruktion rekurriert zudem auf
einen Künstlermythos, dessen Konturen nicht so ohne weiteres greifbar
sind und der auch die Folge verschiedener Projektionsleistungen ist. Ein
Höhepunkt in dieser Entwicklung kommt dem 19. Jahrhundert zu, in
dem es den Künstlern nach langen theoretischen Kämpfen seit der
Renaissance um die Anerkennung ihres Metiers als artes liberales1 gelang,
ihren Berufsstand im Zuge der allgemeinen Vereinsbewegung und der
Bürgertumsetablierung institutionell zur Geltung zu bringen.
Die Künstler- und Kunstvereine des 19. Jahrhunderts waren die wichtigsten Institutionen zur Förderung der Künstlerrolle. Sie waren nicht
nur an der Entstehung des modernen Kunstmarktes und seiner Kundschaft beteiligt, sie förderten mit ihrer Zielsetzung, eine sogenannte
„ästhetische Republik“2 anzustreben, ganz neue Interessenlagen: die
Institutionalisierung der Kunstgeschichte als neue wissenschaftliche
Disziplin, die Kunstkritik als autoritäre Macht eines literarischen und
publizistischen Diskurses und nicht zuletzt den Berufsstand des freien
Künstlers.
Erziehung im Sinne Schillers stand auf dem Programm, und die bildende Kunst und die Öffentlichkeit wurden Instrumente ihrer Verwirklichung. Sie dienten der Legitimation der zukünftigen bürgerlichen Führungselite und wurden eigens zu diesem Zweck neu erfunden
– allerdings im Bündnis mit der Aristokratie. Nur unter der Schirmherrschaft des Adels und innerhalb feudaler Strukturen konnten Kunstvereine neben den Lesegesellschaften zu den wichtigsten Institutionen
einer bürgerlichen Öffentlichkeit avancieren, die ihre obrigkeitliche
und juristische Anerkennung effizient zu nutzen verstanden: als legitime Versammlungsorte in einer Zeit der polizeistaatlichen Unterdrückung, als Plattformen für organisierte Sozialleistungen, als Schulen
für öffentliches Auftreten, als Orte für gesellige Diskurse aller Bildungsarten und nicht zuletzt und mit Impetus als vorgebliche Künstlerförderungseinrichtungen.
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Derart setzten die Kunstvereine die Traditionen der Salons, Kränzchen
und Cafés auf eine publikumswirksame Weise fort, die vorbildlich für
weitere derartige Institutionen werden konnte und die entsprechende
Gründungswelle in den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts auslöste. So kam es zu einer wahren Kunstvereinslandschaft, die das Ziel der
Nationenbildung auf kultureller Ebene vorwegnehmen wollte. So hätte
es vielleicht zu einer, wie es im Deutschen Kunstblatt hieß, „ästhetischen Republik“ kommen können, wenn die kommerziellen Interessen
der Kunstvereine die ideellen schließlich nicht dominiert hätten.
Dem Künstler kam in diesem Prozess eine Schlüsselfunktion zu, die
seine Bedeutung in Anlehnung an genialische Renaissance-Vorbilder,
wie Dürer und Raffael (also Repräsentanten einer nordischen und südlichen Renaissance), im Sinn eines alter deus, eines Schöpfers neuer Welten, steigerte. Er war das Idol der sogenannten „ästhetischen Republik“,
die im ausgehenden 18. Jahrhundert mit der vor allem von deutschen
Künstlern in Rom ausgebildeten Utopie eines Künstlerstaates ihren fiktiven Anfang nahm. Die Deutschrömer und vor allem der Kreis der Nazarener verursachten deren Initialzündung.3 Die Leitideen der Kunstvereine wurden dann allerdings von bürgerlichen Ambitionen vereinnahmt, was wiederum zu Unabhängigkeitsinitiativen der Künstler
führte;4 so vor allem 1848 mit dem aus Opposition zum mächtigen
„Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen in Düsseldorf“ gegründeten Künstlerverein „Malkasten“5 und seiner Nachfolgerin, der „Allgemeinen Deutschen Kunstgenossenschaft“ von 1856 als einem überregionalen, durch Lokalvereine in ganz Deutschland vertretenen Verband
des Berufsstandes „Künstler“.6
Die Kunstgenossenschaft wollte die wirtschaftliche Lage der Künstler
verbessern, Urheberrechte einführen7, Tantiemen verankern und die
Gestaltung des deutschen Ausstellungswesens sowie internationale Ausstellungen organisieren. All das wurde von ihr durchgesetzt. Auch ein
deutsches Nationalmuseum zu schaffen war eines ihrer ersten Ziele, das
zu realisieren ihr dank des Nachlasses von Konsul Wagner in Berlin und
königlicher Erlaubnis auch gelang.8 Die großen Deutschen Kunstausstellungen, zunächst in München9, dann in Köln und Wien10, waren mit
diesem Ziel korrespondierende Repräsentationsformen eines nationalen Kunstbegriffs. Den übernahm die Kunstgenossenschaft – konservativ im traditionsorientierten Sinn – von der Aristokratie, von den Akademien, von bürgerlichen Auftraggebern beziehungsweise wiederum
von den Kunstvereinen, wie die erste Deutsche allgemeine und historische Kunstausstellung in München 1858 demonstrierte.11 Die Künstler
machten sich also den Einfluss bereits etablierter Interessenkreise
ebenso zunutze wie das aufstrebende Bürgertum. Während erstere aber
vor allem in materieller und sozialer Hinsicht davon profitierten, voll37
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zog letzteres den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“12 mit Hilfe der
Kunst auf symbolischer Ebene.
Das heißt, als das Bürgertum im 19. Jahrhundert seine Vorbilder als
tugendhaft und charismatisch anmutende Herrschaftsfiguren des
Ancien Régime und des Katholizismus beziehungsweise als Helden und
Heilige kostümierte, war der Sinn dieser Maskeraden nicht nur die
Bedienung alter Träume, sie hatten auch den Nutzen vorläufiger eigengeschichtlicher Identifikationsfiguren. Das Bürgertum benötigte eine
standesgemäße Eigengeschichte, mit der es sein junges Selbstbewusstsein habituell bekleiden konnte, und seine Aktionsräume verlangten
nach Überlegenheitsgarantien, die das Gottesgnadentum so nicht mehr
zu bieten hatte.
Diese Garantien boten die Künstler direkt an, zum Beispiel durch Travestien und Situationssimulation. Gesellige Zusammenkünfte mit phantasievoller Ausgestaltung waren von jeher ihre Spezialität, so zum Beispiel schon in Rom mit dem Künstlerkarneval, den sogenannten Cervara-Festen, so beim großen Fest zu Ehren Karls V. in München mit
Kostümen im Stil der Zeit13 oder mit dem Pergamonfest in Berlin, das
die Kunstgenossenschaft unter ihrem Vorsitzenden Anton von Werner
gemeinsam mit dem Hof als Kostümfest ausrichtete. In diesem Sinn fand
auch die Jubiläumsfeier der Kunstgenossenschaft 1881 in Meißen, in
Anwesenheit des Kaisers, als Ritterumzug statt, während im Amselgrund in der Sächsischen Schweiz, vor dem Panorama der dort typischen Tafelberge, ein Zigeunerlager zu rituellen Gemeinschaftshandlungen einlud (Abbildung 1).
Peter Cornelius war die Schlüsselfigur auf der nicht-bürgerlichen, kreativen Seite im Prozess der Verwirklichung einer wunschbesetzten, altdeutschen beziehungsweise durch Travestie hergestellten Nation, nicht
nur in den nazarenischen Anfängen in Rom, so zum Beispiel beim
großen Fest in der Villa Schultheiß zu Ehren Kronprinz Ludwigs von Bayern, sondern auch als späterer Akademiedirektor in Düsseldorf und
München und als Initiator des sogenannten German Style auf internationaler Ebene (Abbildung 2). Unbeirrbar machte er seine Ziele in einem
Geflecht persönlicher Beziehungen geltend; erst in Düsseldorf, wo sein
Freund Karl Ignaz Mosler den mächtigen Kunstverein für die
Rheinlande und Westfalen ins Leben rief, der mit der Akademie korrespondierte, und dann in München unter dem Patronat Ludwig I., der den
hochstrebenden Idealismus des Cornelius aber ab einem gewissen
Punkt seiner eigenen fürstlichen Verbürgerlichung nicht mehr teilen
konnte.
Dann trat Cornelius in der preußischen Metropole Berlin, und dort
bezeichnenderweise am Hof, maßgeblich auf; zu einem Zeitpunkt, als
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der klassizistisch orientierte „Verein der Kunstfreunde im Preußischen
Staate“ sich seinerseits den Idealen des alten Nazareners jedoch schon
weitgehend verschlossen hatte. Gleichwohl war sein Einfluss hinter den
Kulissen der Künstler- und Kunstvereinsentwicklung in Deutschland
deutlich zu spüren – nicht nur in Preußen (das heißt: Düsseldorf und
Berlin), Sachsen (das heißt: Dresden) und Bayern (das heißt: München),
sondern auch in Hessen (das heißt: Frankfurt am Main) und Baden Württemberg (das heißt: Karlsruhe und Stuttgart) –, weshalb Cornelius der
Ruhm des Ehrenpräsidenten in der „Allgemeinen Deutschen Kunstgenossenschaft“ mit Recht gebührte.14 Cornelius war der programmatische Betreiber und Förderer einer repräsentativen Monumentalmalerei,
die ihre Existenzberechtigung aus Transzendierungsmotiven für eine
große Öffentlichkeit ableitete und die ihm und seinen Kollegen mit den
Joseph-Fresken im Palazzo Zuccari in Rom von 1816/17 zum KarriereDurchbruch verhalf (Abbildung 3).
Cornelius war noch Hofkünstler, aber schon Förderer einer volkstümlichen Kunst, und er war der Vater einer romantischen Kunstreligion, die
sich – unterstützt von Schülern und Geistesgenossen wie zum Beispiel
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling oder den Brüdern August und Friedrich Schlegel – die ethische Anverwandlung bürgerlicher Geltungsansprüche im Dienst des Christentums zur Aufgabe machte; so wie der spätere Direktor des Frankfurter Städel-Instituts, Philipp Veit, mit seinem
Gemälde „Die Einführung der Künste in Deutschland durch die Religion“ von 1834/36 programmatisch demonstrierte. Auf diesem Bild ist
die Personifikation des Christentums – auch als Synonym für die Poesie
mit der Hand auf dem „Buch der Bücher“ – inmitten von weiteren allegorischen Figuren zu sehen. Im Mittelgrund zeigen sich die Bildhauerei
mit ihrem Konterfei und daneben die Malerei, die einen Fels bemalt. Im
Vordergrund ist die Musik verkörpert. Links erscheinen die vita activa
beziehungsweise die Feldarbeit und rechts die vita contemplativa beziehungsweise die Erziehung und Bildung. Neben dem Christentum befinden sich auf der einen Seite der Klerus, auf der anderen Seite der Dichter mit seinen imaginären Figuren, einem Ritter und einer legendären
Heiligen, wie es zum Beispiel Genovefa war (Abbildung 4).
Cornelius und seine Schule trugen im eigentlichen Sinne zum romantischen Geniebegriff und der Transferierung von Kunst in religiöse
Dimensionen bei. In dieser Richtung konnte Cornelius sich mit der
anderen großen Leitfigur der Kunstvereinsbewegung nicht treffen: mit
Johann Wolfgang von Goethe (Abbildung 5). Goethe war der Promoter
einer Kunst im klassizistischen Sinn, der geschäftsmännische Initiator,
der den Kunstvereinen zu der ihnen eigenen, durchgängig üblich werdenden Programmatik verhalf: mit Wettbewerben, Absatzmärkten,
intellektuellen Vernetzungen und klaren Konzepten für Adressaten39
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gruppen sowie Publikationsorganen, wie er sie im Kreis der Weimarer
Kunstfreunde mit Hilfe seines federführenden Sprechers, des Direktors
der Zeichenschule, Heinrich Meyer, mit den Propyläen realisierte.
Goethes Klientel war die Beamtenschaft, die den Kunstvereinen zu der
ihnen eigenen typischen sozialen Zwiespältigkeit verhalf: zum Bündnis
mit und zur symbolischen Orientierung an den Vorgaben herrschender
Fürstenhäuser bei gleichzeitig subversiv formulierten Forderungen
nach einer geeinten Nation beziehungsweise Republik, die den Großfürsten der jeweiligen Länder bedrohlich erscheinen musste. Davon zeugen
die Leitideenkämpfe innerhalb der Kunstvereine, bei denen es um Fragen gesellschaftlicher Repräsentationswerte der jeweiligen künstlerischen Richtungen ging.
Mit Cornelius und Goethe sind die personalen Pole skizziert, zwischen
denen die beiden Strömungen der Künstler- und Kunstvereinsbewegung
zirkulierten und schließlich gegenläufig wurden: hier ein sich symbolisch äußernder Idealismus, der die Kunst zur nationalen Religion und
die Künstler zu deren Priestern erhob, dort das Management, das die
Wirtschaftlichkeit bei unzureichendem Kunstverständnis in den Vordergrund stellte. Denn Goethe verstand etwas von Sprache, Literatur
und Dramaturgie, aber er war ein Dilettant, was die bildende Kunst
betraf, und darin taten es ihm viele Bürger gleich. Sie wollten textuell
orientierte Bilder in den Ausstellungen sehen, also narrative Bilder,
Motive, die eine Botschaft vermittelten, didaktische Szenen, wie sie für
die Weimarer Preisaufgaben nach französischem Vorbild üblich waren
(Abbildung 6). Das junge Bürgertum verlangte, dass seine Intentionen in
einer deutlichen Bildsprache vernommen würden, denn das waren
Herrschaftsintentionen. Doch beide Komponenten, der Idealismus von
Cornelius und der Pragmatismus von Goethe, wurden tragend für das
Phänomen „Kunstverein“ und dessen besonderen Kunstbegriff, in dem
sie sich gewissermaßen als ein auf ökonomischen Grundlagen ausgebildetes Transzendenzbedürfnis zusammenfanden.
Die Insignien elitärer Vorrangstellung, um deren Verlust die Kunstvereine in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts so fürchteten15, wichen
unter dem Vorzeichen von Angebot und Nachfrage einer ästhetischen
Nivellierung. Zwar hatte schon Schiller die Niveaulosigkeit des menschlichen Bildungsstandes im ausgehenden 18. Jahrhundert beklagt. Das
aber war die Ausgangslage und gewissermaßen in einem tautologischen
Zirkelschluss dann auch der Preis für eine ästhetische Erziehung, wie er
sie – wenn auch mit anderer Zielsetzung – gefordert hatte.16
Nüchtern betrachtet, war nichts anderes zu erwarten gewesen, weil sich
die erhoffte Ästhetik die Rückführung auf einen allgemeinen anthropologischen Mindestkonsens zum Maßstab aller Dinge machte und
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dazu die öffentliche, also eine breite Meinung nutzte. Das von Schiller
propagierte „Naive und Sentimentalische“17 birgt eben auch Gefahren,
wenn man die für Kunstvereine typischen Genreszenen betrachtet
(Abbildung 7). Der Maßstab des „Naiven und Sentimentalischen“ war für
die Kunstvereinkunst jedenfalls bezeichnend. Er führte beim Auftrag für
die Rathausfresken in Aachen vom „Kunstverein für die Rheinlande und
Westfalen“ zum Konflikt im „Fall Rethel“, der Karl den Großen 1851
inmitten von gefühlsbegabten und Sozialdienste leistenden Menschen
beim Einzug in Pavia zur kritischen Führerfigur werden ließ (Abbildung 8).18
Andererseits ließ sich aber auch mit einem privatisierenden und gefühlvollen Herrscher im wahrsten Sinne „kein Staat“ mehr machen. Das war
das Problem der „Verbindung für historische Kunst“, des Dachverbands
aller deutschen Kunstvereine von 1854, der die historische Repräsentation im zweiten Drittel des Jahrhunderts retten wollte; so mit einem der
ersten beiden Auftragsbilder: „Adolf Menzels Begegnung Friedrichs II.
mit Kaiser Joseph II. im Jahre 1769 in Neiße“, das beim Publikum, nicht
zuletzt wegen der schmutzigen Stiefel des alten Fritz, auf Missbilligung
stieß (Abbildung 9).
Der bürgerliche Maßstab der subjektiven Empfindung in Korrelation
mit dem sozialen Gefühl beziehungsweise Mitgefühl ließ eigentlich nur
den toten Herrscher gelten, wie ihn Alfred Rethels Bild „Otto III. in der
Gruft Karls des Großen“ von 1847 als Leichnam vorstellt (Abbildung 10),
das heißt: als selbstüberwundenes Ego und letztlich, als Konsequenz
einer Nivellierung jeglicher, aus anthropologischer Konditioniertheit
herrührender Verdachtsmomente, als eine vom Menschen unberührte
oder fast unberührte Natur, die projektiv besetzbare Vision einer Landschaft, die bestenfalls mit Staffagefiguren auf die Integration von Interessenträgern deutet (Abbildung 11) oder durch das Kreatürliche gleich
ganz ersetzt wird, wie im Bild Christian Kröners, dessen Sujet – am Ende
des Jahrhunderts vom Düsseldorfer Kunstverein angekauft – einer bürgerlichen Ikone gleichkommt (Abbildung 12).
Die Landschaft ist im wahrsten Sinne ein demokratisches Ausdrucksmedium, das die subjektive Wahrnehmung in den Dienst einer allen
gemeinsamen Projektionsfreude stellt. Denn die Transzendierungsbedürfnisse sind bei aller Skepsis gegenüber ideologisch aufgeladenen
Motiven (der Herrscherfiguren, des Glaubens, des Vaterlandes, der Freiheit und Gleichheit, wie sie im 19. Jahrhundert vorherrschten) und bei
allem durch Öffentlichkeit verursachten Profilverlust jeweiliger Subjektivität trotzdem lebendig. Sie konnten und können aber in einer allgegenwärtigen Vermarktungstendenz nur unzureichend Spielraum finden – ideologische Momente sind dann ihrerseits in einem materiali-
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sierten, sich selbst reproduzierenden Herrschaftssystem unausweichlich – und stürzen sich vielleicht deshalb auf künstlerische Ausdrucksformen, die sich von dieser Bedingtheit lösen wollen.
Das war im 19. Jahrhundert die Natur beziehungsweise eine Kunst, die
der Natur das Kreative ablauschte, zunächst durch den romantischen
Künstlerschöpfer (Abbildung 13)19, sich dann aber, gewissermaßen
unter dem Etikett „realistisch“, weniger als realistisch, denn als naturalistisch erscheinender Idealismus darstellte (Abbildung 14), und sich
bis heute in einer gewissermaßen „unverständlichen“, exklusive Ideen
tragenden und Projektionen bedienenden Gegenwartskunst generiert
und dabei immer noch den Habitus des Elaborierten anbietet (Abbildung 15). Insofern kann bei der bürgerlichen Landschaftsmalerei von
einer „materialisierten Immaterialität“ die Rede sein, die natürlich ein
gewissermaßen dialektisches Verhältnis von „realistisch“ und „idealistisch“ bedeutet (Abbildung 16).
Doch zurück von diesem Abstecher in die Kapillaren artistischer Übersetzungsprobleme zu deren institutionell gerahmter Ausgangslage:
Wenn im 19. Jahrhundert das Großkaufhaus als die vielleicht prägnanteste institutionelle Neuerfindung der Zeit dem Museum und der Kirche
zur Seite stand20, dann sind das zumindest Wertsetzungen, die mit den
Kunstvereinen begannen. Denn nicht nur, dass die Kunstvereine marktwirtschaftliche Strukturen realisierten, sie halfen der wirtschaftlichen
Potenz des Bürgertums auch, eine symbolische Deutungsmacht zu konstruieren, die sich in Bezug auf dimensionale Zugangsweisen explizit
kapitalistisch definierte.
Das heißt, vom Weltbild allseitiger Verfügbarkeit (der Rohstoffe, Energien und menschlichen Arbeitskräfte) ist natürlich die Wahrnehmung
von Zeit und Raum betroffen: das Verständnis von Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft, die Gestaltung der Sprache, der Bilder, der
Lebensräume sowie der Baukunst und nicht zuletzt der Produktion und
Produzenten selbst. All diese Facetten verwandelten sich im Laufe des 19.
Jahrhunderts, parallel zum Prozess der Selbstfindung des Dritten Standes, zu einer neuen Perspektive, die von den Künstlern symbolisch
gespiegelt wurde.
Davon geben die Bilder des Münchner Kunstvereins ein beredtes Beispiel. Das bürgerliche Lebensumfeld wurde gesellschaftsfähig. Interessant ist, dass damit auch die Mühlen, Schmieden und Eisenhämmer
gemeint waren (Abbildung 17). Derartige Motive hatten mit Alfred
Rethels „Hakortscher Fabrik auf Burg Wetter an der Ruhr“ 1834 einen
Auftakt bekommen (Abbildung 18). Und mit dem Lebensumfeld wurde
das Bild der dazugehörigen menschlichen Erscheinungen bedeutend:
deren Wünsche, Hoffnungen und Empfindungen21 oder deren Streben
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nach Selbstüberschreitung durch Reisen, unbekannte Völker oder
ursprüngliche Naturszenarien, wie in Moritz Rugendas’ „Brasilianischer
Urwald“ –1832 im Münchner Kunstverein ausgestellt (Abbildung 19) –
der Motivation des heutigen Tourismus. Ein deutliches Beispiel für diesen Umwandlungsprozess ist die Dokumentation des Münchner Stadtbildes vor und nach der Realisation der königlichen Bauprojekte durch
Domenico Quaglio (Abbildungen 20 und 21), die zwar vor allem der
monarchischen Verherrlichung dienten, aber als Hinterlassenschaft für
die neue bürgerliche Öffentlichkeit bedeutend waren (Abbildung 22).
Die Vergangenheit wurde bei diesen Übersetzungsvorgängen oftmals
zur Verheißung einer Zukunft, deren Utopie, das „Goldene Zeitalter des
Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ oder die Rückkehr zur
Natur im Rousseauschen Sinn, die prosaische Vermarktung aller Dinge
kaschierte, und zwar mit System. Zu diesem Zweck erfanden die Künstler für das Bürgertum eine konstruktive Methode, die, naturalistisch
getarnt, Realität und Substantialität vortäuschen konnte: den Eklektizismus, der eine allumfassende Rationalisierung nach maschinellem
Muster gewissermaßen spielerisch umging und als Verdeckung einer
Macht diente, die auch heute, im Zeitalter globaler Mobilität, trotz allgegenwärtiger Fließband-Ästhetik immer noch nicht wagt, gänzlich
unverblümt daherzukommen, sondern Mythisierungsmechanismen
erfindet, die das fiktionale Repertoire medialer Bilder und Produktwerbungen hoffnungsreich beliefern.
Schein und Wirklichkeit widersprechen sich in den Montagen eklektizistischer Wirklichkeitskonstruktionen dann mitunter in einer Weise,
deren inhärente Verkehrung genau der Definition von Suggestion entspricht, die, mit Falschaussagen über das „Wahre“, das „Wahre“ im Sinn
eines Interesses verkleidet.22 Das haben die Künstler für die Bürger geleistet. Als deren „Marktlieferanten“ profitierten sie mehrfach davon,
auch insofern, als sie selbst zu mythischen Figuren aufstiegen; eben
jenem Schöpfermythos, auf den alle Geschichten von Künstlern zusammenlaufen und der, weil er deren Kreativität betrifft, im eigentlichen
Sinn ein ganz anderes Thema als deren Etablierung ist.
Seither jedoch ist die Kunst mit kapitalistischen Marktgesetzen untrennbar verbunden. Deren Grundprinzipien, die Profitrealisation durch
Akkumulation und Mehrwert, und deren Symbolisierung durch Geld
bestimmen auch das Wesen einer Kunst, die im Dienst ideeller Zielsetzungen ihren Ausgang nahm. Dass sie sich der Ökonomie anbot, liegt
an der Konturierung ihrer ideellen Leistungen in zumindest doppeldeutiger Art. Ihre transzendentalen Aspekte haben sich gewissermaßen
im Virtuellen „realisiert“. Kunst hat den ephemeren Charakter von Aktienkursen bekommen. Ihre Materialisierung ist im Zeitalter der techni-
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schen Reproduzierbarkeit23 untergeordnet; oder, wie Max Horkheimer
und Theodor W. Adorno es in ihrer Dialektik der Aufklärung – offenbar
in Erwartung von Schlimmerem – formulierten: „Einstweilen hat es die
Technik der Kulturindustrie bloß zu Standardisierung und Serienproduktion gebracht und das geopfert, wodurch die Logik des Werks von
der des gesellschaftlichen Systems sich unterschied.“24 Dieser Unterschied, das war und ist die Kunst. Ihr Medium und Meister ist der Künstler.
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Abbildungen
Abbildung 1: Illustrationen zum Jubiläum der Kunstgenossenschaft 1881 aus der Illustrierten Zeitung.
Abbildung 2: Adolf Donndorf: Cornelius-Denkmal, 1873–78, Bronze, Statue 250 cm mit Granit-Sockel.
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Abbildung 3: Peter Cornelius: Joseph gibt sich seinen Brüdern zu erkennen, 1816/17, ehemals Palazzo
Zuccari Rom, heute Nationalgalerie Berlin.
Abbildung 4: Philipp Veit: Die Einführung der Künste in Deutschland durch das Christentum, 1834/36
(Mittelbild eines dreiteiligen Wandbildes im alten Städelschen Institut), Fresko (1877 abgenommen, auf
Leinwand übertragen und in das neue Städelinstitut überführt) 284 x 611,5 cm, Städelsches
Kunstinstitut, Frankfurt am Main.
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Abbildung 5: Friedrich Bury: Goethe als Theaterdirektor in Weimar, 1800, Kreidezeichnung.
Abbildung 6: Heinrich Kolbe: Hectors Abschied, 1800, Tuschfeder, laviert, gehöht und aquarelliert,
58,3 x 45 cm, Staatliche Kunstsammlungen Weimar.
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Abbildung 7: Barbara Popp: Die Heimkehr des Vaters von der Jagd, 1833, Öl auf Leinwand, 91 x 74 cm,
Sammlung Maximilian Karl von Thurn und Taxis, Regensburg.
Abbildung 8: Alfred Rethel: Der Einzug in Pavia, 1851, Fresko, Rathaus, Aachen.
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Abbildung 9: Adolf Menzel: Begegnung Friedrichs II. mit Kaiser Joseph II. in Neiße im Jahr 1769, 1857,
Öl auf Leinwand, 247 x 318 cm, Nationalgalerie Berlin.
Abbildung 10: Alfred Rethel: Otto III. in der Gruft Karls des Großen, 1847, Fresko, Rathaus, Aachen.
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Abbildung 11: Christian Ezdorf: Waldlandschaft mit Fluss, 1835, Öl auf Leinwand, 143 x 183 cm,
Sammlung Maximilian Karl von Thurn und Taxis, Regensburg.
Abbildung 12: Christian Kröner: Herbstmorgen im Reichswald, Aquarell auf Papier, 56 x 77 cm,
Kriegsverlust.
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Abbildung 13: Caspar David Friedrich: Der Mönch am Meer, 1808/10, Öl auf Leinwand, 110 x 171,5 cm,
Alte Nationalgalerie Berlin.
Abbildung 14: Heinrich Mück: Die Übertragung des Leichnams der Heiligen Katharina von
Alexandrien zum Berge Sinai, 1836, Öl auf Leinwand, 97 x 147,5 cm, Staatliche Museen, Berlin.
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Abbildung 15: Hans Thoma: Blick ins Lauterbrunner Tal, 1904, Öl auf Leinwand, 130 x 110 cm,
Kunsthandlung J. P. Schneider junior, Frankfurt am Main.
Abbildung 16: Andreas Achenbach: Gebirgslandschaft, 1843, Stiftung museum kunstpalast, Düsseldorf.
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Abbildung 17: Alfred Rethel: Die Harkortsche Fabrik auf Burg Wetter, um 1834, Öl auf Leinwand, 43,5
x 57,5 cm, DEMAG AG, Duisburg.
Abbildung 18: Johann Baptist Kirner: Tiroler Wirtshausszene, 1830, Öl auf Leinwand, 26 x 31 cm,
ehemals Sammlung Maximilian Karl von Thurn und Taxis, Regensburg, verschollen.
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Abbildung 19: Johann Moritz Rugendas: Ein brasilianischer Urwald, 1831, Öl auf Leinwand, 90 x 74 cm,
Sammlung Maximilian Karl von Thurn und Taxis, Regensburg.
Abbildung 20: Domenico Quaglio: Die alte Reitschule aus zwei entgegen gesetzten Perspektiven vor und
nach ihrem Abriss im Jahr 1822, Öl auf Leinwand, jeweils 70 x 52,4 cm, Neue Pinakothek
München.
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Abbildung 21: Domenico Quaglio: Die alte Reitschule aus zwei entgegen gesetzten Perspektiven vor und
nach ihrem Abriss im Jahr 1822, Öl auf Leinwand, jeweils 70,0 x 52,4 cm, Neue Pinakothek
München.
Abbildung 22: Domenico Quaglio: Die Residenzstraße gegen den Max-Joseph-Platz im Jahr 1826, Öl auf
Leinwand, 63,5 x 83,5 cm, Neue Pinakothek München.
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Fußnoten
1 Vgl. Leonardo da Vinci. Traktat von der Malerei (nach der Übersetzung von Heinrich
Ludwig). Jena 1925 (Nachdruck), München 1989, S. 2–61, mit der paragonalen Debatte
um die Kunst als den anderen freien Künsten gleichwertige geistige Disziplin.
2 Der Begriff geht auf einen Artikel im Deutschen Kunstblatt zurück: vgl. Anonymus,
Über die deutschen Kunstvereine nach Prinzip, Zweck und Nutzen aufgefaßt. In: Kunstblatt, Nr. 14–18 (16.2.–1.3.1832), S. 53–71, hier: 65. Siehe auch S. 57: „Sie wollen das
demokratische Princip, das in Staat und Kirche sich so gewaltig regt und auch in der
Wissenschaft sich gegen Autoritäten und Systeme auflehnt, gleichfalls in das Gebiet
des Schönen und der Kunst eingeführt wissen, und es däucht Ihnen, dass ohne den
Impuls dieses Princips die Kunstvereine in unsern von so vielen anderen Bedürfnissen
und näheren Sorgen in Anspruch genommenen Tagen nicht wohl wären zustande
gekommen.“
3 Vgl. Michael Thimann, Der „glücklichste kleine Freystaat von der Welt“? Friedrich Overbeck und die Nazerener in Rom. In: Ulrich Raulff (Hg.), Vom Künstlerstaat. Ästhetische
und politische Utopien. München 2006, S. 60–103.
4 „... dass die Künstler sich zur Wahrung der gemeinsamen Interessen und zur Hebung
des Ansehens ihres Standes enger zusammenschließen möchten.“ Zit. in: Deiters,
Geschichte (wie Anm. 6), S. 5. Ebd., S. 8: „Die neue Genossenschaft wollte der Welt zeigen, dass es nicht nur eine deutsch-nationale Kunst gäbe, sondern dass diese bereits
eine ruhmreiche Geschichte habe.“
5 Vgl. Sabine Schroyen/Hans-Werner Langbrandtner, Quellen zur Geschichte des Künstlervereins Malkasten. Ein Zentrum bürgerlicher Kunst und Kultur in Düsseldorf seit
1848, hg. vom Landschaftsverband Rheinland, Archivberatungsstelle. Köln 1992.
6 Heinrich Deiters, Geschichte der Allgemeinen Deutschen Kunstgenossenschaft. Von
ihrer Entstehung im Jahre 1856 bis auf die Gegenwart. Düsseldorf 1903, S. 6ff. Siehe
auch: Statuten der Allgemeinen Deutschen Kunstgenossenschaft nach dem Beschlusse
der Delegirten-Versammlung von 1875. In: Allgemeine Deutsche Kunstgenossenschaft
Bericht über die Thätigkeit des del. Hauptvorstandes zu Berlin pro 1888 und des Hauptvorstandes zu Wien in den Jahren 1888–1890 und Mitglieder-Verzeichnis des Jahres
1890. Wien 1890, S. 35–102.
7 Vgl. Friedrich Julius Kühns, Der Rechtsschutz an Werken der Bildenden Künste. Eine
Denkschrift im Namen der Deutschen Kunstgenossenschaft. Berlin 1861, hier S. 9.
8 Ebd., S. 14, 17.
9 Siehe Ausstellungskatalog zur Deutschen allgemeinen und historischen Kunstausstellung in München. München 1858 (ohne Abbildungen).
10 Vgl. Heinrich Deiters, Geschichte (wie Anm. 6), S. 21.
11 Vgl. Manuela Vergoossen/Karl-Siegbert Rehberg, Nobilitierende Repräsentation und
institutionelle Gleichheit. Historienbilder in Kunstvereinen des 19. Jahrhunderts als
Symbolisierungen bürgerlicher Emanzipationsbestrebungen. In: Gert Melville (Hg.),
Institutionalität und Symbolisierung, Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in
Vergangenheit und Gegenwart. Köln/Weimar/Wien 2001, S. 543–558. Vor diesem Hintergrund sind die meisten der von der „Düsseldorfer Malerschule“ beeinflussten Bilder der „Deutschen allgemeinen und historischen Kunstausstellung“ als konservative
Sujets zu verstehen. Beispiele dafür sind Alfred Rethels „Leben Karls des Großen“,
Peter Cornelius’ „Apokalyptische Reiter“, biblische Kompositionen der Deutschrömer
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Joseph Führich und Friedrich Overbeck, Philipp Veits „Italia und Germania“ oder „das
Märchen von den sieben Raben“ Moritz von Schwinds, um nur einige von Hans-Werner Schmidt betonte Beispiele zu nennen. In: Hans-Werner Schmidt, Schmidt, Die Förderung des vaterländischen Geschichtsbildes durch die Verbindung für historische
Kunst 1854–1933. In der Reihe: Heinrich Klotz, Studien zur Kunst- und Kulturgeschichte, Bd. 1. Marburg (Jonas) 1985, S. 15 sowie: Ausstellungskatalog Deutsche allgemeine Kunstausstellung, S. 34 (in der Folge der genannten Namen), 12 (Nr. 233), 13
(Nr. 268, 269), 61 (Nr. 1618), 6 (Nr. 22), 10 (Nr. 174), 11 (Nr. 188, 194), 31 (Nr. 760), 12 (Nr.
246, 247), 24 (Nr. 560) und Hans-Werner Schmidt, Die „Verbindung für historische
Kunst“ 1854–1933. Die Kunst, eine Nation zu schaffen. In: Jutta Dresch/Wilfried Rößling (Hg.), Bilder im Zirkel. 175 Jahre badischer Kunstverein Karlsruhe. Karlsruhe 1993,
S. 97.
12 Siehe Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer
Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied/Berlin 1975.
13 Vgl. H. E. von Berlepsch, Allotria. In: Die Kunst für Alle 9 (1893–94), H. 1, S. 1. Hans Ferdinand Groß, Die Allotria – Münchens glanzvollste Künstlergesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Sendemanuskript des Bayerischen Rundfunks, Redaktion
Land und Leute, Sendung vom 12. März 1989. Fritz von Ostini: Die Münchner „Allotria“, Velhagen und Klasings. Monatshefte 7 (1892/93), S. 665–680. Vgl. auch: Ausstellungskatalog, Ernst ist das Leben – Heiter die Kunst. Graphik zu Künstlerfesten des 19.
Jahrhunderts, hg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz Berlin. Berlin,
August–September 1971.
14 Heinrich Deiters, Geschichte (wie Anm. 6), S. 21.
15 Siehe Anonymus, Über die deutschen Kunstvereine (wie Anm. 1).
16 Siehe Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen. In einer Reihe
von Briefen. In: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 12, hg. v. Oskar Walzel. Stuttgart/Berlin
1905, zum Beispiel S. 6; zur Situation der Kunst: „Jetzt aber herrscht das Bedürfnis und
beugt die gesunkene Menschheit unter ihr tyrannisches Joch. Der Nutzen ist das große
Idol der Zeit, dem alle Kräfte frönen und alle Talente huldigen sollen. Auf dieser groben Wage (sic) hat das geistige Verdienst der Kunst kein Gewicht, und, aller Aufmunterung beraubt, verschwindet sie von dem lärmenden Markt des Jahrhunderts.“
17 Siehe Friedrich Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, hg. v. Eugen
Kühnemann, Leipzig 1923.
18 Zumal, wenn man bedenkt, dass Karl rechts auch seinen ehemaligen Schwiegervater,
den Langobardenkönig Desiderius und dessen Tochter, Karls ehemalige Frau oder
Schwägerin, aus der eroberten Stadt vertreibt. Vgl. Max Kerner, Karl der Große. Leben
und Mythos. München 2006, S. 249: dort die Stammtafel der Karolinger. Vgl. auch: Herbert von Einem, Die Tragödie der Karlsfresken. Köln/Opladen 1968, S. 24.
19 Ein wesentliches Moment dieses Schöpferischen folgt aus der Spannung zwischen verschiedenen Bewusstseinszuständen, die Nietzsche am Ende des Jahrhunderts das
„Apollinische“ und „Dionysische“ nennt. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie
aus dem Geist der Musik. Leipzig 1872. Siehe dazu auch Henri Bergson, Denken und
schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge (übersetzt von Leonore Kottje mit einer
Einleitung von Friedrich Kottje). Frankfurt am Main 1948. Mit Bezug auf Caspar David
Friedrichs „Mönch am Meer“ ließe sich eher von einer Synthese zwischen Auflösung
und Verdichtung oder Transzendenz und Materialisierung sprechen. Zu Caspar David
Friedrich ist darüber hinaus noch anzumerken, dass er vier Jahre vor der Entstehung
seines Bildes „Der Mönch am Meer“, 1804, zu Goethes Ärger als Gewinner aus den Wei-
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marer Preisaufgaben hervorging. Siehe Walther Scheidig, Goethes Preisaufgaben für
bildende Künstler 1799–1805. Weimar 1958.
20 Vgl. Hermann Fillitz, Der Traum vom Glück. Das Phänomen des europäischen Historismus. In: Ders. (Hg.), Der Traum vom Glück. Die Kunst des Historismus in Europa (2
Bände). Ausstellungskatalog Künstlerhaus Wien 13.9.1996–8.1.1997, S. 15–25, hier: 25.
21 Wie zum Beispiel in einer Wirtshausszene Johann Baptist Kirners von 1830, in der sich
die Gäste über die Ähnlichkeit des Wirtes mit einer von einem Tabulett-Krämer mitgebrachten Pulcinell-Puppe lustig machen.
22 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 3: Die Deutsche Ideologie. Berlin 1969.
23 Siehe Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (franz. Übers.). In: Zeitschrift für Sozialforschung, 1936.
24 Vgl. Marx Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische
Fragmente. Frankfurt am Main 1969, S. 128–176: Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug, hier: S. 129.
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Unternehmensethik heute
Manfred Fuchs
Wirtschaft berührt die Menschen
Unternehmerisches Handeln unterliegt den Gesetzen der Wirtschaft. Es
berührt die Menschen, ihr Wohlergehen, ihre Entfaltungsmöglichkeiten und damit ihre grundgesetzlich verbriefte Würde. Daher muss
unternehmerisches Handeln stets menschlich sein und ethischen Kriterien gerecht werden. Wer unternehmerisch handelt, muss gesellschaftliche Verantwortung übernehmen.
Neu ist das nicht! Schon immer waren Gerechtigkeit, Anstand und
Glaubwürdigkeit grundlegende ethische Forderungen an die Gesellschaft und an die Wirtschaft. Politische Systeme oder Unternehmen, die
dagegen verstießen, bekamen irgendwann ein Problem mit sich selbst
und mit den Menschen. Ihr Fortbestand war gefährdet.
Was in der neueren Zeit hinzu gekommen ist, dass individuelles und kollektives Fehlverhalten heute von einer viel breiteren Öffentlichkeit
wahrgenommen werden und sie somit eine größere Brisanz erhalten als
früher. Das liegt an der binnenwirtschaftlichen und globalen wirtschaftlichen Vernetzung, der weltweiten Kommunikation und der
dadurch geschaffenen Transparenz.
Wie konnte es zur Finanz- und Wirtschaftskrise kommen?
Die globale Vernetzung ließ das zunächst nur in den USA bestehende
Immobilienmarkt- und Bankenproblem durch die Verbriefung und weltweite Platzierung teilweise schlechter Risiken auf Banken und Anleger
in Europa zu uns überspringen. Die Kapital- und Finanzmärkte sind
ohnehin globale Märkte, so dass in der Folge auch die Banken und Börsen in Mittel- und Osteuropa, in Russland und in Asien erschüttert wurden. Es kam zu einer weltweiten Bankenkrise und zum Verlust der Hälfte
des globalen Aktienmarkts.
In dieser Situation traten Schwachstellen in den Geschäftsmodellen, den
Portfolien und der Finanzierung bestimmter Banken verstärkt zu Tage.
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Das Vertrauen zwischen den Banken schwand, bis beinahe das gesamte
System kollabierte. Gigantische Rettungsaktionen der Regierungen wurden notwendig. Diese Entwicklungen verknappten und verteuerten die
Kreditversorgung der Realwirtschaft und lösten den Einbruch der weltweiten Automobilbranche und ihrer Zulieferer mit Auswirkungen auf
die Stahlproduktion, den Maschinen- und Anlagenbau, die Chemie- und
viele andere Branchen aus. Dieser Einbruch kam zu den Problemen der
Bauwirtschaft hinzu. In der Folge stürzten durch das Platzen der Spekulation und den Rückgang der Nachfrage die Preise für Öl, Stahl und
andere Rohstoffe ab. Das alles geschah weltweit, das heißt, es gibt konjunkturell keinen Ausgleich mehr zwischen den Weltregionen.
Was waren und sind nun die tieferen Gründe für diese abrupt sichtbar
gewordene Krise?
• Zunächst einmal war es der Verlust einer Balance zwischen ökonomischen Zielen und ethischen Grundwerten. Eine einseitig kapitalmarktorientierte Unternehmensführung stand oft im Vordergrund –
und sie wurde den Unternehmen auch vom Kapitalmarkt abverlangt.
Zu Tage traten mitunter erhebliche und vielfältige Defizite bei der
Unternehmensethik und in Einzelfällen sogar kriminelle Handlungen von unvorstellbarem Ausmaß (z.B. der amerikanische MadoffBetrug).
• Oft wurden aber auch elementare wirtschaftliche Regeln missachtet:
Jede unternehmerische Chance beinhaltet eben auch ein Risiko. Das
eigene Risiko richtig einzuschätzen ist entscheidend, das heißt, es
muss etwas schiefgehen dürfen, ohne dass die Existenz gefährdet ist.
Engagements und die damit verbundenen Risiken sind mit ausreichend Eigenkapital abzusichern, Risiken gehören nicht in außerbilanzielle Zweckgesellschaften, sondern sind in der eigenen Rechnungslegung auszuweisen, und wer Risiken eingeht, muss auch haften.
• Bei den meisten Fehlentwicklungen mangelte es an einer kompetenten Aufsicht und Kontrolle durch Regierungen, an gesetzlichen Rahmenbedingungen, an Bankenaufsichtsbehörden, Ratingagenturen
sowie mitunter auch an Aufsichtsräten und fallweise Wirtschaftsprüfern.
• Schließlich trafen diese Defizite und Fehlleistungen mit einer allgemeinen Überdehnung des wirtschaftlich Vertretbaren, einer zu
hohen Geldschöpfung und Verschuldung, dem Glauben an ständiges
Wachstum – kurz: mit einem „Leben auf Pump“ – zusammen. Und
hier genügt dann „Weniges“, um Kettenreaktionen auszulösen und
das ganze Gebäude zum Einsturz zu bringen.
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Das Ergebnis sind hohe Wertverluste, Wohlstandseinbußen, ein schlechtes Bild der Unternehmer und Manager. Ganz allgemein leiden die Menschen unter Zukunftsängsten und zweifeln an der Überlegenheit der
sozialen Marktwirtschaft und den Vorteilen der Globalisierung.
Unternehmensethik früher
Ideen- und theoriegeschichtlich lassen sich die Ziele der Ethik und das
Streben nach ethischem Verhalten sowie der Gedanke der Einheit von
Ethik, Politik und Ökonomie bis zu Aristoteles zurückverfolgen. Auch
die Bibel – darauf machte der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland 2008 in seiner Denkschrift über „Unternehmerisches Handeln in
evangelischer Perspektive“ aufmerksam – greift an vielen Stellen auf
Erfahrungen der Arbeitswelt und der Ökonomie zurück und bietet hilfreiche Grundorientierungen für das unternehmerische Handeln.
Von Unternehmensethik im engeren Sinn und einem ausformulierten
Verhaltenskodex kann allerdings erst im 16. Jahrhundert gesprochen
werden, als „Die Versammlung Eines Ehrbahren Kaufmanns zu Hamburg“ folgende Grundsätze niederlegte:
• Die Mitglieder sollen im Rahmen der geltenden Gesetze die im
Geschäftsverkehr anerkannten ethischen Grundsätze befolgen.
• Der Kaufmann soll das Prinzip von Treu und Glauben beachten.
• Er soll alle Handlungen unterlassen, die mit dem Anspruch auf kaufmännisches Vertrauen nicht vereinbar sind.
Auch für das 18. Jahrhundert bleibt festzuhalten, dass Adam Smith eben
nicht nur Nationalökonom und der Vater der Marktwirtschaft war, sondern auch ein Moralphilosoph, der eine Theorie des sozialen Handelns
entwarf, bei der die Gerechtigkeit die Normen festlege und innerhalb
derer sich das Selbstinteresse vorteilhaft für den Einzelnen auswirken
könne, ohne dem anderen oder der Gesamtheit zu schaden.
Im 19. Jahrhundert ist bei uns in Deutschland an die großen Familienunternehmer zu denken, die aus sozialer Verantwortung bahnbrechende
Versorgungswerke und Leistungen schufen, die – wenn auch heute in weitgehend gesetzlicher und institutionalisierter Form – fortwähren.
Und im frühen 20. Jahrhundert entwickelte Max Weber seine religionssoziologisch begründete Theorie der Entstehung des modernen Kapitalismus, die als Theorie der protestantischen Ethik eine weite Verbreitung fand. Im Jahr 1917 schrieb er „Honesty is the best policy“ – auf
einen kurzen Nenner gebracht: „Ethisch verantwortliches unternehmerisches Handeln und Nachhaltigkeit“.
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Aber auch der US-amerikanische Präsident Franklin Roosevelt sagte
bereits vor 70 Jahren im gleichen Sinn: „Wir haben immer gewusst, dass
rücksichtsloses Eigeninteresse moralisch schlecht ist; jetzt wissen wir
auch, dass es wirtschaftlich schlecht ist“.
Und ein letzter Beleg zur früheren Beschäftigung mit Wirtschafts- und
Unternehmensethik von August Marx, einem Wirtschaftswissenschaftler und Theologen, der als Lehrstuhlinhaber für Betriebswirtschaftslehre und Personalwesen an der Universität Mannheim wirkte und
einige Jahre lang deren Rektor war. Er schrieb in seiner 1962 gedruckten „Theologie der Wirtschaft“, der Kaufmann gehe fehl, wenn er vom
wirtschaftlichen Ertrag oder vom Gewinn allein die Maximen seines
Handelns ableite. Die Wirtschaft könne nicht um ihrer selbst willen
betrieben werden. Sie habe sich vielmehr am Menschen und der Gesellschaft zu orientieren. Die Regeln und Maßstäbe des wirtschaftlichen
Handelns ergäben sich für jedermann verpflichtend aus der natürlichen
Sittlichkeit, der Ethik im Allgemeinen und der Wirtschaftsethik im Speziellen.
Es gab sie also von alters her – die Ethik – und seit etwa 500 Jahren auch
die Unternehmensethik. Insofern kann man – zumindest in der verallgemeinerten Form – nicht zustimmen, als sich im 19. Jahrhundert bis
zur Mitte des 20. Jahrhunderts Ethik und Wirtschaftswissenschaft als
einander entfremdete Denktraditionen in einem „Nicht-Verhältnis“
gegenüberstanden. Diese sogenannte Zwei-Welten-Konzeption besagte,
die Ökonomie stütze sich auf eine ausschließlich an Effizienz ausgerichtete ökonomische Rationalität, während Fragen der Menschen- und
Umweltgerechtigkeit in die Sphäre einer außerökonomischen Ethik fallen würden.
Warum müssen unternehmerisches Handeln und Unternehmensethik
untrennbar miteinander verknüpft sein? Weil Eigentum sozial verpflichtet sein muss und weil Verfügungsgewalt und „Macht“ mit unternehmerischer Verantwortung für die wirtschaftliche Nachhaltigkeit,
die Gesellschaft und die Umwelt einhergehen müssen. Daher spricht
Paul Kirchhof von „Verantwortungseigentum“.
Unternehmensethik heute
Wirtschaft ist heute in der globalen Welt nicht mehr der einfache Austausch von Gütern und die Maximierung von „Profit“, sondern ein komplexer strategischer Prozess der Innovation, der Internationalisierung,
des Wachstums, der Finanzierung, der Bewahrung der Unabhängigkeit
und anderer Zielsetzungen. Dies ist ohne gesellschaftliche Verantwortung, offene Kommunikation und Transparenz und ohne Akzeptanz bei
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Belegschaften und in der Öffentlichkeit nicht möglich. Unternehmer
und Manager stehen hier unter Rechtfertigungszwang und müssen die
Nützlichkeit ihres Beitrags zu Wohlstand und Sicherheit überzeugend
darstellen. Daher sind Dialog und Partnerschaft gefragt und haben zu
einem veränderten Bild von Unternehmern und Managern und anderen
Erwartungen an sie geführt. Unternehmensethik bedeutet hier Integrität, Vorbildfunktion und Glaubwürdigkeit. Verlorenes Vertrauen
lässt sich nur zurückgewinnen, wenn Zweifel an der Menschlichkeit und
der Zukunftsfähigkeit der sozialen Marktwirtschaft überwunden und
die Menschen im globalen Leistungswettbewerb „mitgenommen“ werden.
Die im August 2008 vom Bundesarbeitgeberverband Chemie und der
Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie gemeinsam vorgestellte Sozialpartner-Vereinbarung „Verantwortliches Handeln in der
Sozialen Marktwirtschaft“ spricht diese Dinge im Sinne eines werteorientierten Verhaltens in vorbildlicher Weise aus.
Diese Erwartungen an unternehmerisches Handeln richten sich natürlich an alle Unternehmen. Sie liegen aber für Familienunternehmen
besonders auf der Hand, und das sind 93 Prozent der deutschen Unternehmen, die 57 Prozent aller Arbeitnehmer beschäftigen. Hier spielen
die persönliche Beziehung zur Belegschaft, die Namensträgerschaft und
Eigentümerstellung sowie die aus ihr resultierende Identifikation, die
in der Regel langfristig ausgerichtete Unternehmenspolitik und die fehlende Kapitalmarktorientierung wichtige Rollen und erlauben in besonderer Weise die Verfolgung ethischer Werte und einer sozial verpflichteten Unternehmenskultur.
In seiner Enzyklika „Centesimus annus“ würdigte Papst Johannes
Paul II. im Jahr 1991 das unternehmerische Handeln folgendermaßen:
„Gerade die Fähigkeit, die Bedürfnisse der anderen Menschen und die
Kombinationen der am besten geeigneten Produktionsfaktoren für ihre
Befriedigung rechtzeitig zu erkennen, ist eine bedeutende Quelle des
Reichtums in der modernen Gesellschaft“ (CA 32).
Die Aufgaben der Unternehmer
In der Marktwirtschaft müssen die Unternehmer
• kundengerechte und damit marktfähige Güter und Dienstleistungen
erzeugen und vertreiben,
• damit Bedürfnisse befriedigen und eine Versorgungsfunktion erfüllen,
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• Arbeitsplätze schaffen bzw. erhalten und damit Beschäftigung, Einkommen und Wohlstand sichern sowie Sicherheit geben und Sinn stiften,
• Gewinn erzielen, um die Kapitalkosten zu decken und darüber hinausgehenden Unternehmenswert zu schaffen, denn das sind der Maßstab für wirtschaftlichen Erfolg und die Voraussetzung für Investitionen, Forschung und Entwicklung sowie Innovation, Wachstum, Internationalisierung und Kapitalbeschaffung und damit für die Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen und ganz allgemein für den
nachhaltigen Bestand des Unternehmens.
Nun vollzieht sich dies in einem sich ständig und immer schneller wandelnden technologischen und marktorientierten Umfeld sowie im lokalen, europäischen und globalen Wettbewerb. Dies führt zu Anpassungsoder gar zu Ausleseprozessen, die oft schmerzlich sind, nicht nur für die
betroffenen Mitarbeiter, sondern auch für die Manager, Eigentümerunternehmer, Aktionäre und Investoren. Ein Blick in die Insolvenzstatistik
genügt.
Dem ausweichen zu wollen, führt bekanntlich in die Irre: So kommt es
zur volkswirtschaftlichen Fehlallokation knapper Ressourcen im weitesten Sinne (Menschen, Talente, Kapital etc.), zu verpassten Chancen
notwendiger und rechtzeitiger Unternehmensentwicklungen, zur Übernahme durch Wettbewerber oder Kapitalfonds bzw. im Extremfall zur
Insolvenz.
Daher muss sich die deutsche Wirtschaft dem Wandel und den Gegebenheiten
• des technologischen Fortschritts,
• der Europäisierung und Globalisierung der Beschaffungs- und Absatzmärkte,
• der hohen Transparenz und Mobilität sowie
• der Professionalisierung und dem verschärften Wettbewerb
stellen. Sie fällt sonst zurück oder geht unter. Die Konkurrenten aus den
Schwellenländern werden sich nicht für unsere „Besitzstände“ interessieren oder hierauf Rücksicht nehmen.
Das Ökonomische Prinzip
Dieses „Grundgesetz“ wirtschaftlichen Handelns (auch als Wirtschaftlichkeitsprinzip oder Input-Output-Relation bekannt) besagt, dass ein
bestimmtes Ziel mit möglichst geringem Ressourceneinsatz oder ein
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maximales Ergebnis mit einem gegebenen Ressourceneinsatz erzielt
werden soll.
Das ökonomische Prinzip ist ein rein formaler Grundsatz, der lediglich
die Art und Weise (das „Wie“) des Wirtschaftens beschreibt. Das Prinzip
macht keine Aussagen über Ziele oder Motive des Wirtschaftens
(Gewinnmaximierung, Umsatzsteigerung, Vergrößerung der Marktanteile bei Unternehmen, Nutzenmaximierung bei Haushalten und Konsumenten). Es ist Ausdruck der Rationalität, der in gleicher Weise beispielsweise auch für die Natur- und Ingenieurwissenschaften gilt und in
sich weder unethisch noch unmoralisch ist. So ist der Wirtschaft aufgetragen, mit knappen natürlichen Ressourcen, aber auch mit menschlicher Arbeitskraft, mit Talent und Kreativität sparsam und schonend
umzugehen und nichts zu vergeuden.
Leistung und Wettbewerb
Zur Wirtschaft und zum unternehmerischen Handeln gehören Leistung
und Wettbewerb. Sie sind die Voraussetzung des Erfolgs sowie eine
Quelle der Kreativität, des Fortschritts und des Wohlstands.
Nun wird der Unternehmenserfolg in vielfältiger und nicht nur rein
finanzieller Weise zu messen sein, aber Gewinn und Rendite sind eines
der wichtigsten Kriterien und in der Wirtschaft letztlich eben das entscheidende. Ist das unethisch? Oder: Wo beginnt es, unethisch oder zur
„Gier“ zu werden? Die Antwort muss mehrere Aspekte umfassen: Gier
kann vorgebeugt werden durch korrespondierende Risiken, disziplinierende Haftung, wirksamen Wettbewerb sowie rechtliche Rahmenbedingungen und Restriktionen.
Gewinn
Die Worte „Gewinn“, „Gewinnmaximierung“ oder gar „Profit“ sind
negativ besetzt. Sachlich ist Gewinn der Überschuss, die Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben bzw. Erträgen und Aufwendungen,
und damit ein Maß für ein markt- und wettbewerbsgerechtes Geschäftsmodell und Produkt-Portfolio für wirtschaftliches Handeln (sparsame
Unternehmensführung, Effizienz, Produktivität). Damit ist Gewinn
auch eine „Messlatte“ für die Leistung des Unternehmens und seiner
Führung.
Es stellt sich die Frage, ob nicht Missmanagement, Verschwendung,
Nachlässigkeit unethisch sind, denn das gefährdet die Existenz und
Zukunft des Unternehmens und damit die Arbeitsplätze.
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Auch die bereits zitierte Enzyklika „Centesimus annus“ von Papst Johannes Paul II. erklärte, dem Gewinn komme „die berechtigte Funktion ...
als Indikator für den guten Zustand und Betrieb des Unternehmens“ zu
(CA 35).
Ausreichender Gewinn sowie ausreichende Kapitalrendite sind kein Wert
an sich, sondern entscheiden über die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens und damit auch über die Sicherheit der Arbeitsplätze, über Forschung und Entwicklung, Internationalisierung, Investitionen, Wachstum, Finanzierung, Wettbewerbsfähigkeit, Unabhängigkeit und über die
Fähigkeit, der gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden.
Mitarbeiter und Kapitalanleger wollen nicht zu ertragsschwachen,
ertragslosen oder verlustreichen Unternehmen gehen. Und Kunden, Lieferanten und Banken wollen nicht mit solchen Unternehmen arbeiten.
Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass zu den Kapitalanlegern heute
auch Belegschaftsaktionäre, breite Schichten der Bevölkerung, Pensionsfonds etc. gehören. Sie alle wollen sehen, dass Wert geschaffen und
nicht vernichtet wird, und das ist eben der Überschuss der Gesamtkapitalrendite über die Kapitalkosten.
Börsennotierte Unternehmen stehen hierbei unter anderen Zwängen als
Eigentümer- bzw. Familienunternehmen. Zu nennen sind zum Beispiel
die Schaffung von Aktionärswert, der quartalsweise Erfolgszwang, die
Ausschüttungserwartungen, die Transparenz und der Ruf in der Öffentlichkeit. Dies schafft ein anderes Unternehmerprofil und Unternehmerbild als bei Eigentümer- bzw. Familienunternehmen.
Gesetzliche Aufgaben, Haftung und Vergütung
des Unternehmers
Der Eigentümerunternehmer hat die „Verfügungsgewalt“, er haftet aber
auch mit seinem unternehmerisch eingesetzten Vermögen (oft auch mit
seinem Privatvermögen) sowie mit seinem Namen und seiner Reputation.
Die Vergütung des Eigentümerunternehmers (in der Personengesellschaft seine „Privatentnahmen“) halten sich in der Regel in einem angemessenen Rahmen, da mehr auf Thesaurierung und Vermögensmehrung gesetzt wird.
Bei der GmbH haftet der Geschäftsführer für die Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns (GmbHG).
Und bei der Aktiengesellschaft gilt, dass der Vorstand die Gesellschaft
in eigener Verantwortung mit der Sorgfalt eines ordentlichen und
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gewissenhaften Geschäftsleiters führt; bei Pflichtverletzung haftet er
für entstehenden Schaden und zwar bei umgekehrter Beweislast (AktG).
Die Bezüge müssen in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben
und zur Lage der Gesellschaft stehen (AktG).
Einzelfälle exzessiv erscheinender Vergütungen von Vorstandsvorsitzenden in den USA und Europa mögen kritisch zu beurteilen sein, sind
aber zumindest vor dem Hintergrund der jeweiligen Unternehmensgröße, des Unternehmenserfolgs, der Risiken und Haftungen sowie vergleichbarer Vergütungen im internationalen Kontext zu sehen; auch
Spitzensportler und Spitzenkünstler beziehen mitunter extrem hohe
Vergütungen. Im Übrigen gilt, dass im Grunde jeder die Chance hat und
das System „durchlässig“ ist.
Die Sorgfaltspflicht eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters gilt sinngemäß auch für die Mitglieder des Aufsichtsrats.
Ohne Regeln geht es nicht …
So sehr die Wirtschaft Raum für Unternehmertum braucht und so sehr
dem Kapitaleinsatz und der Risikobereitschaft angemessene Chancen
entsprechen müssen, so sehr sind bestimmte Regeln nötig, um die
Rechte des Einzelnen zu schützen, den Ausgleich zwischen individuellem Interesse und Gemeinwohl zu gewährleisten sowie Nachhaltigkeit
in wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Hinsicht zu fördern.
Greifen wir auch hier wieder auf die Enzyklika „Centesimus annus“ von
Papst Johannes Paul II. zurück, die die Wichtigkeit der Ordnungspolitik
betont: „Die Wirtschaft, insbesondere die Marktwirtschaft, kann sich
nicht in einem institutionellen, rechtlichen und politischen Leerraum
abspielen. Im Gegenteil, sie setzt die Sicherheit der individuellen Freiheit und des Eigentums sowie eine stabile Währung und leistungsfähige
öffentliche Dienste voraus. Hauptaufgabe des Staates ist es darum, diese
Sicherheit zu garantieren, so dass der, der arbeitet und produziert, die
Früchte seiner Arbeit genießen kann und sich angespornt fühlt, seine
Arbeit effizient und redlich zu vollbringen“ (CA 48).
Es gibt diese rechtlichen und Verhaltensregeln in großer Zahl und zwar
auf nationaler, europäischer und teils auf internationaler oder gar globaler Basis. Und diese Regeln werden ständig weiterentwickelt, um das
jeweils Notwendige zu gewährleisten. Zu nennen sind das Zivilrecht, das
Öffentliche Recht, das Strafrecht, das Arbeits- und Kündigungsschutzrecht, das Gesellschaftsrecht, das Bilanzrecht, das Publizitätsrecht, das
Wettbewerbs- und Kartellrecht, das Kapitalmarkt- und Börsenrecht mit
dem Anlegerschutz- und Wertpapierhandelsrecht, der Deutsche Corpo67
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rate-Governance-Kodex, die sogenannte Unternehmens-Compliance, das
Umweltrecht und vieles andere mehr.
… aber Regeln sind nicht alles
Neben all diesen Regeln brauchen Unternehmen und Unternehmer
klare Werte. Denn nicht alles, was rechtlich nicht verboten ist, ist automatisch ethisch vertretbar und gut; und es sind Werte und ein klares
Werteprofil, die den Unterschied zwischen Unternehmen ausmachen.
Sie veranlassen zum Beispiel Menschen, sich für einen bestimmten
Arbeitgeber zu entscheiden: Führungskräfte, die kompetentesten Fachspezialisten und der talentierteste Nachwuchs möchten ihre professionelle Energie in einem „guten“ Unternehmen einsetzen, in dem sie
Chancen und längerfristige Perspektiven, Offenheit, eine inspirierende
Unternehmenskultur sowie eine gute Corporate Governance und Social
Responsibility vorfinden.
Dies fördert die Motivation und Leistung, den Teamgeist, die Kohärenz
sowie die Loyalität.
Governance und Werte in Familienunternehmen
Auch Eigentümer- bzw. Familienunternehmen müssen klare Wertestandards haben und danach leben. Eine gute „Family Governance“
sollte folgenden Kriterien gerecht werden:
• Vorrang des Unternehmens (Identifikation der Gesellschafter mit den
Zielen und Gegebenheiten des Unternehmens, Entnahmepolitik,
Führungspositionen nach Qualifikation statt nach Familienzugehörigkeit etc.),
• Vorrang des Gesamtinteresses vor Partikularinteressen,
• Transparenz,
• einwandfreie „Schnittstellen“ zwischen Eigentümern und Unternehmen,
• Selbstdisziplinierung,
• Wertekodex,
• Vorbildfunktion,
• keine unkontrollierten Emotionen, Stammesfehden, EigentümerStarrsinn oder „Führung nach Gutsherrenart“.
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Hierdurch können Identifikation und Motivation sowie ein Klima des
fairen Miteinanders und des Vertrauens geschaffen werden.
Nachhaltigkeit als Maxime der Unternehmensstrategie
Wirtschaften hat nur noch unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit
Sinn und Zukunft. Dies gilt ökonomisch, ökologisch und sozial.
• Ökonomisch ist Wirtschaft nur durch eine langfristig angelegte Strategie zu bewältigen, die die Erreichung langfristiger Ziele nicht einer
kurzfristigen Vorteilsnahme oder Gewinnerzielung opfert, das heißt,
es muss in die Zukunft investiert werden: Ausbildung und Förderung
der Mitarbeiter sowie des Fach- und Führungskräftenachwuchses, Forschung und Entwicklung, Markenbekanntheit, Internationalisierung
etc.
• Ökologisch müssen sich Unternehmen und Konsumenten so verhalten, dass Umwelt, Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz
geschützt sind sowie mit den knappen Ressourcen sparsam umgegangen wird. Für die Unternehmen liegt hier die große Chance, sich
durch umwelt- und entsorgungsfreundliche Innovationen im Wettbewerb zu qualifizieren und so nicht nur der ökologischen Nachhaltigkeit zu dienen, sondern Verbrauchernutzen und Wert zu generieren.
• Die soziale Maxime sieht vor, dass der gesellschaftlichen Verantwortung und dem Grundsatz der Sozialverträglichkeit Rechnung getragen werden sowie um gesellschaftliche Akzeptanz für unternehmerisches Wirken, für neue Technologien, für Standort- und Investitionsentscheidungen und für Effizienzsteigerungs- und Rationalisierungsschritte geworben wird, das heißt, es sind Glaubwürdigkeit,
Vorbildfunktion, Dialog und Partnerschaft gefragt.
Wirtschaftliche Ziele und die Regeln der Wirtschaft werden sich nur
unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit mit den Erfordernissen der
Unternehmensethik zusammenbringen lassen.
Und die Globalisierung?
Es liegt auf der Hand, dass sich die globalen Gewichte verlagert haben
und weiter verlagern werden. Wissen und Technologie sind heute weitgehend weltweit zugänglich und verfügbar, und 1,3 Milliarden Menschen in China, eine Milliarde Inder und viele andere Völker wollen verständlicherweise ihren Anteil an Wohlstand und anderen Gütern des
Lebens. Wer will ihnen das verdenken, nur, weil es zu Lasten unserer
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historischen wirtschaftlichen Vormachtstellung oder unserer wirtschaftlichen und sozialen „Besitzstände“ geht oder gehen könnte?
Die Globalisierung hat also Gewinner und Verlierer. Und die großen
Gewinner sind die Schwellenländer, aber auch Deutschland als Exportweltmeister. Um das zu bleiben – insbesondere im Vergleich zu China,
das sich verändern wird –, werden wir uns anstrengen und für Veränderungen offen sein müssen.
Auswirkung auf die deutschen Unternehmen
Die Unternehmen müssen ihre strategische Position vor dem Hintergrund der großen Herausforderungen und des ständigen Wandels ihres
Umfelds immer wieder überprüfen und neu ausrichten, um zukunftsfähig und erfolgreich zu sein:
• Der Wettbewerb wird keinen Raum für Mittelmäßigkeit oder für das
Prinzip: „von allem etwas, aber nichts richtig machen“ lassen. Es geht
also um eine Schärfung des strategischen Profils durch Konzentration
auf das, was ein Unternehmen am besten und besser als die Wettbewerber kann.
• Wirtschaftlich und industriell ist Europa ein Raum. Die Chance, im
großen europäischen Rahmen zu arbeiten, muss genutzt werden, und
zwar in Forschung und Entwicklung, Beschaffung, Produktion, Logistik und Vertrieb. Hier lassen sich große Potentiale nutzen und Skaleneffekte erzielen. Eine starke Basis im europäischen Heimatmarkt
ist unerlässliche Voraussetzung für den Einstieg in den außereuropäischen Markt.
• Wenn zur Jahrhundertmitte 9,2 Milliarden Menschen auf der Erde
leben (das wären 2,5 Milliarden mehr als heute) und die Bevölkerungszunahme in den Entwicklungs- und Schwellenländern stattfindet (von 5,4 auf 7,9 Milliarden Menschen), ist klar, was dies für die
deutschen Unternehmen bedeutet. In den Industrieländern wird die
Bevölkerungszahl bei 1,2 Milliarden stagnieren, so dass der Markt
bestenfalls gleichbleibt, wahrscheinlich aber durch Effizienzgewinne
weiter schrumpfen wird. Die Unternehmen müssen sich verstärkt
dort engagieren und dort investieren, wo das Wachstum stattfinden
wird.
• Es wird nicht mehr alles am deutschen Standort gefertigt werden können. Grenzüberschreitende Prozessketten werden der Normalfall werden, indem entweder die Hochtechnologiekomponenten oder besonders komplexe Produkte in Deutschland hergestellt und in den ausländischen Zielmärkten Weiterbearbeitungen, Montagen oder Sorti70
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mentsergänzungen erfolgen. Umgekehrt ist es auch möglich, dass
Komponenten im Ausland gefertigt bzw. von dort zugekauft werden.
Wichtig ist, dass wir in Deutschland die Technologie- und Innovationsführerschaft bzw. die Systemführerschaft behalten.
• Diese Dinge müssen nicht zu Lasten des Standorts und des Arbeitsmarkts Deutschland gehen. Im Gegenteil, sie sind die unverzichtbare
Voraussetzung dafür, dass deutsche Unternehmen überhaupt überleben können. Aber es werden zum Teil andere und höherwertige
Arbeitsplätze für Forschung und Entwicklung, internationalen Vertrieb und Service, für internationale Dienste etc. in Deutschland sein.
Unternehmereigenschaften und Unternehmerbild
Der sozialen Marktwirtschaft sowie den Unternehmern und Managern
schlagen heute weitverbreitete Zweifel entgegen, obwohl uns unser
freiheitliches und sozial verpflichtetes Wirtschaftssystem in den vergangenen 60 Jahren große Wohlstandsgewinne und ein hohes Maß an
sozialer Sicherheit beschert hat und das Misstrauen gegen die Unternehmensführer aus dem Versagen und Fehlverhalten Einzelner resultiert. Hier sollte weder verallgemeinert noch gleich das Ganze in Frage
gestellt werden.
Die Unternehmer und Manager müssen sich ausnahmslos an die
„Regeln“ und an die allgemein anerkannten Werte der Unternehmensethik halten. Es muss wieder das rechte Maß gefunden werden, und es
müssen gesellschaftliche Verantwortung übernommen sowie persönliche Bescheidenheit und ein angemessenes Auftreten innerhalb und
außerhalb des Unternehmens an den Tag gelegt werden. Nur so wird
sich Vertrauen zurückgewinnen lassen, und nur so werden unternehmerische Leistungen wie Einsatzbereitschaft, Kreativität, Entscheidungs- und Risikofreude sowie die Haftung mit der Person, dem Namen,
dem Vermögen und der Stellung wieder Anerkennung finden.
Aus der Krise resultiert auch eine Chance
Die Vertrauenskrise sowie die Finanz- und Wirtschaftskrise bergen auch
eine Chance: Die Überbetonung einseitig wirtschaftlicher Ziele, eine
nur kurzfristig angelegte reine Kapitalmarktorientierung und die Vernachlässigung der jeweils erforderlichen Risikoerwägungen werden
korrigiert werden müssen. Die Menschen und die Wirtschaft werden
sich wieder mehr auf ein vernünftiges Maß der Dinge, auf wirtschaftliche Solidität, auf Nachhaltigkeit sowie in ihren Planungen und Dispositionen auf das besinnen, was sie überschauen und beherrschen. Natür71
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lich wird man gesetzliche und regulatorische Rahmenbedingungen,
Transparenz sowie Aufsicht und Kontrolle dort überprüfen, wo sie unzureichend waren oder versagt haben.
Das ganze System der sozialen Marktwirtschaft, die Unumkehrbarkeit
und die Vorzüge der Globalisierung sowie die Unternehmer und Manager insgesamt in Frage zu stellen, bringt nichts. Wir müssen vielmehr
aus den Dingen lernen, die Grundsätze der Unternehmensethik zu
leben sowie mit nationalen, europäischen und weltweiten Anstrengungen versuchen, die Globalisierung fair und sozial verantwortlich zu
gestalten.
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Marketing und Ethik? – Vermarktete Ethik!
Hans Bauer
Der Beitrag wurde erstmals 1993 als Vortrag gehalten. Da er exemplarisch die
Spannung zwischen Geist und Geld an den Grenzen von Marktwert und Vermarktbarkeit und Ethik auslotet, wird er hier noch einmal abgedruckt.
Derzeit gibt es wohl keine betriebswirtschaftliche Teilfunktion, die stärker mit der Aufforderung verbunden ist, zu Moral und Ethik etwas auszusagen, als das Gebiet „Finanzierung und Banken“. Für einen Vertreter
des Marketings ist ein solcher Anspruch nichts Neues. Schon immer
stand diese Teildisziplin der BWL unter der Erwartung, zum Thema Marketing und Ethik etwas beizutragen. Das hat zwei Gründe: Zum einen
ist in den Augen vieler Menschen manche Praxis des Marketings unmoralisch, zum anderen sehen viele das Marketing-Management auf moralische Trends (beispielsweise das ökologische Bewusstsein der Konsumenten) „aufspringen“. Diese zweifache Fokussierung eines Ausgangspunktes führt zu dem doppelten Titel dieses Aufsatzes.
Ich möchte also erstens erläutern, was Marketing von Gütern und
Dienstleistungen mit Ethik zu tun hat. Zweitens folgen Ausführungen
zu vermarkteter Ethik, womit allerdings nicht die Absatzprozesse von
Moralproduzenten („Marketing für Ideen“) gemeint sind. Vielmehr verstehe ich den Aufruf „Vermarktete Ethik!“ als Hinweis auf ein kryptoamoralisches Phänomen, das heißt, auf das Verbergen moralisch negativer oder neutraler Marketing-Prozesse unter dem gewinnbringenden
Deckmantel ethisch-positiver Gesinnung.
Wenn sich ein Marketing-Professor über Marketing und Ethik auslässt,
so wird es manchem spontan so vorkommen, als hielte ein Tresorknacker auf der Polizeischule einen Vortrag über die Einbruchsicherheit
von Geldschränken. Mich befreit dieses Vorurteil jedoch von der Erwartung, hier philosophisch Letztgültiges zu sagen. Es zeigt aber auch, dass
Marketing beim Thema Ethik im Fadenkreuz liegt. Die Diskussion „Marketing und Ethik“ möchte ich deshalb mit der Frage nach einem besonderen Bedarf an Moraldiskussionen im Marketing-Management beginnen.
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Marketing und Ethik
1.1
Zur ethischen „Lücke“ im Marketing-Management
Marketing-Manager treffen oft Entscheidungen, bei denen sie sich im
Wertekonflikt für das moralisch Schlechte entschließen. Bekannte Beispiele sind:
• Der Vertriebsleiter der staatlichen französischen Blutbank verkauft
Blutkonserven, obwohl er weiß, dass sie AIDS-infiziert sind.
• Benetton startet eine Werbekampagne, durch die mit Hilfe der Zurschaustellung menschlichen Leids und menschlichen Unrechts ein
heutzutage gewünschter „unüblicher Marktauftritt“ realisiert wird.
Die Vorwürfe an das Marketing, schlecht zu sein, sind vielfältig. Vorgeworfen werden ihm:
• Irreführung, Verletzung von Wertvorstellungen in der Werbung,
• Täuschung bei der Preisstellung,
• getarnte Marktforschung,
• Verwendung persönlicher Daten ohne Wissen der Betroffenen,
• mangelhafte Beratung und unwahre Information,
• schädliche, schlechte Produkte,
• psychologischer Kaufzwang in Verkaufsveranstaltungen, zum Beispiel
bei Kaffeefahrten, Verkaufsparties und Haustürverkauf,
• Förderung des Konsumdenkens,
• ökologisch schädliche Produkte,
• frauenfeindliche oder unanständige Werbung.
Dies veranlasste die Marketing-Forscherin Ursula Hansen, beim Marketing-Manager eine besondere „ethische Lücke“ zu konstatieren (Hansen
1988). Ich glaube, dass Hansen mit dieser Feststellung nicht allein
dasteht. Fragt man in seinem eigenen sozialen Umfeld nach dem Stichwort Marketing-Ethik, so werden viele Menschen vermutlich den Begriff
als Widerspruch in sich bezeichnen, wenn sie überhaupt wissen, was
Marketing ist.
Gehen wir davon aus, dass viele Menschen nichts mit dem Begriff „Marketing“ anfangen können, ist klar, dass das Selbstverständnis von Marketing-Managern – und auch von Marketing-Forschern – bedroht ist, lautet doch die Grundmaxime des Marketings, sich am Wohl der Nachfrager zu orientieren. Und dieses Wohl setzt voraus, dass die Wirkungen der
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Marketing-Handlungen und die Wertvorstellungen der Konsumenten
kompatibel sind.
Die Lücke besteht nach Hansen zweifach: einerseits in einer Diskrepanz
zwischen dem privaten und beruflichen Rollenverhalten (Rollenlücke)
und andererseits – zumindest implizit – in einer Diskrepanz zwischen
realer und wünschenswerter Ausprägung der Moral von MarketingManagern (normative Lücke). Für Hansen liegt der Grund darin, dass
Marketing-Manager ethische Entscheidungen relativ unvorbereitet treffen, da ihre Ausbildung als Wirtschaftsakademiker ethische Fragen so
gut wie nicht umfasst hat. An Wirtschaftsakademien, so ihre Argumentation, dominiert nämlich ein wertfreies Wissenschaftsverständnis,
das ethische Probleme ausgrenzt und häufig sogar dazu erzieht, ökonomische Sachzwänge höher einzustufen als Moral. Dies ist umso gravierender, als die Machtkonzentration in der Wirtschaft zu einer Aushöhlung der moralisch positiven Wirkungen des marktwirtschaftlichen
Systems und zu einem größer werdenden Bedarf an individualethischer
Begründung wirtschaftlichen Tuns geführt hat. In der Marketing-Ausbildung müssten deshalb diese Kritik an unmoralischen Marketing-Praktiken aufgegriffen und entsprechend ethisch rechtfertigbare Handlungskonzepte gelehrt werden, so Hansen.
Nach Hansen lautet die Frage also: Wie kann ein angehender MarketingManager unterstützt werden, um sich selbst die ethische Daumen-NagelFrage zu beantworten? „Would I feel comfortable, explaining to a national TV audience why I took this action?“ Immerhin wird in diesem Verschnitt des Kantschen Imperativs der Wunsch nach einer grundnormengerechten Entscheidung im Wertekonflikt deutlich.
Zur weiteren Durchdringung unseres Gegenstandes führe ich jetzt
einige Grundsätze zu Moral und Ethik aus.
1.2
Moral und Ethik
Schon immer wurden Menschen und ihr Handeln bewertet: als gute und
böse Menschen, als gutes und schlechtes Handeln. Jede Kommunikation
zwischen Menschen, die Verhalten nach gut und schlecht einstuft und
somit die Menschen achtet oder missachtet, kann als Rede über Moral
bezeichnet werden (Roellecke 1990). Moral bezieht sich somit zwingend
immer auf Personen. Sie ist im Kern ein personales Phänomen und
gleichzeitig auch ein sozial eminent wichtiges Element.
Ethik hingegen ist die Lehre, oder, wenn man so will, die Wissenschaft
vom richtigen oder falschen, das heißt, vom sittlichen Handeln. Ethik
ist damit die Reflexion auf der Meta-Ebene über das Objekt Moral. Ethik
verhält sich zu Moral wie Lehre zu Handeln. Ethik ist die Kommunika75
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tion der Philosophen über Gut und Schlecht und über die Methoden,
mit denen sie ein Tun als gut oder schlecht charakterisieren. Ethik als
die Lehre vom Sollen oder vom Nicht-Dürfen schließt natürlich moralische Analysen ein. Schließlich sollte keine Wissenschaft einen Gegenstand bearbeiten, hier die Moral, ohne über dessen empirisch faktische
Verbreitung, hier das gute und schlechte Handeln, aufzuklären.
In ihrer konkreten Ausprägung ist Ethik die Lehre von einer Ordnung von
Werten in einer Gesellschaft oder Gruppe. Diese Ordnung ist nicht einfach die Summe individueller Wertvorstellungen, sondern die Menge
jener Werte, für die ein breiter gesellschaftlicher Konsens erreicht wurde.
(In einer pluralistischen freiheitlichen Gesellschaft gibt es segmentspezifisch modifizierte Wertehierarchien: Alle müssen sich aber in einem
Teil überlappen.) Diese Werte werden in dieser Gesellschaft kommuniziert und möglichst umgesetzt, zum Beispiel mit Hilfe von Philosophie,
Religion, Tabus oder auch Vorbildern, Politik und Anstandsregeln. Der
Zweck besteht nicht nur darin, gesellschaftliches Zusammenleben zu
erleichtern. Werte stellen auch, vorausgesetzt sie werden durch Tabus
geschützt oder gefordert, eine Art psychotherapeutische Institution dar,
um möglichst große „Seelenhygiene“ der Mitglieder einer Gesellschaft
zu bewahren. Wird dieser Mechanismus zur Erhaltung illegitimer
Machtpositionen missbraucht, schlägt das Phänomen allerdings ins
Gegenteil um. Grundsätzlich gilt das Paradoxon der Freiheit nach Popper: Freiheit durch Freiheitsbeschränkung. Der Mensch, der gut sein
will, muss ferner die Konsens getragene Ordnung der Werte anerkennen
und sie für sich und sein Verhalten anstreben (Molitor 1989).
Doch was sind nun gute Werte in einem absoluten Sinn? Zu dieser Frage
gibt es unterschiedliche Antworten. Einigkeit besteht vielleicht darin,
dass der Mensch sich dann sittlich gut verhält, wenn er alle seine Anlagen entsprechend seiner Vernunft entfaltet und damit zu sich selbst findet. Dabei wird als gleichgewichtete Nebenbedingung anerkannt, dass
der Einzelne dabei seine sozialen Verpflichtungen erfüllt, dem anderen
also auch zum Gutsein in Freiheit verhilft (Angehrn 1981).
Dieser Grundanspruch wird seit Platon mit Hilfe der vier Kardinaltugenden rationalisiert: der Gerechtigkeit, Tapferkeit, Klugheit und Mäßigung. Dieser Katalog der Angelpunkte ethischen Handelns zeigt in zwei
Konstrukten, dass individuell und sozial Gutes untrennbar miteinander
verknüpft sind. Das heißt aber auch, dass die ethische Tragweite von
Handlungen umso mehr zunimmt, je mehr eine menschliche Tätigkeit
das Wohl anderer Menschen tangiert. Wo ist das stärker der Fall als im
Bereich wirtschaftlicher Tätigkeiten?
Für den Problembereich Wirtschaftsordnung und Ethik ist nun noch die
Frage von Interesse, inwieweit eine Institution einer Gesellschaft mora76
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lisch sein kann (Göbel 1992). Institutionen entfalten ebenso wie menschliches Handeln Wirkungen, so dass auch Institutionen als gut oder
schlecht bezeichnet werden können. Institutionen haben jedoch keine
Gesinnung. Somit können nur die Personen, die sie schaffen, tragen und
bejahen, gut oder böse sein. Institutionen-Ethik, die meist Sozial-Ethik
heißt, beurteilt, was Institutionen für die Moral bedeuten; ob beispielsweise Individual-Ethik subsidiär oder komplementär zu Sozial-Ethik ist.
Nach Molitor (1989, S. 29 ff.) ist es ein eminent wichtiges Problem der
Ethik, darüber nachzudenken, wie institutionelle Bedingungen mit
(personaler) Unmoral interagieren, wie also im Sinne eines moralischen
Interaktionseffektes verstärkende oder abschwächende Wirkungen von
einem auf das andere übergehen.
Moral ist also ein personales Phänomen. Das Verhalten von Individuen
wird generell als situations- und zielbezogen verstanden. Nicht nur sachliche Aspekte, sondern auch moralische kommen zum Tragen, wenn
sich Individuen zwischen verschiedenen Handlungsalternativen frei
entscheiden.
Ansatzpunkt der Moral ist deshalb die von der Vernunft getragene Willensentscheidung der Individuen. Dabei meint von der Vernunft getragen lediglich die Berücksichtigung irgendeiner und nicht einer besonderen Ziel-Mittel-Beziehung. Damit wird auch der Standpunkt vertreten,
dass es nicht allein auf den Willen ankommt, gemäß dem Kantschen
Satz „Gut ist allein ein guter Wille“. Moral muss sich auch mit den Folgen von Handlungen beschäftigen, so wie es bereits in der Bibel steht:
„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“
Der Streit zwischen Gesinnungs-Ethik und Verantwortungs-Ethik ist
unergiebig, weil Folgen immer auch moralisch beurteilt werden können. Roellecke schreibt: „Die Moral verhält sich zu den Folgen des Handelns wie der Igel zum Hasen. Wenn die Folgen herankeuchen, ist die
Moral immer schon da“ (1990, S. 27). In der Moral relevant sind damit
die Ziele und die Mittel, die Gesinnung und die Folgen. Eine reine Gesinnung greift zu kurz, schon deshalb, weil die Frage nach der Erlaubtheit
der Mittel meines Erachtens häufiger gestellt wird als die Frage nach der
Geeignetheit der Mittel. Sind die Mittel zielführend, zum Beispiel auch
das Nichtstun, bei dem die Gesinnung selten geprüft wird? Und sind sie
nebenwirkungsfrei? Diese Fragen müssen wir uns ebenso stellen.
Molitor beklagt in diesem Zusammenhang das Problem der Moralspaltung, wobei im einfachen Fall die einen normprüfendes Gewissen spielen und die anderen normbefolgend die Verantwortung für die Folgen
tragen sollen (1989, S. 33). Diejenigen, die die schwere Last der Verantwortung tragen, können häufig ebenfalls ein Moralprivileg für sich in
Anspruch nehmen, da die Folgen in sozial komplexen Systemen meis77
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tens nicht genau oder rechtzeitig einem Handeln zugeordnet werden
können. Diese moralische Haftungslockerung führt im politischen
Bereich häufig dazu, sich auf die gute Gesinnung zu beschränken (Opposition) bzw. die kurzfristig guten Folgen zu wenig mit den langfristig
schlechten Folgen des Handelns in einer Trade-off-Rechnung darzustellen (Regierung).
1.3
Ethische Problematik des Marketing
1.3.1
Fragen nach einer Marketing-Ethik
Kommen wir nun zur ethischen Problematik des Marketings. Es gibt in
der Marketing-Literatur – vielleicht im Gegensatz zu einem weitverbreiteten Vorurteil – doch einige Beiträge, die sich mit der ethischen Problematik des Marketings beschäftigen. Nur ist dies häufig nicht direkt
sichtbar wie in den Fällen, in denen Marketing-Ethik im Titel der Arbeit
auftaucht. Große Teile des Problemfeldes werden nämlich im Bereich
Wirtschaftsethik ganz allgemein angesprochen. Schließlich finden sich
Arbeiten, die sozusagen im Objektbereich der Ethik, also im Bereich konsensfähiger Werte diskutieren, wie diese von Marketingaktivitäten
betroffen sind und ob diese Werte für Marketingaktivitäten relevant
sind. Beispiele sind die Bereiche soziale Verantwortung und Marketing,
Verbraucherschutz und Marketing oder ökologisches Marketing (siehe
Raffée/Wiedmann 1989; Silberer 1985). Schließlich liegen im Gegenstandsbereich Ausführungen beispielsweise zur irreführenden Werbung, zur Problematik der Preisauszeichnung, zu Hard-selling-Methoden des Verkaufs und ähnlichen Vermarktungsphänomenen vor. Insgesamt ergibt sich ein Spektrum, das der Ordnung bedarf.
Meines Erachtens lässt sich diese Ordnung durch zwei Überlegungen
herstellen. Zum einen kann man über Marketing und Ethik räsonieren,
indem man die Marketingfunktion als essentielle Basisfunktion von
Unternehmen in einer marktwirtschaftlichen Ordnung versteht. Marketing ist bei dieser Betrachtung ein äußerst prägnanter Teil der Marktwirtschaft und damit von der Diskussion über Ethik und marktwirtschaftliche Ordnung betroffen, wobei hier zu unterscheiden ist: Einmal
geht es um mögliche moralische Voraussetzungen der Marktwirtschaft
an sich, die dann natürlich auch für den Bereich der Absatzfunktion gelten.
Zum anderen geht es um jene besonderen Facetten der Marktwirtschaft,
die für diese grundlegend sind, aber speziell im Aufgabenfeld der Marketingtheorie liegen, und um deren ethische Problematik. Daneben
lässt sich ein zweiter großer Hauptblock aus jenen Arbeiten oder Überlegungen bilden, die einzelne Marketingaktivitäten oder Komponenten
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der Marketingkonzeption dahingehend diskutieren, inwieweit ethische
Belange davon berührt sind. Behandeln wir zunächst das Marketing als
Spitze des „Eisbergs Marktwirtschaft“.
1.3.2
Marketing als Spitze des „Eisbergs“ Marktwirtschaft
Die Vermarktung von Gütern und Dienstleistungen, also das Marketing,
ist der für jedermann sichtbare Teil einer marktwirtschaftlich organisierten Wirtschaftsordnung. Schließlich haben wir als private Nachfrager alle an der Vermarktung teil. Manche Kritikpunkte am Marketing
sind deshalb nur vordergründig an das Marketing gerichtet, sondern
meinen vielfach die Ethik der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung schlechthin (Molitor 1989 und – eher kritisch – Koslowski 1986).
Das marktwirtschaftliche System hat in zweierlei Hinsicht mit Moral zu
tun. Zum einen liefert es moralisch bewertbare Ergebnisse, zum anderen erfordert es personale Moralvoraussetzungen.
Die Marktwirtschaft erfüllt die für Wirtschaftssysteme notwendige
Koordinations-, Informations- und Motivationsfunktion in hervorragender Weise, nämlich durch freie Preisbildung, durch den Marktprozess und durch die Chance auf Einkommensdifferenzierung durch
Informationsvorsprung, Risikoübernahme und geistige oder physische
Leistung (Molitor 1989, S. 70 ff.).
Der moralische Gehalt der Marktwirtschaft steckt in der Verbindung
einer hohen individuellen Verhaltensfreiheit mit einem dreifachen
„Sozialversprechen“, einem hohen Versorgungsgrad, einem Vorzug für
die Konsumenteninteressen als letztendliche Steuerungsinstanz und
einer Teilhabe der privaten Haushalte an der Produktivitätssteigerung.
Um die erwünschten Effekte zu erzielen, müssen folgende Voraussetzungen gegeben sein:
• Vorliegen von Wettbewerb, der Fortschritt, Kostenkontrolle und
Machtkontrolle gewährleistet,
• Dispositionsfreiheit mit Privateigentum, Gewerke-, Berufs-, Marktzutritts- und Vertragsfreiheit,
• Nutzenmaximierung als sachliches Ziel und Grundprinzip bei wirtschaftlichen Entscheidungen.
Diese konstruktiven Voraussetzungen sind nun aber ohne (personale)
moralische Maxime nicht denkbar, weil sie dann nicht funktionieren.
So erfordert Wettbewerb in moralischer Hinsicht, dass sich die Marktteilnehmer ihm stellen, also das Vorsprungs- und Leistungsprinzip anerkennen. Es erfordert aber auch die Akzeptanz der staatlich gesetzten
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Wettbewerbsordnung, die Wettbewerb sichern soll. Die Verfügungsfreiheit über Eigentum setzt die Respektierung von Eigentum voraus, aber
auch die soziale Bindung des Eigentums. Die Gewerbe- und Berufsfreiheit kommt ohne Maximen wie Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit
bei wirtschaftlichen Aktivitäten ebenso wenig aus wie die Vertragsfreiheit ohne Vertragstreue. Schließlich lässt sich zeigen, dass das Prinzip
der Nutzenmaximierung auf der Moral der Gegenseitigkeit und langfristig auf den Verzicht von Moral-hazard-Verhalten beruht.
Es ist also verkehrt zu sagen, dass aufgrund der positiven moralischen
Wirkungen der Institutionen der Marktwirtschaft eine personale Moral
nicht mehr notwendig sei. In sozialistischen Zentralwirtschaften ist es
so, dass die hohen Moralanforderungen die Last der positiven Wirkung
allein tragen mussten. Bekanntlich reichte dies nicht aus, um die
erwünschten Ergebnisse zu erzielen. Die system-ethischen Wirkungen
geeigneter Institutionen bleiben im Vergleich zur Marktwirtschaft aus,
Planwirtschaften versagten nicht deshalb, weil die sozialistischen
Moralvoraussetzungen zu hochwertig sind (weshalb sie höchstens so
lange existieren konnten). Vielmehr ist die Maxime „Jeder arbeitet für
alle, alle sorgen für jeden“, das heißt, Selbstlosigkeit und Solidarität,
allein nicht in der Lage, ein positives Ergebnis in einem sozialistischen
Wirtschaftssystem zu erzielen. Zudem haben die sozialistischen Staaten
gezeigt, dass ihr System Substanz verbraucht, und zweifellos ist es
höchst unmoralisch, einem Volk mehr zu nehmen als zu geben.
Wir halten fest: Marketing als Spitze des „Eisbergs“ Marktwirtschaft ist
ethisch gut, auch wenn diese Wirtschaftsordnung ihre guten Wirkungen nur dann entfaltet, wenn das Verhalten der Akteure von wichtigen
ethisch-positiven Werthaltungen geprägt ist. Dabei sind zwei Aspekte
aus Sicht des Marketings von besonderem Interesse. Erstens ist zu fragen, ob der Vorzug für Konsumenteninteressen als Steuerungsinstanz,
also Konsumentensouveränität, faktisch gegeben ist. Hiermit ist der
Manipulationsvorwurf an das Marketing gemeint. Zweitens führt der
hohe Versorgungsgrad zu einem quantitativ und qualitativ immensen
sowie individualisierten Güterangebot, das in ethisch-philosophischer
Hinsicht den Vorwurf des Konsummaterialismus und des Konsumhedonismus auslöst. Beide Aspekte werden im Folgenden aufgegriffen.
1.3.3
Konsumentensouveränität oder Manipulation der Nachfrager
durch Marketing?
Oben habe ich bereits ausgeführt, dass die Steuerung aller wirtschaftlichen Prozesse durch die Nutzenerwartungen der privaten Haushalte ein
positiv zu bewertendes Merkmal der marktwirtschaftlichen Ordnung
darstellt. Dies entspricht der Idee der Basisdemokratie. Die Handlungs80
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freiheit von Nachfragern (ebenso wie die der Anbieter) ist ein ethisches
Gebot. Kritiker meinen nun, dass Nachfrager faktisch in ihren Handlungen nicht frei seien, weil Anbieter durch Marketing, insbesondere im
Rahmen der Werbung, Verbraucher manipulieren und sie dazu bewegen, zu viel zu kaufen oder Dinge, die sie nicht kaufen wollten. Diese
„psychische Gewalt“ wird nach Ansicht der Kritiker durch sozialpsychologische Beeinflussungstechniken und soziologische Verankerungen falscher ethischer Normen wie Hedonismus und Materialismus
erreicht (Angehrn 1990).
Hierzu ist zweierlei anzumerken. Erstens bedeutet das Konstrukt der
Konsumentensouveränität in der Marktwirtschaftstheorie lediglich,
dass die Produktionspläne der Anbieter durch viele Einzelentscheidungen von Nachfragern anstatt von einem „Ombudsmann für Produkte“
gesteuert werden.
Zweitens ist es zweifellos richtig, dass Marketing und Werbung als Sonderformen der Kommunikation wie jede andere Kommunikationsform darauf ausgerichtet sind, zwischenmenschlich geistige Inhalte
weiterzugeben, um sie beim Empfänger als eigene Inhalte zu verankern und daraus entsprechendes Verhalten hervorzurufen. Diese
„Fremdbestimmung“ des Verbrauchers kann aber nicht gemeint sein,
sonst wäre jede Art von Kommunikation ethisch verwerflich. Es können nur solche Kommunikationsinhalte gemeint sein, die der Empfänger aufnimmt, ohne sie bewusst zu filtern und zu akzeptieren (KroeberRiel 1984, S. 663). Vernunftgeleitete, willentliche Akzeptanz von Kommunikationsinhalten wäre vor allem dann nicht möglich, wenn durch
Emotionen der menschliche Verstand ausgeschaltet wird. Des Weiteren wird der Bewusstseinsfilter umgangen, wenn durch unterschwellige Kommunikation ebenfalls an der „Vernunftmaschine“ vorbei
Inhalte ins Innensystem des Menschen gelangen. In beiden Fällen, so
könnte man vorschnell urteilen, sind ethische Maßstäbe verletzt.
Nun zeigt die Kommunikationstheorie auf, dass es gar keine reine, das
heißt, bewusste und rationale Kommunikation gibt. Allein die Motivation dafür erfordert beim Empfänger affektive Impulse. Wenn ein Verkäufer einen Kunden freundlich anlächelt, so setzt er bei diesem nicht
nur die Motivation frei, ein Verkaufsgespräch zu beginnen, sondern er
sendet auch ganz unterschwellig die Botschaft: „Ich mag dich, ich will
mich dir zuwenden“, ohne dass der Kunde diese Botschaft kognitiv und
damit bewusst wahrnimmt. In diesem Sinne gibt es keine Konsumentensouveränität, die als Ergebnis eines rationalen Prozesses verstanden
werden kann. Faktisch gibt es jedoch Entscheidungen für oder gegen
Produkte als Ergebnis eines Prozesses, der mehr als eine rationale, unabhängige Entschlussbildung umfasst.
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Wichtig ist meines Erachtens nur, ob dem Verbraucher dabei Entscheidungsfreiheit bleibt. Diese Entscheidung findet unter Berücksichtigung
aller Elemente statt: der Wissenselemente, die dem kritischen Urteilsvermögen unterworfen sind und bewusst und kognitiv erarbeitet werden sowie der unbewussten und affektiven Wissenselemente im Kopf
der Nachfrager.
Wie kann der Mensch zu sich selbst finden (dem Grundgebot des sittlichen Handelns), wenn er auf eine Maschine reduziert wird, die nur kritische Urteile fällt? Heute lächeln wir über die Idee der Newtonschen
Weltmaschine, aber mit dem Manipulationsvorwurf entwickeln wir
implizit genau nach diesem Modell das Bild einer „Menschenmaschine,
die Informationen verarbeitet“. Der Mensch ist aber mehr als eine
Newtonsche Mechanik. Gott sei Dank, stellen Sie sich vor, wir könnten
unsere Mitmenschen nur maschinell beeinflussen. Der Manipulationsvorwurf kann sich also nicht auf die Beeinflussungstechnik beziehen,
höchstens auf die Gesinnung des Handelns und des Ziels. Mit letzterem
sind wir bei dem Problem der „falschen Bedürfnisse“, beim Konsummaterialismus.
1.3.4
Konsummaterialismus
Konsumkritik hat schon immer eine nützliche Funktion erfüllt. In den
alten Zeiten galt zu hoher Konsum als Ablenkung von religiösen Werten
mit negativen Folgen für die Erhaltung religiöser Machtstrukturen. In
der bürgerlichen Gesellschaft galt zu hoher Konsum als Verstoß gegen
standesgemäße Normen mit ebenfalls schlechten Auswirkungen auf
die Macht der ständischen oder bürgerlichen Gesellschaftsstrukturen.
Wenn heute davon gesprochen wird, dass Marketing moralisch minderwertige Antriebe des Kaufverhaltens fordert, so meint man damit im
Wesentlichen hedonistisches Genussstreben und egoistisches Raffen
von Individualgütern zu Lasten dringend benötigter Kollektivgüter, ferner geistige Verarmung, weil der Besitz von Gütern zu einem kulturellen Wert hochstilisiert wird, und schließlich das Streben nach sozialer
Anerkennung, sofern dies über Prestige und Exklusivkonsum versucht
wird (siehe auch Angehrn 1981).
Sicherlich ist das alleinige Streben nach Lust nicht die ultimo ratio. Aber
es gehört schon moralische Arroganz dazu, das Streben vieler Nachfrager nach einem quantitativ und qualitativ höheren Versorgungsgrad als
Konsumhedonismus in die moralische Ecke zu stellen. Es ist jedem freigestellt, nach dem Modell von Diogenes zu verfahren, aber selbst dieser
hatte bereits ein Fass, in dem er sich zur Ruhe betten konnte (Molitor
1989, S. 36 ff.). Vor allem sollte Konsumbeschränkung nicht von jenen
gefordert werden, deren moralische Saturation sich auf materielles
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„Ausgesorgt haben“ bezieht. Moral-Bonzen, die ihr Besser-Sein heraushängen lassen wie Geld-Bonzen ihren Reichtum sind wahrlich ethisch
unglaubwürdig.
Der Vorwurf, Marketing sorge ferner dafür, dass Produkte zu stark nach
ihrem Zusatznutzen gekauft werden und deren Grundnutzen irrelevant
oder peripher ist, verkennt die Notwendigkeiten einer sozialen Gesellschaft. Das von diesem Neopuritanismus geforderte Zurück zu reinen
Gattungsprodukten mit lediglich technisch-materiellen Eigenschaften
ist in einer Welt angebracht, in der sich der Mensch um seine physische
Existenz kümmern muss. In Zeiten, in denen die existentielle Bedrohung eher eine soziale, denn eine physische Bedrohung ist, muss das
Instrumentarium zum sozialen Überleben ausdifferenziert und reichhaltiger zur Verfügung gestellt werden. Ist die notwendige soziale Orientierung auch durch Kaufkraft erfolgt, weil dies gegenwärtig effizient
und effektiv ist, so ist das nicht moralisch verwerflich. Höchstens lässt
sich sagen, dass andere Instrumente der sozialen Orientierung versagt
haben.
Eine andere Argumentationsschiene bezieht sich auf den übermäßigen
Konsum, der durch Marketing provoziert wird. Demnach sinkt der
Grenznutzen mit zunehmender Verfügbarkeit von Gütern für die individuelle und soziale Entfaltung des Menschen, und die Grenzkosten der
Beschaffung der Güter steigen, gemessen an Stress, Gesellschafts- und
Umweltschäden. Dabei ist klar, dass kollektive Güter notwendig sind
und es Aufgabe des Staates ist, für kollektive Güter zu sorgen. Die Frage
ist, ob der Reichtum an Individualgütern die Bereitstellung von Kollektivgütern behindert. Meiner Meinung nach ist genau das Gegenteil der
Fall: Soweit die Kollektivgüter durch Steuern jener Wirtschaftsprozesse
finanziert werden, mit denen Individualgüter zur Verfügung gestellt
werden, ist der Vorwurf einer Behinderung der Wohlfahrt mit Kollektivgütern abwegig.
2
Vermarktete Ethik
2.1
Ökologisches Marketing
Unter der Überschrift „Öko-Marketing: Natur als Umsatzquelle“ stand in
einer Verkäuferfachzeitschrift kürzlich Folgendes: „In Deutschland rangieren Umweltschäden auf Platz eins der Problemliste, die die Bürger
gerne gelöst hätten. Ob Treibhauseffekt, Ozonloch oder Müllberg, die
Liste der ‚Negativszenarien‘ ist lang und weckt beim Bürger Angst und
Schrecken. Kein Wunder, dass pfiffige Marketingleute das auszunützen
wissen und mit dem Argument ‚Wir tun etwas für unsere Umwelt‘ mehr
verkaufen.“ Die hier sichtbare Denkhaltung lässt sich mit dem Satz
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zusammenfassen: „Das Verkaufsargument Ökologie blüht.“ Ist dies das
gesamte ökologische Marketing? Was bedeutet überhaupt Ökologie für
die Unternehmensführung? Laut einer Umfrage steht mit rund 90 Prozent der materialwirtschaftliche Aspekt (Beschaffung und Recycling) an
erster Stelle der Unternehmensbereiche, die unter Ökologie-Gesichtspunkten als problematisch erachtet werden, dicht gefolgt von der Produktion mit 80 Prozent. Das Marketing rangiert in dieser Untersuchung
erst auf dem achten Platz mit gut 50 Prozent.
Doch wir sollten uns von diesen Zahlen nicht täuschen lassen. Dahinter
steckt nichts weiter als ein eingeschränktes Marketing-Verständnis,
wonach unter Marketing vor allem Aspekte der Verpackung und der
Werbung zu subsumieren sind. Wir kennen jedoch den umfassenden
Anspruch des Marketings, der auch die Produktgestaltung einschließt.
So gesehen sind die vordringlichen Probleme der Entsorgung bzw. des
Recyclings sowie der umweltgerechten Produktion ebenfalls im Fokus
des Marketing-Managements.
Im Prinzip gibt es vier Umweltstrategien des Marketings:
• Nach der ersten Strategie werden ökologische Verbesserungen dann
durchgeführt, wenn daraus Kosteneinsparungen resultieren. So
haben in einer Befragung 80 Prozent der Unternehmen angegeben,
Kostensenkungen durch Materialeinsparungen realisiert zu haben.
Dahinter steckte allerdings nicht speziell eine ökologische Gesinnung.
Allein der Wert der Sachgerechtigkeit, das heißt, die kostengünstige
Produktion, trägt diese Strategie; Umweltorientierung ist nicht Richtschnur des Handelns. Werden derartige Maßnahmen in der Werbung
als Umweltorientierung dargestellt, so kann man durchaus von vermarkteter Ethik sprechen. Der Imagegewinn wird quasi als „wind fall
profit“ von Kostensenkungsmaßnahmen „mitgenommen“.
• Nach der zweiten Strategie werden ökologische Verbesserungen
durchgeführt, wenn staatliche Vorschriften dies erzwingen. Dies spiegelt zwar keine besondere ethische Gesinnung in Bezug auf Umweltschonung wider, jedoch aber zumindest die Bereitschaft, den grundlegenden Wert der Einhaltung gesetzter Ordnung zu respektieren. Da
die staatlichen Rahmenbedingungen transparenter sind als betriebsinterne Kostenfunktionen, dürfte in diesem Fall vermarktete Ethik
nicht lange durchführbar sein.
• Bei der dritten Strategie werden ökologische Verbesserungen durchgeführt, wenn damit ein neuer Nutzen generiert, beispielsweise eine
Marktnische besetzt werden kann (Kaas 1992). Das Stichwort ist hier
der sogenannte „grüne Verbraucher“. Produkte mit einem ökologischen Nutzen sind selbst dann absetzbar, wenn sie teurer sind als her-
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kömmliche Produkte. Der Grund liegt darin, dass die Nachfrager
einen höheren Nutzen bekommen. So ist der Kauf von Lebensmitteln
aus ökologischem Anbau, die gesünder und schmackhafter, aber auch
teurer sind, heute gang und gäbe. Bei solchen Individualgütern kann
jeder einzelne Nachfrager den ökologischen Nutzen direkt internalisieren.
Schwieriger ist dies bei Produkten, die umweltschonend sind, deren
Nutzen jedoch nur das Kollektivgut Umwelt betrifft, wie das im Fall
umweltgerechter Müllentsorgung oder Müllvermeidung der Fall ist.
Wer hier mitmacht, handelt scheinbar irrational, weil er nicht nur keinen Nutzen daraus zieht, sondern es sogar ermöglicht, dass andere
Nachfrager als Trittbrettfahrer umsonst das Kollektivgut konsumieren.
Wie Kaas jedoch zeigt (1992, S. 475 ff.), können Verbraucher auch hier
einen Nutzen internalisieren. Dieser bewegt sich nach der Marketingterminologie im Bereich des Zusatznutzens: Jene Verbraucher, die helfen, Müllkippen zu vermeiden, können, nutzentheoretisch gesehen,
Sozialprestige als umweltorientierte Käufer erlangen. Wir sehen hier die
Ambivalenz des Arguments, es wäre verwerflich, Nachfrager zu Kaufentscheidungen zu bringen, die von Prestigegier geprägt sind. Allerdings ist auch klar, dass in einem solchen Fall der akzeptierte Preisaufschlag geringer ausfallen könnte als im Falle eines direkten Nutzens wie
bei den Biolebensmitteln. In beiden Fällen ergibt sich jedoch für das
Marketing keine besondere ethische Dimension. Es ist ganz normales
Marketing, das höchstens marketingtechnisch einige neue Herausforderungen bereithält. Letztendlich kommt hier die Werthaltung des souveränen Konsumenten zum Tragen, welchen Preis er für welche Produkte bereit ist zu zahlen.
• Nach der vierten Strategie wird der Umweltschutzgedanke in die
Unternehmensziele derart integriert, dass der entsprechende Wert
der Umweltschonung auch trotz erhöhter Kosten, erhöhter Marktrisiken und verpasster Marktchancen durchgesetzt wird. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn ein Versandhaus Pelzmäntel, Erzeugnisse
aus Tropenhölzern oder FCKW-haltige Spraydosen aus seinem Sortiment nimmt. Dies ist die einzige Strategie, in der tatsächlich eine ethische Haltung bewiesen wird, bei der das Unternehmen in seiner
Wertehierarchie Umweltschonung über Gewinn platziert. Langfristig
betrachtet, kann aber auch in diese Strategie eine Imagewirkung mit
einfließen, wenn beispielsweise das entsprechende Unternehmen mit
einem Umweltpreis ausgezeichnet wird
Ökologisches Marketing umfasst also oft auch ethische Grundsätze. Von
den Folgen her sind diese Verhaltensweisen positiv zu beurteilen.
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Moralisierende Werbung: Der Benetton-Fall
Ein geradezu exemplarischer Fall für eine Analyse des Umgangs mit
Moral im Marketing ist die von der Benetton-Werbekampagne ausgelöste Diskussion (siehe „Benetton im Kreuzfeuer“). Benetton hat mit seiner
Anzeigenkampagne große Aufmerksamkeit erregt. In der Werbung wurden beispielsweise ein afrikanischer Guerilla-Kämpfer im sogenannten
Todesreigen mit einer Kalaschnikow und einem Menschenknochen
gezeigt, eine trauernde Verwandte, die sich in der Blutlache eines italienischen Mafia-Opfers spiegelt und der Todeskampf eines Aids-Kranken.
Die Empörung über diese Werbekampagne schwappte bis in politische
Nachrichtenmagazine. Um die Diskussion um die Werbekampagne
nachvollziehen zu können, betrachten wir zunächst die Moralvorstellungen des Verantwortlichen dieser Kampagne, Oliviero Toscani.
In Interviews äußerte er, dass die erste Aufgabe von Benetton sei, Pullover zu verkaufen, und dass sein Traum als Werber darin besteht, einmal für klassische Produkt-Werbung kein Geld mehr ausgeben zu müssen. Die Erhöhung der Markenbekanntheit als Werbeziel ist ihm sicherlich mit relativ geringen Mitteln gelungen. Für ihn ist seine Arbeit ein
Rütteln an Tabus der gegenwärtigen Gesellschaft, die ihre gesellschaftliche Funktion heute verloren haben und die nur noch für Machtausübung heuchlerisch missbraucht würden. Er nimmt also für sich den
Wert der Aufklärung in Anspruch, um das zu bekämpfen, was Gesellschaften seit Machiavelli kennzeichnet: Moral ist gut für die Untertanen,
die herrschenden Moralsetzer kommen wunderbar ohne Moral aus.
Nach eigenem Bekunden gibt es für Toscani nur wenige persönliche
Werte, darunter die Verachtung von Geschmacklosigkeit, Vulgarität und
Lüge. Als Berufsethos fühlt er sich zudem der Wahrhaftigkeit verpflichtet. Bei seiner Arbeit lässt er sich nicht von den Maßregelungen
der Selbstkontrollorgane der Werbewirtschaft (Werberat) und der Selbstverpflichtung vieler Werber zur Einhaltung gängiger, gesellschaftlicher
Normen beeindrucken. Damit zeigt er, dass er die Werte, die für das
Funktionieren der Marktwirtschaft notwendig sind, wie Akzeptanz von
Ordnung und Selbstverpflichtung, nicht respektiert. In seiner Wertehierarchie stehen Sachgerechtigkeit, Aufklärung, Ästhetik und Wahrhaftigkeit weit oben. Das sieht zunächst moralisch aus.
Was sagen jedoch Toscanis Kollegen zu dieser Kampagne? Sie verweisen
auf ein breites Spektrum expliziter und impliziter Moralvorstellungen.
Zunächst wird hervorgehoben, dass Benettons Werbestrategie schon
immer darin bestand, gegen Vorurteile anzugehen und Tabus zu brechen. Ferner wird immer wieder Bezug auf den sogenannten Werterelativismus genommen, wonach einzelne Gruppen in einer Gesellschaft
unterschiedliche Wertehierarchien haben. Von daher ist die Frage, was
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moralisch und unmoralisch ist, unterschiedlich zu beantworten, und
die Einstellung, der Markt werde es richten, wenn die Werbung nicht die
Moral der Umworbenen berücksichtigt, soll trösten. Hierin spiegelt sich
das moralische Argument der Sachgerechtigkeit wider, und schließlich
findet sich noch ein Bezug zur Unterscheidung zwischen Gesinnungsund Wirkungsethik. Die Auseinandersetzung mit den Themen Aids oder
Krieg kann so schlecht nicht sein, auch wenn die Gesinnung hinter
Benettons Kommunikation zu verdammen wäre.
Am meisten bewegt jedoch die Branche die Frage, ob Werbung denselben ethischen Anspruch erheben darf wie der Journalismus. Es wird darauf verwiesen, dass Journalisten die gleichen Bilder, die auch Werber
verwenden, als Nachrichten bringen und diese dann nicht nur mehrere
Tausend Euro wert sind, sondern sogar internationale Preise bekommen. Die Werbebranche ist daher empört über die moralische Kritik an
der Benetton-Werbung in den Medien und stellt den vermeintlich höheren ethischen Anspruch des Journalismus in Frage, der sich daraus ergeben soll, dass es dort nicht um den Verkauf einer Ware geht. Dabei sei
das Gegenteil der Fall, denn auch Medien verkaufen sich an die Leser
und Anzeigenkunden. Zudem wisse jedermann, mit welchen unmoralischen Mitteln in den Medien oft gearbeitet werde, um die Auflage zu
erhöhen.
Selbstverständlich wird das eigene Tun nicht moralisch, indem wir auf
das unmoralisches Tun der Kritiker verweisen. Ist Toscani also ein verdeckter Fahnder der Unmoral? Bei der Beantwortung dieser Frage ist entscheidend, ob Menschen aufgerüttelt werden, das Elend zu bekämpfen,
oder ob die Werbeaktion nur zum Wohle von Benetton geschieht.
Ferner meine ich, dass die Sensationslust und die archaischen Triebe
von Menschen nicht beliebig als Instrument der Erheischung von Aufmerksamkeit benutzt werden dürfen. Ein Kollege Toscanis beschreibt
das mit böser Ironie, indem er die Kurzstories von zukünftigen Werbekampagnen zum Besten gibt: „Für einen Pet-food-Hersteller bringen wir
demnächst ganz große Emotionen ’rüber. Tiere in Großstädten, angetrocknet am Asphalt, überfahren vom 38-Tonner.“ Oder: „Schon gedreht
ist der Film für eine große Zigarettenmarke. Story: Ein Fixer injiziert
sich Coca Cola und drückt im Rausch die Zigarette, wunderschön fotografiert, im Auge seiner Freundin aus.“ Oder: „Schreiende Begeisterungsstürme löste bei einem großen Autokonzern unsere Selbstmörderkampagne aus. Wirklich unique kollabierte das Gremium. Man dreht
gerade auf den weißen Klippen von Dover.“ Oder: „Die Anzeigenstrecke
für den Verbund der Stromproduzenten haben wir auch schon im
Kasten. Fotografiert von Helmut Newton, die schönsten Models der Welt
und der elektrische Stuhl“ (alle Zitate aus o. V., Benetton im Kreuzfeuer).
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Wen schaudert es bei dieser satirischen Vision nicht? Ist das jetzt unmoralisch von mir? Ist das in meiner Kommunikation eine Anwendung des
Mottos „Der Zweck heiligt die Mittel“? Will ich durch das Zitieren dieser schrecklichen Bilder meine Leser zu einer Werthaltung bringen, die
mir genehm ist? Habe ich jetzt gehandelt wie Oliviero Toscani? War das
Manipulation? Schön, wenn Leser jetzt schon damit begonnen haben,
über diese Fragen nachzudenken.
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Literatur
Angehrn, Otto: Marketing und Ethik, in: Jahrbuch der Absatz- und Verbrauchsforschung
1 (1981). S. 3–25.
Göbel, Elisabeth: Wirtschaftsethik. Die verschiedenen Ansätze und der zwischen ihnen
bestehende Zusammenhang, in: WiSt, 6 (1992), S. 285–290.
Hansen, Ursula: Marketing und soziale Verantwortung, in: DBW 48 (1988), 6, S. 711–721.
Kaas, Klaus-Peter: Marketing für umweltfreundliche Produkte. Ein Ausweg aus den Dilemmata der Umweltpolitik?, in: DBW 52 (1992), 4, S. 473–487.
Koslowski, Peter: Ethik des Kapitalismus, 3. durchgesehene Auflage, Tübingen 1986.
Kroeber-Riel, Werner: Konsumentenverhalten, München 1984.
Molitor, Bruno: Wirtschaftsethik, München 1989.
ohne Verfasser: Benetton im Kreuzfeuer, in: Werben und Verkaufen, 12 und 13 (1992).
Raffée, Hans/Wiedmann, Klaus-Peter: Wertewandel und Gesellschaftsorientiertes Marketing – Die Bewährungsprobe strategischer Unternehmensführung, in: Strategisches Marketing, hg. von Raffée, Hans/Wiedmann, Klaus-Peter, Stuttgart 1989, S. 552–611.
Roellecke, Gerd: Wirtschaft und Moral. Warum Manager nicht über Gewinne reden können, Manuskript eines Referats vom 1. Dezember 1990, Universität Mannheim.
Silberer, Günter: Wertewandel und Marketing, in: WiSt 3 (1985), S. 119–124.
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Was Unternehmen wandelfähig macht –
Wertegeleitete Führungskultur als Modell
der Zukunft
Konrad Stadler und Jürgen Schott
Für Menschen und Organisationen ist es heute – bildlich gesprochen –
die größte Herausforderung, in kurvigem und unübersichtlichem
Gelände immer schneller unterwegs zu sein, ohne Leitplanken und
ohne eine Landkarte zur Hand zu haben. Diese Situation hat etwas Aufregendes und kann dazu anspornen, neue Wege auszuprobieren. Doch
nehmen damit auch Ungewissheit und Unsicherheit zu.
Um ein Unternehmen wandelfähig zu machen und den wirtschaftlichen Erfolg auch bei zunehmender Komplexität zu sichern, müssen
Führungskräfte einen angstfreien Raum schaffen. Angst führt zu Verengung und Panik und verhindert, was notwendig zum Überleben ist:
Einfallsreichtum, Beweglichkeit, Weitsicht und Gelassenheit. Vor allem
aber brauchen Mitarbeiter eine Erklärung, warum sie sich überhaupt
verändern sollen.
Wer nur die Geschäftsprozesse optimiert und immer neue Organisationsmodelle entwirft, erreicht nicht die Köpfe seiner Mitarbeiter. Veränderungen haben nur dann eine Chance, wenn alte Denkmuster hinterfragt werden und das Unternehmen auf einem tragfähigen kulturellen
Gerüst aufbaut.
Die Grundpfeiler einer Organisation sind gemeinsame Werte. Nimmt
man den englischen Begriff „value“, der sich von lateinisch „valere“
(= gesund sein) ableitet, wird klar, wofür Werte stehen: Sie sind ein Indikator für die gesundheitliche Verfassung eines Unternehmens. Werte
werden zu Maßstäben für die Fitness und Veränderungsfähigkeit des
Unternehmens.
Eine Wertekultur erkennt man daran, wie sehr ein Team, ein Unternehmen bereit ist, sich selbst in Frage zu stellen und sich intern abzustimmen.
Wertekulturen stehen nie still. Mit Werten zu führen heißt, eine Organisation so zu gestalten, dass Menschen darin mutig und beweglich sind,
dass sie persönlich weiterkommen und gemeinsam neue Ideen entwickeln. Dies setzt voraus, dass auch die Führungskraft selbst ihre Wertvorstellungen überprüft. Welches sind nun die wesentlichen Merkmale
einer Unternehmensführung, die sich von Werten leiten lässt?
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Bodenhaftung und Selbsttreue
Die zunehmende Instabilität in unserem Umfeld ruft in uns das Gefühl
hervor, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Je geringer äußere Festschreibungen sind, umso mehr sind die Menschen und Organisationen
aufgefordert, einen Halt in sich selbst zu finden.
Wenn Führungskräfte diesen Weg der Selbstvergewisserung gehen, ist
das Maß ihrer Entscheidungen und ihres Handelns ein ausgeprägtes
Bewusstsein über eigene Wertvorstellungen. Wer sich selbst und seine
Vorstellungen gut kennt, der nutzt seine persönliche Einschätzung als
Kompass, um Zahlen, Daten und Fakten zu ordnen und zu einem
Gesamtbild zusammenzufügen. Gewissheit entsteht aus einem inneren
Prozess, wenn man mit beiden Beinen auf dem Boden steht.
Manager sind oftmals Getriebene. Die Versuchung, perfekt zu sein und
ihren Vorgänger noch zu übertreffen, lässt sie schnell die Bodenhaftung
verlieren. Sie lassen sich zu etwas machen, was sie gar nicht sind. Nutzen sie aber ihr Wertesystem als inneren Anker, bleiben sie bei sich und
können anderen so begegnen, wie sie wirklich sind.
Sich seiner eigenen Unvollkommenheit zu stellen, ist der Anfang
menschlicher Reife. Häufig ist zu hören: Schwäche könne man sich in
gehobenen Positionen nicht leisten. Das stimmt nur dann, wenn die Souveränität fehlt. Selbstsichere Menschen haben weniger Probleme, über
eigene Schwachstellen zu sprechen, weil sie wissen, dass Menschen aufeinander angewiesen sind. Einer muss längst nicht alles können. Reife
Menschen halten ihre eigenen Standpunkte nicht für absolut und können sich dadurch in andere hineinversetzen. Sie wissen, dass es meist
mehrere Lösungen gibt und es sich nicht lohnt, sich auf etwas zu versteifen.
Bodenhaftung hat noch eine weitere Bedeutung: den Bezug zu den Ressourcen, den Bodenschätzen eines Unternehmens. Wenn Führungskräfte den Kontakt zu den Mitarbeitern verlieren, dann wird Unternehmensführung zu einer abstrakten, abgehobenen Aktion, die sich verselbständigt und leicht in die falsche Richtung führt. Der wesentliche
Wettbewerbsvorteil eines Unternehmens liegt in seiner Originalität:
Unternehmen setzen sich von anderen ab, indem sie ihre Grundideen,
ihre ureigene Kultur verfolgen. Die Schätze freizulegen kann nur funktionieren, wenn der ganze Mensch und damit seine Selbstbestimmung
anerkannt werden. Eine Kultur, in der gemeinsame Werte als Maßstab
für das Handeln dienen, zeigt sich in der respektvollen und offenen
Begegnung zwischen den Menschen.
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Aufmerksamkeit und Achtsamkeit
Achtsamkeit ist die Grundlage für die Verständigung untereinander
und für den Abgleich mit der Umwelt. Achtsamkeit setzt eine hohe Präsenz und ein gewisses Maß an Entspanntheit voraus. Gestresste Menschen tun sich schwer, etwas wahrzunehmen und sich dem anderen
zuzuwenden. Umgekehrt vertraut sich niemand einem hektischen und
nervösen Kollegen an. Ergebnisse von in Zeitnot entstandenen Maßnahmen sind Schnellschüsse, kurzatmige und schablonenhafte
Lösungsmuster.
Eine wesentliche Quelle der Erkenntnis ist das genaue Wahrnehmen,
wie es sich in einer intensiven Beobachtung und im aufmerksamen
Zuhören zeigt. Wenn Führungskräfte sich für die Menschen in ihrer
Umgebung interessieren, wenn sie ihre Mitarbeiter und Kunden genau
beachten und spüren, was diese bewegt, dann dringen sie in ein gigantisches Reservoir an Wissen, Informationen, Einschätzungen und Bewertungen vor. Kein noch so ausgetüfteltes IT-Instrument kann eine derartig große Menge an Zwischentönen, Hinweisen, Hoffnungen und Fragen
in einer Weise verarbeiten, wie es den Menschen selbst in unmittelbaren Begegnungen und Reflexionen möglich ist.
Mit Aufmerksamkeit und Achtsamkeit ist auch ein sensibler Umgang
mit den unterschiedlichen Werten und Haltungen des anderen gemeint.
In der 1.500 Jahre alten Klosterregel Benedikts von Nursia wird im Prozess des Hörens und des Annehmens der entscheidende Erfolgsfaktor
für eine vielgestaltige Gemeinschaft gesehen. Wenn Hören und Annehmen in ein gemeinsames Tun münden, werden Teams erst effektiv.
Sinnstiftung und Orientierung
Der Mensch sieht über sich selbst hinaus und sucht Antworten auf die
Frage, woher er kommt und wohin er geht. Wenn Menschen ein Sinnganzes für sich erkennen, können sie ihr Leben entwickeln und haben
Kraft, ihre Ziele zu verfolgen. Ohne Sinn geht dem Menschen das Leben
verloren, er versinkt in Mutlosigkeit.
Leitsätze und Visionen sind heute schnell formuliert, doch hängen diese
häufig in der Luft, weil es an Überzeugungskraft und Durchdringung
mangelt. Fragte man die Mitarbeiter, worauf es in ihrem Unternehmen
wirklich ankomme, käme in vielen Fällen heraus: „Profit machen“.
Darin besteht zweifellos ein Daseinszweck von Unternehmen. Und doch
stiftet dieses Ziel nur begrenzt Sinn. Sinn erfährt der Mensch dann,
wenn er sich für etwas einsetzt, was für ihn als Mensch wertvoll ist und
womit er sich identifizieren kann; ein hochwertiges Produkt zum Bei-
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spiel oder eine Dienstleistung, die anderen nutzt, die ihnen das Leben
erleichtert oder verschönert.
Der Führungskraft kommt hier die Aufgabe zu, einen Sinnraum zu
schaffen, in dem die Ziele des Einzelnen, des Teams und des gesamten
Unternehmens miteinander in Einklang sind. Ein Sinnraum ist jedoch
keine sozialromantische Idee, sondern schafft die Voraussetzung für
Leistung und Erfolg. In einem Unternehmen muss es Spannungen und
innere Widersprüche geben, sonst wird es nicht weit kommen. Harmoniesucht und Werteorientierung schließen sich gegenseitig aus.
Eine echte Vorwärtsbewegung entsteht sicher nicht in einer uninspirierten und gleichgültigen Umgebung. Führungskräfte müssen ambitionierte Ziele setzen und einen Bogen von der Gegenwart in die
Zukunft spannen. Die Mitarbeiter wollen sich eine Vorstellung davon
machen, wie die Organisation nach den Veränderungen aussehen soll.
Egal welch harte Entscheidungen auf dem Weg dorthin getroffen werden müssen – wenn die Beweggründe dafür nachvollziehbar sind, kann
sie auch jeder besser akzeptieren.
Wenn Führungskräfte sich in Situationen hineindenken, die auf das
Unternehmen zukommen, müssen sie sich darüber bewusst sein, welche Risiken bestehen und was sie den Mitarbeitern, Kunden und Geldgebern schulden. Es häufen sich die Beispiele, in denen die Zukunft von
Unternehmen durch riskante Geschäfte leichtfertig verspielt wird. Dann
steht Unternehmertum ausschließlich für Kühnheit und Wagnis, aber
nicht für einen verantwortungsvollen Blick auf das Ganze.
Erkunden die Führungskräfte neues Land, müssen sie auch darauf achten, dass die anderen stets angebunden sind. Die Mission darf kein
Alleingang werden, sonst baut sich in der Mannschaft eine Gegenmacht
auf, und die Menschen schauen sich anderweitig um. Viele Führungskräfte haben damit Schwierigkeiten, dass Mitarbeiter mit unterschiedlicher Geschwindigkeit laufen. Denjenigen, die etwas verändern möchten, geht alles viel zu langsam. Wenn sie am Lenkrad sitzen und auf das
Gaspedal treten, übersehen sie leicht, dass andere gedanklich noch
nicht einmal eingestiegen sind.
Sicher, einige Mitarbeiter halten mit dem Veränderer Schritt – entweder,
weil sie geübt sind, Situationen vorwegzunehmen, oder weil sie seit längerem in den Veränderungsprozess einbezogen sind. Andere kommen
jedoch nicht mehr mit. In diese Mitarbeiter können sich viele Manager
nicht hineinversetzen. Sie geben ihnen gar keine Chance, ihren Platz im
System zu finden. Erfolgreiche Veränderer dagegen stellen sich auf ihre
Mitarbeiter ein, nehmen sich Zeit, um auf sie einzugehen, und passen
ihre eigene Geschwindigkeit an.
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Integration
Inmitten der Massengesellschaft, so schrieb der französische Philosoph
Gabriel Marcel im 20. Jahrhundert, entdecken wir die Person. „Personsein“ heißt, unverwechselbar zu sein, ausgestattet mit einzigartigen
Begabungen wie Intelligenz, Kreativität und Tatendrang. Wer sich mit
den Schätzen der Person befasst, der kommt nur weiter, wenn er die Einzigartigkeit des Menschen erkennt und dessen unterschiedliche Fähigkeiten und Talente fördert. Denn Wissen, Ideen, Lösungen sind das
„Gold“ der nachindustriellen Wirtschaftsform.
Damit die Vielfalt an Denk- und Handlungsansätzen nicht zum Gewirr
wird, müssen Manager Linien aufzeigen. Eine bloß moderierende und
koordinierende Führungsfunktion reicht nicht aus. Ohne beherzte
Führungskräfte, die entschlossen eine Richtung vorgeben, können Komplexität und Wandel zu Erstarrung führen. Je stärker sich die Wissensgebiete differenzieren, desto wichtiger wird die Integrationskompetenz
in den Unternehmen.
Immer mehr Organisationen lösen sich von starren Jobabgrenzungen
und finden durch Rochaden und Veränderung Einzelner zu einem optimalen Einsatz der Mitarbeiter. Für Führungskräfte gilt es, den richtigen
Platz für Mitarbeiter in einem Team zu finden, ihre Individualität wertzuschätzen und zu erkennen, welche Talente sich optimal ergänzen.
Vertrauen und Dienen
Wie verarbeiten Organisationen steigende Ansprüche und komplexe
Problemstellungen? Welche Mechanismen greifen, wenn sich vertraute
Gegebenheiten in kurzer Zeit verändern?
Für den Systemtheoretiker Niklas Luhmann ist Vertrauen das beste Mittel, Komplexität zu reduzieren. Vertraue ich jemandem, spare ich Kontrollaufwand und kann mich auf produktive Tätigkeiten konzentrieren.
Vertrauen verringert Transaktionskosten. Wenn ich spüre, dass ein Kollege mir vertraut, spornt mich das an; ich fühle mich ermutigt, aber
auch verpflichtet, meine Aufgabe besonders gut zu machen.
Vertrauen darf jedoch nicht absolut gesetzt werden. „Blindes Vertrauen“
kann auch missbraucht und zum Schaden des Unternehmens ausgenutzt werden. Deshalb hängt eine Vertrauenskultur vom rechten Maß
ab, wenn sie belastbar sein soll.
Ist das ein Widerspruch in sich? Definiert sich Vertrauen nicht durch
das Loslassen trotz Vorbehalten und Bedenken? Diese idealistische Vorstellung bringt nicht weiter. Den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen,
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geht schief, weil sich dann der Einzelne verliert. Unternehmen müssen
Schritt für Schritt durch gemeinsame Erfahrungen eine Vertrauensbasis aufbauen. Ebenso wenig, wie eine Kultur des Vertrauens den kritischen Blick ausschließt, wächst Vertrauen nur in einer harmonischen
Atmosphäre. Ganz im Gegenteil finden Mitarbeiter mehr Halt, wenn der
Chef Klartext spricht. Sie wissen dann, was gilt – auch wenn das nicht
immer angenehm ist.
Wenn Vertrauen von irreführenden romantischen Zuschreibungen
befreit ist, öffnet sich die Sicht auf einen dynamischen Prozess: Der erste
und beste Schritt, um in Beziehungen und Gruppen Vertrauen zu schaffen, ist, selbst Vertrauen zu investieren, also etwas zu geben, ohne etwas
bekommen zu haben. Lässt sich jeder von diesem Prinzip leiten, wird die
Vertrauenskultur geschützt und gefördert.
Auf dem Boden des Vertrauens erwächst die höchste Form einer Kultur:
das gegenseitige Dienen. Das Dienen unterliegt einer ähnlichen menschlichen Grenzsituation wie das Vertrauen. Wenn ich diene, kann ich ausgenutzt werden. Doch nichts birgt ein größeres Erfolgspotential als der
gegenseitige Dienst unter Menschen. Wenn jedes Teammitglied weiß,
wie es den anderen die Bälle zuspielen kann, ist eine Mannschaft zu
Höchstleistungen und zu ständiger Wandlung fähig.
Eine gute Übung besteht darin, dass jede Führungskraft und jeder Mitarbeiter einmal formuliert, wie sie konkret dem Unternehmen und speziell dem Kunden dienen möchten und woran man erkennt, dass dieser
Dienst hilfreich gewesen ist. In einer ernstgemeinten Kultur des Dienens
stimmt das Gleichgewicht aus Geben und Nehmen. Je mehr Mitglieder
einer Gruppe gewillt sind, den Anfang zu machen, und Mut zum Dienen beweisen, umso eher entwickelt sich eine Wachstumsdynamik.
Führungskräfte haben die Aufgabe, eine Kultur des Dienens zu initiieren, indem sie selbst mit gutem Beispiel vorangehen und die unverzichtbare Leistung eines jeden bewusst machen.
Resümee
Wie können Unternehmen bei steigenden Ansprüchen sich selbst treu
bleiben und die Balance halten? Wie ist eine Unternehmenskultur
gestaltet, die Veränderung nicht als äußeren Druck empfindet, sondern
einen inneren Antrieb dazu spürt? Welche Kompetenzen brauchen
Führungskräfte, um eine Mannschaft bei der Expedition in eine schwer
berechenbare Zukunft zusammenzuschweißen und auszurichten?
Nur wenn wir den Menschen als Person in den Blick nehmen und Organisationen als einen Sinnraum erkennen, finden wir einen Ansatz-
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punkt, der den Menschen und ihren Potentialen gerecht wird. Für die
Entfaltung des Menschen und damit die Entfaltung von Organisationen
gibt es fünf Grundbedingungen:
• einen guten und geerdeten Stand,
• eine achtsame Verbundenheit zu Mensch und Welt,
• die Beantwortung von Sinnfragen,
• das Eingebundensein in ein soziales Gefüge,
• ein Klima des Vertrauens, das im gegenseitigen Dienen zur höchsten
Form einer Kultur führt.
Stabilität und Wandel sind keine Gegensätze. Veränderung von innen
her ist nur möglich, wenn sich Menschen und Organisationen nicht verlieren, sondern sie selbst bleiben. Sind die Konstanten für die Entfaltung
der Person und einer guten Kooperation gegeben, folgt unaufhaltsam
geistiges Wachstum. Die geistigen Güter aber wie Wissen, ständiger Austausch und Beweglichkeit sind die entscheidenden ökonomischen Faktoren der Zukunft.
Literatur
Luhmann, Niklas: Vertrauen, Stuttgart 2000.
Marcel, Gabriel: The Existential Background of Human Dignity, Cambridge 1962.
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Der „Geist der Freiheit“ und das „Bürgergeld“
Bedingungsloses Grundeinkommen –
Ein Weg aus Arbeitslosigkeit und Bevormundung?
Götz W. Werner
Aktuelle Situation
Wovon frühere Generationen in unserem Land nur träumen konnten,
ist Wirklichkeit geworden: Nie zuvor wurde die breite Bevölkerung so
gut mit Gütern und Dienstleistungen versorgt wie heute. Wir produzieren insgesamt – wenn auch nicht alle daran ausreichend teilhaben –
mehr, als wir verbrauchen können: Wir leben also in paradiesischen
Zuständen.
Was diese Zustände für viele Menschen jedoch alles andere als paradiesisch macht, ist die einhergehende steigende Arbeitslosigkeit. Diese wiederum ist jedoch das Ergebnis der Optimierungen, die zu einer immer
besseren Versorgung der Menschen geführt hat. Durch diese Optimierung ist der Arbeitsaufwand immer geringer geworden, denn der Erfolg
unserer Marktwirtschaft beruht darauf, dass wir Maschinen und Methoden entwickelt und geschaffen haben, die uns den Teil der Arbeit, der
automatisierbar ist, zunehmend abnehmen. Die derzeitig bestehende
Arbeitslosigkeit resultiert also im Grunde aus einem großen Erfolg.
Allerdings hat in unserer Gesellschaft ein zunehmender Teil der Menschen dadurch immer weniger zum Leben, und es ist zu befürchten, dass
sich dies in naher Zukunft noch verschärft. Es drängt sich die Frage auf,
ob das angesichts der hohen Produktivität nötig ist. Liegt der Engpass
in unserer Leistungsfähigkeit oder in unseren veralteten Verfahren der
Einkommenszumessung?
Hat die Ideologie „Arbeit für alle“ ausgedient?
Die traditionelle bezahlte Erwerbstätigkeit verliert für den Lebensunterhalt der Menschen an Bedeutung. Laut Statistischem Bundesamt
gaben im April 2006 nur 39 Prozent der Befragten auf die Frage nach der
wichtigsten Unterhaltsquelle die eigene Berufstätigkeit an. 15 von 82
Millionen Menschen leben in Deutschland derzeit aus anderen Quellen:
von Erbschaften, Sozial- und Arbeitslosenhilfe, Schwarzarbeit oder
Zuwendungen Dritter.
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In der Politik gilt die Schaffung von Arbeitsplätzen zum Erreichen der
„Vollbeschäftigung“ durch Wirtschaftswachstum weiterhin als oberstes
Ziel. Die Probleme können jedoch nicht mit denselben Methoden gelöst
werden, die diese Probleme verursacht haben. Es kann außerdem – so
paradox das klingt – nicht die Aufgabe der Wirtschaft sein, Arbeitsplätze
zu „schaffen“.
An diesem Punkt wird deutlich, dass nur ein radikales Umdenken bei
gleichzeitiger Überwindung herkömmlicher Denkmuster aus der Sackgasse führen kann. Das Gewordene muss hinterfragt und neue Erkenntnisse müssen in die bestehenden Prozesse integriert werden. Aus dieser
Einsicht resultiert die Forderung nach einem „bedingungslosen Grundeinkommen“.
Arbeit und Einkommen müssen voneinander
getrennt werden
Im herkömmlichen, rein erwerbswirtschaftlichen Arbeitsbegriff sind
Arbeit und Einkommen scheinbar notwendig miteinander verknüpft:
„Wer essen will, muss arbeiten“. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch
um eine überholte gesellschaftliche Konvention aus den Zeiten der
Selbstversorgung. Tatsächlich sind unsere Arbeit und unser Einkommen
heute bereits fast vollständig voneinander abgekoppelt: Anders als in der
Selbstversorgung lebt niemand mehr von dem, was er mit seiner Hände
Arbeit produziert. Wir müssen den Zusammenhang heute also neu fassen: Das eine ist unser Einkommen, das benötigt wird, um unsere
Bedürfnisse durch Konsum befriedigen zu können, das andere ist unsere
Arbeit, durch die wir uns in die Gesellschaft einbringen, um Leistungen
für andere zu erzeugen. Wirtschaften ist durch die moderne Arbeitsteilung zu einem Füreinander-Leisten geworden.
Die Voraussetzung für einen solchen neuen Denkansatz ist ein
grundsätzlicher Bewusstseinswandel, der die neuen Verhältnisse in
unserer Gesellschaft berücksichtigt. Ein solches Umdenken hat Rudolf
Steiner schon 1906 als notwendig erachtet. Er bezeichnete dies als ein
soziales Hauptgesetz:
Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist
umso größer, je weniger der Einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen
für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen an
seine Mitarbeiter1 abgibt, und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht
aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen anderer befriedigt
werden. Worauf es also ankommt, ist, dass für die Mitmenschen arbeiten und ein gewisses Einkommen erzielen zwei voneinander ganz
getrennte Dinge sind.
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Ein bedingungsloses Grundeinkommen – was ist das?
Das bedingungslose Grundeinkommen ist ein Betrag, der an jeden Bürger vom Staat ausbezahlt wird, ohne dass von ihm eine Gegenleistung
erwartet wird. Das bedingungslose Grundeinkommen ist somit eine
Grundsicherung, um Menschen ihre Würde zu erhalten.
Jeder Bürger – ob Kind, Student, Erwerbstätiger, Arbeitsloser oder Rentner – bekommt einen Betrag, der gegebenenfalls von seinem Alter
abhängen kann. Dieses Grundeinkommen muss vom Einzelnen nicht
gerechtfertigt und begründet werden, es muss keine Bedürftigkeit nachgewiesen und auch keine Sozialarbeit dafür geleistet werden. Diskriminierende und verwaltungsaufwendige Prozeduren der Anspruchsprüfung entfallen. Das Grundeinkommen steht jedem zu und sichert ihm
ein ausreichendes Einkommen für seine materielle Existenz und kulturelle Entwicklung. Es ist kein erweitertes Sozialgeld, sondern entstammt
einer anderen Haltung, dem unbefangenen Blick auf die Priorität: Freiheit und Würde jedes Menschen.
Freiraum für individuelle Initiative oder
„soziale Hängematte“?
Die Vorstellung, dass der Mensch von Natur aus faul ist und dass er,
wenn ihn die Existenzangst nicht zur Arbeit zwingt, seine Zeit vor dem
Fernseher verbringt oder sich ein „schönes Leben“ auf Mallorca macht,
ist weitverbreitet. Interessanterweise trauen viele dies zwar ihren Mitmenschen zu, weisen solch ein Leben für sich selbst aber weit von sich.
Tatsächlich ist die Situation heute auch ohne Grundeinkommen nicht
weit davon entfernt: Ein Fünftel aller Arbeitnehmer lebt innerlich bereits
gekündigt, nur ein gutes Zehntel identifiziert sich laut Statistik mit seiner Arbeit voll. Viele tun ihre Arbeit ausschließlich, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren und nicht, weil sie den eigenen Fähigkeiten und
Neigungen entspricht. Depressionen, Burn-Out-Syndrom, Existenzängste,
Angst vor Krankheit und vor dem Rentenalter sind häufige Folgen.
Ist die wirtschaftliche Lebensgrundlage dagegen durch ein Grundeinkommen gesichert, entfällt die existentielle Abhängigkeit von Lohn und
Gehalt. Dennoch wäre nicht damit zu rechnen, dass die Menschen bei
Einführung eines Grundeinkommens in Höhe von 600 Euro ihre Arbeit
niederlegen, da die Menschen auch heute nicht zu arbeiten aufhören,
sobald sie 600 Euro verdient haben. Warum nicht? Weil sie mehr erreichen wollen als das Existenzminimum. Dies würde sich auch mit einem
Grundeinkommen nicht ändern. Die meisten Menschen wollen arbeiten, wie auch wissenschaftliche Studien bestätigen.
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Grundeinkommen ermöglicht selbstbestimmte Leistung
Mit einem Grundeinkommen kann der Mensch eine Arbeit verrichten,
die er für sinnvoll hält. Schwere Arbeit muss dann besser bezahlt oder
automatisiert werden, schlechte Arbeitsverhältnisse und fragwürdige
Produkte würden lohnintensiver. Das Grundeinkommen ermöglicht
eine freie Entscheidung zur Wertschöpfung und fördert damit den Wettbewerb.
Arbeit wird zu einer freiwillig – gleichwohl durchaus gegen Entgelt –
erbrachten Leistung gemäß dem persönlichen Potential und in einem
Umfang und Zeitrahmen, den der Arbeitende als sinnvoll empfindet.
Arbeitsverträge würden flexibel gestaltet werden und Unternehmen
müssten sich anstrengen, attraktive Arbeitsplätze anzubieten. Die Menschen wären motiviert, weil sie das machen könnten, was sie für sinnvoll hielten.
Auch können die Menschen leichter Zeit für Studium und Weiterbildung nutzen. Sie wären auch viel eher bereit, eine Familie zu gründen,
wenn Kinder kein Armutsrisiko mehr sind. Das wiederum hat positive
Auswirkungen auf die demografische Entwicklung. Auch ein SabbatJahr, „kreative Lebensphasen“ und Muße werden durch ein Grundeinkommen ermöglicht. Unternehmerische Initiative kann sich auf dieser
Grundlage leichter entwickeln. Die Angst vor dem Scheitern und der
daraus entstehenden existentiellen Not, die heute das größte Hemmnis
für die Selbständigkeit ist, wäre gebannt.
Das bedingungslose Grundeinkommen würde zudem jungen Menschen
Ausbildung und Studium ohne finanzielle Abhängigkeit von den Eltern
ermöglichen, es sichert ein Einkommen im Alter und vereinfacht zum
Beispiel auch die Bildung und Auflösung von Lebenspartnerschaften.
All das würde das soziale Klima entspannen.
Es handelt sich beim Grundeinkommen nicht um eine Bereicherung
ohne Leistung, vielmehr soll gerade wirkliche Leistung ermöglicht werden. Arbeitslosigkeit im heutigen Sinne entsteht nur durch die Gleichsetzung von Arbeit mit Erwerbsarbeit. Selbstbestimmte, nicht erwerbsorientierte Arbeit gibt es hingegen so viel, wie es Menschen gibt. Diese
Arbeit stiftet Kultur, auf deren Grundlage wirtschaftlich erwerbsorientiertes Arbeiten überhaupt erst möglich wird.
Freiheitliche Gesellschaftsordnung statt sozialstaatlicher
Gängelung
An der Frage eines bedingungslosen Grundeinkommens wird sich erweisen, ob ein Staatswesen ein obrigkeitsstaatliches Selbstverständnis hat
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oder ob es ihm ernst mit der geforderten Freiheit und Selbstverantwortung der Bürger ist, die durch ein funktionierendes Wirtschaftsleben
möglich sind. Die derzeit diskutierten Alternativen scheinen allerdings
darauf hinauszulaufen, den Bürger bei zunehmend produktiver Wirtschaft immer mehr an ein sozialstaatliches Gängelband zu legen,
anstatt ihm durch ein Grundeinkommen bürgergesellschaftliche Freiheit zuzugestehen, also eine freiheitliche Gesellschaftsordnung Realität
werden zu lassen.
Freiheit bedeutet immer auch, Zeit, Lebenszeit, selbst gestalten zu können. Nimmt die volkswirtschaftlich abhängige und weisungsgebundene
Beschäftigung ab, bedeutet das, dass die Menschen auch mehr Zeit für
selbstbestimmte Tätigkeit haben. Um mit Rousseau zu sprechen: „Die
Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will,
sondern darin, dass er nicht tun muss, was er nicht will.“
Arbeit für Menschen wird wieder bezahlbar
Wenn die Menschen sich also sinnvolle Arbeitsplätze suchen können
und gleichzeitig eine erste finanzielle Basis haben, entsteht ein großes
Potential für dann leichter bezahlbare Arbeit für Menschen, beispielsweise in der Pflege und Betreuung sowie im Gesundheitswesen, im
Bereich der Kultur und Bildung. Ein Blick in unsere Altenheime, Kindergärten oder Krankenhäuser zeigt, dass genügend zu tun ist. Nur
erscheinen in unserem System Sozialarbeiter, Pfleger und Erzieher
nicht mehr ausreichend dafür bezahlbar. Zudem produziert die gegenwärtige Arbeitslosigkeit zusätzlich Probleme wie Krankheit, Hoffnungslosigkeit, Kriminalität und auch Manipulierbarkeit. Damit wird
für die davon betroffenen Menschen weitere intensive Zuwendung und
Hilfe nötig. Diese Art von „Kulturarbeit“ ist aber nicht automatisierbar.
Sie als individuelle Leistung weiterzuentwickeln ist eine vorrangige Aufgabe des Gemeinwesens, und dies umso mehr, als automatisierbare
Arbeit von Robotern und Computern abgenommen wird. Ist eine Tätigkeit, die auch automatisiert werden kann, würdig, von Menschen ausgeführt zu werden?
Wie ist ein Grundeinkommen finanzierbar?
Wird ein Grundeinkommen über eine Konsumsteuer finanziert und
dadurch die Arbeit entlastet, so werden personennahe Dienstleistungen
wieder erschwinglich. Um ein Grundeinkommen in der vorgestellten
Form für alle Bürger zu finanzieren, gibt es zwei Wege, die auch gemeinsam realisiert werden können.
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Bei dem ersten Weg werden die heutigen Sozialleistungen zu einem
Grundeinkommen zusammengefasst. Alle heutigen Sozialleistungen
ergeben eine Summe von mehr als 720 Milliarden Euro. Differenzbeträge – etwa durch den Vertrauensschutz und Bestandswahrung von
Rentenansprüchen – sind durch eine Konsumsteuer finanzierbar. Schon
heute werden jährlich durch die als sozial bezeichneten Transfersysteme über 7.500 Euro pro Bürger verteilt (Hohenleitner und Straubhaar
2007), und zwar in Form von Zuschüssen an Rentenkassen, Kinder- und
Wohngeld, Arbeitslosengeld, BAföG etc. Durch heute gewährte Steuerfreibeträge kommen schätzungsweise weitere 200 Milliarden Euro
hinzu (Hardorp 2007). Damit erhalten schon heute alle Bürger ein Existenzminimum.
Ein weiterer Weg besteht in einer Weiterentwicklung des Steuerwesens.
Schon heute sind alle Steuern Teil der Wertschöpfung und damit in den
Preisen für Güter und Dienstleistungen enthalten. Eine schrittweise
Umsteuerung zur Konsumsteuer (Mehrwertsteuer) bei gleichzeitiger
Reduzierung und schließlich Abschaffung aller übrigen Steuern würde
das Steuersystem transparent machen. Unsere heutigen Steuererhebungsformen der Einkommens- und Ertragsbesteuerung gehen auf eine
Zeit zurück, in der ein Großteil der Menschen sich noch mit Naturalien
selbst versorgte. In einer solchen Gesellschaft und Wirtschaft ist der
Staat darauf angewiesen, dort Steuern zu erheben, wo die Einkommen
entstehen. Heute jedoch, da unser Wirtschaftsleben zu einem Füreinander-Leisten geworden ist und der Einzelne nicht mehr das konsumiert, was er selbst produziert, ist dieses System nicht mehr zeitgemäß.
Als Konsumenten sind wir daran interessiert, dass derjenige, der Leistung für uns erbringt, dies möglichst ungestört tun kann. So entwickelt
sich unser Steuersystem richtigerweise auch immer mehr zu einer
Besteuerung des Konsums (Erhöhung der Mehrwertsteuer). Schon heute
ist die Mehrwertsteuer der größte Einzelposten der staatlichen Steuereinnahmen. Mit welcher Begründung kann den Bürgern ein Steuerfreibetrag für die Mehrwertsteuer damit noch vorenthalten werden?
Die Umstrukturierung des Steuerwesens zu einem konsumbasierten
Steuersystem wirft die Frage auf, wo in der Mehrwertsteuer der Steuerfreibetrag liegt? Um zu sichern, dass bei zunehmender Konsumbesteuerung der Einzelne seinen Mindestbedarf steuerfrei konsumieren
kann, ist eine Auszahlung des Geldbetrages vorzunehmen, der in diesem
Mindestkonsum als Konsumsteuer enthalten ist.
Es wird nicht mehr die erbrachte Leistung besteuert, sondern deren Konsum. Wer viel konsumiert, viel Leistung anderer für sich in Anspruch
nimmt, trägt durch seine Steuern dann auch besonders viel zur Finanzierung des Gemeinwesens bei. Das ist im Steuerlichen der äußere Aus102
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druck des Übergangs von der Selbstversorgungs- zur Fremdversorgungswirtschaft.
Bei einer ausschließlichen Konsumbesteuerung stellen viele Menschen
die Frage nach der Gerechtigkeit. Wer sich finanziell viel leisten kann,
wird zwar mehr konsumieren, aber für seinen persönlichen Konsum im
Verhältnis zu seinem Einkommen einen geringeren Prozentsatz ausgeben müssen als einer, der weniger wohlhabend ist. Trotzdem trägt er mit
seinem höheren Konsum auch eine höhere Steuerlast. Der Saldo aus
Konsumsteuerbetrag und Grundeinkommen ist somit in der Regel für
wohlhabende Haushalte mit hohen Konsumausgaben negativ – sie tragen mehr zur Konsumsteuer bei, als sie über das Grundeinkommen
erhalten –, einkommensschwache Haushalte zählen hingegen zu den
Nettoempfängern. Bei ihnen ergibt sich aus geringer Konsumsteuerzahlung und Grundeinkommen ein positiver Saldo.
Es wird deutlich, dass die für die Zahlung eines Grundeinkommens
erforderlichen Geldströme bereits heute weitgehend fließen. Lediglich
die Buchungsposition ändert sich, wenn sie künftig nicht mehr als Sozialleistung oder anteiliger Lohn, sondern als Grundeinkommen gezahlt
werden. Dadurch können im gleichen Zeitraum die bisherigen Einkommensbezüge – Löhne, Gehälter, Sozial- und Transferzahlungen – um
den Betrag des Grundeinkommens (pro Person) gesenkt werden. Langfristig können alle Steuern außer der Konsum- oder Mehrwertsteuer entfallen.
Wirtschaftliche Auswirkungen eines Grundeinkommens
Die Einführung eines Grundeinkommens hat vor allem drei Entwicklungen zur Folge:
• Die Lohnkosten sinken, die sich die Unternehmen in der Arbeitsteilung und Fremdversorgung stets von ihren Kunden bezahlen lassen.
Es würden – tendenziell im gleichen Umfang – auch die im Export entscheidenden Nettopreise (ohne Mehrwertsteuer) sinken.
• Dies führt bei steigender Konsumbesteuerung zu etwa konstanten
Endverbraucherpreisen. Da die gesunkenen Löhne und Gehälter für
die Menschen durch ein Grundeinkommen ausgeglichen werden,
bleibt das Nettoeinkommen in seiner Gesamthöhe erhalten. Der persönliche Freiraum des Einzelnen wird sich ausweiten, da die Entkoppelung von Arbeit nicht nur realwirtschaftlich, sondern auch nominell und damit bewusst vollzogen wird.
• Die Öffentliche Hand wird entlastet. Der Staat kann die bereits heute
bestehenden Transferzahlungen an Bürger – in Form von Renten, Pen103
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sionen, Kindergeld oder Entlohnung seiner Angestellten, Politiker
und Beamten – in die durch das Grundeinkommen erhöhte „Staatsquote“ (Steuern und Sozialabgaben) einbeziehen, was die aufzubringende Gesamtlast nicht erhöhen, die Verwaltungskosten aber entscheidend verringern würde.
Der „Marsch in die Konsumsteuer“ ist also nichts, wovor wir uns ängstigen müssten, sondern lediglich eine Konsequenz der hervorragenden,
von Arbeitsteilung und wachsenden Einkommensübertragungen begleiteten wirtschaftlichen Entwicklung unserer Gesellschaft. Es handelt
sich um einen aufkommensneutral zu gestaltenden Umbau der Steuererhebung. Auch die Unternehmenssteuern können in diesem Zuge
gesenkt und am Ende abgeschafft werden. Auch heute sind sie in den
Preisen enthalten.
Welche Auswirkungen hat ein in dieser Weise gestaltetes Grundeinkommen auf den Unternehmenssektor? Deutschland würde durch die
Umstrukturierung des Steuerwesens eine Steuer- und Investitionsoase.
Sinkende Nettopreise verbessern die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Sinkende Lohnkosten verhindern die weitere Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland.
Heute exportieren wir unsere Sozialkosten über die Preise, was unsere
Unternehmen benachteiligt und sie zwingt, Arbeitsplätze ins Ausland
zu verlagern. Das bedeutet, dass auch unterentwickelte Länder unser
Sozialsystem mitfinanzieren, was unter Globalisierungsgesichtspunkten als ungerecht anzusehen ist.
Niedrige Lohnstückkosten würden den Standort Deutschland dagegen
wieder attraktiver machen. Zugleich würde die mit niedrigen Steuern
und Sozialkosten kalkulierende Konkurrenz aus Billiglohnländern, in
denen weniger Infrastruktur, Sozialleistungen, Kultur und Umweltschutz mitfinanziert werden müssen, gerecht belastet, und zwar durch
unsere dann höhere Mehrwertsteuer. Das würde die Nachfrage nach
inländischen Produkten erhöhen.
Arbeitsmarktregulierungen im Tarifrecht und beim Kündigungsschutz
werden überflüssig, natürlich können sich Arbeitnehmer auch in
Zukunft gewerkschaftlich organisieren. Eine flexible Arbeitsplatzgestaltung auf der Basis von Individualvereinbarungen wird möglich. Der
riesige Apparat der Steuerbehörde könnte sich auf die Kontrolle der Konsumsteuer konzentrieren und damit effizienter werden, da die Konsumsteuer wesentlich leichter zu kontrollieren ist. Wirtschaftsprüfer
und Steuerberater – Unternehmen zahlen die Steuer weiterhin buchhalterisch und „sammeln“ die Mehrwertsteuer gewissermaßen für die
Gemeinschaft ein – könnten sich ihren eigentlichen Aufgaben widmen:
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der Beratung von Unternehmen bei ihrer Zukunftsplanung und bei der
Optimierung von Geschäftsfeldern. Schwarzarbeit gibt es nicht mehr,
da es keine Einkommensteuer mehr gibt.
Die Zukunftsangst der Menschen und Vorsorge- und Sparnotwendigkeit
verringern sich. Viele Menschen meinen heute noch, sie müssten „heute
in die Scheune einfahren, um dann in 30 Jahren davon zu leben“. Dieses Prinzip stammt aus der Selbstversorgung. In der Fremdversorgung
leben wir dagegen im Alter nicht von unserem Geld, sondern ausschließlich von den Gütern und Dienstleistungen, die andere, jüngere
Menschen für uns erbringen. Die beste Altersvorsorge heute wäre demnach die Befähigung der jungen Menschen. Auf Basis eines Grundeinkommens kann der Zugang zu Bildung vereinfacht werden. Tausende
Institute würden gerne Forschungsarbeiten in Auftrag geben, hunderttausende Menschen gerne studieren oder promovieren. Sie kommen
heute nicht zusammen, weil den Instituten das Geld zur Bezahlung und
den Menschen das Geld für den Lebensunterhalt fehlt. Durch ein Grundeinkommen kämen beide zusammen.
Gibt es Alternativen zum Grundeinkommen?
Was sind Alternativen zum Grundeinkommen? Wollen wir zu den Zeiten geringer Produktivität zurückkehren? So abwegig dies erscheinen
mag, die Forderung nach Niedriglohnjobs, nach Annahme von zumutbarer Arbeit – wobei hier die Frage zugelassen sei: zumutbar für wen? –,
und die Schaffung eines Niedriglohnsektors schlagen genau das vor.
Ebenso stellt die Forderung, Unternehmen sollten „mit stumpferem
Bleistift“ rechnen, eine Erhöhung des Beschäftigungsgrades auf Kosten
der Produktivität dar. Wer würde angesichts der Absurdität mancher
Arbeitsplatzbeschaffungsmaßnahmen, bei denen selbst sinnlose Tätigkeiten als Vorbereitung auf „richtige Arbeit“ gerechtfertigt werden,
noch an der Gängelung der Bürger und dem gleichzeitigen Rückfall in
niedrigere Produktivität zweifeln? Hier kann die Zukunft nicht liegen.
Die Zukunft der Demokratie setzt auf freie Bürger. Ein Gemeinwesen
und ein Staatswesen, denen es mit dieser Freiheit ernst ist und für die
Freiheit nicht nur das Abgeben von Verantwortung und Lasten an den
Bürger ist, können die Augen vor den Möglichkeiten eines bedingungslosen Grundeinkommens nicht verschließen, erst recht nicht in einem
Wirtschaftsleben, das so stark Zeit mit Geld verknüpft wie das unsrige.
Gerade heute sind die Chancen für diese Freiheit aufgrund unserer
hohen Produktivität größer denn je. Ergreifen wir sie?
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Fußnoten
1 Der Begriff „Mitarbeiter“ bezeichnet in diesem Kontext nicht den Mitarbeiter im
betrieblichen, sondern im Sinne eines Mitglieds einer miteinander arbeitenden
Gemeinschaft.
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Über Ursache und Wirkung unternehmerischen
Erfolgs
Frank Merkel
Die Weltwirtschaft befindet sich in einem desaströsen Zustand. Ausgelöst von einer Finanzkatastrophe mit Beginn in den USA, leidet die
gesamte Realwirtschaft unter bisher nicht vorstellbaren Einbrüchen.
Politiker, Unternehmer und Wirtschaftsweise sind ratlos und überbieten sich im Ausmalen von Horrorszenarien. Verzweifelt suchen sie nach
Lösungen, die Krise zu überwinden.
Fast alle Unternehmen versuchen, ihre Kosten zu reduzieren, die Staaten pumpen unterdessen Milliarden Euro in die Märkte, um das
Schlimmste zu verhindern. Volks- und Finanzwirtschaftler suchen nach
einem neuen Formelgerüst, während die Vorstände börsennotierter
Unternehmen primär den nächsten Quartalsbericht im Blick haben.
Kaum jemand wagt noch das Wort „Strategie“ in den Mund zu nehmen
– verspricht diese doch erst auf längere Sicht Ergebnisse. Und da die
Unternehmen derzeit „auf Sicht fahren“ und nichts riskieren wollen,
haben sie keine Geduld, keinen Blick für längerfristige Planungen.
Kann es sein, dass in den vergangenen Jahren der Wirtschaftsgeschichte
das Prinzip von Ursache und Wirkung aus den Fugen geraten ist? Wäre
es möglich, dass man ausnahmsweise nicht aus endlosen Powerpoint-Präsentationen und Computersimulationen Erkenntnisse gewinnt, sondern
aus der Beschäftigung mit den Gedanken großer Philosophen wie Platon,
Kant oder Schopenhauer? Was wäre, wenn man entdeckt, dass die aktuell herrschenden Paradigmen in vielen Vorstandsetagen ungefähr so
zutreffend sind wie die Erkenntnis, dass die Erde eine Scheibe ist?
Im Guten wie im Schlechten: Geist und Geld bedingen sich
Beginnen wir bei der Ursache des ganzen Dilemmas, der Finanzkrise. Sie
resultiert aus der Vergabe von Krediten, die ohne Berücksichtigung der
Kreditwürdigkeit unters Volk gejubelt wurden, gepaart mit dem Konzept, dass aus Schrott, geschickt verpackt, etwas Wertvolles wird. Hinzu
kam die Vorstellung, dass dies dauerhaft gutgehe und niemand etwas
merke. Man könnte Schopenhauer zustimmen, der die Auffassung ver-
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trat, dass der ganzen Welt ein höchst unvernünftiges Prinzip zugrunde
liegt. Für ihn war die Welt ein Jammertal. Derzeit bemüht sie sich, ihm
in seiner pessimistischen Einschätzung recht zu geben.
Eine bestimmte Geisteshaltung verursachte also, dass das zunächst
gewonnene Geld wieder zerronnen ist – eine Bestätigung für fehlgeleiteten Materialismus und pervertierten ontologischen Idealismus, nach
dem eine Idee das Urmodell von Handlungen und Dingen ist. Niemand
kann allen Ernstes eine Welt, die auf einer solchen Geisteshaltung
beruht, als Zukunftsmodell befürworten. Für alle Pessimisten dieser
Erde mag der pathologische Zustand der Finanzbranche als empirischer
Beweis für das Schlechte im Wirtschaftsleben dienen. Das ist allerdings
aus meiner Sicht eine zu enge Betrachtungsweise.
Die Grundlagen für Prosperität, die allen nützen, sind etwas anderes:
Kreativität, die nach Problemlösungen sucht – und sie findet, ein Geist,
der Menschen begeistert und zu Höchstleistungen motiviert, Ideen, die
zu greifbaren Ergebnissen führen und alle Beteiligten stolz machen.
Antoine de Saint-Exupéry hat in einem Aphorismus die Kraft eines motivierenden Geistes beschworen, indem er sagte, dass es für den Bau eines
Schiffes wichtiger sei, die Sehnsucht der Männer nach dem Meer zu
wecken, als sie zum Holzsammeln anzutreiben. Lange bevor auch nur
die erste Naht an Apollo 11 verschweißt wurde, begeisterte John F.
Kennedy seine Nation mit dem Gedanken, dass ein Amerikaner der erste
Mensch auf dem Mond sein wird.
Letztendlich basiert die Erfolgsgeschichte des breiten Wohlstands unserer Gesellschaft auf Gedanken, Ideen und Phantasie – eingebettet in
unternehmerische Verantwortung. Hieraus entstanden und entstehen
konkrete Produkte und Dienstleistungen. Als Belohnung für die gelungene Realisierung gab und gibt es Geld, für besonders Gelungenes sogar
viel Geld. Auf diese Art konnten Reichtum erzeugt und Wohlstand auf
eine breite Basis gestellt werden.
Platon stellte diesen Ansatz von Ideen als Urmodell für alles Sichtbare
vor rund 2.400 Jahren auf. Zahlreiche Philosophen folgten ihm und setzten seine Gedanken fort. Insofern haben jeglicher Erfindergeist und alle
Innovationen Vordenker mit höchster Reputation. Geist und Geld bedingen sich demnach durchaus – im Guten wie im Schlechten.
Gelebte, werteorientierte Unternehmenskultur als
Grundlage für nachhaltigen Erfolg
Einen Weg in Richtung des Guten schlägt Kant – der Begründer des deutschen Idealismus – mit seinem kategorischen Imperativ vor. Er ist als
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Leitidee für die Führung eines Unternehmens und den Umgang mit den
dort arbeitenden Menschen sinnvoll. Glaubwürdigkeit entsteht durch
Vorleben, und eben diese Glaubwürdigkeit ist geistige Grundlage für ein
intaktes Unternehmen.
Seit einigen Jahrzehnten sind in vielen Unternehmen Leitbilder, Guiding Principles und Identity-Maps angesagt, erarbeitet in Arbeitsrunden, mal top-down, mal bottom-up, mal sowohl als auch. Gegen diese
Konzepte der Orientierung ist grundsätzlich nichts einzuwenden, vorausgesetzt, sie spiegeln den Geist wider, der im Unternehmen tatsächlich herrscht – und zwar in guten wie in schlechten Zeiten. Leider sieht
die Realität oftmals anders aus: Hochtrabend eingeführt, feierlich aufgehängt, vom Management ignoriert, karikieren diese Konzepte einen
Geist, der Gutes will, aber Böses schafft. Auch die Mitarbeiter zweifeln
an der Ernsthaftigkeit der Konzepte, wenn den Worten keine Taten folgen, und verweigern sich diesen großartig angekündigten Programmen.
Was bedeuten diese Überlegungen für die aktuelle Wirtschaftssituation, und inwieweit können sich hieraus Lösungen für die Zukunft ergeben?
Zunächst: Geist und Geld haben viel miteinander gemein, und Unternehmenskultur, die Werte, Ideale und Prinzipien umfasst, ist eine
wesentliche Grundlage für nachhaltigen Erfolg.
Das bestätigt auch die Vielzahl empirischer Studien, in denen die Erwartungshaltung von Arbeitnehmern gegenüber ihren Arbeitgebern
erforscht wurde. Die darin aufgezeigten Bindungskräfte wie Betriebsklima, Unternehmenskultur und Entfaltungsmöglichkeiten wiegen
tatsächlich mehr als monetäre Aspekte. Glauben wir zudem all den harten Zahlen, die belegen, dass in der demografischen Entwicklung eine
Herausforderung steckt und der Mangel an Fach- und Führungskräften
immer größere Realität wird. Akzeptieren wir weiterhin, dass der wichtigste Rohstoff Deutschlands die Menschen und deren Ideen sind.
Betrachten wir all das als gegeben, dann stehen viele Unternehmen
gerade vor einem riesigen Zukunftsproblem. Controller, Einkäufer,
Finanzfachleute sind ohne Frage nützlich und sinnvoll für Unternehmen, sie sind aber zumeist nicht die Quelle für den Geist, der in einem
Unternehmen innovative Lösungen hervorbringt. Mit Zahlen werden
nur begrenzt Phantasie und Kreativität angeregt.
Wenn die obigen Annahmen nicht falsch sind, lohnt sich ein kräftiges
Nachdenken. Zum Beispiel darüber, dass Geist und Ideen die Voraussetzung für Prosperität sind. Menschlichkeit fördert den Erfolg, hängt
doch letztendlich in einer Wissens- und Leistungsgesellschaft die Schaffenskraft des Einzelnen in hohem Maß von seiner Befindlichkeit ab.
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Die angloamerikanische Finanzszene hat eine Welt vorgegaukelt, die
endlose Wertschöpfung ohne echte Leistung ermöglicht. In ihr waren
nicht nur unendliche Raffgier und kriminelle Energie die Treiber, sondern auch Naivität. Es ist geradezu grotesk, wie viele Menschen offenbar dem ganzen Zauber vertrauten und das Mantra von der „rational
choice“ herunterleierten, einem Glaubensbekenntnis, das genauso
Unfug ist wie der homo oeconomicus.
Nichts wird sich in dem Gedankengut der von Quartalsberichten getriebenen Unternehmenswelt zum Positiven entwickeln. Die Hybris der vergangenen 20 Jahre muss ein Ende finden, und wir müssen zu den uralten Gedanken unserer zivilisierten Welt zurückkehren und strikt den
heutigen Stand des Wirtschaftsweltbildes ablehnen.
Die Notwenigkeit einer Ausbildungs-Renaissance
Die geistige Enge der heutigen Ausbildung ist kontraproduktiv für eine
Zeit, in der nur das Denken in Zusammenhängen und Abhängigkeiten
Lösungen schafft, die über den Tageshorizont hinausgehen. Mit Recht
wird mehr und mehr eine „T“-Ausbildung gefordert: Tiefe in der eigenen
Fachdisziplin, aber Breite im Erkennen der Interdependenzen.
Die fortschrittlichen Universitäten entdecken den Geist der „Universitas“ neu und suchen den Brückenschlag zwischen den Fakultäten, um
wieder offenere, weitere Horizonte bei ihren Absolventen zu entwickeln.
Sicher geschieht das eine oder andere noch zögerlich aufgrund des
gewachsenen Misstrauens. Wer aber den Reiz des Interdisziplinären, des
Voneinander-Lernens entdeckt, wird daraus reife Früchte ernten können.
Das zeigt unter anderem auch das Beispiel der Universität Mannheim.
Am 100-jährigen Jubiläum, das unter dem Motto: „Wirtschaftsethik und
Wirtschaftswirklichkeit“ stand, engagierten sich alle Fakultäten mit Vorträgen, Ringvorlesungen und wissenschaftlichen Arbeiten. Die Ausbildung zum „Bakuwi“ (Bachelor Kultur und Wirtschaft) gilt als begehrtes
Erfolgsmodell. Und es existiert ein breites Angebot an Kunst und Kultur
sowie die Förderung von den Horizont erweiternden Kooperationen wie
dem Nationaltheater oder der Kunsthalle, das zeigt, wie gut sich Geist
und Geld verbinden lassen. Die „Renaissance des Barockschlosses“ ist vor
diesem Hintergrund mehr als ein sichtbares Renovierungsprojekt alter
Mauern, es ist auch ein Bekenntnis zu neuem Denken und Forschen.
Nicht umsonst hat man sich in der Zeit der Renaissance, nach der Phase
des „dunklen“ Mittelalters, nach den griechischen Idealen gesehnt, hat
Merkantilismus und schöne Künste zusammengebracht, hat Wissen-
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schaft, Gesellschaft und Kunst ganzheitlich betrachtet. 500 Jahre nach
der ursprünglichen Blüte täte es gut, neu denken zu dürfen, um einen
neuen Geist in Unternehmen, Politik und Gesellschaft einziehen zu lassen. „Yes we can“ steht nicht nur als Wahlkampfparole, sondern als Glaubensbekenntnis einer Welt, die sich zu einer humanen Wirtschaft
bekennt, in der Fairness, Glaubwürdigkeit und Vertrauen zu Basiswerten zählen und ohne die materieller Erfolg nicht möglich sein wird.
Letztendlich sollten – bei aller rationalen Aufgeklärtheit – Fragen der
Transzendenz nicht außer Acht gelassen werden. Gerade das Christentum hat in seiner Mitmenschlichkeit viel Tiefe zu bieten, die es immer
wieder zu entdecken lohnt.
Der „Wind des Wandels weht“: Von der der Ich-AG zum „Wir“
Es gibt erste Anzeichen für ein Umdenken in der Welt : Wenn der größte
Autogigant der Welt vor der Pleite steht, weil er konsequent gesellschaftliche Veränderungen ignoriert hat, wenn Unternehmer, die sich
unmenschlich gegenüber ihren Mitarbeitern verhalten, am öffentlichen
Pranger stehen und der Vorstand trotz wirtschaftlichen Erfolgs mit
Schimpf und Schande in die Wüste geschickt wird, wenn Konzernen via
sozialen Netzwerken, Social Communities und Twitter das Fehlverhalten um die Ohren geschlagen wird, ist offenbar nichts mehr so, wie es
einst war.
Die „Generation Golf“ der 80er Jahre war seicht und harmlos. Die Spaßgesellschaft der 90er hedonistisch und selbstverliebt. Die Menschen des
21. Jahrhunderts erleben seit dem Terroranschlag des 11. September, dass
Schluss mit lustig ist. Ein Umdenken hat begonnen, das aber noch nicht
zwangsläufig zu einer großen Bewegung geworden ist. Der gesellschaftliche Frieden ist noch gewahrt, weil das soziale Netz ihn trägt. Die Aufmüpfigkeit hat Grenzen, weil viele derzeit um ihren Arbeitsplatz bangen.
Trendforscher registrieren aber bereits Vorboten einer Veränderung:
Statt der puren „Ich-AG“ sind wieder mehr Ansätze zum „Wir“ erkennbar. Menschliche Beziehungen werden als neuer Reichtum betrachtet.
Leistungsbereitschaft im Beruf ist da, aber nur in Einklang mit der eigenen Familie. Work-Life-Balance zählt mehr als die nächst höhere PSKlasse. Mehr und mehr richtet sich der Blick auf das Wesentliche. Wirtschaft ist o.k., aber der Staat darf kein Nachtwächter sein. Selbst, wenn
es sich im Moment noch mehr um Potentiale handelt als um breite Realität – diese Entwicklung macht Hoffnung auf ein ausgewogenes Miteinander von Geistigem und Materiellem.
„Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Mauern, die anderen Windmühlen.“ Nach diesem chinesischen Sprichwort haben wir
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spannende Entwicklungen vor uns. Die einen klammern sich an die Zeiten von gestern und versuchen, kritische Kommentare der Mitarbeiter
durch E-Mail-Durchsuchungen zu verhindern, die anderen öffnen den
direkten Zugang zum CEO und stellen sich, wo immer möglich, den kritischen Fragen von Mitarbeitern und anderen Stakeholdern.
In der Welt der Globalisierung entwickeln sich jenseits des Denkens in
alten Machtstrukturen und Feindbildern neue Kooperationen. Als Antwort auf das Quasi-Monopolangebot einer Microsoft-Software entstand
LINUX als Open-Source-Software, geschaffen von einer Vielzahl freier
Entwickler, die Big Brother Bill Gates eins auswischen wollten. Der
Erfolg von Wikipedia war das Aus für den gedruckten Brockhaus. Tausende Autoren schaffen ehrenamtlich weltweit die größte Enzyklopädie
des Wissens.
Zahlreiche Beispiele stehen für einen neuen Geist, der nicht nur Konfrontation und Profitdenken kennt, sondern Innovation und Entwicklung von Ideen als kooperative Angelegenheit. Gemeinsinn bekommt
einen neuen Stellenwert.
Die Arbeitgebermarke der Zukunft:„Geist“-voll und
authentisch
Unternehmen befinden sich derzeit in einer Glaubwürdigkeitskrise.
Das Finanzdesaster und Wirtschaftsskandale haben weite Kreise gezogen und Wirtschaft per se in Misskredit gebracht. Auch wenn immer
wieder argumentiert wird, dass es sich um wenige schwarze Schafe handelt – das Misstrauen sitzt tief. Hans Domizlaff hat 1937 eine Marke als
„die Schaffung des öffentlichen Vertrauens“ bezeichnet. Viel Vertrauen
wurde in einer Diskrepanz zwischen inszeniertem Marketingimage und
erlebter Realität zerstört. Die Fassade bröckelt, und immer kritischer
werden Versprochenes und Realisiertes miteinander verglichen.
Es existiert eine neue Sehnsucht nach Unverfälschtem und Authentizität. Dies gilt nicht nur für die Warenwelt, sondern mehr und mehr für
alle Bereiche des Lebens. Die Methoden der Arbeitgeber, die ihren Mitarbeitern in der Rekrutierungsphase etwas vorgaukeln, ähneln dem,
was den Matrosen in Zeiten unchristlicher Seefahrt passierte, wenn sie
für Seelenverkäufer angeheuert wurden.
Die Arbeitgebermarke der Zukunft steht für Authentizität: für Versprochenes, das gehalten wird, für Werte, die Identität schaffen, und für
einen Geist, der die Voraussetzung für hohe Produktivität ist. Der Kreis
beginnt sich zu schließen: Fach- und Führungskräfte werden rar. Der
Geist, die Werte, die im Unternehmen herrschen, bestimmen die Anzie-
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hungs- und Bindungskraft für die Besten und damit auch die Wettbewerbsfähigkeit in einer auch weiterhin globalen Welt. Die geistigen
Grundlagen sind gleichzeitig die Voraussetzung für Kreativität, Ideen
und Problemlösungen. Ohne sie wird es keine Marktattraktivität und
keinen Erfolg geben.
Die Menschen werden sensibler und können sich leise wehren. Sie brauchen nicht mehr auf die Straße zu gehen, um ihren Unmut zu äußern,
sondern sie setzen sich an ihren PC oder ihr Smart-Phone. Der Protest
der Zukunft kommt elektronisch, ob vom Konsumenten oder vom Mitarbeiter – mit immensen Schäden für betroffene Unternehmen.
Es lohnt sich, neu zu denken. Es lohnt sich, die Kausalitäten eines Platon ernst zu nehmen. Es lohnt sich, den kategorischen Imperativ zu
beachten. Es lohnt sich auch, aus unternehmerischem Egoismus Humanist zu sein. Und es lohnt sich, Werte zu schaffen, die die heutigen überdauern.
Zwischen Geist und Geld:
Der Paradigmenwechsel als Herausforderung
Misst man eine Zeit daran, was sie an Bleibendem und Erhellendem für
die Nachwelt hinterlassen hat, dürfte die heutige zu den finstersten der
Menschheitsgeschichte gehören. Niemand wird in 500 Jahren Eintritt
bezahlen, um unsere Bausünden zu besichtigen. Wenige Museen werden in 100 Jahren ausstellen, was auf einer Dokumenta als Zeugnis des
Zeitgeistes präsentiert wird. Nur wenige Bücher unserer Zeit dürften in
200 Jahren noch Leser finden. Mit dem, was wir täglich auf dem PC produzieren, sollten wir lieber keine nachfolgende Generation belästigen.
Kurzum: Die heutige Zeit steht für gigantische Waren- und Finanzströme mit dem Ziel, Geld zu verdienen. Erinnerungen an König Midas
kommen dabei auf, wobei dieser wohl noch rechtzeitig klug wurde. Vertrauen wir also nicht nur auf die Veränderung durch Einsicht, sondern
auch auf den wachsenden Leidensdruck.
Unserer Gesellschaft stehen spannende Jahre bevor. Dabei ist unwichtig,
wann alte quantitative Wachstumszahlen erreicht werden – sie sind
sowieso ein Paradigma aus der Mottenkiste. Viel spannender wird werden, ob die echten globalen Herausforderungen von Überbevölkerung,
Migration, ökologischen Problemen und kulturellen Spannungsverhältnissen erkannt und mit neuem Geist angegangen werden.
Corporate Social Responsibility bleibt ein PR-Gag, solange man darunter ein wenig Kultursponsoring versteht: das neue Spielgerät für den
Nachbarkindergarten, den gestifteten Brunnen in einem Entwick113
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lungsland. Die Verantwortlichen in den Unternehmen, die künftig die
Herausforderungen stemmen müssen, sind nicht zu beneiden. In börsennotierten Aktiengesellschaften stehen sie zwischen den Zwängen
eines Kapitalmarktes mit hoher Unmusikalität. Hier beherrschen auf
der einen Seite Spekulanten die Szene, die sich nicht für langfristige
Perspektiven interessieren. Auf der anderen Seite wächst die Erkenntnis,
dass es so nicht weitergehen kann. Viele mittelständische Unternehmen
wiederum haben als größte Herausforderung einen Generationswechsel zu bewältigen, der Menschen in Führungsverantwortung bringt, die
für das, was auf sie zukommt, weder ausgebildet noch vorbereitet sind.
Optimismus angebracht
Gibt es Grund zu Schopenhauerschem Pessimismus? Ich meine: nein.
Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Brüche, der Veränderungen und der Krisen. Nicht umsonst sehen viele gerade in der
Krise immer wieder große Chancen. Nach einer Zeit, in der sich der Geist
primär auf Geld fokussierte, könnte das Pendel nun zu einem Geist
schwingen, der das Menschsein in den Mittelpunkt stellt: Zu einem
Geist, der Geld als etwas Notwendiges anerkennt, aber es nicht zum
Lebenszweck erklärt.
Der Druck der Verhältnisse dürfte als extrinsische Motivation die Einsicht fördern, dass der alte Weg wenig bringt. Für die intrinsische Motivation könnte hilfreich sein zu begreifen, dass Menschlichkeit auch
Freude bereitet und höchster Lebenssinn sein kann. In der Kultur des
Christentums bietet auch eine aufgeklärte Religiosität als Wertereservoir ungeahnte Chancen und könnte Wege aufzeigen, die bisher noch
nicht beschritten wurden. Zyniker mögen diese Gedanken ins Reich der
Utopie verweisen. Für eine Welt, die nachfolgenden Generationen noch
als lebenswert erhalten bleiben soll, lohnt es sich jedoch allemal, diese
Herausforderung anzunehmen.
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„Von den Älteren lernen, die so gern von
Ökonomie sprechen“
Theano über Geist und Geld
Kai Brodersen
„Pythagoras ist einer von diesen ehrwürdigen Namen des Altertums, die, wie die
Namen Hermes, Orpheus, Zoroaster, Confucius u. a., kaum den allerunwissendsten
gänzlich unbekannt sind; Namen, die aus den Fluten der Zeit, während sie von
einer Generation zur anderen das Gedächtnis so vieler Myriaden Menschen vom
Erdboden hinweggeschwemmt, immer in einerlei Höhe emporragen, und, gleich
jenen unzerstörbaren Pyramiden des alten Ägyptens, mit Ehrfurcht angestaunt
werden.“
Mit diesen Worten beginnt der große deutsche Schriftsteller Christoph
Martin Wieland (1733–1813) seine im Revolutionsjahr 1789 entstandene
Studie über „Die Pythagorischen Frauen“, in der er die gelehrte Welt und
insbesondere die Damen seiner Zeit mit den Briefen und Sinnsprüchen
antiker Philosophinnen bekanntmachte.1 Dass die von Wieland übersetzten Texte aus dem Altertum zur Frage nach „Geist und Geld“ in der
Vormoderne beitragen können, will dieser Aufsatz darlegen und damit
einen Beitrag zum Gespräch über Wirtschaft und Kultur leisten.
Pythagoras von Samos
Pythagoras von Samos, der im 6. Jahrhundert vor Christus – also zu
Beginn der Vormoderne – vor allem in Unteritalien wirkte, ist bis heute
einer der bekanntesten Gelehrten der Antike. Mit ihm verbindet man die
Gründung einer philosophischen Denkrichtung ebenso wie einen
mathematischen Lehrsatz, den „Satz des Pythagoras“.
Sucht man freilich nach Zeugnissen zur Person des Pythagoras, tut man
sich schwer, denn schon in der Antike rankten sich um die Person des
Denkers vielerlei Legenden.2 Bereits der große Philosoph Aristoteles
(388–324 vor Christus) etwa soll in einem verlorenen, aber durch spätere
Zitate bekannten Werk über die Pythagoreer3 von einem „goldenen
Schenkel des Pythagoras“ berichtet haben als einem Zeichen für die
übermenschliche Natur des Denkers, der an ein und demselben Tag
gleichzeitig an zwei Orten gesehen worden sein soll. Ferner habe Pythagoras eine Giftschlange durch einen Biss getötet, und als er einen Fluss
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überquerte, habe ihn dieser namentlich begrüßt. Auch in anderen Quellen erscheint Pythagoras als wirkungsmächtiger Philosoph, so bei dem
Philosophen Dikaiarchos von Messene im späten 4. Jahrhundert vor
Christus4 und, im 1. Jahrhundert nach Christus, bei dem römischen
Historiker Pompeius Trogus5: Es sei Pythagoras etwa gelungen, allein
durch seine Ansprachen die in Saus und Braus lebenden Bürger von Kroton (Crotone in Unteritalien) zu Genügsamkeit und Anstand zu bringen
– sogar die Frauen.
Auch und gerade unter Frauen soll Pythagoras bald eine Gefolgschaft
gefunden haben, und diese „Pythagorischen Frauen“ erregten bald Aufmerksamkeit. Schon der eben genannte Dikaiarchos6 erwähnte eine
Pythagoras-Schülerin namens Theano, und um 300 vor Christus verfasste der Historiker Philochoros von Athen eine Liste der „Heldinnen oder
Pythagorischen Frauen“7. Diese ist zwar verloren, doch liegt der Katalog
von „Pythagorischen Frauen“ des spätantiken Philosophen Iamblichos
(um 245 bis um 325 nach Christus) vor, der neben 218 berühmten Pythagoreern die 17 berühmtesten Pythagoreerinnen nennt.8 Diese Philosophinnen wurden in der ganzen Antike bewundert. Der Historiker
Timaios von Tauromenion (erste Hälfte des 3. Jahrhunderts vor Christus)
etwa berichtet, dass eine von ihnen, die Tochter des Pythagoras, sowohl
als Jungfrau den Chor der Jungfrauen in Kroton als auch als Ehefrau den
der Ehefrauen angeführt habe, also sowohl vor als auch nach ihrer Eheschließung die führende Persönlichkeit ihres Geschlechts in Kroton
gewesen sei.9 Ja, die „Pythagorischen Frauen“ bilden heute die größte
Zahl an Philosophinnen einer einzelnen Denkrichtung, die aus der
Antike bekannt ist.
Die prominenteste dieser Pythagoreerinnen ist Theano. Sie wird in den
antiken Quellen zum einen wiederholt als Gattin des Pythagoras
erwähnt, die mit Pythagoras mehrere Kinder gehabt und nach dem Tod
ihres Gatten dessen Nachfolger Aristaios geehelicht oder möglicherweise
auch selbst gemeinsam mit ihren Söhnen die Nachfolge ihres verstorbenen Mannes angetreten habe. Zum anderen erscheint Theano gelegentlich als Tochter des Pythagoras und Gattin des Bro(n)tinos. Zwei Frauen
namens Theano unterscheidet schließlich das im 10. Jahrhundert nach
Christus entstandene Suda-Lexikon und weist ihnen unterschiedliche
Schriften zu: Theano, der Gattin, die Werke „Hypomnemata philosopha“
(Philosophische Anmerkungen), „Apophthegmata“ (Sinnsprüche) und
ein episches Gedicht, und Theano, der Schülerin, die Werke „Über Pythagoras“, „Über die Tugend für Hippodamos von Thurioi“, „Ratschläge für
Frauen“ und wiederum „Apophthegmata“ der Pythagoreer.10
Während diese Schriften nicht überliefert sind, liegen die Texte von drei
Briefen der Theano – an Kallisto, Nikostrate und Eubule – in mehreren
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mittelalterlichen Handschriften vor; im Druck wurden sie erstmals in
einer Sammlung antiker Briefe von Aldus Manutius des Älteren
(1449/1450–1515) im Jahr 1499 publiziert.11 Aus dem Codex Vaticanus
graecus 578 edierte 1630 der deutsche Humanist Lucas Holsten (1596–
1661) vier zuvor unpublizierte Briefe, nämlich die der „sehr weisen
Theano“ zugeschriebenen, in Umfang und Stil aber deutlich andersartigen Briefe an Eurydike, Timonides, Eukleides und Rhodope.12
Die Echtheit der erstgenannten drei Briefe ist umstritten (sie entstanden
wohl in neupythagoreischen Kreisen in der römischen Kaiserzeit), die
der zweitgenannten sind zu verwerfen.13 Doch auch wenn die in der
handschriftlichen Tradition des Mittelalters gemachte Zuschreibung
der Briefe an Theano, die Gattin oder Tochter des Pythagoras, nicht zu
beweisen ist14, gehören sie zu den raren antiken Zeugnissen, die eine
direkte Auseinandersetzung von „Geist“ mit „Geld“15, also von philosophischer Reflexion über (haus-)wirtschaftliches Handeln bezeugen.16
Brief der Theano an Kallisto17
„Die Gesetze haben euch jungen Frauen zwar die Gewalt gegeben, euer
Hausgesinde zu regieren, sobald ihr heiratet: aber wie ihr regieren sollt,
überlassen sie euch von den Älteren zu lernen, die ohnehin so gern von
Ökonomie sprechen und gute Lehren geben. Es ist eine schöne Sache,
das, was man nicht weiß, zu lernen und den Alten zuzutrauen, dass sie
durch ihre Erfahrenheit am Geschicktesten sind, uns guten Rat zu
geben. Eine Person, die noch erst so kürzlich aus dem jungfräulichen
Stand in den häuslichen getreten ist, kann nicht früh genug anfangen,
ihre junge Seele mit solchen Dingen zu nähren.
Das erste, was eine Frau in ihrem Hause zu regieren hat, sind ihre Mägde;
und hierbei, meine Liebe, kommt alles darauf an, es dahin zu bringen,
dass sie dir mit gutem Willen dienen. Die Herzen unserer Sklavinnen werden nicht zugleich mit ihren Personen gekauft: jene muss eine verständige Herrschaft sich erst durch ihr Betragen zu eigen machen; und dies
geschieht, wenn man ihnen nicht mehr zumutet als recht ist, und sie so
behandelt, dass sie weder unter zu vieler Arbeit einsinken noch aus Mangel an hinreichender Nahrung unvermögend werden müssen. Denn sie
sind Menschen wie wir. Es gibt Frauen, die zu ihrem größten Schaden viel
dabei zu gewinnen glauben, wenn sie ihre Mägde recht übel halten, sie
mit Arbeit überladen, und ihnen so viel sie nur immer können an ihrem
notdürftigen Unterhalt abbrechen. Böser Wille, Untreue und heimliche
Zusammenverschwörung des Gesindes gegen das Interesse der Herrschaft sind die natürlichen Folgen davon; um etliche Dreier im Einzelnen zu ersparen, zieht man sich einen Schaden zu, der zuletzt ins Große
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läuft. Um nicht in diesen Fehler zu verfallen, meine Liebe, wirst du am
besten tun, deinen Sklavinnen etwas Gewisses und Festgesetztes, nach
Proportion der Wolle, die sie gesponnen oder verarbeitet haben, zu ihrem
täglichen Unterhalt zuzumessen, so dass sie desto besser leben können,
je fleißiger sie gewesen sind. Was aber ihre Vergehungen betrifft, so
siehe dabei hauptsächlich auf das, was dir selbst anständig ist. Strafe
deine Mägde, je nachdem sie mehr oder weniger verschuldet haben,
ohne Zorn und ohne Grausamkeit; denn was dir jener an deiner Würde
benommen hat, kann durch diese nicht wieder ersetzt werden. Wenn du
immer deiner selbst mächtig bleibst, so kannst du ihnen nur desto besser zeigen, dass du entschlossen seiest, keine Unarten noch Bosheiten an
ihnen zu dulden. Sind ihre Laster unverbesserlich, so mache lieber dass
du ihrer auf einmal los wirst und verkaufe sie; denn was soll dir die Herrschaft über ein Ding, das dir unnütz ist? In allem diesem aber nimm
immer die Vernunft zur Ratgeberin; sie wird dich nicht nur belehren, ob
wirklich gefehlt worden ist, damit du nicht einem Unschuldigen Unrecht
tust, sondern auch wie groß der Fehler sei, damit du die Strafe dem Vergehen nach proportionieren kannst. Oft ist Nachsicht und Verzeihung
die vernünftigste Maßregel, die eine Frau nehmen kann, um größeren
Schaden zu verhüten, und ihr Ansehen, worauf in den häuslichen Verhältnissen so viel ankommt, beizubehalten. Manche Frauen können so
grausam sein, ihre Sklavinnen zu geißeln, und in einem Anfall von Zorn
oder Eifersucht ihren Grimm auf eine unmenschliche Art an ihnen auszulassen, um, wie sie sagen, ein abscheuliches Exempel an den armen
Geschöpfen zu statuieren. Aber was ist der Vorteil, den sie von einem so
strengen Hausregiment haben? Die einen grämen sich über das Marterleben, so sie führen müssen, vor der Zeit zu Tode; andere suchen ihr Heil
in der Flucht; noch andere haben sogar aus Verzweiflung Hand an sich
selbst gelegt. Wenn sich dann zuletzt die Frau in ihrem Hause allein
sieht, und mit ihrem Schaden die Unklugheit ihrer häuslichen Negierung bejammert, dann kommt die Sinnesänderung zu spät. Erinnere
dich, meine junge Freundin, der Saiten auf einem Instrumente, die, zu
wenig gespannt, keinen Ton von sich geben, und, zu hoch gespannt,
springen. Gerade so verhält es sich zwischen einer Frau und ihrem
Gesinde. Durch zu viel Nachsicht verliert die Frau ihr Ansehen, und die
Mägde vergessen ihre Schuldigkeit; zu viel Strenge hingegen kann die
Natur nicht aushalten. Und so gilt auch hier der goldene Spruch: ‚Der
Mittelweg ist überall der beste‘.“
Brief der Theano an Nikostrate18
„Auch mir, liebe Freundin, ist zu Ohren gekommen, was von deinem
Manne verlautet, der, wie es heißt, die Torheit hat, sich eine Hetäre19
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zu halten: aber mir ist leid, dass ich zugleich hören muss, du seiest
schwach genug, eifersüchtig darüber zu sein. Was deinen Gemahl
betrifft, so kenne ich der Männer nur zu viele, die mit seiner Krankheit
behaftet sind. Die armen Leute lassen sich, wie dumme Vögel, durch die
Lockungen dieser Geschöpfe fangen; sie scheinen von dem Augenblick
an, da sie ins Garn eingegangen sind, alle Besinnung verloren zu haben,
und verdienen in dieser Rücksicht mehr Mitleiden als Unwillen. Du
hingegen überlässt dich Tag und Nacht einer unmäßigen Traurigkeit
und Verzweiflung und beschäftigst dich mit nichts, als wie du ihn
beunruhigen und ihm den Genuss seiner neuen Liebschaft verkümmern wollest. Das solltest du nicht tun, meine Liebe! Die Tugend einer
Ehefrau ist nicht, ihren Mann zu belauern und zu hüten, sondern sich
in ihn zu schicken; und dies tut sie, wenn sie seine Torheiten mit
Geduld erträgt. Zudem sieht er in seiner Hetäre bloß eine Person, bei
der er Vergnügen sucht, in seiner Frau hingegen eine Gattin, die einerlei Interesse mit ihm hat. Euer gemeinschaftliches Interesse aber ist,
Übel nicht mit Übeln zu häufen: und wenn er ein Tor ist, so ist dies kein
Grund, dass du darum eine Törin sein musst. Es gibt Leidenschaften,
meine Freundin, die durch Vorwürfe nur mehr gereizt, durch Schweigen und Geduld hingegen desto bälder gehoben werden: wie man zu
sagen pflegt, ein Feuer, das man ruhig brennen lasse, erlösche von sich
selbst.20 Eine Frau, die ihrem Manne, wenn er seine Untreue vor ihr zu
verbergen sucht, Vorwürfe macht, zieht die Decke weg, hinter welcher
er heimlich zu sündigen hoffte; und was gewinnt sie damit? Er sündigt
fort und lässt sie zusehen. Wenn du dir von mir raten lassen willst,
Liebe, so denke nicht, seine Zuneigung zu dir sei notwendig an die
Unsträflichkeit seiner Sitten gebunden. Betrachte die Sache in einem
anderen Lichte. Denke, dass deine Verbindung mit ihm eine Gemeinschaft für das ganze Leben ist – dass er zu seiner Hetäre nur geht, weil
er gerade nichts Klügeres zu tun weiß und sich die Langeweile bei ihr
zu vertreiben hofft – und dass er immer wieder zu dir zurückkommt,
weil er mit keiner anderen als dir zu leben wünscht. Dich liebt er, wenn
die Vernunft Herr über ihn ist, jene aus Leidenschaft; aber die Leidenschaft dauert eine kurze Zeit, man wird ihrer bald satt, und sie vergeht
ebenso schnell wieder, als sie entstanden ist. Ein Mann müsste ein ausgemachter Taugenichts sein, den eine Hetäre auf lange Zeit fesseln
könnte. Denn was ist törichter als ein Genuss, wodurch wir uns selbst
Unrecht tun? Es wird nicht lange anstehen, so wird er merken, welchen
Schaden er seinem Vermögen und guten Namen dadurch zufügt. Kein
Mensch, der seinen Verstand nicht gänzlich verloren hat, läuft mit
sehenden Augen in sein Verderben. Sei also versichert, das Recht, das
du an ihn hast, wird ihn dir zurückbringen. Er wird einsehen, wie nachteilig eine solche Lebensart seinem Hauswesen ist; er wird die Schmach
der allgemeinen Missbilligung nicht länger ertragen können; sein
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Gefühl für dich wird wieder erwachen, und er wird bald wieder anderes Sinnes werden.
Du hingegen, liebe Freundin, anstatt dich mit einer Hetäre messen zu
wollen, zeige den großen Unterschied zwischen dir und einem solchen
Geschöpf durch anständiges Betragen gegen deinen Mann, sorgfältige
Führung deines Hauswesens, gutes Vernehmen mit deinen Bekannten,
und wahre Mutterliebe zu deinen Kindern. Erweise diesem Geschöpfe
die Ehre nicht, mit ihr zu eifern. Denn nur mit tugendhaften Personen
zu eifern ist schön. Deinem Manne hingegen zeige dich immer zur Aussöhnung bereit. Ein edles Betragen gewinnt uns endlich sogar das Herz
unserer Feinde, und die Tugend, aber auch sie allein, erwirbt uns die allgemeine Achtung. Durch sie kann eine Frau in gewissem Sinne über
ihren Mann selbst Gewalt bekommen, und er wird immer lieber von
einem solchen Weibe hochgeschätzt, als gleich einem Feinde beobachtet sein wollen. Je mehr Achtung du ihm zeigst, desto beschämter wird
er werden, desto eher sich mit dir auszusöhnen verlangen, und dich
dann um so stärker und zärtlicher lieben, wenn er, durch Betrachtung
deiner untadeligen Aufführung und deiner Liebe zu ihm, zu einem
desto so viel lebhafteren Gefühl seines Unrechts gegen dich gebracht
worden ist. Euer Glück wird dann dieser kurzen Unterbrechung wegen
nur desto größer sein. Denn so wie nach einer überstandenen Krankheit
nichts Süßeres ist als das erste Gefühl der wiederkehrenden Gesundheit,
so enden sich auch die Misshelligkeiten unter Freunden in einer desto
innigeren Gemütsvereinigung.
Nun, meine Freundin, stelle diesem Rat die Eingebungen der Leidenschaft entgegen! Diese rät dir, weil er krank ist, sollst du dich durch
Gram und üble Laune ebenfalls krank machen; weil er gegen die Rechtschaffenheit sündigt, sollst du wenigstens gegen die Anständigkeit sündigen; weil er seinem Vermögen und Kredit Schaden zufügt, sollst du das
deinige auch dazu beitragen, indem du dich über ihn hinaufzusetzen
scheinst und dein Interesse von dem seinigen absonderst. Du glaubst ihn
zu züchtigen, und strafst dich selbst. Denn, sage mir, wie willst du dich
an ihm rächen? Etwa dich von ihm scheiden? So wirst du, weil du doch
noch viel zu jung bist, verwitwet zu bleiben, es wieder mit einem anderen Manne probieren, und, wenn dieser in den nämlichen Fehler fällt,
wieder mit einem anderen – oder dich entschließen müssen, dein Leben
ledig und einsam zuzubringen21 – oder willst du dich nicht mehr um
deine Haushaltung bekümmern, und, indem du alles drüber und drunter gehen lässt, deinen Mann zu Grunde richten? Würdest du dich
dadurch nicht selbst zugleich mit ihm unglücklich und elend gemacht
haben? – Du drohest der Hetäre mit deiner Rache? Sie wird sich vor dir
in Acht zu nehmen wissen: und wolltest du es bis zu einem persönlichen
Angriff treiben, so rechne darauf, dass ein Weib, die der Scham entsagt
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hat, streitbar ist. – Hältst du es für etwas Schönes, alle Tage mit deinem
Manne in Zank und Hader zu geraten, so bedenke, dass alles Keifen und
Schelten seinen Ausschweifungen kein Ziel setzt, sondern bloß eure
Zwietracht immer unheilbarer macht. Oder wie? solltest du etwa gar
mit Anschlägen gegen seine Person umgehen? Nein, meine Freundin! Da
würde die Tragödie, die uns die Verbrechen einer Medea in ihrem
ganzen Zusammenhang darstellt, ihren Zweck sehr an dir verfehlen22;
denn sie lehrt uns die Eifersucht zu bezähmen, nicht ihr den Zügel
schießen zu lassen. Die Krankheit, an der du leidest, gleicht in diesem
Stücke den Augenkrankheiten; man muss schlechterdings die Hände
davon zurückhalten: Geduld und Standhaftigkeit sind das einzige Mittel, wodurch du sie zu heilen hoffen kannst.“
Brief der Theano an Eubule23
„Ich höre, du ziehst deine Kinder gar zu zärtlich auf. Dein Wille ist, eine
gute Mutter zu sein: aber, meine Freundin, die erste Pflicht einer guten
Mutter ist, nicht sowohl dafür zu sorgen, dass sie ihren Kindern angenehme Empfindungen verschaffe, als sie so früh als möglich an das, was
die Grundlage jeder Tugend ist, an Mäßigung und Bezähmung der sinnlichen Begierden, zu gewöhnen. Du hast dich also wohl vorzusehen, dass
die liebende Mutter nicht die Rolle einer Schmeichlerin bei ihnen spiele.
Kinder, die von ihrem zartesten Alter an wollüstig erzogen sind, müssen
notwendig unfähig werden, dem Reiz der Sinnenlust, der so mächtig auf
sie wirkt, jemals widerstehen zu können. Es ist also Pflicht, meine Liebe,
sie so zu erziehen, dass ihre Natur keine verkehrte Richtung bekomme;
welches geschieht, wenn die Liebe zum Vergnügen in ihrer Seele die
Oberhand gewinnt und ihr Körper gewöhnt wird, immer angenehme
Gefühle zu verlangen, folglich dieser übermäßig weichlich und reizbar,
jene eine Feindin aller Arbeit und Anstrengung werden muss. Daher ist
nichts nötiger, als dass wir unsere Zöglinge in demjenigen am meisten
üben, wovor sie sich am meisten scheuen, wenn sie gleich traurige
Gesichter dazu machen und ihnen wehe dabei geschieht: es gibt kein
besseres Mittel, zu machen, dass sie, anstatt Sklaven dieser Leidenschaften und ebenso verdrossen zur Arbeit als nach Wollust gierig zu
werden, eine frühzeitige Hochachtung für das, was schön und edel ist,
bekommen, und jener sich enthalten, diesem hingegen sich ergeben lernen.
Also, liebe Freundin, wenn du deine Kinder gar zu überflüssig und köstlich nährst; vielen Aufwand machst, um ihnen bald dieses bald jenes
Vergnügen zu verschaffen; sie immer spielen und Mutwillen treiben
lässt; ihnen gestattest alles zu sagen und zu beginnen, was ihnen einfällt; immer befürchtest, das liebe Kind möchte weinen, und dir Mühe
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gibst, es lachen zu machen; lachst und deine Freude daran hast, wenn
es nach seiner Wärterin schlägt oder dir selbst garstige Namen gibt; ferner, wenn du so große Sorge trägst, die Kinder im Sommer immer kühl,
im Winter immer recht warm und weich zugedeckt zu halten: so
erlaube mir zu sagen, dass du sehr unrecht daran tust. Siehst du nicht,
dass armer Leute Kinder, die von diesem allem nichts wissen, dem ungeachtet leichter aufkommen, wachsen und gedeihen, und sich überhaupt
weit besser befinden? Du hingegen ziehst deine Söhne wie lauter kleine
Sardanapalen (Assyrerkönige) auf, und gibst ihrer männlichen Natur
durch diese Verzärtelung einen Knick, wovon sie sich nie wieder erholen kann. Ich bitte dich, was soll aus einem Knaben werden, der, wenn
er nicht den Moment zu essen kriegt, weint? wenn er essen soll, immer
nur das Leckerhafteste verlangt? wenn’s heiß ist, gleich vergehen will,
wenn’s kalt ist, schlottert? wenn ihm etwas verwiesen wird, widerbellt
und Recht haben will? wenn man ihm nicht alles gibt, was er verlangt,
das Maul hängen lässt? wenn er nicht immer geätzt wird, sich erbost?
kurz: keine andere Beschäftigung kennt als dem Vergnügen nachzulaufen, und in schnöden Wolllüsten sich herum zu wälzen? Was kann
aus solchen verzärtelten Kindern, wenn sie zu männlichen Jahren kommen, anderes werden als elende Sklaven ihrer eigenen und fremder Leidenschaften?
Mache dir also eine ernstliche Angelegenheit daraus, liebe Freundin,
eine gänzliche Reform mit deiner Kinderzucht vorzunehmen, und
anstatt dieser weichlichen eine strenge Erziehung in deinem Hause einzuführen. Lass sie Hunger und Durst, Hitze und Kälte ausstehen lernen,
und gewöhne sie mit Geduld zu ertragen, wenn sie von anderen ihres
Alters oder von ihren Vorgesetzten beschämt werden.24 Denn Abhärtung, Arbeit und Erduldung körperlichen Ungemachs sind für junge
Gemüter, was das Alaunwasser für die Zeuge (Stoffe), die man in Purpur
färben will: je stärker sie damit getränkt worden sind, desto tiefer dringt
die Farbe der Tugend ein, desto schöner, feuriger und dauerhafter wird
sie.25 Siehe also zu, meine Liebe, dass es deinen Kindern nicht ergehe wie
den Reben, die von schlechten Säften genährt, notwendig schlechte
Trauben tragen; oder, wie sollte eine üppige und weichliche Erziehung
bessere Früchte bringen können, als Leichtfertigkeit, Übermut und das
Gegenteil von jeder Eigenschaft, wodurch ein Mensch sich selbst und
anderen nützlich ist?“
Ökonomie als Aufgabe der Frauen
Die Briefe der „Pythagorischen Frau“ Theano, die als Aufgaben der
Frauen die Ökonomie, das heißt, im wörtlichen Sinne die Hauswirtschaft, die Kindererziehung und die Unterordnung unter den Gatten,
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betrachten, gehören zu den wenigen theoretischen Äußerungen zur
Wirtschaftstheorie der Antike.26 Mit ihrem – schon für die Antike – traditionellen Frauenbild27 stehen sie in der Vormoderne nicht allein. So
hat der im 5. Jahrhundert nach Christus wirkende Johannes von Stobai
(er wird nach seinem Herkunftsort meist nur „Stobaios“ genannt) für
seine Anthologien viele frühere Texte exzerpiert, darunter je zwei Auszüge aus Büchern der Pythagoreerinnen Phintys („Über die Besonnenheit der Ehefrau“) und Periktione („Über die Ordnung der Ehefrau“).28
In der eigenständigen handschriftlichen Tradition des Mittelalters sind
neben den Briefen der Theano auch Schreiben der Philosophinnen Myia
an Phyllis29 und der Melissa an Kleareta30 erhalten. Gemeinsam ist diesen Texten ein Grundverständnis, das sich in vergleichbarer Weise auch
in den „neutestamentlichen Haustafeln“ zeigt:31 „Ihr Frauen, ordnet
euch euren Männern unter, wie sich’s gebührt in dem Herrn.“32
Einen Beleg dafür, wie Wirtschaft und Kultur verknüpft sind, bieten die
Briefe der Theano nicht nur gleichsam für den Beginn, sondern auch für
das Ende der Vormoderne. Just im Oktober des Revolutionsjahres 1789,
mit dem diese Großepoche gewöhnlich endet, brachte der Leipziger Verleger Georg Joachim Göschen (1752–1828) erstmals einen „Historischen
Calender für Damen“ auf den Markt. Als Herausgeber dieses Kalenders
für 1790 fungierten Johann Wilhelm von Archenholz (1743–1812) und
Christoph Martin Wieland. In den vier Folgejahren publizierte Göschen
weitere solcher Kalender, als deren Mitherausgeber dann Friedrich
Schiller (1759–1805) wirkte und zu denen jener etwa seine „Geschichte
des dreyßigjährigen Kriegs“ beitrug. Der erste dieser „Historischen
Calender für Damen“ umfasste Exempel historisch bedeutender Frauen,
darunter einen über die Pythagorischen Frauen.33 Christoph Martin
Wieland, der Autor dieses Beitrags, war den Gebildeten jener Zeit eine
bekannte Gestalt. 1769 war er zum Professor der Philosophie an die
damals (wie demnächst wieder) bedeutende Universität Erfurt berufen
worden, 1772 folgte er einem Ruf der Herzoginwitwe Anna Amalia als
Erzieher ihrer beiden Söhne an den Musenhof nach Weimar, wohin er mit
seiner rasch wachsenden Familie zog. Mit seiner Frau Anna Dorothea
von Hillenbrand (1746–1801) sollte er im Laufe der Jahre 14 Kinder
haben. Zu seiner reichen literarischen Produktion gehörten auch Übersetzungen antiker Texte, zuletzt hatte er 1788–1789 sämtliche Werke des
antiken Satirikers Lukianos von Samosata ins Deutsche übersetzt.34 Der
„Historische Calender für Damen“ bot ihm nun Gelegenheit, seine
Fähigkeiten als Übersetzer und Erklärer antiker Literatur unter Beweis
zu stellen, diesmal ausdrücklich „für meine Leserinnen, bei denen ich
mir schmeichle, einiges Zutrauen zu mir voraussetzen zu dürfen“.35
Wieland bot seinen Leserinnen die Briefe in einer bewusst freien, oft fast
paraphrasierenden Übersetzung, die dem Sinn des antiken Originals
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freilich besonders nahe kam: Wie Wieland in einer Anmerkung betont,
„liegt eine sehr große Schwierigkeit, oder vielmehr die pure Unmöglichkeit, alle Grazien des Originals in die Übersetzung überzutragen, darin, dass Theano in ihrer
Sprache sehr oft mit einem Worte sagen kann, was dem Übersetzer, der ihren Sinn
und Geist nicht verfehlen will, nur durch Wendungen und Umschreibungen auszudrücken möglich ist“.36
In der Tat fand Wielands Übersetzung der Theano einige Aufmerksamkeit auch außerhalb der „Damen-Welt“, für die sie ursprünglich angefertigt worden war. Bereits 1791 wurde sie zur Grundlage einer von dem
Duisburger Theologen Heinrich Adolph Grimm (1754–1813) besorgten
zweisprachigen Ausgabe37; die Übersetzung wurde auch der 1815 von
dem Zürcher Theologen Johann Konrad Orelli (1770–1826) edierten
Zusammenstellung antiker Briefe beigefügt.38 Wielands ganze Abhandlung über die Pythagorischen Frauen wurde 1796 in Wielands ebenfalls
von Göschen verlegten „Sämmtlichen Werken“ aufgenommen; dabei
wurde der Text verändert, und zwar durch die Aufnahme der im Original in einer Anmerkung gebotenen Geschichte von Timycha in den Text,
durch die Streichung von Anmerkungen zur Praxis der Übersetzung
und zu einem textkritischen Problem sowie durch einige kleinere Eingriffe.39 Erneut findet sich die so veränderte Abhandlung in der bei
Göschen erschienenen Neuausgabe von Wielands „Sämmtlichen Werken“40 und 1930 in Wielands Gesammelten Schriften.41
Entstanden war Wielands Aufsatz über „Die Pythagorischen Frauen“42
ab Mai 1789; im Oktober desselben Jahres war er publiziert worden.
Seine Entstehungszeit43 verleugnet der Text nicht ganz: Den Begriff der
„Regeneration“ kann Wieland den „zu gleichem Vorhaben versammelten Repräsentanten der Französischen Nation“, also der im Juni 1789
tagenden Nationalversammlung „abborgen“ (§ 2); auf Marie Antoinette
verweist er als lebende „Antipode dieses Ideals eines tugendhaften Weibes“ (§ 9); sie sollte am 16. Oktober 1789 mit der Guillotine hingerichtet
werden. Eine „wunderbare Regeneration aller unserer ihrem Untergang
zueilenden Europäischen Staaten“ erträumt sich Wieland „in weniger
als einem halben Jahrhundert“ (§ 8). Im Grunde aber ist der Text unpolitisch, und Wieland vertritt darin ein überaus traditionelles Frauenbild, für das die pythagoreische Philosophin Theano geradezu als Kronzeugin dient. Und folgerichtig schließt Wieland seine Schrift mit folgenden Sätzen, die ich schon deshalb vollständig zitiere, da ihr Frauenbild in einem markanten Kontrast zu dem der Herausgeberin des
vorliegenden Bandes steht:
„Indessen freue ich mich, hinzusetzen zu können, dass ich, sogar in den höchsten
Ständen, mehr als eine kenne, die es, sei es als Jungfrau oder Vermählte, eben so
würdig als die Tochter des Pythagoras gewesen wäre, den Chor der Jungfrauen und
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Frauen zu führen.44 Und da mein glückliches Los mich selbst seit 24 Jahren mit
einem Weibe vereinigt hat, die als Ehefrau und Mutter, und in jedem anderen reinen menschlichen Verhältnis, von jenen Pythagorischen Frauen für ihre Schwester
erkannt worden wäre: so sei mir erlaubt, ihr, zu einem öffentlichen Denkmal der
Dankbarkeit für das Glück meines Lebens, das ich ihrer Liebe und ihren Tugenden
schuldig bin, und unseren Töchtern, zur Aufmunterung einer solchen Mutter
immer ähnlicher zu werden, diesen kleinen Aufsatz hiermit besonders zuzueignen.“
Fußnoten
1 Wieland, Christoph Martin: Die Pythagorischen Frauen, in: Historischer Calender für
Damen für das Jahr 1790. Leipzig 1789, S. 190–247. Meine zweisprachige Reclam-Ausgabe der Theano-Texte, die für die zitierten Passagen als Grundlage diente, ist im Satz.
2 Vgl. von Albrecht, Michael: Pythagoras, Legende, Lehre, Lebensbeschreibung, Zürich
1963 (wieder in: ders., u.a. Jamblich. Pythagoras: Legende – Lehre – Lebensgestaltung,
Darmstadt 2002); Guthrie, Kenneth S.: The Pythagorean Sourcebook and Library 1987.
3 Aristoteles, Frg. 193 Rose = Apollonius, mirab. hist. 6; vgl. Aelian, var. hist. 2, 26 und
4,17; Iamblichos, Vita Pythagorica 28,140–143; Poryphrius, Vita Pythagorae 23–28.
4 Dikaiarchos, Frg. 33 Wehrli = Porphyrius, Vita Pythagorae 18.
5 Pompeius Trogus/Iustinus, Historia Philippicae 20,4,1–13.
6 Dikaiarchos, Frg. 33 Wehrli = Porphyrius, Vita Pythagorae 19.
7 Philochoros FGrHist 328 B 1 = Suda, phi 443 s.v. Philochoros.
8 Iamblichos, Vita Pythagorica 36, 267.
9 Timaios FGrHist 566 F 131 = Porphyrios, Vita Pythagorae 4.
10 Suda, Lexikon theta 83 und 84 s.v. Theano 1 und 2. Die weiteren Quellenbelege bietet
Brodersen (wie Anmerkung 1).
11 Musuros, Markos: Epistulae diversorum philosophorum, oratorum etc., Venedig: Aldus
Manutius 1499.
12 Holstenius, Lucas: Porphyrii philosophi Liber de vita Pythagorae etc. Rom 1630.
13 Selbst Wieland (wie Anmerkung 1) § 8 meinte, diese Briefe seien „von den echten auf
den ersten Blick so leicht als Kupfer von Gold zu unterscheiden“.
14 Ältere Editionen der Briefe: Wolf, Johann Christian: Mulierum Graecarum, quae oratione prosa usae sunt, fragmenta et elogi, Hamburg 1735 (Nachdruck Göttingen 1739),
S. 224–249 (Nr. 162–192) und S. 446–450. – Hercher, Rudolf: Epistolographi Graeci. Paris
1873. – Meunier, Mario: Femmes Pythagoriciennes, Fragments et Lettres, Paris 1932. –
Thesleff, Holger, The Pythagorean texts of the Hellenistic period. Abo 1965. – Städele,
Alfons: Die Briefe des Pythagoras und der Pythagoreer, Meisenheim am Glan 1980. –
Audring, Gert/Brodersen, Kai: OIKONOMIKA: Quellen zur Wirtschaftstheorie der griechischen Antike, Texte zur Forschung 92, Darmstadt 2008. – Vgl. auch Possekel, Ute:
Der Rat der Theano: Eine pythagoreische Spruchsammlung in syrischer Übersetzung,
in: Museon 111 (1998) S. 7–36.
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15 Grundlegend hierzu: Kehnel, Annette: Grips und Zaster, Mannheimer Mediävistische
Manuskripte 4, Ludwigshafen/Kiel 2007.
16 Eine Zusammenstellung aller einschlägigen Texte bieten Audring/Brodersen (wie
Anmerkung 14).
17 Der Brief der Theano an Kallisto findet sich in den in Anmerkung 14 genannten Editionen wie folgt: Wolf 1735, Nr. 165; Hercher 1873, Nr. 6; Thesleff 1965, Nr. 4; Städele
1980, Nr. 7; Audring/Brodersen 2008, 234–237. Als Übersetzung wird hier die Wielands
(wie Anmerkung 1) wiedergeben.
18 Der Brief der Theano an Nikostrate findet sich in den in Anmerkung 14 genannten Editionen wie folgt: Wolf 1735, Nr. 164; Hercher 1873, Nr. 5; Thesleff 1965, Nr. 5; Städele
1980, Nr. 6; Brodersen (wie Anmerkung 1). Als Übersetzung wird hier die von Wieland
1789 (wie Anmerkung 1) wiedergegeben.
19 Wieland (wie Anmerkung 1) merkt hierzu an: „Ich bin genötigt, dieses gewissermaßen
unübersetzbaren Wortes wegen mich auf meine erste Anmerkung zu den Hetärengesprächen im dritten Teile Lucians zu beziehen. Zwar hätte ich hier statt Hetäre das Wort
Maitresse gebrauchen können: Aber ist das eine nicht eben so wenig Deutsch als das
andere? Die Hetären sind eigentlich so gut auf Griechischem Boden gewachsen wie die
Philosophen: warum soll man also jenen ihren ursprünglichen und eigenen Namen
nicht eben sowohl lassen als diesen?“ Er verweist dabei auf eine Einleitung in Lucians
von Samosata sämtliche Werke aus dem Griechischen übersetzt und mit Anmerkungen und Erläuterungen versehen, Band III, Leipzig 1788, S. 1: „Da ich in Adelungs Wörterbuch kein Wort finde, das mit dem griechischen Hetäre völlig gleichbedeutend
wäre, und da das zur Not brauchbare Kurtisane ebenso wenig deutsch ist als jenes, so
halte ich, alles wohl erwogen, für das schicklichste, das Wort Hetäre als ein griechisches
Kunstwort zu behandeln, welches wir, um den Begriff, den die Griechen damit verbanden, von verfälschenden Nebenbegriffen rein zu erhalten, ebenso wenig zu verdeutschen suchen müssen als die Wörter Archon, Nomophylax, Mystagog, Philosoph,
Theurg und hundert andere dieser Art, deren Subjekte wir entweder gar nicht haben
oder die doch bei uns ganz was anderes als bei ihnen sind. Hetäros hieß bei den Griechen, was bei uns ein guter Freund oder Kamerad heißt, und Hetära ist das Femininum
davon.“
20 Wieland (wie Anmerkung 1) merkt hierzu an: „Die Griechen in den Asiatischen Städten waren von diesem Axiom so überzeugt, dass sie gar keine Feueranstalten hatten,
sondern ganz gelassen zusahen, wenn ihre Häuser und ihre vornehmsten Gebäude
gelegentlich abbrannten.“ Er verweist dafür auf de Pauw, Cornelis: Recherches philosophiques sur les Grecs, Band 2, S. 58, wo die bei Plinius dem Jüngeren, Epist. 10,42,
berichtete Geschichte erwähnt wird, dass man einst in Nikomedia ein Feuer nicht
gelöscht habe.
21 Wieland (wie Anmerkung 1) merkt hierzu an: „Es ist nicht zu leugnen, dass der
Gedanke, ohne Mann zu leben, für griechische Frauen etwas Erschreckliches war.
Diese Vorstellung also musste ihre Wirkung tun.“
22 Wieland (wie Anmerkung 1) merkt hierzu an: „Diese Beziehung auf die Medea der
Tragödie hätte mir die Echtheit dieses schönen und einer Theano so würdigen Briefes
verdächtig gemacht, wenn ich mich nicht erinnert hätte, dass Aeschylus ein Zeitgenosse des Pythagoras war und eine Medea geschrieben haben soll; nichts von Thespis
und Phrynichus zu sagen, die schon eine geraume Zeit vor Aeschylus den Stoff zu ihren
monologischen Dramen aus der alten Heldengeschichte nahmen.“
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23 Der Brief der Theano an Eubule findet sich in den in Anmerkung 14 genannten Editionen wie folgt: Wolf 1735, Nr. 163; Hercher 1873, Nr. 4; Thesleff 1965, Nr. 1; Städele
1980, Nr. 5; Audring/Brodersen 2008, S. 232–233. Als Übersetzung wird hier die von
Wieland 1789 (wie Anmerkung 1) wiedergegeben.
24 Wieland (wie Anmerkung 1) bemerkt hierzu: „Hier fehlen ein paar Zeilen des Originals,
die aus Schuld der Abschreiber keinen rechten Sinn zu haben scheinen.“
25 Wieland (wie Anmerkung 1) merkt hierzu an: „Die Schicklichkeit dieses Gleichnisbildes im Munde der Theano fällt desto mehr in die Augen, wenn man weiß, dass das Färben bei den Griechen unter die weiblichen häuslichen Geschäfte gehörte.“
26 Eine auf Vollständigkeit bedachte zweisprachige Sammlung bieten Audring/Brodersen
(wie Anmerkung 14).
27 Vgl. hierzu Scheer, Tanja S.: Forschungen über die Frau in der Antike. Ziele, Methoden,
Perspektiven, in: Gymnasium 107 (2000) S. 143–172; Reuthner, Rosa: Philosophia und
Oikonomia als weibliche Disziplinen in Traktaten und Lehrbriefen neupythagoreischer
Philosophinnen, in Vorbereitung.
28 Phintys: Stobaios IV 23, 61–61a. – Periktione: Stobaios IV 25, 50 und IV 28, 19; vgl.
Audring/Brodersen (wie Anmerkung 14) S. 204–207 bzw. 218–223.
29 Der Brief der Myia an Phyllis findet sich in den in Anmerkung 14 genannten Ausgaben
wie folgt: Wolf 1735, Nr. 1; Hercher 1873, Nr. 12; Thesleff 1965, Nr. 1; Städele 1980, Nr.
4; Audring/Brodersen 2008, 236–239.
30 Der Brief der Melissa an Kleareta findet sich in den in Anmerkung 14 genannten Ausgaben wie folgt: Wolf 1735, Nr. 1; Hercher 1873, Nr. 11; Thesleff 1965, Nr. 1; Städele 1980,
Nr. 3; Audring/Brodersen 2008, S. 236–237.
31 Kolosserbrief 3,18 bis 4,1; Epheserbrief 5,22 bis 6,9; 1. Petrusbrief 2,18 bis 3,7; vgl. etwa
Woyke, Johannes, Die neutestamentlichen Haustafeln, Stuttgarter Bibelstudien 184,
Stuttgart 2000. – Lehmeier, Karin, Oikos und Oikonomia: Antike Konzepte der Haushaltsführung und der Bau der Gemeinde bei Paulus, Marburger theologische Studien
92, Marburg 2006.
32 Als „Haustafel“ hat Martin Luther diese Texte in den Kleinen Katechismus von 1529 aufgenommen; vgl. Hoffmann, Julius, Die „Hausväterliteratur“ und die „Predigten über
den christlichen Hausstand“. Weinheim 1959.
33 Wieland (wie Anmerkung 1).
34 Wieland, Christoph Martin: Lucian, Sämtliche Werke, aus dem Griechischen übersetzt,
6 Bände, Leipzig: Weidmann 1788–89.
35 Wieland (wie Anmerkung 1).
36 Wieland (wie Anmerkung 1).
37 Grimm, Heinrich Adolph: Die Briefe und Sittensprüche der Theano, griechisch mit
Wielands Übersetzung und einem griechisch-deutschen Wortregister, Duisburg und
Leipzig 1791.
38 Orellius, Johann Konrad: Collectio Epistolarum Graecarum, Graece et Latine, recensuit,
notis priorum interpretum suisque illustravit, Leipzig 1815, S. 429–441.
39 Wieland, Christoph Martin: Sämmtliche Werke 24, Leipzig 1796, S. 245–300.
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40 Wieland, Christoph Martin, Sämmtliche Werke 32, Leipzig 1857, S. 277–310, Anmerkung S. 430–433.
41 Wieland, Christoph Martin: Gesammelte Schriften Abteilung I Band 15: Prosaische
Schriften II, Berlin 1930, S. 230–253. – In jüngeren Wieland-Ausgaben und in elektronischen Editionen fehlt die Abhandlung bisher, siehe aber Anmerkung 1.
42 Dass sich gebildete Damen für Theano interessieren würden, hatte bereits Wilhelm
Heinse (1746–1803) gezeigt, der bei Wieland in Erfurt studiert hatte. 1776 hatte Heinse
zu der von Johann Georg Jacobi (1740–1814) und ihm selbst herausgegebenen Zeitschrift Iris, einer „Vierteljahresschrift für Frauenzimmer“, einen Beitrag über die
„Briefe der Theano an junge Frauen“ beigesteuert. Der griechische Text, den Heinse und
Wieland benutzten, war 1735 mit einer lateinischen Übersetzung von dem Hamburger Gymnasialprofessor Johann Christian Wolf (1689–1770) publiziert worden (siehe
Anmerkung 14).
43 Vgl. Seuffert, Bernhard: Prolegomena zu einer Wieland-Ausgabe, Tl. VI. Abhandlungen
der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Berlin 199, S. 37 Nr.
1005 (zum Zeitraum der Bearbeitung zum Erscheinen der „Pythagorischen Frauen“).
44 Vgl. Timaios (siehe Anmerkung 9).
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Philosophia und Pecunia
Vom Wert des Wissens in Mittelalter und Moderne
Martin Kintzinger
Geist und Geld – (k)eine Frage?
Abbildung 1: Holbein.
Vorlage: Stephanie Buck, Hans Holbein 1497/98–1543, Köln 1999, S. 99: Doppelbildnis von Jean de
Dinteville und George de Selve (Die Gesandten), 1533.
Eines steht fest: Das Thema „Geld“ ist nach wie vor aktuell. Schon seine
bloße Erwähnung hat zu allen Zeiten Aufmerksamkeit gefunden, sozusagen „Betroffenheit“ ausgelöst: Wer hätte nicht gern Geld? Und wer
hätte nicht gern mehr, als er hat? Keine Frage!
Zu allen Zeiten ließen sich Personen gern porträtieren, wenn sie zu
denen gehörten, die genug Geld hatten oder jedenfalls mehr als andere
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Abbildung 2: Spitzweg.
Vorlage: Der arme Poet, 1839, in: Heidi C. Ebertshäuser, Carl Spitzweg, München 1981, Tafel 3, S. 10.
– und die dadurch Ansehen und Geltung in der Gesellschaft besaßen,
vielleicht sogar politischen Einfluss. Im frühen 16. Jahrhundert malte
Hans Holbein Kaufleute und Diplomaten, die sich mit den Zeichen ihres
Wohlstands umgaben. Sie legten aber zugleich Wert darauf, als Gebildete erkennbar zu sein, die über das gelehrte Wissen ihrer Zeit verfügten, sich für Kunst und Kultur interessierten und sich zugleich in ihrem
Verhalten an ethische Normen gebunden fühlten.
„Geist und Geld“: Eine Frage drängt sich schon bei der Reihenfolge der
Begriffe auf: „Geist und Geld“ oder „Geld und Geist“? Dass Geld sich
Geist leistet, mögen wir kennen, und wir denken dabei an Gönner, Stifter oder Mäzene, Förderer und Impulsgeber, wie sie sich zu allen Zeiten
– bis heute – oft und gern abbilden ließen. Dass Geist hingegen ohne
Geld blieb, ebenfalls zu allen Zeiten, ist ebenso bekannt, aber kaum
abgebildet worden. Erst Karl Spitzwegs „Armer Poet“ von 1839 schuf eine
bleibende Erinnerung.
Weitere Fragen drängen sich auf. Welchen Geist will sich das Geld leisten, wann und warum – und unter welchen Umständen will das Geld
manchmal auch ohne Geist auskommen? Zudem: Braucht Geist Geld,
wozu braucht er es und wie viel, unter welchen Bedingungen, und unter
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welchen Umständen kann oder muss oder will sogar der Geist manchmal auch ohne Geld auskommen? Eine Antwort auf diese Fragen hängt
entscheidend davon ab, wie wir zuvor folgendes Problem geklärt haben:
Was ist Geist, was ist Geld, und wie hängen beide zusammen?
Was ist Geist, und was ist Geld – (k)eine Antwort
Geist und „Geld“ stehen in den vorangegangenen Ausführungen als
Allegorien. Sie bezeichnen Vorstellungen, Wertzuschreibungen und vor
allem Menschen – solche, die Geist oder Geld haben oder danach verlangen, und solche, die es verurteilen und die einander danach unterscheiden, ob sie eher der einen oder der anderen Seite zugehören. Denn
nur selten findet sich beides zugleich in denselben Händen. Genau dies
ist unser Thema: Geist und Geld scheinen auf Anhieb zumindest different zueinander zu stehen, in Distanz oder gar in Widerspruch. Eben
deshalb ist ihr Verhältnis in seiner Spannung, aber auch seiner Synergie, immer wieder bedacht und hinterfragt worden.
Abbildung 3: Holbein-Studie.
Vorlage: Studie der Hände des Erasmus von Rotterdam, um 1523, in: Holbein (wie oben), S. 48; Studie
zum 1523 vollendeten Ölgemälde Porträt Erasmus von Rotterdam. Dort nur die untere Hand als auf
einem Buch liegende Linke ausgeführt. Die mittlere, schreibende Hand nach diesem Entwurf ausgeführt
in Kupferstich Porträt Erasmus von Rotterdam 1526. Die obere, geöffnete, „nehmende“ Hand später nicht
übernommen, vielleicht verworfen.
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Bekannte Zeitgenossen haben zum Thema Stellung genommen. So
druckte die Zeitschrift des Deutschen Hochschulverbandes („Forschung
und Lehre“) über Jahre in jedem Heft einen Fragebogen ab, der jeweils
von einem Angehörigen einer deutschen Universität ausgefüllt worden
war. Unter den Fragen fand sich auch diese: „Wie viel Geld möchten Sie
besitzen?“. Die Varianz der Antworten auf diese Frage war, wie bei der
Klientel der Zeitschrift nicht anders zu erwarten, stets eher dezent, also
etwa: „Genug zum Leben“ oder „So viel, wie ich brauche, um anderen
nicht zur Last zu fallen“. Der Tenor reflektierter Bescheidenheit blieb
unüberhörbar. Die Antwort: „So viel wie möglich“ wäre vielleicht offenherziger, aber unstatthaft gewesen.
Im Einzelfall mochte der Leser darüber spekulieren, ob die Antworten
der Befragten das Bemühen um eine angemessene Stellungnahme
reflektieren oder ob sie in tatsächlicher Bedürfnislosigkeit begründet
sind. An dieser Stelle wird es grundsätzlich: Ist jemand, der die Frage
nach dem Geld bescheiden beantwortet, ein Machiavellist, der uns
geschickt über seine wahren Begehrlichkeiten täuschen will, ein Diogenes in der Tonne, der keiner Güter bedarf, oder ein Ethiker, der Leben
und Tun unter die Norm von Idealen stellt und das Geld schlicht als
Instrument zur Sicherung des Lebensunterhalts nimmt?
Wie immer sich die Beantworter eines solchen Fragebogens heutzutage
verstehen: Feine Unterschiede trennen den modernen Wissenschaftsbetrieb von der Studierstube eines Gelehrten früherer Zeit, schon gar
eines gelehrten Fürsten wie etwas des französischen Königs Karl V.
(1338–1380), der für seine Büchersammlung, persönliche Gelehrsamkeit
und großzügiges Mäzenatentum bekannt war. Für ihn war, modern
gesprochen, die Synergie von Geist und Geld selbstverständlich.
Inzwischen, seit 2006, erscheint der bewährte Fragebogen in geänderter Form; er wurde den Strategien heutiger intellektueller Selbstvermarktung angepasst. Die Frage nach dem Geld heißt jetzt: „Mit einer
unverhofften Million würde ich ...“. „Million“ klingt weniger materiell
als „Geld“, weniger nach Lotterie oder gar Raub, sondern eher nach breit
gebildeten Ratefüchsen oder wohlbegründet eingeworbenen Drittmitteln. Aber auch die Million ist substantiell nichts anderes als Geld, und
so ist die Vorsicht bei der Beantwortung der Frage ähnlich geblieben.
Wieder wäre eine Antwort wie „ein Sportcoupé kaufen“ verständlich,
aber deplatziert.
Und doch gibt es einen gewichtigen Unterschied. Nicht mehr von individuellen Lebensperspektiven sprechen die Befragten jetzt, sondern von
professionellen Projektvorhaben. „Ein paar Editoren einstellen, um
mein Akademieprojekt ... zu beschleunigen“, so formulierte es der neue,
selbst erst 44-jährige Präsident der Berliner Humboldt-Universität1 –
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Abbildung 4 : Charles V.
Vorlage: Charles V.: Dans son étude. Jean de Salisbury, Le Policratique, 1372. BN Paris, Ms. Fr. 24287,
fol. 2.
eine zeitgemäße Form der persönlichen Bescheidenheit. Durch Geld,
genauer durch die Million, erkennt der Wissenschaftler seine Verantwortung und wird selbst zum Förderer und Impulsgeber. Intellektuell
und fachlich war dies seit jeher Pflicht und Chance aller Hochschullehrenden und wurde vielerorts mit großem Einsatz und Erfolg geleistet, immer auch einschließlich der materiellen Ausstattung und des Personals.
Jetzt geht es um noch mehr: noch mehr an Mitteln und Personalressourcen und noch mehr an dafür notwendigem Management. Es versteht sich, dass diesem „noch mehr“ ein „dramatisch weniger“ an
bewährter staatlicher Förderung vorausgeht. Wissenschaft und Forschung sind nicht mehr ohne weiteres in unserem Land gesichert, das
ist die erschreckende Tatsache. Professoren müssen deshalb den Spagat
wagen zwischen Forschung und Wissenschaftsförderung. Sie müssen
Mäzen in eigener Sache werden, für Geist und Geld selbst stehen.
Sie werden damit aber nicht zu Mäzenen, denen beauftragte oder ungefragt dedizierte Werke der Dichtung, der Geschichtsschreibung oder der
Wissenschaft überreicht würden – wie es in mittelalterlichen Handschriften vielfach ausdrucksstark festgehalten ist, so auch für Karl V. von
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Frankreich. Vielmehr vertreten sie immer zuerst die Seite des Geistes
und verfügen gerade nicht über das Geld, das sie für ihre Mitarbeiter
und ihre Forschungen benötigen, sondern müssen es stets, Schritt für
Schritt, einwerben.
Unmerklich hat sich eine erste, fundamentale Einsicht in unsere Überlegungen eingeschlichen: Man kann gar nicht über Geld reden (und
ohnehin nicht darüber nachdenken), ohne den Geist zu bemühen, als
Wissen von Hintergründen, Entwicklungen und Kontexten und als kritischen Verstand zum Nachfragen, Zuordnen und Weiterdenken. Er
wird zugleich benötigt als Voraussetzung für das Bewusstsein von der
Verantwortung im Umgang mit dem Geld zwischen dem Einzelnen und
der Gemeinschaft, Eliteförderung und Chancengleichheit, Nachfrageorientierung und Grundsätzlichkeit, ökonomischer Nutzberechnung
und Freiheit der Wissenschaft, zielorientierten Handlungsabsichten
und human begründeten Rücksichten, Erkenntniswillen und Ethik. Die
Reihe ließe sich noch lange fortsetzen.
Und sie lehrt zugleich eine zweite fundamentale Einsicht: Geld ist nie
absolut zu verstehen, sondern immer relativ zu anderem, und für die
Abbildung 5: Buchübergabe an den Mäzen.
Vorlage: Dialogues de Pierre Salmon, Paris 1409. BN Ms. Fr. 23279, in: Paris 1400. Les arts sous Charles
VI., Paris 2004, S. 122.
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Bestimmung der Relation bedarf es erneut des Geistes. Geld definiert
sich aus der Wertzumessung, die Menschen ihm geben und die im
Idealfall in ihrer Gesellschaft Konsens findet, durch die Bestimmung
von Ware-Preis-Verhältnissen, der Bemessung von Leistungsentgelten,
der Zuschreibung von Förderrichtlinien und Preisdotationen. Aber auch
in der Ordnung der Distribution, also dem Verfahren, das vorhandene
Geld unter denen zu verteilen, die es beantragen und brauchen, nach
Kriterien der Rationalität wie der Gerechtigkeit, der Nutzerwartung
wie der Verantwortung, der funktionalen Selektion wie der repräsentativen Streuung, der Zukunftsinvestition wie der Nachhaltigkeit, der
Ökonomie wie der Kultur. Auch diese Reihe ließe sich fortsetzen.
Geld kann – genauer: sollte – ohne Geist nicht sein. Gern stimmen wir
dieser Schlussfolgerung zu, und wir definieren damit Geist als erlernten Sachverstand, vorurteilslose Vernunft, normenorientierte Verantwortung und in alledem als Werthaltung in der Gesellschaft.
Gewiss kennen wir Gegenbeispiele, sinn- und ziellose Verschleuderung
von Vermögen, Kaufrausch, Misswirtschaft oder Risikobereitschaft bis
zur Insolvenz. Nach dem Scheitern taucht dafür immer eine Erklärung
auf: Durch Zufall, Unglück oder die Launen des Schicksals, nicht durch
eigene Verantwortungslosigkeit, sei das Geld „verschwunden“. Dass eine
große deutsche Automobilfirma in ihrem „Nachhaltigkeitsbericht
2005/2006“ nicht nur von Konzernstrategie, Globalisierung und Standortsicherung spricht, sondern auch ein „Special: Korruption und Bestechung“ einfügen muss, spricht für sich.2
Die Warnung, dass nach dem Höhenflug der Absturz komme, war auch
im Mittelalter bekannt, und sie wurde eindrücklich mit dem Bild des
Rades der Fortuna, der Schicksalsgöttin, dargestellt. In der modernen
Welt schien lange Zeit davon nicht viel geblieben, wenngleich Schicksal
auch heute noch eine unvermeidbare Kalkulationsgröße in allen
Lebensplanungen sein muss. Neuerdings gibt es sogar wieder ein Bild
dafür. Die aus der Börsenwelt bekannten Symbole „Bulle“ für Hausse
(Kursgewinn) und „Bär“ für Baisse (Kursverlust) werden inzwischen zur
Bezeichnung von Erfolg und Niederlage im Geflecht des globalen Marktes verwandt.
Seit der Jahreswende 2008/2009 ist auch der Absturz nach dem Höhenflug wieder ein Thema geworden, er avancierte sogar zu einem der
beherrschenden Themen in der internationalen Medienwelt. Der von
Fachleuten längst befürchtete Kollaps der globalen Finanzmärkte
schlug mit unerwarteter Wucht und unübersehbaren Folgen zu. Allerdings liegt die Verantwortung nicht in der Kontingenz unverfügbaren
Geschehens, sondern im absichtsvollen Misswirtschaften von Finanzund Börsenspezialisten, die ihr erworbenes Fachwissen gerade nicht zu
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Abbildung 6 : Fortuna-Rad.
Vorlage: Bocaccio, Des cas des nobles hommes et femmes, Paris um 1415, Paris BN Fr. 16994, in: (wie oben),
S. 155, Nr. 80.
gestalterischem Handeln nutzten, sondern für verantwortungslose Profitmaximierung missbrauchten – Geld ohne Geist.
In den Medien werden wir neuerdings mit einer weiteren aktuellen und
unerfreulichen Facette unseres Themas konfrontiert: Unter dem Motto
„Habe Arbeit, suche Geld“ erfahren wir von einer großen und wachsenden Zahl von Menschen, die trotz regulärer, täglicher Arbeit unter der
Armutsgrenze leben und dass sich unter ihnen gelernte Fachkräfte und
selbst Hochschulabsolventen finden. Nein, keine neue Form des „armen
Poeten“ steht vor uns, bedürfnislos der schönen Kunst ergeben. Vielmehr finden wir hier einen Beweis dafür, dass auch ein praktischer
Geist, dessen Arbeit und Leistung gefragt sind, im schlimmsten Fall
ohne oder zumindest ohne ausreichendes Geld bleibt.3
Wir verstehen Geist zunächst als Werthaltung einer Gesellschaft, ihre
geltenden Idealitäten und Normen. Er ist ein kollektives Phänomen, und
der Einzelne hat daran Anteil, da er der Gesellschaft zugehört. Geist
bezeichnet aber auch die intellektuellen, verstandes- und vernunftmäßigen Eigenschaften und Fähigkeiten jedes Einzelnen, sein „Kapital“
auf dem Markt der Herausforderungen, ungeachtet, wie viel Geld er für
seine Leistungen erhält. Somit ist Geist auch ein individuelles Phäno136
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men, und die Gesellschaft hat an ihm Anteil, da ihre Mitglieder darüber
und zum Nutzen der Gesellschaft verfügen.
Informationsnesellschaft und Wissensgesellschaft –
(K)eine Große Koalition?
Fordert Geld den Geist heraus? Manch einer ist dabei schon buchstäblich unter die Räder der Fortuna gekommen, wie 2005 der in der Presse
sogenannte „Steuerprofessor“, dessen fachgelehrte Theorien zum Geld
und seiner Bewirtschaftung nicht zu den „banalen Wahlkampfparolen“
passen wollten, um die es eigentlich bei der Bundestagswahl ging.4 War
dies ein Zeichen der Sprachlosigkeit zwischen Geist und Geld? Oder
wurde hier einfach sachliches Wissen mit tagespolitischer Information
verwechselt? Bezeichnet die Spannung und Synergie zwischen Geist
und Geld wirklich die Herausforderungen eines Informationszeitalters
oder nicht eher diejenigen der Wissensgesellschaft, die unsere deutsche
und jede europäische Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts sein
muss, wenn sie ihrerseits die Herausforderungen der Globalisierung
bestehen wollen? Information und Wissen sind nicht dasselbe, das eine
ist nicht Teil des anderen (weil Wissen etwas anderes ist als Kumulation
von Informationen), sie ergeben zusammen keine Einheit und sind
nicht Koalitionäre. Information und Wissen bezeichnen vielmehr zwei
völlig unterschiedliche Arten menschlicher und gesellschaftlicher
Lebensorganisation.
Erst vor dem Hintergrund der Wissensgesellschaft nämlich wird klar,
dass und warum sich der Geist den Herausforderungen seiner Zeit und
deshalb auch denjenigen des Geldes stellen muss, dass und warum im
Gegenzug die Welt des Geldes das Wissen des „Geistes“ konsultieren
sollte. Wiederum soll hier nicht von der bedürfnislosen, weltabgewandten Selbstgenügsamkeit eines armen Poeten die Rede sein. Vielmehr ist Wissen durch soziale Verantwortung bestimmt, denkt und
handelt für das Ganze. Wissen bezeichnet nicht das Maskenspiel des
Machiavellismus, rücksichtslose Gewinnmaximierung, Neoliberalismus oder Egomanie auf Kosten aller. Wir kennen es, dass sich unsere
neue Zeit mitunter in das Gewand „Geld ohne Geist“ kleidet. Geist als
Wissen heißt hingegen, human und ethisch verantwortlich zu handeln,
legitime und notwendige Grenzen des eigenen Wollens und des Eigeninteresses zu respektieren.
Unter der Voraussetzung solcher Verantwortlichkeiten ist Geist als Wissen dann schulische Bildung, universitäre Qualifikation, fachliche Kompetenz, Erkenntnis und Erfahrung, Eigenständigkeit und Kooperation,
Problemlösung und Kommunikation. Auch wenn das folgende altmo-
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Abbildung 7 : Bovillus, Lebensaltersstufen.
Vorlage: Caroli Bovilli liber de sapiente, hrsg. von Raymond Klibansky. In: Ernst Cassirer: Individuum
und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (Nachdruck der Ausgabe Leipzig/Berlin 1927 (Studien
der Bibliothek Warburg, 10) Darmstadt 1987, S. 299–412, S. 306: Illustration zu: De quattuor hominum
gradibus per mundana elementa, cap. II.
dische Bild heute nicht mehr gebräuchlich ist: Wissen, so verstanden,
führt den Menschen in der Gesellschaft seiner Zeit zu einer Höhe seiner
Existenz. Damit ist anderes gemeint, als es heutige Karriereliteratur
unter dem Titel „Schnell und direkt ganz nach oben“ verheißt.5
Im Mittelalter wurde vielmehr die Höhe menschlicher Existenz als Einheit aus Sein, Leben, Empfinden und Verstehen beschrieben. Besonders
einprägsam führte Charles de Bouelles (Carolus Bovillus, 1479–1567) diesen Gedanken aus. Die höchste Stufe erreicht der Mensch demnach,
wenn er nicht nur in sich verschlossen bleibt, ausschließlich auf sein
Wohlbefinden achtet oder sich an sich selbst erfreut, sondern wenn er
nach Vernunft und Tugend ein gebildeter und wissender Mensch wird.
Ein solcher wird sich nicht, erlebnishungrig auf der Suche nach dem
„ultimativen Kick“, den Wechselfällen des Schicksals hingeben, sondern nach der Beständigkeit verantworteter Weisheit suchen.
Vielleicht spräche man heute davon, jemand müsse „an sich glauben“,
um das Beste leisten zu können, dann käme er an die Spitze. Ausgezeichnete Jungmanager, berühmte Künstler oder erfolgreiche Sportler
werden oft so beschrieben. Worte und Begriffe haben sich geändert, die
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Sache selbst ist, trotz aller Unterschiede, über die Jahrhunderte gleich
geblieben. Vom Geld ist dabei, wohlgemerkt, keine Rede, weder damals
noch heute. Unbedingt aber ist Geld Voraussetzung für alles weitere,
unausgesprochen und damals nicht anders als heute.
Ohne finanzielle Grundlage, Unterstützung und Förderung ist der Aufstieg vom bloßen Sein zum Verstehen, von unreflektierter Zeitgenossenschaft zu verantwortetem Wissen kaum möglich. Ohne die Finanzierung von Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und Forschung gibt
es keine Erkenntnis, kein Wissen und keine Weisheit, und ohne sie gibt
es keinen Fortschritt.
Geist als Wissen braucht die materielle Absicherung seines Lebensraumes. Dies mag den Vertretern des Geistes nicht immer gefallen, weil es
zwar keine ökonomische Abhängigkeit, aber doch eine materielle
Bedingtheit ihres Tuns begründet und sie zur Legitimation ihrer Arbeit
zwingt. Doch es gilt auch der Umkehrschluss: Ohne Weisheitssuche,
Erkenntnisstreben, Forscherdrang, engagierte Wissenschaft, Ausbildungsbereitschaft und Bildungswillen gibt es ebenfalls keinen Fortschritt. Materielle Ordnung allein bleibt ein leerer Raum, wenn der
Geist als Wissen nicht heimisch darin wird. Dies mag den Vertretern des
Geldes nicht gefallen, denn es bedeutet, dass Erkenntnis und Wissen,
Wissenschaft und Forschung Förderung brauchen und verdienen, aber
nicht käuflich sind.
Die „große Karriere zum kleinen Preis“, wie sie gegenwärtig von einem
renommierten Journal angeboten wird – Erfolgsmanagement in sechs
Bänden – ist ohne Zweifel nützlich, denn sie vermittelt gewichtige und
zielführende Information.6 Der Werbeslogan „Wissen macht Karriere“
stimmt indessen nur dann, wenn damit nicht nur diese Information
selbst, sondern das Wissen um deren klugen und verantwortlichen
Gebrauch gemeint ist.
Wissen für die Welt: Die Kalkulation des Unkalkulierbaren
Bei allem, was wir hier besprechen, geht es um die Weisheit. Gewiss
klingt schon der Begriff altmodisch. Aber wie sonst soll man anzeigen,
dass Wissen mehr als Information ist und trotzdem noch nicht alles?
Wissen ist kein Selbstzweck, sondern Wissen orientiert die Menschen,
macht aus ihnen Gestalter ihrer Welt, lässt sie innovativ werden,
begründete Entscheidungen treffen, Verantwortung tragen. Und Wissen
wirkt in alledem zurück, formt die Menschen und mit ihnen die Gesellschaft. Dieser Prozess geht nie zu Ende, Wissen kommt nicht ans Ziel,
ist nicht das Ziel, sondern immer nur der Weg und bleibt darum in
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Bewegung. Weisheit ist das Ziel, und Wissen ist immer die Annäherung
daran, jedes Einzelnen und aller gemeinsam, solange die Richtung
stimmt. „Lebenslanges Lernen“ heißt das heute.
So wurde es schon in der Antike, im Mittelalter und auch noch in der
Frühen Neuzeit gesehen. Zum Grundwissen des christlichen Europas
gehörte schließlich, dass alles Wissenwollen zur Erkenntnis Gottes als
Schöpfer der Welt, nach der göttlichen Weisheit strebe. Es versteht sich,
dass kein Mensch dieses Ziel erreichen kann, dass damit aber für alle der
Weg ihres Erkenntniswillens gewiesen und zugleich eingeschränkt ist
und dass aller menschlichen Erkenntnis in der Unverfügbarkeit des
Göttlichen eine Grenze gesetzt bleibt.
Es gab hier, wie so oft, eine Schattenseite. Die Rigorosität jener, die sich
anmaßten, das Wissen und Wollen der anderen zu verurteilen, diese gar
selbst zu richten, stößt uns heute ab. Umberto Ecos Roman „Der Name
der Rose“ von 1980, in der deutschen Übersetzung von 1982 einer der
Impulsgeber für eine Neuentdeckung des Mittelalters in unserer Zeit,
arbeitet bekanntlich mit diesem Motiv: Wer Unerlaubtes lesen oder gar
der Versuchung des Lachens frönen will, wird kurzerhand liquidiert.
Und doch hat die kritische Sicht mittelalterlicher Autoren aller Jahrhunderte auf die Neugier ihrer Zeitgenossen auch etwas Gutes: Man
Abbildung 8: Bovillus, Fortuna und Sapientia.
Vorlage: Fortuna und Sapientia. Holzschnitt aus Carolus Bovillus, Liber de sapiente, Paris/Amiens
1510/12, in: (wie oben), Tafel II, nach S. 302.
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Abbildung 9: Weltschöpfung.
Vorlage: Gott als Schöpfer des Universums. Bible moralisé, Reims, 15. Jh. ÖNB Ms. Cod. 2554, fol. 1 v, in:
Didier Méhu, Wege des Mittelalters, Freiburg im Breisgau 2004, S. 23. Astronomisch-kosmologische
Instrumente im Hochmittelalter oft aus arabischer Kultur übernommen, nach Kontakt in der
Kreuzfahrerzeit.
lernt zu unterscheiden zwischen wünschenswertem, nützlichem und
bedenklichem, unnützem Wissen und man lernt zu akzeptieren, dass
menschliches Wissenwollen eine vorgegebene und unverfügbare
Grenze hat. Dabei setzt man voraus, dass die Welt als Werk des Schöpfergottes selbst nach festen Regeln der Harmonie und Proportion gefügt
ist. Insofern lag es nahe, dass menschliches Wissenwollen auch nach diesen Regeln des göttlichen Schöpfungswerkes fragte.
Allerdings sollten solche Fragen immer ihre Grenze in den normierenden
Vorgaben der kirchlichen Lehre finden, so jedenfalls sahen es die Vertreter der zuständigen kirchlichen Institutionen. Unsere Sympathie hingegen gilt gewiss auf Anhieb jenen, die diese Grenze überschreiten wollten:
Den Pariser Magistern der Artistenfakultät im 13. Jahrhundert, die es liebten, sich mit den Lehrsätzen des Aristoteles und seiner (notwendig noch
nicht christlichen) Werke zu befassen, auch wenn der Bischof es ihnen
untersagt hatte. Die Logik als Grundprinzip aller Wissenschaft hat bis
heute viel davon profitiert. Ähnlich dachte Galileo Galilei, der im 17. Jahrhundert sein berühmtes „und sie dreht sich doch“ den kirchlichen Zensoren entgegenhielt, die mittlerweile ausgerechnet das aristotelische
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Weltbild und mit ihm die Vorstellung der unbewegten Erde gegen die Einsichten experimenteller Wissenschaft verteidigen wollten.
Beide Sympathieträger konnten tun, was sie taten, weil sie ökonomisch
und rechtlich frei dazu waren, die Artisten des 13. Jahrhunderts als Kleriker und Angehörige der Universität als rechtsautonomer Körperschaft
– was im Übrigen noch heute für jede reguläre Universität gilt – und
Galilei als Protegé seines Fürsten. Er hatte es indessen schlechter als
einst die Artisten, denn seine wissenschaftliche Freiheit hing vom Willen des Fürsten ab und bestand nur solange, wie er es wollte.7
Wirtschaftliche Abhängigkeit vom Willen externer Kräfte, vorsichtiger
gesagt Vorgaben von Geldgebern und der ökonomische Reiz des Marktes konnten auch von vornherein in bedenkliche Richtungen weisen,
wie der Erfinder der Wasserstoffbombe, Robert Oppenheimer, im
frühen 20. Jahrhundert erfuhr oder in den Jahren 2005 und 2006 der
Skandal um die gefälschten „Sensationsergebnisse“ der koreanischen
Gentechnologie gezeigt hat. Der Marktwert von Forschungserkenntnissen ist heutzutage eine größere Gefahr für den Verlust an Ethik in der
Wissenschaft als die fachliche Neugier der Forscher. Die Gentechnologie und ihre Möglichkeiten der Humanreproduktion sind gegenwärtig
das brisanteste Feld, für manchen Zeitgenossen ein pures Horrorszenario. Es wird nötig sein, sich diesen neuen Herausforderungen unserer
Tage mit programmatischen und – so bleibt zu hoffen – weisen Entscheidungen zu stellen.8
Weisheit und Wissensdrang: Aus der Liebe zum Wissenwollen haben
sich vor Jahrhunderten junge Menschen zusammengeschlossen und
damit einen Anstoß gegeben, aus dem später die Universität entstehen
konnte. Neben allen Karrierestrategien darf getrost die Neugier des Wissenwollens als persönliches Kapital derjenigen veranschlagt werden, die
sich einem wissenschaftlichen Anliegen, einer Forschungsfrage mit Leidenschaft verschreiben.
Keineswegs nur um theoretische Reflexion geht es hier, sondern ebenso
um praktische Anwendung. Ein Fachmann sagt:
(Es geschieht) bisweilen, dass das auf Grund klarer Überlegung oder in einem überragenden Geist Entworfene sich schneller verwirklicht mit Hilfe des Geldes und, was
schwierig erschien, mit Geld mühelos zum Ziel geführt wird, fast wie es bei Handelsgeschäften Brauch ist. Nicht nur im Kriege, auch in Friedenszeiten erweist sich
Geld als unentbehrlich. 9
Gerade nicht von Ökonomie spricht der Autor hier, sondern von königlicher Politik und ihren Instrumenten und eben deshalb vom Geld.
Was modern klingt, in Diktion und Vorstellung, ist doch alt und noch
weit älter als der sprichwörtliche Machiavellismus, den man zwischen
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den Zeilen herauslesen möchte. Der Text stammt aus dem 12. Jahrhundert, sein Verfasser ist der Bischof von London und Schatzkanzler
König Heinrichs II. von England, Richard von Ely (ca. 1130–1198). Erst
recht die späteren universitären Fakultäten und ihre Absolventen vermochten den Herrschern nützliche Hinweise und Rat zu geben. Erstmals im 15. Jahrhundert war die Rede von den Scientiae lucrativae,
den einträglichen Wissenschaften des Rechts und der Medizin, weil sie
nicht nur fürstlichen, kirchlichen oder städtischen Auftraggebern zu
Vorteil und Gewinn verhalfen, sondern weil auch für ihre „Fachvertreter“ ein einträgliches Entgelt dafür abfiel – Geist für Geld in doppelter Bedeutung.
Für das Wissenwollen, die wissenschaftliche Neugier und die Liebe zur
Weisheit, wie immer sie im Einzelnen motiviert sein mag, gibt es einen
alten Begriff: Philosophie. Deshalb sollten die Überlegungen des
Mediävisten unter diesen Titel gestellt sein. Nicht nur die Alliteration
führt ergänzend zu Pecunia (Geld), in der Zeit frühmittelalterlicher
Tauschwirtschaft aus der Bezeichnung für Naturalien (pecus für Vieh)
entstanden, ist Pecunia noch heute in dem Lehnwort „pekuniär“ enthalten. Was bislang über Geist gesagt wurde, soll für die Philosophie
(Philosophia) gelten, was zum Geld zu sagen war, für Pecunia.
Der Mensch als Wissender ist der philosophus. Eine solche Vorstellung
ist zugleich dynamisch, indem sie die Entwicklung des Einzelnen
beschreibt, und statisch, indem sie diese Entwicklung als unumkehrbaren Prozess versteht. Ohne es ahnen zu können, nahm diese Vorstellung aber schon damals ein Modell des 19. Jahrhunderts vorweg, das die
Universitätsgeschichte der Neuzeit wie kein anderes prägte: die Einheit
von freier Forschung und Lehre zur umfassenden Menschenbildung
nach dem Verständnis der Brüder Humboldt.10 Auch ihnen ging es um
die Universität als Ort des Wissens, nicht etwa als Servicecenter für
Informationsvermittlung.
Haben wir diese Gewissheit verloren? Sind wir in Gefahr, sie in unseren
Zeiten durch beliebige Reformen zu verlieren? Gewiss stand noch die
Weltausstellung in Hannover im Jahr 2000 unter dem erklärten Motto
der „Informationsgesellschaft“. Bald aber wechselte das Paradigma, und
seither dominiert die Wissensgesellschaft den öffentlichen Diskurs,
schon mit den PISA-Studien, ebenfalls seit dem Jahr 2000, dem parallel
anlaufenden Bologna-Prozess zur Hochschulreform, der rasanten Kapitalisierung der Märkte, der unaufhaltsamen Globalisierung der Wirtschaft und deren riskanten Folgen, wie sie nicht erst durch den Kollaps
der internationalen Finanzmärkte seit dem Jahr 2008 deutlich wurden,
der Realität jenes Kampfes der Kulturen, der uns seit 2001 lehrt, wie
wenig wir zuvor von der Welt um ums herum wussten.
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Dass wir in einer Zeit beschleunigten Wandels leben, bestreitet heute
niemand, ebenso wenig, dass die Herausforderungen an unser Wissen
ständig steigen. Ob wir hingegen Zeugen eines Zeitalters sind, mag
dahingestellt sein und kann erst von Nachlebenden beurteilt werden.
Als im Jahr 2000 Johannes Gutenberg (um 1400–1468) als „man of the
millenium“ gefeiert wurde, geschah dies durchaus im Bewusstsein einer
epochalen Schwellenzeit. Ganz zweifellos war doch mit der Erfindung
des Buchdrucks in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, an dessen
Abschluss die Entdeckung Amerikas folgte, eine neue Zeit eingeleitet.
Der 500. Todestag des Christoph Kolumbus hat im Frühjahr 2006 erneut
daran erinnert.11
Faszination des Fortschritts! Nur deshalb, wegen seiner Begeisterung für
die Möglichkeiten wissenschaftlicher Erfassung der Welt, prägte
Francis Bacon (1561–1626) im ausgehenden 16. Jahrhundert sein berühmtes Diktum, Wissen sei Macht. Er meinte damals die neuartigen,
wendigen Kriegsflotten auf aller Herren Meere. Insoweit sind wir heute
mit anderen Herausforderungen konfrontiert. Doch das Grundmuster
ist das gleiche: Wissen als Instrument und Strategie in Zeiten der Globalisierung.
Dass solches Wissen und derartiger Fortschritt Geld kosten, ist auch
gleich geblieben. Mehr als einmal fanden sich Sponsoren für Leute wie
Kolumbus buchstäblich in letzter Minute, und manche Entdeckung
wäre ohne sie nicht geschehen. Warum sie Geld gaben für die Expeditionen anderer, warum sie Finanzen und Vertrauen in deren Visionen
investierten, ob es ideelle oder religiöse Motive waren, herrschaftspolitische oder ökonomische, kann im Nachhinein egal sein. Angesichts des
faktischen Erfolges ist es auch gleichgültig, dass die Entdecker gerade
nicht fanden, was sie suchten, nämlich den Seeweg nach Indien, aber
dafür etwas, das sie nie für möglich gehalten hätten: die Neue Welt. Die
Investitionen haben sich ausgezahlt, und wären weiterhin Wissenshorizonte und Entdeckerneugier, verantwortetes Wissen und ethisches
Handeln maßgeblich geblieben, statt Expansionsstreben und Gewinnsucht auf Kosten der indianischen Bevölkerung, so könnten heute auch
wir Europäer ohne Beschämung von der Entdeckung der Neuen durch
die Alte Welt berichten.
Wissen und Freiheit. Keine Frage!
Um es auf den Punkt zu bringen: Wissen und Wissenschaft dürfen nicht
an externe Bedingungen und Erwartungen geknüpft werden und von
ihnen materiell abhängig sein. Geradezu ideal wäre vielmehr die Vorstellung, dass die Mächtigen der Welt sich zum Besseren aller belehren
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Abbildung 10: Vorlesung.
Vorlage: Nikolaus von Oresme, Übersetzung der Ethik des Aristoteles, in: Franco Cardini, M. T.
Fumagalli Beonio-Brocchieri, Universitäten im Mittelalter. Die europäischen Stätten des Wissens,
München 1991, S. 56, zugleich Vorlesungsszene und Darstellung des Aristoteles als Lehrer.
ließen. Wenn sie selbst Wissende wären, wüssten sie nicht nur, wovon
sie sprechen, sondern scheuten sich auch, dem Wissen und der Wissenschaft Zwang anzutun – ein Ideal, das als solches schon die Darstellung der Könige als Schüler der Weisheit in mittelalterlichen Illustrationen bestimmt hat. Karl V. von Frankreich, der lesende König und
Mäzen, ist in einer von ihm in Auftrag gegebenen Handschrift als Student „seiner“ Universität Paris gezeigt. Mit Mantel und Krone sitzt er im
Hörsaal, und der Universitätslehrer kann niemand anderes sein als Aristoteles selbst, der als Lehrer der Könige verstanden und als „der Philosoph“ bezeichnet wurde. Indem der König selbst Wissender wurde und
war, dies sagt das Bild, wird seine Förderung der Wissenschaft stets zu
deren Bestem wie zum Nutzen des Staates sein und, so dürfen wir sinngemäß ergänzen, niemals die notwendige Freiheit der Wissenschaft
beeinträchtigen.
Geist als Wissen, Wissen und Wissenschaft müssen frei und unabhängig sein, der wissenschaftlichen Verantwortung des Einzelnen verpflichtet und den ethischen Imperativen, die einer rechtsstaatlichen
Ordnung zugrunde liegen. Weil es eine solche Ordnung hier und heute
gibt, sind die Aussichten günstiger denn je. Das Ideal der freien Wis145
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senschaft reicht in weit ältere Zeiten zurück und wurde entwickelt, als
es noch keine im modernen Sinn rechtsstaatliche politische Ordnung
gab.12 Libertas scolastica war bereits das Schlagwort jener Stifts- und
Kathedralschulen des Hochmittelalters, die sich aus dem Milieu der
alten Ordensschulen heraus entwickelt hatten und aus denen wenig später und ganz wesentlich von dem Impetus jener Freiheitsvorstellung
getragen freie Schulen und aus ihnen die abendländische Universität
entstanden. Heute kann es in der Politik vorkommen, dass man ausgerechnet unter dem Motto selbst verwalteter Freiheit die Universität in
die Sackgasse zwischen akademischer Freiheit und finanzieller Abhängigkeit zwingt. Ob diejenigen, die so handeln, von dieser Vorgeschichte
wissen, ob sie die Bedeutung der Libertas scolastica, der akademischen
Freiheit, kennen – und die Bedeutung der rhetorischen Figur des Euphemismus? Dass sie von alledem wissen sollten und, wüssten sie es, verantwortlich nur anders handeln könnten, als sie es tun, dürfte unabweisbar sein. Dass umgekehrt das Wissen in die Politik Einzug hielte, ist
bislang Utopie geblieben. In dem eingangs erwähnten Fragebogen ließ
der Berliner Präsident der Humboldt-Universität wissen, wäre er der
zuständige Ressortminister, so entließe er die Universität durchaus auch
in die Autonomie, werde aber „vorher wie ein Löwe für eine deutliche
Steigerung ihres Etats kämpfen“.13
Vielfach verschränken sich in unseren Tagen Vergangenheit und Gegenwart, wenn es um Geist und Geld an den Universitäten geht. Paris war,
angeblich schon seit dem ausgehenden 11. Jahrhundert, einer der ersten
Orte, an dem sich eine Universität auf dem Weg der Libertas scolastica
entwickelte, nicht von höherer Stelle gegründet, sondern aus Eigeninitiative der Lehrenden und Lernenden. Anders gesagt: Zuerst war
nicht das Geld, sondern der Geist. Deshalb heißen sämtliche Nachfolgeeinrichtungen bis heute Universität, als Universitas magistrorum et
studentium, die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden. Erst 1257
trat in Paris die Stiftung des Universitätskanzlers Robert de Sorbon
hinzu, deretwegen die renommierteste der Pariser Universitäten heute
als Sorbonne bekannt ist. Deshalb wurde im März 2006 von einer symbolischen Bedeutung gesprochen, als es den gegen tiefgreifende Arbeitsmarktreformen protestierenden Pariser Studenten gelang, sich innerhalb der Sorbonne – genau an dem Ort, an dem 900 Jahre zuvor die
europäische Universität entstand – zu verschanzen.14 An deutschen Universitäten tobte derweil, notwendig in föderalen Ordnungen eingehegt,
der Streit um Studiengebühren. Wieder einmal stand Geld für Geist zur
Disposition, nicht als Grundlage und Ermöglichungsbedingung, sondern als Gebühr für Inanspruchnahme.
Geist und Geld sind unvermittelt wieder zum Thema der Tagespolitik
geworden. Wie üblich, werden sie mit Schlagworten anderer Debatten
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verknüpft: Massenuniversität gegenüber Eliteförderung, elementare
Ausbildung gegenüber wissenschaftlicher Vertiefung sowie Verschulung gegenüber Spezialisierung.
Diese Debatten hatten wir schon einmal, nicht nur 1968. Neu ist jetzt
aber, dass alles, wirklich alles unter das Motto der Kosten gestellt wird.
Grundsätzliche Reformen werden den Universitäten aufgezwungen, die
alles ändern sollen, aber nichts kosten dürfen. Studiengänge werden verkürzt, beschleunigt, entwissenschaftlicht, damit die Examina schneller
erreicht werden, und damit die Absolventen, schlechter ausgebildet als
zuvor, auch geringer bezahlt werden können. Mit Gymnasiallehrern dieses neuen Typs sollen die Schulen dann den Herausforderungen des
PISA-Prozesses begegnen, selbstverständlich bei gleichbleibendem Stellenpool, vielleicht einer Aufstockung der Arbeitszeit bis hin zu Ganztagsschulen, noch immer kostenneutral, ohne Mehraufwendungen für
Lehrende und Unterrichtsmaterialien. Entsprechend wird das Missverhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden an den Universitäten nicht
durch Verbesserung der Betreuungsrelation und Neueinstellungen
„behoben“, sondern durch Reduzierung der studentischen Neuzugänge
mittels Numerus clausus. Selbst diese Liste der Mängel lässt sich fortsetzen. Information täte Not, schon die Lektüre eines betriebswirtschaftlichen Handbuchs über Personal- und Finanzmanagement oder
über bedarfsorientierte Qualitätssteuerung könnte helfen. Wenn sich
solche Informationen verdichteten, könnten sie gar zu einem Wissen
führen, das vielleicht zum Einfallstor für Weisheit werden könnte. Doch
davon sind wir gegenwärtig noch weit entfernt.
In unserem Zusammenhang genügt nun nicht der Hinweis auf Robert
de Sorbon und andere, die schon im Mittelalter und bis heute als Stifter
auftraten. Ab dem 13. Jahrhundert waren sämtliche europäische Universitäten von geistlichen oder weltlichen Herren, in Einzelfällen sogar
von einem Konzil oder dem Stadtpatriziat gestiftet worden. Keiner der
Stifter aber beschränkte sich auf eine „private Hochschule“, wie sie
heute existiert. Vielmehr waren die Universitätsstiftungen des Mittelalters freie Körperschaften eigenen Rechts, sie gestiftet zu haben, genügte
dem Stifter und gereichte ihm zur Ehre. Aber es ging auch anders: Stipendien für bedürftige Studierende waren im Mittelalter und in der
Frühen Neuzeit üblich, meist hinsichtlich des Studienortes und des
Faches gebunden. Stiftungsprofessuren neuen Typs prägen hingegen
das Mäzenatentum unserer Tage: Geld für Geist, Pecunia für Philosophia.
Es versteht sich dabei, dass sich Auftragsforschung wohl in den Forschungsabteilungen großer Unternehmen abspielen kann und über
Werkverträge auch an der Universität, dass eine Universität insgesamt
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aber keine Auftragsinstitution sein darf. Wissenschaft ohne Freiheit ist
keine Wissenschaft. Ebenso versteht sich, dass Wissenschaft und
Erkenntnis sich nicht nach dem Parameter finanzieller Einträglichkeit
berechnen lassen. Aus Erkenntnis kann Gewinn fließen, wird es aber in
jedem Fall erst vermittelt tun und vielfach auch gar nicht. Wissenschaft
findet ihre Berechtigung in sich, sie ist Teil des Wissens der Gesellschaft
und gehört zu seiner Kultur. Nach den heute formulierten Regeln guter
wissenschaftlicher Praxis entstanden, bedeuten Forschungsergebnisse
immer Erkenntnisgewinn, später ökonomisch nutzbar oder nicht – aber
in jedem Fall in Freiheit ermöglicht. Die Gesellschaft ist bei alledem
nicht nur die Privatwirtschaft, sondern auch – und das in erster Linie –
der Staat als die politische Repräsentation der Gesellschaft.
Wenn der Staat freilich – bewusst oder unbewusst – gegensteuert, indem
er statt ergebnis- oder auftragsbezogener Forschung eine Förderung von
Antragstheatralik und bloßer Prospektivität stellt, die von einer sowohl
formalen wie inhaltlichen Sicherung der geförderten Ergebnisse
absieht, so ist wenig gewonnen. Sogar manche Umsetzungen der politisch zunächst mit gutem Grund angestoßenen sogenannten Exzellenzinitiative haben in den vergangenen Jahren dadurch mehr Schaden als
Nutzen für die wissenschaftliche Kultur und die Integrität der Universitäten angerichtet. Dabei sind dann weder die Notwendigkeit einer
nachhaltig planenden Investition des Geldes noch diejenigen einer verantwortlichen Förderung des „Geistes“ zu ihrem Recht gekommen.
Noch etwas kommt hinzu: „Entlastend ist auch das transparente System
zur Berechnung des Personalbedarfs. Steigen die Studierendenzahlen,
haben die Institute bald Anspruch auf mehr Personal“, so berichtete
2006 ein Hochschullehrer, der nach Jahren in Amsterdam nach Deutschland zurückkehrte.15 Mitunter genügt ein Blick in Nachbars Garten, es
muss nicht immer der beliebte Vergleich mit den USA sein. Nur beiläufig sei angemerkt, dass in den Niederlanden, ganz wie in den US-amerikanischen Eliteuniversitäten, ein „ausgewogenes Verhältnis von Forschung und Lehre“ zu loben ist. Davon sind jedenfalls die großen und
führenden deutschen Universitäten inzwischen weit entfernt, und sie
werden durch die erwähnten Fehlentwicklungen der auf vermeintliche
Exzellenzproduktion zielenden Großverbundforschung der vergangenen Jahre noch weiter davon fortgetrieben. „Humboldt ist tot. Aber
Exzellenzbeschwörungen und Benchmarking bieten keine Substanz für
einen neuen Bildungsbegriff, der die Universitäten angemessen organisieren könnte“, lautet die These Peter Weingarts in einem im Jahr 2009
publizierten Essayband zu den Herausforderungen heutiger Bildungsförderung.16
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Geisterstunde
Abbildung 11: Gold und Magie.
Aurora consurgens, frühes 15. Jahrhundert. Vorlage: Alexaner Roob, Alchemie & Mystik. Das
hermetische Museum, Köln 1996, S. 207.
Geist ohne Geld und doch kein armer Poet? Verfolgen wir diese Spur
zuletzt weiter. „Am Gelde hängt, zum Gelde drängt doch alles“, so wird
bekanntlich Johann Wolfgang von Goethes (1749–1832) Faust zitiert.
Beliebig auf Werbebroschüren für Anleger, Analysten und Abenteurer
verwendet, findet dieses Motto spontan Zustimmung. Dabei stört es
wenig, dass Goethe eigentlich von „Gold“ (nicht „Geld“) schreibt.17 Die
Goldsynthese war das Thema der mittelalterlichen Magie, und um sie
geht es in Goethes Faust. Wer Gold herstellen könnte, würde grenzenlosen Reichtum finden.
Ein wenig davon schwingt wohl noch immer mit, wenn in unseren
Tagen der Wert des Goldes wieder steigt.18 Auch Doktor Faust erforscht
die Magie des Goldmachens, und er erklärt seinen Eifer, ganz modern,
mit Geldmangel: „Auch hab ich weder Gut noch Geld, noch Ehr noch
Herrlichkeit der Welt, es möchte kein Hund so länger leben, drum hab
ich mich der Magie ergeben.“19 Goethes Faust ist zweifellos die berühmteste Bearbeitung eines allerdings weit älteren Motivs: Erstmals im späten 16. Jahrhundert wurde die Erzähltradition um den Doktor Faustus
zur Literatur verdichtet. Sie geht zurück auf einen um die Mitte oder im
letzten Viertel des 15. Jahrhunderts geborenen und 1541 verstorbenen
Astrologen Johann Faust, der im Ansehen stand, magische Künste zu
beherrschen und die Zukunft deuten zu können.
Nicht ernsthaft kommt Magie heute als Ausweg in Frage, wenn dem
Geist Geld fehlt. Oder ist es doch kein Zufall, dass die Forschung des Jahres 2005 zwei Sammelbände zu unserem Thema bietet, den einen über
„Geld im Mittelalter“, den anderen über „Spiritualität und Wissenschaft“?20 Letzterer, entstanden an der Universität Bern, ist einem bri-
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santen Anliegen verpflichtet, nämlich der Fortführung des Gespräches
zwischen Universitätswissenschaft und Gesellschaft.
Für beide Seiten sollte dieses Gespräch wichtig sein, weil beide aufeinander angewiesen sind: Keine Wissenschaft ohne gesellschaftliche Förderung, kein gesellschaftlicher Fortschritt ohne freie Wissenschaft. Sie
stehen einander ergänzend gegenüber wie Geist und Geld oder Philosophia und Pecunia. Es gibt Entsprechungen und Unterschiede zwischen ihnen, ihren Trägern und deren Interessen, aber es besteht eine
wesentliche Gemeinsamkeit: diejenige der gleichzeitigen Zeitgenossenschaft. Beide Seiten sind gleichermaßen und zusammen den Herausforderungen ihrer Zeit ausgesetzt.
Als der Soziologe Max Weber 1919 seinen Traktat „Wissenschaft als
Beruf“ schrieb, klagte er über die materielle Unsicherheit der jungen
Universitätsabsolventen und über die Nachteile des deutschen akademischen Karrieresystems gegenüber anderen. Das ist das eine, was er zu
sagen hatte, und darin ließe sich vieles heute ebenso unterschreiben.
Zugleich mahnte er aber die Einsicht an, dass die Wissenschaft ein
„fachlich betriebener Beruf“ geworden sei, der „Selbstbesinnung“ und
„der Erkenntnis tatsächlicher Zusammenhänge“ verpflichtet. Nicht länger sei Wissenschaft auf der Suche nach Heilsoffenbarungen.21 Moderne
Theorie würde hier gewiss einen Parameterwechsel konstatieren – und
dann nicht umhin können, einen erneuten Wandel festzustellen, und
das nach den Irrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, angesichts der fortwirkenden Konflikte um die Verantwortbarkeit von Nuklearforschung und am Beginn des dritten Jahrtausends unter neuen
Dimensionen der Herausforderung der Ethik durch den wissenschaftlichen Fortschritt. Knapp hundert Jahre nach Max Weber haben wir
gelernt, der „Erkenntnis tatsächlicher Zusammenhänge“ durch die Wissenschaft vielfach zu misstrauen. Stattdessen entdecken wir wieder,
was Weber einst für endgültig überwunden ansah: das „Nachdenken
von Weisen ... über den Sinn der Welt“, heute als Forschung an den Energieressourcen, an der Nachhaltigkeit, an der kulturellen Identität und
der Zukunftsfähigkeit aus Geschichtlichkeit in einer vielsprachigen,
multikulturellen Welt.
Mit diesem Angebot begegnet der Geist dem Geld auf dem Markt der
Nachfrage. Wer spielt heute die königliche Rolle des gebildeten, interessierten Mäzens und Förderers der Wissenschaften, den wir auf unseren Abbildungen als Gelehrten in seiner Studierstube, aber auch als
Hörer in der Vorlesung gesehen haben?
Unsere Abbildungen zeigten den König von Frankreich aus dem 14.
Jahrhundert. Bereits zwei Jahrhunderte zuvor hatten sich seine Vorgänger jene Residenzkapelle bauen lassen, die noch heute, jetzt auf
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dem Areal des französischen Finanzministeriums, eine vielbestaunte
Sehenswürdigkeit ist.
Andere, noch eindrucksvollere Beispiele ließen sich für die abschließende Aussage heranziehen: Wissen und Kunst, Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und Forschung hatten im Mittelalter ihren Sitz im
Leben, ihre Bedeutung für die zeitgenössische Gesellschaft. Um deren
Bestimmung mag gestritten worden sein, an der Tatsache selbst konnte
es keinen Zweifel geben – und somit auch nicht daran, dass der Geist
sein Geld wert ist. Dies zu erweisen, war und ist eine Sache der Gegenseitigkeit und fordert selbstverständlich auch die Vertreter des Wissens
(des Geistes, der Philosophia) heraus. Sie müssen ihrer Gegenseite klarmachen, was genau sie für deren Interessen leisten können und wollen
und unter welchen Bedingungen ihre Leistung zu haben ist. Dann wird
schnell verständlich, dass die materiellen Bedingungen der klassische
Fall einer Conditio sine qua non (unentbehrlichen Voraussetzung) sind.
Gewiss, die Synergie und Kommunikation zwischen Geist und Geld
erfordert selbst auch Engagement. Füllhörner gibt es bekanntlich nur
im Märchen, und der schöne Fluss des Geldes, eindrücklich in Ausstellungen zur materiellen Kultur inszeniert, entsteht gewöhnlich durch
Abbildung 12: Münzschatz.
Vorlage: Schatzkammer von Courpiac. Silbermünzen in irdenem Topf, 14. Jahrhundert, Musée
d´Aquitaine, in: Wege des Mittelalters (wie oben), S. 206.
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Sturz und Bruch des tönernen Gefäßes, in dem die Münzen zuvor nach
der Art eines Schatzes aufbewahrt waren.
Was Wissenschaft und Forschung, der Geist, jetzt im Diskurs um das
Geld zu leisten haben, ist wohl zunächst eine Selbstverortung im
Bewusstsein, sich der „Herausforderung im 21. Jahrhundert“ stellen zu
müssen, aber auch zu können. In dem hier bereits zitierten Essayband
gleichen Titels von 2009 zur Situation der Bildung resümiert Peter Strohschneider, der derzeitige Vorsitzende des Wissenschaftsrates, den Diskussionsstand in zwei Punkten: Es gehe heute um einen Bildungsbegriff,
der einerseits „Wissensorganisationswissen“ einschließe und andererseits einem Eigensinn gegenüber diffusen Verfügungsansprüchen Raum
lasse.22 Unser Nachdenken hat begonnen und die Diskussion wird weitergehen.
Philosophia und Pecunia mussten zu allen Zeiten zeigen, wie sie zusammenpassen. Dass sie aber zusammenpassen und einander zu besserem,
höherem Zweck ergänzen, war im Mittelalter unstrittig. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Grundkonsens zwischen Geist und Geld auch heute und
künftig nicht aufgegeben wird, von keiner Seite.
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Fußnoten
1 Zu Ende gedacht, in: Forschung & Lehre 6 (2006), S. 363.
2 Volkswagen AG: Nachhaltigkeitsbericht 2005/2006. Generationen bewegen, Wolfsburg
2005, S. 16f.
3 Wolfgang Uchatius: Lohnt sich das? Drei Millionen Menschen in Deutschland haben
eine Arbeit – und sind trotzdem arm. Unter ihnen sind Küchengehilfen genauso wie
Handwerker und Lehrer, in: DIE ZEIT vom 11. Mai 2006, S. 23f. Das Titelfoto zeigt einen
einfach, aber korrekt gekleideten Mann als Bettler, mit einem Schild „Habe Arbeit –
brauche Geld“.
4 Hartmut Kistenfeger: Eine Woche für die Partei. Paul Kirchhof über Konsequenzen aus
schmerzhaften Wahlkampferfahrungen als parteiloser Professor, in: Focus vom 29. Mai
2006, S. 36f.
5 Handelsblatt. Karriere & Management, 6 Bände, Verlag Campus. Werbeanzeige „Große
Karriere zum kleinen Preis – die Bestseller der Karriereliteratur“, in: Focus vom 29. Mai
2006, S. 125.
6 Siehe Anmerkung 5.
7 Vgl. Mario Biagioli: Galilei, courtier, Chicago u.a. 1993 (deutsche Übersetzung, Frankfurt am Main 1999).
8 Kurt-Martin Mayer: „Stetiger Wettbewerb“. Der neue Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), Matthias Kleiner, will die Konkurrenz der Universitäten
fördern, in: Focus vom 3. Juni 2006, S. 46.
9 Richardus de Ely: Dialogus de Scaccario. Dialog über das Schatzamt (Die Bibliothek der
Alten Welt. Reihe Antike und Humanismus), hg. von Marianne Siegrist, München 1963,
das Zitat: Praefatio S. 4f.
10 Vgl. zuletzt: Humboldt International. Der Export des deutschen Universitätsmodells im
19. und 20. Jahrhundert, hg. von Rainer C. Schwinges (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte), Basel 2001.
11 Sten Nadolny: Der Ruhm und die Schande. Er ist der „Entdecker“ schlechthin, sein
größtes Abenteuer veränderte die Welt. Doch so bedeutend sein Erfolg, so bitter war
sein Versagen. Zum 500. Todestag des Christoph Kolumbus ein Porträt des legendären
Seefahrers, in: DIE ZEIT vom 11. Mai 2006, S. 98. Versunkene Welten. Tauchfahrten in
die Vergangenheit (Spiegel special. Das Magazin zum Thema, Nr. 3), 2006.
12 Vgl. Wissenschaftsfreiheit in Vergangenheit und Gegenwart, hg. von Rainer A. Müller,
Rainer C. Schwinges (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte), Basel 2008.
13 Zu Ende gedacht in: Forschung & Lehre 6 (2006), S. 363.
14 Joseph Hanimann: Pflasterstein. Alles soll bleiben, wie es ist: Der Aufstand an der Sorbonne, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. März 2006 (Feuilleton).
15 Drei Fragen an Christopher Balme, in: Forschung & Lehre 5 (2006), S. 283.
16 Peter Weingart: Humboldt im Ranking, in: Bildung? Bildung! 26 Thesen zur Bildung
als Herausforderung im 21. Jahrhundert, hg. von Andreas Schlüter, Peter Strohschneider, Berlin 2009, S. 249–259.
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17 Johann Wolfgang von Goethe: Faust I, Abend, letzter Auftritt Margarete.
18 Christian Euler, Johann Bern, Andreas Körner, Frank Räther: Edler Staub und Schweiß.
Gold feiert ein glänzendes Comeback. Weil die Förderung sinkt, dürfte der Preis des
Edelmetalls sogar noch deutlich höher steigen, in: Focus vom 3. Juni 2006, S. 146–149.
19 Johann Wolfgang von Goethe: Faust I, erster Auftritt Faust.
20 Geld im Mittelalter. Wahrnehmung, Bewertung, Symbole, hg. von Klaus Grubmüller,
Markus Stock, Darmstadt 2005. Spiritualität und Wissenschaft, hg. von Samuel Leutwyler, Markus Nägeli (Forum für Universität und Gesellschaft), Bern 2005.
21 Max Weber: Wissenschaft als Beruf (1919), in: Über das Studium der Geschichte, hg. von
Wolfgang Hardtwig, München 1990, S. 195–227, die folgenden Zitate S. 223.
22 Peter Strohschneider: Bildung? Bildung! – Eine Einführung, in: Bildung? Bildung! 26
Thesen zur Bildung als Herausforderung im 21. Jahrhundert, hg. von Andreas Schlüter, Peter Strohschneider, Berlin 2009, S. 15–21, hier S. 19. Andere Beiträge desselben
Bandes zeigen den ideellen Nutzen und die funktionale Unverzichtbarkeit einer Einbeziehung von Humanität und ethischen Imperativen in den aktuellen Diskurs. Der
Artikel des Mediävisten Gert Melville akzentuiert die Perspektiven, die das Wissen um
die Geschichte des Mittelalters dabei bieten kann.
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„Mehr Geld – mehr Gold“ (Raffael)?
Über das Verhältnis des Künstlers zum Geld
von der Renaissance bis heute
Annette Kehnel
Mit Beiträgen von Thomas Mann, Heinrich Mann, Ernst Zahn, Leo Frobenius,
Lesser Ury, Alfred Döblin, Anja Schindler, Silja von Kriegstein, Iris Stephan, Ulrike
Draesner, Franziska Gottwald
1
„Kunst oder Geld?“
Eine kurze Erläuterung zur Ausgangsfrage
Dass Kunst und Reichtum zusammengehören, war die Überzeugung
aller berühmten Künstler der Renaissance (Thoenes, Raffael, S. 69). Dennoch irritiert Raffaels Devise, nach der die Qualität seiner Werke (Gold)
von der Bezahlung (Geld) abhänge. Ob das Zitat „Mehr Geld – mehr
Gold“ im Sinne des Historikers methodisch abgesichert nachzuweisen,
also in den zeitgenössischen Quellen überliefert ist, diese Frage gab
zunächst den Ausschlag für die folgenden Überlegungen.
Daraus entwickelte sich die weiterführende Frage nach dem Verhältnis
des Künstlers zum Geld. Kann sich die Fähigkeit zum wirtschaftlichen
Denken und Handeln mit der Fähigkeit zum künstlerischen Schaffen
decken und verstehen?
Wenn ja, unter welchen Bedingungen (zu Zeiten Raffaels gibt es zum
Investment in die Kultur keine Alternative für den Unternehmer, der seinen Erfolg zeigen möchte), in welchen personellen Konstruktionen (z.B.
arbeitsteilig, jeder erfolgreiche Unternehmer oder Manager stattet sich
mit einem „personal artist“ aus) und zu welchem Preis (lässt sich der
wahre Künstler wirklich zur Auftragsarbeit verpflichten?)?
Wenn nein, dann müsste man fragen, unter welchen Bedingungen ein
fruchtbares Miteinander möglich werden kann. Gute Kunst und gut vermarktbare Kunst sind keine Gegensätze. Aber müssen wir deshalb von
einem guten Künstler auch die Fähigkeit zur Vermarktung seines eigenen Werkes erwarten? Kann man im Falle der Kunst auf die Selbstregulierungskräfte des Marktes setzen? Lässt man dem Markt freien Lauf,
dann behauptet sich nicht die beste Kunst, sondern die beste Marktstrategie. Dennoch lebt die Kunst maßgeblich davon, dass sie wahrge155
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nommen wird, dass sie „vermarktet“ wird, dass die Menschen darüber
reden, sich über sie unterhalten, sie anschauen, lesen, hören und kaufen.
Wie also verhält sich der Künstler in diesem Zwiespalt, in seiner Rolle
als mehr oder weniger unfreiwilliger Marktteilnehmer? Was bedeutet
Geld für einen Berufsstand, der keine materiellen, sondern ideelle Werte
schafft? Was der Künstler anbietet, ist zunächst weder Dienstleistung
noch Produkt. Er verkauft nicht sein Know-how, nicht die Aussicht auf
Gewinne und auch keine Rezepte gegen tödliche Krankheiten. Was er
anbieten kann, sind Ideen und Ideale, Fragen und Provokationen, Utopien und Alternativen, Schönheit, Außeralltäglichkeit, Aufbegehren,
Freiräume, Begeisterung und Leidenschaft. Vielleicht genauer noch, die
Aussicht auf Begeisterung und Leidenschaft, und immer auch ein bisschen Aussicht auf Unsterblichkeit.
Agostino Chigi, einer der wichtigsten Auftraggeber Raffaels, hat bis
heute „überlebt“. Nicht in seiner Eigenschaft als der international erfolgreichste Banker seiner Zeit – was er zweifellos war. Den Nachruhm verdankt er vielmehr seiner Tätigkeit als großzügiger Förderer der bedeutendsten Renaissancekünstler Roms. Seine Kunstförderung wiederum
bestand nicht in großzügigem Sponsoring, sondern darin, jenen Künstlern, die er vorfand und die er gut fand, lukrative Aufträge zu verschaffen. Er gab Kunst in Auftrag. Er bot Künstlern Gestaltungsräume an:
Mauern, Altäre, Wände, Decken, Geld. Er behandelte Künstler wie
Geschäftspartner und bezahlte sie nach ihrer Leistung dafür, dass sie
Schönheit in seinen Häusern, seinen Kirchen und seinen Gemächern
produzierten – dafür, dass sie seinen Glanz mehrten. Er bezahlte gut.
Vor diesem Hintergrund wurde die folgende, epochenübergreifend
angelegte „Künstlerbefragung“ zum Thema Geld durchgeführt. Was
bedeutet Geld für einen Künstler? Welche Einstellung hat er zum Geld?
Schon diese Frage setzt voraus, dass im Bereich der Kunst Sonderkonditionen gelten. Sie impliziert, dass der Künstler eigentlich einer „geldfreien“ Welt angehöre oder dass sich zumindest seine Einstellung zum
Geld von der des regulären Marktteilnehmers unterscheide und dass ein
Anspruch auf materielle Entlohnung im Bereich der Kunst nicht selbstverständlich sei.
Des Künstlers Einstellung zum Geld? Negativ – positiv – indifferent? Die
hier zusammengestellten Beispiele präsentieren Vielfalt. Immerhin
scheinen sich alle wenigstens darüber einig zu sein, dass der Künstler
natürlich essen muss, wenn er Kunst produzieren soll. Damit sind
jedoch die Grenzen der gemeinsamen Überzeugungen schon ausgereizt.
Kann der Künstler den Anspruch vertreten, mit seiner Kunst Gewinne
zu erwirtschaften? Raffael scheint im 16. Jahrhundert diese Frage zu
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bejahen, ohne sie je ernsthaft gestellt zu haben. Heinrich Heines Stellungnahmen deuten hin auf ein chronisches Leiden des Künstlers an seiner Unterlegenheit, oder – sagen wir – auf ein Leiden an mangelnder
Wertschätzung des Geistes in der geldregierten Welt des 19. Jahrhunderts. Aus dem frühen 20. Jahrhundert liegen erstmals direkte Selbstzeugnisse in Form von Interviews vor. Künstler und Wissenschaftler wie
Thomas Mann, Leo Frobenius, Alfred Döblin wurden 1921 nach ihrem
Verhältnis zum Geld befragt (siehe unten die Auszüge aus der Vossischen
Zeitung von 1921): Die Antworten dieser Männer lauten anders, als Verfechter einer Sondermoral des Geistes erwarten dürften. Mit einer Serie
von Künstlerinnen-Interviews aus dem frühen 21. Jahrhundert (April
2009) schließt dieser Beitrag. Soll, darf oder muss sich die Kunst erfolgreich am Markt platzieren, wenn sie überleben möchte? Die Stellungnahmen aus der Gegenwart scheinen den vom Organisationstheoretiker
Alfred Kieser geäußerten Verdacht zu bestätigen, dass im Bereich der
Kunst auf die Selbstregulierungskräfte des Marktes kein Verlass ist.
2
Raffaello Santi:„Mehr Geld – mehr Gold“
Zurück zur Ausgangsfrage und um es gleich vorwegzunehmen, „Mehr
Geld – mehr Gold!“ war nicht das Malprinzip Raffaels. Jedenfalls lässt
sich die Formel nicht als Zitat in der Überlieferung verifizieren; nicht
in Giorgio Vasaris Lebensbeschreibung, nicht in Raffaels Schriften, seinen Briefen oder Sonetten (Raffaello, Scritti, ed. Camesasca). Wir finden
es nicht in jenen 360 zeitgenössischen und literarischen Dokumenten
zum Leben Raffaels, die Vincenzo Golzio 1936 zusammenstellte, und
auch nicht in John Shearmans im Jahr 2003 erschienenem zweibändigen Kompendium, das mehr als 1.000 frühneuzeitliche Quellen zu Raffael umfasst. Fest steht jedoch – und dieses Wissen hat Giorgio Vasari
kanonisiert –, dass Raffael bereits zu Lebzeiten von seinen Zeitgenossen
mit höchster Anerkennung bedacht wurde. So liebreich war sein Wesen,
so angenehm war er im Umgang mit seinen Mitmenschen, dass ihn
jeder liebte. Zum nachahmenswerten Exempel erhebt ihn Vasari aufgrund dieser Eigenschaften: Die Natur, so zu lesen im Vorwort zur
Lebensbeschreibung Raffaels, die Natur habe den meisten Künstlern
eine gewisse Tollheit und Wildheit mitgegeben, habe ihren Charakter
mit Düsternis und Laster beschwert. In Raffael dagegen erstrahlten
Anmut, Fleiß, Schönheit, Bescheidenheit und beste Umgangsformen
obendrein. Deshalb dürfe man behaupten, dass
„diejenigen, die so außergewöhnliche Gaben ihr eigen nennen, wie man sie in Raffael
von Urbino sah, nicht einfach nur Menschen sind, sondern – wenn es erlaubt ist, dies
so zu sagen – sterbliche Götter“ (Vasari, Leben des Raffael, ed. Gründler, S. 19).
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Vasaris „sterblicher Gott“ war zugleich erfolgreich und geschäftstüchtig in seiner Karriere als Künstler.1 1483 in Urbino geboren, geht
Raffael bei Pietro Perugino in die Lehre. Er arbeitet als 20-Jähriger in
Perugia im Auftrag von Atalanta Baglioni (Grablegung Christi), dekoriert Altäre, malt unzählige Madonnenbilder (mehr als 20 Museen
weltweit besitzen heute Madonnenbilder von Raffael), bevor er nach
Rom umzieht und als 25-Jähriger im Jahr 1508 in den Dienst Papst
Julius II. tritt und dort die Gestaltung der Stanza della Segnatura
beginnt (Die Disputa, Der Parnass, Die Schule von Athen, Justitia). Ein
Jahr später betraut man ihn mit dem lukrativen Hofamt des päpstlichen Brevenschreibers.
Offensichtlich kann er schon in jungen Jahren gut von seiner Kunst
leben. Immer hat er mehrere Auftraggeber gleichzeitig: Für den päpstlichen Bankier Agostino Chigi malt er die Galatea (1511) und gestaltet
dessen Villa Farnesina in Trastevere. Für Elena Duglioli dall’Olio in Bologna malt er die Verzückung der Heiligen Cäcilie, für Kardinal Bibbiena
gestaltet er die stufetta und die longetta. Für Kardinal Guido de’ Medici
arbeitet er seit 1517 an der Verklärung. Er porträtiert Julius II., malt –
vielleicht für dessen Grabmal – die Sixtinische Madonna, porträtiert später Papst Leo X. mit den Kardinälen Giulio de’ Medici und Luigi de’ Rossi;
fertigt die Kartons für die in Flandern gewebten Wandteppiche in der
Sixtinischen Kapelle und später auch Vorlagen für die Gestaltung der
Sala di Costantino. Die Auftragslage ist so gut, dass Raffael einen festen
und immer größer werdenden Stab von Mitarbeitern beschäftigt, die
seine Entwürfe realisieren. Am 1. April 1514 ernennt Leo X. den 30-Jährigen in der Nachfolge Bramantes zum leitenden Architekten von Sankt
Peter.
Als Raffael am Karfreitag, den 6. April 1520, seinem 37. Geburtstag, an
Fieber stirbt, weint ganz Rom. Seinem eigenen Wunsch entsprechend,
wird er im Pantheon beigesetzt, eine Ehre, die weder Michelangelo noch
Leonardo da Vinci zuteil werden sollte. „Mit gutem Grund“, so endet
Vasari seine Biografie,
„hätte die Malerei, als dieser edle Künstler starb, gleich selbst mit sterben können,
da sie, als er die Augen schloss, fast blind wurde. Nun bleibt uns, die nach ihm verblieben sind, nur, die gute, sogar vortreffliche Weise nachzuahmen, die er uns als
Beispiel hinterlassen hat (…)“ (Vasari, Leben des Raffael, ed. Gründler, S. 84).
Ein kometenhafter Aufstieg, ein kurzes, aber fast ungehörig produktives Leben. Weniger pathetisch als Vasari umschreibt Christof Thoenes
Raffaels Rolle als den
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„Klassiker der neuzeitlichen Kunst, der (…) ein für alle Mal festgelegt hat, wie ein
Mensch auszusehen habe. Schönheit und Normalität fallen für ihn in eins: Dies hat
Raffaels Ruhm begründet und zugleich Widerstand provoziert. Denn das Normale,
durch die Jahrhunderte repetiert, wird schließlich langweilig, ja lästig. Aber auch
Klischees mussten einmal erfunden werden, und dies ist die Rolle, in der wir Raffael sehen sollten.“ (Thoenes, Raffael, S. 7).
Hier wie da gilt, dass das Werk Raffaels bis heute fasziniert und in seinen Bann zieht. Andererseits gilt auch, dass Raffael bekanntlich kein
Einzelfall war. Künstlerische Größen gab es im frühen 16. Jahrhundert
in ganz Europa. In den Jahren 1512 und 1513, als Raffael die Sixtinische
Madonna malte, schuf Matthias Grünewald den Isenheimer Altar, Albrecht Dürer malte etwa zeitgleich „Das Bildnis seiner Mutter“ (1514),
Michelangelo hatte 1512 die Arbeit an den Deckenfresken der Sixtinischen Kapelle beendet, aus dem Jahr 1513 datiert Lucas Cranachs
Ölgemälde „Adam und Eva“, und Leonardo da Vinci beendete die Heilige
Anna Selbdritt – ein Klima der Fülle. Umso provozierender ist die
Behauptung, dass im Fall Raffaels dieses Übermaß an Kreativität und
Fülle aus dem Prinzip „Mehr Geld – mehr Gold“ erwachsen sei. Lässt sich
diese Provokation historisch plausibel erklären?
Es könnte indirekt argumentiert werden: Was aus den Quellen zum
Leben Raffaels deutlich hervorgeht, ist ein gewisser Pragmatismus. Aus
den gut und zahlreich überlieferten Rechnungen, Zahlungsanweisungen (mandati), Quittungen, aus seinem Testament und aus der Korrespondenz der Mäzene kann geschlossen werden, dass sich Raffael für
seine Kunst ordentlich bezahlen ließ (Shearman, Raffael in Early
Modern Sources, S. 1523–1536). Auch wenn ohne Zweifel manche Zahlungsanweisung erst im Nachhinein fingiert wurde, um durch Zuschreibung an Raffael ein Werk aufzuwerten – wie etwa im Fall einer Kopie
der „Madonna del Cardellino“ (ibid., S. 1467) –, so sprechen doch die
Quellen eine eindeutige Sprache. Raffael war ein Künstler, der nicht nur
von seiner Kunst leben konnte, sondern damit reich wurde.
Die Auftragslage war hervorragend, eine gut organisierte Werkstatt
unterstützte die Produktion, und im Ergebnis kamen Gewinne
zustande, die Raffael zu Vermögen verhalfen. Ein Genie mit Geschäftssinn! Der hochbetagte Michelangelo soll über ihn gesagt haben, dass
nicht sein Genie, sondern sein Fleiß die Ursache seiner Erfolge gewesen
sei (Rosenberger, Raffael, S. xxxiv). Obendrein war er ein Organisationstalent. Bei Vasari wird gezielt der Eindruck erweckt, als habe Raffael
es in ganz einmaliger Art und Weise verstanden, Menschen für sich einzunehmen und für sich arbeiten zu lassen, was heute unter dem Stichwort „Mitarbeitermotivation“ abgehandelt würde:
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„Unsere Künstler nämlich (…) legten, wenn sie mit Raffael ans Werk gingen, einen
solchen Zusammenhalt und eine solche Eintracht an den Tag, dass sich alle schlechten Launen in seiner Gegenwart abschwächten und dass sie jeden gemeinen und
niederen Gedanken vergaßen. Eine solche Eintracht wie zu seiner Zeit gab es später nie wieder. Und dies geschah, weil sie durch seine Höflichkeit und seine Kunst
und von seinem Genie seiner guten Natur, welche so voller Liebenswürdigkeit und
so angefüllt mit Mitleid war, so überwältigt waren, dass er bis zu den Tieren und
von den Menschen verehrt wurde“ (Vasari, Leben des Raffael, ed. Gründler,
S. 85).
Kombiniert mit den Idealen des Hofmanns verleiht ihm diese Fähigkeit
geradezu übermenschliche Kräfte, die auch sein Nachleben bestimmen
sollten. Die Mitarbeiter seiner Werkstatt waren garzoni, gioveni, creati,
Schüler, Angestellte, Maler, Prokuratoren etc., die in ganz verschiedenen
Bereichen für ihn tätig waren. Sie malten für ihn (Shearman, Raffael in
Early Modern Sources, S. 357, S. 393, S. 438), sie begleiteten seine Bilder
auf Transporten (ibid., S. 345, S. 351), trieben für ihn Geld ein (ibid.,
S. 111f.), tätigten Farbeinkäufe (ibid., S. 373), sie erledigten Bankgeschäfte und kauften Häuser für ihn (ibid., S. 213), und sie vollendeten
nach Raffaels Tod seine unfertigen Arbeiten, den Sala di Costantino, den
Sieg über Maxentius im Vatikan (ibid., S. 606). Auch hatten seine Mitarbeiter nach dem Tod Raffaels gute „Berufsaussichten“. Im Dezember
1521, fast zwei Jahre nach seinem Tod, nimmt Federico Gonzaga in Lodi
einen garzoni aus Raffaels Werkstatt in seinen Dienst (ibid., S. 710), ein
Architekt aus seiner Schule wird 1522 von Alessandro Nerio eingestellt
(ibid, S. 723). Ein großer und erfolgreicher Mitarbeiterkreis – dies deckt
sich mit Vasaris Behauptung, dass man Raffael nie zu Hofe gehen sah,
ohne die Begleitung von 50 Malern, alle tüchtig und gut, die ihm Gesellschaft leisteten, um ihm die Ehre zu erweisen. Auch in dieser Hinsicht
also lebte er in der Tat nicht als Maler, sondern wie ein Fürst.
Reichen aber diese historisch plausiblen Rekonstruktionen der Karriere
eines erfolgreichen und geschäftstüchtigen Renaissance-Künstlers aus,
diesem Genie mit dem Malprinzip „Mehr Geld – mehr Gold!“ ökonomisches Kalkül zu unterstellen? Bei den bisher genannten historischen Quellen handelt es sich überwiegend um solche, die nur ganz wenige und indirekte Schlüsse über die innere Haltung Raffaels erlauben. Was kann
man aus einer Rechnung, einem Zahlungsauftrag oder einer Gehaltsabrechnung über die innere Einstellung und die Prinzipien des Empfängers
schließen? Bestenfalls lassen sich bestehende Vermutungen damit plausibel erklären. Ein einziges Dokument ist überliefert, das unmittelbare
Einblicke in die innere Verfassung und Motivation Raffaels gewähren
könnte, ein Brief Raffaels, geschrieben an seinen Onkel Simone Ciarla aus
Urbino am 1. Juli 1514.
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Der Brief ist der Forschung geläufig, seine Echtheit wird nicht in Zweifel gezogen. Seit drei Monaten war der 30-jährige Raffael leitender Architekt von St. Peter und schreibt nun über seine neue Position in Rom an
den Onkel im heimatlichen Urbino. Anlass des Briefes jedoch sind
gescheiterte Heiratspläne. Raffael versucht zu begründen, dass es sehr
vernünftig von ihm war, die vom Onkel in Urbino vorgesehene Braut
nicht zu ehelichen. Er ist sichtlich zufrieden mit seinem Junggesellendasein und kommt zu dem Schluss, dass er im Ehestand nie in die Position gelangt wäre, in der er sich jetzt befindet: als nachgefragter, hervorragend verdienender Künstler in gesellschaftlicher Spitzenposition
in Rom. Raffael schildert seinem Patenonkel unbekümmert und vertraut, mit fast kindlichem Vergnügen, die Vorteile und Erfolge seiner
römischen Existenz:2
„Innigst, wie ein Vater Geliebter! Ich habe einen mir sehr lieben Brief von Euch
erhalten, worin Ihr mir zu verstehen gebt, dass Ihr nicht gegen mich erzürnt seid;
daran würdet Ihr auch wahrlich unrecht tun, wenn Ihr bedenkt, wie lästig das
Schreiben ist, wenn nicht ein wichtiger Grund dazu vorliegt; da dies nun jetzt der
Fall ist, antworte ich Euch, um Euch vollständig zu sagen, was ich vermag um Euch
aufzuklären.
Was zuerst das Heiraten anbelangt, so erwidre ich Euch, dass ich sehr zufrieden
bin und Gott täglich dafür danke, weder diejenige, die Ihr mir zuerst geben wolltet, noch irgend eine Andere genommen zu haben; und darin bin ich weiser als
Ihr gewesen, die Ihr sie mir geben wolltet. Ich bin überzeugt, Ihr sehet jetzt auch
ein, dass ich sonst nicht auf der Stelle wäre, wo ich jetzt bin, indem ich mich heutzutage im Besitz von 3.000 Dukaten Gold befinde, und an Einnahme 50 Goldskudi habe, indem die Heiligkeit unserer Herrn mir für die Leistung des Baues
von St. Peter 300 Dukaten Gold ausgesetzt hat, die mir, solange ich lebe, nie ausbleiben werden; auch bin ich überzeugt, dass ich noch mehr erhalten werde und
dann werde ich für alles, was ich arbeite, ganz nach meiner Forderung bezahlt,
und ich habe ein neues Gemach für S. Heiligkeit zu malen begonnen, das sich auf
1.200 Golddukaten belaufen wird, so dass ich Euch, teuerster Oheim! Ehre mache
und allen Verwandten und der Heimat.“
Wenig später kehrt er zum eigentlichen Gegenstand des Briefes, zum
Heiraten noch einmal zurück. Eine neue Partie stehe in Aussicht, die
zwei große Vorteile habe, dass sie erstens ein schönes Kind von bestem
Ruf sei aus der Verwandtschaft des Kardinals Santa Maria in Portico und
dass sie ihm zweitens 3.000 Goldskudi als Mitgift einbrächte. Er fährt
fort:
„Aber welcher Ort auf der Welt ist auch wohl würdiger als Rom? Welches Unternehmen edler als das von St. Peter? Denn dies ist der erste Tempel der Welt und der
größte Bau, den man jemals gesehen hat, und der sich auf mehr als eine Million
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in Gold belaufen wird, denn Ihr müsst wissen, dass der Papst verordnet hat, 60.000
Dukaten für diesen Bau auszugeben, und dass er an nichts anderes denkt.“
Ein bisschen mag man sich schon darüber verwundern, dass ein zum Zeitpunkt der Abfassung des Briefes allseits geachteter und anerkannter
Künstler die Sinnhaftigkeit seines Tuns und die Richtigkeit vergangener
Entscheidungen noch immer mit dem Argument verteidigt, dass er damit
gutes Geld verdient. Er möchte seinem Onkel, seiner Heimatstadt und seinen Verwandten Ehre machen. Dabei kommt ihm offenbar nicht die Idee,
die Früchte seines Schaffens, einzelne Werke oder die schon damals
berechtigte Aussicht auf Nachruhm anzubringen. Vielmehr argumentiert er – statt mit seiner künstlerischen Genialität – mit kaufmännischem Kosten-Nutzen-Kalkül, mit der Auflistung seines Vermögens, seiner
Einnahmen und mit dem Etat, über den er als Architekt von St. Peter verfügt. Selbst im Hinblick auf die Heiratspläne argumentiert Raffael mit
pekuniären Vorteilen: Dass er damals die vom Onkel vorgeschlagene Braut
ablehnte, sei doch ganz offensichtlich die richtige Entscheidung angesichts der Tatsache, dass sich jetzt eine noch viel bessere – mit einer viel
großzügigeren Mitgift ausgestattete – Kandidatin gefunden habe.
Shearman weist darauf hin, dass dieses „feeling that there is an unexpectedly vulgar Raphael“ (Shearman, Raffael in Early Modern Sources,
S. 182) vor allem daher rührt, dass der Befund so überhaupt nicht zu
jenem Gentleman-Raffael passen möchte, der in elegantem Prosastil an
Baldassare Castiglione (1522) über seine Liebe zur Kunst, über große
Ideen und schöne Formen schreibt. Diesen Ton fand man dem Renaissance-Genie wesentlich angemessener – ungeachtet der Tatsache, dass
es sich im Brief an Castiglione wohl um eine literarische Fiktion aus der
Mitte des 16. Jahrhunderts handelt (ibid, S. 734–741, vgl. auch Thoenes,
Il primo tempio, S. 457). Der Brief an Onkel Ciarla dagegen ist unbestritten echt.
Wie also soll man dieses Selbstzeugnis Raffaels interpretieren? Eine
radikale Lesart des Schriftstücks legte der Kunsthistoriker und RaffaelBiograf Christof Thoenes vor. Seit den 70er Jahren habe er sich vorgenommen, „die ästhetischen Knochen der Renaissance historisch-materialistisch zu benagen“ (Thoenes, Il primo tempio, S. 452). In der 1997
erschienenen Festschrift Otto Karl Werckmeister, dem Vertreter einer
radikal historischen Analyse von Kunst, wird dieses Vorhaben mit einem
Beitrag zur Rekonstruktion der materiellen Grundlagen der Kunstproduktion in der Renaissance umgesetzt. Die Analyse konzentriert sich auf
die Zeit Raffaels als Baumeister von St. Peter.
Thoenes schlägt vor, den Brief wörtlich zu lesen, und interpretiert ihn
als ein Schlüsseldokument nicht allein für das Verständnis von Raffaels
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charakterlicher Verfassung, sondern auch seiner künstlerischen Prinzipien:
„Der Sinn für den Wert des Geldes, den Raffaels römischer Lebensstil in der Tat
erkennen lässt, ist kein seiner Kunst äusserliches Moment. Wir erfahren dies aus
der mit Castiglione gemeinsam verfassten Denkschrift über den Plan einer graphischen Rekonstruktion der antiken Gebäude Roms, die in gewisser Weise theoretisch unterbaut, was im Brief an Ciarla stillschweigend mitgedacht war: das positive Verhältnis von Geld, Macht und monumentaler Architektur“ (Thoenes, Il
primo tempio, S. 452).
Thoenes bestätigt Raffael eine materialistische Gesinnung. Raffaels Auffassung von Kunst und Architektur sei zutiefst von einem positiven Verhältnis zu Geld (und Macht) dominiert. Thoenes argumentiert insbesondere mit Raffaels Plänen für St. Peter und mit seinen kaiserzeitlichen
Rom-Ideen.
„Wir haben gesehen, wie unbefangen Raffael seine Liebe zum Petersbau in Zahlen
ausdrückte: Für ihn fielen religiöse Bedeutung und Geldwert des Werkes offensichtlich in eins. Mit der gleichen Direktheit veranschaulicht er in der ‚Vertreibung
des Heliodor‘ die irdische Habe der Kirche als ein unbedingt zu verteidigendes
Rechtsgut, in der Form gemünzten Goldes. (…) So wurden die Ware-Geld-Relation
zum Modell aller Vorgänge, Geld zum universalen Äquivalent jeder Art von Werten, sei es in Raffaels Urteil über Architektur, sei es in der Vermarktung des durch
Christi Opfertod erwirkten Schatzes göttlicher Gnade durch die römische Kirche“
(Thoenes, Il primo tempio, S. 455).
Der Umgang mit Geld wird zum alles entscheidenden Faktor. Ebenso
pragmatisch-naiv wie der prahlende Briefschreiber und Junggeselle
den Wert seiner potentiellen Bräute nach der Höhe der Mitgift kalkuliert, so habe sich Geld als „Leitprinzip“ auch in Raffaels (weitgehend
unverwirklichten) Plänen für den Petersdom und für den Wiederaufbau Roms nach antikem Vorbild niedergeschlagen. Wichtig ist vor
allem, dass die Projekte Geld kosten, dass die teuersten und kostbarsten
Materialien verwendet werden und dass sich die „immensa spese“ auch
in der Formenvielfalt des dekorativen Vorhabens niederschlagen. Die
Auftragslage in Raffaels Werkstätte stieg und stieg, die Zahl der Mitarbeiter wuchs mit immer lukrativeren Projekten. In dieser Hinsicht treffen sich Leo X. und Raffaels Vorstellungen. Während die Bauphase zu
Zeiten Julius II. durch Machtwillen gekennzeichnet ist, beherrschen
materielle Werte das Erscheinen der unter Leo X. entstandenen Bauabschnitte:
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„Ostentativ zu Schau gestellter Reichtum, Luxuskonsum gehören zum Stil des leoninischen Rom. Sie äussern sich in St. Peter nicht nur in der Verlagerung des Interesses vom konstruktiven Gerüst (Bramantes Kuppelpfeilern und -bögen) auf die
Schauseiten und Oberflächen des Baus, sondern auch in einem sich wandelnden
Planungsstil. Hatte Bramante sich auf die Gestaltung der Kernzone konzentriert
(…), so beginnt unter Raffael die Zeit der Globalentwürfe, in denen das quantitative Moment in den Vordergrund tritt: in den Grundrissen das Langhaus mit seiner mehr oder minder mechanischen Repetition des zentralen Pfeiler-, Tonnen- und
Kuppelmotivs, am Aussenbau die quasi inflationäre Vervielfältigung der Halbsäulen und Gebälke“ (Thoenes, Il primo tempio, S. 455 f.).
Thoenes sieht in Raffael die personifizierte Maßlosigkeit und Unmoral,
die das allgemeine Leben an der Kurie kennzeichnete. Diese führten
nicht allein zum Baustillstand – während die Gehälter und Zahlungen
an Raffaels „fabbrica“ munter weiter flossen, kam unter ihm das tatsächliche Baugeschäft nahezu zum Erliegen, sondern auch zur Eskalation
der Rom-Kritik. Ganz Europa war sich einig, dass in Rom durch Unproduktivität Kapital verschwendet wurde. Das Unternehmen Sankt Peter
hatte von Anfang an den Vorwurf der Ineffizienz und Misswirtschaft
provoziert. Zur ultimativen Krise kam es nach dem Tod Raffaels und
Leos X. im Jahr 1521. Sankt Peter wurde zur größten Bauruine Roms. Die
Finanzierung des irrwitzigen Projekts war in Folge der Reformation und
der Beendigung des Ablasshandels zusammengebrochen.
Dass es unter Alessandro Farnese, Papst Paul III., mit der Ernennung des
71-jährigen Michelangelo zum Baumeister von Sankt Peter (1546–1564)
zur radikalen Abkehr vom Leitprinzip Geld kam, war die einzige Rettung für den Bau. Anstelle von „immensa spese“ wurde Sparsamkeit in
Entwurf und Ausführung zum obersten Prinzip erklärt; des Weiteren
wurde gefordert, „spese“ und die Eigeninteressen der Planer konsequent
zu entflechten. Michelangelo hatte klar erkannt, dass ein Architekt, der
solange bezahlt wird, bis sein Projekt beendet ist, an der Fertigstellung
seines Baus nicht ernsthaft interessiert sein kann. Er setzte das Prinzip
durch, den Dienst am Werk von der damit verbundenen Entlohnung zu
trennen, und verzichtete freiwillig auf das (seit Julius II.) dem Chefarchitekten der „fabbrica“ zustehende Gehalt. Thoenes kommt zu dem
Schluss, dass Michelangelo auf diese Art und Weise den Kampf gegen die
Unmoral seiner Vorgänger in der Bauplanung gewinnen konnte, indem
er nämlich sich selbst als Exempel der Selbstlosigkeit profilierte. „Der
‚amore della fabrica di Santo Pietro‘ sollte, statt in Geldwert zu Buche
zu schlagen, wieder im ‚amore de Dio‘ seine Erfüllung finden“ (Thoenes,
Il primo tempio, S. 458; Bredekamp, Sankt Peter, S. 75–96).
Ein letztes Argument schließlich für Raffaels „materialistische“ Gesinnung ergibt sich daraus, dass er es so erfolgreich verstand, die Rolle des
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Künstlers mit der des Unternehmers zu vereinbaren. Als Unternehmer
jedoch wird Raffael zwangsläufig zu einem Künstler, der sein Geld nicht
mehr mit seiner eigenen Hände Arbeit verdiente.
„Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass Raffael damit über die traditionelle Rolle
eines Handwerksmeisters und Werkstattinhabers hinauswuchs in die eines künstlerischen Grossunternehmers, der sich fremder Hände bedient, um sein Eigenkapital an Schaffenskraft und Erfindungsgabe so wirksam wie möglich zu vervielfältigen, und zwar in möglichst verschiedenartigen Medien“ (Thoenes, Il primo
tempio, S. 453; vgl. auch Rowland, Raphael, S. 81 f.).
Raffael griff offenbar schneller und erfolgreicher als seine Kollegen
„neue Trends“ auf und setzte sie zu seinen Gunsten ein. In kürzester
Zeit hatte er den Übergang vom großartigen Künstler zum „general designer“ (Rowland) in verschiedenen künstlerischen Disziplinen geschafft. Seine arbeitsteilig organisierte Werkstatt erlaubte es ihm, wie
keinem anderen seiner Kollegen, die eigene Virtuosität in einer Vielfalt
von Medien zum Ausdruck zu bringen. In Raffaels Werkstatt wurden
Techniken praktiziert, die Raffael selbst gar nicht beherrschte, jedenfalls nie selbst ausprobiert hatte, insbesondere die Bildhauerei. So konnten seine Ideen, seine „maniera“, in Werken umgesetzt werden, die
andere für ihn ausführten. Er war „chief executive“ seiner „fabbrica del
arte“. Dabei verstand er es, zum einen sich selbst, zum anderen die Produkte seiner Firma erfolgreich zu vermarkten. Ob man Raffael dieses
Verhalten zum Vorwurf machen möchte – Thoenes verhehlt diese Tendenz nicht –, oder ob man ihm strategisch geschicktes und weitsichtiges Verhalten in der sich zunehmend kommerzialisierenden stadtrömischen Gesellschaft bestätigen möchte – wie das Rowland impliziert –, kann jeder selbst entscheiden.
Sicherlich müssen bei der Beurteilung die zeitgenössischen Entwicklungen des Kunstmarktes berücksichtigt werden. Raffaels Karriere, sein
Aufstieg, seine nachhaltige Wirkung, entfaltete sich im historischen
Kontext der Entstehung eines eigenständigen Kunstmarktes. Die Regeln
dieses neuen Marktes, so könnte modern gesagt werden, haben den
Künstlertypus Raffael überhaupt erst hervorbringen können (Esch, Über
den Zusammenhang von Kunst und Wirtschaft; Fantoni, The art market
in Italy).
„Mehr Geld – mehr Gold“ ist als Malprinzip Raffaels aus den zeitgenössischen Quellen zwar nicht zu belegen, doch namhafte Experten weisen
dem Renaissance-Genie manifesten Materialismus nach. Geprägt aber
hat die Wendung erst das 20. Jahrhundert, namentlich der Literaturkritiker und Publizist Fritz J. Raddatz, der für einen unbeschwerten
Umgang mit Zitaten nicht ganz unbekannt ist. In seinem 1980 erschie165
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nenen Essay „Von Geist und Geld“ unternimmt er einen Versuch, das Verhältnis zwischen Künstler und Mäzen, zwischen Kunst und Macht, zwischen Geist und Geld auszutarieren.
3
„Mehr Geld für Geist!“ –
Heinrich Heine und der Kampf um die Anerkennung
des Geistes in der Welt des Geldes
Dies führt uns zum nächsten Beispiel: zu Heinrich Heines Einstellung
zum Geld. Heine entstammte einer erfolgreichen Hamburger Bankiersfamilie. Sein Verhältnis zum Geld lässt sich in der Beziehung zu seinem
Onkel Salomon personalisieren, jenem erfolgreichen Hamburger Bankier, der so vermögend war, dass er auf die Hamburger Finanzkatastrophe des Jahres 1825 gelassen mit der Frage „Is was passirt?“ reagiert
haben soll (Raddatz, Von Geist und Geld, S. 3). Sein Neffe Heinrich, als
Vertreter des Geistes, konnte ein Leben lang auf die Wechsel des wohltätigen Onkels vertrauen, zunächst als Banklehrling, dann als verkrachter Kaufmann, schließlich als Jurastudent und später als Literat.
Onkel Salomon und Neffe Heinrich – das Geld und der Geist – neckten,
liebten und kränkten sich wechselseitig ein Leben lang. Beide hatten
einen ausgeprägten, ja derben Sinn für Ironie und Zynismus. Heinrich
soll die aufwendigen Bankette des Onkels, an denen er gern teilnahm,
mit der Bemerkung bespöttelt haben, dass der Onkel für alles seine Diener habe. Bei Tisch stünden gar ein Diener für den Dativ und einer für
den Akkusativ bereit. Und weiter spottet er, das Beste an Onkel Salomon
sei, dass er den gleichen (Familien-)Namen wie der Neffe habe. In das
Gästebuch des Onkels habe er den Vermerk geschrieben: „Lieber Onkel,
geben sie mir 100.000 Mark und vergessen Sie auf ewig Ihren Sie liebenden Neffen Heinrich Heine.“ Der Onkel stand ihm in nichts nach.
„Hätt’ er gelernt was rechtes, bräucht’ er nicht zu schreiben Bücher“,
soll Salomon gesagt haben. Folgende Episode kolportiert Raddatz aus
Heinrichs Erinnerungen:
„Ich trete bei ihm ein, umarme ihn, er bittet mich Platz zu nehmen, wir plaudern.
‚Nun, mein lieber Neffe, du tust immer noch nichts in Paris?‘ – ‚Pardon, lieber Onkel,
ich schreibe Bücher.‘ – ‚Na, also, ich sagte es ja: Du tust immer noch nichts’“ (Raddatz, Von Geist und Geld, S. 37).
Heine nahm ungeniert die monatlichen Raten des Onkels an und klagte
gleichzeitig über dessen Geizigkeit, warf ihm vor, dass er zu aller Welt
großzügig sei, aber seinen darbenden Künstlerneffen samt Frau verhungern ließe. Die größte Kränkung kam mit dem Testament des Millionärs (1844), in dem Heinrich sich mit einem Trinkgelderbe schnöde
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übergangen fühlte. Auch hier scheint die „gefühlte“ Vernachlässigung
das Hauptgewicht zu liefern, denn de facto erhielt Heine eine beträchtliche Summe und bezog obendrein die vom Onkel gewährte Pension.
Dass Heinrichs Cousin Carl die Auszahlung des Erbes und die Weiterzahlung der Pensionsraten an bestimmte Konditionen knüpfen wollte,
führte zu einem zähen Erbschaftsstreit und lieferte Heinrich Heine
jahrelang Stoff für die Beteuerung der eigenen Bedürftigkeit. Ob er 1856
tatsächlich als reicher Mann starb und zu den „‚wenigen literarischen
Großverdienern“ seiner Zeit zu zählen sei, wie das Stephan Reinhardt
behauptet, sei hier nicht weiter erörtert (Reinhardt, Heinrich Heine).
Ohne Zweifel jedoch geht es bei Heinrich Heines „Geldproblemen“ um
den notorisch „gefühlten“ Mangel an Anerkennung für sein Genie. Und
materielle Sorgen oder gar Existenznöte dienen ihm sozusagen als Kommunikationsmedium, um dieses Gefühl zum Ausdruck zu bringen.
Raddatz’ Schilderung der wechselhaften und spannungsgeladenen
Beziehung zwischen den beiden Männern dient in erster Linie der Fundierung seines Arguments, dass sich Geist und Geld im Grunde gar
nicht vertragen können. „Ein Künstler erwartet vom Geldmann uneingeschränkte Bewunderung und Bescheidenheit – außer im Spendieren.
Was immer ein Mäzen tut, es ist zu wenig“ (Raddatz, Von Geist und Geld,
S. 24). Dominant sei im Verhältnis zwischen Geist und Geld das Gefühl
notorischer und unvermeidlicher Kränkung, die sich Künstler und
Mäzen zwangsläufig gegenseitig zufügen. Der Mäzen gibt zu wenig, der
Künstler leistet zu wenig. Der Gönner kann nie – egal wie viel er fördert
und stiftet – großzügig genug, der Künstler nie dankbar genug sein.
„Geld ist in Wahrheit nur Chiffre für das, das ‚gebührt‘. Der Geldmann – ob nun
Bankier, Unternehmer oder auch Verleger –, der diesen Hochmut nicht versteht,
wird Künstler nicht verstehen; er mag Verlage oder Stiftungen finanzieren, Opernhäuser oder Museen subventionieren – von Künstlern kann er Anerkennung dafür
nie erwarten, solange es ihm nicht gelungen ist, seine Zuwendung auch als Zuwendung verständlich zu machen. Der bewundernde Schüler, der sich eine Lithographie vom Taschengeld abzwackt, ist dem Maler tausendfach lieber als der tausendfach zahlende Schokoladenfabrikant; der Student, der sich ein Taschenbuch signieren läßt, ist dem Autor lieber als der Verleger, der seine Signatur unter den
(mäßig dotierten) Vertrag setzt. Geld spielt für Schriftsteller eine Rolle – im Ursinne
des Wortes: es steht für etwas anderes. Nicht Geld ‚als Geld‘ ist wichtig (weswegen
es auch so unbekümmert ausgegeben wird), sondern als Bestätigung. Es ist eine
Mischung aus Eros und Sport: Der Autor (...), dieser Narziß, dem keiner das Wasser trüben darf, weil sein Abbild sonst zersplittert, will ‚geschätzt‘ werden; Geld als
Wert-Schätzung. Das niedrige Honorar ist Liebesentzug. Es geht nicht um weniger
Austern oder ‚Champanir‘, es geht um mehr Achtung. ‚Mehr Geld – mehr Gold‘ hat
schon Raffael als Malprinzip verkündet. Das sportlich-spielerische Element soll dem
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Schöpfer des Kunstwerkes beweisen, daß er sich leisten kann, irdisch, wollüstig und
leichtsinnig zu sein (...)“ (Raddatz, Von Geist und Geld, S. 59).
Damit wäre nun immerhin der Ursprung des Zitates geklärt, das die hier
vorgelegte Untersuchung inspirierte. Dabei ist das Ergebnis ernüchternd:
Hier spricht weder Raffael noch Heinrich Heine, nein, es ist das Selbstzeugnis des Publizisten Fritz J. Raddatz, dem wir hier aufgesessen sind.
Mit der Formel „Mehr Geld – mehr Gold“ projiziert Raddatz das Idealbild jenes Künstlers in die Vergangenheit, der in der Lage ist, Forderungen zu stellen, und zwar im Bereich der Kunst ebenso wie im Bereich der
Wirtschaft, im Bereich des Geldes ebenso wie im Bereich des Geistes.
Die Autorisierung dieses Ideals im historischen Kontext des Renaissancekünstlers ist nicht nur charmant, das gewählte Beispiel hat auch,
historisch gesehen, einiges für sich, denn es entsteht ja die Rolle des
Künstlers zeitgleich mit der allmählichen Herausbildung eines eigenständigen Kunstmarktes, an der Wende des 15. ins 16. Jahrhundert. Raffael personifiziert diese Entwicklung. Er ist ein Mann, der im richtigen
Umfeld geboren, mit der erforderlichen Begabung und Konstitution
ausgestattet, das Richtige tut, um sich überaus erfolgreich zu vermarkten, und zwar in einer Künstlerrolle, die er selbst – oder jedenfalls seine
Zeit – überhaupt erst erschaffen konnte, eine Rolle, die Genialität und
wirtschaftlichen Erfolg zugleich für sich in Anspruch nehmen kann.
Diese Geschichte wird verstärkt seit dem 19. Jahrhundert erzählt. Die
Etablierung des Berufsstandes des Künstlers vollzog sich – in fortwährender Auseinandersetzung mit den Renaissance-Vorbildern – im
Zuge der allgemeinen Vereinsbewegungen und der Etablierung des Bürgertums (Vergoossen, Künstler). Im Rahmen dieser Entwicklung, die mit
der Entstehung des modernen Kunstmarktes und seiner Kundschaft
einherging, zählt die Ausprägung der „Künstlerrolle“ zu den wichtigsten Erfolgsfaktoren. Diese Künstlerrolle ist in ihrer normativen Prägung
noch heute ein Gegenentwurf zur Welt des Geldes. Denn gerade in seiner Rolle als Verkörperung einer Welt des Geistigen wurde der Künstler
in der Welt des Geldes zunehmend nachgefragt. Der Künstler wurde seinerseits Marktprodukt und Marktlieferant zugleich.
Heinrich Heines (und Fritz Raddatz’) Kampf um mehr Geld – nicht zum
Zwecke der Existenzsicherung, sondern als Ausdruck adäquater Wertschätzung – wäre in diesem Kontext ein Kampf um die Anerkennung der
Künstlerrolle in dieser doppelten (und widersprüchlichen) Funktion.
Einerseits muss es ihm als „Lieferant“ um die finanzielle Anerkennung
der Gleichwertigkeit der Produkte seines künstlerischen Schaffens mit
jenen Produkten unternehmerischen und wirtschaftlichen Handelns
gehen, die seine Zeitgenossen als Bankiers, Investoren und Unternehmer
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schufen. Andererseits muss er, als „Marktprodukt“, auf das Alleinstellungsmerkmal des Künstlers beharren: die Verkörperung einer Welt
jenseits der Welt des Geldes.
4
„Geist und Geld“
Selbstbekenntnisse deutscher Künstler und Forscher
zur Entstehungsgeschichte der großen Leistung
(Zweite Beilage zur Vossischen Zeitung, 27. März 1921)
Aus dem frühen 20. Jahrhundert liegen uns erstmals direkte Stellungnahmen von Künstlern über ihr Verhältnis zum Geld vor, und zwar in
Form von Künstlerinterviews. Im Jahre 1921 befragten Mitarbeiter der
Vossischen Zeitung (liberale Berliner Zeitung) hochrangige Vertreter aus
Kunst und Wissenschaft nach ihrem Verhältnis zum Geld. Es ging dabei
vor allem um die Frage, wie ein Künstler seinen Lebensunterhalt finanziert, wenn seine Kunst es ihm (noch) nicht erlaubt, von ihr zu leben,
wenn sie also noch nicht zum erhofften Erfolg und damit zu den entsprechend notwendigen Einnahmen führte. Die Künstler wurden insbesondere danach gefragt, wie sie ihren Lebensunterhalt in jungen Jahren bestritten (Hatten Sie eine Rente? Mussten Sie als junger Künstler
Hunger leiden?). Auch die Frage nach der Rolle der Gesellschaft lässt sich
aus den Antworten rekonstruieren: Muss die Gesellschaft junge (noch
unbekannte) Künstler finanzieren, um ihnen die Entfaltung ihres
Talents zu ermöglichen?
Ausgewählte Antworten auf diese Umfrage wurden abgedruckt. Die
Befragten teilen weder eine Meinung noch gemeinsame Erfahrungshintergründe: Thomas und Heinrich Mann waren Kaufmannssöhne,
Alfred Döblin ebenfalls, doch studierte dieser Medizin und arbeitete
auch als Arzt, Leo Frobenius hatte vor seiner Karriere als Ethnologe eine
Kaufmannslehre absolviert, Ernst Zahn war Erbe eines Schweizer Hoteliers, Lesser Ury dagegen ein gescheiterter Schneiderlehrling. In ihrer
Gesamtheit liefern die Aussagen ein anschauliches Bild zur Vielfalt der
wirtschaftlichen Grundlagen moderner Künstlerkarrieren. Während
Ernst Zahn der Meinung ist, dass der „echte, der große Künstler, dem es
im Innersten glüht“, einfach nicht anders könne, dass er seine Kunst
lebe, ohne von außen Lohn zu erwarten, und es als „Unrecht“ empfindet, seiner Umwelt die Pflicht aufzulegen, für ihn zu sorgen, setzt sich
der Berliner Maler Lesser Ury massiv dafür ein, mit jenem, von ihm sogenannten „grausamen Märchen“ aufzuräumen, demzufolge „Armut und
Hindernisse keine Hemmungen für den Künstler“ seien. Er warnt die
Jugend, sich arm und ohne Mittel der Kunst zu widmen. Thomas Mann
stimmt ein Loblied auf die kapitalistische Weltordnung an, die es ihm,
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dem Künstler, schon in jungen Jahren erlaubt habe, im römischen Speisehaus zu sitzen und sich Punsch, Zigaretten und Reclam-Hefte zu leisten. Leo Frobenius dagegen erklärt nüchtern, dass er nicht allein sein
gesamtes Erbe in seine kulturethnologischen Forschungsreisen nach
Afrika investiert, sondern überdies noch Schulden gemacht habe, um
seine Wissenschaft zu finanzieren.
Im Folgenden wird der Wortlaut der Interviews aus der Vossischen Zeitung vollständig wiedergegeben (Zweite Beilage zur Vossischen Zeitung,
27. März 1921):
„In dieser unvollkommenen Welt muß man zu leben haben, wenn man schaffen soll.
Daß einer von seiner Leistung leben darf, gehört zu den Ausnahmen; während er
an seinem Werke schafft, kann er ganz gewiß noch nicht von ihm leben. Wenn er
also von etwas anderem lebt, stört und hindert er damit nicht seine Leistung? Wie
man für sein Werk lebt, ohne von ihm zu leben, scheint uns das eigentliche Problem
der vielbesprochenen Not der Geistigen zu sein. – Angeregt durch Vorgänge der
jüngsten Zeit, haben wir uns an eine Reihe von Persönlichkeiten von anerkannter
künstlerischer oder wissenschaftlicher Leistung gewandt mit der Frage, auf welche
Weise ihnen selbst die Lösung dieses Zwiespaltes gelungen ist. Die Antworten dieser Männer lauten anders, als Verfechter einer Sondermoral des Geistes erwarten
dürften.“
Thomas Mann:3
„Ich darf Ihre Rundfrage als eine biographische Erkundigung auffassen, ohne
mich dadurch zur Erörterung eines weitläufigen sozialen Problems aufgefordert
zu fühlen. So ist bald geantwortet. Ich kenne den Hunger nicht, habe ihn nie erfahren, – es sei denn letzthin zur Zeit der englischen Blockade, als die Magenfrage, rein
als solche, mir so übel machte, daß ich überhaupt nichts mehr essen mochte und
arg herunterkam. In meiner Jugend hatte ich jene 200 Mark monatlich, die vor dem
Kriege soziale Freiheit gewährten und mich in den Stand setzten, zu tun, was ich
wollte. Auf italienisch nahm der kleine Wechsel sich sogar noch besser aus, so daß
dem Abonnenten eines bescheidenen römischen Speisehauses sogar für Punsch,
Zigaretten und Reclam-Hefte noch das Nötige übrigblieb. Ob der reine Sozialismus
einer so regelwidrigen und nach menschlichem Ermessen aussichtslosen Existenz,
wie ich es damals war, diese Möglichkeit, der Welt ein Schnippchen zu schlagen,
gewähren würde, ist zweifelhaft. Jedenfalls bin ich persönlich der kapitalistischen
Weltordnung von früher her zu Dank verpflichtet, weshalb es mir niemals anstehen wird, so recht à la mode auf sie zu spucken.“
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Heinrich Mann:4
„Sie fragen, ob ich früher gehungert habe oder eine Rente hatte. Antwort: Beides.
Ich hatte eine Rente, aber eine so kleine, daß bei weniger bescheidenen Ansprüchen
zum Hungern reichlich Gelegenheit gewesen wäre. Als meine Ansprüche größer
wurden, stiegen langsam auch die Einnahmen aus meiner Arbeit. Dann kam die
teure Zeit, deren Höhepunkt wir noch nicht kennen. Da müsste man wohl Erfolg
haben, um nur leben zu können. Am Anfange meiner Laufbahn ging dies glücklicherweise ohne den Erfolg.“
Ernst Zahn:5
„Nach meiner Meinung legt der schaffende Künstler unserer Zeit zu Unrecht seiner
Umwelt die Pflicht auf, für ihn zu sorgen, lediglich, damit er seinem Werke leben
könne. Liebe, Drang zur Kunst und Kunstbetätigung muss sich durch die widrigsten Lebensumstände durchringen können. Jeder Mensch, der einen Brotberuf
ergreift (und jeder sollte einen ergreifen, weil jeder die Pflicht hat, sich selbst zu
erhalten), wird seine Arbeits- und seine Mußestunden haben. Muße haben heißt, seiner Freude leben. Nun – es gibt Leute, die ihre Liebe zu ihrem künstlerischen Beruf
zu ihrer Freude gemacht haben oder – besser, sie ist es ihnen ohne ihr Dazutun
geworden. Muße bedeutete ihnen nicht Ruhe und Nichtstun, sondern ersehntes Aufgehen in einer künstlerischen Betätigung. Sie ruhen, sich künstlerisch betätigend
und, von ihren ganz anders gearteten Alltagspflichten aus. Dazu muss man nun
allerdings gesund sein, und es mag sein, daß es Menschen gibt, die es körperlich
nicht leisten können, zwei Berufe zu haben. Sie sind aber sicher in der Minderzahl,
und ein anderer Teil, der vorgibt, zu zwei Tätigkeiten die Kraft nicht zu haben, weil
er zu bequem ist, alle Kraft anzuspannen, verdient keinen Schutz. Der echte, der
große Künstler, dem es im Innersten glüht, der einfach nicht anders kann, der ringt
sich zu der Gewissheit durch, daß die eigene Kunst das eigene Leben ist. Er lebt sie,
lebt ihr, nicht Lohn von außen erwartend, sondern den Lohn in ihr selbst schon empfangend. Im Uebrigen: Arbeit ist alles, und wem die Arbeit Lebensgenuß geworden,
der leistet’s, ein Lebensverdiener und Lebensverschöner zu sein.“
Alfred Döblin:6
„Ich lebe weder jetzt von meiner ‚produktiven‘ literarischen Arbeit, noch habe ich
früher davon gelebt. Man konnte nämlich schon im Jahre 1910 nicht von einem Jahreseinkommen von 2.000 Mark leben, und die großartigen 3.000 Mark, die ich eine
lange Anzahl Jahre später einzog, waren in Butter umgerechnet, noch nicht 100
Pfund, oder gerade ein Anzug. Ich bin Arzt und habe eine große Abneigung gegen
Literatur. Viele Jahre habe ich keine Zeile geschrieben. Wenn mich der „Drang“
befiel, hatte ich Zettel bei mir und einen Bleistift, kritzelte im Hochbahnwagen,
nachts auf der Rettungswache oder abends zu Hause. Alles Gute wächst nebenbei.
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Ich hatte weder eine Rente noch einen Mäzen, dagegen, was ebensoviel wert ist, eine
erhebliche Gleichgültigkeit gegen meine gelegentlichen Produkte. Und so geht’s mir
noch heute gut. Auch jetzt beziehe ich, bei einfacher Existenz, nur einen Bruchteil
meines Bedarfs aus „produktiver“ Arbeit, – voriges Jahr habe ich mir die erste Sommerreise in den Spreewald gestattet –, aber das Bruchteil macht mir Spaß, auch
darum, weil es mir Gelegenheit gibt, mich kämpfend mit den Verlagsunternehmern
herumzuschlagen. (Bekanntlich bedroht jeder Anspruch des Autors die Existenzbasis der Verleger, und der Autor hat doch schließlich nur eine vom Verleger konzedierte Existenzbasis.) Ich tue meine Facharbeit, bin aktiv in allen möglichen Organisationen, ärgere mich, tanze (ziemlich schlecht, aber dennoch), mache Musik,
beruhige einige Leute, andere rege ich auf, schreibe bald Rezepte, bald Romankapitel und Essays, lese die Reden Buddhas, sehe mir gern Bilder in der „Woche“ an,
das alles ist meine „Produktion“. Wenn mir eins davon oder das andere Geld bringt:
herzlich willkommen. Im übrigen bin ich ein Mensch und kein Schufter.“
Leo Frobenius:7
„Um meine Reisen durchzuführen, um das Afrika-Archiv aufzubauen und die Kulturkreislehre zu schaffen, habe ich 1. keine Not gemieden, 2. alles mir durch Erbschaft und sonst wie zufließende Geld dafür bis zum letzten Pfennig ausgegeben,
3. keine Arbeit gescheut (habe z.B. in Afrika Elfenbein und Salz gehandelt), 4. Bücher
und Artikel geschrieben, 5. Schulden gemacht und 6. vor allen Dingen niemals den
guten Mut verloren, wenn auch die meisten Versprechungen, die Staat und Fach
mir machten, unerfüllt blieben.“
Lesser Ury:8
„Das Talent bricht sich immer Bahn. Eins jener grausamen Märchen, die der
Menschheit seit Jahrhunderten eingeimpft werden und deshalb unausrottbar sind:
Armut und Hindernisse sind keine Hemmungen für den Künstler; je größer der
Widerstand und die Schwierigkeiten sind, mit denen der Künstler auf seinem Leidensweg zu kämpfen hat, desto schöner entfaltet sich sein Talent. Hunger und Not
sind die Nahrung, die das heilige Feuer in ihm schüren. Wozu braucht er Geld, seine
Ideale genügen ihm und zaubern ihm schönere Welten vor, als irgendein Sterblicher sie sich erwerben kann. Noch im letzten Augenblick, da er von dem jammervollen Leben scheiden muß, erkennt er nicht die grausame Armut, die ihn umgibt,
und stirbt in dem Glauben, ein Fürst dieser Erde zu sein.
So denken sich die lieben Leute den Weg, den ein armer Künstler zurücklegen muß.
Ein wunderschönes Leben, nur schade, daß es ein Märchen ist. Warnen möchte ich
jeden jungen Menschen, und wäre er das größte Talent, arm, ohne Mittel, sich der
Kunst zu widmen. Körperlich und seelisch geht er zugrunde. Je größer sein Talent,
die Eigenheit seiner Begabung, desto seltener wird es ihm gelingen, sich durchzu-
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setzen. Die Mittel zum Leben fehlen, Not, Hunger werden an seinem Körper nagen
und ihn vernichten; er wird selten, fast niemals, die Möglichkeit haben, seine Kunst
bis zur Vollendung ausüben zu können. In einer elenden Dachkammer wird er hausen müssen, Mäuse und Ratten werden seine Genossen sein, betteln wird er gehen
müssen, um die Mittel für seine Bilder zu haben. Als Mensch, als Künstler wird er
die schimpflichsten Beleidigungen ertragen müssen, nur getröstet durch den
Gedanken, seine Kunst ausüben zu können. Für verrückt erklärt, mit Schmutz
beworfen, wird er immer wieder den aussichtslosen Kampf für seine Ideale aufnehmen müssen. Wie viele große Talente sanken dahin in diesem heroischen
Kampfe gegen den Hunger! Nach unmenschlichen Entbehrungen, die sie mit wahnsinniger Energie Jahrzehnte lang für ihre heilige Kunst ausgehalten haben, wurden sie vernichtet, weil sie mittellos, arm, keinen Mäcen fanden, der Staat
grundsätzlich nichts für sie tat, und ihre Kunst ihnen nicht so viel brachte, um leben
zu können. Und dennoch! Einigen gelingt es trotzdem, – und weshalb soll ich es
leugnen, auch ich gehöre zu ihnen, – wenn auch alt und zerrieben von dem harten, grausamen Kampf, den Kopf noch hoch halten zu können und Sieger geworden zu sein. Wo sind aber die vielen Kameraden auf dem steilen Weg zur Kunst
geblieben? Verstorben, verschollen! Das Elend in den entscheidendsten Jahren hat
sie vernichtet. Aber treu bis zum letzten Atemzuge opferten sie sich ihren Idealen.
Und wer will wissen, ob es nicht die Besten waren?“
5
„Mehr Geist, mehr Geld – schön wär’s!“ –
Selbstbekenntnisse deutscher Künstlerinnen über
ihr Verhältnis zum Geld (2009)
Abschließend folgt nun der Brückenschlag in die Gegenwart. Geistiges
Arbeiten und künstlerisches Schaffen gehören zu den fest etablierten
Teilsystemen unserer Gesellschaft. Galeristen, Kuratoren, Sammler,
Museen, Kunstvereine, Stiftungen, Theater, Verlage, Kommunen, Bund,
Länder, Unternehmen und viele andere fördern Kunst und Künstler,
Sponsoren und Kunden. Noch nie, so mag man denken, wurde die Welt
des Geistigen – die bildende Kunst, die Kultur und die schönen Künste
im Allgemeinen – so umfassend subventioniert wie heute. Der Künstler
jedoch kämpft weiter. Nicht wie Heinrich Heine, um Geld als Maßeinheit für soziale Anerkennung, nein, er kämpft um seine Existenz. Das
durchschnittliche Jahreseinkommen der über 160.000 bei der Künstlersozialkasse versicherten Künstler in Deutschland lag im Jahr 2008 bei
12.216 Euro.9
Freilich wäre ein Raffael heute nicht bei der Künstlersozialkasse versichert, und es ist fraglich, ob sich sein (wenngleich nur unterstelltes) Malprinzip „Mehr Geld – mehr Gold!“ in den bürokratischen Mühlen moderner Kunstförderung hätte bewähren können. Überließe man den jungen
Raffael dem freien Markt im Vertrauen auf dessen Selbstregulierungs173
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kräfte, dann hätten ihn seine Prinzipien bis September 2008 jedenfalls
zu einer Banklehre veranlasst, vielleicht auch zu einem BWL-Studium
mit kulturwissenschaftlichem Ergänzungsfach. Die Tätigkeit des Künstlers mit Aussicht auf Broterwerb oder gar Gewinnen zu verknüpfen, ist
uns fremd. Eine Malerausbildung, wie sie Raffael in Perugia absolvierte,
würde heute keiner beginnen, der vorhat, in seinem Leben Geld zu verdienen. Die Renaissance-Überzeugung, dass Kunst und Reichtum zusammengehören, hat sich verflüchtigt.
Die folgenden Stellungnahmen stammen von zeitgenössischen Künstlerinnen, die eigens für diesen Beitrag zu ihrer Einstellung zum Geld
befragt wurden. Allen lagen die oben abgedruckten Selbstzeugnisse von
1921 vor. Da bisher nur Männer zu Wort kamen, wurden bewusst ausschließlich Frauen angesprochen.
Anja Schindler (Künstlerin):10
Geld macht nicht glücklich, trotzdem ist es die notwendige Basis fürs tägliche Überleben. Geld mit seiner Kunst zu verdienen, ist ein schwieriges Unterfangen. Und
dabei geht es nicht um den „Kunstdünger“, nicht um eine einzige Idee, die dann
tausendfach reproduziert wird und sich aus diesem Grunde gut verkaufen lässt,
sondern um Künstler und Künstlerinnen, die Ideen in sich tragen und den Drang
in sich verspüren, diese umzusetzen, obwohl es aus finanzieller Hinsicht meist nicht
rentabel ist. Kunst ist Leben. Dieses Leben muss gelebt werden, Künstler müssen forschen, beobachten, erarbeiten, ausarbeiten, und das braucht seine Zeit, und diese
lässt sich nur schwer bezahlen. Kunst braucht Konzentration und Freiräume. Diese
in einem exakten Zeitplan zu produzieren, sozusagen auf Knopfdruck kreativ zu
sein, ist nicht möglich. Wenn sich eine Künstlerin dann auch noch für Kinder entscheidet, ist es noch weitaus schwieriger. Kunst ist Verantwortung. Ein Künstler versucht etwas zu schaffen, das überdauert, etwas, was über seine eigene Existenz hinausgeht. Auch Kinder sind eine Verantwortung, die man übernehmen muss und
nicht einfach wegschieben darf, wenn sie stören. Zwei Verantwortungen, denen
man zeitgleich nur schwer gerecht werden kann.
Natürlich geht es in unserer heutigen westeuropäischen Gesellschaft nicht mehr um
das Hungerleiden; unsere Grundbedürfnisse sind gesichert, aber es geht um Wertschätzung und Anerkennung. Diese Punkte werden in unserer Gesellschaft über das
Geld definiert. Wer gut verkauft, ist erfolgreich. Wer nicht verkauft, ist ein Verlierer. Dabei hat sich in der Geschichte der Kunst immer wieder gezeigt, dass gerade
die Querdenker ihrer Zeit voraus waren, nicht verstanden wurden und erst nach
ihrem Tode geehrt wurden.
Wir halten uns für eine Hochkultur, so wäre es doch wünschenswert, heutigen
Künstlerinnen und Künstlern mehr Wertschätzung und Anerkennung zukommen
zu lassen.
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Silja von Kriegstein (Schauspielerin):11
„Am Geldende ist mal wieder so viel Monat übrig ...“. Mich stressen Schulden. Ich
möchte unabhängig sein, für mich selbst sorgen können, am liebsten weder meinen Eltern auf der Tasche liegen noch irgendwo anders Kredite aufnehmen. Als Studentin habe ich eine Weile Bafög bekommen, davon habe ich die Hälfte gespart,
um alles jederzeit zurückzahlen zu können, und lieber nebenher gearbeitet. Später,
während des Schauspielstudiums, hatte ich dann ein Stipendium, was mich sehr
beruhigte. Vielleicht ist das eine andere Form von Bindungsangst, dass ich mich
da nicht in Abhängigkeiten begeben möchte. Habe ich Schulden, dann füllt das
irgendwie meinen Kopf aus und zieht meine Konzentration von anderen Dingen
ab. Ich weiß also für mich, dass ich, wenn ich gut arbeiten, gut spielen will, zumindest ungefähr „auf null rauskommen“ oder einen Ausgleich „in Sicht“ haben muss.
Die Mindestgage für Bühnensolisten beträgt brutto etwa 1.600 Euro monatlich.
(Wer sich darüber genauer informieren möchte, sollte den Tarifvertrag NV Solo
Bühne lesen.)
Inzwischen bin ich keine Anfängerin mehr und meine momentane Situation ist so:
Ich spiele viele große und kleine Rollen am Theater und habe dadurch ein sehr angefülltes Jahr. Im Sommer habe ich sechs Wochen Urlaub, den gesamten Jahresurlaub
also am Stück. Ich lebe in einem Zimmer in einer Wohngemeinschaft. Trotzdem
mache ich im Monat etwa 100 Euro Schulden. Das meiste Geld gebe ich, glaube ich,
für Essen aus. Der Zeitplan am Theater ist oft sehr kurzfristig, ich schaffe es dann
nicht, einzukaufen und zu kochen. Um übers Jahr zu kommen, brauche ich neben
dem Theater noch andere bezahlte Aufträge (Drehtage, Sprecherarbeiten, Lesungen,
Unterricht). Bislang habe ich es immer so geschafft, dass ich Sachen arbeiten
konnte, die mit meiner Ausbildung zu tun haben. Aber von einer richtigen Urlaubsreise träume ich. Mein Freund und ich verbringen die freie Zeit meist in einem Bauwagen an der Ostsee. Wenn ich mehr Geld hätte, würde ich, glaube ich, vor allem
diese Zeit nutzen, um auf der ganzen Welt Erfahrungen zu sammeln, und mehr
gesundes Essen kaufen, Bioprodukte.
Neben meiner Arbeit am Theater muss ich also ständig gucken, wie ich die Schulden vermeide, und das vernichtet meine Erholungszeit aus zweierlei Gründen:
Erstens treibt es mich innerlich ständig um und lässt mir keine Ruhe, und zweitens habe ich nur die Möglichkeit, zum Beispiel eine Unterrichtseinheit so zu legen,
dass sie in die vom Theater garantierte Ruhezeit vor eine Vorstellung fällt, da dies
für mich die einzige Möglichkeit darstellt, langfristig Termine planen zu können.
Natürlich ist dies aber nur möglich, wenn die Vorstellung nicht zu anstrengend
ist. Es bleibt also wenig Zeit zum Geldverdienen, und ich hoffe immer auf glückliche Zufälle und Lücken, die sich auftun. Manchmal ärgert es mich natürlich
auch, keine eigene Wohnung zu haben, nicht in den Urlaub zu fahren ..., und ich
habe nicht das Gefühl, dass das, was ich leiste, in einem realistischen Verhältnis
zu dem steht, was ich verdiene. Das nagt schon an mir. Wenn dann immer wieder Idealismus gefordert wird, denkt man sich, dass man eigentlich schon die
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ganze Zeit idealistisch ist und irgendwann auch die Zeit für Realismus sein dürfen müsste.
Wenn Döblin sagt, er fühle sich manchmal wie ein Schufter und kein Mensch, kann
ich damit was anfangen. Ich sehe die gleiche Frustration leider auch bei älteren Kollegen und Kolleginnen immer wieder, und das lässt mich an der Zukunft dieses
Berufes für mich zweifeln. Ich möchte irgendwann Familie haben und frage mich
immer mehr, wie das zu schaffen sein soll. Und funktionierende Modelle beobachte
ich da allenfalls bei männlichen Kollegen im Festengagement. Ernst Zahns Vorstellung von dem Brotberuf und der Kunst in den Mußestunden finde ich für mich
heute absurd. Ich glaube nicht, dass man (gerade als Frau) neben einem Brotberuf
und einer Familie noch viele Mußestunden hat, um sich professionell seiner Kunst
zu widmen. Allerdings beneide ich meine Kollegen, die zum Teil vor Beginn des
Schauspielstudiums eine Berufsausbildung gemacht haben und diesen Beruf als
Sicherheit haben. Wenn man irgendwann als Gastspieler genug verdienen würde,
wäre das natürlich das Beste: Selbstständig zu sein, vielseitig zu arbeiten, Drehtage
und Theater zu kombinieren ..., allerdings weiß man dann noch weniger, wie viel
man auf dem Konto hat. Diese Form kommt daher meinem Sicherheitsbedürfnis
nicht gerade entgegen. Allerdings die jetzige, auf lange Sicht gesehen, auch nicht.
Ich glaube nicht, dass sich wahre Kunst nur in der Armut und im Leid entwickelt
und der Künstler in einer Dachkammer zwangsweise verschimmeln muss. Es gibt
genug Beispiele großer Künstler, die sehr reich waren, und solche, die bitterarm
waren, und die Kunst ist beim einen nicht besser als beim anderen. Niemand weiß,
wann gute Kunst entsteht, dafür gibt es kein Rezept. Aber was mich betrifft, würde
ich sagen, dass ich vielleicht besser und konzentrierter meiner Profession nachgehen könnte, wenn ich mich nicht ständig darum kümmern müsste, wie ich noch
zusätzlich Geld verdienen kann. Je konzentrierter ich mich einer Arbeit widmen
kann, je mehr ich mich in sie versenken kann, desto fundierter wird sie sein und
mir mehr Freude bereiten. Denn mein persönliches Ideal einer Rolle oder eines
Kunstwerkes ist nie beliebig, und selten entstehen solche Dinge, glaube ich, en passant.
Iris Stephan (Künstlerin):12
Ich finde Geld schon gut oder wichtig, weil es auf der einen Seite unabhängig macht
– aber auf der anderen Seite macht es halt auch abhängig.
Die Münze hat zwei Seiten. In dem Moment, wo du Auftragskunst machst, bist du
nicht mehr frei. Es ist leichter im Leben, wenn man für seine Arbeit ordentlich
bezahlt wird. Man muss ja von was leben. Ich glaube nicht, dass Kunst besser oder
schlechter wird. „Machst du gute Arbeit, kriegst du gutes Geld“ – das ist leider in
der Kunst nur selten der Fall. Eigentlich würde ich gern leistungsbezogen bezahlt
werden. Nicht immer nur mal hie und da. Aber ich will halt auch nicht in die Mühle
eines Angestelltenverhältnisses. Das erstickt Kreativität. Ich möchte Fehler machen
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dürfen. Das würde fast jeder Künstler sagen, dass erst durch Fehler Kunst entsteht.
Kunst hat viel mit Versuch und Irrtum zu tun.
Ein Künstler ist ein freiwilliger Selbstausbeuter! Wenn man sich dafür entscheidet,
dann muss man danach nicht so groß lamentieren. Das Künstlerleben ist eine
attraktive Lebensform. Würde ich mitten in der Nacht geweckt und gefragt, ob ich
meine Künstlerexistenz gegen eine andere Lebensform tauschen wollte, dann wäre
die Antwort ein klares Nein. Erst wenn ich dann wirklich wach wäre, fielen mir
einige Bedingungen ein, dann würde ich über die Kanten, Ecken, Stürme und
Unwegsamkeiten reden, die einem den Alltag so mühselig machen. Man lebt selbstbestimmt, selbstausbeuterisch – ja, aber immerhin selbst bestimmt selbst ausbeuterisch. Wovon ich lebe? Künstlerisch formuliert würde man von einer Mischtechnik sprechen. Sehr wenig verdiene ich mit dem Verkauf meiner Kunstwerke. Dann
gebe ich Kurse, arbeite als Seminarleiterin. Davon kann man leben, wenn man sparsam lebt. Aber ich bin mal gespannt, wie lange. Als junger Mensch braucht man
weniger. Selbstausbeutung ist eine Kräftefrage. Man muss damit rechnen, dass
man älter wird. Als freischaffender Künstler muss man halt alles in einem sein:
Man ist sein eigener Grafiker, Produktmanager, PR-Agent, sein Revisor, Steuerberater, Layouter etc.
Die Gesellschaft hat sich daran gewöhnt, dass bildende Kunst nix kostet. Wenn man
für Kunst bezahlen muss, dann wird’s eng. Beim Theater und im Konzert kauft man
selbstverständlich Karten, aber für eine Kunstausstellung wird nur in den großen
Museen bezahlt. Ich hatte kürzlich das Angebot, meine Kunst in einem Bonner Institut auszustellen. Das fand ich klasse, ich sagte zu, wir besprachen das Ausstellungskonzept, doch als ich dann am Ende nach dem Honorar fragte, war mein
Gegenüber etwas erstaunt. Die Idee, dass Kunst – als ausgeliehene Kunst oder
Raumgestaltungskunst – etwas kostet, ist einfach nicht in den Köpfen der Menschen.
In Köln gibt es gegenwärtig circa 1.000 Künstler, ich würde sagen, davon schafft es
nur ein Bruchteil in die großen Museen. Es sind ganz, ganz wenige. Gute Galerien,
die langfristig in einen Künstler investieren, solange er noch unbekannt ist, gibt es
ja kaum. Aber wir alle träumen weiter. Man gibt nicht auf.
Kunst ist toll. Ich habe mich darauf spezialisiert, Projekte an „Kunstunorten“ zu
installieren. Das inspiriert mich. Kunst im Schmetterlingsgarten in Sayn, auf
alten verlassenen Bauernhöfen, auf verstaubten Dachböden. Kunst in abgelegenen
Räumen – das holt einen raus aus der Normalität. Allerdings, das sehe ich ganz
klar, hat es den Nachteil, dass diese Orte halt keine Kunststandorte sind und es sehr
schwer ist, dort Publikum zu gewinnen. Aber meine Kunst zwingt mich dazu.
Womit ich arbeite? Mit alten Bildern, alten Dokumenten – ich arbeite gegen das Vergessen. Hole mir die Inspiration aus der Vergangenheit. Wenn ich mich mit der Vergangenheit beschäftige, hat das zwangsläufig mit mir selbst zu tun. Woher wir kommen, wohin wir gehen, warum sich die Dinge verändern oder auch nicht verändern.
Evolution funktioniert so langsam. Das bisschen Menschheit, das ist doch ein Witz.
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Ulrike Draesner (Schriftstellerin):13
Geist und Geld 2009: wie gut, dass wenigstens die Alliteration übrig geblieben ist.
Das Kopfkino wirft Asbach-Uralt-Werbebilder aus, das Wort „Geist“ ist vernutzt,
doch seit neuestem hat es auch „Geld“ erwischt, auch „Geld“ ist gestürzt.
Geist und Geld: Gespenster, Geflüster, alter Traum. Ein G ist ein G ist ein G. Und
die Frage lautet: wie schreiben? Das Wort „Freiheit“ will sich aufdrängen. Freiheit
etwa von der Vermutung, die die umgebenden Geldstrukturen ständig suggerieren,
dass Leistung und Entlohnung geradeaus-proportional miteinander verbunden
seien. Sieht man genauer hin, scheint dies überall nicht zu stimmen (Boni für
schlechte Manager etc.). In der Literatur ist das nicht anders. Was sollte, könnte
Leistung da auch sein? Wäre wie zu beurteilen auf dem Boden einer Biografie, im
Horizont eines Lebens?
Rundum: Künstlerklischees. In den Antworten von 1921 passieren sie Revue. Armut
erzeugt Kunst. Spannende Biografie erzeugt Kunst. Unruhe erzeugt Kunst. Unglück
erzeugt ...
Und was ist „dahinter“? In der „Wirklichkeit“ der Selbstinterpretationen, der Blicke
auf andere und sich?
Ich lebe nicht von meinen Büchern, sondern von Vermittlung, Aufführung und
Bühne, Stimme, Interpretation und Präsenz. Lebe von der (neu mediengeschürten)
Sehnsucht nach Authentizität? Oder doch von der ganz eigenen Körperlichkeit von
Literatur. Im Zeitalter der gleitenden Verwandlungen zwischen Pflanzen, Robotern,
Menschen, Avataren, virtuellen und fiktiven Figuren mag das ihr besonderer Ort
sein. Bis heute staune ich darüber, dass dieses „Leben von“, das innerlich immer ein
Leben von ist, sich hie und da in die Währung „Geld“ (nicht Gold) übersetzen lässt.
Die zugehörige Haltung besteht aus Kostenreduktionen, Leichtsinn, Selbstüberschätzung, Verdrängung (von Krankheit o.Ä.), Bescheidung, Mut, Dickhäutigkeit,
Neugier und Suche.
Mein Verleger sagt Sturheit.
Literatur wird als Marktprodukt behandelt, ist aber kein Marktprodukt. Diese
Spannung ist über die Jahre fühlbarer geworden. Die Herausforderung heißt: sich
davon nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Weil Anerkennung und Geld natürlich
doch miteinander verbunden sind. Sich frei halten, ohne sich herauszuziehen: mit
Humor und „cunning“ – jener Schläue, die James Joyce nicht zufällig am Ende seines Romans „A Portrait of the Artist as a Young Man“ ins Spiel zu bringen weiß.
Was sie ist? – Man muss sie erfinden.14
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Franziska Gottwald (Opernsängerin):15
„Ich singe, wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnet,
Das Lied, das aus der Kehle dringt, ist Lohn, der reichlich lohnet ...“
Diese Worte lässt Goethe in einer Ballade einen Sänger nach seinem Auftritt vor
dem König sagen. Er weist eine goldene Kette als Belohnung für seinen Gesang
zurück und begnügt sich freudig mit einem vollen Becher edlen Weines als Honorar. Ich bezweifle, ob es einen solchen selbstlosen Sänger jemals gegeben hat, der
ausschließlich um der Kunst willen auftritt.
Zunächst kostet allein die Gesangsausbildung sehr viel Geld und die Investitionen
setzen sich über das Studium hinaus fort, denn wie im Sport ist ein ständig begleitetes Training notwendig, um ein erreichtes Qualitätsniveau zu halten oder zu verbessern und auftretende Herausforderungen zu meistern. Glücklicherweise konnten mich persönlich meine Eltern großzügig unterstützen. Auch der Staat half über
Bafög, kostenfreies Studium und die Künstlersozialkasse mit.
Lassen Sie mich einige Kostenfaktoren aufzählen: Klavierunterricht, Gesangsunterricht, Korrepetition, Körpertraining, Sprachtraining (Englisch, Italienisch, Französisch, Russisch) teilweise im Ausland, Notenmaterial, Reisekosten, Hotelunterkünfte, Konzertkleidung, die man noch nicht einmal steuerlich absetzen kann, weil
einem deutschen Finanzbeamten nicht zu vermitteln ist, dass eine schöne und teure
Konzertkleidung berufsnotwendig ist und es mit einem Kleid nicht allein getan ist.
Schließlich verlangt der Beruf eine Lebensführung, die die oft enormen physischen
und psychischen Anstrengungen ertragen hilft; und auch das kostet Geld. Und
nicht zu vergessen, Risikoversicherung und private Altersversorgung.
Seit Beendigung meines Hochschulstudiums kann ich meinen Lebensunterhalt als
Konzert- und Opernsängerin vollständig selbst finanzieren. Das verschafft mir
einen gewissen Freiraum. So leiste ich es mir zum Beispiel, zu kurzfristige Engagements nicht anzunehmen, wenn die Zeit fehlt, mich gewissenhaft vorzubereiten. (Anfragen kommen immer öfter sehr kurzfristig, da die Finanzierung überall
schwierig geworden ist. So muss man häufig an seine Leistungsgrenzen gehen,
wenn man solche Engagements dann doch annimmt.)
Wäre ich finanziell völlig unabhängig, hätte ich auch die Möglichkeit, mich zu verweigern, wenn Operninszenierungen dem eigentlichen unbeschreiblichen „Gesamterlebnis Oper“ nicht gerecht werden.
Der Zuhörer im Parkett, in der Loge, im Kirchenschiff nimmt den materiellen Hintergrund nicht wahr. Möglicherweise mokiert er sich über die Eintrittspreise und
die Honorare, falls er deren Höhe erfährt. Er kann auch nicht ermessen, welchen
Verzicht eine Sängerin, ein Sänger auf sich nehmen muss. So sind Skifahren und
Bergtouren vertraglich oft nur eingeschränkt gestattet.
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Dennoch: Ich liebe meinen Beruf und gehe darin auf. All das oben Genannte ist
dabei unverzichtbare Voraussetzung. So kann ich als Sängerin hoffentlich eine
Interpretin sein, die dem Zuhörer hilft, musikalische Werke auf einer hochemotionalen, sinnlichen und intellektuellen Ebene zu erfahren. Wenn das gelingt, ist es
für mich sicherlich der Lohn, der unbezahlbar ist.“
6
Literatur
Bredekamp, Horst: Sankt Peter in Rom und das Prinzip der produktiven Zerstörung. Bau
und Abbau von Bramante bis Bernini, Berlin 2008.
Chapeaurouge, D. De, Raffael: Sixtinische Madonna, Frankfurt am Main 1993.
Chapman, Hugo/Henry, Tom/Plazzotta, Carol, Raffael: Von Urbino nach Rom (Katalog zur
Ausstellung in der National Gallery, London, 20.10.2004 bis 16.1.2005), Stuttgart 2004.
Clayton, M.: Raphael and his circle (Ausstellungskatalog), London u.a. 1999–2001.
Esch, Arnold: Über den Zusammenhang von Kunst und Wirtschaft in der italienischen
Renaissance, in: Zeitschrift für historische Forschung 8 (1981), S. 179–256.
Esch, Arnold: Die römische Kurie in der Frührenaissance: Der Hof als Antriebskraft und
messbarer Faktor der Wirtschaft, in: Hofwirtschaft. Ein ökonomischer Blick auf Hof und
Residenz in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Fouquet, Gerhard/Hirschbiegel,
Jan/Paravicini, Werner, Ostfildern 2008, S. 19–38.
Fantoni, Marcello/Matthew Louisa C./Matthews-Grieco, Sara F., (Hg.), The Art Market in
Italy 15th–17th centuries. Il Mercato dell’Arte in Italia secc. XV–XVII, Modena 2003.
Golzio, Vincenzo: Raffaello nei documenti, nelle testimonianze dei contemporanei e nelle
letteratura del suo secolo, Vatican 1936.
Kelber, Wilhelm: Raphael von Urbino. Leben und Werk, Stuttgart 1979.
Ponente, N.: Raffael, Tübingen 1990.
Raddatz, Fritz J.: Von Geist und Geld. Heinrich Heine und sein Onkel der Bankier Salomon,
Köln 1980.
Raffaello: Raffaello. Gli scritti, ed. E. Camesasca, Mailand 1994.
Reinhardt, Stephan: Heinrich Heine, in: Genie und Geld. Vom Auskommen deutscher
Schriftsteller, hg. von Carl Corino, Nördlingen 1987, S. 231–244.
Rosenberger, Adolf: Raffael. Das Meistergemälde, Berlin/Leipzig 1923.
Rowland, Ingrid D.: Raphael, Angelo Colocci, and the Genesis of the Architectural Orders,
in: The Art Bulletin 76 (1994), S. 81–104.
Santi, B. (Hg.): Raffael, Florenz 1993.
Shearman, J.: Raphael in Early Modern Sources (1483–1602), 2 Bände, New Haven/London
2003.
Thoenes, C.: „Il primo tempio del Mondo“. Raffael, St. Peter und das Geld, in: Radical Art
History. Internationale Anthologie. Subject. O.K. Werckmeister, hg. von Wolfgang Kersten,
Zürich 1997, S. 450–459.
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16:11
Seite 181
Thoenes, C.: Raffael 1483–1520, Köln 2005.
Vasari, G.: Das Leben des Raffael. Neu übersetzt von Hana Gründler und Victoria Lorini,
kommentiert und hg. von Hana Gründler, 2. Auflage, Berlin 2004.
Vergoossen, M.: Künstler – Schöpfer – Marktlieferant. Die Etablierung des Künstlers im 19.
Jahrhundert, in diesem Band.
Zahn, L.: Raffael von Urbino, München 1924.
Fußnoten
1 Einen Literaturüberblick zu den modernen Raffael-Biografien seit 1826 bietet Shearman, Raffael in Early Modern Sources, S. 10–19. Von den modernen Raffael-Biografien
sei hier lediglich auf die im Literaturverzeichnis genannte kleine Auswahl hingewiesen: Ponente 1990; Santi 1993; Chapeaurouge 1993; Thoenes 2005. Informativ sind
auch die Kataloge zu den Londoner Raffael-Ausstellungen von Clayton 1999 und Chapman 2004 und ganz neu die Ausstellung „Raffaello e Urbino“ in der Galleria Nazionale
delle Marche (Palazzo Ducale, Urbino, 4.4.–12.7.2009). Die hier folgende Kurzbiografie
hält sich an Hana Gründlers Zusammenfassung in: Vasari, Leben des Raffael, ed. Gründler, S. 198–203.
2 Die kritische Edition des Briefes findet sich in Raffaello, Scritti, ed. Camesasca, 175f.,
ebenfalls bei Shearman, Raffael in Early Modern Sources S. 180–184. Eine Abbildung
des Schreibens bietet Kelber, Raphael von Urbino, S. 488. Die hier zitierte deutsche
Übersetzung ist die von Zahn, Raffael, S. 34.
3 * 6.6.1875 in Lübeck , † 12.8.1955 in Kilchberg bei Zürich. Romancier, Erzähler und
Essayist. Paul Thomas Mann entstammte einer Lübecker Patrizier- und Kaufmannsfamilie und entschied sich genauso wie sein Bruder Heinrich gegen die Fortführung der
väterlichen Handelsfirma. Stattdessen schlug er eine Schriftstellerlaufbahn ein. Nach
einer Italienreise (1895–1897) mit seinem Bruder wurde er 1899 zum Redakteur der
satirischen Zeitschrift „Simplicissimus“. Nach der Heirat 1905 mit Katja Pringsheim
lebte er bis 1933 in München, von wo aus er in die USA emigrierte. Von 1938–1941 war
er Gastprofessor in Princeton und kehrte schließlich im Jahr 1952 nach Europa zurück.
Sein größter Erfolg war der Roman „Die Buddenbrooks“ (1901), für den er 1929 den Literaturnobelpreis erhielt. Weitere bekannte Werke von ihm sind unter anderem „Tristan“ (1903), „Königliche Hoheit“ (1909), „Der Tod in Venedig“ (1912), „Der Zauberberg“
(1924), die Tetralogie „Joseph und seine Brüder“ (1933–1943), „Lotte in Weimar“ (1939),
„Doktor Faustus“ (1947). Die Kurzbiografien der Interviewpartner erstellte Caroline
Wolf.
4 * 27.3.1871 in Lübeck, † 12.3.1950 in Santa Monica/Kalifornien. Romanautor, Essayist,
Verfasser von Erzählungen und Theaterstücken. Heinrich Luis Mann entzog sich
genauso wie sein jüngerer Bruder Thomas dem kaufmännischen Erbe des Vaters und
führte seit 1893 ein Wanderleben in Frankreich und Italien, nachdem er weder in Verlag und Buchhandel noch an der Berliner Universität Fuß fassen konnte. Er war der
führende literarische Repräsentant der Weimarer Republik und schrieb mit Engagement gegen Militarismus, Untertanenmentalität und Nationalsozialismus. 1931 wurde
er Präsident der Preußischen Akademie der Künste (Sektion Dichtkunst), emigrierte
zwei Jahre später nach Frankreich und floh schließlich 1940 in die USA, wo er, im
Gegensatz zu seinem Bruder, bis zu seinem Tod lebte. Wichtige Werke von Heinrich
Mann sind die beiden Geschichtssammlungen „Das Wunderbare“ (1897) und „Das Verbrechen“ (1898) sowie der Roman „Im Schlaraffenland“ (1900), die Romantrilogie „Die
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Göttinnen oder die drei Romane der Herzogin von Assy“ (1903), „Professor Unrat“
(1905), „Das Kaiserreich“ (1914/1925), „Die kleine Stadt“ (1909), „Die Armen“ (1917) und
„Ein ernstes Leben“ (1932).
5 * 24.1.1867 in Zürich, † 12.2.1952 in Meggen/Kanton Luzern. Erzähler, Lyriker und Dramatiker. Ernst Zahn war Lehrling bei seinem Vater, einem Hotelier, in Göschenen (im
Kanton Uri) und wurde 1900, nach Lehrjahren in England und Italien, schließlich
Nachfolger seines Vaters als Hotelier. Im gleichen Jahr hatte er sein erstes literarisches
Debüt mit dem Gedicht „An die gefallenen Arbeiter“ bei der Einweihung des Gotthardtunneldenkmals. Er war Präsident des Landrats von Uri und zählte besonders in
den 1920ern zu den bekanntesten Vertretern der sogenannten Heimatkunst. Zu seinen
erfolgreichsten Werken gehören die Novellensammlung „Helden des Alltags“ (1906)
und der Roman „Lukas Hochstraßers Haus“ (1907). Weitere bekannte Bücher sind
zudem „Erni Beheim“ (1898), „Die Clari-Marie“ (1905), „Verena Stadler“ (1906), „Die
Liebe des Severin Imboden“ (1916) und „Frau Sixta“ (1926).
6 * 10.8.1878 in Stettin an der Oder, † 26.6.1957 in Emmendingen. Romancier, Dramatiker und Essayist. Alfred Döblin stammte aus einer Kaufmannsfamilie. Sein Vater verließ ihn und seine Mutter im Jahr 1888. Die Familie war gezwungen, nach Berlin zu
ziehen, wo Verwandte sie unterstützten. Trotz der schlechten finanziellen Lage gelang
es Döblin, Medizin und Philosophie in Berlin und Freiburg im Breisgau zu studieren
und 1905 zu promovieren. Er war Mitgründer der revolutionär expressionistischen
Zeitschrift „Der Sturm“ (ab 1910) und ließ sich 1911 mit einer eigenen Praxis in Berlin
nieder. Als Jude war er zur Emigration gezwungen und flüchtete zunächst nach Paris
und 1940 nach Amerika. Fünf Jahre später kehrte er nach Deutschland zurück, wo er
von 1946–1952 die Literaturzeitschrift „Das goldene Tor“ herausgab. Sein bekanntestes
Buch ist „Berlin Alexanderplatz“ (1929); weitere Werke sind „Die drei Sprünge des
Wang-Lun“ (1915), „Wallenstein“ (1920), „Berge, Meer und Giganten“(1924), die Trilogie „November 1918 – eine deutsche Revolution“ (1950) und „Hamlet oder die Lange
Nacht nimmt kein Ende“ (1957).
7 * 29.6.1873 in Berlin, † 9.8.1938 in Biganzolo/Italien. Ethnologe, Afrikaforscher und Kulturtheoretiker. Bereits in seiner frühen Jugend befasste sich Leo Frobenius, der
zunächst eine Kaufmannslehre in Bremen absolviert hatte, mit Völkerkunde und
erwarb als Autodidakt ein umfangreiches Wissen. Seine Bearbeitung der damals fassbaren Literatur über Afrika bildete die Grundlage für das von ihm gegründete AfrikaArchiv in Berlin. Zwischen 1904 und 1935 führte er zahlreiche Expeditionsreisen nach
Afrika durch und wurde 1934 in Frankfurt am Main zum Direktor des Städtischen Völkerkundemuseums und zum Honorarprofessor ernannt. 1920 übersiedelte das AfrikaArchiv nach München und wurde unter dem Namen Forschungsinstitut für Kulturmorphologie weitergeführt. 1925 konnte Frobenius mit der Übersiedlung nach Frankfurt eine gesicherte finanzielle Grundlage für sein Institut finden, das er bis dahin
gänzlich mit privaten Mitteln unterhalten hatte. 1932 wurde er Honorarprofessor an
der Universität Frankfurt und 1935 in Personalunion Direktor des Städtischen
Museums für Völkerkunde. Seit 1946 trägt das Institut den Namen seines Gründers
(Frobenius-Institut). Durch seine Werke „Im Schatten des Kongostaates“ (1907), „Und
Afrika sprach“ (1913), „Atlas Africanus“ (1922–30), „Das sterbende Afrika“ (1923), „Hadschra Maktuba“ (1925), „Madsimu Dsangara“ (1931/32), „Kulturgeschichte Afrikas“
(1933) und „Ekade Ektab“ (1937) wurde er „zum Wegbereiter des wieder erwachten afrikanischen Selbstbewusstseins“.
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8 * 7.11.1862 in Birnbaum (Posen), † 18.10.1931 in Berlin. Maler und Grafiker. Lesser Ury
stammte aus kleinsten Verhältnissen, zog 1874 mit seiner verwitweten Mutter nach Berlin und brach 1878 eine Schneiderlehre ab, um Maler zu werden. 1882 studierte er
sowohl in Brüssel bei J. F. Portaels als auch in Paris bei J. Lefebvre. Fünf Jahre später ließ
er sich in Berlin nieder, wobei er weiterhin zu Studienzwecken nach Italien, London
und Paris reiste. Bekannt sind vor allem seine impressionistischen flämischen und märkischen Landschaftsbilder, die 1882 bis 1884 entstanden, sowie die Berliner Straßenbilder und Interieurs. Kurze Zeit widmete er sich auch alttestamentarischen Themen,
kehrte jedoch schnell wieder zur Landschaftsdarstellung zurück. Bekannte Werke von
ihm sind „Capri: Strand mit Booten“ (1890), „Dame im Café“ (1920), „Fruchtschale“ (um
1880), „Nollendorfplatz“ (1925) und „Titusbogen in Rom“ (1890).
9 Vgl. dazu die aktuellen Statistiken der Künstlersozialkasse: http://www.kuenstlersozialkasse.de/wDeutsch/ksk_in_zahlen/statistik/versichertenbestandsentwicklung.php.
Insgesamt erfasst die Statistik 161.822 bei der Künstlersozialkasse im Jahr 2008 versicherte Künstler in Deutschland (Tendenz steigend, im Jahr 1991 waren 47.713 Künstler dort versichert). http://www.kuenstlersozialkasse.de/wDeutsch/ksk_in_zahlen/statistik/durchschnittseinkommenversicherte.php. Die versicherten Künstler kommen
aus den Bereichen Darstellende Kunst, Musik, Bildende Kunst, Wort. Am besten verdienen die Künstler im Bereich Wort mit 17.987 Euro pro Jahr; Künstlerinnen in diesem Bereich verdienen durchschnittlich 13.306 Euro. Auch in diesem Berufszweig verdienen Frauen rund 15 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen.
10 * 1963 in Bremen. Anja Schindler studierte Kunstpädagogik, bevor sie von 1986 bis 1992
ein Studium an der Kunsthochschule Bremen absolvierte. In den Jahren 1992 bis 2006
lebte und arbeitete sie in Sorbello (Italien), zog aber 2006 mit ihrem Mann und ihren
beiden Kindern in die Alte HIFA-Strickwarenfabrik nach Klotten an der Mosel. Ihre Bilder und Grafiken entstehen oft auf Collagen aus alten Dokumenten, Schriftstücken
und Büchern, die sie in ihrer eigenen Technik zusammenfügt. Zu ihren zahlreichen
Ausstellungen zählen unter anderem: La Luce dell’ Umbria, Galerie Bauscher, Potsdam;
Ritornata, Galerie Acht P, Bonn (2007), RASNA. Die Etrusker im Akademischen Kunstmuseum (Bonn, 2008/9); Wirbellose. Kunstprojekt im Garten der Schmetterlinge,
Schloss Sayn (2009).
11 * 1979 in Frankfurt am Main. Silja von Kriegstein ist Schauspielerin und debütierte am
Düsseldorfer Schauspielhaus. Derzeit ist sie am Nationaltheater Mannheim festes
Ensemblemitglied (u.a. als Maria Stuart in „Maria Stuart“, Julia in „Romeo und Julia“,
Lilja in „Lilja 4-Ever“). Gastspiele führten sie unter anderem an das Thalia Theater Hamburg, an das Theater Freiburg und zu den Ruhrfestspielen Recklinghausen. Sie unterrichtet Schauspiel an der Theaterakademie Mannheim und ist Kuratorin des jährlichen
Kulturfestivals „unmarked_space“ auf der Halbinsel Holnis/Glücksburg.
12 * 1969 in Bad Ems. Iris Stephan studierte Malerei und Bildhauerei an der Alanus Hochschule der bildenden Künste in Alfter bei Bonn. Sie lebt und arbeitet in Köln und hat
2005 den Kunstraum K5 gegründet, den sie auch leitet. Seit dem Jahr 2006 ist sie Mitglied der Künstlergruppe „die kunstkreditkarte“ und wurde 2007 in die Gedok Köln
aufgenommen. Zu ihren jüngsten Ausstellungen zählen Nord Art – International/Kunst
in der Carlshütte (2009) und „horror vacui – oder die Angst vor der Leere“ Gruppenausstellung im K5/Köln (2008).
13 * 1962 in München. Ulrike Draesner studierte Jura, Anglistik, Germanistik und Philosophie in München und Oxford. Sie promovierte 1992 mit einer Arbeit zu Wolfram von
Eschenbachs „Parzival“. Um sich ganz dem Schreiben widmen zu können, kündigte sie
ihre Universitätsstelle. 1995 erschien ihr erstes Buch, der Gedichtband „gedächtnisschleifen“. Ulrike Draesner lebt und arbeitet in Berlin als Dichterin, Prosaautorin und
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Essayistin. Sie übersetzt aus dem Englischen, gibt Workshops, Seminare und Poetikvorlesungen. Zu ihren Büchern zählen: „Hot Dogs“ (2004), „Kugelblitz“ (2005),
„Spiele“ (2005), „Schöne Frauen lesen“ (2007), „Zauber im Zoo. Vier Reden von Herkunft
und Literatur“ (2007), „berührte orte“ (2008).
14 Sollten Ihnen diese Ausführungen gefallen haben, überweisen Sie bitte eine günstig
alliterierende Summe an www.draesner.de. Verfahren Sie analog mit einer höheren
Summe, falls Ihnen diese Ausführungen missfallen haben.
15 *1971 in Marburg an der Lahn. Mezzosopranistin. Franziska Gottwald studierte an den
Musikhochschulen in Saarbrücken, Hannover und Weimar. 1998 wurde sie festes
Ensemblemitglied im Deutschen Nationaltheater Weimar. 2002 Gewinnerin des Internationalen Leipziger Bachwettbewerbs. Sie ist in zahlreichen Rundfunk- und CD-Produktionen zu hören, so im Mitschnitt der jüngst entdeckten Matthäuspassion von
C. Ph. E. Bach unter Ton Koopman sowie dessen Gesamteinspielung der Kantaten
Bachs, die 2006 den Edison Award gewann. Im Mai 2009 war sie bei den Schwetzinger
Festspielen in der Kantate „Arianna a Naxos“ und in der Cavatina „Del mio core“ (aus
„L’Anima del Filosofo“) zu hören.
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Kann denn Schenken Sünde sein?
Liebesgaben in Literatur und Kunst von Ovid bis
zum Gothaer Liebespaar (um 1480)1
Ludger Lieb
Kann das wirklich Sünde sein,
wenn man immerzu an einen nur denkt,
wenn man einmal alles ihm schenkt,
vor Glück?
Zarah Leander, 1940
1
Alles geben oder nichts nehmen wollen:
ein Phänomen der Neuzeit?
Die Frage, ob es Sünde sein kann, seinem Geliebten vor Glück alles zu
schenken, ist eine rhetorische Frage. Sie fordert als Antwort eine Absolution: „Nein, natürlich ist es keine Sünde, aus lauter Liebesglück jeden
ökonomischen Verstand preiszugeben und sich materiell zu verausgaben. Es ist ja Liebe, und Liebe ist etwas Gutes, vielleicht sogar das Beste,
was der Mensch zu bieten hat und was ihn mit dem Göttlichen verbindet.“ Die rhetorische Frage markiert auch, dass die Liebe möglicherweise
gerade wegen ihrer Eigenart, absolut zu sein und nichts anderes (schon
gar nicht den ökonomischen Verstand) gelten zu lassen, „Sünde“ ist,
jedenfalls wenn man Sünde als ein Handeln definiert, das gegen moralische Normen oder gegen Gottes Gebot verstößt. Die alles verschenkende Liebe zu einem anderen Menschen verstieße immerhin gegen die
moralische Norm ökonomischer Vernunft ebenso wie gegen das christliche Gebot, nach dem nur Gott als dem einzig Absoluten die größtmögliche Hingabe gebühre. (Wirklich keine Sünde wäre es, wenn Zarah
Leander – was eher unwahrscheinlich ist – mit dem „einen“, an den sie
immerzu denkt, Gott meinte.)
Dass Zarah Leanders Hymne an die Liebe das prekäre Verhältnis von
Liebe und Ökonomie berührt, ist nicht überraschend und keineswegs
der Dominanz des ökonomischen Diskurses in der Moderne geschuldet.
Um mit Heine zu sprechen: „Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie
immer neu …“. Diese alte Geschichte in ihren unterschiedlichen und je
neuen Manifestationen aufzuspüren, ist das Ziel dieses Beitrags.2
Bevor ich hierzu meine Beispiele aus der mittelalterlichen Literatur und
Kunst präsentiere, bleibe ich mit weiteren vier Liedzeilen noch einmal
kurz in der Neuzeit.
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Laß, o Welt, o laß mich sein!
Locket nicht mit Liebesgaben,
Laßt dieß Herz alleine haben
Seine Wonne, seine Pein!
Eduard Mörike, 1832
Die Zeilen entstammen dem Gedicht „Verborgen“ von Eduard Mörike
und mögen exemplarisch zeigen, dass neben dem „Alles-Schenken-Wollen“, der unbedingten Gabe und vollständigen Hingabe auch das entgegengesetzte Prinzip der Distanzierung des Liebenden von Liebesgaben
geläufig ist. Wenn diese Zeilen nicht schon 100 Jahre früher gedichtet
worden wären, könnte man meinen, hier die abweisende Antwort des
umworbenen Mannes auf Zarah Leanders Sucht, Liebesgaben zu verschwenden, herauszuhören.3
Mit schlichten Worten entwirft Mörike ein romantisches Ich, das sich als
in sich selbst ruhendes Zentrum gegen die Welt behaupten will. Es
besteht auf einen Freiraum der Emotionen4, auf einen Ort, der sich verbirgt, der nicht von Austausch mit den anderen, nicht von Lockungen
und Gaben, nicht von geteilter oder teilbarer Empfindung, nicht vom
gemeinsam Haben bestimmt ist, sondern vom „alleine haben“. Derjenige, der hier spricht, insistiert auf sein Recht, alleine zu genießen und
zu leiden. Für die Welt, der dieser Freiraum des Herzens abgerungen
wird, stehen die „Liebesgaben“. Sie gehören offenbar einer Welt an, die
nicht lässt, sondern lockt, die die Wahrheit der inneren Empfindung teilen und über sie verfügen will. Liebesgaben stehen für ökonomische Austauschprozesse, ob sie nun als der „Rat wohlmeinender Freunde“5 oder
als materielle Geschenke einer Liebenden zu verstehen sind. Solche Liebesgaben verletzen mit ihrem ökonomischen Mechanismus die Reinheit
einer Empfindung. Liebesgaben stören die wahre Liebe. Und dies ist ebenfalls eine „alte Geschichte, die immer neu bleibt“: Störungen, Probleme
und Konflikte werden – meist unfreiwillig – von Liebesgaben verursacht,
mit Liebesgaben ausgedrückt oder durch Liebesgaben überspielt.
Ob aber der Liebende mit Zarah Leander alles verschenken will oder mit
Mörike jeder Liebesgabe absagt: Beide Verhaltensweisen sind Extreme
und bleiben selbst in ihrem rigorosen Abweisen der Ökonomie doch
unabwendbar auf sie bezogen.
2
Theoretische Präliminarien: Liebesgaben als Zeichen
Um die folgenden Analysen methodisch abzusichern, sei eine Systematisierung vorangestellt mit der Leitfrage: Welche Funktionen haben
Liebesgaben in Liebesbeziehungen?
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Die unentgeltliche Gabe von Gegenständen in Liebesbeziehungen zwischen Frau und Mann ist zweifellos ein kulturell weitverbreitetes Phänomen. Liebende schenken sich bis heute Ringe, Blumen, Schmuck, je
nach Stand und Vorliebe auch Gutscheine, Bücher, Autos oder Schlösser.
Diese Liebesgaben – so die gängige Auffassung – sollen Zeichen der Liebe
des Gebenden sein, das heißt, sie weisen zurück auf den Gebenden und
symbolisieren seine Absichten, seine Gedanken und Hoffnungen, sie
bezeichnen den Wert, den der Gebende jener Liebe zumisst, die er zu
dem Beschenkten empfindet oder die zwischen den beiden Liebenden
besteht.
Liebesgaben sind also in erster Linie Zeichen. Das ist eine wichtige Unterscheidung zu Gaben in anderen Zusammenhängen; denn Gaben können innerhalb einer Zirkulation von Gaben und Gegengaben, zumal in
verrechtlichten Interaktionsprozessen, vorwiegend materiell-ökonomisch funktionieren. In diesem Sinne gehören auch die Gaben im rechtlichen Umfeld mittelalterlicher Eheschließungen, etwa die Mitgift seitens der Brauteltern oder die Morgengabe seitens des Mannes, nicht zu
den Liebesgaben. Bei Liebesgaben handelt es sich um „an-ökonomische“
Gaben, die also gerade nicht auf eine Gegengabe zielen (auch wenn
diese Anökonomie – Derrida hat darauf hingewiesen – letztlich immer
unerreichbar bleibt), sondern die in erster Linie die Liebe des Gebenden
oder die Liebe zwischen Gebendem und Empfangendem bezeichnen.
Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Hypothese, dass die Möglichkeiten einer solchen Bezeichnung differenziert werden müssen,
wenn man die Geschichte der Liebesgabe rekonstruieren und verstehen
will. Wie also kann die Liebesgabe bezeichnen, und worauf bezieht sich
das Zeichenhandeln? Ich möchte insgesamt sechs Möglichkeiten in zwei
Kategorien unterscheiden, die diese Zeichenhaftigkeit vielleicht nicht
vollständig erschließen, aber doch sicher ihre dominanten Aspekte
erfassen. Die theoretische Differenzierung veranschauliche ich jeweils
anhand einer noch heute üblichen Liebesgabe, anhand des Rings.
Grundsätzlich sind symbolische von metonymischen Bezeichnungsmöglichkeiten zu unterscheiden. Die Kategorie „symbolisch“ wird hier
in einem weiten Sinn für alle Zeichenrelationen verwendet, in denen ein
Gegenstand stellvertretend für einen Sinn, eine Aussage, einen anderen
Gegenstand oder eine Person steht. Ausgangspunkt ist die materielle
Beschaffenheit, die Gegenständlichkeit der Gabe, der ein übertragener
Sinn zugeordnet wird. Meist liegt bei den Liebesgaben eine Ähnlichkeitsrelation vor (ikonisches Zeichen nach Peirce), gelegentlich auch
eine arbiträre, konventionalisierte Relation (symbolisches Zeichen nach
Peirce). Ein indexalisches Zeichen nach Peirce ist weniger die Gabe an
sich, sondern der Akt des Gebens (im Sinne eines Symptoms): Das Geben
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verknüpft der Empfangende, weil er diese kulturelle Erfahrung hat, kausal mit der Ursache, dass der Gebende ihn liebt.
In der ersten Kategorie, unter den symbolischen Zeichenfunktionen der
Liebesgabe, gibt es eine Gruppe, die besonders häufig vorkommt und die
besonders umstritten ist. Ich stelle sie deshalb als Sonderfall voran:
1. Materieller Tauschwert als Zeichen der Liebe: Die Höhe des materiellen
Tauschwerts bezeichnet den hohen Wert, den der Gebende der Liebesbeziehung zumisst. – Am Beispiel des Rings bedeutet das: Der Ring
kann aus wertvollem Gold sein, und dieser Wert bezeichnet den Wert
der Liebe.
Alle anderen symbolischen Zeichenfunktionen der Liebesgabe fasse ich
als zweite Gruppe zusammen:
2. Liebessymbole: Liebesgaben sind unter anderem aufgrund ihrer
Beschaffenheit, ihrer Farben und Formen als Zeichen für die Liebe des
Gebenden zu deuten: Rote Blumen etwa stehen für brennende Liebe.
Auch der ästhetische Aspekt der Liebesgaben gehört teilweise hierher:
Die Schönheit ist Zeichen dafür, wie schön der Empfangende für den
Gebenden ist. – Am Beispiel des Rings: Die Kreisform bezeichnet
Unendlichkeit der Liebe, die Beständigkeit des Materials bezeichnet
Treue usw.
Unter die zweite Kategorie, die metonymischen Bezeichnungsmöglichkeiten, fallen alle Möglichkeiten der Bezeichnung, in denen die Liebesgabe ein vergangenes Ereignis oder den abwesenden Gebenden in
Erinnerung ruft oder präsent macht. Ich fasse diese Bezeichnungen im
weiten Sinne als „metonymische“ auf, weil hier keine Ähnlichkeiten
und keine konventionalisierten Zeichenrelationen vorliegen, sondern
ein realer Zusammenhang zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten besteht. Dabei ist – als Extreme auf einer Skala – zwischen einer
bloßen Erinnerung und einer magischen Präsenz des faktisch Abwesenden zu unterscheiden. Im einen Fall könnte man von einem Abwesenheitszeichen sprechen (das entspricht dem, was man ein Minnepfand nennt), im zweiten Fall von einem Anwesenheitszeichen, also
eine Art Fetisch. Metonymisch bezeichnet werden durch die Liebesgaben vor allem die Geschichte ihres Erwerbs, die Geschichte ihrer Herstellung, der Akt des Gebens und der Gebende selbst. Da in jedem der
genannten Fälle die Liebesgabe mit der Person des Gebenden in einem
realen Zusammenhang steht, kann man auch von einer Personalisierung
der Gabe sprechen.
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3. Geschichte des Erwerbs der Liebesgabe: Durch den eigenen Erwerb
bekommt die Gabe einen personalen Identifikationswert. Je höher
der persönliche Einsatz, umso mehr kann die Gabe als Zeichen auf
den Gebenden zurück verweisen. Die Geschichte ist in der Gabe
gespeichert und kann stets wieder abgerufen werden. Zum persönlichen Einsatz kann es auch gehören, gedanklichen Aufwand zu betreiben, um dem Partner ein wohl gefallendes Geschenk zu machen.
Daher gehört die ästhetische Dimension teilweise auch zu dieser Zeichenfunktion: Weil der Empfangende die Gabe schön findet, verweist
sie auch auf die Qualität des Gebers und seine Beziehung zum Empfänger. – Am Beispiel des Rings: Wenn die Frau ihrem Geliebten einen
Ring aus einem seltenen Material schenkt, von dem die Frau weiß,
dass der Mann es liebt, und wenn sie extra wegen des Rings in ein fernes Land gereist war, weil es nur dort einen solchen Ring gibt, verweist der Ring stets auf diese Erwerbsgeschichte, und sie verleiht dem
Ring eine besondere Bedeutung. Analog gilt das natürlich auch schon
für die an der Schießbude geschossene Papierblume.
4. Geschichte der Herstellung der Liebesgabe: Liebesgaben können auf ihre
Herstellung oder ihre Erzeugung, auf ihre Herkunft verweisen. Sie speichern die Geschichte, die sie als Gegenstand haben. Wenn sie selbst
gemacht oder selbst bearbeitet wurden, bekommen sie einen personalen Identifikationswert. Durch die eigenhändige Arbeit am Material
kann die Gabe eine besonders starke metonymische Aufladung bekommen und zu einem Fetisch werden, das heißt, in der Liebesgabe ist der
Hersteller auf magische Weise präsent. – Am Beispiel des Rings: Der
selbstgemachte Ring verweist auf den liebenden Hersteller.
5. Akt des Gebens der Liebesgabe: Die Gabe kann einen situativen Erinnerungswert haben, das heißt, mit der Liebesgabe wird eine Memoria
gestiftet. Sie erinnert an die herausgehobene Situation des Schenkens, an das „Datum“ des Gebens. – Am Beispiel des Rings: Der Ring
erinnert an die Verlobung, Eheschließung oder Ähnliches.
6. Der Gebende ist in der Liebesgabe metonymisch präsent: Dies ist die höchste
Steigerungsform jeder der unter den Punkten 3 bis 5 erwähnten Zeichenfunktionen, soll hier aber nochmals als eigener Punkt gefasst
werden. Der Verweischarakter der Liebesgabe wird in diesem Fall zu
einem Anwesenheitszeichen (Fetisch) transformiert. – Am Beispiel
des Rings: Der Ring ist Objekt magischer Anwesenheit des abwesenden Schenkers. Um solche Anwesenheit wiederum zu deklarieren,
kann in den Ring der Name des Partners eingraviert werden; der
Gebende schreibt sich so in die Gabe ein. Wie sehr dieses Moment
auch heutzutage wirksam ist, ist daran zu erkennen, dass insbeson189
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dere Männer in bestimmten verfänglichen Situationen den Ehering
abstreifen.
Die multifunktionale Zeichenhaftigkeit der Liebesgabe macht die
Geschichte der Liebesgabe, die nun in einigen Grundzügen nachgezeichnet werden soll, zu einem faszinierenden Objekt kulturwissenschaftlicher Erforschung. Noch heute prägen solche Liebescodierungen
und Liebesregeln unser zwischengeschlechtliches Miteinander.
3
Kleine Gaben mit großer Wirkung:
Ovids „Ars amatoria“ und „Amores“
Die Geschichte der abendländischen Liebe und Liebesreflexion beginnt
in der Antike. Das Mittelalter hat einige Aspekte der Liebe neu akzentuiert, beispielsweise die literarische Stilisierung der Liebeswerbung zu
einem höchst subtilen Akt des Singens im sogenannten Hohen Minnesang. Doch vieles ist durchaus schon geprägt gewesen, und so beginnt
auch die Geschichte der Liebesgabe und ihrer Reflexion in der Antike.
Ich möchte das exemplarisch an Ovid aufzeigen, der zu den im Mittelalter am meisten rezipierten Autoren der Antike gehört.
In seinen „Ars amatoria“ schreibt Ovid durchaus ironisch, er lebe wahrhaft in einem goldenen Zeitalter, denn durch Gold erwerbe man jetzt
höchste Ämter im Staat und durch Gold gewinne man auch die Liebe
(Ovid: „Ars amatoria“ II, 278):6
auro conciliatur amor (mithilfe von Gold wird die Liebe erworben)
Selbstverständlich ist diese Aussage Ovids nicht normativ, sondern deskriptiv: Ovid will nicht sagen, dass man die Liebe durch teure Gaben
erkaufen soll, sondern er beschreibt und beklagt den Ist-Zustand seiner
Zeit, in der offenbar ökonomische Tauschgeschäfte auch den zwischenmenschlichen Bereich regeln und den emotionalen Haushalt zu
dominieren beanspruchen. Die Kritik an einer wie auch immer käuflichen Liebe beginnt schon hier. Aber auch, was Ovid normativ über Liebesgaben zu sagen hat, steht am Anfang einer langen Tradition (Ovid:
„Ars amatoria” II, S. 261 f.):
Nec dominam iubeo pretioso munere dones:
Parva, sed e parvis callidus apta dato.
(Nicht heiß’ ich dich, der Herrin kostbare Gaben zu schenken:
Kleine gib ihr, doch schlau suche die passenden aus.)
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Liebesgaben werden nicht verworfen, wie die Kritik am „goldenen“ Zeitalter vermuten ließe, sondern Liebesgaben werden durchaus empfohlen. Jedoch führt Ovid Voraussetzungen für die richtige Liebesgabe an.
Der Wert der Liebesgabe muss gering sein (parva). Warum? Weil die
Gefahr besteht, dass der Wert nicht mehr als Zeichen verstanden wird
(im Sinne von: kostbare Gabe symbolisiert kostbare Liebe), sondern dass
der materielle Tauschwert (erste Zeichenfunktion der Liebe, siehe Punkt
1) an sich interessiert. Würde aber die Dame die Liebesgabe nur ihres
materiellen Wertes wegen nehmen, wäre die Liebe nichts wert.
Des Weiteren fordert Ovid die Angemessenheit, das aptum der Gabe:
Schlau solle man passende Gaben auswählen. Offenbar geht es darum,
die Aufmerksamkeit, die kluge Umsicht des Schenkenden in der Gabe
zum Ausdruck zu bringen, also mittels der Gabe auf den Schenkenden
zeichenhaft zu verweisen. Die Geschichte des Erwerbs der Liebesgabe
(Punkt 3), der personale Identifikationswert, manifestiert sich – wie
oben ausgeführt – im gedanklichen Aufwand für die Angemessenheit
der Gabe. Ovid versteht unter passenden Gaben solche, die sich in den
jahreszeitlichen Kontext einordnen, beispielsweise im Sommer einen
Korb mit frischem Obst. Zusätzlich empfiehlt er – und das wäre die zeichenhaft wirkende Geschichte der Herstellung (Punkt 4) –, man solle der
Dame sagen, die Früchte habe man heute erst frisch vom (eigenen) Landgut bekommen, sie seien also quasi selbst gemacht. Dies solle auch dann
behauptet werden, wenn man das Obst gerade erst beim Händler an der
Straßenecke gekauft habe. So bekommt die Liebesgabe ihren personalen
Identifikationswert.
Weil nun aber Obst zum Essen da ist, ist dieser Liebesgabe schließlich –
auch wenn Ovid dies nicht ausdrücklich thematisiert – ein Wert als Liebessymbol zu eigen (Punkt 2): So wie das „personalisierte“ Obst von der
Geliebten gegessen wird, so will der Liebende ganz von der Geliebten einverleibt werden: Die Liebesgabe symbolisiert die körperliche Liebesvereinigung.
In der 15. Elegie des 2. Buchs seiner Amores (Liebesgedichte) – um noch
ein zweites Beispiel von Ovid zu präsentieren – finden sich ebenfalls verschiedene Bezeichnungsmöglichkeiten einer Liebesgabe. Der Liebhaber
spricht hier einen Ring an, den er seiner Geliebten als Liebesgabe senden will (Ovid: „Amores“, II 15,1 f.):
Anule, formosae digitum vincture puellae,
In quo censendum nil nisi dantis amor.
(Ring zu umspannen bestimmt den Finger der schönen Geliebten,
Kostbar allein, weil der, der dich ihr schenkt, sie auch liebt.)
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Hier wird zunächst die Möglichkeit abgelehnt, dass der materielle
Tauschwert der Liebesgabe an sich irgendeine Relevanz haben könne.
Ovid verschiebt das Begründungsverhältnis: Der Ring bezieht seinen Zeichenwert als Liebesgabe nicht aus seinem materiellen Tauschwert, sondern allein aus dem Wert des Bezeichneten, der Liebe des Gebenden.
Der irrelevant gewordene materielle Tauschwert wird im weiteren Verlauf des Gedichts vom metonymischen Präsenzwert (Punkt 6) abgelöst.
Inspiriert von der erotischen Vorstellung, dass sie ihren Finger durch
den Ring stecken und mit ihm spielen werde (II 15,7: tractaberis) – hier ist
der Ring deutlich ein Liebessymbol (Punkt 2) –, wünscht er sich eine Verwandlung herbei (Ovid: „Amores“, II 15,9 f.):
O utinam fieri subito mea munera possem
Artibus Aereae Carpathivii senis.
(Wenn doch durch Circes Kunst oder die des karpathischen Greises
[=Proteus]
Ich mich zu wandeln vermöcht’ in meine Gabe sogleich.)
In mehreren Varianten imaginiert der Liebhaber nun, wie er – als Ring
an der Hand der Geliebten – in deren intimste Körpergegenden vordringt, wie er bei ihr präsent wird, sie plötzlich direkt anredet (ab V. 19),
bis er von ihrer Nacktheit erregt sich schließlich in einen Mann zurückverwandelte (Ovid: „Amores“, II 15,25 f.):
Sed, puto, te nuda mea membra libidine surgent,
Et peragam partes anulus ille viri.
(Aber ich glaub’, wenn du nackt bist, wird Lust das Glied mir erheben,
Und in der Rolle des Manns zeige dann ich mich, der Ring.)
Am Ende bleibt zwar nur die resignierte Einsicht, dass dieses Wünschen
umsonst und der Ring eben in seiner bloßen Zeichenhaftigkeit nichts
anderes als ein Liebessymbol (Punkt 2) sei. Doch mit dem ganzen Liebesgedicht ist der metonymische Präsenzwert (Punkt 6) auf poetische
Weise genau getroffen. Denn dieser bedeutet nicht, dass die Liebesgabe
leibhaftig den Gebenden präsent zu machen vermag (so wie es Ovid im
Gestaltentausch imaginiert) und sie damit gar kein Zeichen mehr wäre,
sondern dass die Liebesgabe als Anwesenheitszeichen auf durchaus
rational unbegreifliche Weise den abwesenden Geber körperlich erfahrbar werden lässt.
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Hütet euch vor Liebesgaben! – Die mittelalterliche
Minnedidaxe als Radikalisierung Ovids
Wie geht nun die Geschichte der Liebesgabe im Mittelalter weiter?
Was sagen die mittelalterlichen Dichter dazu? Richten wir zunächst
einen Blick auf die quasi didaktischen Texte, die über die Minne
reflektieren. Wer den viel beachteten, gleichwohl im Mittelalter sowie
in der modernen Forschung umstrittenen Traktat „De amore“ des
Andreas Capellanus liest, könnte meinen, Ovid, der letztlich auf
galante Art Empfehlungen zur Verführung von Frauen gibt, habe im
Mittelalter würdige Nachfolger gefunden. Die drei Bücher über die
Liebe, um das Jahr 1200 von einem französischen Hofkaplan in lateinischer Sprache verfasst, geben jedenfalls Regeln an die Hand, wie
man Frauen aus bestimmten Ständen und in bestimmten Situationen
verführen kann.
Ähnlich wie Ovid empfiehlt auch Capellanus, der Geliebten unter
bestimmten Bedingungen Liebesgaben zu überreichen („De amore“,
Buch II, vii, S. 49):7
(...) ut generali sermone loquamur, quodlibet datum modicum, quod ad corporis
potest valere culturam vel aspectus amoenitatem, vel quod potest coamantis afferre
memoriam, amans poterit a coamante percipere, si tamen dati acceptio omni videatur avaritiae suspicione carere.
(Um es allgemein auszudrücken, jede bescheidene Gabe, die zur Pflege
des Körpers oder zur Schönheit des Anblicks dienen kann oder die zur
Erinnerung an den Liebespartner beitragen kann, wird eine Liebende
vom Liebespartner annehmen können, wenn nur die Annahme der
Gabe jeglichen Verdacht der Habgier zu entbehren scheint.)
Wir kennen das schon: Die Liebesgabe muss klein und bescheiden sein,
der materielle Tauschwert könnte sonst den Akt des Empfangens der
Gabe verdächtig machen, verdächtig, weil die Empfangende die Gabe
wegen ihres materiellen Wertes begehren könnte. Capellanus scheint
auch die Angemessenheit der Liebesgabe für wichtig zu halten. Gegenüber Ovid wird die Erinnerung an den Geber deutlicher hervorgehoben,
wobei nicht gesagt wird, wie das geschehen soll: Mit der Gabe kann
jedenfalls die Memoria an den Gebenden gestiftet werden.8
Obwohl es also vor allem im mittelalterlichen Frankreich eine Fortsetzung auch der galanten Liebeskunst Ovids gab, ist – zumindest im deutschen Mittelalter – im Bereich der Reflexion über Liebesgaben eine deutliche Neuakzentuierung festzustellen. Ansätze einer Verführungskunst
durch Liebesgaben fehlen fast gänzlich, stattdessen tritt eine Proble-
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matisierung von Liebesgaben, wie sie schon bei Ovid angelegt war, in
den Vordergrund. Zwei Beispiele mögen dies illustrieren.
Ulrich von Liechtenstein rät Mitte des 13. Jahrhunderts in seinem „Frauenbuch“ (V. 587–590):9
kleinât suln wesen kleine.
sô sint si ze nemen reine;
man sol dâ liebe erzeigen mit.
daz ist der reinen minne sit.
(Kleinodien sollen klein sein,
dann kann man sie ohne falsche Absichten (rein) annehmen;
man soll mit ihnen Wohlgefallen anzeigen.
Das ist das richtige Verhalten der reinen Minne.)
Ulrich insistiert wie Ovid darauf, dass eine Liebesgabe einen geringen
materiellen Tauschwert haben soll. Darüber hinaus benennt er ausdrücklich die Funktion der Liebesgabe als Zeichen, das durch eine zu
wertvolle Gabe gefährdet würde. Auffallend ist, dass von Liechtenstein
gleich zweimal das Wort „reine“ benutzt: Damit markiert er, dass die Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau als eine idealisierte und als
eine Personenbeziehung gedacht ist, die jenen materiellen Austauschprozessen enthoben ist, die die Beziehung „verunreinigen“ würden.
Diese reine Minne kann durch Kleinodien höchstens bezeichnet, aber
niemals hervorgebracht werden.
In einer patriarchalisch geprägten Kultur, in der auch im 13. Jahrhundert noch ganz weitgehend die Männer die Bindungen zwischen Mann
und Frau ökonomisch herstellten und regelten, ist eine solche Minnekonzeption provokativ. Die Liebe, die sich der männlich-ökonomischen
Verfügbarkeit enthebt und auf innere, nicht-materielle Werte gründet,
mag für den neuzeitlichen Westeuropäer eine Selbstverständlichkeit
sein – im Hohen Mittelalter war sie eine neue Idee, und sie musste sich
zuallererst als Denkmodell, als neue Codierung von Intimität (Niklas
Luhmann) durchsetzen und etablieren.
Denken wir den Gedanken einer solchen reinen Minne konsequent weiter, können wir auch zu einer radikalen Haltung kommen, nämlich zur
Forderung, Minne müsse von ökonomischen Austauschprozessen vollständig abgelöst werden. Dies fordert zu Beginn des 13. Jahrhunderts
Thomasin von Zerklaere in seinem Werk „Der Welsche Gast“ in den Versen 1221–1226 und 1239–1242:10
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Ich lêrte, swer guot minn hân wolde,
daz ers mit gâb niht werven solde.
swer umbe minne wirbt mit guot,
der erkennet niht des wîbes muot,
ob si im sî von herzen holt
od ob si neme vür in golt. (...)
swer mit hüfscheit niht werven kan,
der wirt billîch ein koufman.
gekouft minn hât niht minne kraft,
sine kumt niht in eigenschaft.
(Ich lehrte, dass der, der eine gute Minne haben will,
nicht mit Gaben werben sollte.
Wer nämlich mit materiellem Gut um Minne wirbt,
erkennt die Einstellung der Frau nicht,
erkennt nicht, ob sie ihn von Herzen liebe
oder ob sie ihm das Gold vorzöge. (…)
Wer nicht mittels seines höfischen Verhaltens werben kann,
der wird zu Recht zu einem Kaufmann:
Gekaufte Minne besitzt nicht die Kraft der (wahren) Minne,
diese kommt niemals in Unfreiheit und materieller Abhängigkeit.)
Das Herz der Dame, so Thomasin, sei demjenigen unzugänglich, der mit
Liebesgaben werbe; denn die Dame könnte aus Interesse an dem materiellen Wert der Gabe, aus Interesse am Gold nur vortäuschen, dass sie
den Werbenden liebe. Eine gekaufte Minne sei daher von Anfang an
schwach, weil ihr die Erkenntnis der inneren Wahrheit fehle. Hier wird
eine neue Innerlichkeit propagiert, eine Autonomie des Herzens, eine
Authentizität innerer Zustände, wie sie später für die Kultur der Neuzeit
so wichtig werden.
Für das Spätmittelalter kann jedenfalls festgestellt werden, dass in den
Lehren, die zum Beispiel die sogenannten Minnereden über die Liebe
enthalten, die Dichotomie von reiner Liebe und Liebe aufgrund eines
materiellen Gewinns fest etabliert ist. Unter dichotomen Oberbegriffen
wie „Minne und Pfennig“ wird jene Minne verdammt, die nur auf Liebesgaben und Geld aus ist, zugleich wird jene Minne verherrlicht, die
sich nur auf innere Werte wie „triuwe“ (Treue) und „staete“ (Beständigkeit)
gründet.
Ein Beispiel möge genügen: In der Minnerede „Wahre und falsche
Liebe“11 streiten sich zwei Frauen um das richtige Liebeskonzept:
Während die Vertreterin der wahren Liebe Treue, Beständigkeit und
Ehre hochhält, besteht die Vertreterin der falschen Liebe darauf, dass
man aus der Liebesbeziehung materiellen Gewinn ziehen müsse, sonst
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sei die Liebe nutzlos: „mynn on gab acht ich clain“ (Liebe ohne Gaben
schätze ich nicht) oder – etwas plakativer –: „Nymmer pfenning, nymmer
gesell“ (kein Geld, keine Geliebte). Die falsche Liebe ist also darauf aus,
Gaben der Liebe zu erwerben, aber nicht ihres Zeichenwertes wegen,
sondern weil sie den Tauschwert der Gaben schätzt; die wahre Liebe
dagegen negiert Gaben mit potentiellem Tauschwert prinzipiell, weil sie
die Absolutheit und Reinheit der Minnebeziehung gefährden.
5
Kein Platz für Gaben: Das Konzept der Hohen Minne
Wenn wir den Blick auf die nicht-didaktische Literatur richten, also auf
Texte, in denen von bestehenden oder erwünschten Liebesbeziehungen
berichtet wird, ergibt sich ein Befund, der nach den bisherigen Ausführungen nicht sonderlich überrascht. In jenen literarischen Texten,
die den Diskurs über die höfische Minne im deutschsprachigen Raum
um 1200 dominieren, kommen Liebesgaben nur selten vor. Im Hohen
Minnesang ist das besonders deutlich: Welcher Minnesänger hätte je
über schöne Ringe, Kleinodien oder Pretiosen, die er seiner Liebsten dargebracht hat oder darbringen wollte oder die er gar von ihr erhalten hat,
gesungen? Die Liebesgabe ist der höfischen Minne wesensfremd. Das
Konzept der Hohen Minne ist weder ein verführerisches Buhlen um die
Geliebte, eine Werbung mittels kostspieliger Gaben, noch kann diese
Minne durch Gabentausch dauerhaft erhalten werden. Im Gegenteil:
Die Hohe Minne fordert nicht Gabe, sondern Hingabe: Statt vom Gabentausch redet die Hohe Minne daher vom Herzenstausch (siehe auch das
folgende Kapitel). Ich vermute, dass die Minnesänger das „Thema“ der
Minnegabe bewusst ausgeblendet haben, um einer interpersonalen Verbindlichkeit zu huldigen, die ausschließlich in ethischen Wertzuschreibungen gründet, vielleicht auch, weil die Minnesänger wussten,
dass Minnegaben Probleme in der Liebesbeziehung indizieren.
Bestätigt wird diese Interpretation des Befunds durch Ausnahmefälle:
Gaben der Minne kommen gelegentlich auch im Minnesang vor, allerdings gerade in jenen Liedern, in denen das Konzept einer ethisch-ästhetisch hochstehenden Minne unterlaufen wird: So erzählt um 1300 der
Züricher Bürger und Minnesänger Hadlaub von einer misslungenen
Übergabe eines Minnepfands: Seine Dame wirft ihm die erbetene Gabe
(eine Nadeldose aus Elfenbein) vor die Füße, womit die Minnegabe pragmatisch scheitert.12 Und schon im „Falkenlied“ des Kürenbergers, also
zeitlich vor dem Hohen Minnesang, sind der Goldschmuck des Gefieders
und die seidenen Riemen an den Füßen des fortgeflogenen Falken weithin sichtbare Zeichen der Minne, die die Problematik einer vergangenen
Minnebeziehung indizieren.13 Im parodistischen Gegensang eines Neidhart kommen ebenfalls Liebesgaben vor: Die Bauernmädchen wollen
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rote Stiefel als Geschenke, und die Bauernburschen streiten sich um den
Spiegel der schönen Friderune. Hier schätzen die Mädchen die Liebesgaben des ritterlichen Charmeurs ihres Tauschwertes wegen, und die
Burschen zerstören den Spiegel, weil sie ihn wie ein materielles Objekt
– nicht aber mit dem richtigen Minneverhalten – begehren.
Wo Liebesgaben auftreten, ist tendenziell von Hoher Minne nichts mehr
oder noch nichts zu erkennen.14 Deutlich reflektieren diesen Sachverhalt die zwei Liebesbeziehungen im „Aeneasroman“ Heinrichs von Veldeke. Während das vorläufige und unerfüllt endende Minneverhältnis
zwischen Dido und Aeneas von Liebesgaben dominiert ist, tauschen
Aeneas und Lavinia, auf deren Liebe Rom gegründet ist, keine Liebesgaben aus, sondern schreiben sich Briefe. Das ist eine der Lösungen, die das
Mittelalter findet.
6
Blumenkranz, Herzenstausch und Textgaben:
Lösungen des Liebesgabenproblems?
Die Forderung Ovids nach kleinen Liebesgaben erschien bei Thomasin
von Zerklaere radikalisiert zu einer Ablehnung jeglicher Liebesgaben
zugunsten einer „reinen Minne“ – praktisch wurde diese Ablehnung von
den Verfassern des Hohen Minnesangs vollzogen. Bevor ich mich nun
Beispielen einer Thematisierung von Liebesgaben im höfischen Roman
und Epos zuwende und deren Konfliktpotential analysiere, spreche ich
zunächst noch drei Sonderfälle von Liebesgaben an, die – so meine Vermutung – die erwähnte Problematik materieller Geschenkobjekte in Liebesbeziehungen zu lösen versuchen und gewissermaßen zu Standardformulierungen mittelalterlicher Liebesdichtung werden.
1. Kleine Kränze aus Blumen sowie einzelne Blumen können eine
Lösung des Problems sein, weil ihr materieller Tauschwert zugunsten
eines hohen symbolischen Zeichenwerts (Farbe, Gestalt, Duft usw.)
fast vollständig in den Hintergrund tritt. Besonders die kleinen und
unscheinbaren Blumen wie Veilchen oder Röschen eignen sich als
Gaben, die durch einen materiellen Wert nicht beeinträchtigt sind
und dennoch starke Symbolkraft haben. Der Kranz auf dem Kopf
eines Mannes symbolisiert, dass die Frau die Werbung des Mannes
angenommen, dass sie seine Bitten erhört hat. Wichtig scheint hierbei auch, dass Blumen vergänglich sind und damit paradoxerweise
auf die Unvergänglichkeit der Liebe hinweisen.
2. Eine typische Umcodierung der gegenständlichen Liebesgabe in der
mittelalterlichen Minnedichtung könnte man das Modell „Herz als
Gabe“ oder „Selbsthingabe“ nennen. Der Liebende will nicht irgend197
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einen Gegenstand als Zeichen seiner Liebe geben, er möchte sich
selbst hingeben. Dieses Muster drückt sich in zahllosen Varianten der
Metaphern vom „Herz bei der Dame“, vom „Herzenstausch“ oder von
der „Leibeigenschaft der Minne“ aus. Die Liebesgabe, um die es hier
geht, ist nicht mehr zeichenhaft, sie ist nicht mehr Stellvertreter des
Liebenden. Vielmehr ist sie gewissermaßen eine absolute Steigerung
des metonymischen Präsenzwertes einer Liebesgabe. Sie ist die Minne
selbst, die sich in der Selbsthingabe des Minnenden vollzieht.
3. Eine dritte typische Umcodierung der Liebesgabe möchte ich „Text als
Gabe“ nennen. Während beim Modell „Herz als Gabe“ der metonymische Präsenzwert extrem gesteigert war, wird bei dieser Gabe, die
der Liebende gibt, vor allem der Verweis auf die Herstellung der Gabe
so betont, dass der Aspekt der Materialität ganz zurücktritt. Das materielle Trägermedium eines Textes besitzt keinen Eigenwert mehr, sondern dient nur dazu, eine selbst verfasste Minnebotschaft zu transportieren. So gesehen, lassen sich große Teile der mittelalterlichen
Liebesdichtung, insbesondere Minnelieder und Minnereden, als umcodierte Liebesgaben interpretieren. Auf diese Weise umgeht das Modell
„Text als Gabe“ einerseits die bisher beschriebene Problematik der Liebesgabe, nämlich das mögliche Missverständnis des materiellen
Tauschwertes. Andererseits unterstützt eine solche Liebesgabe den
anthropologischen Entwurf einer verinnerlichten Minne-Konzeption; zudem wird diese Innerlichkeit von ökonomisch-materiellen
Austauschprozessen abgekoppelt.
7
Die Unvollkommenheit der „Liebesgabenminne“:
Wolframs „Parzival“
Da die Gabe stets eine Interaktion ist, ist sie vielfältig in die pragmatischen Rahmenbedingungen einer Situation des Gebens eingebunden.
Narrative Formen, vor allem Epos und Roman, ermöglichen die Beobachtung solcher Situationen; sie ermöglichen die Beobachtung der Praxis der Liebesgabe. Auf diese Weise kann das Konfliktpotential, das in
der Liebesgabe steckt, auf konkrete Weise zum Vorschein kommen.
Dort, wo Liebesgaben in der höfischen Literatur auftauchen, ist ihnen –
wie bereits oben angedeutet – ein erhebliches Konfliktpotential zu
eigen. Eklatant manifestiert sich das vor allem in der höfischen Epik: Ich
behaupte sogar, dass Liebesgaben im höfischen Roman eine Störung der
zwischengeschlechtlichen Beziehungen indizieren. An einem der
berühmtesten Epen des Mittelalters sei dies im Folgenden zunächst
exemplifiziert: an Wolframs von Eschenbach „Parzival“.
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Wolframs „Parzival“ beginnt mit der Erzählung über Gahmuret, den
Vater Parzivals. Gahmuret wird als Figur eingeführt, die eine Liebesgabe
mit sich führt (Parzival, Buch I, V. 12,3–14):
Als uns diu âventiure saget,
dô het der helt unverzaget
enpfangen durch liebe kraft
unt durch wîplîch geselleschaft
kleinotes tûsent marke wert. (...)
daz sande im ein sîn friundin.
an sînem dienste lac gewin,
der wîbe minne und ir gruoz:
doch wart im selten kumbers buoz.
(Wie die Geschichte uns erzählt, hat da der unerschrockene Held von
jener Kraft des Schenkens, die aus der Liebe entspringt und aus der Zärtlichkeit der Frauen, noch kostbare Dinge bekommen, die waren tausend
Stangen Silber wert. (…) Das alles hatte seine Geliebte ihm geschickt. Sein
Rittertum brachte ihm nicht wenig ein an Frauenliebe und an Liebesnächten; doch wurde er nie von seiner Sehnsucht geheilt.)
Gahmuret hat also von einer Frau Kleinodien als Liebesgaben mit einem
hohen materiellen Tauschwert bekommen. Diese Geliebte, die „friundin“
Gahmurets, die ihm ihre Liebe mit einem hohen materiellen Tauschwert bezeichnet hat, kommt im weiteren Verlauf der Geschichte nicht
mehr vor. Die „Liebesgaben-Minne“ hat keine Zukunft. Jedenfalls kann
sie das Verlangen Gahmurets nicht stillen, seinen „kumber“ (Kummer)
nicht aufheben. Erst im Orient wird Gahmuret eine Frau „erwerben“ –
ganz ohne Liebesgaben.
Neben dem materiellen Tauschwert spielt in der oben zitierten Stelle
auch der personale Identifikationswert eine Rolle: Es ist eine bestimmte
Freundin, die ihm dieses Kleinod geschenkt hat. Auf diese Dame wird die
Liebesgabe als Zeichen bezogen. Ein bislang noch gar nicht thematisierter Aspekt der Liebesgaben wird hier in der höfischen Epik deutlich:
Besonders die Minneritter zeigen Liebesgaben häufig als Trophäen. Ihre
Verweisfunktion auf den Gebenden und auf dessen Liebe wird damit
öffentlich und ist von jedem erkennbar. Im Falle Gahmurets markiert die
Dame den Mann mit ihrer Gabe als jemanden, dessen Minnedienst von
ihr erhört wurde (siehe unten Abschnitt 10 „Das Gothaer Liebespaar“).
Durchaus bemerkenswert ist, dass am Ende des „Parzival“ der Sohn, der
aus dieser ersten Ehe Gahmurets stammt, Feirefiz, ebenfalls als Träger
von Liebesgaben eingeführt wird. Er ist ganz der Vater („Parzival“, Buch
XV, V. 736,1–5):
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Sîn gir stuont nâch minne
unt nâch prîss gewinne:
daz gâbn ouch allez meistec wîp,
dâ mite der heiden sînen lîp
kostlîche zimierte.
(Den Helden trieb die Liebe um und das Verlangen nach immer mehr
Ehre: Es waren auch fast immer Frauen, die dem Heiden das alles, womit
er seinen Leib so kostbar schmückte, geschenkt hatten.)
Liebesgaben werden hier ganz klar vom Ritter als Trophäen gezeigt: Feirefiz schmückt sich selbst damit. Aber auch er muss von dieser heidnischen Art der Liebesgaben-Minne ablassen. Statt Secundille, seiner heidnischen Geliebten, heiratet er – ohne Liebesgaben zu bemühen – wie
sein Vater eine Gralstochter.
Die Liebesgaben ziehen sich wie ein Leitmotiv durch den „Parzival“. In
seiner zweiten Ehe mit Herzeloyde zieht Gahmuret insgesamt 18-mal ein
weißes Seidenhemd im Turnierkampf über seine Rüstung an. Die Hemden, die Herzeloyde davor getragen hatte und danach wieder trägt, werden auf diese Weise zerhauen und zerstochen. Ihre „Bearbeitung“ macht
sie zu personalen Identifikationsgaben, weil die Kampfeskraft Gahmurets in sie eingeschrieben wird, und sie bekommen durch ihre Verbindung mit dem nackten Körper Herzeloydes einen metonymischen Präsenzwert für den jeweils anderen. Doch auch dies kann den Tod Gahmurets nicht verhindern, als er – erneut vom unstillbaren Verlangen nach
Minne und Kampf getrieben – in den Orient zieht.
Auch in Gahmurets zweitem Sohn Parzival wiederholt sich noch einmal
die Überwindung der Liebesgaben-Minne und die Etablierung einer
Minne-Ehe, die ohne Liebesgaben von hohem materiellen Tauschwert
auskommt: Zunächst missbraucht der junge und unerfahrene Parzival,
der die Lehren seiner Mutter unmittelbar umsetzt, Liebesgaben (Buch
III, V. 129,5 ff.). Unter anderem hatte sie gelehrt, er solle Ring und Gruß
einer guten Frau erwerben, wo immer er sie bekommen könne (Parzival,
Buch III, V. 127,25–28):
Sun, lâ dir bevolhen sîn,
swa du guotes wîbes vingerlîn
mügest erwerben unt ir gruoz,
daz nim: ez tuot dir kumbers buoz.
(Mein Sohn, das lege ich dir noch ans Herz: Wo du Gelegenheit hast, von
einer lieben Frau ein Fingerringlein und freundliche Worte zu erwerben, dort greif zu; das hilft dir gegen Traurigkeit.)
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Parzival befolgt dies, indem er bei der erstbesten Gelegenheit eine junge
Dame namens Jeschute, die hilflos und allein in ihrem Zelt liegt, küsst,
umarmt und ihr die begehrten Liebesgaben Ring und Brosche entreißt
(Buch III, V. 131,11 ff.). Diese Liebesgaben, die Jeschute als Zeichen der
Minne von ihrem Mann Orilus erhalten hatte (vgl. Buch III, V. 176,5), versucht Parzival sich anzueignen, als ob es nur um den Besitz der Gaben
ginge, als ob die Liebesgaben wie Geld funktionieren würden. Doch verlieren die Gaben natürlich ihren symbolischen und metonymischen
Zeichenwert, wenn – wie hier – die richtige Pragmatik der Gabe gestört
wird.
Auf drastische Weise wird in dieser Szene klar, dass Liebesgaben nur Liebesgaben sein können, wenn die Praxis des Gebens und des Bezeichnens
sie zu Liebesgaben macht. Der Zeichenwert hängt also nicht an der
Materialität der Gabe, sondern er wird durch die Praxis des Gebens definiert.
Wolfram von Eschenbach begnügt sich aber nicht mit der Vorführung
einer solchen „praktischen“ Degradierung der Liebesgabe, sondern verfolgt die Geschichte dieser Liebesgaben weiter. Parzival bezahlt mit
Jeschutes Brosche, ihrem „fürspan“, seine nächste Übernachtung beim
bösen Fischer (Buch III, V. 143,1 ff.). Die Liebesgabe ist damit endgültig
zu einem rein materiellen Tauschobjekt geworden. Und süffisant merkt
der Erzähler an, dass das Gesicht des anfänglich so bösen und mürrischen Fischers sich sofort aufhellt, als Parzival die Brosche zeigt. Ökonomisch funktionieren die Gabe und die Praxis des Bezahlens also perfekt. Die Liebesgabe aber ist endgültig zu einem rein materiellen Tauschobjekt geworden. Liebesgaben lassen sich in Kapital ummünzen. Der
materielle Tauschwert kann den symbolischen und metonymischen Zeichenwert der Gabe pervertieren.
Dieses anfängliche Desaster kann Parzival später ausgleichen und
Jeschute mit Orilus versöhnen und ihr wenigstens den Ring zurückgeben (Buch V, V. 270,1–4). Auf seinem weiteren Lebensweg spielen Liebesgaben keine Rolle mehr. Parzival überwindet die Liebesgaben-Minne
somit schon in seiner Jugend17, und er überwindet auch das Verhalten
seines Vaters Gahmuret. Während Gahmuret und Herzeloyde sich im
Seidenhemdentausch wechselseitig präsent gemacht haben, findet zwischen Parzival und seiner Frau Condwiramurs überhaupt kein Liebesgabentausch statt: Sie brauchen selbst in der langjährigen Trennung
keine Liebesgaben, wie die berühmte Blutstropfenepisode unterstreicht,
in der ein natürliches Zeichen (drei Blutstropfen im Schnee) den
metonymischen Präsenzwert einer Liebesgabe substituiert.18
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Die Negierung des metonymischen Präsenzwertes:
Gottfrieds „Tristan“
Ein weiteres berühmtes Beispiel aus der höfischen Epik ist das Hündchen Petitcreiu aus Gottfrieds „Tristan“.19 Dieses wunderschöne Hündchen besitzt ein fantastisch schimmerndes Fell und ist mit einem
Glöckchen versehen, dessen Klang auf magische Weise selbst Todtraurige in Glückszustände versetzt.
Der Kontext dieser Stelle ist folgender: Nach dem für Tristan und Isolde
glücklich ausgegangenen Gottesurteil hatte Tristan – unter Einsatz seines Lebens – das Land von Herzog Gilan von einem bösen Riesen befreit.
Als Belohnung für diese Hilfe fordert Tristan – hier wird das narratologische Muster eines „rash boon“, einer voreilig versprochenen Belohnung, angewandt – das Hündchen Petitcreiu, das der größte Schatz von
Herzog Gilan ist. Dieser hatte das Hündchen nämlich seinerseits offenbar als Liebesgabe von einer Fee aus Avalon erhalten. Wenn Tristan nun
dieses Hündchen, gleich nachdem er es erhalten hat, als Liebesgabe
heimlich an Isolde weiterschenkt, dann ist diese Liebesgabe gleichsam
multisignifikant, weil sich in ihr fast alle Bezeichnungsmöglichkeiten
einer Liebesgabe vereinen:
Der Tauschwert (erste Zeichenfunktion der Liebe, siehe Punkt 1) ist
immens hoch: Gilan würde lieber sein halbes Königreich oder seine
Schwester dafür hergeben. Die wunderschöne, aber kognitiv nicht fassbare Farbe des Hündchens symbolisiert (Punkt 2) die ebenso unfassbare
Liebe zwischen Tristan und Isolde. Weil die Liebesgabe im Riesenkampf
unter Einsatz des eigenen Lebens erworben wurde (Punkt 3), verweist
sie auf den Gebenden und wird somit personalisiert. Die Herkunft der
Gabe aus Avalon macht sie zu einem magisch aufgeladenen Ding
(Punkt 4). Das Hündchen erinnert auch an die Situation des Gebens
(Punkt 5), nämlich an die schmerzliche Situation der Abwesenheit Tristans; Tristan schickt Isolde das Hündchen aus der Ferne – und vor
allem diese Abwesenheit ist es, an die Isolde sich durch das Hündchen
permanent erinnern will. Schließlich steht Petitcreiu gleichsam für die
metonymische Funktion einer Liebesgabe als Fetisch (Punkt 6), mit
dem sich eine der Präsenz des Geliebten äquivalente Erfahrung herstellen lässt.
Petitcreiu ist somit der Inbegriff einer Liebesgabe. Jedoch ist es gerade
diese immense Aufladung der Gabe, vor allem mit ihren metonymischen Bezeichnungsfunktionen, die diese Liebesgabe letztlich scheitern
lässt. Tristan schenkt Isolde das Hündchen, damit sie immer fröhlich
sein kann, wenn er abwesend sei (und er muss oft abwesend sein, weil
Marke auf keinen Fall wieder argwöhnisch werden darf). Tristan kommt
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es also genau auf diesen metonymischen Präsenzwert an. Isolde aber
reißt dem Hündchen sofort das Wunderglöckchen ab; sie will nicht
glücklich sein, wenn Tristan nicht mit ihr zusammen und daher
unglücklich ist. Tristans Liebesgabe also misslingt, insofern sich in dieser Liebesgabe die Hoffnung ausdrückt, der abwesende Geliebte könne
substituiert werden. Gegenüber dem radikalen Anspruch einer „Hohen
Minne“, wie Isolde ihn vertritt, ist ein solcher magischer Ersatz prinzipiell nicht möglich. Bei Abwesenheit des Geliebten kann es nichts als
Trauer und Leiden geben. Isolde degradiert den Fetisch zu einer „nur“
symbolischen Liebesgabe. Denn das bleibt das Hündchen, ein symbolisches Zeichen der Liebe Tristans. Als solches wird es aber später nicht
mehr erwähnt. Liebesgaben spielen im weiteren Verlauf der Beziehung
zwischen Tristan und Isolde keine Rolle mehr.
9
Liebesgaben muss man deuten können:
das „Nibelungenlied“
Sowohl im „Parzival“ als auch im „Tristan“ markieren Liebesgaben einen
zu überwindenden Zustand defizitärer Minne. Defizitär ist diese Minne,
weil die Liebesgaben offenbar den Anspruch erheben, sie könnten mit
ihren symbolischen und metonymischen Bezeichnungsfunktionen eine
Minne substituieren, die gerade nicht substituierbar sein darf. Im „Parzival“ gehörte zu dieser defizitären Minne darüber hinaus das öffentliche Zeigen einer Liebesgabe, einer Trophäe, die durch ihre dauerhafte
Materialität die Geschichte ihrer Herkunft und ihres Erwerbs öffentlich
sichtbar und präsent hält.
Im „Nibelungenlied“ scheint es genau dieser Aspekt zu sein, der dazu
führt, dass eine Liebesgabe eine Katastrophe auslöst. Siegfried hatte – so
die Vorgeschichte – während der Beihilfe zu Gunthers Hochzeitsnacht
Gunthers Braut Brünhild einen Gürtel und einen Ring weggenommen.
Diese Gegenstände reicht er später – offenbar als Liebesgaben, das wird
im Text aber nicht expliziert – an seine eigene Frau Kriemhild weiter.
Kriemhild bezeichnet später Brünhild im „Königinnenstreit“ als „mannes kebse“ (Nebenbuhlerin eines Leibeigenen), was sich einerseits auf
diese Hochzeitsnacht bezieht, in der der starke Siegfried an Gunthers
Statt heimlich Brünhild im Ehebett bezwungen hat. Andererseits
bezieht sich die Bemerkung darauf, dass Brünhild aufgrund einer anderen Vorgeschichte (Dienstmannfiktion) Siegfried für einen Leibeigenen
Gunthers hält.
Die Rechtmäßigkeit ihres sogenannten Kebsen-Vorwurfs unterstreicht
Kriemhild nach dem Gang ins Münster mit den zwei Liebesgaben, goldener Ring und Gürtel, die einen erheblichen personalen Identifikati-
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onswert und einen hohen situativen Erinnerungswert haben. Zunächst
zeigt sie den Ring vor:20
Dô sprach diu vrouwe Kriemhilt: „ir möhtet mich lâzen gân.
ich erziugez mit dem golde, daz ich an der hende hân.
daz brâhte mir mîn vriedel, do er erste bî iu lac.“
nie gelebte Prünhilt deheinen leideren tac.
Si sprach: „diz golt vil edele, daz wart mir verstoln
und ist mich harte lange vil übele vor verholn
ich kum es an ein ende, wer mir ez hât genomen.“
die vrouwen wâren beide in grôz ungemüete komen.
(Da sagte Kriemhilt, die Herrin: „Ihr solltet mich gehen lassen.
Ich beweise es mit dem goldenen Ring, der an meinem Finger steckt.
Den brachte mir mein Geliebter, nachdem er zuerst bei Euch im Bett war.“
Niemals erlebte Brünhild einen schlimmeren Tag.
Sie sagte: „Der sehr wertvolle Goldring wurde mir gestohlen
und ist sehr lange Zeit aus bösester Absicht vor mir versteckt worden.
Ich weiß jetzt, wer ihn mir gestohlen hat.“
Die Herrinnen wurden beide von großem Unmut ergriffen.)
Brünhild versucht, die drohende Gefahr, dass die Geschichte des
Erwerbs und der Herkunft der Liebesgabe ruchbar würden, quasi durch
eine Re-Ökonomisierung abzuwenden: Ein Dieb, also einer, der es nur
auf den materiellen Tauschwert abgesehen habe, habe ihr den Ring
gestohlen. Brünhild versucht, die Interpretation dieses Gegenstands als
„Liebesgabe“ zu unterbinden.
Dô sprach aber Kriemhilt: „ine wils niht wesen diep.
du möhtest wol gedaget hân, und wære dir êre liep.
ich erziugez mit dem gürtel, den ich hie umbe hân,
daz ich niht enliuge: jâ wart mîn Sîfrit dîn man.“
(Da sagte wiederum Kriemhild: „Ich will nicht als Diebin beschuldigt
werden.
Du solltest besser ruhig sein, wenn dir deine Ehre lieb ist.
Ich beweise es nun mit dem Gürtel, den ich hier trage,
dass ich nicht lüge: wahrhaftig, mein Siegfried wurde dein Mann.“)
Auch der Gürtel wird nun noch als Liebesgabe interpretiert, den Siegfried als Trophäe von Brünhild genommen habe, um ihn dann – auch
das allerdings lässt der Text im Dunkeln – als Zeichen seiner männlichen Tatkraft an Kriemhild weiterzugeben.
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Kriemhild deutet Gürtel und Ring als Zeichen einer Minnebeziehung
zwischen Brünhild und Siegfried. Sie holt aus diesen (angeblichen) Liebesgaben die Geschichten hervor, die in ihr gespeichert sind: Gürtel und
Ring stammten von Brünhild (Punkt 4), Siegfried habe die Liebesgaben
erworben (Punkt 3), und zwar in heimlicher Anwesenheit bei Brünhild,
womit auf die Situation des Gebens (Punkt 5) verwiesen wird. Dadurch,
dass Siegfried die Gaben an Kriemhild weitergegeben hat, wird unausgesprochen klar, dass Brünhild gegenüber Kriemhild nach der Logik der
Liebesgabe einen Rangverlust erlitten hat, denn Siegfried hat von Brünhild diese klassischen Liebesgaben ohne deren Einwilligung (wie Parzival von Jeschute) erworben und hat sie dann als metonymisch hochaufgeladene Liebesgabe an Kriemhild weitergegeben. In den Liebesgaben ist
metonymisch die Überlegenheit Siegfrieds über Brünhild (und Gunther)
gespeichert, und diese kann daher von Kriemhild im Königinnenstreit
mit größter Wirkung aktualisiert werden.
Weil Liebesgaben so viele symbolische wie metonymische Zeichenwerte
haben, können sie richtig und falsch ausgelegt werden. Liebesgaben
können also gefährlich sein, weil sie den Verdacht schüren. Liebesgaben
sind gerade dann gefährlich, wenn sie einen hohen personalen Identifikationswert haben, denn dann haben sie eine Geschichte, und die
Geschichte des geschenkten Gegenstands kann stets neu aktualisiert
werden, seine Vorgeschichte ist als Potential in der Gabe gespeichert und
kann jederzeit wieder hervorbrechen.
10
Das Gothaer Liebespaar
Das letzte Beispiel in dieser Geschichte der Liebesgabe im Mittelalter ist
ein Tafelgemälde aus dem späten 15. Jahrhundert, dessen Aussage bis
heute umstritten ist. Aufgrund der bisher erarbeiteten Funktionen des
Zeichencharakters von Liebesgaben lässt sich das Gothaer Liebespaar
(Abbildung 1) neu deuten. Damit möge als Schlusspunkt die Relevanz
des bisher dargestellten literarischen Diskurses, der in der Nachfolge
Ovids das Mittelalter seit dem 12. Jahrhundert dominiert, auch für die
Bildsprache der Liebesgabe nachgewiesen sein.
Das Tafelbild, das im Schlossmuseum Gotha hängt und für seine Entstehungszeit (um 1480) ungewöhnlich groß ist (118 x 82,5 cm), zeigt ein
„prunkvoll gekleidetes und in Lebensgröße dargestelltes Liebespaar“.21
Es ist ein „Doppelbildnis in Halbfigur“, dem eine rosabraune Steinbrüstung als Sockel dient. Vor dem schwarzen Hintergrund treten das Paar
wie auch die Spruchbänder scharf hervor. Farblich dominiert beim
Mann das Rot, bei der Frau das Blau. Der Mann trägt „über einem weiten, vielfach gefältelten“ weißen Hemd ein tief ausgeschnittenes „Wams
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aus rotem Samt“. Über dem Wams trägt er einen ebenfalls roten Mantel, von dem man aber fast nur die Kordeln sieht, die ihn zusammenhalten. Über seiner linken Schulter hängt dem Mann ein Kleidungsstück, das nicht ganz leicht zu erkennen ist. Aus der zeitgenössischen
Mode des ausgehenden 15. Jahrhunderts kann man schließen, dass es
sich bei den in Fransen auslaufenden Stoffstücken um zwei Enden eines
pelzverbrämten Schals oder auch einer pelzverbrämten Mütze handeln
muss. Die rechte Hand des Mannes greift in die Fransen dieser Mütze,
mit dem linken Arm umfängt er die Frau.
Abbildung 1: Das Gothaer Liebespaar (um 1480). Schlossmuseum Gotha.
Die Frau trägt ein dunkles, blau bis blaugrünes „Kleid mit weiten
Ärmeln“. Unter dem ebenfalls tief ausgeschnittenen Kleid zeigt sich ein
weißes, reich verziertes Seidenhemd. Die hohe, mit Gold und Perlen
besetzte Haube ist aus Seide und mit kleinen Sonnen verziert. Während
die Blicke des Mannes auf die Frau gerichtet sind, blickt die Frau nach
unten auf ihre Hände. In der linken Hand hält sie eine kleine Blume,
eine von den Heckenrosen, aus denen auch der Blumenkranz auf dem
Kopf des Mannes gebunden ist. Mit der rechten Hand umfasst die Frau
ein edelsteinbesetztes Goldband. Handelt es sich hier um Liebesgaben
der Dame an den Mann? Und wie verhalten sich die Blume, der Kranz
und das Goldband zueinander?
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Leider bietet die bisherige Forschung zum Gothaer Liebespaar, die vor
allem Historiker und Kunsthistoriker betrieben haben22, auf solche Fragen keine Antwort. Sie ist auf die Bedeutung der beiden Minnegaben
höchstens am Rande eingegangen. Sie hat sich vor allem darum
bemüht, den Maler („Hausbuchmeister“? „Meister des Amsterdamer
Kabinetts“? usw.) und die abgebildeten Figuren (Graf Philipp der Jüngere
von Hanau-Münzenberg und dessen Konkubine Margarethe Weißkircher? Ludwig von Hanau-Lichtenberg und Konkubine? usw.) aufgrund
des Wappens (derer von Eppstein? der Grafen von Hanau? usw.) zu identifizieren. Beides ist bisher nicht gelungen.
Interessant ist vor allem der Text, der auf Spruchbänder über das Liebespaar gemalt ist und dessen Bedeutung und Beziehung zum Liebespaar
ebenfalls umstritten ist.
Über der Frau steht:
Sye hat uch nyt gantz veracht
Dye uch dass schnürlin hat gemacht.
(Sie hat Euch sehr geliebt,
die Euch dieses Schnürlein gemacht hat.)
Über dem Mann steht:
Vn byllich het Sye eß gedan
want jch han eß sye genissen lan.
(Und rechtmäßig [oder: Unrechtmäßig] hat sie es getan,
denn ich habe sie dafür belohnt.)
Einen Konsens der Interpreten gibt es weitgehend darüber, dass
1. das „Schnürlein“, von dem die Dame spricht, jenen Schal oder jene
Mütze des Mannes beziehungsweise – was wahrscheinlicher ist – das
daran befestigte Goldband meint,
2. im ersten Vers der Frauenrede: „Sye hat uch nyt gantz veracht“ ein Liebesbekenntnis steckt (die Frau benutzt das rhetorische Stilmittel der
Litotes, die Verneinung des Gegenteils) und
3. logisch die Rede des Mannes auf die Rede der Dame folgt (man muss
in der Mitte an der Initiale zu lesen beginnen). Unklar ist aber vor
allem die Referenzialisierung der Pronomen.
Ich setze mit meiner Interpretation noch einmal beim bildlich Dargestellten an: Die Zweiteilung in eine rechte und eine linke Hälfte ist hier
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so offensichtlich, dass man über Mittelpunkte und Symmetrien offenbar nicht weiter nachgedacht hat. Man hat – soweit ich sehe – vor allem
versäumt, sich die vertikale Mittelachse genauer anzusehen. Diese geht
genau durch den leeren Zwischenraum zwischen den Köpfen der Figuren und genau durch die Blume, die die Frau in der linken Hand hält
(Abbildung 2).
Abbildung 2: Das Gothaer Liebespaar. Strukturbildende Linien.
Auch der linke Mittelfinger der Frau liegt genau auf dieser Grenze. Oben
geht die Achse durch das Wappen und durch das Anfangswort des rechten Spruchbands. Auch horizontal ist eine Linie zu denken, die zwischen
den Händen des Mannes verläuft und sich genau in der Blume mit der
vertikalen Mittelachse kreuzt. Die zentrale Stellung der Heckenrose
bedeutet doch wohl, dass diese Blume für die Aussage des Bildes wichtig ist. So gesehen muss es irritieren, dass keine einzige Bildinterpretation bisher die Blume berücksichtigte, abgesehen von lapidaren Bemerkungen wie dieser: „Durch den Kranz von wilden Rosen im Haar des
Jünglings und die einzelne Rose in der Linken des Mädchens wird die
Minnesymbolik noch erweitert, gilt doch die Rose im weltlichen wie religiösen Bereich seit jeher als Sinnbild von Schönheit und Liebe.“23 Sie
füge sich deshalb gut in die Gesamtkomposition ein (Hess).
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Die Bedeutung der Blume wird erst erkennbar, wenn man zwei weitere
strukturbildende Linien berücksichtigt. Die eine davon startet wieder
bei der linken Hand, der Hand der Frau, die die Blume hält. Führt man
etwa vom Zeigefinger ausgehend eine Linie nach links oben zur Blume,
so wird diese Linie vom rechten Unterarm der Frau und ihrer rechten
Hand aufgenommen, kreuzt dann das Goldband genau an dessen Edelstein und führt über den Mund und das rechte Auge des Mannes in die
Mitte des Rosenkranzes auf seinem Kopf. Die zweite Linie startet am
rechten Unterarm des Mannes, kreuzt ebenfalls den Edelstein des Goldbands und trifft dann auf das rechte Auge der Frau und die Mitte ihrer
Haube.
Dadurch, dass sich die zwei schrägen Linien genau im Edelstein des
Goldbands kreuzen, bekommt dieses kostbare Geschenk den Status
eines zweiten konkurrierenden Zentrums des Bildes. Wichtig scheint
jedoch, dass dieses zweite Zentrum gerade nicht auf der Mittelachse
liegt. Es ist sozusagen nach links verschoben, es tritt aus der Symmetrie
heraus, es stört das Gleichgewicht und bringt eine Spannung ins Bild.
Doch das Goldband ist nicht nur aus Gründen der Bildstruktur ein zentrales und spannungsreiches Element, sondern auch wegen des symbolischen Kontrasts zur Blume.
Kann man sich zwei Liebesgaben vorstellen, die verschiedener wären?
Ein edelsteinbesetztes Goldband in der rechten und eine einzelne kleine
Blume in der linken Hand der Frau – das kann im Liebesdiskurs des Mittelalters nur als Opposition begriffen werden.
Zwei dominante Merkmale beherrschen diese Opposition:
1. der materielle Tauschwert: das Goldband hat einen hohen materiellen Wert, die Blume dagegen ist materiell so gut wie wertlos.
2. die zeitliche Beständigkeit: das Goldband ist ein dauerhaft bestehendes Objekt, es kann schon alt sein, es hat vielleicht eine Geschichte
und derjenige, der es geschenkt hat, ist vielleicht in ihm noch
metonymisch präsent. Die Blume dagegen ist von größter Vergänglichkeit, es kann nur auf die verweisen, die anwesend ist, es hebt die
Präsenz dieser einmaligen Situation der Liebe hervor.
Vor diesem Hintergrund kann die Inschrift genauer analysiert werden.
Zunächst ist über die Form der Spruchbänder zu sagen, dass sie durch
ihr gemaltes Flattern Unruhe in das Bild bringen. Wie durch die Verschiebung des zweiten Bildzentrums kommt auch durch diese flatternden Spruchbänder Bewegung in das Bild, und zwar mehrfach. Es
handelt sich bei dem Text auf den Spruchbändern um den Text eines
Dialogs, das heißt, dass die Spruchbänder flattern, ist zunächst Zeichen
für die Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes, für die Windungen der
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Argumentation. Der Text hat hier weniger den Status einer festen und
klaren Aussage, gar einer Sentenz, wie behauptet wurde, sondern den
Status von Andeutung und Verdächtigung, von indirekter Bemerkung
und dunkler Argumentation. Besonders die Uneindeutigkeit der Personalpronomina hebt diesen Aspekt hervor, und nicht zufällig stehen
wohl auch fast alle Pronomina in den obersten Positionen des Bildes,
besonders deutlich über dem Mann. Liest man dort nur die ganz oben
stehenden Teile des Spruchbandes, so stellt man fest, dass fünf der sechs
Wörter Personalpronomina sind: Sye eß ... jch han eß sye.
Über die Beziehungen, die die Personalpronomina ausdrücken, hat man
sich lange Zeit wenig Gedanken gemacht, man hat sich vor allem nicht
daran gestört, dass die Frau nicht „ich“ sagt, sondern über sich selbst in
der dritten Person spricht, was für Spruchbänder des Spätmittelalters
ganz ungewöhnlich wäre. Erst 1999 hat Josef Heinzelmann den Vorschlag gemacht, das dreimal vorkommende Personalpronomen „Sie“
nicht auf die abgebildete Frau zu beziehen, sondern auf eine dritte Person, die nicht abgebildet ist. Ich schließe mich diesem Vorschlag an. Die
Frau also sagt: Diejenige (Sie), die dem Mann das Goldband (schnürlin)
gemacht habe, habe ihn wohl sehr geliebt.
Nach dieser Interpretation ist das Goldband gar keine Liebesgabe der
abgebildeten Frau, sondern die frühere Gabe einer anderen Frau, die der
Mann – wie Gahmuret und Feirefiz! – als Trophäe zur Schau trägt. Die
Frau streift nicht dem Mann das Goldband über die Fransen seiner
Mütze, was ohnehin mit einer Hand nicht einfach sein dürfte, sondern
nimmt dieses fremde Objekt in Augenschein und versucht, es zu deuten.
Daher schaut sie nach unten: das Goldband und die Blume vergleichend, abwägend – vielleicht sogar mit der Absicht, sie auszutauschen.
Dieses Verständnis des Bildes korrespondiert hervorragend mit der
strukturalen Bildanalyse, denn dort war zu sehen, dass das Goldband
ein zweites Zentrum bildet, das die Symmetrie, das Gleichgewicht der
Gesamtkomposition, gefährdet. Der Grund dafür liegt darin, dass das
Goldband von einer anderen Frau stammt; die Frau auf dem Bild decodiert diese Gabe als ein Symbol für die Liebe der anderen und damit als
präsentes Zeichen einer Konkurrentin.
Das Goldband ist als Liebesgabe einer Nebenbuhlerin Stein des Anstoßes.
Diese Liebesgabe ist erneut multisignifikant. Sie hat einen hohen materiellen Tauschwert (Punkt 1), der sich sozusagen in den Vordergrund
drängt; mit ihm wird große Liebe ausgedrückt, allerdings eine Liebe, die
vielleicht käuflich war. Des Weiteren hat sie einen symbolischen Zeichenwert (Punkt 2), denn als offenbar gewickelte Schnur kann sie auch
als Minnestrick gesehen werden, der in der Literatur des Spätmittelalters viel zitiert wird und die unentrinnbare Macht der Liebe bezeichnet.
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Diese Liebesgabe hat zudem einen personalen Identifikationswert, weil
sie von der ungenannten Fremden selbst gemacht wurde (Punkt 4), und
einen Erinnerungswert, weil das Goldband auf eine vergangene Situation des Schenkens verweist (Punkt 5). Daraus resultierend, macht die
Liebesgabe die Nebenbuhlerin sozusagen in der Mitte zwischen den
abgebildeten Liebenden präsent (Punkt 6). Die spezifische Materialität
der Liebesgabe, das Dauerhaftigkeit verbürgende Gold, ermöglicht, dass
überhaupt eine vergangene Situation präsent gehalten werden kann –
ähnlich wie Kriemhild die Geschehnisse der Hochzeitsnacht in Ring und
Gürtel präsent machte.
Dem Vorwurf und der Sorge der Frau, dass es sich um eine Liebesgabe
einer Nebenbuhlerin handeln könnte, begegnet der Mann in seiner Rede
mit dem Hinweis, diese Gabe sei Teil eines ökonomischen Tausches
gewesen. Der Mann negiert die symbolisch-metonymische Zeichenfunktion des Goldbands und stellt klar, dass es kein Zeichen für eine Liebesbeziehung sei, ein solches gar nicht sein könne, denn er habe dafür
eine Gegenleistung erbracht. „Eine Gegenleistung bringen“, „belohnen“
ist die korrekte Übersetzung von „genissen lan“.24 Die Rede des Mannes
lässt sich somit auf zweifache Weise auflösen, abhängig davon, ob man
am Beginn des ersten Verses „Unbillich“ oder „Und billich“ lesen will (was
beides möglich ist): „Unrechtmäßig hätte sie es (= mit dem Goldband
ihre Liebe auszudrücken) getan, denn ich habe ihr dafür (= für das Goldband) Lohn gegeben“ oder „Und rechtmäßig hat sie es (= ihm das Goldband zu machen) getan, denn ich habe ihr dafür (= für das Goldband)
Lohn gegeben“.
Durch diese Interpretation bekommt auch das erste Zentrum des Bildes,
die Blume in der Hand der Frau, seine besondere Bedeutung. Es ist ein
prägnantes Zeichen für ihre Auffassung der Liebesbeziehung. Ihre Liebe
gründet nicht auf materiellem Reichtum und muss auch nicht durch
wertvolle Liebesgaben bestätigt werden. In der Mitte zwischen diesen
Liebenden steht nur eine kleine Blume. Sie hat keinen materiellen
Tauschwert, vielmehr ist sie Symbol der Demut, in der das Liebespaar
seine Beziehung führen möchte, es ist auch Symbol dafür, dass die Dauerhaftigkeit der Liebesbeziehung nicht durch äußere Dauerhaftigkeit,
etwa Gold und Edelsteine, bestätigt werden kann, sondern nur durch
den inneren Wert der Treue. Die Blume bezeichnet die Reinheit und
Wahrheit der Liebe, im Verbund mit dem Kranz auf dem Kopf des Mannes auch die völlige körperliche und geistige „Hin-Gabe“ der Frau.
Der Text in den Spruchbändern bringt also eine Diskursivität in das Bild.
Die Frau im Bild ist durch diesen hinzutretenden Dialog nicht länger in
der Präsenz des Gebens versunken. Wir als Betrachter sind nicht länger
die Beobachter einer innigen und vollkommenen Liebesszene, sondern
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die Frau im Bild ist selbst eine Beobachterin. Sie beobachtet zwei konkurrierende Liebesgaben, die sie in den Händen hält, und wir als
Betrachter dieser Szene werden zu Beobachtern zweiten Grades. Wir
beobachten, wie die Frau die Liebesgaben beobachtet und deutet und
wie der Mann versucht, die Deutung der Frau zu unterbinden. Damit
beginnt im Grunde auch das Bild zu sprechen, denn der Betrachter ist
aufgefordert, selbst zu deuten und zu dem gezeigten Vorgang Stellung
zu nehmen.
Abschließend sollen zwei weitere Bilder diese Interpretation des
Gothaer Liebespaars argumentativ unterstützen.
Dass die Vorstellung einer zweiten Frau, einer Nebenbuhlerin, die in die
innige Situation der Zweisamkeit eindringt, in dieser Zeit geläufig war,
zeigt der abgebildete Stich. Er stammt von jenem Meister des Amsterdamer Kabinetts, der aufgrund stilistischer Ähnlichkeiten auch als
Maler des Gothaer Liebespaars firmiert.
Abbildung 3: Liebespaar mit Nebenbuhlerin (um 1480). Rijksmuseum-Stichtind, Amsterdam,
Rijksprentenkabinet.
Auch wenn die Liebesgabe der Nebenbuhlerin (rechts) ein Text ist, möglicherweise ein Liebesbrief, ist die Situation auf dem Stich mit der des
Gothaer Liebespaars vergleichbar.
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Um den möglichen Einwand zu entkräften, dass es für das 15. Jahrhundert undenkbar sei, dass die Figuren auf einem solchen Bild wie dem
Gothaer Liebespaar nicht in der Präsenz versunken wären, sondern
einen solch unangenehmen Dialog führten, präsentiere ich unten stehend einen Vergleichsfall, der diese Möglichkeit doch wahrscheinlich
macht:
Abbildung 4: Kessler-Bildnis aus der Chronik Eisenberger (Die Chronik Eisenberger. Edition und
Kommentar. Bebilderte Geschichte einer Beamtenfamilie der deutschen Renaissance. [...] Herausgegeben
von Hartmut Bock. Frankfurt am Main 2001, S. 89).
In der von Hartmut Bock herausgegebenen Chronik Eisenberger aus
dem späten 16. Jahrhundert findet sich dieses sogenannte Kessler-Bildnis. Bemerkenswert sind nicht zuletzt die schwarzen „Schnürlein“, die
die Frau in den Händen hält. Es ist die dilettantische Wiedergabe eines
Gemäldes, das wie das Gothaer Liebespaar wohl aus dem späten 15. Jahrhundert stammt und heute verschollen ist. Wichtig sind vor allem die
Schriftbänder über diesem Paar:
Sie: Wer die arbeit hat gemacht, wuste ich gern:
Saget mir es, ich wil es von ir lernn.
(Wer dieses Objekt gemacht hat, wüsste ich gern:
Sagt es mir! Ich will von ihr lernen, wie man es macht.)
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Er: Wie wol ihr frawen gern vil wissen wolt:
So seyt ir doch keinem sweczer holt.
(Obwohl ihr Frauen einerseits gerne viel wissen wollt,
seid ihr andererseits doch keinem Schwätzer gewogen.)
Keck fragt die Frau nach der Herstellerin der Schnüre, die sie in der Hand
hält, oder des Teppichs, der über der Brüstung liegt. Diese Frage stellt sie
offenbar, um etwas über eine vormalige oder andere Geliebte des Mannes
zu erfahren. Der Mann kontert schlagfertig mit zwei Stereotypen:
1. Frauen sind neugierig (so auch die Frau hier, die über eine andere
Frau etwas in Erfahrung bringen will). Damit kritisiert er die Absicht
der Frau.
2. Frauen lehnen jene Männer ab, die Geheimnisse ausplaudern (das
bezieht sich auf die sogenannten Klaffer der Minneliteratur, also diejenigen, die gerne über Liebesbeziehungen anderer öffentlich reden).
Damit schlägt der Mann die Frau mit ihren eigenen Waffen: Er kann
ihr gar nichts erzählen, weil die Frau doch will, dass er kein Klaffer
und Schwätzer ist.
Für das Gothaer Liebespaar unterstützt die Parallele des Kessler-Bildnisses die Lesart, dass es im Gespräch der beiden abgebildeten Personen um
eine dritte Figur, eine andere Frau geht, der die Frau eine Konkurrenz
unterstellt. In beiden Fällen muss der Mann durch eine geschickte Argumentation den Verdacht aus der Welt räumen bzw. aus der Kommunikation verbannen.
Eine letzte Frage und der Versuch einer Antwort seien angefügt: Warum
wurde dieses Bild gemalt? Es ist vielleicht das Prinzip der paradoxen Performanz: In den Minnereden des späten Mittelalters, um ein Beispiel aus
der Literatur zu nennen, wird viel und permanent geredet, und zwar vor
allem über das Schweigen! Das heißt, die Performanz (Reden) gerät in
einen Widerspruch zur inhaltlichen Aussage (Schweigen). Doch das ist
nicht ein Systemfehler, sondern ein Prinzip: Das Reden ist immer schon
in sich zurückgenommen. Der Liebende will der Geliebten seine Liebe
ausdrücken, er will ihr einen Text geben, für sie einen Text schreiben,
obwohl die Liebe heimlich bleiben soll, und die größte Gefahr für die
Liebenden darin besteht, dass die anderen, die „Klaffer“, schwätzen.
Analog könnte dies für das Gothaer Liebespaar bedeuten, dass der materielle Wert des Bildes im Sujet des Bildes zurückgenommen wird, das
heißt, das Bild könnte Ausdruck von Verehrung sein, es könnte selbst
eine Liebesgabe sein, die durch ihren Wert einerseits höchste Liebe ausdrückt und zugleich inhaltlich thematisiert, dass die Liebe nicht durch
teure Gegenstände ausgedrückt werden kann und darf.
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Resümee
Ob sie es wussten oder nicht: Die Aussagen von Zarah Leander und
Eduard Mörike über die Liebesgaben stehen in einer langen Tradition,
in einer Tradition der literarischen und überhaupt kulturellen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Ökonomie und Liebe. Dieses Verhältnis ist, wie in meinen Ausführungen deutlich geworden ist, komplizierter, als es die schlichten Oppositionen wie „Geist und Geld“ oder
„Geld oder Liebe“ suggerieren.
In der Liebesgabe, in der sich Ökonomie und Emotion verschränken,
steckt jedenfalls ein Potential, das sich in der Geschichte der Liebesdiskurse reich entfaltet. Die dabei dominant zum Vorschein kommende
Abwehr auch nur eines Hauchs von ökonomischer Verfügungsgewalt
scheint Ausdruck einer Idealisierung der Liebe zu sein. Zugleich zeigt
sie, dass Liebe natürlich stets auf ökonomischem Austausch und ökonomischen Forderungen beruht. Vielleicht ist es gerade diese paradoxe
Gleichzeitigkeit von anökonomischem „Sich-ganz-Schenken“ und ökonomischem Kalkül, von Abwesenheit und Anwesenheit, von Zeichen
und Fetisch, von Dauerhaftigkeit und Flüchtigkeit, von Lockung und
Hingabe, die die Liebesgabe zu einem so produktiven Element in der Kulturgeschichte des Abendlandes macht.
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Fußnoten
1 Wesentliche Gedanken dieses Beitrags habe ich an verschiedenen Universitäten vorgetragen. Das hat teilweise zu lebhaften und konstruktiven Diskussionen geführt. Mit
besonderer Freude denke ich an die Vorträge in Salzburg, Mainz und Chemnitz zurück
und danke den dortigen Diskutanten für die vielen Anregungen.
2 Kritik an einer Geschichte der Liebesgabe, die als Verfallsgeschichte erzählt wird, übt
zu Recht Valentin Groebner: Liebesgaben. Zu Geschenken, Freiwilligkeit und Abhängigkeit zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert. In: Traverse. Zeitschrift für
Geschichte 9 (2002), Heft 2, S. 39–52. Vgl. zu den in vorliegendem Aufsatz gemeinten
Liebesgaben vor allem S. 43 f. Vgl. auch Michael Wetzel: Liebesgaben. Streifzüge des
literarischen Eros. In: Ders./Jean-Michael Rabaté (Hg.): Ethik der Gabe. Denken nach Jacques Derrida. Berlin 1993 (Acta humaniora), S. 223–247.
3 Eduard Mörike: Verborgenheit. In: Ders., Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe […], hg. von Hubert Arbogast u.a. Band 1: Gedichte. Ausgabe von 1867. Erster
Teil: Text, hg. von Hans-Henrik Krummacher, Stuttgart 2003, S. 171.
4 Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik, Zürich 1946, S. 23: „Es ist, als ob der Dichter
dem Liebeswerben der Welt zuvorkommen wollte.“
5 Inge Wild: Verborgenheit. In: Inge und Reiner Wild (Hg.), Mörike-Handbuch. Leben –
Werk – Wirkung, Darmstadt 2004, S. 126.
6 Die folgenden Zitate entstammen den Ausgaben: Publius Ovidius Naso, Liebeskunst. Ars
Amatoria. Lateinisch-Deutsch, herausgegeben und übersetzt von Niklas Holzberg, Düsseldorf – Zürich 2000; sowie Publius Ovidius Naso, Liebesgedichte. Amores. LateinischDeutsch, herausgegeben und übersetzt von Niklas Holzberg, Düsseldorf – Zürich 2002.
7 Ich zitiere nach folgender Ausgabe: Andreas aulae regiae capellanus [Andreas Capellanus], De amore libri tres = Von der Liebe. Text nach der Ausgabe von E. Trojel, übersetzt
und mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Fritz Peter Knapp, Berlin 2006.
8 Typische Gaben der Liebe, wie sie vor allem als Gegenstände des Kunsthandwerks erhalten geblieben sind oder in Abbildungen, in Handschriften oder auf anderen Gegenständen dargestellt werden, versammelt und kommentiert Michael Camille: Die Kunst
der Liebe im Mittelalter, Köln 2000 [engl. Original: 1998], S. 50–71.
9 Ulrich von Liechtenstein: Frauenbuch. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Christopher Young, Stuttgart 2003. Für diese
problematische Edition vgl. meine Rezension in: Beiträge zur Geschichte der deutschen
Sprache und Literatur 128 (2006), S. 166–170. Die obige Übersetzung stammt von mir.
10 Thomasin von Zerklaere: Der Welsche Gast. Ausgewählt, eingeleitet, übersetzt und mit
Anmerkungen versehen von Eva Willms, Berlin/New York 2004. Die obige Übersetzung
stammt von mir.
11 Nr. B404: Liederbuch der Clara Hätzlerin, hg. von Carl Haltaus. (Bibliothek der gesamten deutschen National-Literatur 8), Quedlinburg/Leipzig 1840. Neudruck mit einem
Nachwort von Hanns Fischer. Berlin 1966, Teil II, Nr. 56.
12 Die Schweizer Minnesänger. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch, neu bearbeitet und
herausgegeben von Max Schiendorfer, I. Texte. Tübingen 1990, Nr. 30, S. 313–391, Nr.
2, Str. VI.
13 MF 8,33 ff.: Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus, bearbeitet von Hugo Moser
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und Helmut Tervooren, I. Texte. 38. erneut revidierte Auflage. Mit einem Anhang: Das
Budapester und Kremsmünsterer Fragment, Stuttgart 1988.
14 Auch in den Liedern Walthers von der Vogelweide lässt sich das beobachten. Gerade in
den Liedern, in denen er die Konventionen des Hohen Minnesangs unterläuft (in der
Forschung meist „Mädchenlieder“ genannt), finden sich Liebesgaben: Im Lied „Herzeliebez vrouwelin“ z.B. ist es das gläserne vingerlîn, der wenig wertvolle Fingerring aus
Glas, den der Sänger sich von seiner Geliebten erbittet. Vgl. Walther von der Vogelweide:
Leich, Lieder, Sangsprüche, 14., völlig neu bearbeitete Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns. Hg. von Christoph Cormeau, Berlin/New York 1996, Nr. 26, Str. IV, V. 5 f. (=L.
50,11 f.).
15 Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem
Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1986, V. 10754 ff. Direkt
vor dem Zweikampf von Turnus und Eneas (V. 12216) beklagt Lavinia, dass sie Eneas
keine Liebesgaben (kleinôde) gesendet habe, kein Haarband, keinen Schleier, Ärmel, Ring
und auch keinen Gürtel.
16 Die folgenden Zitate stammen aus: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe.
Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung
von Peter Knecht. Berlin/New York 1998.
17 Wenn Parzival nicht lange nach der Jeschute-Episode bei Gurnemanz einkehrt und mit
dessen Tochter Liaze eine verheißungsvolle, aber letztlich unerfüllte Liebesbeziehung
beginnt, wird von Gurnemanz auf den falschen Umgang Parzivals mit Liebesgaben
angespielt (Buch III, V. 175,29 ff.): Gurmenanz bittet Parzival, er solle Liaze den Ring
lassen, wenn sie einen hätte. Sie habe aber keinen und auch keine Spange, denn sie
habe keinen Liebhaber, der ihr solche Geschenke machen könne wie Orilus seiner
Jeschute.
18 Vgl. hierzu die Kontroverse von Joachim Bumke, Die Blutstropfen im Schnee. Über
Wahrnehmung und Erkenntnis im „Parzival“ Wolframs von Eschenbach. (Hermaea NF
94), Tübingen 2001; und Peter Czerwinski: Allegorealität. In: IASL 28/1 (2003), S. 1–37.
19 Gottfried von Straßburg: Tristan. Band 1: Text. Hg. von Karl Marold. Unveränderter fünfter Abdruck nach dem dritten, mit einem aufgrund von Friedrich Rankes Kollationen
verbesserten kritischen Apparat besorgt und mit einem erweiterten Nachwort versehen von Werner Schröder. Band 2: Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung
in das Werk von Tomas Tomasek. Berlin/New York 2004, V. 15769–16406.
20 Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch, herausgegeben von Helmut
de Boor. 22., revidierte und von Roswitha Wisniewski ergänzte Auflage, Mannheim
1988, Str. 847–849.
21 Daniel Hess: Das Gothaer Liebespaar. Ein ungleiches Paar im Gewand höfischer Minne.
Frankfurt am Main 1996 (Reihe kunststück), S. 6. Hieraus auch die folgenden Zitate.
22 Hartmut Bock: Die Verlobung Eppstein-Eppstein 1494 und das „Gothaer Liebespaar“.
In: Mainzer Zeitschrift 87/88 (1992/93 [recte 1995]), S. 157–182; Josef Heinzelmann: Das
„Gothaer Liebespaar“ ist ein Liebespaar. In: Archiv für hessische Geschichte 57 (1999),
S. 209–236, bes. S. 224; Daniel Hess, Das Gothaer Liebespaar, a.a.O., S. 70; vgl. auch den
Katalog zur maßgeblich von Hess veranstalteten Ausstellung in Gotha: Jahreszeiten der
Gefühle. Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spätmittelalter. Herausgegeben von
Allmuth Schuttwolf, mit Beiträgen von Angelica Dülberg, Daniel Hess, Berthold Hinz,
Doris Kutschbach, Markus Müller und Karl-Heinz Spieß, Ostfildern-Ruit o.J. [1998].
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23 Hess: Das Gothaer Liebespaar, a.a.O., S. 13 f.
24 Es ist ein typisch neuhochdeutscher „falscher Freund“, wenn man geniessen lan mit
Genuss assoziiert, als ob die Frau dafür in den Genuss seiner Liebe o.Ä. gekommen sei;
es geht vielmehr um eine rein ökonomische Angelegenheit.
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Balzac und das Geld
Thomas Klinkert
Eine von Charles Baudelaire maliziös berichtete Anekdote erzählt von
einem berühmten Schriftsteller, der einen Schuldschein in Höhe von
1.200 Francs einlösen muss. Er hat nur noch einen Tag Zeit, um das Geld
zu beschaffen. Dieser Schriftsteller findet in letzter Minute eine Lösung,
um seine Schulden bezahlen zu können: Er sucht einen reichen Verleger auf und bietet diesem zwei von ihm geschriebene und signierte Zeitungsartikel an, die den Titel tragen: „Les Français peints par eux-mêmes“
(„Wie die Franzosen sich selbst sehen“). Für diese Artikel möchte er
1.500 Francs bekommen. Den hohen Preis begründet er damit, dass es
sich für den Verleger um eine „affaire d’or“ (frei übersetzt: eine „Goldgrube“) handle. Dann geht er zu zwei befreundeten Schriftstellern und
bietet jedem von ihnen 150 Francs dafür, dass sie einen Artikel zu dem
gewählten Thema schreiben, und zwar so rechtzeitig, dass er beide Texte
noch abschreiben und selbst signieren kann. Die beiden Kollegen lassen
sich auf das Geschäft ein und verkaufen dem berühmten Schriftsteller
für insgesamt 300 Francs ihre Artikel. Der Schriftsteller erhält als Ergebnis dieser Transaktion 1.500 Francs für zwei Zeitungsbeiträge, die er
nicht selbst geschrieben hat, und kann infolgedessen seine Schulden
bezahlen.
Der Titel der von Baudelaire im Jahr 1845 veröffentlichten Anekdote lautet: „Comment on paie ses dettes quand on a du génie“ („Wie man als Genie
seine Schulden bezahlt“). Der berühmte Schriftsteller, dessen Anekdote
Baudelaire überliefert, trägt keinen Namen. Doch ist eindeutig, dass es
sich um niemand anderen als um Honoré de Balzac handeln kann, denn
die Anekdote steckt voller Anspielungen auf die Werke des um 1845
sicherlich bedeutendsten lebenden französischen Schriftstellers. So werden einige der bekanntesten Romantitel des Autors zitiert („La Recherche
de l’Absolu“, „Les Souffrances de l’inventeur“, „La Peau de Chagrin“ und „La Comédie humaine“), und es wird der typische Stil der Balzacschen Romane imitiert, deren Helden selbst oft in größte Not geraten, weil sie hochverschuldet sind.
Die berichtete Anekdote ist ein idealer Einstieg, um sich mit dem Thema
„Balzac und das Geld“ auseinanderzusetzen. Sie zeigt uns nämlich einen
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Schriftsteller, der im Zeitalter des Kapitalismus vom Lohn seiner Arbeit
leben muss. Damit unterwirft er sich den Gesetzen des literarischen
Marktes, den Gesetzen von Angebot und Nachfrage, den Gesetzen des
Preises und des Geldes. Literatur wird zur Ware. Die Anekdote zeigt uns
aber auch den Schriftsteller als Genie, als Ausnahmemenschen, der
allein mit seinem Namen ein von ihm gar nicht geschaffenes Produkt,
einen Zeitungsartikel, veredeln kann. Die beiden Texte, die er bei zwei
unbekannten Schriftstellern für 300 Francs in Auftrag gibt, können von
ihm, nachdem er sie signiert hat, für 1.500 Francs weiterverkauft werden. Es findet also eine Wertsteigerung in Höhe von 400 Prozent statt.
Wir erkennen übrigens diesen Mechanismus umgekehrt heutzutage,
wenn sich beispielsweise ein Gemälde, das einem berühmten Künstler
zugeschrieben wird, als Fälschung oder als ein Werk entpuppt, das gar
nicht vom Meister selbst, sondern von einem seiner Schüler stammt.
Schlagartig verliert dieses Werk seinen Marktwert. Dies war beispielsweise bei dem Gemälde „Der Mann mit dem Goldhelm“ der Fall, das lange
Zeit fälschlicherweise Rembrandt zugeschrieben worden war.
Anhand dieser Beispiele lernen wir, dass der moderne Künstler – und
Balzac war einer der ersten modernen Berufsschriftsteller –, ob er will
oder nicht, den Gesetzen des Marktes unterworfen ist. Wir sehen außerdem an der Anekdote von Baudelaire, dass es einem Genie gelingen
kann, die Gesetze des Marktes einerseits zu befolgen und sie andererseits
zu unterlaufen. Denn eine wichtige Frage, die die Anekdote aufwirft,
lautet: Warum schreibt Balzac die Zeitungsartikel, mit denen er seine
Schulden bezahlen kann, nicht einfach selbst? Wir wissen aus Balzacs
Vita, dass er unentwegt, Tag und Nacht, an seinen Werken gearbeitet
hat. Man berichtet, dass er täglich bis zu 50 Tassen Kaffee getrunken
haben soll, um die Energie aufzubringen, die zur Schaffung seines
gigantischen Werkes erforderlich war. (Auch wenn die 50 Tassen Kaffee
wohl ins Reich der Legenden gehören, ist es bezeichnend für Balzacs
Image als unermüdlich Arbeitender, dass über ihn solcherlei erzählt
wurde.) Als er 1850 mit 51 Jahren starb, hinterließ er ein gewaltiges
Werk, das 91 Romane und Erzählungen umfasst, wobei die von ihm in
den 1820er Jahren unter Pseudonym veröffentlichten Werke gar nicht
mitgerechnet sind. Balzac war einer der produktivsten Schriftsteller
der Weltliteratur, und dennoch soll er fremde Hilfe benötigt haben, um
zwei Zeitungsartikel zu verfassen? Welches Problem verbirgt sich hinter diesem Widerspruch?
Worin bestand eigentlich Balzacs Hauptwerk, was war das Ziel seines
literarischen Schaffens? In seinem zyklischen Romanwerk „La Comédie
humaine“ wollte Balzac nicht weniger, als die zeitgenössische Gesellschaft Frankreichs vollständig darstellen. Er sah sich nicht etwa als
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Unterhaltungsschriftsteller, sondern als Wissenschaftler, als eine Art
Soziologe „avant la lettre“, als Historiker der Gegenwartsgesellschaft. In
einer berühmten Formel bezeichnet er sich als den Sekretär der französischen Gesellschaft. Diese sei die Historikerin gewesen und er derjenige, der die von dieser Gesellschaft produzierte Geschichte („l’histoire des
mours“) einfach nur aufgeschrieben habe: „La Société française allait
être l’historien, je ne devais être que le secrétaire.“
Das Besondere dieses gigantischen Romanwerkes besteht darin, dass
sich die im Laufe von etwa 20 Jahren entstandenen Einzelromane im
Nachhinein zu einer Gesamtheit zusammenfügen. Dieser Eindruck
wird unter anderem dadurch hervorgerufen, dass Einzelfiguren in
unterschiedlichen Romanen immer wieder auftauchen. Balzac nennt
dies den „retour des personnages“. Eine Figur wie beispielsweise Eugène de
Rastignac kommt in „Le père Goriot“ als Hauptfigur vor; dagegen ist er in
„Splendeurs et misères des courtisanes“ eine Nebenfigur. Dadurch entsteht
die Illusion einer realen Welt, deren Figuren quasi außerliterarischen
Wirklichkeitsstatus besitzen. Es ist leicht vorstellbar, dass die Schaffung
eines solch ambitionierten, auf Totalisierung zielenden Romanprojekts
die ganze Energie eines Schriftstellers in Anspruch nimmt. Ebenso ist
gut vorstellbar, dass die Neuartigkeit dieses Romanwerks nicht unbedingt Lesermassen angezogen hat. Es ist ein bekanntes Gesetz der Literaturgeschichte, dass ästhetische Innovationen oft Jahrzehnte benötigen, um sich durchzusetzen. Dieses Gesetz galt auch für Balzac, der versuchte, seine ästhetischen Ambitionen mit den Marktgesetzen in Einklang zu bringen. Dies war nicht immer einfach für ihn. Im Gegensatz
zu seinem Nachfolger Émile Zola war Balzac kein ausgesprochener
Erfolgsschriftsteller.
Die Antwort auf die oben gestellte Frage, wieso einer der produktivsten
Schriftsteller der Weltliteratur fremde Hilfe benötigt haben soll, lautet
also wie folgt: Balzac konnte mit seiner Romankunst, in die er seine Zeit
hauptsächlich investierte, nicht genügend Geld verdienen, um sich seinen aufwendigen Lebensstil zu finanzieren. Dieser Lebensstil aber entsprach seinem Selbstverständnis als Genie.
Literatur und Journalismus
Im Folgenden möchte ich nun einige Aspekte des Zusammenhangs von
Literatur und Geld anhand ausgewählter Werke Balzacs genauer untersuchen. Dieser Zusammenhang wird von Balzac nicht nur thematisiert,
sondern er hat auch Auswirkungen auf sein eigenes Schreiben. Ein
schlagkräftiges Beispiel für die Zusammenhänge zwischen ökonomischen Bedingungen und literarischer Darstellungsweise ist der soge-
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nannte „roman-feuilleton“, der Fortsetzungsroman. Dieser entstand in den
1830er Jahren, in einer Zeit also, in der in Frankreich erstmals Tageszeitungen mit großer Auflage erscheinen konnten. Die technischen Voraussetzungen hierfür waren Ende des 18. Jahrhunderts mit der Erfindung der Metallpresse durch die Engländer Stanhope und Walker
geschaffen worden.
Technische und ökonomische Rahmenbedingungen hängen eng zusammen, und gemeinsam wirken sie sich auf die Literatur aus. Wie die Massenpresse im politischen und gesellschaftlichen Kontext der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts die Literatur umformte, ihr einen neuen
Ort und neue Funktionen zuwies, kann man am besten von Balzac lernen. Er erzählt und analysiert nämlich selbst einen Teil dieser
Geschichte in seinem Roman „Illusions perdues“ (1837–1843); und in dessen Fortsetzung „Splendeurs et misères des courtisanes“ (1838–1847) lassen
sich Auswirkungen dieses Prozesses an der Textstruktur und Erzählweise direkt nachweisen.1
„Illusions perdues“ ist die in den Jahren 1821/22 spielende Geschichte
zweier Freunde, des Dichters und späteren Journalisten Lucien Chardon
und des Druckers David Séchard. Beide wirken durch ihre berufliche
Tätigkeit in zentraler Funktion am „Aufschreibesystem“2 des frühen 19.
Jahrhunderts mit. David arbeitet an einer Erfindung zur preiswerten
Herstellung qualitativ hochwertigen Papiers. In einem Gespräch im
ersten Teil des Romans erläutert er seiner künftigen Ehefrau, Luciens
Schwester Ève, die Probleme der Papierherstellung. Der Erzähler resümiert zur Information des Lesers jene „renseignements qui ne seront
point déplacés dans une ouvre dont l’existence matérielle est due autant
au papier qu’à la presse“ („Auskünfte, die sicher nicht fehl am Platze
sind in einem Werk, dessen materielle Existenz sich ebenso sehr dem
Papier wie der Presse verdankt“, Illusions perdues, S. 218).3 Die Thematik
des Romans betrifft demnach dessen eigene Entstehungsvoraussetzungen.
Papier, so fasst der Erzähler Davids Erklärungen zusammen, wird aus
Lumpen, aus abgetragenen und abgelegten Kleidungsstücken, hergestellt. Diese bestehen zum großen Teil aus Baumwolle und ergeben in
der Herstellung grobes, wenig haltbares Papier. Da jedoch der Papierbedarf, bedingt durch die Expansion der Presse, immer größer wird,
besteht die Notwendigkeit, preiswertes Papier in großen Mengen herzustellen, um eine Kostenexplosion zu vermeiden. Da das minderwertige Papier überdies die Speicherungsfähigkeit des Aufschreibesystems
beeinträchtigt – „Quelle honte pour notre époque de fabriquer des livres sans durée!“ („Welch eine Schande für unsere Epoche, dass sie Bücher
ohne Haltbarkeit herstellt!“, Illusions perdues, S. 222) –, ist es erforderlich,
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die Lebensdauer des Papiers zu erhöhen. „Aussi le problème à résoudre
est-il de la plus haute importance pour la littérature, pour les sciences
et pour la politique.“ („Daher ist das zu lösende Problem von allerhöchster Wichtigkeit für die Literatur, für die Wissenschaften und für die Politik“, S. 221.)
Während sein Freund die technologischen Voraussetzungen des Aufschreibesystems verändern und optimieren möchte, wirkt Lucien als
Dichter und Journalist an diesem mit. Seine beiden Tätigkeitsbereiche
– Poesie und Journalismus – stehen zueinander in Konkurrenz und sind
zugleich aufeinander angewiesen, wie Lucien am eigenen Leib erfahren
muss. Als er, der in der Provinzstadt Angoulême als Dichter die Aufmerksamkeit und Zuneigung der adeligen Madame de Bargeton gewinnen konnte, dieser nach Paris folgt, um dort berühmt zu werden, wird
er mit der ernüchternden Tatsache konfrontiert, dass das Pariser Publikum nicht gerade mit Ungeduld auf die romantischen Gedichte eines
Provinzpoeten gewartet hat. Seine Sonette will niemand verlegen,
ebenso wenig wie seinen historischen Roman „L’Archer de Charles IX“ („Der
Bogenschütze Karls IX.“).
Als ihn sein Bekannter Lousteau in die Welt des Journalismus einführt,
verliert Lucien seine letzten Illusionen (vgl. den programmatischen
Romantitel „Verlorene Illusionen“). So erlebt er, wie der von ihm bewunderte Schriftsteller Nathan sich untertänig bei dem Rezensenten Blondet, der nicht älter ist als Lucien selbst, für eine wohlwollende Kritik
bedankt:
À l’aspect d’un poète éminent y prostituant la muse à un journaliste, y humiliant
l’Art, comme la Femme était humiliée, prostituée sous ces galeries ignobles, le grand
homme de province [d.i. Lucien] recevait des enseignements terribles. L’argent! était
le mot de toute énigme.
(Der Anblick eines hervorragenden Dichters, der dort seine Muse an
einen Journalisten prostituierte, seine Kunst erniedrigte, so wie die
Frauen unter dieser unwürdigen Galerie erniedrigt und prostituiert
wurden, erteilte dem großen Mann aus der Provinz furchtbare Lektionen. Geld! so lautete die Lösung aller Rätsel. Illusions perdues, S. 365)
Von Nathans Verleger Dauriat, dem Lucien seine Manuskripte anbietet,
erfährt er, dass die Literatur ein Spekulationsgeschäft ist. So hat Dauriat
beispielsweise die wohlwollenden Rezensionen Blondets für 1.500
Francs gekauft. Insgesamt hat er für Besprechungen 3.000 Francs ausgegeben, durch den Verkauf des Buches aber nicht einmal 1.000 Francs
verdient. Seine Spekulation ist also nicht aufgegangen. Deshalb will er
künftig nur noch berühmte Autoren und Bücher verlegen, die ihm
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einen sicheren Gewinn einbringen. „Je ne suis pas ici pour être le marchepied des gloires à venir, mais pour gagner de l’argent et pour en donner aux hommes célèbres.“ („Ich bin nicht hier, um künftigen Berühmtheiten den Steigbügel zu halten, sondern um Geld zu verdienen und
berühmten Männern welches zu geben.“, S. 367)
Im Zeitalter der Massenpresse sind nur solche Auflagen lohnend, die in
die Zehntausende gehen, denn es kostet Dauriat genauso viel Geld,
einen unbekannten Autor bekanntzumachen, wie es ihn kostet, einen
schon bekannten Autor zu vermarkten, nur dass in letzterem Fall viel
mehr Gewinn für ihn abspringt. Die literarische Produktion unterliegt
also Zwängen, die sich aus dem Aufschreibesystem und dem damit verbundenen ökonomischen System ergeben. Gedruckt wird nur, was sich
massenhaft verkaufen lässt. Das bedeutet aber, dass Versdichtung von
unbekannten Autoren wie Lucien keine Chance hat. Da das Publikum
sich nur für große Namen wie Alphonse de Lamartine und Victor Hugo
interessiert, lässt sich ein unbekannter Dichter nicht vermarkten.
Der ernüchterte Lucien verdingt sich fortan als Journalist, er wird „une
des cent personnes privilégiées qui imposent des opinions à la France“
(„eine jener 100 privilegierten Personen, die in Frankreich ihre Meinung durchsetzen“, Illusions perdues, S. 383). Dafür aber muss er einen
hohen Preis bezahlen, den seiner persönlichen Integrität. Sein erster
Feuilleton-Artikel ist eine Theaterkritik, bei der sich das Interesse des
Auftraggebers und Luciens privates Interesse an der Hauptdarstellerin
Coralie, die später seine Geliebte wird, überlagern und somit sein kritisches Urteilsvermögen belasten. Sein Auftrag ist es, ein triviales Boulevardstück zu feiern und es damit zu einem kommerziellen Erfolg zu
machen. Er erfüllt diese Aufgabe glänzend und kommt so zu Ansehen,
Geld und Einfluss.
Die wachsende Macht der Presse, die sich auf die hohen Auflagenzahlen stützt, provoziert politische Einflussnahme und raubt den Journalisten ihre Unabhängigkeit. Claude Vignon, eine der Romanfiguren,
analysiert dies trefflich mit folgenden Worten:
Le Journal au lieu d’être un sacerdoce est devenu un moyen pour les partis; de
moyen, il s’est fait commerce; et comme tous les commerces, il est sans foi ni loi. [...]
Un journal n’est plus fait pour éclairer, mais pour flatter les opinions. Ainsi, tous
les journaux seront dans un temps donné lâches, hypocrites, infâmes, menteurs,
assassins; ils tueront les idées, les systèmes, les hommes, et fleuriront par cela même.
(Anstatt ein Priesteramt zu sein, ist die Zeitung ein Mittel der Parteilichkeit geworden; aus einem Mittel wurde sie zum Geschäft; und wie
alle Geschäfte ist sie ohne Treu und Glauben. [...] Eine Zeitung macht
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man nicht mehr, um aufzuklären, sondern um der öffentlichen Meinung zu schmeicheln. Daher werden alle Zeitungen zu gegebener Zeit
feige, heuchlerisch, ehrlos, lügnerisch, mörderisch sein; sie werden
Ideen, Systeme, Menschen töten, und gerade dadurch werden sie in
Blüte stehen. Illusions perdues, S. 404)
In diesem von Politik und Ökonomie bestimmten, moralisch indifferenten Umfeld wird Lucien zum Karrieristen, der von der liberalen zur
monarchistischen Presse wechselt und sich schließlich gezwungen
sieht, gegen seine Überzeugung seinen einstigen Freund, den Dichter
d’Arthez, zu verreißen. Dieser gehört dem „Cénacle“ an, einem Kreis liberaler junger Autoren, dem Lucien nach seiner Ankunft in Paris nahestand. Die Freunde haben ihm einst sogar den Gefallen erwiesen, sein
Romanmanuskript „L’Archer de Charles IX“ zu überarbeiten. Nun aber,
nachdem Lucien aus persönlichem Ehrgeiz die Fronten gewechselt hat
(von den Monarchisten erhofft er sich Unterstützung für sein Vorhaben,
den Adelstitel seiner Mutter, de Rubempré, führen zu dürfen), gerät er
in ein Dilemma. Entweder er verreißt den Roman von d’Arthez, weil dieser dem gegnerischen Lager angehört, oder die monarchistische Presse
lässt Coralie, Luciens Geliebte, fallen, von deren Geld der mittlerweile
Hochverschuldete lebt. Obwohl er d’Arthez’ Roman für eines der schönsten Bücher der modernen Literatur hält, ringt er sich um Coralies willen dazu durch, eine spöttisch-herablassende Kritik zu schreiben.
Immerhin zeigt er diese aus schlechtem Gewissen vor ihrer Veröffentlichung noch dem Autor und bittet ihn um Entschuldigung. D’Arthez hat
sogar Verständnis für Luciens Dilemma und nimmt es auf sich, die Kritik selbst zu überarbeiten, um den Spott durch eine ernsthafte Auseinandersetzung zu ersetzen. Doch Luciens moralische Kompromisse
erweisen sich schließlich als nutzlos, denn seine Pläne scheitern. Coralie fällt auf der Bühne durch und stirbt kurz darauf, Lucien wird Opfer
einer politischen Intrige, seinen Adelstitel bekommt er nicht, und
schließlich ist nicht nur er selbst hochverschuldet, sondern auch sein
Schwager David, auf dessen Namen er gefälschte Wechsel ausgestellt
hat. Als Lucien keinen anderen Ausweg als den Selbstmord mehr sieht,
begegnet er dem (bereits aus „Le père Goriot“ bekannten) Abbé Carlos Herrera alias Vautrin, einem entlaufenen Galeerensträfling, der ihn vom
Selbstmord abhält, da er ihn als Werkzeug für seine eigenen Pläne
benutzen will.
Wenn wir vom märchenhaften Ende des Romans absehen, so ist die
Quintessenz seiner Aussagen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen
Literatur und Geld pessimistisch. Sie lautet, dass diese beiden Größen
in einem unversöhnlichen Verhältnis zueinander stehen, dass die Literatur sich dem Geld unterwerfen muss, um überleben zu können. (Nicht
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umsonst wird auch, wie wir sahen, der Begriff der Prostitution ins Spiel
gebracht.) Doch trotz der moralischen Anklage und des Pessimismus,
der sich in Balzacs Text artikuliert, muss konstatiert werden, dass der
Roman „Illusions perdues“ selbst keineswegs ein minderwertiges Kommerzprodukt ist. Im Gegenteil stimmen die Kritiker darin überein, dass
„Illusions perdues“ eines von Balzacs Meisterwerken und einer der künstlerisch bedeutendsten Romane des 19. Jahrhunderts ist. Anders als „L’Archer de Charles IX“, der fiktive Roman des fiktiven Helden Lucien, konnte
der reale Roman des Autors Balzac durchaus publiziert werden. Offenbar gab es also neben elitärer Verweigerung und ästhetischer Prostitution noch einen dritten Weg. Ich möchte diesen dritten Weg anhand
eines anderes Romans von Balzac weiter untersuchen. Der Roman trägt
den Titel „Splendeurs et misères des courtisanes“.
Der Fortsetzungsroman
Die aus dem Schluss von „Illusions perdues“ sich entwickelnde Geschichte
ist Gegenstand des Romans „Splendeurs et misères des courtisanes“. Nachdem
Balzac in „Illusions perdues“ die Korruption der Presse und ihren Einfluss
auf die Literatur schonungslos dargestellt hat, zeigt sich dieser Einfluss
nun in unmittelbarer Form in der in dem Folgeroman angewendeten
Darstellungstechnik. „Splendeurs et misères des courtisanes“ nämlich ist
Balzacs Versuch, einen literarisch anspruchsvollen Roman mit den Mitteln des populären Fortsetzungsromans zu schreiben.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts stieg dank der zunehmenden Alphabetisierung der Bedarf an Lesestoff im breiten Volk. Bücher waren aber, verglichen mit heutigen Preisen, sehr teuer. Der wachsende Lesebedarf
konnte erst mit Hilfe neuer Publikations- und Verbreitungsformen im
Bereich der Presse gedeckt werden. So wurden im Jahr 1836 die Tageszeitungen „La Presse“ und „Le Siècle“ gegründet. Ein Jahresabonnement
kostete nur 40 Francs und nicht wie sonst üblich 80 Francs. Zum Vergleich: Ein Oktav-Band kostete zur selben Zeit etwa 7,50 Francs – der
Tageslohn eines Arbeiters lag durchschnittlich bei 3 Francs.4 Zum Preis
von rund fünf Büchern konnten Leser nun ein ganzes Jahr lang eine
Tageszeitung beziehen. Die Auflagen von „La Presse“ und „Le Siècle“ waren
dementsprechend hoch (bis zu 35.000 Exemplare). Der niedrige Verkaufspreis war aber nur rentabel, wenn viele Annoncen geschaltet wurden; deren Anzahl wiederum hing von der Auflagenhöhe und somit von
der Reichweite einer Zeitung ab. Die kommerzielle Logik machte es also
erforderlich, die Leser zu ködern und dauerhaft zu binden. Hierfür
erfanden die Verleger ein probates Mittel, den Fortsetzungsroman
(„roman-feuilleton“).
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Vom 23. Oktober bis zum 4. November 1836 erschien in „La Presse“ Balzacs
Roman „La Vieille fille“ als „la première publication en France d’un roman
dans la presse quotidienne“ („die erste Veröffentlichung eines Romans
in der Tagespresse in Frankreich“). Die medialen Bedingungen der Publikation eines Romans in der Tagespresse unterscheiden sich wesentlich
von denen des gedruckten Buches. Die Leser können von Tag zu Tag auf
das Gelesene reagieren. Zahlreiche Leser beschweren sich vor allem über
die angebliche Freizügigkeit und Immoralität von Balzacs Roman, was
dazu führt, dass der Herausgeber von „La Presse“, Girardin, mit dem
Balzac einen Vertrag über weitere gemeinsame Projekte abgeschlossen
hat, ihm Folgendes schreibt:
Il nous vient de si nombreuses réclamations contre le choix du sujet et la liberté de certaines descriptions que le gérant de „La Presse“ demande à l’auteur de la „Vieille Fille“
de choisir un autre sujet que celui de „La Torpille“ [einer Vorstufe von „Splendeurs et
misères des courtisanes], un sujet qui par les descriptions qu’il comportera soit de
nature à être lu par tout le monde et fasse même opposition au premier sujet traité.
Le gérant de „La Presse“ demande cela instamment à l’auteur de la „Vieille Fille“.6
(Es erreichen uns so zahlreiche Beschwerden über die Wahl des Themas
und die Freizügigkeit gewisser Beschreibungen, dass der Herausgeber
von „La Presse“ den Autor von „La Vieille Fille“ bittet, ein anderes Thema als
das von „La Torpille“ [einer Vorstufe von „Splendeurs et misères des courtisanes“] zu wählen, ein Thema, das durch die Beschreibungen, die es mit
sich bringt, so beschaffen ist, dass es von jedermann gelesen werden
kann und dass es dem ersten behandelten Thema sogar entgegengesetzt
ist. Der Herausgeber von „La Presse“ bittet den Autor von „La Vieille Fille“
inständig darum.)
Es wird eine regelrechte Zensur gegen Balzac verhängt. Der Herausgeber
von „La Presse“ versucht, ihm das Thema seines nächsten Fortsetzungsromans vorzuschreiben. Balzac will sich aber nicht den gegebenen
Bedingungen anpassen, weder inhaltlich noch formal. Stattdessen
beklagt er sich in dem 1839 verfassten Vorwort zum zweiten Teil von
„Illusions perdues“: „Le public ignore combien de maux accablent la littérature dans sa transformation commerciale.“ („Das Publikum ahnt
nicht, von wie vielen Übeln die Literatur im Prozess ihrer Verwandlung
zur Ware befallen wird.“ Illusions perdues, S. 113.)
Diese „transformation commerciale“ des Romans, seine „Verwandlung
zur Ware“, der sich Balzac verweigert, vollziehen in medienadäquater
Weise in den Jahren 1839 bis 1841 einige seiner Kollegen: Eugène Sue,
Alexandre Dumas und Frédéric Soulié. Sue, dessen Erfolgsroman „Les
mystères de Paris“ im Jahr 1842 erscheint, wird Balzacs größter kommerzieller Konkurrent.
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Folgende Merkmale zeichnen Sues Roman und das Genre des Fortsetzungsromans insgesamt aus:7 Die Handlung spielt im Milieu der Armen
und gesellschaftlich Ausgestoßenen; durch die hiermit verbundene
soziale Anklage stellt sich der Roman zumindest vordergründig auf die
Lebensbedingungen seiner Leser ein. Allerdings bleibt die Anklage
systemkonform. Die vorgeschlagene Lösung besteht nämlich darin, dass
die Reichen den Armen freiwillig helfen sollen; das kapitalistisch-bourgeoise Gesellschaftssystem wird nicht fundamental in Frage gestellt. Die
Handlungsmuster stammen aus den Gattungen der populären Literatur,
dem Märchen, dem Abenteuerroman, dem Melodram. Die Figurendarstellung ist manichäistisch, das heißt, es gibt klare und eindeutige
Oppositionen zwischen Gut und Böse. Die Handlungsstruktur ist –
medienadäquat – diskontinuierlich: Der Text besteht aus Episoden und
Serien von einander ähnlichen Handlungselementen, deren Logik leicht
zu durchschauen ist. Durch die Zerstückelung der Handlung wird jene
Spannung erzeugt, die die Leser dazu bewegt, täglich ihre Zeitung zu
kaufen, um zu erfahren, wie es mit den Helden, die immer wieder in
höchste Gefahr geraten und dann in letzter Sekunde wundersam gerettet werden, weitergeht. Es entsteht ein Dialog zwischen dem Autor und
seinen Lesern, die sogar Einfluss auf den Fortgang der Geschichte nehmen können. Um kurzfristig zu reagieren, muss der Autor von Tag zu
Tag schreiben. Daher rührt eine gewisse stilistische Nachlässigkeit. Die
Schreibweise ist somit nicht nur medienadäquat, sondern geradezu
vom Medium determiniert. Damit der Fortsetzungsroman seine kommerzielle Funktion in bestmöglicher Weise erfüllen kann, muss er sich
den medialen Bedingungen der kommerziellen Tagespresse anpassen
und unterordnen.
Balzac, der eine so weitgehende Anpassung an die medialen Bedingungen vermeidet, sich diesen aber gleichwohl halbwegs annähert, versucht doch immer wieder, durch die Publikation seiner Romane in der
Presse mit Sue zu rivalisieren. Ähnlich wie viele seiner Helden von Schulden geplagt, unternimmt er mehrere vergebliche Versuche, mit seinen
Romanen Geld zu verdienen. Erst als sich nach einigen Jahren die Mode
des Fortsetzungsromans erschöpft hat, kehrt mit der Publikation von
„Une instruction criminelle“ (dem dritten Teil von „Splendeurs et misères des
courtisanes“) in „L’Époque“ vom 7. bis zum 29. Juli 1846 der Erfolg zurück.
Ein Grund dafür ist sicherlich darin zu suchen, dass es Balzac gelungen
ist, die Erzähltechnik des Fortsetzungsromans mit seinen eigenen
hohen literarischen Ansprüchen zu verbinden und sich damit in den
Augen des Publikums wohltuend von den stereotypen Exemplaren der
Gattung abzuheben.
Um den Roman „Splendeurs et misères des courtisanes“ nun kurz vorzustellen, resümiere ich seine Handlung, die an „Illusions perdues“ anknüpft.
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Zwei Jahre nach Luciens Begegnung mit Carlos Herrera alias Vautrin,
Anfang 1824, setzt die Handlung von „Splendeurs et misères“ ein. Nachdem
Vautrin seine Schulden bezahlt hat und seinen mondänen Lebenswandel finanziert, ist Lucien mittlerweile in Paris wieder fest etabliert. Er
zeigt sich auf dem Pariser Opernball der feinen Gesellschaft und erregt
Aufsehen. Mittlerweile führt er den Geburtsnamen seiner Mutter legal,
das heißt mit königlicher Erlaubnis. Seine Geliebte ist die ehemalige
Prostituierte Esther Gobseck, die sich unsterblich in Lucien verliebt und
ihr Gewerbe ihm zuliebe aufgegeben hat. Doch deren berüchtigte Vergangenheit gefährdet Luciens wiedergewonnenen guten Ruf und seinen
geplanten Aufstieg in die Elite der Restaurationsgesellschaft. Deshalb
verbietet Vautrin, der die Gefahr erkennt und erst einmal dafür sorgt,
dass die Jüdin Esther in einem Kloster erzogen und getauft wird, Lucien,
sich mit Esther in der Öffentlichkeit zu zeigen. Sie dürfen sich nur
nachts treffen, und Esthers Existenz spielt sich jahrelang im Verborgenen ab. Als durch einen Zufall im Jahr 1829 der millionenschwere Bankier Nucingen Esther bei einem ihrer nächtlichen Spaziergänge im Bois
de Boulogne begegnet und sich in sie verliebt, nützt Vautrin die Gunst
der Stunde und versteckt Esther so lange, bis Nucingen bereit ist, ein Vermögen auszugeben, um Esther auch nur zu Gesicht zu bekommen. Mittlerweile hat Lucien Aussicht, Clotilde de Grandlieu, eine Tochter aus
bestem Hause, zu ehelichen, vorausgesetzt, er erwirbt das einstmals der
Familie seiner Mutter gehörende Anwesen de Rubempré. Das Geld für
diesen Kauf soll Esther dem reichen Nucingen entlocken, indem sie wieder zur Kurtisane wird und sich von ihm aushalten lässt.
Vautrin, der „spiritus rector“, hat alles so ingeniös eingefädelt, dass im
Grunde nichts mehr dazwischenkommen kann und seine lange gehegten Pläne mit Lucien endlich in Erfüllung gehen können. Denn wenn
Lucien Clotilde heiratete, stünde seiner Karriere als Diplomat oder
Minister nichts mehr im Wege, und für das notwendige Kapital würde
durch Esthers Hilfe der unerschöpfliche Nucingen sorgen. Doch an dieser Stelle bricht Vautrins Intrige zusammen, denn er hat die Rechnung
ohne die menschliche Passion gemacht. Vautrin, der selbst die Inkarnation der Leidenschaft darstellt, indem er all seine Energie und seine diabolische Intelligenz in den Dienst seines Ehrgeizes stellt, den er nicht
selbst, sondern nur ersatzweise mit Hilfe Luciens ausleben kann, Vautrin,
der gewohnt ist, über alle ihn umgebenden Personen bedingungslos zu
herrschen, unterschätzt Esthers Liebe zu Lucien. Zwar ist Esther bereit,
auf Lucien zu verzichten, da sie weiß, dass sie ihm bei seiner geplanten
Karriere nur im Weg stünde; ebenso wäre sie einverstanden, sich von
Nucingen aushalten zu lassen, doch hat sie beschlossen, sich ihm körperlich nur um den Preis ihres Lebens hinzugeben. Aus Liebe zu Lucien
will sie lieber sterben, als sich erneut zu prostituieren. Als sie Nucingen
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anbietet, er könne zwischen einer Liebesnacht mit tödlichem Ausgang
und dauerhafter Freundschaft wählen, entscheidet er sich für die Liebesnacht, worauf sie ihre Selbstmorddrohung wahr macht. Auf ihrem
Sterbebett findet man 750.000 Francs, die aus dem Verkauf der ihr von
Nucingen übereigneten Leibrente stammen und die sie Lucien vermacht. Dieses Geld wird von ihren Dienern entwendet, was sich für
Lucien als verhängnisvoll erweist. Denn die Polizei, die schon seit geraumer Zeit das von Vautrin inszenierte Versteckspiel mit Esther und Nucingen beobachtet hat, verdächtigt Lucien, dessen Geldnot bekannt ist, des
Raubmords an Esther. Lucien wird, noch bevor er sich mit Clotilde treffen kann, verhaftet und in die Conciergerie gebracht. Esthers 750.000
Francs bringen Lucien also ins Gefängnis, anstatt ihm bei seinen ehrgeizigen Plänen zu nützen.
Auch Vautrin scheitert schließlich: Immer wieder war es ihm zwar
gelungen, seine Verfolger von der Geheimpolizei abzuschütteln; und
selbst im Gefängnis, in das er gleichzeitig mit Lucien wegen Mordverdachts gebracht wird, kontrolliert er dank der Hilfe seiner Tante Jacqueline Collin noch mühelos die Lage und hält die Fäden in der Hand.
Zwar gelingt es ihm durch Verstellung, schlaues Taktieren und psychologischen Scharfsinn, die Vertreter der Justiz zu düpieren und ihnen
ihre Machtlosigkeit vor Augen zu führen. Aber zugleich erlebt er in der
Conciergerie seine größte Niederlage: In falscher Einschätzung der Lage
nämlich verliert Lucien beim Verhör durch den Untersuchungsrichter
die Nerven und gibt Vautrins wahre Identität preis. Als er schließlich seinen Fehler erkannt hat, erhängt er sich voller Scham und Verzweiflung
in seiner Zelle. Damit aber zerstört er endgültig Vautrins sorgfältig vorbereitete Pläne. Diesem bleibt nur noch, seine eigene Haut zu retten, was
ihm mit Bravour gelingt. Am Ende wird er sogar zum Chef der Geheimpolizei ernannt.
Dieser Roman trägt manche typischen Züge des Fortsetzungsromans.
Eine Anleihe ist etwa die Kleinteiligkeit der Handlungsführung; „Splendeurs et misères des courtisanes“ besteht aus 155 eher kurzen Kapiteln, die
insbesondere im dritten und im vierten Teil schnittartig gegeneinander
montiert sind. Diese Technik steigert die Spannung. Parallel und zeitgleich an verschiedenen Orten ablaufende Handlungsstränge werden
alternierend erzählt. Ein weiteres Merkmal ist die Häufung melodramatischer Handlungselemente. Melodramatisch ist etwa die „Bekehrung“ der Prostituierten Esther, die allein durch die Liebe zu Lucien
bewirkt wird. Melodramatisch ist auch ihr Tod. Sie hat ihrem Verehrer,
dem Bankier Nucingen, eine Liebesnacht geschenkt und begeht daraufhin Selbstmord. Kurz nach ihrem Tod trifft die Nachricht ein, dass sie
von ihrem Großonkel, dem Wucherer Gobseck, ein Millionenvermögen
geerbt hat; wäre diese Nachricht etwas früher eingetroffen, so wäre der
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Selbstmord unnötig gewesen, weil Esther sich dann nicht an Nucingen
hätte verkaufen müssen, um Geld für Lucien zu besorgen. Typisch für
den Fortsetzungsroman ist schließlich auch die Situierung der Handlung im Kriminal- und Polizeimilieu sowie im Gefängnis. Balzac schöpft
hier übrigens aus denselben Quellen wie sein Rivale Sue, unter anderem
den „Mémoires“ des ehemaligen Zuchthäuslers und späteren Leiters der
Geheimpolizei François-Eugène Vidocq, der das Vorbild für Vautrin abgegeben hat und den Balzac auch persönlich kannte.
Abgesehen von den genannten, vom Fortsetzungsroman übernommenen Merkmalen ist „Splendeurs et misères des courtisanes“ aber einer der
bedeutendsten und virtuosesten Texte der „Comédie humaine“ und stellt
somit keine billige Konzession an den Geschmack des Publikums dar. Er
ist in die zyklische Struktur des Balzacschen Gesamtwerks vollständig
integriert. Es verbinden sich in ihm Elemente der Hoch- mit denen der
Populärkultur. Diese Mischung hat den Zweck, ein möglichst großes
Publikum zu gewinnen, denn der moderne Berufsschriftsteller muss
vom Verkauf seiner Bücher leben. Daher muss Balzac einfacher, didaktischer schreiben, als er dies sonst zu tun pflegt. Der Roman kann auf
zwei Ebenen gelesen werden: vordergründig als spannender Unterhaltungs- und Kriminalroman; hintergründig, für eingeweihte Leser, als
wichtiger Mosaikstein der „Comédie humaine“, in der Balzac die gesellschaftliche Wirklichkeit seiner Zeit vollständig darzustellen versucht
hat.
Resümee
An Balzac und seinen Werken können die Probleme der Literatur unter
den Bedingungen eines freien Marktes exemplarisch beobachtet werden. Der Berufsschriftsteller muss seinen Lebensunterhalt durch den
Verkauf seiner Werke verdienen. Er steht in Konkurrenz zu anderen,
kommerziell erfolgreichen Schriftstellern. Wenn er sich wie Balzac für
ein Genie hält, dann gerät er in einen Konflikt, muss er doch seinen
hohen künstlerischen Anspruch mit den materiellen Notwendigkeiten
seines Lebens in ein Gleichgewicht bringen. Dies tut Balzac, indem er
sich mit allen Kräften der Niederschrift seines Werkes widmet und
zugleich gewisse Kompromisse mit dem neu entstandenen Genre des
Fortsetzungsromans eingeht. Ohne dessen Gesetze vollständig zu befolgen, legt er mit „Splendeurs et misères des courtisanes“ ein Werk vor, das formal geeignet ist, um als Fortsetzungsroman zu erscheinen und die Leser
zu fesseln, und zwar genau zu jenem Zeitpunkt, da die Mode des von
Sue, Dumas und anderen dominierten Genres bereits abgeebbt ist und
das Publikum eine Abweichung vom Stereotyp zu akzeptieren bereit ist.
Daran zeigt sich, dass es Balzac gelungen ist, die Gesetze des Marktes
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und der Kommerzialisierung zugleich zu befolgen und sie zu unterlaufen – wie es sich für ein Genie gehört.
Fußnoten
1 Die folgenden Überlegungen finden sich auch in meiner „Einführung in die französische
Literaturwissenschaft“, Berlin 2000, 4. Aufl. 2008, S. 81–87. Das dort Gesagte wird hier aus
einer neuen Perspektive betrachtet, indem der Fokus auf die Rolle des Geldes gelegt
wird.
2 Zu diesem Begriff vgl. Friedrich A. Kittler, „Aufschreibesysteme 1800/1900“, München 1985.
3 Zitiert werden die beiden Romane Balzacs nach folgender Ausgabe: Honoré de Balzac,
„Illusions perdues“, in: „La Comédie humaine“, V. „Études de mours: Scènes de la vie de province“.
Édition publiée sous la direction de Pierre-Georges Castex, Paris 1977, S. 1–732. „Splendeurs et misères des courtisanes“, in: „La Comédie humaine“, VI. „Études de mours: Scènes de la vie
parisienne“. Édition publiée sous la direction de Pierre-Georges Castex, Paris 1977, S. 393–
935. Die deutschen Übersetzungen stammen von mir.
4 Diese Zahlenangaben finden sich bei Yves Olivier-Martin, „Histoire du roman populaire en
France de 1840 à 1980“, Paris 1980, S. 28.
5 René Guise, Balzac et le roman-feuilleton, in: „L’Année balzacienne“ 1964, S. 287.
6 Zitiert nach René Guise, Balzac et le roman-feuilleton, S. 292.
7 Vgl. hierzu Peter Heidenreich, „Textstrategien des französischen Sozialromans im 19. Jahrhundert am Beispiel von Eugène Sues ‚Les Mystères de Paris‘ und Victor Hugos ‚Les Misérables‘“, München 1987.
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„Ich habe ein Recht auf Comfort, zum Donnerwetter“
Thomas Mann und das Geld
Anna Kinder
„Ich bin im Begriffe, eine Figur in meine Erzählung einzuführen, wie ein Romanverfasser sie seinen Lesern niemals bieten dürfte, da Unsichtbarkeit in offenbarem
Widerspruch zu den Bedingungen des Künstlerischen und also auch der Romanerzählung steht. Frau von Tolna aber ist eine unsichtbare Figur. Ich kann sie dem
Leser nicht vor Augen stellen, von ihrem Äußeren nicht das kleinste Zeugnis geben,
denn ich habe sie nicht gesehen und nie eine Beschreibung von ihr empfangen, da
niemand aus meiner Bekanntschaft sie je gesehen hat.“1
Was dem Erzähler in Thomas Manns Roman Doktor Faustus (1947) hier
zum Problem wird – die Unsichtbarkeit der Frau von Tolna – erweist sich
für den Künstler, dem sie als Mäzenin dient, als wahrer Segen. Denn das
Hauptmerkmal der reichen Witwe, die Adrian Leverkühn – denn um diesen handelt es sich hier – als wohlwollende Gönnerin unterstützt, ist
ihre Distanz. Von Ferne, ohne persönliches Zusammentreffen, fungiert
sie für den Künstler als „sorgende Freundin und Ratgeberin, als unbedingte Dienerin seiner Existenz“2. Großzügig stellt sie ihm ihr Riesenvermögen zur Verfügung, ihre vielen Häuser und Anwesen und lässt
ihre Beziehungen spielen, wenn es etwa gilt, schwer zugängliches Material zu besorgen. Frau von Tolna verkörpert mit ihrem „asketischen Verzicht auf jede direkte Annäherung“ und ihrer „unverbrüchliche[n]
Observanz der Verborgenheit, der Zurückhaltung, der Nicht-Behelligung, des unsichtbar Bleibens“3 in Kombination mit ihrer finanziellen
Großzügigkeit wohl den Mäzenatentraum eines jeden Künstlers. So
betrachtet Adrian denn auch den Ring, den die Gönnerin ihm mit ihrem
ersten Schreiben schenkt – für den Erzähler eindeutig das „Symbol der
Bindung, der Fessel, ja der Hörigkeit“4 – nicht als Zeichen für seine
Abhängigkeit, sondern als Ausdruck der optimalen Verbindung zwischen seiner Künstlerexistenz und der Welt.
Das hier skizzierte Ideal ermöglicht dem großen Geist einen finanziell
abgesicherten Schaffensraum, in dem er sich frei von jedweder Einmischung und ohne Rücksichtnahme entfalten kann. Dass dem nicht
immer so ist, weiß auch der Erzähler des Romans, wenn er Frau von
Tolna als „seltene[s] Wesen“5 charakterisiert. Denn so gut wie Adrian
Leverkühn geht es wohl den wenigsten Kunstschaffenden, stehen sie
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doch mitunter vor der Wahl, die Bedingungen, an die eine geldliche Entlohnung geknüpft ist, hinzunehmen oder aber einem anderen Broterwerb nachzukommen, um damit ihre künstlerische Tätigkeit finanzieren zu können. Wie entnervend das sein kann, weiß der mit Adrian
Leverkühn befreundete Schriftsteller Rüdiger Schildknapp, der seine
Zeit nicht mit eigener literarischer Produktion, sondern mit dem Anfertigen von Übersetzungen zubringt:
„Dichter wollte er sein, war es auch seiner Überzeugung nach, und daß er um des
leidigen Broterwerbes willen den vermittelnden Literaten abgeben mußte, stimmte
ihn absprechend kritisch gegen die Beiträge anderer und war Gegenstand seiner
täglichen Klage. ‚Wenn ich bloß Zeit hätte‘, pflegte er zu sagen, ‚und arbeiten
dürfte, statt schuften zu müssen, so wollte ich es ihnen schon zeigen!‘“6
Das zentrale Problem, um das es hier bei der Auseinandersetzung von
Geist und Geld geht, ist das der künstlerischen Freiheit und Unabhängigkeit, die Frage nach der Möglichkeit eines kreativen Schaffens bar jeglicher finanzieller Rücksicht und Unterordnung.
Der Kampf um die Autonomie der Kunst hat sich vor kurzem, im Herbst
2008, in der Auseinandersetzung um den Epilog eines Theaterstückes
am Hamburger Schauspielhaus manifestiert. Der Auftritt eines aus
tatsächlichen Hartz-IV-Empfängern bestehenden Chores am Ende der
Inszenierung von Peter Weiss’ Stück „Die Verfolgung und Ermordung Jean
Paul Marats“, dargestellt durch die Schauspieltruppe des Hospizes zu Charenton
unter Anleitung des Herrn de Sade, der eine Liste der reichsten Hamburger,
allesamt Millionäre, vorliest, sorgte schon im Vorfeld für Unfrieden. So
bangte auch die Kultursenatorin der Stadt um einen Rückgang der geldgeberischen Großzügigkeit der genannten Personen – handelte es sich
bei diesen doch, so die Pressemitteilung der Senatorin, um große Wohltäter Hamburgs, die sich durch großzügige Spenden und hohe Steuerzahlungen um das Wohl der Stadt verdient machten.
1
Die Jahre bis 1905: Freiheit und goldene Kugeln
Thomas Mann (1875–1955), der Autor, der das Ideal der Frau von Tolna
zu Papier gebracht hat, kann zu dem glücklichen Künstlerkreis gezählt
werden, der sein Leben ganz seinem Werk widmen kann.7 Zeit seines
Lebens gut versorgt, kann der Sprössling einer Lübecker Kaufmannsund Senatorenfamilie das tun, was er auch tun will, nämlich schreiben.
In jungen Jahren – noch vor seinen ersten literarischen Erfolgen – verschafft ihm ein regelmäßiger Wechsel, den er, ebenso wie sein Bruder
Heinrich, seit dem Tod des Vaters erhält, die zum Schreiben nötige
Unabhängigkeit:
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„Unsere Mutter, als Nutznießerin eines mittleren bürgerlichen Vermögens, dessen
Erben wir Kinder waren, gab uns monatlich je hundertsechzig oder hundertachtzig Mark, und dieser Wechsel, der sich in italienischer Währung besser ausnahm,
bedeutete uns viel: die soziale Freiheit, die Möglichkeit, ‚abzuwarten‘. Bei bescheidenen Ansprüchen konnten wir tun, was wir wollten, und das taten wir.“8
Finanziell abgesichert und frei von gesellschaftlichen Verpflichtungen,
können die Brüder sich ganz ihren künstlerischen Laufbahnen widmen
und ohne Probleme 1895 eine Italienreise unternehmen, der ein längerer Aufenthalt in Italien folgt (von Oktober 1896 bis April 1898). Sich des
Luxus seiner frühen Freiheit durchaus bewusst, spricht Thomas Mann
diese auch in seiner Antwort auf eine Umfrage der Vossischen Zeitung zum
Thema „Geist und Geld“ aus. Interessiert an dem „Zwiespalt“, wie man „für
sein Werk lebt, ohne von ihm zu leben“, hatte die Zeitung 1921 Künstler und Wissenschaftler befragt, unter ihnen auch Thomas Mann, der
wie folgt antwortete:
„Ich kenne den Hunger nicht, habe ihn nie erfahren […]. In meiner Jugend hatte ich
jene zweihundert Mark monatlich, die vor dem Kriege soziale Freiheit gewährten
und mich in den Stand setzten, zu tun, was ich wollte. Auf italienisch nahm der
kleine Wechsel sich sogar noch besser aus, so daß dem Abonnenten eines bescheidenen römischen Speisehauses sogar für Punsch, Zigaretten und Reclam-Hefte noch
das Nötige übrigblieb. […] Jedenfalls bin ich persönlich der kapitalistischen Weltordnung von früher her zu Dank verpflichtet, weshalb es mir niemals anstehen
wird, so recht à la mode auf sie zu spucken.“
Geld bedeutet für Thomas Mann in dieser frühen Phase also vor allem
Unabhängigkeit, Freiheit und Zeit zum Schreiben. Seinem Freund Otto
Grautoff beschreibt er 1894 in einem Brief seine Situation als frei und
glücklich und bestätigt diese Glücks-Diagnose ein Jahr später in einem
Fragebogen, den er folgendermaßen ausfüllt:
„Deine Idee vom Glück? Unabhängig und mit mir selbst im Einverständnis zu leben.
[…] Deine Idee vom Unglück? Mittellos und daher abhängig zu sein.“
Losgelöst von finanziellen Sorgen, hat der junge Thomas Mann also
traumhafte Startbedingungen. Er kann sich ganz seinen ehrgeizigen
schriftstellerischen Plänen widmen und dann auch erste Erfolge verbuchen. 1894 erscheint seine Novelle „Gefallen“ in der Zeitschrift „Die
Gesellschaft“, und 1894 erhält er für seine im „Simplicissimus“ abgedruckte Erzählung „Der Wille zum Glück“ von Jacob Wassermann sein
„Honorar in Gold“11 ausgehändigt. Nach diesen Anfangserfolgen
gelingt Thomas Mann 1897 der Durchbruch, als die Neue Rundschau „Der
Kleine Herr Friedemann“ annimmt und Samuel Fischer dem Autor für das
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Verlagsrecht an seinen Novellen 150 Mark anbietet. Damit ist der
Grundstein für die lebenslange Zusammenarbeit zwischen Thomas
Mann und dem S. Fischer Verlag gelegt.
Der große finanzielle Durchbruch gelingt Thomas Mann einige Jahre
später mit seinem Romanerstling „Buddenbrooks“, den er treffend als
sein persönliches Hauptgeschäft bezeichnet hat. Während sich die
erste, eine gebundene Ausgabe im Jahr 1901 zum Preis von 12 bzw. 14
Mark zunächst zögerlich verkauft, setzt mit der einbändigen 5- bzw. 6Mark-Ausgabe zum Weihnachtsgeschäft 1902 ein Siegeszug sondergleichen ein. Mit einem vertraglich festgesetzten Honorar von 20 Prozent des Ladenpreises pro verkauftem Exemplar verdient Thomas
Mann schon im ersten Jahr 13.000 Mark. Bereits im Januar 1904 kann
das 14. bis 18. Tausend des Buches aufgelegt werden. Im Jahr 1929 wird
der Erfolg durch das Erscheinen einer Sonderausgabe für 2,85 Mark
noch übertroffen, und im November 1932 gelangen das 980. Tausend
der Sonderausgabe und somit das 1.165. Tausend aller Auflagen der
„Buddenbrooks“ ins Sortiment.12 Nicht zu vergessen ist, dass es gerade
Thomas Manns Romanerstling ist, der ihm 1929 den Literaturnobelpreis, dotiert mit 127.760 Skr13, einbringt. Der Roman wurde bis heute
in zahlreichen Verfilmungen adaptiert und in fast 40 Sprachen übersetzt. In jüngster Zeit kulminierte seine Erfolgsgeschichte in der Bühnenadaption John von Düffels und der neuesten Verfilmung durch
Heinrich Breloer, die im Dezember 2008 erstmals in deutschen Kinos
gezeigt wurde.
Zufrieden kann Thomas Mann im Dezember 1903 feststellen, dass „so
ein Erfolg, wie der mit Buddenbrooks […] doch wohl“14 tut und sich mit
dem Ruhm auch der finanzielle Erfolg einstellt, denn: „Geld strömte
herzu.“15 Spätestens mit dem nachhaltigen Erfolg von „Buddenbrooks“
kann sich Thomas Manns als Schriftsteller etabliert sehen, der von seinem Werk leben kann und damit bei der erwähnten Umfrage der Vossischen Zeitung von 1921 – „Daß einer von seiner Leistung leben darf,
gehört zu den Ausnahmen“ – als atypisches Beispiel heraussticht.
Der zunehmende Ruhm verschafft dem jungen Erfolgsautor Zutritt zu
den besten Kreisen der Münchener Gesellschaft, und er kann seinem
Bruder 1904 in einem Brief berichten, dass er „gesellschaftlich eingeführt“ sei. Besondere Erwähnung findet in diesem Schreiben die Familie Pringsheim, deren Reichtum und gesellschaftlicher Rang es Thomas
Mann sichtlich angetan haben:
„Pringsheims sind ein Erlebnis, das mich ausfüllt. Tiergarten mit echter Kultur.
Der Vater Universitätsprofessor mit goldener Cigarettendose, die Mutter eine Lenbach-Schönheit […]. Eines Tages fand ich mich in dem italienischen Renaissance-
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Salon mit Gobelins, den Lenbachs, der Thürumrahmung aus giallo antico und
nahm eine Einladung zum großen Hausball entgegen. Er war am nächsten Abend.
150 Leute, Litteratur und Kunst. Im Tanzsaal ein unsäglich schöner Fries von Hans
Thoma.“
Das Haus des Mathematikprofessors Alfred Pringsheim und seiner Frau
Hedwig, das zu Recht auch Palais genannt wurde, galt als eine der ersten
Adressen in München und als Treffpunkt von Künstlern. Neben einem
enormen Vermögen besaßen Pringsheims beeindruckende Kunstsammlungen, darunter eine der weltweit bedeutendsten MajolikaSammlungen. Fasziniert von der Verbindung von Geld und Kultur im
Hause Pringsheim, beginnt Thomas Mann seinen Werbefeldzug um die
Tochter Katia. Gerade das erwähnte Schreiben an seinen Bruder Heinrich zeigt deutlich, dass dabei die Aussicht auf eine Verbindung mit
einer der reichsten und einflussreichsten Familien Münchens durchaus
als wichtiger Beweggrund betrachtet werden kann. Katia wird lediglich
etwas abstrakt als „Wunder, etwas unbeschreiblich Seltenes und Kostbares, ein Geschöpf, das durch sein bloßes Dasein die kulturelle Thätigkeit von 15 Schriftstellern oder 30 Malern aufwiegt“, vorgestellt, als Teil
des beeindruckenden Gesamterlebnisses „Familie Pringsheim“. Und um
alle Motivationszweifel bei seinem Werbefeldzug um die Tochter des
Hauses zu beseitigen, stellt Thomas Mann klar:
Abbildung 1: Das Bibliothekzimmer im Haus der Pringsheims an der Arcis-Strasse 12 in München.
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„Das sage ich gleich: Es ist müßig, zu fragen, ob es mein ‚Glück‘ sein würde. Trachte
ich nach dem Glück? Ich trachte nach dem Leben; und damit wahrscheinlich ‚nach
meinem Werke‘. Ferner: Ich fürchte mich nicht vor dem Reichthum. Ich habe niemals aus Hunger gearbeitet, habe mir schon in den letzten Jahren nichts abgehen
lassen und habe schon jetzt mehr Geld, als ich im Augenblick zu verwenden weiß.“
Die Werbung um Katia Pringsheim steht also ganz im Zeichen seines
Werkes. Nicht der um sein persönliches Glück Sorge tragende Mann ist
hier am Zuge, sondern der Schriftsteller, der sich mit der Wahl seiner
Braut in den finanziell und kulturell ersten Kreisen verankern möchte.
Nach der Hochzeit im Februar 1905 erhalten Thomas und Katia Mann,
und später dann auch deren Kinder, wiederholt finanzielle Unterstützung durch die Eltern Pringsheim. Alfred Pringsheim richtet dem jungen Paar eine Sieben-Zimmer-Wohnung (inklusive eines Telefons) ein,
und Thomas Mann erwähnt seinem Bruder gegenüber wiederholt die
Rente, die Katia von ihren Eltern bezieht.
Durchaus zufrieden mit seinem finanziellen Coup berichtet Thomas
Mann im September 1905 seiner Lübecker Freundin Ida Boy-Ed von
einem Besuch bei Verwandten seiner Frau in Berlin, „wo wir […] ein
gehegtes, vorzügliches Leben führen“:
„Ach, Reichtum ist doch eine gute Sache, man sage, was man wolle. Ich bin Künstler genug, corruptibel genug, um mich davon bezaubern zu lassen.“
Und durchaus treffend bringt er seine Situation auf den Punkt, wenn er
seinem Bruder schreibt: „Ich bin jedenfalls gebunden und habe eine goldene Kugel an jedem Bein.“18
2
Gehobenes Lebensniveau:
Villen, Autos und Dienstmädchen
Das erste Ehejahrzehnt der Manns zeichnete sich bis zum ersten Weltkrieg durch wachsende Prosperität aus. Der Ruhm Thomas Manns
nimmt zu, „Königliche Hoheit“ (1909) und „Der Tod in Venedig“ (1913) zahlen
sich aus, die Familie wächst und in zunehmendem Maße auch der Hausstand. Es können Urlaube gemacht und auch die teuren Kuraufenthalte
Katias bezahlt werden. 1909 kann Thomas Mann seinem Bruder Heinrich sogar anbieten, „an den wirtschaftlichen Früchten von ‚K[önigliche]
H[oheit]‘ doch unbedenklich ein bischen [sic] teilzunehmen“, könne er
doch „ein paar tausend Mark schmerzlos entbehren“19. 1908 erwirbt die
Familie zum Kaufpreis von 10.000 Mark ein Grundstück in Bad Tölz und
errichtet sich dort ein Landhaus. 1910 wird für 5.800 Mark das Nachbargrundstück dazugekauft, so dass die Familie nun ein Herrensitz-
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chen, wie der Autor es liebevoll in einem Brief bezeichnet, mit 1,387 Hektar Land besitzt. 1913 lässt die Familie das Haus in der Poschingerstraße
bauen, eine herrschaftliche Villa.
Die ersten Münchener Ehejahre lassen bereits den Lebensstil erkennen, auf den Thomas Mann Zeit seines Lebens Wert legte und den er
auch nicht aufgab. Die Familie bewohnt oder besitzt stets große Häuser und hat immer Dienstpersonal im Haus, ein Kindermädchen, eine
Köchin und ein Hausmädchen, später kommt noch ein Chauffeur
hinzu.
Die Zeit des ersten Weltkrieges ist für die Familie zwar mit Einschränkungen verbunden – Sohn Klaus erinnert sich, „daß wir immer hungrig
waren“20 –, und der Lebensstandard wird reduziert, doch mit einem
durchschnittlichen Jahreseinkommen von 25.000 Mark ist die Existenz
nicht gefährdet. Bereits im November 1918 kann Thomas Mann in seinem Tagebuch festhalten, dass er „in diesem Jahre […] ca. 90.000 verdient
haben werde“21 – ein Jahr später sind es zu seinem „Vergnügen“ bereits
„über 100.000 M“. So klagt er auch im Mai 1920, „selbst wenn wir viel
hinterziehen, rund 20.000 M“an Steuern bezahlen zu müssen. Die am
1. Dezember 1921 im Tagebuch festgehaltenen Jahreseinnahmen belaufen sich dann schon auf 300.000 Mark. Neben dem Einkommen aus seinen deutschen Büchern und aus Übersetzungen verdient Thomas Mann
auch gut an seinen Vortragsreisen, wobei sich seine Honorarforderungen bis 1920 auf 500 bis 700 Mark pro Abend belaufen. Für November
1920 schließt er für Lesungen in sieben Städten für „1.000 M den Abend“
ab, für seine Januartournee im Jahr 1921 durch die Schweiz errechnet
er in einem Tagebucheintrag einen Reingewinn von 15.000 Mark. Und
am 21. Juni 1921 freut er sich über eine „Einladung nach Wien, zum
Winter, für ein Honorar von 2.000 Mark (20.000 Kronen), womit die
Bezahlung Walters [gemeint ist der Dirigent und Münchener Nachbar
Bruno Walter; A.K.] erreicht ist.“ So scheint es durchaus etwas untertrieben, wenn Thomas Mann im April 1920 von den „relativ günstigen
Verhältnissen“ spricht, unterhält er doch einen Haushalt, „der jährlich
60 bis 70.000 Mark verschlingt“22.
Gerade in der Inflationszeit, die natürlich auch bei Thomas Mann ihre
Spuren hinterlässt, war ausländisches Geld willkommen, ebenso die
Vortragsreisen ins Ausland sowie der Vertrag mit der US-amerikanischen Zeitschrift „The Dial“ über eine Reihe von „Briefen aus Deutschland“,
die mit 25 US-Dollar pro Stück honoriert werden. Einschnitte sind für
den Hausbesitzer, dessen Tantiemen regelmäßig weiter fließen, also zu
verkraften, und er hält rückblickend in seinem 1942 verfassten „Erinnerungen aus der deutschen Inflation“ fest:
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„Die Literatur ist eine internationale Sache, und ich persönlich durfte mich nicht
beklagen während der Inflation. 25 Dollar, die ich von der amerikanischen Zeitschrift ‚The Dial‘ für eine monatliche Korrespondenz erhielt, gewährten meiner
achtköpfigen Familie ein leidliches Auskommen.“
Mit dem Erscheinen des „Zauberberg“ im Jahr 1924, der 1925 bereits eine
Auflage von 50.000 erreicht, scheint dem finanziellen Triumph Thomas
Manns endgültig nichts mehr im Wege zu stehen. Das erste Auto, natürlich mit Chauffeur, kann gekauft werden, und der Autor setzt sich standesgemäß in Szene:
„Ich habe, unter uns gesagt, an Eintrittsgeldern in mein mystisches Aquarium
schon einige siebzigtausend Mark verdient, und so habe ich mir denn ein Auto
angeschafft, einen hübschen sechssitzigen Fiat-Wagen. Unser Windbeutel Ludwig
ist schon zum Chauffeur ausgebildet, und so werde ich denn fortan 33 pferdig in
die Stadt fahren, nach allen Seiten leutselig grüßend.“24
Abbildung 2: Thomas und Katia Mann in einer Horch 18.
쑔 (Keystone/Thomas-Mann-Archiv)
Die Situation der Familie wird in einem Bericht der Schwiegermutter
Hedwig Pringsheim (in etwas verwegener Rechtschreibung) treffend
resümiert:
„Daß mein Schwiegerson jetzt auf der Höhe seines Rums angelangt ist, wird dir
vielleicht bekannt sein. Er hat Erfolg über Erfolg, seine Stellung nicht nur in der
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Litteratur, sondern auch in der Welt, ist glänzend, und Katja sonnt sich in diesem
Glanz. Sie begleitet ihn sehr viel auf seinen Reisen und nimmt Teil an seinen Ehrungen. Sie sind auch die beiweitem ‚Pekuniärsten‘ in der ganzen Familie, und wärend
wir, trotz unserm schönen Haus, das wir – leider – immer noch bewonen, recht
arme Schlucker sind, schaffen sich Manns eben ein Automobil an und bauen sich
eine Garage an ihrem Haus an: nobel.“25
Thomas Manns Erfolg wächst unaufhaltsam, und damit auch sein Reichtum. Im Sommer 1929 erhält er ein Angebot des Verlegers Adalbert
Droemer, der den Th. Knaur Verlag leitet, für eine wohlfeile Volksausgabe der „Buddenbrooks“ über 100.000 Reichsmark. Da Samuel Fischer
sich jedoch hartnäckig weigert, die Verlagsrechte an den Konkurrenten
freizugeben, erscheint die Ausgabe zum spektakulären Ladenpreis von
2,85 Mark schließlich bei Fischer selbst – und bringt Thomas Mann, wie
einer detaillierten Aufschlüsselung der Honorierung in einem Schreiben Samuel Fischers zu entnehmen ist, im Zeitraum vom 1. Oktober
1929 bis zum 1. Juli 1930 insgesamt 125.000 Reichsmark ein.26 Das Geld
fließt also bereits in Strömen, als im November 1929 die Nachricht von
der Zuerkennung des Nobelpreises das Glück komplett macht. Wie
Ricarda Huch frustriert feststellt, trifft es damit einen Kandidaten, „der
ohnehin reich ist“27. Und auch Heinrich Mann gesteht in einer Rundfunksendung, dass der Preis einen „ohnedies erfolgreichen Schriftsteller […] unter die Reichen“28 versetzt. Thomas Manns führende Position
im literarischen Betrieb der Weimarer Republik findet ihren Ausdruck
in der gesellschaftlich allgemein anerkannten Größe Geld, denn, so der
Bruder weiter: „Die Literatur bleibt, wie je, eine Macht; und da die Macht
sich allgemein faßlich in Geld ausdrückt, so fällt ihr Geld zu.“ Das Preisgeld verwendet Thomas Mann hauptsächlich für private Zwecke; die
Hälfte des Geldes deponiert er in der Schweiz.
Dies wird sich in den folgenden Jahren als weise Entscheidung herausstellen. Denn im Zuge der Machtergreifung der Nationalsozialisten sieht
sich Thomas Mann im Frühjahr 1933 gezwungen, von einer Vortragsreise nicht nach Deutschland zurückzukehren und seine wohlgeordnete
und behagliche Existenz hinter sich zu lassen. Zwar ist der Gang ins Exil
für Thomas Mann mit finanziellen Verlusten verbunden, gerade im Vergleich zu vielen seiner Kollegen geht es ihm aber in all den Jahren
außerordentlich gut. So stellt auch der mit ihm befreundete Schriftstellerkollege Hermann Hesse nach einem Besuch Thomas Manns in
einem Brief Anfang April 1933 fest: „Bei ihm herrscht ja keine materielle Not, vorerst ist er in guten Verhältnissen.“29 Sowohl in der Schweiz
(1933–1938) wie auch in den USA (1938–1952) kann er seinen gewohnten Lebensstil aufrechterhalten: Die Familie bewohnt schöne, große
Häuser, kann sich in Pacific Palisades eine eigene Villa errichten, ist stets
mit einem eigenen Wagen versorgt und hat weiterhin Dienstpersonal.
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Abbildung 3: Thomas Mann als Exilant im Juni 1933 in Sanary sur Mer.
쑔 (Keystone/Thomas-Mann-Archiv)
Zunächst ist der plötzliche Verlust der gewohnten Lebensbasis natürlich
ein schwerer Schock. Die Tagebuchaufzeichnungen dieser Zeit offenbaren einen aus der Bahn geworfenen Thomas Mann, der damit kämpft,
mit der neuen Situation zurecht zu kommen, die er am 14. März 1934
als einen schweren „Stil- und Schicksalsfehler meines Lebens“ bezeichnet, Überlegungen über das weitere Vorgehen, die Suche nach einem
neuen Wohnort und die Bemühungen um die in Deutschland zurückgelassenen Besitztümer stehen im Vordergrund. In unzähligen und
zähen Verhandlungen versuchen Manns, das deutsche Hab und Gut zu
retten, sie erwägen immer neue Strategien. Es wird, wie Hermann
Kurzke es treffend bezeichnet, ein „Kleinkrieg um Ausbürgerung oder
Passverlängerung, um Haus und Autos und Geld und Verlag“30 geführt,
an dessen Ende Thomas Mann erhebliche Verluste akzeptieren muss.
Von dem Gesamtvermögen von 375.000 Mark, davon 100.000 Mark Barvermögen, das auf den beiden Münchener Banken Aufhäuser und
Feuchtwanger deponiert war, kann der Sohn Golo Mann, noch in
Deutschland, 60.000 Mark abheben. In einer abenteuerlichen Aktion
und unter Hilfestellung der französischen Botschaft, die das Geld
schließlich in einer Kuriertasche nach Paris schickt, kann das Geld gerettet werden.31 Zudem werden einige Manuskripte, Bücher, Möbel, das
Tafelsilber sowie Thomas Manns Schreibtisch und das Grammophon
außer Landes geschafft. Das übrige Vermögen, das Haus sowie die Autos
der Familie werden konfisziert. Insgesamt hat Thomas Mann durch die
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Exilierung etwa die Hälfte seines Vermögens verloren. Trotz dieses
großen Verlustes bleibt der Familie Mann in der Schweiz ein „Vermögen
von zweihunderttausend Schweizer Franken“, das dem unter der Exilsituation leidenden Autor im Juni 1933 „als eine Million französischer
Francs vorzustellen“32 Freude bereiten kann. Bereits im Herbst 1933 ist
eine Villa in Küsnacht gemietet und im November wird eine Fiat-Limousine gekauft. Die Einnahmen aus Deutschland und dem Ausland fließen
weiter, und am 24. im Februar 1934 stellt Thomas Mann in seinem Tagebuch fest:
„Ich kann zufrieden sein mit meinem Lebensstandard nach der ‚Wende‘. Ich habe
mein Bad, mein Automobil, ein schönes Arbeitszimmer, gute Mahlzeiten. Das Haus
werden wir wohl für absehbare Zeit behalten […].“
Der Jahresetat beläuft sich 1934 „auf 30.000 bis 40.000 Schweizer Franken gegenüber 50.000 bis 60.000 in München“33, und Thomas Mann
zeigt sich optimistisch, dass dieser Etat 1935 durch die Einnahmen
gedeckt sein wird, so dass die „Substanz“ kaum angegriffen werden
muss. 1935 beläuft sich das Vermögen bereits auf 210.000 Schweizer
Franken, und im Juli 1936 resümiert er im Tagebuch, dass die „derzeitige Existenzform“ aufrechterhalten werden kann.
Abbildung 4: Das Haus in Pacific Palisades.
쑔 (Keystone/Thomas-Mann-Archiv)
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Agnes E. Meyer: Keine Geldsorgen in Amerika
Im Jahr 1938 kommt es zu einer erneuten Umsiedlung. Auf der vierten USA-Reise von Februar bis Juni 1938 fällt der Entschluss, die Zelte
in Europa abzubrechen und in die USA zu emigrieren. Thomas Mann
erhält im Mai 1938 einen Brief aus Princeton, mit dem „eindrucks- und
ehrenvolle[n] Angebote, 6.000 US-Dollars für ein Jahr der Zugehörigkeit zu Universität und 4 Vorlesungen“34, das er annimmt. Noch im Juli
wird ein Haus für 250 US-Dollar monatlich in Princeton gemietet, das
„gegen Küsnacht zweifellos eine Erhöhung des Lebensniveaus“35
bedeutet. Thomas Mann kann in seinem Tagebuch zufrieden den
„Grund-Aspekt“ festhalten, „daß es in Amerika Geldsorgen kaum für
mich gibt“. Dass dem tatsächlich so ist, hat der Autor nicht nur seinen
guten Einnahmen aus dem amerikanischen Markt zu verdanken, sondern vor allem dem persönlichen Engagement von Agnes E. Meyer, seinem in finanzieller Hinsicht guten Engel. Ohne die unermüdliche
Unterstützung durch die Frau des Bankiers und Börsenmanns Eugene
Meyer, dessen Vermögen 1915 auf 40 bis 60 Millionen US-Dollar
geschätzt wurde, wäre Thomas Mann in Amerika sicher nicht so gut
versorgt gewesen.
Abbildung 5: Thomas Mann während der Überfahrt nach Europa an Bord der „Ile de France“,
aufgenommen am 12. Juni 1939.
쑔 (Keystone/Thomas-Mann-Archiv)
Zum ersten Mal begegnete Mann ihr auf der Amerikareise, die er 1937
mit seiner Frau unternimmt. Im Anschluss an die Begegnung entspinnt
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sich ein Briefwechsel, der bis zum Tode des Autors 1955 fortgeführt wird
und der Aufschluss über die finanziellen Arrangements zwischen diesem und seiner Mäzenin gibt. Gerade im Hinblick auf Thomas Manns
Verhältnis zum Geld ist er erhellend.36 So hat er seine Princetoner Tätigkeit als Lecturer in the humanities, die ihm zum Neuanfang in den USA
finanzielle Sicherheit bot, vor allem der Vermittlung von Agnes E. Meyer
zu verdanken. Des Weiteren unterstützt das Ehepaar Meyer von Anfang
an die von Thomas Mann herausgegebene Zeitschrift „Maß und Wert“,
und Agnes E. Meyer steht dem verehrten Autor mit Übersetzungstätigkeiten, Rezensionen seiner Bücher sowie mit der Washington Post, die
ihrem Ehemann gehört, als Hausorgan zur Seite. Nachdem sie ihm
schon den Weg in die USA geebnet hat, ist als zweite große Leistung die
Sinekure an der Washingtoner Library of Congress zu erwähnen, die sie
ihm 1941 verschafft. Nach dem Umzug an die kalifornische Westküste
ist der Geldbeutel Thomas Manns stark belastet und der geplante Hausbau steht auf wackeligen Beinen. Entschlossen setzt der Autor, von der
Gönnerin geradezu dazu aufgefordert, ein „Staatsschreiben an die
Meyer“ – wie er das Unterfangen in seinem Tagebuch im Oktober 1941
bezeichnet – auf, worin er sie direkt um finanzielle Unterstützung bittet, um sein „Schifflein, das ja auch im Augenblick nicht eigentlich auf
dem Sande sitzt“37 wieder flottzumachen:
„Kurzum, ‚ich‘ bin ein Unternehmen, das als finanzwürdig zu betrachten ist, und
das man inzwischen nicht verstimmen, der Geniertheit überlassen sollte.“
Sein Hilferuf trifft bei Agnes E. Meyer auf offene Ohren:
„und persönlich bin ich unendlich befreit durch die erwähnung Ihrer finanziellen
Lage – Schon immer wollte ich dieses Thema mit Ihnen besprechen – Habe es nicht
gewagt – Jetzt geben Sie mir das Recht dazu – Hat es vielleicht warten müssen bis
die Unbefangenheit zwischen uns existierte? Wenn meine geistlichen Bestrebungen
Ihnen zur Verfügung stehen, wie sollte nicht jede materielle resource die ich
besitze?“38
Agnes E. Meyer findet mit der Sinekure als Consultant in Germanic Literature eine elegante Lösung für den finanziellen Engpass Thomas Manns,
die nicht nur in der Ausschüttung von Geld besteht, sondern darüber
hinaus einen symbolischen Mehrwert aufweist und auch für die amerikanische Öffentlichkeit von Nutzen ist. Anerkennend stellt auch der gut
versorgte Künstler fest:
„Ihre vornehme Erfindungsgabe hat mir ehrliche Bewunderung eingeflösst. Keine
schönere Lösung war denkbar, und ich bin Künstler genug, mich an der Form, die
Sie ihr zu geben wussten, fast mehr [– aber eben nur fast! – Anmerkung A. K.]
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zu freuen als an ihrem ‚Gehalt‘. Wirklich hat diese symbolische Verbindung mit
Amerika und mit Washington etwas tief Befriedigendes für mich, selbst abgesehen
von der materiellen Beruhigung, die damit verbunden ist.“39
Der repräsentative Posten bringt Thomas Mann ein Jahresgehalt von
4.800 US-Dollar ein, was dem Professorengehalt von Arnold Schönberg
an der University of California entspricht.40 Als Gegenleistung sollte Thomas Mann lediglich einmal im Jahr zwei Wochen in Washington verbringen und dort einen Vortrag halten sowie als Ratgeber im Bereich der
deutschen Kultur und Literatur zur Verfügung stehen. Festzuhalten ist,
dass er diese Punkte alle nicht voll erfüllte: Einzig die Vorlesungen fanden, von krankheitsbedingten Ausfällen 1944, 1946 und 1948 abgesehen, statt – und wurden jeweils mit zusätzlichen 1.000 US-Dollar honoriert. Ende 1941 ist das Arrangement perfekt und mit dem Jahr 1942
beginnen die Zahlungen, über deren Herkunft Agnes E. Meyer Thomas
Mann nicht im Unklaren lässt:
„Diese Summe ist das ganze Einkommen welches ich besitze als Privateigentum –
also worüber ich verfügen kann wie ich will, ohne Frage und Beratung.“41
Im Januar 1944 wird der letzte Band der Joseph-Tetralogie, „Joseph the Provider“, zum Buch des Monats (Book-of-the-Month) gewählt, was Thomas
Mann im Oktober 40.000 US-Dollar einbringt. Getrost kann er fortan auf
die Zahlungen der Library verzichten, die er, bis zum Auslaufen des
gerade erst verlängerten Vertrags, zum Großteil zur Unterstützung seines Bruders verwendet. Tatsächlich können sich die Auflagenzahlen von
Thomas Manns Büchern in den USA sehen lassen, und die Einkünfte
übertreffen alle Erwartungen. Er kann als Großverdiener angesehen
werden, der als reicher Mann – als „glattrasierter amerikanischer Dollarmann“42, wie Victor Klemperer es in seinen Tagebüchern der Nachkriegszeit formuliert – aus den Wirren der Exil- und Kriegsjahre hervorgeht.
4
Bis zum Ende:„Viel Geld von vielen Seiten“
Auch in den Jahren nach dem Krieg bis zum Tod Thomas Manns im Jahr
1955 lässt der Geldstrom nicht nach, es kommt „viel Geld von vielen Seiten“43. Nachdem der vierte Joseph-Band Buch des Monats wurde und so
„wirklich noch zum ‚Ernährer‘, wenigstens für eine bedürftige Familie“44
wurde, werden 1948 und 1951 auch die Romane „Doktor Faustus“ und „Der
Erwählte“ vom Book-of-the-Month-Club aufgenommen.
Des Weiteren verdient Thomas Mann mit Zeitungsartikeln, Aufsätzen,
Lesungen sowie durch den Verkauf von Filmrechten. Im Jahr 1948, für
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das Klaus Harpprecht das Jahreseinkommen von Thomas Mann auf mindestens 100.000 US-Dollar schätzt, verlängert der Fischer-Verlag seinen
Vertrag mit dem Autor um weitere drei Jahre und sichert ihm somit ein
Basiseinkommen von 1.000 US-Dollar im Monat. 1950 muss die Familie
immerhin 16.000 US-Dollar an Steuern bezahlen, und im April 1952 hält
Thomas Mann in seinem Tagebuch fest, dass die Einnahmen „ausnehmend gut“ seien, „in Europa und hier“. Denn seit dem Kriegsende steht
dem Autor auch wieder der deutsche Markt offen – im Osten wie im
Westen. Nachdem der Berliner Aufbauverlag sich vergeblich um die
Lizenzen für Ausgaben für die Ostzone bemüht hat – Gottfried Bermann
Fischer verweigert seine Zustimmung aus Angst vor dem Schmuggel der
billigeren Ausgaben in den Westen –, beginnt der Verlag den Vertrieb
ohne die entsprechende rechtliche Absicherung. Recht gibt ihm im
Nachhinein der Erfolg der illegalen Ausgaben, der natürlich auch den
Autor freut. 1952 erhält er, wie er an seinem Geburtstag ins Tagebuch
notiert, eine „Abrechnung über fast 70.000 Ostmark“, und 1953 sind
ihm „10.000 Mark aus Ost-Berlin, höchst willkommen, wie alles Geld“45.
Doch die Überführung des ostdeutschen Guthabens in die Schweiz
erweist sich mitunter als so kompliziert, dass der Autor in Naturalien
ausbezahlt werden muss. 1954 erhält er als Honorar einen „glücklich
herübergeretteten Pelz, prächtig, Nerz und Otterkragen“46.
Des Weiteren regnet es Preise und Auszeichnungen, so dass der Autor,
wie Hermann Kurzke treffend konstatiert, wie Joseph in Ägypten Auffangsklaven für das viele Lobgold gut hätte gebrauchen können.47 1949
erhält Thomas Mann zugleich den Goethepreis der Stadt Weimar,
dotiert mit 20.000 Ostmark, und den der Stadt Frankfurt am Main
(10.000 Deutsche Mark); 1952 spricht ihm die „Accademia dei Lincei“ in
Rom den Internationalen Literaturpreis zu, der mit fünf Millionen
Lire, umgerechnet etwa 8.000 US-Dollar, dotiert ist, und 1954 kann
sich Thomas Mann erlauben, den Stalin-Friedenspreis samt 100.000
Rubel aus politischen Gründen, „der ‚freien Welt‘ zuliebe“, wie er am
6. Dezember 1954 seinem Tagebuch bekennt, abzulehnen. Schließlich
werden auch noch „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ zu einem
Verkaufserfolg – die ersten 70.000 Exemplare sind bereits innerhalb
weniger Wochen ausverkauft. Im Jahr 1955 erhält Thomas Mann
zudem 75.000 Mark Wiedergutmachungsgeld vom deutschen Staat.
„Geld ist die letzte Sorge“48 und noch am 20. Juli 1955, nicht einmal
vier Wochen vor seinem Tod, stellt er in einem Tagebucheintrag zufrieden fest:
„Es sind 75.000 Mark Entschädigung vom deutschen Staat eingezahlt worden, ferner die amerikanische Altersrente. Der Krull trägt große Summen. Wir sind sehr
reich und müssen hohe Steuern zahlen.“
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Die letzten Lebensjahre verbrachte Thomas Mann wieder in der Schweiz.
Nach vielen politischen und auch wirtschaftlichen Überlegungen kehren Thomas und Katia 1952 nach Europa zurück, wo sie im Oktober
zunächst einen Mietvertrag über 9.000 Franken unterzeichnen. Nachdem die vorläufige Möblierung durch eine Möbelfirma gratis zur Verfügung gestellt wird, zieht die Familie im Dezember 1952 in das neue
Heim. Das Haus in Kalifornien bietet sie zum Verkauf an, und kann es
schließlich im Oktober 1953 für „50.000 dollars, it is a shame“49 verkaufen. Im Januar 1954 erwirbt Thomas Mann sein letztes eigenes Heim,
das Haus in Kilchberg am Zürichsee, dessen Finanzierung kein Problem
ist, hat er doch gerade erst 26.000 Franken Honorar für die russische Ausgabe der „Buddenbrooks“ erhalten.50 Und so kann er bis zu seinem Lebensende das bleiben, was er sein ganzes Leben war, ein „hartnäckiger Villenbesitzer“51.
Abbildung 6: Außenansicht der Villa Alte Landstrasse 39 in Kilchberg.
쑔 (Keystone/Thomas-Mann-Archiv)
5
Die Anerkennung der Kunst
In Agnes E. Meyer hatte Thomas Mann eine zahlfreudige Unterstützerin
gefunden, die dem eingangs skizzierten Ideal der Frau von Tolna im
Roman „Doktor Faustus“ nahe kommt. Agnes E. Meyer erweist sich als
treue und werkkundige „Kennerin und Bekennerin seines Werkes“ und
„unbedingte Dienerin seiner Existenz“52. Als „Gegenleistung“ für ihr
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Engagement erwartet sie ein gewisses Maß an Anerkennung und Zuwendung, das sich am sichtbarsten wohl in dem umfangreichen und intensiven Briefwechsel mit dem verehrten Autor materialisiert. Auch wenn
sie nicht unsichtbar geblieben ist wie Frau von Tolna und den verehrten
Autor wiederholt zu entnervten Tagebucheinträgen verleitet hat, so hat
sie sich doch in hohem Maße für die Autonomie des Künstlers und dessen Werk stark gemacht. Deutlich drückt sich dies in ihren Bemühungen zur Sicherung eines Postens als Lecturer an einer Universität in den
USA aus. Sowohl in einem Schreiben nach Princeton, wo Thomas Mann
dann ja schließlich die Position antrat, als auch nach Harvard weist sie
deutlich darauf hin, dass es bei der Anstellung Thomas Manns nicht
darum gehe, ihm eine Arbeit zu verschaffen, sondern den Freiraum, den
er zum Schreiben brauche:
„Dear Dr. Dodd[s]:
When I talked to Dr. Flexner about the possibility of having Dr. Mann at Princeton,
I thought of him only in connection with the Institute of Higher Learning where he
would be entirely free to pursue his writing and to give time to the students of Princeton when it happened to fit into his working schedule.
I have not seen Dr. Mann since the matter came up between Dr. Flexner an me, but
I know without consulting him that he would not consider a position with a college where he would be tied down to regular classes. […]“53
„Dear Dr. Conant –
Thomas Mann has decided to live near Boston now that political conditions in
Europe have obliged him to renounce his home in Switzerland. As he should be free
to write rather than to earn his living – his fortune and even his manuscripts were
confiscated in Germany – it occured to me that Harvard University might care to
offer him an honorary professorship. […]“54
Was Agnes E. Meyer zum Ausdruck bringt und fordert, ist die Anerkennung der künstlerischen Position durch die den Künstler umgebende
Welt. Damit hat Thomas Mann hier im Hinblick auf seine Gönnerin das
erlangt, wovon eine andere Künstlerin – die Maus Josefine in Kafkas Erzählung „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“ – nur träumen kann:
„Schon seit langer Zeit, vielleicht schon seit Beginn ihrer Künstlerlaufbahn, kämpft
Josefine darum, daß sie mit Rücksicht auf ihren Gesang von jeder Arbeit befreit
werde; man soll ihr also die Sorge um das tägliche Brot und alles, was sonst mit
ihrem Existenzkampf verbunden ist, abnehmen und es – wahrscheinlich – auf das
Volk als Ganzes überwälzen. […] Was sie anstrebt, ist also nur die öffentliche, eindeutige, die Zeiten überdauernde, über alles bisher Bekannte sich weit erhebende
Anerkennung ihrer Kunst.“55
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In den kämpferischen Bemühungen Josefines kann man durchaus Parallelen zum Streben des jungen Thomas Mann nach Erfolg und Ruhm
erkennen. Getrieben von der Sehnsucht nach Anerkennung, kehrt sich
ihm, wie er brieflich seinem Freund Otto Grautoff mitteilt, bisweilen
„vor Ehrgeiz der Magen um“56. Nachdem er den Kontrakt mit Samuel
Fischer abgeschlossen hat, gesteht er seinem Bruder, dass „während der
Arbeit fortwährend mein heimlicher und schmerzlicher Ehrgeiz“ auf
„Größe“57 gerichtet war. Und nach dem ersten „Bombenerfolg“ mit der
Erzählung „Gefallen“ stellt er fest, „so recht in meinem Element“ zu sein,
sei er doch „kindisch eitel“58. Diese Selbstdiagnose findet Bestätigung
in der brieflichen Bitte an seinen Freund Carl Ehrenberg, doch „herumzuerzählen“59, dass er für den ersten Abdruck von „Tonio Kröger“ 400
Mark bekomme. Dem entsprechen auch seine detaillierten TagebuchNotate in finanziellen Angelegenheiten. Einnahmen und Ausgaben
werden dort genauso festgehalten wie erhaltene und geforderte
Honorare.
Der Detailversessenheit Thomas Manns ist es zu verdanken, dass Preise
für Autos, Häuser, Hotelübernachtungen, Restaurantbesuche, Taxifahrten und Einkäufe verschiedener Art – von „Bauschans Sechs-Mark-Halsband,“ über „eine Gans für 40 Mark“, zwei im Restaurant verzehrte
„Ommelettes à 5 Mark“, die dieses Jahr vorzüglichen Birnen, „das Pfd.
M 2,60–80“ bis hin zur „Schaumrolle für 1 Mark 75“60 – der Nachwelt
erhalten sind. An den durchaus pingeligen Preisnotizen lässt sich aber
nicht nur der hohe Stellenwert ablesen, den Thomas Mann Geld beigemessen hat, sondern es kommt zudem die Freude zum Ausdruck, die der
Autor an Geld, guten Einnahmen, Reichtum und schönen Dingen hat.
Er freut sich über gute Honorare („Ich kann nicht umhin, mich jedenfalls über die 17.500 Mark Honorar zu freuen“61), über elegante Garderobe (ich „freute mich der guten, eleganten Kleidung“62), und nach dem
Erwerb einer Armbanduhr für 375 Reichsmark zündet er sich, so notiert
am 20. Februar 1920, schon mal „kindlich erregt, eine Cigarette an“. Bei
Besuchen in den vornehmen Häusern seiner US-amerikanischen Gönnerin Agnes E. Meyer genießt er in den Jahren 1939–1943 wiederholt
den „Comfort des reichen Hauses“, „die bequemen Umstände“ und empfindet „Vergnügen am vollkommenen Komfort des reichen Hauses“. Er
kann sich am Reichtum anderer erfreuen, wie 1953 bei einem Besuch
bei Charlie Chaplin, wo er „Freude am Luxus“ notiert, aber genauso
auch an „dem eleganten eigenen Haus“ in Kilchberg.
Die Freude am Schönen und Teuren und den Willen zum Erfolg ergänzt
bei Thomas Mann aber auch von Anfang an der Anspruch auf den dazugehörigen Lebensstil, ein sogar „angeborenes Bedürfnis nach Eleganz“63,
das er selbst ohne Probleme formuliert:
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„Ich habe ein Recht auf Comfort, zum Donnerwetter, und wenn ich außerdem noch
die Mittel dazu herbeizuschaffen weiß, so ist ja Alles in Ordnung.“
Mit zunehmendem Erfolg und wachsendem Budget erweisen sich Geld
und Ansehen zunehmend als Grundkoordinaten einer auf Repräsentation angewiesenen Existenz. Thomas Mann hält im September 1920 in
seinem Tagebuch fest, dass er „Heiterkeit und das Bewußtsein meiner
Bevorzugung“ brauche, und der Erfolg nicht nur für die Lebenserhaltung, sondern auch „für meine Stimmung […] von Wichtigkeit“ sei. Wie
um sich seiner erreichten Position selbst zu versichern, notiert er in seinen Tagebüchern – besonders während seiner Zeit in den USA – wiederholt Besuche bei finanziell führenden Familien. Dabei fällt auf, dass
der Reichtum der Gastgeber klar im Vordergrund steht, deren Name hingegen schon einmal vergessen wird: „Soirée bei dem reichen SchuhFabrikanten“, „Dinner im Hause des reichen Burnsley (oder so ähnlich)“,
„Abendessen in der schön gelegenen Schloßwirtschaft des reichen
Cigarren-Fabrikanten“.
Thomas Manns luxuriöse Lebensweise wird also nicht nur von einer
gewissen Eitelkeit begleitet, sondern auch von der Überzeugung, durchaus einen Anspruch darauf zu haben. Er sieht die Welt, und darin vor
allem die Reichen und Mächtigen, ihm gegenüber in einer Art Bringschuld. Besonders deutlich wird dies in seinem bereits erwähnten
„Staatsschreiben“ an Agnes E. Meyer, das er aufsetzt, nachdem er sich
mit dem anstehenden Hausbau etwas übernommen hat und ihn dennoch als „in meinen Gewohnheiten, Bedürfnissen, Ansprüchen, dem
natürlichen Stil meines Lebens entschieden begründet“65 nicht in Frage
stellt:
„ich habe mich manchmal gefragt, weshalb eine zu Huldigungen, die nichts kosten,
so bereite Welt (ich denke an die 7 Doktor-Capes, die man mir hierzulande
umgehängt hat) sich um solche Äußerlichkeiten, die doch mit dem Produktiven in
nahem Zusammenhange stehen, so gar nicht kümmert und sich in dieser Beziehung so gar nichts einfallen lässt. Gegenteiliges kommt doch schließlich vor. Meinem Freunde Hermann Hesse, dem Dichter, hat ein reicher Schweizer Mäzen, aus
der Familie Bodmer, in Montagnola im Tessin ein schönes Haus gebaut, wo ich ihn
oft besucht habe. Der Gute wollte es nicht einmal zum Besitz haben, um den damit
verbundenen Verpflichtungen zu entgehen; das Haus bleibt dem Erbauer, und
Hesse wohnt nur eben mit seiner Frau für Lebenszeit darin. – Warum ist in diesem
Lande nie eine Stadt, eine Universität auf den Gedanken gekommen, mir etwas
Aehnliches anzutragen, sei es auch nur aus ‚Ehrgeiz‘ und um sagen zu können: ‚We
have him, he is ours?‘ […] Es muss die Vorstellung sein, dass man ‚einem solchen
Mann‘ doch nicht zu helfen braucht – oder es ist pure Gedankenlosigkeit. Dieselbe
Gedankenlosigkeit, die beständig auf meinen Idealismus zählt und honorarlose
Ehren-Ansprüche an mich stellt, weil ‚ein solcher Mann‘ doch nicht an Geld denken
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darf. Es wäre allerdings richtiger und würdiger, wenn er nicht daran zu denken
brauchte. […]“
Wie bereits erwähnt, trifft sein Anliegen bei Agnes E. Meyer nicht auf
taube Ohren. Auch wenn sie ihm nicht, wie vielleicht gehofft, das Haus
in Kalifornien zum Geschenk macht, so ermöglicht sie ihm durch die
Sinekure an der Washington Library doch das finanzielle Fundament dazu
und – das würde auch Josefine, die Maus glücklich machen – verschafft
ihm damit einen Posten, der die Anerkennung der Welt zum Ausdruck
bringt; kann die berühmte US-amerikanische Institution jetzt doch von
sich behaupten: „Er gehört uns!“
Es lässt sich also festhalten: Thomas Mann hatte keine Hemmungen,
seinen Anspruch auf Reichtum zu formulieren. Die Besoldung und
Behandlung, die ihm, gemessen an seinem kulturellen Output, seiner
schriftstellerischen Leistung, zukam, verstand er gegenüber der Welt
durchaus einzufordern. Es ging Thomas Mann dabei jedoch auch um
ein gegenseitiges Verhältnis der Anerkennung und Wertschätzung –
färbt der Ruhm des unterstützten und gesponserten Künstlers doch
auch auf den Geldgeber ab. Dass Letzterer bei dem Handel nicht leer
ausgeht, zeigt auch die Lektüre des „Doktor Faustus“. Denn die großzügige Frau von Tolna kann sich mit der Unterstützung Adrian Leverkühns ihre Absolution erkaufen, wenn sie den „Reichtum, der ihr, wie
deutlich zu spüren, von kritischen Gewissens wegen eine Belastung
war“ dem Künstler „auf dem Altar des Genius“66 opfert. Ähnlich, wenn
noch ein wenig drastischer, schildert Mann die Situation des reichen
US-amerikanischen Milliardärs Samuel Spoelmann im Roman „Königliche Hoheit“ (1909):
„Samuel hatte den Palast in der Fünften Avenue von Neuyork, die Schlösser auf dem
Lande und alle Aktien, Treuhandscheine und Gewinnanteile seines Vaters geerbt;
er erbte auch die abenteuerliche Vereinzelung des Lebens, zu der jener emporgestiegen war, seinen Weltruhm und den Haß der benachteiligten Menge gegen die
aufgehäufte Macht des Geldes,– all den Haß, zu dessen Besänftigung er jährlich
die gewaltigen Schenkungen an Kollegien, Konservatorien, Bibliotheken, Wohltätigkeitsveranstaltungen und jene Universität verteilte, die sein Vater gegründet
hatte und die seinen Namen führte.“67
Geld nimmt den, der es besitzt, also auch in die Pflicht, etwas vom
Kuchen abzugeben. Diese Haltung war für Thomas Mann nicht nur von
der Warte des Nehmenden, sondern auch von der des Gebenden eine
Selbstverständlichkeit. So muss das Bild Thomas Manns als das des fordernden Künstlers, um ihm gerecht zu werden, um das des großzügigen
und andere unterstützenden Geldgebers ergänzt werden.
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Denn auch wenn Thomas Mann, unterstützt von seiner Frau, stets darauf achtete, selbst gut versorgt zu sein, so hat er doch auch immer diejenigen unterstützt, denen es nicht so gutging. Allen voran ist hier sein
Bruder Heinrich zu nennen, der vor allem während seiner letzten
Lebensjahre in den USA auf die Hilfe seines Bruders zählen konnte.
Immer wieder erhalten Heinrich und seine Frau Geld von Katia und Thomas, und – ab 1941 – eine regelmäßige monatliche Zuwendung.
Neben der lebenslangen finanziellen Unterstützung seiner Kinder und
anderer Familienmitglieder sind besonders Thomas Manns Hilfeleistungen während der Exiljahre zu erwähnen. Die Liste der Geldempfänger ab dem Jahr 1933 ist lang, immer wieder finden sich Tagebucheinträge über Geldzahlungen, die geleistet wurden. So erhalten beispielsweise Hans Reisiger, Ferdinand Lion, Frau Mühsam, Kurt Hiller, Ida Herz,
Annette Kolb und Erich Weiß, um nur einige zu nennen, Zahlungen aus
der Privatkasse des Autors.
Des Weiteren engagiert sich Thomas Mann bei der Gründung des „Thomas Mann-Fonds“ in Prag, der der Unterstützung emigrierter Kollegen
dient, sowie bei der des „American Emergency Rescue Committee“, das Gegnern des nationalsozialistischen Regimes bei der Flucht aus Frankreich
in die USA hilft. Wiederholt stellt Thomas Mann seinen Namen, sein
Haus sowie seine Zeit zur Sammlung von Spendengeldern zur Verfügung. Gerade in der Zeit in den USA wird er von allen Seiten um Hilfe
gebeten. Im Tagebuch schreibt er über „Haufen von Post, vorwiegend Hilfeschreie“ sowie „belastende Post, Emigranten- und Emigrationsnöte“,
und noch am 5. Januar 1946 fragt er sich, „warum nur alle, die einwandern wollen oder einen job suchen, sich an mich wenden!“
Alles in allem haben wir es bei Thomas Mann also mit einem Schriftsteller zu tun, dessen künstlerische Autonomie nie gefährdet war und der,
ausgestattet mit außergewöhnlich glücklichen Startbedingungen, nie
gezwungen war, aus Rücksicht auf etwaige Geldgeber Einschnitte in seinem Werk vorzunehmen. Sich seiner eigenen Position sicher, kann er sich
1955, kurz vor seinem 80. Geburtstag, sogar zu dem symbolträchtigen
Schritt entschließen, Agnes E. Meyer „in aller Treuherzigkeit den Wunschtraum vom Smaragdring zum Geburtstag“68 brieflich zu überstellen.
Abschließend lassen wir den Künstler, der sich seiner Bevorzugung stets
bewusst war und von dem sein amerikanischer Sekretär übrigens
behauptete, er ähnele „einem gesetzten Bankdirektor“69, noch einmal zu
Wort kommen und stimmen seinem eigenen Schlussverdikt in einem
Brief an Hermann Hesse zu:
„Neulich stand hier in einem Artikel zu Interieur-Aufnahmen aus unserem Haus:
trotz Alter und Reputation müsse ich noch arbeiten für meinen Lebensunterhalt.
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Meine Sekretärin erzählte mir, ein amerikanischer Freund von ihr sei ganz entrüstet darüber gewesen: Das sei ja unerhört, da müsse man gleich eine Sammlung,
a nationwide collection, veranstalten, damit ich mich endlich zur Ruhe setzen
könnte! Ich habe selten so gelacht.“
Fußnoten
1 Mann, Thomas: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn,
erzählt von einem Freunde, herausgegeben und textkritisch durchgesehen von Ruprecht Wimmer unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 2007 (GKFA
Band 10.1), S. 566.
2 Ebd., S. 567.
3 Ebd., S. 567.
4 Ebd., S. 570.
5 Ebd., S. 567.
6 Ebd., S. 245.
7 Vgl. zum Folgenden auch den Aufsatz von Schröter, Klaus: Thomas Mann, in: Genie und
Geld. Vom Auskommen deutscher Schriftsteller, herausgegeben von Karl Corino, Nördlingen 1987, S. 411–422, und die folgenden Thomas-Mann-Biografien: Kurzke, Hermann: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie, Frankfurt am Main
2002; Reents, Edo: Thomas Mann, München 2002; Harpprecht, Klaus: Thomas Mann.
Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg 1995; Mendelssohn, Peter de: Der Zauberer. Das
Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann, Erster Teil: 1875–1918 (Bände 1 und
2). Zweiter Teil: Jahre der Schwebe 1919 und 1933 (Nachgelassene Kapitel, Band 3), überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, herausgegeben von Cristina Klostermann, Frankfurt am Main 1996; Prater, Donald A.: Thomas Mann. Deutscher und Weltbürger. Eine
Biographie, München/Wien 1995.
8 Mann, Thomas: Lebensabriß, in: Ders.: Über mich selbst. Autobiografische Schriften,
mit einem Nachwort von Martin Gregor-Dellin, Frankfurt am Main 1983 (Gesammelte
Werke in Einzelbänden), S. 105.
9 Geist und Geld. Selbstbekenntnisse deutscher Künstler und Forscher zur Entstehungsgeschichte der großen Leistung, in: Vossische Zeitung. Zweite Beilage zur Vossischen Zeitung, 27. März 1921.
10 Der von Thomas Mann am 7. Dezember 1895 ausgefüllte Fragebogen, der an den
bekannten Fragebogen Marcel Prousts erinnert, ist abgedruckt in: Hensel, Georg/Hage,
Volker (Hg.): Indiskrete Antworten. Der Fragebogen des F.A.Z.-Magazins, Stuttgart 1985,
S. 20 und 21.
11 Mann, Thomas: Lebensabriß, S. 107.
12 Vgl. dazu zuletzt: Thomas Mann: Buddenbrooks, Verfall einer Familie, Roman, Kommentar herausgegeben von Eckhard Heftrich und Stephan Stachorski unter Mitarbeit
von Herbert Lehnert, Frankfurt am Main 2002 (GKFA Band 1.2).
13 Vgl. http://nobelprize.org/nobel_prizes/literature/amount.html (1. April 2008).
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14 Thomas Mann an Samuel Fischer, 14. Dezember 1903, in: Samuel Fischer/Hedwig
Fischer: Briefwechsel mit Autoren, herausgegeben von Dierk Rodewald und Corinna
Fiedler, mit einer Einführung von Bernhard Zeller, Frankfurt am Main 1989, S. 403.
15 Mann, Lebensabriß, S. 116.
16 Für dieses und die folgenden Zitate vgl.: Thomas Mann an Heinrich Mann, 27. Februar
1904, in: Thomas Mann/Heinrich Mann: Briefwechsel 1900–1949, herausgegeben von
Hans Wysling, Frankfurt am Main 1996 (im Folgenden abgekürzt mit der Sigle BrHM),
S. 97–99.
17 Thomas Mann an Ida Boy-Ed, 3. September 1905, in: Thomas Mann: Briefe an Otto Grautoff 1894–1901 und Ida Boy-Ed 1903–1928, herausgegeben von Peter de Mendelssohn,
Frankfurt am Main 1975 (im Folgenden abgekürzt mit der Sigle BrGR), S. 156.
18 Thomas Mann an Heinrich Mann, 11. Juni 1906 (BrHM, S. 124).
19 Thomas Mann an Heinrich Mann, 18. Dezember 1909 (BrHM, S. 145).
20 Mann, Klaus: Der Wendepunkt, Ein Lebensbericht, Frankfurt am Main 1952, S. 59.
21 Die Tagebücher werden nach der folgenden Ausgabe und mit dem Kürzel Tb versehen
zitiert: Thomas Mann: Tagebücher, 10 Bände, herausgegeben von Peter de Mendelssohn
(5 Bände, 1919–1943) und Inge Jens (5 Bände, 1943–1955), Frankfurt am Main 2003,
hier: Tb, 4. November 1918. Soweit die Zuordnung der Tagebuchzitate sich im Text aus
dem Kontext ergibt, wird um der Lesbarkeit willen auf eine detaillierte Angabe verzichtet.
22 Tb, 5. Juli 1921.
23 Mann, Thomas: Erinnerungen aus der deutschen Inflation, in: ders.: Über mich selbst,
S. 369.
24 Thomas Mann an Ernst Bertram, 4. Februar 1925, in: Thomas Mann an Ernst Bertram,
Briefe aus den Jahren 1910–1955, in Verbindung mit dem Schiller-Nationalmuseum,
herausgegeben von Inge Jens, Pfullingen 1960, S. 136.
25 Hedwig Pringsheim-Dohm an Dagny Langen-Sautreau, 24./26. Dezember 1924, in: Thomas Manns Schwiegermutter erzählt oder Lebendige Briefe aus großbürgerlichem
Hause, Hedwig Pringsheim-Dohm an Dagny Langen-Sautreau, transkribiert, erläutert
und eingeleitet von Hans-Rudolf Wiedemann, Lübeck 1985, S. 46.
26 Vgl. Samuel Fischer an Thomas Mann, 1. Oktober 1929, in: Samuel Fischer/Hedwig
Fischer: Briefwechsel mit Autoren, S. 430.
27 Ricarda Huch an Elsbeth Merz, 30. Dezember 1929, in: Ricarda Huch: Briefe an die
Freunde, ausgewählt und eingeführt von Marie Baum, Tübingen 1955, S.126.
28 Mann, Heinrich: Der Nobelpreis, gesprochen im Berliner Rundfunk am 12. November
1929, in: ders.: Essays, erster Band, Berlin 1954 (Ausgewählte Werke in Einzelausgaben
Band XI), S. 437.
29 Hermann Hesse an Arthur Stoll, April 1933, in: Hermann Hesse: Gesammelte Briefe, 2.
Band 1922–1935, in Zusammenarbeit mit Heiner Hesse herausgegeben von Ursula und
Volker Michels, Frankfurt am Main 1979, S. 381.
30 Kurzke, Hermann: Thomas Mann, S. 400.
31 Für eine ausführliche Schilderung der Aktion siehe: Mann, Golo: Erinnerungen und
Gedanken, Eine Jugend in Deutschland, Frankfurt am Main 1986, S. 524 ff.
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32 Tb, 17. Juni 1933.
33 Tb, 9. Dezember 1934.
34 Tb, 24. Mai 1938.
35 Tb, 27. Juni 1938.
36 Vgl. Thomas Mann/Agnes E. Meyer: Briefwechsel 1937–1955, herausgegeben von Hans
Rudolf Vaget, Frankfurt am Main 1992 (im Folgenden abgekürzt mit der Sigle BrAM).
Zur Bedeutung von Agnes E. Meyer über ihre Funktion als Geldgeberin hinaus siehe
den Aufsatz: Schöll, Julia, Bilaterale Gespräche. Zum Briefwechsel zwischen Agnes E.
Meyer und Thomas Mann, in: Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der
Autorschaft in der Briefkultur, herausgegeben von Jochen Strobel, Heidelberg 2006,
S. 297–321.
37 Thomas Mann an Agnes E. Meyer, 7. Oktober 1941 (BrAM, S. 326).
38 Agnes E. Meyer an Thomas Mann, 13. Oktober 1941 (BrAM, S. 328).
39 Thomas Mann an Agnes E. Meyer, 3. November 1941 (BrAM, S. 329 f.).
40 Vaget, Hans Rudolf: Schlechtes Wetter, gutes Klima: Thomas Mann in Amerika, in: Thomas-Mann-Handbuch, herausgegeben von Helmut Koopmann, ungekürzte Ausgabe
der 3. aktualisierten Auflage, Frankfurt am Main 2005, S. 68–77, hier S. 70, und das Vorwort von Vaget in: BrAM, S. 59.
41 Agnes E. Meyer an Thomas Mann, 25. Januar 1942 (BrAM, S. 361).
42 Klemperer, Victor: So sitze ich denn zwischen den Stühlen, Tagebücher 1945–1949, herausgegeben von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser, Berlin 1999,
S. 669.
43 Tb, 12. Dezember 1954.
44 Mann, Klaus: Der Wendepunkt, S. 491.
45 Tb, 9. September 1953. Dass Thomas Mann keinerlei Skrupel hat, Geld aus dem Verlagssystem eines diktatorischen Staates zu beziehen, zeigt sein Hinweis gegenüber Gottfried Bermann Fischer auf die pekuniären und organisatorischen Vorzüge, die der Ostberliner Verlag zu bieten hat: „Die Diktatur mag sehr übel sein, aber selbstverständlich
bietet gerade diese Art von Regierung stärkere Garantieen [sic] als jede andere dafür,
daß sie in der Lage ist ihren Willen durchzusetzen.“ (Thomas Mann an Gottfried Bermann Fischer, 29. Dezember 1951, in: Thomas Mann: Briefwechsel mit seinem Verleger Gottfried Bermann Fischer 1932–1955, herausgegeben von Peter de Mendelssohn.
Frankfurt am Main 1975, S. 584).
46 Tb, 16. Mai 1954.
47 Kurzke, Hermann: Thomas Mann, S. 560 f.
48 Tb, 25. September 1954.
49 Thomas Mann an Alfred Knopf, 8. Dezember 1953, in: Tb, Band 10, Anhang, S. 537.
50 Tb, 8. Dezember 1953. Am 2. Januar 1954 wird die Summe von Thomas Mann im Tagebuch sogar mit 28.000 Franken angegeben.
51 Kesten, Hermann: Thomas Mann. In: ders.: Meine Freunde, die Poeten. München 1959,
S. 57–78, hier S. 66.
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52 Mann, Thomas: Doktor Faustus, S. 567.
53 Agnes E. Meyer am 29. April 1938, zitiert im Vorwort von Hans Rudolf Vaget in: BrAM,
S. 41.
54 Agnes E. Meyer am 19. Mai 1938, zitiert im Vorwort von Hans Rudolf Vaget in: BrAM, S.
45 f.
55 Kafka, Franz: Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse, in: Franz Kafka: Drucke
zu Lebzeiten, herausgegeben von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann,
Frankfurt am Main 1994, S. 368 ff.
56 Thomas Mann an Otto Grautoff, 6. November 1901 (BrGr, S. 138 f.).
57 Thomas Mann an Heinrich Mann, 27. März 1901 (BrHM, S. 75f).
58 Thomas Mann an Otto Grautoff, 8. Januar 1895 (BrGr, S. 26).
59 Thomas Mann an Carl Ehrenberg, 3. April 1903, in: Thomas Mann: Briefe, Band III:
1948–1955 und Nachlese, herausgegeben von Erika Mann, Frankfurt am Main 1965, S.
443.
60 Dieses und die vorangegangenen Zitate entstammen alle dem ersten Tagebuchband,
der die Jahre 1918–1921 umfasst.
61 Tb, 27. September 1918.
62 Tb, 26. Mai 1920.
63 Thomas Mann an Agnes E. Meyer, 23. Dezember 1948 (BrAM, S. 716).
64 Thomas Mann an Paul Ehrenberg, 20./21. August 1902, in: Mann, Thomas: Briefe I, S.
208.
65 Thomas Mann an Agnes E. Meyer, 7. Januar 1941 (BrAM, S. 324).
66 Mann, Thomas: Doktor Faustus, S. 572.
67 Mann, Thomas: Königliche Hoheit, Roman, herausgegeben und textkritisch durchgesehen von Heinrich Detering mit Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 2004 (GKFA
Band 4.1), S. 206 f.
68 Tb, 10. Februar 1955; wieder erwähnt am 17. Februar 1955.
69 Kellen, Konrad: Als Sekretär bei Thomas Mann, in: Neue Deutsche Hefte. Beiträge zur
europäischen Gegenwart 81 (1961), S. 38.
70 Thomas Mann an Hermann Hesse, 4. Januar 1949, in: Hermann Hesse/Thomas Mann:
Briefwechsel, herausgegeben von Anni Carlsson und Volker Michels, Frankfurt am
Main 1999, S. 263 f.
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Die Geburt der Abstraktion aus dem Ungeist
des Geldes
Hinweise auf Alfred Sohn-Rethels Geld- und
Geltungstheorie
Jochen Hörisch
Zum kriegerischen Weihnachtsfest 1915 erhielt der Sohn eines unsteten
Künstlerehepaares von seinem großindustriellen Düsseldorfer Paten
und Ziehvater Ernst Poensgen ein recht unchristliches und in großbürgerlichen Kreisen auch zu anderen Feiertagen eher unübliches
Geschenk: Marxens Hauptwerk „Das Kapital“. Bücher zum Geschenk
erhalten, Bücher als Geschenk begehren und Bücher lesen – das ist
bekanntlich dreierlei. Der 16-Jährige hatte sich die drei voluminösen
Bände vom kopfschüttelnden Paten gewünscht, und er hat sie tatsächlich gelesen – immer und immer wieder.1
Bücher und Buchlektüren haben ihre Schicksale. Das Ideal der Lektüre
hat Novalis mit dem Satz zu bestimmen versucht: „Der wahre Leser muss
der erweiterte Autor sein.“ Als einen solchen Leser hat Alfred SohnRethel sich früh begreifen können. Doch es dauerte lange, zu lange, bis
er, der wohl intensivste und aufmerksamste Marx-Leser unter den Neomarxisten, selbst zum Autor wurde. Erst 1970 wurde Sohn-Rethel mit
der Publikation seines ersten Buches „Geistige und Körperliche Arbeit“ der
Öffentlichkeit bekannt, die sich nach Jahren aufgeregter und aufregender Theorierezeption zu Beginn der 70er Jahre eben anschickte, keine
theorie-enthusiastisch diskutierende Öffentlichkeit mehr zu sein. Über
die Intuition, die dieses Buch gründlich entfaltete, verfügte ihr Autor
schon seit einem halben Jahrhundert, doch sie war und blieb allzu
lange eine buchstäblich unerhörte These.
Im ersten Satz seines Vorworts zur revidierten und ergänzten Neuauflage seines Hauptwerkes aus dem Jahr 1989 charakterisiert Sohn-Rethel
seinen Denkweg, der gänzlich im Bann dieser weitreichenden These
steht: „Mein intellektuelles Lebenswerk bis zu meinem 90. Geburtstag
hat der Klärung oder Enträtselung einer halbintuitiven Einsicht gegolten, die mir 1921 in meinem Heidelberger Universitätsstudium zuteil
geworden ist: der Entdeckung des Transzendentalsubjeks in der Warenform.“2
Das Transzendentalsubjekt ist in der Warenform versteckt: eine für jede
Form akademischer Philosophie skandalöse Formulierung. „Sohn-
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Rethel spinnt“, lautete somit auch der repräsentative Kommentar Alfred
Webers, als der junge Student seine Vermutung in Heidelberg vortrug.
„Unter solchen Umständen“, so Sohn-Rethel lakonisch nach einem halben Jahrhundert, „war es natürlich auch mit der akademischen Karriere
nichts, und die Folge war, dass ich mit meiner ‚idée fixe‘ zeitlebens
Außenseiter geblieben bin“.
Ganz allein stand dieser Außenseiter allerdings nicht da. Eine ähnliche
Intuition hatten nämlich schon andere unerschrockene Geister gehabt.
Vereinzelte Notizen etwa von Johann Georg Hamann, Novalis, Gottfried
Keller und Adam Müller kreisten ebenfalls um die These, dass Tauschund Denkstrukturen die zwei Seiten einer Medaille seien. Doch diese
Intuitionen sind vor Sohn-Rethel nicht zu einer konsistenten Theorie
fortentwickelt worden. Oder sie sind, wie in einem aufregenden, aber
kaum beachteten Paragrafen aus Friedrich Nietzsches „Genealogie der
Moral“, sogleich psychologisch gewendet worden: „Man hat“, so heißt es
dort, „keinen noch so niedrigen Grad von Zivilisation aufgefunden, in
dem nicht schon etwas von diesem Verhältnisse (zwischen Käufer und
Verkäufer) bemerkbar würde. Preise machen, Werte abmessen, Äquivalente ausdenken, tauschen – das hat in einem solchen Maße das allererste Denken des Menschen präokkupiert, dass es in einem gewissen
Sinne das Denken ist.“3
Abstrahieren, Denken, Tauschen: Diese Dreieinigkeit findet ihren
Grund, so vermutet es jedenfalls Nietzsches Fundamentalpsychologie,
die noch Georg Simmels „Philosophie des Geldes“ folgt, in der „Idee einer
Äquivalenz von Schaden und Schmerz, in dem Vertragsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner, das so alt ist, wie es überhaupt ,Rechtssubjekte‘ gibt“4 – und wie es überhaupt selbstbewusste Subjekte gibt.
Über das Denken wird selten so profan, so genealogisch, so handfest
gedacht und geschrieben wie in diesen Nietzsche-Sätzen. Auf den Genealogen Nietzsche hat sich Sohn-Rethel, der kurz vor seinem Tod im Fragebogen der F.A.Z. als sein Motto „Anamnesis der Genese“ angab, denn
auch ausdrücklich bezogen. Mit dem häufig genug affektiven Vernunftkritiker Nietzsche teilt nämlich der argumentationsfreudige Vernunftgenealoge Sohn-Rethel den Spott über die Kantsche Transzendentalphilosophie. Beantwortet sie doch ihre Leitfrage „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?“ mit einer „lustigen niaiserie allemande:
Vermöge eines Vermögens“5. Und Sohn-Rethel ergänzt: „Die (Kant’sche)
Erklärung (von Vernunft) verläuft sich in dem Fetischismus dessen, was
zu erklären war.“
Nietzsches böses Wort trifft nach Sohn-Rethels klassischer Formulierung „eines der geheiligsten Tabus der philosophischen Denktradition“:
Geist und Vernunft dürfen danach nicht Effekte geist- und vernunftlo-
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ser Strukturen, ja sie dürfen überhaupt nicht abkünftig6 sein. Denn
Geist und Vernunft sind so göttlich wie rein – nach Mephistos Spott sind
sie der „Schein des Himmelslichts“. Gegen diese wirkungsmächtige Fetischisierung der reinen Vernunft entwickelt Sohn-Rethel eine Kritik der
unreinen Vernunft. Sie kreist um die These, „dass die Abstraktionsformen, die die gesellschaftlich-synthetische Funktion des Geldes ausmachen, sich gesondert ausweisen lassen, und dass sie, wenn das geschieht,
sich als die letzthinnigen Organisationsprinzipien der in Waren produzierenden, also geldvermittelten Gesellschaften notwendig werdenden Erkenntnisfunktionen des Denkens erweisen“7.
Warenform und Denkform sind eng zusammengehörige Elemente ein
und derselben Formation; ja, das Kantsche Transzendentalsubjekt ist in
und mit der Warenform gegeben. Nicht zufällig entsteht die Form
abstrakten, logischen Denkens gleichzeitig mit der Münzprägung in
Ionien um 680 vor Christus. Denn die getauschten Dinge sind nicht
gleich (sonst wäre der Tausch unsinnig), doch der geldvermittelte
Tauschakt setzt sie gleich. Und er setzt damit zugleich die von allen konkreten Einzelbestimmungen abstrahierenden Denkformen frei und voraus, die vernünftige (Inter-) Subjektivität ausmachen. Einzelne Subjekte
mögen sich inhaltlich denken und vorstellen, was immer sie wollen –
im Tausch (und nicht etwa im Dialog) werden sie auf die eine ausgezeichnete und doch eigentümlich automatisierte, zugleich schlechthin
verbindliche Form von Intersubjektivität verpflichtet. Der geldvermittelte Tausch von Äquivalenten ist somit die Abstraktionsleistung, die
sowohl vereinzelte Subjekte zu einer Gesellschaft als auch – kantisch
gesprochen – die beiden Stämme des Erkenntnisvermögens, nämlich
Sinnlichkeit und Verstand, erst zu einer Einheit synthetisiert und sie
dadurch zu einer homogenen Konstitution von Sachen, Sachverhalten
und Intersubjektivitätsverhältnissen befähigt. Konstitutiv für die kategoriale Verfassung verbindlichen Bewusstseins ist deshalb die Sphäre
der Distribution und nicht etwa die Erfahrung gemeinschaftlicher Produktion oder Kommunikation.
Eine verblüffende Argumentation. Und eine Argumentation, die für
gängige Bewusstseins-, Subjektivitäts- und Intersubjektivitäts-Theorien
wohl gerade deshalb so schwer zu akzeptieren ist, weil sie nicht etwa zu
wenige, sondern zu viele Plausibilitätsgründe anführt. Sohn-Rethel
argumentiert tatsächlich „unrein“, wenn er das unreine und überkomplexe Phänomen Tausch und Geld analysiert: nämlich historisch und
logisch, phänomenologisch und empirisch, erkenntnistheoretisch und
soziologisch. Mit diesem seinem Theoriekern, der enge Fach- und Disziplingrenzen sprengt, war Sohn-Rethel zu einer Außenseiterrolle verdammt. Seine Versuche, engeren Kontakt zum Institut für Sozialforschung oder gar ein Stipendium von diesem zu bekommen, scheiterten
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an Max Horkheimers traditionellem Verständnis von Kritischer Theorie,
nämlich moralische Bedenken gegen einen enthemmten Kapitalismus
zu hegen. Diese Marginalisierung Sohn-Rethels selbst im Umfeld der kritischen Theorie setzt sich bis heute fort. Noch in seinem umfangreichen
Hauptwerk erwähnt Jürgen Habermas den Namen Sohn-Rethels nur
einmal – in Klammern und kurz abweisend: „Die gelegentlichen Hinweise auf die in Tauschverhältnissen objektiv gewordenen Realabstraktionen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Horkheimer und
Adorno keineswegs wie Lukács (und Sohn-Rethel) die Denkform aus der
Warenform ableiten.“8
Gerade dieser These aber hat Adorno, für den sich anders als für Habermas die Idee der kritischen Theorie daran entschied, dass sie die
moderne Fetischisierung von Kommunikation verweigert, ungewöhnlich enthusiastisch zugestimmt. Aus Oxford schrieb er am 17. November
1936, nachdem er Sohn-Rethels „Exposé zur Theorie der funktionalen Vergesellschaftung“ gelesen hatte: „Lieber Alfred, ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich Ihnen sage, dass Ihr Brief (der das Exposé enthielt, J.H.)
die größte geistige Erschütterung bedeutete, die ich in Philosophie seit
meiner ersten Begegnung mit Benjamins Arbeit – und die fiel ins Jahr
1923! – erfuhr. Diese Erschütterung registriert die Tiefe einer Übereinstimmung, die unvergleichlich viel weiter geht als Sie ahnen konnten
und auch als ich selber ahnte.“ Adorno, der selten und ungern lobte,
liegt es ganz offenbar daran, Sohn-Rethels These auch zu seiner eigenen
zu machen; und so fährt er in einem so unbescheidenen wie wahrhaft
gewagtem Vergleich fort: „Nur diese ungeheure und bestätigende Übereinstimmung verhindert mich, Ihre Arbeit genial zu nennen – die Angst,
es möchte auch die eigene sein. Wie ich danach unsere Begegnung herbeisehne, bedarf keines Wortes. So hätte es Leibniz zumute sein müssen,
als er von der Newtonschen Entdeckung hörte, und vice versa. Halten Sie
mich nicht für wahnsinnig.“9
Adorno hielt das Versprechen ein, mit dem sein erstaunlicher Brief
schließt: „dass ich beim Institut alles für Ihre Arbeit tun werde, was ich
vermag“. Doch ohne Erfolg. Und so war Sohn-Rethel der Möglichkeit
beraubt, die Ausarbeitung seiner Theorie zügig voranzutreiben. Schon
zu Beginn der 30er Jahre gab es für ihn, den leidenschaftlichen Theoretiker, Anlass genug, seine Arbeit wenn nicht zu unterbrechen, so doch
spezifisch zu konzentrieren.
Von 1932 bis 1935 war Sohn-Rethel auf Vermittlung von Poensgen wissenschaftlicher Referent beim „Mitteleuropäischen Wirtschaftstag“, der
für die deutschen Industriellen die „Deutschen Führerbriefe“ herausgab.
Dabei konnte er weitreichende Einblicke in die deutsche Volkswirtschaft im Übergang zum NS-Staat gewinnen. Sohn-Rethels zum Teil
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schon in den Führerbriefen selbst publizierte Analysen10 weisen nach,
dass die NS-Ökonomie eine Rückkehr zur absoluten Mehrwertproduktion anstrebte, also zu einer rücksichtslosen Ausbeutung bis Versklavung ganzer Völker. Und sie machten darauf aufmerksam, dass diese
Rückkehr aufgrund der ihr immanenten Spannungen zwischen Produktions- und Marktlogik geradezu zwangsläufig in Kriegsökonomie
enden musste.
Im Jahr 1936 entdeckte die Geheime Staatspolizei (Gestapo), dass SohnRethel, der engen Kontakt zum Widerstandskreis um Margret Boveri
hielt, alles andere als ein verlässlicher Wirtschaftspublizist war. SohnRethel konnte eben noch rechtzeitig über die Schweiz nach England
emigrieren, wo er dann jahrzehntelang als Angestellter arbeitete. Im
Kontakt mit dem marxistischen Historiker George Thomson11 und im
Austausch mit Adorno12 trieb er mit der ihm eigentümlichen Eigensinnigkeit seine Theorie voran. Im Jahr 1969 fragte ihn dann Siegfried
Unseld an Adornos Grab, ob er der Sohn-Rethel sei, von dem ihm Adorno
so eindringlich berichtet habe, und ob er nicht ein publizierbares
Manuskript habe.
Erst 1972 – nach dem Tod seiner Frau – kehrte Sohn-Rethel aus der Emigration zurück. An der Universität Bremen konnte er seine so früh konzipierte und so spät erst veröffentlichte Theorie weiter entfalten. Die
konzentrierteste Darstellung und Fortentwicklung seiner ursprünglichen Einsicht ist sicherlich der Text, der unter dem Titel „Das Geld, die
bare Münze des Apriori“ steht. Er wurde erstmals 1976 gemeinsam mit Analysen von Paul Mattick und Hellmut G. Haasis in dem Sammelband
„Beiträge zur Kritik des Geldes“ publiziert, und er legt eindringlich dar, dass
(um in ökonomischer Metaphorik zu sprechen) Sohn-Rethel seine große
These über den Zusammenfall von Waren- und Denkform auch mit kleiner Münze begleichen kann. Akribisch zeigt seine Analyse, dass „die
Grundfrage des Verhältnisses von Denken und Sein“ einen „heißen Zeitkern“ hat.
Denn die Denkformen entwickeln sich gemäß der Tauschformen fort.
Faszinierend ist Sohn-Rethels Theorie nicht zuletzt deshalb, weil sie es
ermöglicht, das transzendentale „Apriori“ zu historisieren. Wenn Geld
das Apriori des abstrakten Denkens ist, dann ist dieses Denken nicht nur
hinsichtlich seiner Gegenstände, sondern auch hinsichtlich seiner internen Verfassung historisch. Sohn-Rethels Abhandlung entfaltet dieses
Argument, indem sie entscheidende Paradigmenwechsel des Denkens
in begründete Analogien mit Paradigmenwechseln in der Tauschsphäre
bringt. So gelingen verblüffende Einblicke, zum Beispiel in die Entwicklung des mittelalterlichen Nominalismusstreites, in die Innovationslogik der neuzeitlichen Militärtechnik und in die Genesis der
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kopernikanischen Welt. Sohn-Rethel hat entscheidend dazu beigetragen, die Vernunft über sich selbst aufzuklären: nämlich darüber aufzuklären, dass sie eben dort, wo sie am vernünftigsten zu sein scheint,
nicht bei sich selbst ist. Die Logik ist das Geld des Geistes; und Geld ist
die bare Münze des Apriori – der Geist der Logik.
Fußnoten
1 Alfred Sohn-Rethel hat diese Anekdote im Gespräch mit Mathias Greffrath charmant
geschildert; vgl. M. Greffrath: „Einige Unterbrechungen waren wirklich unnötig“ –
Gespräch mit Alfred Sohn-Rethel; in: M. Greffrath: Die Zerstörung einer Zukunft –
Gespräche mit emigrierten Sozialwissenschaftlern. Reinbek 1979, S. 250.
2 Geistige und körperliche Arbeit. Frankfurt am Main 1972 (2.), S. 12.
3 Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral; in: Werke, ed. Schlechta, Band 2. München 1966, S. 811.
4 Ibid., S. 805.
5 Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse; S. 575. Sohn-Rethels freies NietzscheZitat in: Geistige und körperliche Arbeit. Frankfurt am Main 1972 (2.), S. 63 bzw. revidierte und ergänzte Neuauflage. Weinheim 1989, S. 34.
6 Abkünftig/Abkunft: Martin Heidegger verwendet diesen Begriff im Sinne von abgeleitet sein/Ableitung.
7 Geistige und körperliche Arbeit. Frankfurt am Main 1972, S. 21.
8 Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1. Frankfurt am Main
1981, S. 506.
9 Zitiert nach dem Abdruck in der F.A.Z. vom 22. Juli 1987.
10 Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus. Frankfurt am Main 1973.
11 Thomson, George: The first Philosophers. London 1955, Ostberlin 1968.
12 Noch während der Arbeiten an seinem Hauptwerk „Negative Dialektik“ suchte Adorno
den Gedankenaustausch mit Sohn-Rethel. Am 16. April 1965 kam es in Frankfurt zu
einem langen Gespräch, auf das sich Adorno mit umfangreichen Notizen vorbereitet
hatte. Diese Notizen sind abgedruckt in: Sohn-Rethel: Warenform und Denkform – Mit
zwei Anhängen. Frankfurt am Main 1978, S. 137–142.
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Die Autoren
Hans-Wolfgang Arndt, Prof. Dr., ist seit 2001 Rektor der Universität Mannheim. Die Forschungsschwerpunkte des Inhabers des Lehrstuhls für
Öffentliches Recht und Steuerrecht liegen insbesondere im Steuer- und
Wirtschaftsrecht sowie Europarecht. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen in diesen Gebieten. Daneben
tritt er regelmäßig als Sachverständiger zu wirtschaftlichen und steuerrechtlichen Fragen auf, unter anderem vor dem Finanzausschuss des
Deutschen Bundestages.
Hans H. Bauer, Prof. Dr., ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Marketing II sowie Wissenschaftlicher Direktor des
Instituts für Marktorientierte Unternehmensführung (IMU) der Universität Mannheim. Er ist Autor beziehungsweise Herausgeber von 14
Büchern und über 300 Artikeln in den Bereichen Konsumentenverhalten, Markenführung und -kommunikation, Multi Channel Management
und E-Commerce. Neben seinen Forschungsarbeiten, für die er mehrfach
ausgezeichnet wurde, berät er führende Unternehmen und ist Mitglied
in diversen Unternehmensbeiräten.
Kai Brodersen, Prof. Dr., Jahrgang 1958, verheiratet, vier Kinder. Er hat Alte
Geschichte, Klassische Philologie und Evangelische Theologie in Erlangen, Oxford und München studiert. Promotion 1986 und Habilitation
1995 in München. Seit 1996 ist er an der Universität Mannheim Professor für Alte Geschichte, seit 2001 Prorektor; zudem hatte er Gastprofessuren an den Universitäten Newcastle upon Tyne, St. Andrews und Royal
Holloway, University of London sowie Visiting Senior Research Fellow an
St John’s College, University of Oxford. Seit 2008 ist er Professor für
Antike Kultur an der Universität Erfurt und deren Präsident. Er führte
Forschungen zur griechischen und römischen Historiografie und Geografie, zu antiken Inschriften, Orakeln und Wundertexten, zur Wirtschafts- und Wirkungsgeschichte der Antike (inkl. Asterix) durch – und
schrieb ein Buch für Kinder.
Manfred Fuchs, Dr., ist 1939 in Mannheim geboren. Er studierte an der Universität Mannheim Betriebswirtschaftslehre und promovierte dort
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1966. Anfang 1963 trat er die Unternehmernachfolge seines Vaters
Rudolf Fuchs an, der 1931 in Mannheim ein Schmierstoffunternehmen
gegründet hatte und 1959 verstorben war. Manfred Fuchs entwickelte
das Familienunternehmen in der Folge zu einem der weltweit größten
Schmierstoffhersteller mit 38 Werken in allen wichtigen Ländern Europas, Nord- und Südamerikas sowie Asiens und der pazifischen Region.
Manfred Fuchs wechselte am 1.1.2004 vom Vorsitz des Vorstands in den
Aufsichtsrat des Unternehmens über. Er ist dessen stellvertretender Vorsitzender sowie Hauptaktionär der FUCHS PETROLUB AG. Im Übrigen
bekleidet er neben verschiedenen Aufsichtsrats- und Beiratsfunktionen
zahlreiche Ehrenämter in den Bereichen Wissenschaft, Universitäten
sowie Kunst und Kultur.
Jochen Hörisch, Prof. Dr., wurde 1951 in Bad Oldesloe geboren, ist seit 1975
verheiratet und hat drei Kinder. 1970–76 Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte in Düsseldorf, Paris und Heidelberg. Nach der
Promotion 1976–88 war er Assistent beziehungsweise nach der Habilitation (1982) Privatdozent und Professor (C 2) an der Universität Düsseldorf. Seit 1988 ist er Ordinarius für Neuere Germanistik und Medienanalyse an der Universität Mannheim. Gastprofessuren unter anderem
in den USA, Argentinien, Frankreich und Österreich. Jochen Hörisch hat
eine Vielzahl von Büchern zu kultur- und medienanalytischen Themen
veröffentlicht.
Annette Kehnel, Prof. Dr., ist seit 2005 Inhaberin des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Mannheim. Sie studierte
Geschichte und Biologie in Freiburg, Oxford und München. Nach der
Promotion am Trinity College, Dublin (Irland), arbeitete sie an der TU
Dresden im Sonderforschungsbereich 537 „Institutionalität und
Geschichtlichkeit“ und habilitierte sich 2003 mit einer Studie über
„Regionale Ordnungen universaler Konzepte“ am Beispiel des mittelalterlichen Franziskanerordens auf den Britischen Inseln. Ihr Ansatz in
Lehre und Forschung ist von einer kulturhistorisch vergleichenden und
epochenübergreifenden Perspektive geprägt. Zu ihren jüngsten Publikationen zählen Arbeiten über Heilige Ökonomie (2007), Defizienz und
Zivilisationsprozess (2009), Institution und Charisma (2009), Paradoxien der Legitimation (erscheint 2010).
Anna Kinder, M.A., ist Doktorandin am Germanistischen Seminar der
Universität Heidelberg und arbeitet zum Thema „Geld“ im Werk Thomas Manns. Sie studierte Germanistik und Politische Wissenschaft in
München, Mannheim und Heidelberg. Zuletzt ist von ihr erschienen:
Reflexe der kapitalistischen Moderne: Die Geldströme in den Romanen Thomas
Manns. In: literaturkritik.de 5 (2009), Die Kollateralschäden der Gewinnmaximierung. Das Drama der Buddenbrooks. In: Schößler, Franziska / Bähr,
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Christine (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart: Ästhetik, Produktion, Institution. Bielefeld 2009.
Martin Kintzinger, Prof. Dr., Jahrgang 1959, ist Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Arbeitsschwerpunkte zur westeuropäischen Geschichte des Spätmittelalters: Politische Kulturgeschichte Europas, Geschichte Frankreichs,
Universitäts- und Wissensgeschichte, Geschichte der Diplomatie und
der internationalen Beziehungen, Vor- und Frühgeschichte des Völkerrechts.
Thomas Klinkert, Prof. Dr., studierte Romanistik und Germanistik in München und Amiens. Nach der Promotion (München 1994) arbeitete er als
wissenschaftlicher Assistent an der Universität Regensburg, wo er sich
2001 habilitierte. Von 2003 bis 2007 war er Professor für Romanistische
Literaturwissenschaft an der Universität Mannheim, seit 2007 lehrt er
dasselbe Fach an der Universität Freiburg i. Br. Veröffentlichungen (Auswahl): Bewahren und Löschen. Zur Proust-Rezeption bei Samuel Beckett,
Claude Simon und Thomas Bernhard (Tübingen 1996); Einführung in
die französische Literaturwissenschaft (Berlin 2000; 4. Aufl. 2008);
Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe. Untersuchungen zur
Liebessemantik bei Rousseau und in der europäischen Romantik (Freiburg i. Br. 2002); zahlreiche Aufsätze zur französischen, italienischen
und vergleichenden Literaturwissenschaft.
Ludger Lieb, Prof. Dr., Jahrgang 1967, verheiratet, vier Kinder, Studium der
Germanistik und Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München; Promotion 1995 mit einer Arbeit über äsopische Fabeln der Frühen
Neuzeit. Von 1995 bis 2004 war er Assistent am Institut für Germanistik der
TU Dresden (Lehrstuhl Prof. Peter Strohschneider); 1999 bis 2000 Forschungsjahr in Oxford; Habilitation 2003 mit einer Arbeit über den ersten
deutschen Artusroman (Hartmanns von Aue „Erec“). Lehrstuhlvertretungen in Paderborn, München und Dresden. Seit 2008 Professor für Ältere
Deutsche Literatur an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Weitere
Forschungsschwerpunkte sind: Liebesdichtung des Mittelalters (Tristan,
Minnesang, Minnerede), Kultursoziologie, Historische Anthropologie.
Frank Merkel, Jahrgang 1951, studierte an der Universität Mannheim
Betriebswirtschaft. Schon parallel während seines Studiums gründete
er die WOB Werbeagentur. Er wurde 2001 Vorstand der umgegründeten
WOB AG und ist als Strategieberater für externe und interne Kommunikation tätig. Beim GWA e.V. ist er seit 2008 Vizepräsident. Er ist zudem
seit neun Jahren Ehrensenator der Universität Mannheim und seit 2008
Präsident des Absolventennetzwerkes der Universität Mannheim, Absolventum. Neben Familie, Reisen und Golf zählen zu seinen privaten Interessen besonders die Theologie und die Philosophie.
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Jürgen Schott hat von 1997 bis 2004 als Mitglied der Geschäftsleitung die
Wirtschaftsbetriebe des Klosters Andechs aufgebaut und weiterentwickelt. Im Jahr 2004 gründete er gemeinsam mit Anselm Bilgri und den
Beratern Konrad Stadler und Stephan Heinle das „Anselm Bilgri – Zentrum für Unternehmenskultur“, um die Kunden beim Aufbau einer stabilen Wertekultur zu begleiten. Das starke Wachstum im Beratungsgeschäft hatte im Juli 2008 die Neugründung der „Beratung für Unternehmenskultur stadler/heinle/schott/“ zur Folge, in der Schott als
geschäftsführender Gesellschafter fungiert. Als Vortragender und Diskutant vertritt er bei wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Themen
einen klaren Standpunkt, demgemäß er den Menschen im Zentrum von
Wertschöpfung sieht.
Carla Schulz-Hoffmann, Prof. Dr., ist stellvertretende Generaldirektorin der
Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, verantwortliche Referentin für
die Pinakothek der Moderne und das Museum Brandhorst. Sie hat seit
vielen Jahren wichtige Mäzene und Stifter gewonnen und bedeutende
Sammlungen nach München gebracht, wie die Sammlung Udo und
Anette Brandhorst und die Sammlung Michael und Eleonore Stoffel.
Konrad Stadler war von 1994 bis 2003 geschäftsführender Gesellschafter
der „Heinle und Stadler Organisationsberatung“ – mit Schwerpunkten
auf Führungskräftetraining und Begleitung von Veränderungsprozessen. Im Jahr 2004 gehörte er zu den vier Gründern des „Anselm Bilgri –
Zentrum für Unternehmenskultur“. Heute entwickelt und begleitet er
als Partner bei „stadler/heinle/schott/“ nationale und internationale Kultur- und Werteprozesse. Den wirtschaftlichen Nutzen einer wertegeleiteten Unternehmenskultur kommuniziert er auch in Vorträgen, wissenschaftlichen Publikationen und Büchern.
Manuela Vergoossen, Dr., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt K (Kultursoziologie) mit den Forschungsschwerpunkten Kunstsakralisierung und Kunstkommerzialisierung im SFB 804 an der Technischen Universität Dresden und unterrichtet seit 1995 neuzeitliche
Kunstgeschichte. Ihre Habilitationsschrift verfasste sie zum Thema:
Kunstvereinskunst – Status stabilisierende Aspekte bürgerlicher Bilder
in Kunstvereinen des 19. Jahrhunderts.
Götz W. Werner, Prof., arbeitete nach seiner Ausbildung zum Drogisten in
verschiedenen Drogerieunternehmen. 1973 gründete er das Unternehmen dm-drogerie markt, bei dem 2009 mehr als 30.000 Menschen in elf
europäischen Ländern arbeiteten. Den Vorsitz der dm-Geschäftsführung
gab Götz Werner im Mai 2008 ab und wechselte in den Aufsichtsrat. Er
ist Mitglied mehrerer Aufsichtsräte und Beiräte national und international operierender Unternehmen. Seit Oktober 2003 leitet er das Interfakultative Institut für Entrepreneurship der Eliteuniversität Karlsruhe.
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Seit Februar 2006 ist er Präsident des EHI Retail Institute e.V. Für seine
betont antiautoritäre Unternehmensführung sowie die Schaffung zahlreicher Arbeits- und Ausbildungsplätze wurde Götz Werner mehrfach
ausgezeichnet, unter anderem mit dem Verdienstorden 1. Klasse der
Bundesrepublik Deutschland.
Reinhold Würth, Prof. Dr. h.c., Jahrgang 1935, trat 1949 als erster Lehrling
in die vom Vater Adolf gegründete, zunächst regional tätige Schraubengroßhandlung ein. 1954 starb Adolf Würth, Reinhold Würth musste als 19-Jähriger den kleinen Betrieb mit zwei Mitarbeitern fortführen.
Das Unternehmen wurde zunächst deutschlandweit tätig. Heute besteht
die Würth-Gruppe aus mehr als 400 rechtlich selbständigen Konzerngesellschaften, die in mehr als 80 Ländern tätig sind und 60.000 Mitarbeiter beschäftigen, die Hälfte davon im Außendienst. Der Jahresumsatz
2008 betrug 8,8 Milliarden Euro. Reinhold Würth hat sich in seiner
beruflichen Laufbahn intensiv mit psychologischen Themen wie Mitarbeitermotivation und Fragen der Berufsethik in einer sich wandelnden
Gesellschaft beschäftigt und sich auch im kulturellen Bereich vielfältig
engagiert.1999 wurde er zum Professor der Universität Karlsruhe
ernannt, wo er für vier Jahre bis zum Ende des Sommersemesters 2003
das Interfakultative Institut für Entrepreneurship leitete. Heute ist Reinhold Würth noch als Vorsitzender des Stiftungsaufsichtsrats für die
Würth-Gruppe tätig.
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