VoM Glück - Callwey Verlag
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VoM Glück - Callwey Verlag
VoM Glück Mit BUCHERN zu leben Stefanie von Wietersheim Claudia von Boch Dies ist eine Leseprobe Alle Rechte vorbehalten. Kontaktieren Sie uns, falls Sie das PDF weiter verwenden möchten: info@callwey.de I Inhalt 6 Von der Lust mit Literatur zu leben Einleitung 58 168 Wir sind wegen der Bücher hier Fortsetzung folgt 116 Necla Kelek Mafalda Prinzessin von Hessen Gerhard Steidl Publizistin und Islamkritikerin Bühnenbildnerin Verleger Im Leseglück 124 178 Was eine Muse liest 14 Felicitas und ihre Freunde Felicitas von Lovenberg Literaturkritikerin der FAZ Florian Langenscheidt Oliver Jahn Barbara Schöneberger Verleger und Autor Journalist und Chefredakteur von AD Moderatorin und Entertainerin Christine Gräfin von Brühl & Schrat 76 Lesen, um davon zu erzählen 136 Der Traum vom Gedächtnis der Welt 184 Büchernest auf der Burg Blanca Bernheimer Sibylle Canonica Wolfram Siebeck Galeristin Schauspielerin Gourmetkritiker und Buchautor Johanna Rachinger 88 144 Die Befreierin 194 Unsere Lieblingsbuchhandlungen Prinz Asfa-Wossen Asserate Vitalie Taittinger Nationalbibliothek Autor Künstlerische Leiterin des Champagnerhauses 200 Danksagung, Impressum 96 152 Science-Fiction hinter der Bühne 24 34 42 68 Fessle mich! Vierhändig gebunden Autorin & Bildender Künstler Hüterin der Bücher Generaldirektorin der Österreichischen Nur eine lesende Frau ist eine glückliche Frau Bücher sind Nahrung für Hoffnung Die Frau ohne Aber Ildikó von Kürthy Regina Moths Albrecht Mayer Buchautorin und Journalistin Buchhändlerin Solooboist der Berliner Philharmoniker Im Schloss der fliegenden Bücher 108 158 Ivo, Proust und die Butterbrote 50 Klappe auf Geschichten brauchen Arme Alexander Fürst zu Schaumburg-Lippe Folke Tegetthoff Ivo Wessel Unternehmer Kunstsammler Märchendichter und -erzähler Felicitas von Lovenberg Fv L F e l i c i ta s u n d i h r e F r e u n d e F e l i c i ta s v o n L o v e n b e r g Literaturkritikerin der FAZ 14 15 „ Felicitas von Lovenberg Felicitas von Lovenberg Wenn ich ein Buch aufschlage, ändert sich alles: Eine Sprache entfaltet sich, eine andere Welt kommt mir nah, ich trete aus mir selbst heraus. „ E Raum. Ich konnte es nicht glauben!“ Kurze Zeit später war Felicitas von Lovenberg Literatur-Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ihre Leidenschaft ihr Beruf. Seit 2008 ist sie Chefin des Ressorts und hat damit als erste Frau die Nachfolge des legendären Kritikers Marcel Reich-Ranicki angetreten. Sie kann wie kaum ein anderer Mensch lustvoll und s war der schönste Tag ihres Lebens. unterhaltsam über Literatur erzählen und schreiben, Es war der Tag, an dem sie zu den kämpft für ihre Meinung, ebnet neuen Talenten den Weg, Büchern kam. Dieser Tag ist nun über auch gegen Widerstände. Wenn sie spricht, hat man den zehn Jahre her, aber Felicitas von Eindruck, dass literarische Figuren in ihrem Kopf so Lovenberg erzählt davon immer noch selbstverständlich ein- und ausgehen wie vertraute mit diesen leuchtenden Augen, wie Menschen es nur tun, 16 wenn sie von der großen Liebe sprechen. „Der Heraus- linke Seite: Die Zauberhöhle der Bücher: Die geber der FAZ kam überraschend in mein Büro und frag- Kritikerin hat das Souterrain ihres Zuhauses in te: ‚Wollen Sie in die Literaturredaktion kommen?‘ Ich eine Bibliothek verwandelt. Gegenüber der Trep- hatte drei Jahre für das Kunstmarkt-Ressort geschrieben – pe ein Bücher-Stillleben von Ralph Fleck, ein das Lesen war bis zu diesem Tag mein Allerheiligstes. Ich Hochzeitsgeschenk ihres Mannes. dachte, jemand anderes stünde hinter mir, dem Frank oben: Im Eingang ein Leseplatz mit Union-Jack- Schirrmacher das Angebot macht. Aber nur ich war im Kissen – Erinnerung an die Studienjahre. 17 Felicitas von Lovenberg was zu essen. Saß mit einem Buch im Obstbaum. Und Ich kann mir ein Buch nicht kaufen.‘ Für Bücher war im- mein Vater hat mir viel vorgelesen“, erinnert sie sich. „Ich mer Geld da.“ habe wie entfesselt gelesen, vielleicht weil ich als Einzel- So ist ihr die englische Literatur – nicht die ameri- kind ziemlich in der Isolation lebte, die Nachbarn waren kanische, da unterscheidet sie sehr genau – bis heute oft Landwirte. Ich habe mich in der Grundschule eher wie näher als die deutsche. Sie rezensiert viele Übersetzun- eine Exotin gefühlt.“ Lovenberg las – wie viele Schriftstel- gen ins Deutsche, beschäftigt sich mit der Wirkung von ler und Kritiker – relativ früh Erwachsenenliteratur: mit elf Nachdichtungen in die andere Sprache. „Die Leser haben Jahren Königliche Hoheit, mit zwölf die Buddenbrooks, früh gemerkt, dass ich meine Steckenpferde in der engli- bald darauf Krieg und Frieden. Mit 16 ging sie ins Inter- schen Literatur habe. Leider muss ich viele Kritiken an nat nach Wales, später studierte sie in Bristol und Oxford, andere vergeben, die ich selber gerne schreiben würde“, seitdem ist das Englische die Sprache ihres Herzens. „Ich sagt sie. „Ich habe viel Narrenfreiheit, komme aber nicht bin in englischer Literatur sehr zuhause, die Jahre von 16 dazu, das wirklich auszuleben, da ich als Ressortleiterin bis 23 haben mich dort stark geprägt“, sagt sie. „Ich habe einen großen Apparat verwalte.“ Die FAZ-Literaturchefin in England meine Education sentimentale erlebt, verste- liest im Schnitt drei Bücher pro Woche, bespricht im Blatt he die verborgenen Emotionen und den speziellen Hu- 30 Titel im Jahr. Im Fernsehen moderiert sie die SWR- mor. Das Englische besitzt eine Million Worte, das Deut- Sendung Literatur im Foyer. „Das ist in der Vorbereitung sche daneben nur etwa 700 000, das beeinflusst die mit der Redaktion ein Book Club auf höchstem Niveau. Struktur von Texten.“ Aus ihrer Zeit in Großbritannien Wir sind zu dritt, lesen vorher die vorzustellenden Bücher stammt ihre umfassende englische Privatbibliothek. „Ich und diskutieren stundenlang. Das ist etwas anderes als in habe alles, wirklich alles gelesen, von Shakespeare über der Zeitung, wo jeder einsam und allein seine Bücher Jane Austen, James Joyce, Nancy Mitford, Sibylle Bed- liest.“ ford bis hin zu Childrens’ Books. Tausende Bücher. Mein Trotz der Bücherpakete, die tagtäglich in der Re- Vater sagte immer: ‚Egal was passiert, du sollst nicht daktion ankommen, kauft Lovenberg sich privat ständig Geld für blöde Klamotten ausgeben und dann denken: neue Titel. „Die Sekretärin der Literaturredaktion schüt- Nachbarn aus dem Haus gleich nebenan. Ihr eigenes Le- Buch, als ich nach meiner Scheidung in Geldnöten war ben und ihre Lesewelten: ein fantasievolles Gesamt- und kam mir vor wie eine Ameise, die einen Felsbrocken linke seite: Special Relationship: Goethe kunstwerk aus Geschichten. „Deine Billy-Regale mit den stemmen will“, sagt sie. „Die Liebe ist das älteste Thema und Queen Elisabeth bewachen den gelben Büchern werden noch einmal über dir zusammenbrechen der Menschen, alle Großen haben dazu schon geschrie- Reading Chair der Literaturkritikerin. Alle und dich unter ihnen begraben“, hatte ihr erster Ehemann ben! Ich war wahnsinnig, das zu tun.“ Für den viel gelob- Bücher sind sorgfältig nach Themen und warnend gesagt, als sie jung verheiratet waren. Zwar bra- ten Titel erhielt sie den Ernst-Robert-Curtius-Förderpreis Sprachen geordnet, der Platz bis in den chen die Regale nicht zusammen – aber die Ehe. Schuld für Essayistik. „Das Buch war kein Misserfolg, aber viel- letzten Winkel ausgenutzt. daran war ein kleines Buch. „Ich habe in Liebeserklärung leicht nicht der Erfolg, den der Verlag erwartet hat. Es hat Links: Lovenberg liebt die Haptik von ge- von Michael Lentz erkannt, dass es nicht das Richtige mich sehr demütig gemacht.“ bundenen Büchern, benutzt Kindle und war.“ Über ihre Erkenntnisse schrieb sie 2005 selber ein Felicitas von Lovenberg wuchs als Einzelkind im iPad fast nie. In ihrer Privatbibliothek sind Buch: Verliebe Dich oft, verlobe Dich selten, heirate Münsterland auf. „A girl who lived in the land of books“ – Ablageflächen eingebaut, bequem zum nie?. Selbst hielt sie sich nicht an diese Maxime, seit wie Paul Austers Heldin Alice aus seinem Roman Sunset Blättern in alten Ausgaben und Nachschla- 2006 ist sie wieder glücklich verheiratet. „Ich schrieb das Park. „Ich hatte immer ein Tier bei mir, ein Buch und et- gewerken. 18 19 „ Felicitas von Lovenberg Wenn jemand ein Buch schlecht macht, das ich liebe, werde ich zur Furie. Bücher widersprechen nicht, können sich nicht verteidigen. „ oben: Das Thema Buch ist in vielen Räumen präsent: hier eine Holzskulptur des Künstlers Ivon Illmer; das Bild an der telt immer den Kopf über mich, wie man sich denn noch Manschetten und habe immer noch gewisse Lücken. Ich freiwillig Bücher anschaffen kann! Und mein Mann fällt bin oft verzweifelt, weil ich noch viel mehr lesen müsste immer über all die Stapel, die bei uns den Weg versper- und bin mir meiner eigenen Defizite nur zu sehr bewusst. ren.“ Sie findet es unseriös, wenn Journalisten sich jegli- Manchmal liege ich nachts wach und denke: War der chen Titel von den Verlagen erbitten. „Natürlich bekom- Artikel über dieses Buch gut genug?“ Sie liest in der men wir Vorab- und Leseexemplare, aber alles andere hat Redaktion und auch zuhause grundsätzlich am Tisch und man zu bezahlen, das hat der Autor verdient.“ hält es damit wie Marcel Reich-Ranicki. „Er sagte immer, Lovenberg wählt ihre Lektüre nicht nach Namen Wand ist eine Arbeit von Jochen Pankrath. dass man sich zum Lesen in Anzug und Krawatte an den rechts: Handschmeichler, nach und nach aus. „Ich lese die Crème de la Crème, bin aber kein Tisch setzen muss. Ich lese auch am Tisch, aufrecht. gesammelt: Bücher aus verschiedenen Label-Leser. Natürlich erwarten die Leser, dass ich meine Großartige Literatur kann man nicht im Bett im Pyjama Holzarten, auch von Ivon Illmer, daneben Meinung zum neuen Martin Walser oder Jonathan lesen. Auch nicht mit ungeputzten Zähnen.“ ein Stein zur Erinnerung an ihre Hochzeit. Franzen habe. Seitdem ich die Redaktion leite, lese ich rechte Seite: Eine Feuerstelle mit Büchern – viel mehr deutsche Literatur, ich muss mich ja zu den genden Flut der Neuerscheinungen aus? „Wahre Litera- die Mitte des Hauses. Über dem Kamin wichtigen Diskussionen äußern“, erklärt sie. „Gegenüber tur ist Kunst. Sie steht über den herkömmlichen Dingen, eine Gouache von Emil Schumacher. deutscher Literatur hatte ich über Jahre hinweg gewisse in ihr ist der göttliche Funke. Das einzelne Werk ist grö- 20 Was macht richtig gute Literatur in der überwälti- 21 Felicitas von Lovenberg links: Der zierliche Tannenbaumsekretär stammt aus Lovenbergs Elternhaus. Darüber ein dekoratives Penguin-Cover. Auf dem Sekretär eine Sammlung von Ausgaben der legendären englischen Mitford Sisters. Sie sieht viele Bücher, die im herkömmlichen Sinne nicht als bedeutend oder groß gelten, als wichtig an. „In Büchern wie Schoßgebete von Charlotte Roche wird der Perfektionswahn und die Rolle der Psychotherapie ver- Fv L handelt, das ist einfach spannend für die Zeit, in der wir —Mein schönster erster Satz: mich auf mich selbst zurückgeworfen. 100 Seiten arbeiten. Ich lese dann Ge- leben. Deshalb habe ich diesem Buch Raum im Feuille- Ich achte gar nicht so sehr auf erste Ich dachte mir: Wen belügst du eigent- dichte von Wislawa Szymborska und ton gegeben. Es ist entscheidend, wenn ein Buch Ge- Sätze. Ich achte nur darauf, wenn sie lich? Dich selbst! Hinter diese Erkennt- Heinrich Heine. dankenkaskaden auslöst. Das Thema Alzheimer, mit dem so gut sind wie diese: „Alle glücklichen nis konnte ich nicht mehr zurück. unsere Gesellschaft sich gerade so intensiv beschäftigt, Familien sind einander ähnlich, jede un- habe ich in Arno Geigers Der alte König in seinem Exil, glückliche Familie ist unglücklich auf in Martin Suters Small World und in Jonathan Franzens ihre Weise.“ Aus Anna Karenina von —Ein Buch, das mich einmal gerettet hat: Die Gedichte der Emily Die Korrekturen so nah erlebt, als beträfe es den Vater Leo Tolstoi. Und: „It is a truth universally Dickinson helfen mir bei jeglichem Kum- bei Einschlafproblemen helfen Adalbert eines Freundes.“ Die herablassende Haltung mancher acknowledged, that a single man in mer, Schmerz oder jeder Verzweiflung. Stifters Bunte Steine meiner Erfahrung Intellektueller gegen kommerziell erfolgreiche Titel kann possession of a good fortune must be in sie nicht nachvollziehen. „Nur weil ein Buch erfolgreich want of a wife.“ Aus Stolz und Vorurteil ist, ist es nicht schlecht. Bücher, die sehr erfolgreich sind, von Jane Austen. sind oft sehr gut in dem, was sie sein wollen. Sie sind —Ein Klassiker, der mich zu Tode langweilt: Sterbenslangweilig wäre nur ein Leben ohne Bücher. Aber nach ziemlich zuverlässig. —Ein Buch für Stunden der Melancholie: Da braucht man sofort etwas. Man kann sich nicht erst durch —Dieses Buch hätte ich gerne geschrieben: Harry Potter natürlich – ßer als der, der es geschrieben hat. Das ist nicht planbar“, nicht aus Zufall so erfolgreich. Und es gibt viele richtig —Mein schönster letzter Satz: der Beweis, dass man es mit Fantasie sagt sie ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. „Ich bin schlechte Bücher!“ „Nun lebten sie vergnügt, und es ging und einer guten Geschichte weiterbrin- ihnen wohl bis an ihr Ende.“ Aus Die gen kann als die englische Königin. fest davon überzeugt, dass Literatur immer das Gute im Bücher nehmen fast Lovenbergs gesamte Zeit in Menschen weckt, dass sie uns demütiger, offenherziger Anspruch und auch in Freundschaften spielen sie eine und dankbarer macht. Sie hat einen reinigenden, erhe- wichtige Rolle: „Früher wurde ich viel auf Cocktails einge- benden Effekt. Man kann in ihr Schönheit fühlen um ihrer laden, aber oft habe ich mich gelangweilt und wollte nach selbst willen.“ Lovenberg gibt zu, dass sie ihr Urteil über Hause zu den Büchern. Wenn ich mich nicht gut unter- —Ein Buch, das mein Leben verändert hat: Liebeserklärung von Bücher mit der Zeit ändert: „Man irrt oft! Manchmal fand halte, ist es immer so. Ich werde dann ungnädig in Ge- Michael Lentz, dem Bachmann-Preis- so glücklich. Eine Frau flieht vor einer ich ein Buch großartig und habe nach einem Jahr festge- sellschaft, denn ich will lesen. Und ich freue mich auf das träger 2003. Es war sein erster Roman, Nachricht von David Grossmann. Eine stellt, dass ich mich kaum noch daran erinnern konnte. Alter, denn ich weiß: wenn ich eines Tages den Job nicht ich habe ihn gelesen und mir war klar, Geschichte von Liebe und Finsternis Das Gedächtnis ist ein Qualitätskriterium!“ mehr mache, dann warten all die Bücher auf mich.“ meine Ehe ist zu Ende. Dieses Buch hat von Amos Oz. 22 Goldkinder der Brüder Grimm. —Auf meinem Nachttisch liegt: Howards End is on the Landing von Susan Hill. Dieses Buch macht mich 23 O J Fessle m ic h! Olive r Jah n Journalist und Chefredakteur von AD 125 Oliver Jahn „ Rechts: Wohnzimmer eines Sammlers von Mid-century-Objekten. Um den Tisch der Architektin Katja Buchholz Stühle von Ich habe ein Charles Eames. Auf dem Sideboard aus den starkes physisches Ror Wolf und das Coverplakat zum ersten 1960ern zwei Collagen des Schriftstellers Tintin-Comic von Hergé von 1930. Verhältnis zu Schnitte frei. „Ich warte auf die neuen Regale des Schrei- Büchern. Ich mag es ners und das ist immer noch eine Zwischenlösung. Aber sie gefällt mir gut und vielleicht lasse ich es so“, sagt der nicht, wenn man 41-Jährige. „Die meisten Bücher erkenne ich auch ohne Einband. Und ich mache gerade lauter Ausgrabungen, ihnen den Rücken wie ein Archäologe.“ Jahn hat dieses intensive Körpergedächtnis für bricht. „ E Bücher, das bei vielen Bibliomanen so ausgeprägt ist. Bücher sind in ihn eingeschrieben, in sein Denken, sein Wesen, in seinen Körper. Literatur war in seiner Familie immer Teil des Lebens, auf unangestrengte Weise, nicht mit bildungsbürgerlichem Habitus. Die Mutter arbeitete als Buchhändlerin, der Großvater als Schriftsetzer. Bei den Großeltern lernte Oliver die Bände der Büchergilde r hat sie alle flachgelegt. So um die Gutenberg mit ihren Künstler-Illustrationen kennen. „Ich 8 000. Und das ist nur ein Teil seiner war immer ein richtiger Bücher-Nerd, und während meine Liebhabersammlung. Oliver Jahn, Schulkameraden im Badischen an ihren Mofas rum- Chefredakteur der Architektur- und schraubten, habe ich mich für Literatur und Design inter- Kunstzeitschrift AD Architectural Digest, essiert. Auf dem Land musste man das eher geheim hal- lebt und arbeitet für die Schönheit. Er reist für ein groß- ten“, sagt er. An sein erstes Buch erinnert er sich sichtbar artiges Haus ohne Zögern nach Feuerland, sieht auf den wohlig: „Ich hatte die große Ausgabe von Eric Carles Die wichtigsten Kunstausstellungen der Welt nach, ob sie Raupe Nimmersatt und fand es faszinierend, die Finger wirklich so wichtig sind, er kann die revolutionäre Form in die Löcher der dicken Pappseiten zu stecken. Ich be- eines Stahlrohrmöbels oder die marmorne Weichheit kam das Buch jeden Tag vorgelesen, konnte alles aus- eines Betonkubus’ bis ins Detail beschreiben. Sein tiefes wendig, las mit und schlug die Seiten im Takt um.“ Als er „Ich“ ist aber nicht der Jetsetter im Dienst der guten schließlich selbst lesen konnte, holten er und seine bei- Form, sondern das des Bücherliebhabers. Jahn besitzt den jüngeren Brüder wäschekorbweise Bücher aus der rund 15 000 Bände, und da er gerade in eine neue Woh- Leihbibliothek, und bald hatte Oliver ein eigenes Bücher- nung gezogen ist, steht ein großer Teil seiner Bücher bord. Die erste eigene Leseinsel, von der aus das mani- nicht mit dem Rücken zum Betrachter im Regal, sondern sche Sammeln begann: Er gab als Schüler sein ganzes liegt auf der Seite und gibt den Blick auf die nackten Taschengeld für Bücher aus, ackerte die zwölfbändige 126 127 Oliver Jahn links: Auf dem Schreibtisch aus den 1950er Jahren zwei Bauhaus-Lampen, davor ein Stahlrohrsessel der Firma Mauser. Das gerahmte Foto zeigt den Dichter Arno Schmidt in den 60ern auf dem Sprungturm eines Freibads. unten: Auf dem Rollen-Beistelltisch aus den 1950ern liegen Exemplare aus Jahns Sammlung der Zeitschrift Gebrauchsgraphik aus den 1920er Jahren. Ganz Unten: Bücherhimmel für jeden Designliebhaber. Vor dem Regal zum Thema Mode ein Exemplar des Sessels Vostra von Jens Risom mit original Vinylbezug. 128 129 Oliver Jahn „ Meine Mutter schlug drei Kreuze, als ich zuhause auszog. ich habe in ihrer Buchhandlung auf das Mitarbeiterkonto jahrelang anschreiben lassen. Shakespeare-Ausgabe durch, fuhr auf die Buchmessen nach Frankfurt und Leipzig, besuchte Antiquariate und „ kaufte Werkausgaben wie Wein – nach schönen Etiketten. Heinrich von Kleist wurde in diesen Jahren zu seinem Hausheiligen. „Kleists Prosatexte und die Zeitungsbeiträge für die Berliner Abendblätter haben mich sehr geprägt. Ich habe mich bis zum Uni-Examen viel mit ihm beschäftigt.“ Jahn studierte Germanistik, Philosophie und Sprachwissenschaft in Saarbrücken und Kiel. Zu seinem großen Glück wurde er als Hilfskraft seines Kieler Philosophieprofessors Chef der philosophischen Seminarbib- oben: Ausgesuchte Abendlektüre, griffbereit auf der grünen tschechischen Stahl- 130 rohrgarderobe aus den 1930ern. Die oben: Vor dem Billy-Regal ein Ausstel- Vintage-Lampe stammt aus den 50ern. lungsplakat des Designers Carlo Mollino, links: Spielarten der Bücherliebe: Jahn den Jahn als Mann mit hoher Geschwindig- besitzt rund 1 000 Bände zu Themen wie keit und zugespitzter Eleganz in allen Bibliotheken, Büchersammler, die Ge- Lebenslagen bewundert. schichte des Papiers, lesende Helden und links: Rimini blu: Vier Keramikobjekte aus Bibliomane. der Kollektion von Aldo Londi. 131 Oliver Jahn Während des Studiums begann er Literaturkritiken liothek. „Ich konnte jeden Tag die Büchersammlung mit Jahn sieht die schönsten Häuser der Welt. Wie wür- Linke seite: Geometrische Farbkompositi- 50 000 Bänden aufschließen, es war fantastisch, so et- für die Kieler Nachrichten zu schreiben, wurde später den denn seine Bücher wohnen, wenn er ihnen ein Zu- on beim Blick vom Flur in die Küche. was wie die schweinslederne Augustinus-Ausgabe aus Feuilletonmitarbeiter der SZ und der Literarischen Welt. hause bauen könnte? „Das weiß ich genau“, sagt er und Neben der Tür ein Regal mit der Reihe dem 16. Jahrhundert rauszuholen. Mit einem Freund ha- 2002 ging er als Arno-Schmidt-Spezialist zum Suhrkamp man spürt, dass er schon oft darüber nachgedacht hat. Bibliothek Suhrkamp, in der legendären be ich dort wie in einer Lesehöhle gelebt, wir hatten mit Verlag, wechselte danach zur Kunstzeitschrift Monopol in „Ich träume von einem Haus aus grauem, poliertem Einbandgestaltung von Willy Fleckhaus. einem Bibliothekar so eine Art ‚Club der toten Dichter‘, Berlin und entwickelte ein großes Faible für Möbel- und Sichtbeton. Einer sechs Meter hohen Wohnhalle mit einer oben: Teile von Jahns Sammlung von haben Cordhosen und dicke Pullover getragen und uns Objektdesign des 20. Jahrhunderts; von dort wurde er Glaswand mit Blick in eine Berglandschaft wie auf den Fifties-Geschirr aus der Melitta-Kollektion unsere Schätze gezeigt“, sagt er. Er kaufte pro Tag zwei, zu AD Architectural Digest abgeworben, seit 2011 ist er Bildern von Claude Lorrain. Bunte skandinavische Teppi- Minden von Jupp Ernst auf einem Beistell- drei neue Bücher, trug jeden Titel mit laufender Nummer Chef der Zeitschrift. „In der Redaktion lachen sie über che, Fläz-Sofas und rötliche Teakholzmöbel. Und an drei tisch. Dahinter ein Schulstuhl von Karl in ein Kassenbuch ein, führte außerdem ein Lesetage- mich, weil ich meine Bücher hüte wie meine Augäpfel. Ich Seiten eine Bibliothek, in der meine 15 000 Bücher ste- Nothelfer, beides aus den 50ern. buch. Diese Gesten belächelt er heute. „Dieser heilige setze Himmel und Hölle in Bewegung, wenn ich einen hen. Alle in bischofslila Leinen gebunden, Titel und Auto- Ernst ist mir fremd geworden. Aber die Lust ist immer vergriffenen Katalog oder ein seltenes Buch brauche. Ich ren in silberner Prägung.“ Er sieht diese Bücherhalle als noch dieselbe wie früher.“ Seinen Namen schreibt er bis bin ein knallharter Jäger, rufe Kuratoren oder Direktoren moderne Nachfolgerin der traditionellen Fürstenbiblio- heute mit einem feinen Bleistift in jeden Band. „Ich wollte an“, gibt er zu. „Manchmal nehme ich mir lauter Bücher, thek. „Früher bekamen die Fürsten nur den Buchblock, in Büchern immer meine Spur hinterlassen. Das Anver- lege sie auf den Boden, setze mich zu ihnen und schaue ließen alle Bücher in eigene Gewänder binden und versa- wandeln, Einverleiben, ein Ritual, die Inkorporation in den sie mir einfach an. Das ist eine selige Zeit. So wie früher hen sie mit ihren Wappen. Es war eine Art sich die Bü- Bibliothekskörper – das war und ist mir wichtig.“ das Spielen mit meinen Matchbox-Autos.“ cher anzueignen. Das würde ich auch gerne tun.“ 132 133 Oliver Jahn O J —Mein schönster erster Satz: —Ein Klassiker, der mich zu Tode langweilt: Ha! Der Nachsom- ich vor zwei Jahren gemacht, weil ein Freund eine Doktorarbeit über die Archi- —Dieses Buch hätte ich gerne geschrieben: Die Strudlhofstiege mer von Adalbert Stifter. Ich habe vier- tektur des Rosenhofs in dem Roman von Heimito von Doderer. Ich habe ein mal versucht ihn zu lesen. Viele tote und schrieb. Ich habe 200 Seiten geschafft Faible für große panoramische Gesell- lebende Gewährsleute haben dieses und dann sind meine Augenlider wieder schaftsromane und die untergehende Buch geschätzt wegen seiner Land- runtergeklappt. Unmöglich. k.u.k.-Welt. Es ist toll, wie er die Treppen- schaftsbeschreibungen. Also dachte ich, anlage zum Symbol der Zeitgeschichte da muss wirklich was dran sein. Aber ich macht und wie der erste Satz die Ge- kann es nicht. Den letzten Anlauf habe schichte eröffnet. —Auf meinem Nachttisch liegt: Immer nur ein Buch. Ich lese nie mehrere Bücher gleichzeitig. Aber ich lese dasselbe Buch oft mehrmals. Gerade ist es Ein letzter Sommer von Steve —Ein Buch für Stunden der Melancholie: In Stunden der Melan- Tesich. Es geht um den Abschied von „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegan- —Ein Buch, das mein Leben verändert hat: Wahrscheinlich die gen.“ Aus Marcel Prousts Auf der Suche Romane von Arno Schmidt. Ich habe sie cholie lese ich keine Literatur, da schaue sen Vater im Sterben liegt und der seine nach der verlorenen Zeit. mit 17, 18 Jahren entdeckt. Sie sind vol- ich mir meistens Kunstbücher an. Am erste Liebe erlebt. Eine typische Co- Grandios ist auch der Satz: „Jakob ist ler Humor, mit einem starken Vibrato liebsten Claude Lorrain und Schweizer ming-of-Age-Geschichte. Hinreißend! immer quer über die Gleise gegangen.“ und scharfzüngig. Sie sind recht kurz, Landschaftsmaler des 18. Jahrhunderts. Das ist aus Mutmaßungen über Jakob aber diese Gewalt! Diese präzise, bildrei- Da geht es entweder um die Idylle oder von Uwe Johnson. Ich bin ein totaler Fan che, anspielungsreiche Sprache geht in die landschaftliche Überwältigung des von ersten Sätzen. den Händen los wie ein Feuerwerkskör- Menschen. Das beruhigt mich. der Jugend eines jungen Mannes, des- per. Er gibt einem kleine Rätsel auf, die —Mein schönster letzter Satz: man nicht immer entschlüsselt. Es ist der Schluss von Arno Schmidts schichte Seelandschaft mit Pocahontas, —Ein Buch, das mich einmal gerettet hat: Diese Idee ist für mich die in den 1950er Jahren spielt. Nach zu weit gegriffen. Es gibt aber wichtige einigen glücklichen Ferientagen am Autoren, die mich lange begleiten wie Dümmer verabschiedet sich die Frau Heimito von Doderer und Marcel Proust. von dem Helden, mit dem sie ein paar Ich habe Auf der Suche nach der verlo- romantische Tage am See verbracht hat, renen Zeit dreimal gelesen, es hat mich und steigt in den Bus, er bleibt zurück. alle drei Male nicht gerettet, aber sie links: Zeitgenossen: Das Lesesofa von Und dann der Schlusssatz: „Mein Kopf sind ein Vademecum und in ihnen fühle Oliver Jahn ist ein Vintage-Stück aus den hing noch voll von ihren Kleidern und ich ich mich zuhause. Aber ich bin kein Es- 1950ern mit original taubenblauem Samt- antwortete nicht.“ So schön und so trau- kapist, ich lebe sehr diesseitig, mag auch bezug. Dahinter eine alte Arztlampe der rig. Lesen Sie mal die Erzählung. Skifahren und Schuhe kaufen. Firma Baisch. wunderbarer Sommer- und Liebesge- 134 135 S C D e r T r a u m v o m G e d ä c h t n i s d e r W e lt S i by l l e C a n o n i c a Schauspielerin 137 Sibylle Canonica D en wunderbarsten Traum meines Mit einem haarfeinen Pinsel malt er mir unbekannte Hie- Lebens habe ich über Bücher gehabt roglyphen an die Wand, er malt Buchrücken.“ Sibylle Canonica schließt die Augen, nimmt einen – es ist schon lange her, aber ich habe ihn nie vergessen!“, sagt die Bleistift vom Tisch und zeichnet langsam Schriftzeichen Schauspielerin Sibylle Canonica, als in die Luft. „Ich frage ihn, was er da tut – und der Mönch wir in der Dämmerung in ihrer Schwabinger Atelierwoh- sagt: ‚Hier sind alle Bücher. Die Bücher, die es schon gibt nung sitzen und draußen vor dem Nordfenster dicke und diejenigen, die es noch geben wird. Ich halte ihnen Schneeflocken durch das Abendgrau fallen. Zwischen den Platz frei.‘ “ Die Schauspielerin öffnet die Augen wie- uns ein langer Tisch, auf ihm sehr ordentlich ausgelegt der, legt den Stift ab, sieht aus, als erwache sie aus ei- die Texte für eine Lesung über Ikarus. Seit Stunden spre- nem tiefen Minutenschlaf und sagt: „Diesen Traum habe chen wir über Bücher. Und plötzlich steigt die Erinnerung ich nie vergessen, denn er zeigte mir das Gedächtnis der an einen Traum auf: „Ich stehe in einer riesigen romani- Welt, das noch Lücken hatte. Dieser lichtdurchflutete schen Kirche auf abgetretenen Steinplatten. Nur Stühle, Raum hatte eine solche Klarheit und Ruhe. Er hat die Ah- keine Kirchenbänke – und ringsherum an den Wänden: nung gezeigt, wenn alles da ist.“ Die Sehnsucht: dass al- lauter alte Bretter. Meterlang. Darauf Bücher. Und immer les da ist. Alles geklärt, verhandelt und gelöst in Literatur. wieder Lücken zwischen den Büchern. Weit hinten in der Für eine Frau der Bühne ein ständiges Anrennen an Wor- Ecke in der Dunkelheit hockt ein Mönch. Ich gehe hin te. Denn sie schlüpft in Texte, zieht sich Rollen an, geht und sehe ihm über die Schulter, um zu sehen, was er tut. durch sie hindurch. Sie spricht, bewegt, atmet Bücher. „Ich stamme nicht aus einer typischen Künstlerfamilie und musste mir die Wahrnehmung für das Ohr, das Auge selbst erarbeiten. Das hat auch Vorteile“, sagt die 1957 geborene Schauspielerin, deren Familie aus einem kleinen Dorf im Tessin stammt. Canonica wuchs in Zürich auf, studierte Schauspiel an der Folkwangschule in Essen, kam über das Staatstheater Stuttgart und das Düsseldorfer Schauspielhaus an die Münchner Kammerspiele und ans Bayerische Staatsschauspiel. Sie gibt Lesungen, liest Hörbücher ein, spielt in Kino- und Fernsehfilmen. Unvergesslich ist sie in Caroline Links Film Jenseits der Stille und im Goethe-Film Die Braut als Charlotte von Stein geblieben. rechte seite: Das Lesepult mit dem alten Drehhocker ist Lese- und Studienplatz. Im Hintergrund erscheint die Deutschlandkarte als topografisches Buch – Canonica liest mit Leidenschaft Land- und Seekarten. 138 „ Sibylle Canonica Hölderlin, Kleist, Bernhard. Das sind die Bücher, die man notfalls in den Koffer schmeiSSt, wenn das Haus brennt. in ihrer Wohnung mit dem typischen Schwabinger Atelierzimmer. Canonica hat in diesem Wohn- und Arbeits- „ Privat lebt sie intensiv mit der ihr wichtigen Literatur Schwingung, Regung, gerade entstehende Idee aufneh- mal um die eigene Achse gedreht. Die Texte Über das es auch auf Englisch und Französisch so. Ich kann mich men und zurückfunken. Marionettentheater und Über die allmähliche Verferti- der Sprache überlassen, man kapiert den Text oft, bevor gung der Gedanken beim Reden habe ich so oft gelesen man ihn verstanden hat.“ Und wenn diese Frau spricht, Einen neuen Text zu lernen ist für sie bis heute raum nur wenige Bücher stehen: Kleist, Hölderlin, Bern- eine aufregende Sache. „Man muss ihn ergründen, den und war so beglückt, dass ich immer dachte: Ich möchte möchte man sich als Zuhörer ihrer Sprache überlassen. hard. Hier trifft sich die 52-Jährige mit Schauspielerkolle- Impetus des Autors spüren, in seine Regionen kommen, jetzt mit Kleist reden. Und nach den Aufführungen von Den Kopf auf die Platte des Holztisches legen, vor dem gen zu Leseproben, macht Tonaufnahmen. „Meistens ist sich auf die Spur machen wie auf einem Pfad im Gebirge, Amphitryon und dem Zerbrochenen Krug hätte ich ger- sie sitzt, und ihr zuhören. Nur zuhören. Lesen verbunden mit Arbeit. Wenn ich beruflich lese, muss Orte suchen, die man von unten nicht ahnt. Man ne ein Telegramm in den Dichterhimmel geschickt, um dann sehr zielgerichtet, da geht man in Klausur.“ Die lebt mit dem Text intensiv. Das Leben verändert ihn. ihm zu sagen, wie er mich berührt. Goethe nimmt einen linke seite: Hoher Lebensraum. Am lan- Masse der Bände vom Reiseführer bis zum Lexikon steht Wenn der Text gut ist, kann man unendlich lang mit ihm mit zu einer Reise um und durch die ganze Welt und zu- gen Esstisch der Schwabinger Atelierwoh- in Regalen und in Kisten im Flur, vor der Tür zu ihrem ei- leben. Ich habe Wer hat Angst vor Virginia Woolf von rück. Aber mit Kleist steht man an ihrer Abbruchkante.“ nung lernt die Schauspielerin ihre Rollen gentlichen Lebensraum. Man spürt im Gespräch: diese Edward Albee 140-mal gespielt und nach jeder Auffüh- Doch letztlich besitzt der Text für Sibylle Canonica Frau ist durch ihren Beruf gewöhnt, auf mehreren Ebe- rung dachte ich: Wie gut geschrieben!“ nen gleichzeitig zu beobachten und zu reagieren. Ein Dieses Gefühl gilt auch dem Autor, der ihr beson- Mensch mit unzähligen feinen Antennen, die jede ders nahe steht: Heinrich von Kleist. „Kleist hat mich ein- 140 mit Blick über die Dächer der Stadt. eine ganz eigene Macht: „T. S. Eliot hat Dantes Göttliche oben: Jeder Text bekommt seinen Platz, Komödie auf Italienisch gelesen, obwohl er gar kein Itali- Worte erhalten Bedeutung. Sibylle Canoni- enisch konnte. Aber er hat sich durchgekämpft. Mir geht ca bei der Vorbereitung einer Lesung. 141 Sibylle Canonica S C —Ein Buch für Stunden der Melancholie: Melancholie? Heute —Auf meinem Nachttisch liegt: kommt das Wort ja kaum noch vor, man schein und im Schatten von Christian spricht viel von Depression. Wenn man Kracht. Ein hochbegabter Autor. Dür- UNTEN: Nur das Wesentliche darf ganz nah sie als Zugang zur Nachtseite des Le- renmatt oder Die Ahnung vom Ganzen kommen. Im Atelierzimmer stehen die Ge- bens sieht: Haikus. An einem gewissen von Peter Rüedi. Minotaurus von Dür- samtausgaben der Lieblingsautoren neben Punkt kann man nur diese kleinen japa- renmatt, ein kaum bekannter Text. ausgesuchten Erinnerungsstücken aus nischen Dreizeiler lesen. In der Melan- 4.48 Psychose von Sarah Kane. ihrem Leben. Zur Zeit Ich werde hier sein im Sonnen- cholie hat man die Ruhe sie zu lassen, wie sie sind. —Ein Klassiker, der mich zu Tode langweilt: Das Wort Klassiker hat mich immer erschreckt. Man hat Angst: Das verstehe ich nicht, das kennt —Mein schönster erster Satz: —Mein schönster letzter Satz: doch jeder, aber ich habe keinen Zugang Wenn ein Buch so gut ist, dass es einen —Ein Buch, das mein Leben verändert hat: Schwierig. Das be- „Es war einmal ...“ Ein verheißungsvoller Satz, der innerlich alle Türen aufstößt. So gefangen hält, dann will man den letzten rühmte Werther-Erlebnis hatte ich nie. Das heißt für mich: Diese Literatur haben immer die Geschichten angefan- Satz nicht lesen. Ich bin dann wie ein Aber die Begegnung mit den Büchern ist absolut wind- und wasserfest. Was gen, die ich mir für meinen Sohn ausge- Esel, der sich sträubt, denn ich will noch von Robert Walser hat mir in jungen schwach ist, löst sich auf und flattert dacht habe. Schön ist auch ein Satz aus und noch fünf Seiten mehr. Konkret fällt Jahren Räume eröffnet. weg. Klassiker haben Bestand. Ich dem ersten Kapitel des Don Quichotte. mir Kleists Amphitryon ein. Der letzte Es ist kein erster Satz, aber da das Buch Satz ist nur ein einziges Wort: „Ach!“ so dick ist, ist er für mich so etwas Ähn- dazu. Klassiker haben schon ihren Sinn. musste relativ alt werden, um die Angst vor der Ilias von Homer zu verlieren. Ich Dieses „Ach“ der Alkmene ist so viel. —Ein Buch, das mich einmal gerettet hat: Ich hatte kein Buch zur liches: „Schließlich versenkte er sich so Alkmene, die die treueste Gattin war und Hand, wenn ich es hätte brauchen kön- stürzt und war dann so beglückt und be- tief in seine Bücher, dass ihm die Näch- nur Augen für Amphitryon hatte, ist fas- nen. Und außerdem ist es doch so: geistert. Bevor man gehen muss, muss te vom Zwielicht bis zum Zwielicht und sungslos, dass sie ihn ungewollt betro- Wenn man schon wieder an Bücher den- man dieses gigantische Buch lesen! Da die Tage von der Dämmerung bis zur gen hat. Sie weiß nicht mehr, wer sie ist, ken kann, ist man bereits halb gerettet. finden Sie Drama, epische Schlachten- Dämmerung über dem Lesen hingingen; ein ganzes Gebäude fällt für sie zusam- gesänge, Götter und Menschen – das ist und so, vom wenigen Schlafen und vom men. Es öffnet sich schlagartig alles ganz großes Kino! Aber noch einmal zu vielen Lesen, trocknete ihm das Hirn so nach oben und unten. Und es bleibt of- Ihrer Frage: Ich habe keine Lust, einem aus, dass er zuletzt den Verstand verlor.“ fen, in welche Richtung sie danach ge- Autor eine aufs Dach zu geben, aber Ich hatte immer Angst vor diesem dicken hen wird. Wird alles ein Horror bleiben wenn Sie schon fragen: Hesses Glas- Buch. Aber das ist unbegründet. Man oder wird sie sich in eine lebenskluge perlenspiel, das viele sehr mögen, ist muss den Don Quichotte einfach lesen – Frau verwandeln? Das ist Kleist. gar nicht meins. habe mich in die 24 Gesänge reinge- auch weil viele Künstler sich auf dieses —Dieses Buch hätte ich gerne geschrieben: Vor dem Schreiben wunderbare Buch mit seinen Motiven bezogen haben wie auf die Bibel. habe ich viel zu viel Respekt. 142 143 • Exklusive Einblicke in die Räume bekannter Persönlichkeiten • Eindrucksvolle Porträts über Moderatorin Barbara Schöneberger, Schauspielerin Sibylle Canonica, Gourmetkritiker und Autor Wolfram Siebeck, Verleger Gerhard Steidl und viele andere • Das neue Buch der Bestseller-Autorinnen Stefanie von Wietersheim und Claudia von Boch Zeig mir WaS du lieSt und iCh Sage dir, Wer du BiSt. Frei nach diesem Motto traf Stefanie von Wietersheim 20 starke Persönlichkeiten. Autor Prinz Asfa-Wossen Asserate, Publizistin Necla Kelek, Autorin Ildikó von Kürthy, Verleger Florian Langenscheidt und weitere interessante Protagonisten öffneten Haus und Herz. Die Autorin erfuhr in vertrauten Gesprächen, welche Rolle Bücher in ihren Leben spielen. Es entstanden intime Porträts mit spannenden Lebens- und Lesegeschichten. Alle stellten sich den literarischen und persönlichen Fragen mit Esprit, Witz und Ernsthaftigkeit. Fotografin Claudia von Boch fand ausdrucksstarke Bilder für die Personen in ihren Lesewelten. ISBN 978-3-7667-1934-8 ,!7ID7G6-hbjdei! www.callwey.de http://vom-glueck-mit-buechern-zu-leben.de