VoM Glück - Callwey Verlag

Transcription

VoM Glück - Callwey Verlag
VoM Glück
Mit
BUCHERN
zu leben
Stefanie von Wietersheim
Claudia von Boch
Dies ist eine Leseprobe
Alle Rechte vorbehalten.
Kontaktieren Sie uns, falls Sie das PDF weiter verwenden möchten: info@callwey.de
I
Inhalt
6
Von der Lust mit Literatur zu leben
Einleitung
58 168 Wir sind wegen der Bücher hier
Fortsetzung folgt
116 Necla Kelek
Mafalda Prinzessin von Hessen
Gerhard Steidl
Publizistin und Islamkritikerin
Bühnenbildnerin
Verleger
Im Leseglück
124 178 Was eine Muse liest
14 Felicitas und ihre Freunde
Felicitas von Lovenberg
Literaturkritikerin der FAZ
Florian Langenscheidt
Oliver Jahn
Barbara Schöneberger
Verleger und Autor
Journalist und Chefredakteur von AD
Moderatorin und Entertainerin
Christine Gräfin von Brühl & Schrat
76 Lesen, um davon zu erzählen
136 Der Traum vom Gedächtnis der Welt
184 Büchernest auf der Burg
Blanca Bernheimer
Sibylle Canonica
Wolfram Siebeck
Galeristin
Schauspielerin
Gourmetkritiker und Buchautor
Johanna Rachinger
88 144 Die Befreierin
194 Unsere Lieblingsbuchhandlungen
Prinz Asfa-Wossen Asserate
Vitalie Taittinger
Nationalbibliothek
Autor
Künstlerische Leiterin des Champagnerhauses
200 Danksagung, Impressum
96 152 Science-Fiction hinter der Bühne
24 34 42 68 Fessle mich!
Vierhändig gebunden
Autorin & Bildender Künstler
Hüterin der Bücher
Generaldirektorin der Österreichischen
Nur eine lesende Frau ist eine glückliche Frau
Bücher sind Nahrung für Hoffnung
Die Frau ohne Aber
Ildikó von Kürthy
Regina Moths
Albrecht Mayer
Buchautorin und Journalistin
Buchhändlerin
Solooboist der Berliner Philharmoniker
Im Schloss der fliegenden Bücher
108 158 Ivo, Proust und die Butterbrote
50 Klappe auf
Geschichten brauchen Arme
Alexander Fürst zu Schaumburg-Lippe
Folke Tegetthoff
Ivo Wessel
Unternehmer
Kunstsammler
Märchendichter und -erzähler
Felicitas von Lovenberg
Fv
L
F e l i c i ta s u n d i h r e F r e u n d e
F e l i c i ta s v o n L o v e n b e r g
Literaturkritikerin der FAZ
14
15
„
Felicitas von Lovenberg
Felicitas von Lovenberg
Wenn ich ein Buch
aufschlage,
ändert sich alles:
Eine Sprache
entfaltet sich,
eine andere Welt
kommt mir nah,
ich trete aus mir
selbst heraus.
„
E
Raum. Ich konnte es nicht glauben!“ Kurze Zeit später
war Felicitas von Lovenberg Literatur-Redakteurin der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ihre Leidenschaft
ihr Beruf. Seit 2008 ist sie Chefin des Ressorts und hat
damit als erste Frau die Nachfolge des legendären Kritikers Marcel Reich-Ranicki angetreten.
Sie kann wie kaum ein anderer Mensch lustvoll und
s war der schönste Tag ihres Lebens.
unterhaltsam über Literatur erzählen und schreiben,
Es war der Tag, an dem sie zu den
kämpft für ihre Meinung, ebnet neuen Talenten den Weg,
Büchern kam. Dieser Tag ist nun über
auch gegen Widerstände. Wenn sie spricht, hat man den
zehn Jahre her, aber Felicitas von
Eindruck, dass literarische Figuren in ihrem Kopf so
Lovenberg erzählt davon immer noch
selbstverständlich ein- und ausgehen wie vertraute
mit diesen leuchtenden Augen, wie Menschen es nur tun,
16
wenn sie von der großen Liebe sprechen. „Der Heraus-
linke Seite: Die Zauberhöhle der Bücher: Die
geber der FAZ kam überraschend in mein Büro und frag-
Kritikerin hat das Souterrain ihres Zuhauses in
te: ‚Wollen Sie in die Literaturredaktion kommen?‘ Ich
eine Bibliothek verwandelt. Gegenüber der Trep-
hatte drei Jahre für das Kunstmarkt-Ressort geschrieben –
pe ein Bücher-Stillleben von Ralph Fleck, ein
das Lesen war bis zu diesem Tag mein Allerheiligstes. Ich
Hochzeitsgeschenk ihres Mannes.
dachte, jemand anderes stünde hinter mir, dem Frank
oben: Im Eingang ein Leseplatz mit Union-Jack-
Schirrmacher das Angebot macht. Aber nur ich war im
Kissen – Erinnerung an die Studienjahre.
17
Felicitas von Lovenberg
was zu essen. Saß mit einem Buch im Obstbaum. Und
Ich kann mir ein Buch nicht kaufen.‘ Für Bücher war im-
mein Vater hat mir viel vorgelesen“, erinnert sie sich. „Ich
mer Geld da.“
habe wie entfesselt gelesen, vielleicht weil ich als Einzel-
So ist ihr die englische Literatur – nicht die ameri-
kind ziemlich in der Isolation lebte, die Nachbarn waren
kanische, da unterscheidet sie sehr genau – bis heute oft
Landwirte. Ich habe mich in der Grundschule eher wie
näher als die deutsche. Sie rezensiert viele Übersetzun-
eine Exotin gefühlt.“ Lovenberg las – wie viele Schriftstel-
gen ins Deutsche, beschäftigt sich mit der Wirkung von
ler und Kritiker – relativ früh Erwachsenenliteratur: mit elf
Nachdichtungen in die andere Sprache. „Die Leser haben
Jahren Königliche Hoheit, mit zwölf die Buddenbrooks,
früh gemerkt, dass ich meine Steckenpferde in der engli-
bald darauf Krieg und Frieden. Mit 16 ging sie ins Inter-
schen Literatur habe. Leider muss ich viele Kritiken an
nat nach Wales, später studierte sie in Bristol und Oxford,
andere vergeben, die ich selber gerne schreiben würde“,
seitdem ist das Englische die Sprache ihres Herzens. „Ich
sagt sie. „Ich habe viel Narrenfreiheit, komme aber nicht
bin in englischer Literatur sehr zuhause, die Jahre von 16
dazu, das wirklich auszuleben, da ich als Ressortleiterin
bis 23 haben mich dort stark geprägt“, sagt sie. „Ich habe
einen großen Apparat verwalte.“ Die FAZ-Literaturchefin
in England meine Education sentimentale erlebt, verste-
liest im Schnitt drei Bücher pro Woche, bespricht im Blatt
he die verborgenen Emotionen und den speziellen Hu-
30 Titel im Jahr. Im Fernsehen moderiert sie die SWR-
mor. Das Englische besitzt eine Million Worte, das Deut-
Sendung Literatur im Foyer. „Das ist in der Vorbereitung
sche daneben nur etwa 700 000, das beeinflusst die
mit der Redaktion ein Book Club auf höchstem Niveau.
Struktur von Texten.“ Aus ihrer Zeit in Großbritannien
Wir sind zu dritt, lesen vorher die vorzustellenden Bücher
stammt ihre umfassende englische Privatbibliothek. „Ich
und diskutieren stundenlang. Das ist etwas anderes als in
habe alles, wirklich alles gelesen, von Shakespeare über
der Zeitung, wo jeder einsam und allein seine Bücher
Jane Austen, James Joyce, Nancy Mitford, Sibylle Bed-
liest.“
ford bis hin zu Childrens’ Books. Tausende Bücher. Mein
Trotz der Bücherpakete, die tagtäglich in der Re-
Vater sagte immer: ‚Egal was passiert, du sollst nicht
daktion ankommen, kauft Lovenberg sich privat ständig
Geld für blöde Klamotten ausgeben und dann denken:
neue Titel. „Die Sekretärin der Literaturredaktion schüt-
Nachbarn aus dem Haus gleich nebenan. Ihr eigenes Le-
Buch, als ich nach meiner Scheidung in Geldnöten war
ben und ihre Lesewelten: ein fantasievolles Gesamt-
und kam mir vor wie eine Ameise, die einen Felsbrocken
linke seite: Special Relationship: Goethe
kunstwerk aus Geschichten. „Deine Billy-Regale mit den
stemmen will“, sagt sie. „Die Liebe ist das älteste Thema
und Queen Elisabeth bewachen den gelben
Büchern werden noch einmal über dir zusammenbrechen
der Menschen, alle Großen haben dazu schon geschrie-
Reading Chair der Literaturkritikerin. Alle
und dich unter ihnen begraben“, hatte ihr erster Ehemann
ben! Ich war wahnsinnig, das zu tun.“ Für den viel gelob-
Bücher sind sorgfältig nach Themen und
warnend gesagt, als sie jung verheiratet waren. Zwar bra-
ten Titel erhielt sie den Ernst-Robert-Curtius-Förderpreis
Sprachen geordnet, der Platz bis in den
chen die Regale nicht zusammen – aber die Ehe. Schuld
für Essayistik. „Das Buch war kein Misserfolg, aber viel-
letzten Winkel ausgenutzt.
daran war ein kleines Buch. „Ich habe in Liebeserklärung
leicht nicht der Erfolg, den der Verlag erwartet hat. Es hat
Links: Lovenberg liebt die Haptik von ge-
von Michael Lentz erkannt, dass es nicht das Richtige
mich sehr demütig gemacht.“
bundenen Büchern, benutzt Kindle und
war.“ Über ihre Erkenntnisse schrieb sie 2005 selber ein
Felicitas von Lovenberg wuchs als Einzelkind im
iPad fast nie. In ihrer Privatbibliothek sind
Buch: Verliebe Dich oft, verlobe Dich selten, heirate
Münsterland auf. „A girl who lived in the land of books“ –
Ablageflächen eingebaut, bequem zum
nie?. Selbst hielt sie sich nicht an diese Maxime, seit
wie Paul Austers Heldin Alice aus seinem Roman Sunset
Blättern in alten Ausgaben und Nachschla-
2006 ist sie wieder glücklich verheiratet. „Ich schrieb das
Park. „Ich hatte immer ein Tier bei mir, ein Buch und et-
gewerken.
18
19
„
Felicitas von Lovenberg
Wenn jemand ein
Buch schlecht
macht, das ich
liebe, werde ich
zur Furie. Bücher
widersprechen
nicht, können
sich nicht
verteidigen.
„
oben: Das Thema Buch ist in vielen Räumen präsent: hier eine Holzskulptur des
Künstlers Ivon Illmer; das Bild an der
telt immer den Kopf über mich, wie man sich denn noch
Manschetten und habe immer noch gewisse Lücken. Ich
freiwillig Bücher anschaffen kann! Und mein Mann fällt
bin oft verzweifelt, weil ich noch viel mehr lesen müsste
immer über all die Stapel, die bei uns den Weg versper-
und bin mir meiner eigenen Defizite nur zu sehr bewusst.
ren.“ Sie findet es unseriös, wenn Journalisten sich jegli-
Manchmal liege ich nachts wach und denke: War der
chen Titel von den Verlagen erbitten. „Natürlich bekom-
Artikel über dieses Buch gut genug?“ Sie liest in der
men wir Vorab- und Leseexemplare, aber alles andere hat
Redaktion und auch zuhause grundsätzlich am Tisch und
man zu bezahlen, das hat der Autor verdient.“
hält es damit wie Marcel Reich-Ranicki. „Er sagte immer,
Lovenberg wählt ihre Lektüre nicht nach Namen
Wand ist eine Arbeit von Jochen Pankrath.
dass man sich zum Lesen in Anzug und Krawatte an den
rechts: Handschmeichler, nach und nach
aus. „Ich lese die Crème de la Crème, bin aber kein
Tisch setzen muss. Ich lese auch am Tisch, aufrecht.
gesammelt: Bücher aus verschiedenen
Label-Leser. Natürlich erwarten die Leser, dass ich meine
Großartige Literatur kann man nicht im Bett im Pyjama
Holzarten, auch von Ivon Illmer, daneben
Meinung zum neuen Martin Walser oder Jonathan
lesen. Auch nicht mit ungeputzten Zähnen.“
ein Stein zur Erinnerung an ihre Hochzeit.
Franzen habe. Seitdem ich die Redaktion leite, lese ich
rechte Seite: Eine Feuerstelle mit Büchern –
viel mehr deutsche Literatur, ich muss mich ja zu den
genden Flut der Neuerscheinungen aus? „Wahre Litera-
die Mitte des Hauses. Über dem Kamin
wichtigen Diskussionen äußern“, erklärt sie. „Gegenüber
tur ist Kunst. Sie steht über den herkömmlichen Dingen,
eine Gouache von Emil Schumacher.
deutscher Literatur hatte ich über Jahre hinweg gewisse
in ihr ist der göttliche Funke. Das einzelne Werk ist grö-
20
Was macht richtig gute Literatur in der überwälti-
21
Felicitas von Lovenberg
links: Der zierliche Tannenbaumsekretär
stammt aus Lovenbergs Elternhaus. Darüber ein dekoratives Penguin-Cover. Auf
dem Sekretär eine Sammlung von Ausgaben der legendären englischen Mitford
Sisters.
Sie sieht viele Bücher, die im herkömmlichen Sinne
nicht als bedeutend oder groß gelten, als wichtig an. „In
Büchern wie Schoßgebete von Charlotte Roche wird der
Perfektionswahn und die Rolle der Psychotherapie ver-
Fv
L
handelt, das ist einfach spannend für die Zeit, in der wir
—Mein schönster erster Satz:
mich auf mich selbst zurückgeworfen.
100 Seiten arbeiten. Ich lese dann Ge-
leben. Deshalb habe ich diesem Buch Raum im Feuille-
Ich achte gar nicht so sehr auf erste
Ich dachte mir: Wen belügst du eigent-
dichte von Wislawa Szymborska und
ton gegeben. Es ist entscheidend, wenn ein Buch Ge-
Sätze. Ich achte nur darauf, wenn sie
lich? Dich selbst! Hinter diese Erkennt-
Heinrich Heine.
dankenkaskaden auslöst. Das Thema Alzheimer, mit dem
so gut sind wie diese: „Alle glücklichen
nis konnte ich nicht mehr zurück.
unsere Gesellschaft sich gerade so intensiv beschäftigt,
Familien sind einander ähnlich, jede un-
habe ich in Arno Geigers Der alte König in seinem Exil,
glückliche Familie ist unglücklich auf
in Martin Suters Small World und in Jonathan Franzens
ihre Weise.“ Aus Anna Karenina von
—Ein Buch, das mich einmal
gerettet hat: Die Gedichte der Emily
Die Korrekturen so nah erlebt, als beträfe es den Vater
Leo Tolstoi. Und: „It is a truth universally
Dickinson helfen mir bei jeglichem Kum-
bei Einschlafproblemen helfen Adalbert
eines Freundes.“ Die herablassende Haltung mancher
acknowledged, that a single man in
mer, Schmerz oder jeder Verzweiflung.
Stifters Bunte Steine meiner Erfahrung
Intellektueller gegen kommerziell erfolgreiche Titel kann
possession of a good fortune must be in
sie nicht nachvollziehen. „Nur weil ein Buch erfolgreich
want of a wife.“ Aus Stolz und Vorurteil
ist, ist es nicht schlecht. Bücher, die sehr erfolgreich sind,
von Jane Austen.
sind oft sehr gut in dem, was sie sein wollen. Sie sind
—Ein Klassiker, der mich zu
Tode langweilt: Sterbenslangweilig
wäre nur ein Leben ohne Bücher. Aber
nach ziemlich zuverlässig.
—Ein Buch für Stunden der
Melancholie: Da braucht man sofort
etwas. Man kann sich nicht erst durch
—Dieses Buch hätte ich gerne
geschrieben: Harry Potter natürlich –
ßer als der, der es geschrieben hat. Das ist nicht planbar“,
nicht aus Zufall so erfolgreich. Und es gibt viele richtig
—Mein schönster letzter Satz:
der Beweis, dass man es mit Fantasie
sagt sie ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. „Ich bin
schlechte Bücher!“
„Nun lebten sie vergnügt, und es ging
und einer guten Geschichte weiterbrin-
ihnen wohl bis an ihr Ende.“ Aus Die
gen kann als die englische Königin.
fest davon überzeugt, dass Literatur immer das Gute im
Bücher nehmen fast Lovenbergs gesamte Zeit in
Menschen weckt, dass sie uns demütiger, offenherziger
Anspruch und auch in Freundschaften spielen sie eine
und dankbarer macht. Sie hat einen reinigenden, erhe-
wichtige Rolle: „Früher wurde ich viel auf Cocktails einge-
benden Effekt. Man kann in ihr Schönheit fühlen um ihrer
laden, aber oft habe ich mich gelangweilt und wollte nach
selbst willen.“ Lovenberg gibt zu, dass sie ihr Urteil über
Hause zu den Büchern. Wenn ich mich nicht gut unter-
—Ein Buch, das mein Leben
verändert hat: Liebeserklärung von
Bücher mit der Zeit ändert: „Man irrt oft! Manchmal fand
halte, ist es immer so. Ich werde dann ungnädig in Ge-
Michael Lentz, dem Bachmann-Preis-
so glücklich. Eine Frau flieht vor einer
ich ein Buch großartig und habe nach einem Jahr festge-
sellschaft, denn ich will lesen. Und ich freue mich auf das
träger 2003. Es war sein erster Roman,
Nachricht von David Grossmann. Eine
stellt, dass ich mich kaum noch daran erinnern konnte.
Alter, denn ich weiß: wenn ich eines Tages den Job nicht
ich habe ihn gelesen und mir war klar,
Geschichte von Liebe und Finsternis
Das Gedächtnis ist ein Qualitätskriterium!“
mehr mache, dann warten all die Bücher auf mich.“
meine Ehe ist zu Ende. Dieses Buch hat
von Amos Oz.
22
Goldkinder der Brüder Grimm.
—Auf meinem Nachttisch liegt:
Howards End is on the Landing von
Susan Hill. Dieses Buch macht mich
23
O
J
Fessle m ic h!
Olive r Jah n
Journalist und Chefredakteur von AD
125
Oliver Jahn
„
Rechts: Wohnzimmer eines Sammlers von
Mid-century-Objekten. Um den Tisch der
Architektin Katja Buchholz Stühle von
Ich habe ein
Charles Eames. Auf dem Sideboard aus den
starkes physisches
Ror Wolf und das Coverplakat zum ersten
1960ern zwei Collagen des Schriftstellers
Tintin-Comic von Hergé von 1930.
Verhältnis zu
Schnitte frei. „Ich warte auf die neuen Regale des Schrei-
Büchern. Ich mag es
ners und das ist immer noch eine Zwischenlösung. Aber
sie gefällt mir gut und vielleicht lasse ich es so“, sagt der
nicht, wenn man
41-Jährige. „Die meisten Bücher erkenne ich auch ohne
Einband. Und ich mache gerade lauter Ausgrabungen,
ihnen den Rücken
wie ein Archäologe.“
Jahn hat dieses intensive Körpergedächtnis für
bricht.
„
E
Bücher, das bei vielen Bibliomanen so ausgeprägt ist.
Bücher sind in ihn eingeschrieben, in sein Denken, sein
Wesen, in seinen Körper. Literatur war in seiner Familie
immer Teil des Lebens, auf unangestrengte Weise, nicht
mit bildungsbürgerlichem Habitus. Die Mutter arbeitete
als Buchhändlerin, der Großvater als Schriftsetzer. Bei
den Großeltern lernte Oliver die Bände der Büchergilde
r hat sie alle flachgelegt. So um die
Gutenberg mit ihren Künstler-Illustrationen kennen. „Ich
8 000. Und das ist nur ein Teil seiner
war immer ein richtiger Bücher-Nerd, und während meine
Liebhabersammlung. Oliver Jahn,
Schulkameraden im Badischen an ihren Mofas rum-
Chefredakteur der Architektur- und
schraubten, habe ich mich für Literatur und Design inter-
Kunstzeitschrift AD Architectural Digest,
essiert. Auf dem Land musste man das eher geheim hal-
lebt und arbeitet für die Schönheit. Er reist für ein groß-
ten“, sagt er. An sein erstes Buch erinnert er sich sichtbar
artiges Haus ohne Zögern nach Feuerland, sieht auf den
wohlig: „Ich hatte die große Ausgabe von Eric Carles Die
wichtigsten Kunstausstellungen der Welt nach, ob sie
Raupe Nimmersatt und fand es faszinierend, die Finger
wirklich so wichtig sind, er kann die revolutionäre Form
in die Löcher der dicken Pappseiten zu stecken. Ich be-
eines Stahlrohrmöbels oder die marmorne Weichheit
kam das Buch jeden Tag vorgelesen, konnte alles aus-
eines Betonkubus’ bis ins Detail beschreiben. Sein tiefes
wendig, las mit und schlug die Seiten im Takt um.“ Als er
„Ich“ ist aber nicht der Jetsetter im Dienst der guten
schließlich selbst lesen konnte, holten er und seine bei-
Form, sondern das des Bücherliebhabers. Jahn besitzt
den jüngeren Brüder wäschekorbweise Bücher aus der
rund 15 000 Bände, und da er gerade in eine neue Woh-
Leihbibliothek, und bald hatte Oliver ein eigenes Bücher-
nung gezogen ist, steht ein großer Teil seiner Bücher
bord. Die erste eigene Leseinsel, von der aus das mani-
nicht mit dem Rücken zum Betrachter im Regal, sondern
sche Sammeln begann: Er gab als Schüler sein ganzes
liegt auf der Seite und gibt den Blick auf die nackten
Taschengeld für Bücher aus, ackerte die zwölfbändige
126
127
Oliver Jahn
links: Auf dem Schreibtisch aus den
1950er Jahren zwei Bauhaus-Lampen, davor ein Stahlrohrsessel der Firma Mauser.
Das gerahmte Foto zeigt den Dichter Arno
Schmidt in den 60ern auf dem Sprungturm
eines Freibads.
unten: Auf dem Rollen-Beistelltisch aus
den 1950ern liegen Exemplare aus Jahns
Sammlung der Zeitschrift Gebrauchsgraphik aus den 1920er Jahren.
Ganz Unten: Bücherhimmel für jeden
Designliebhaber. Vor dem Regal zum Thema Mode ein Exemplar des Sessels Vostra
von Jens Risom mit original Vinylbezug.
128
129
Oliver Jahn
„
Meine Mutter
schlug drei Kreuze,
als ich zuhause
auszog. ich habe
in ihrer Buchhandlung auf das
Mitarbeiterkonto
jahrelang anschreiben lassen.
Shakespeare-Ausgabe durch, fuhr auf die Buchmessen
nach Frankfurt und Leipzig, besuchte Antiquariate und
„
kaufte Werkausgaben wie Wein – nach schönen Etiketten. Heinrich von Kleist wurde in diesen Jahren zu seinem Hausheiligen. „Kleists Prosatexte und die Zeitungsbeiträge für die Berliner Abendblätter haben mich sehr
geprägt. Ich habe mich bis zum Uni-Examen viel mit ihm
beschäftigt.“
Jahn studierte Germanistik, Philosophie und
Sprachwissenschaft in Saarbrücken und Kiel. Zu seinem
großen Glück wurde er als Hilfskraft seines Kieler Philosophieprofessors Chef der philosophischen Seminarbib-
oben: Ausgesuchte Abendlektüre, griffbereit auf der grünen tschechischen Stahl-
130
rohrgarderobe aus den 1930ern. Die
oben: Vor dem Billy-Regal ein Ausstel-
Vintage-Lampe stammt aus den 50ern.
lungsplakat des Designers Carlo Mollino,
links: Spielarten der Bücherliebe: Jahn
den Jahn als Mann mit hoher Geschwindig-
besitzt rund 1 000 Bände zu Themen wie
keit und zugespitzter Eleganz in allen
Bibliotheken, Büchersammler, die Ge-
Lebenslagen bewundert.
schichte des Papiers, lesende Helden und
links: Rimini blu: Vier Keramikobjekte aus
Bibliomane.
der Kollektion von Aldo Londi.
131
Oliver Jahn
Während des Studiums begann er Literaturkritiken
liothek. „Ich konnte jeden Tag die Büchersammlung mit
Jahn sieht die schönsten Häuser der Welt. Wie wür-
Linke seite: Geometrische Farbkompositi-
50 000 Bänden aufschließen, es war fantastisch, so et-
für die Kieler Nachrichten zu schreiben, wurde später
den denn seine Bücher wohnen, wenn er ihnen ein Zu-
on beim Blick vom Flur in die Küche.
was wie die schweinslederne Augustinus-Ausgabe aus
Feuilletonmitarbeiter der SZ und der Literarischen Welt.
hause bauen könnte? „Das weiß ich genau“, sagt er und
Neben der Tür ein Regal mit der Reihe
dem 16. Jahrhundert rauszuholen. Mit einem Freund ha-
2002 ging er als Arno-Schmidt-Spezialist zum Suhrkamp
man spürt, dass er schon oft darüber nachgedacht hat.
Bibliothek Suhrkamp, in der legendären
be ich dort wie in einer Lesehöhle gelebt, wir hatten mit
Verlag, wechselte danach zur Kunstzeitschrift Monopol in
„Ich träume von einem Haus aus grauem, poliertem
Einbandgestaltung von Willy Fleckhaus.
einem Bibliothekar so eine Art ‚Club der toten Dichter‘,
Berlin und entwickelte ein großes Faible für Möbel- und
Sichtbeton. Einer sechs Meter hohen Wohnhalle mit einer
oben: Teile von Jahns Sammlung von
haben Cordhosen und dicke Pullover getragen und uns
Objektdesign des 20. Jahrhunderts; von dort wurde er
Glaswand mit Blick in eine Berglandschaft wie auf den
Fifties-Geschirr aus der Melitta-Kollektion
unsere Schätze gezeigt“, sagt er. Er kaufte pro Tag zwei,
zu AD Architectural Digest abgeworben, seit 2011 ist er
Bildern von Claude Lorrain. Bunte skandinavische Teppi-
Minden von Jupp Ernst auf einem Beistell-
drei neue Bücher, trug jeden Titel mit laufender Nummer
Chef der Zeitschrift. „In der Redaktion lachen sie über
che, Fläz-Sofas und rötliche Teakholzmöbel. Und an drei
tisch. Dahinter ein Schulstuhl von Karl
in ein Kassenbuch ein, führte außerdem ein Lesetage-
mich, weil ich meine Bücher hüte wie meine Augäpfel. Ich
Seiten eine Bibliothek, in der meine 15 000 Bücher ste-
Nothelfer, beides aus den 50ern.
buch. Diese Gesten belächelt er heute. „Dieser heilige
setze Himmel und Hölle in Bewegung, wenn ich einen
hen. Alle in bischofslila Leinen gebunden, Titel und Auto-
Ernst ist mir fremd geworden. Aber die Lust ist immer
vergriffenen Katalog oder ein seltenes Buch brauche. Ich
ren in silberner Prägung.“ Er sieht diese Bücherhalle als
noch dieselbe wie früher.“ Seinen Namen schreibt er bis
bin ein knallharter Jäger, rufe Kuratoren oder Direktoren
moderne Nachfolgerin der traditionellen Fürstenbiblio-
heute mit einem feinen Bleistift in jeden Band. „Ich wollte
an“, gibt er zu. „Manchmal nehme ich mir lauter Bücher,
thek. „Früher bekamen die Fürsten nur den Buchblock,
in Büchern immer meine Spur hinterlassen. Das Anver-
lege sie auf den Boden, setze mich zu ihnen und schaue
ließen alle Bücher in eigene Gewänder binden und versa-
wandeln, Einverleiben, ein Ritual, die Inkorporation in den
sie mir einfach an. Das ist eine selige Zeit. So wie früher
hen sie mit ihren Wappen. Es war eine Art sich die Bü-
Bibliothekskörper – das war und ist mir wichtig.“
das Spielen mit meinen Matchbox-Autos.“
cher anzueignen. Das würde ich auch gerne tun.“
132
133
Oliver Jahn
O
J
—Mein schönster erster Satz:
—Ein Klassiker, der mich zu
Tode langweilt: Ha! Der Nachsom-
ich vor zwei Jahren gemacht, weil ein
Freund eine Doktorarbeit über die Archi-
—Dieses Buch hätte ich gerne
geschrieben: Die Strudlhofstiege
mer von Adalbert Stifter. Ich habe vier-
tektur des Rosenhofs in dem Roman
von Heimito von Doderer. Ich habe ein
mal versucht ihn zu lesen. Viele tote und
schrieb. Ich habe 200 Seiten geschafft
Faible für große panoramische Gesell-
lebende Gewährsleute haben dieses
und dann sind meine Augenlider wieder
schaftsromane und die untergehende
Buch geschätzt wegen seiner Land-
runtergeklappt. Unmöglich.
k.u.k.-Welt. Es ist toll, wie er die Treppen-
schaftsbeschreibungen. Also dachte ich,
anlage zum Symbol der Zeitgeschichte
da muss wirklich was dran sein. Aber ich
macht und wie der erste Satz die Ge-
kann es nicht. Den letzten Anlauf habe
schichte eröffnet.
—Auf meinem Nachttisch liegt:
Immer nur ein Buch. Ich lese nie mehrere Bücher gleichzeitig. Aber ich lese
dasselbe Buch oft mehrmals. Gerade
ist es Ein letzter Sommer von Steve
—Ein Buch für Stunden der
Melancholie: In Stunden der Melan-
Tesich. Es geht um den Abschied von
„Lange Zeit bin ich früh schlafen gegan-
—Ein Buch, das mein Leben
verändert hat: Wahrscheinlich die
gen.“ Aus Marcel Prousts Auf der Suche
Romane von Arno Schmidt. Ich habe sie
cholie lese ich keine Literatur, da schaue
sen Vater im Sterben liegt und der seine
nach der verlorenen Zeit.
mit 17, 18 Jahren entdeckt. Sie sind vol-
ich mir meistens Kunstbücher an. Am
erste Liebe erlebt. Eine typische Co-
Grandios ist auch der Satz: „Jakob ist
ler Humor, mit einem starken Vibrato
liebsten Claude Lorrain und Schweizer
ming-of-Age-Geschichte. Hinreißend!
immer quer über die Gleise gegangen.“
und scharfzüngig. Sie sind recht kurz,
Landschaftsmaler des 18. Jahrhunderts.
Das ist aus Mutmaßungen über Jakob
aber diese Gewalt! Diese präzise, bildrei-
Da geht es entweder um die Idylle oder
von Uwe Johnson. Ich bin ein totaler Fan
che, anspielungsreiche Sprache geht in
die landschaftliche Überwältigung des
von ersten Sätzen.
den Händen los wie ein Feuerwerkskör-
Menschen. Das beruhigt mich.
der Jugend eines jungen Mannes, des-
per. Er gibt einem kleine Rätsel auf, die
—Mein schönster letzter Satz:
man nicht immer entschlüsselt.
Es ist der Schluss von Arno Schmidts
schichte Seelandschaft mit Pocahontas,
—Ein Buch, das mich einmal
gerettet hat: Diese Idee ist für mich
die in den 1950er Jahren spielt. Nach
zu weit gegriffen. Es gibt aber wichtige
einigen glücklichen Ferientagen am
Autoren, die mich lange begleiten wie
Dümmer verabschiedet sich die Frau
Heimito von Doderer und Marcel Proust.
von dem Helden, mit dem sie ein paar
Ich habe Auf der Suche nach der verlo-
romantische Tage am See verbracht hat,
renen Zeit dreimal gelesen, es hat mich
und steigt in den Bus, er bleibt zurück.
alle drei Male nicht gerettet, aber sie
links: Zeitgenossen: Das Lesesofa von
Und dann der Schlusssatz: „Mein Kopf
sind ein Vademecum und in ihnen fühle
Oliver Jahn ist ein Vintage-Stück aus den
hing noch voll von ihren Kleidern und ich
ich mich zuhause. Aber ich bin kein Es-
1950ern mit original taubenblauem Samt-
antwortete nicht.“ So schön und so trau-
kapist, ich lebe sehr diesseitig, mag auch
bezug. Dahinter eine alte Arztlampe der
rig. Lesen Sie mal die Erzählung.
Skifahren und Schuhe kaufen.
Firma Baisch.
wunderbarer Sommer- und Liebesge-
134
135
S
C
D e r T r a u m v o m G e d ä c h t n i s d e r W e lt
S i by l l e C a n o n i c a
Schauspielerin
137
Sibylle Canonica
D
en wunderbarsten Traum meines
Mit einem haarfeinen Pinsel malt er mir unbekannte Hie-
Lebens habe ich über Bücher gehabt
roglyphen an die Wand, er malt Buchrücken.“
Sibylle Canonica schließt die Augen, nimmt einen
– es ist schon lange her, aber ich
habe ihn nie vergessen!“, sagt die
Bleistift vom Tisch und zeichnet langsam Schriftzeichen
Schauspielerin Sibylle Canonica, als
in die Luft. „Ich frage ihn, was er da tut – und der Mönch
wir in der Dämmerung in ihrer Schwabinger Atelierwoh-
sagt: ‚Hier sind alle Bücher. Die Bücher, die es schon gibt
nung sitzen und draußen vor dem Nordfenster dicke
und diejenigen, die es noch geben wird. Ich halte ihnen
Schneeflocken durch das Abendgrau fallen. Zwischen
den Platz frei.‘ “ Die Schauspielerin öffnet die Augen wie-
uns ein langer Tisch, auf ihm sehr ordentlich ausgelegt
der, legt den Stift ab, sieht aus, als erwache sie aus ei-
die Texte für eine Lesung über Ikarus. Seit Stunden spre-
nem tiefen Minutenschlaf und sagt: „Diesen Traum habe
chen wir über Bücher. Und plötzlich steigt die Erinnerung
ich nie vergessen, denn er zeigte mir das Gedächtnis der
an einen Traum auf: „Ich stehe in einer riesigen romani-
Welt, das noch Lücken hatte. Dieser lichtdurchflutete
schen Kirche auf abgetretenen Steinplatten. Nur Stühle,
Raum hatte eine solche Klarheit und Ruhe. Er hat die Ah-
keine Kirchenbänke – und ringsherum an den Wänden:
nung gezeigt, wenn alles da ist.“ Die Sehnsucht: dass al-
lauter alte Bretter. Meterlang. Darauf Bücher. Und immer
les da ist. Alles geklärt, verhandelt und gelöst in Literatur.
wieder Lücken zwischen den Büchern. Weit hinten in der
Für eine Frau der Bühne ein ständiges Anrennen an Wor-
Ecke in der Dunkelheit hockt ein Mönch. Ich gehe hin
te. Denn sie schlüpft in Texte, zieht sich Rollen an, geht
und sehe ihm über die Schulter, um zu sehen, was er tut.
durch sie hindurch. Sie spricht, bewegt, atmet Bücher.
„Ich stamme nicht aus einer typischen Künstlerfamilie und musste mir die Wahrnehmung für das Ohr, das
Auge selbst erarbeiten. Das hat auch Vorteile“, sagt die
1957 geborene Schauspielerin, deren Familie aus
einem kleinen Dorf im Tessin stammt. Canonica wuchs
in Zürich auf, studierte Schauspiel an der Folkwangschule
in Essen, kam über das Staatstheater Stuttgart und das
Düsseldorfer Schauspielhaus an die Münchner Kammerspiele und ans Bayerische Staatsschauspiel. Sie gibt
Lesungen, liest Hörbücher ein, spielt in Kino- und Fernsehfilmen. Unvergesslich ist sie in Caroline Links Film
Jenseits der Stille und im Goethe-Film Die Braut als
Charlotte von Stein geblieben.
rechte seite: Das Lesepult mit dem alten
Drehhocker ist Lese- und Studienplatz.
Im Hintergrund erscheint die Deutschlandkarte als topografisches Buch – Canonica
liest mit Leidenschaft Land- und Seekarten.
138
„
Sibylle Canonica
Hölderlin,
Kleist,
Bernhard. Das
sind die Bücher,
die man notfalls
in den Koffer
schmeiSSt, wenn
das Haus brennt.
in ihrer Wohnung mit dem typischen Schwabinger Atelierzimmer. Canonica hat in diesem Wohn- und Arbeits-
„
Privat lebt sie intensiv mit der ihr wichtigen Literatur
Schwingung, Regung, gerade entstehende Idee aufneh-
mal um die eigene Achse gedreht. Die Texte Über das
es auch auf Englisch und Französisch so. Ich kann mich
men und zurückfunken.
Marionettentheater und Über die allmähliche Verferti-
der Sprache überlassen, man kapiert den Text oft, bevor
gung der Gedanken beim Reden habe ich so oft gelesen
man ihn verstanden hat.“ Und wenn diese Frau spricht,
Einen neuen Text zu lernen ist für sie bis heute
raum nur wenige Bücher stehen: Kleist, Hölderlin, Bern-
eine aufregende Sache. „Man muss ihn ergründen, den
und war so beglückt, dass ich immer dachte: Ich möchte
möchte man sich als Zuhörer ihrer Sprache überlassen.
hard. Hier trifft sich die 52-Jährige mit Schauspielerkolle-
Impetus des Autors spüren, in seine Regionen kommen,
jetzt mit Kleist reden. Und nach den Aufführungen von
Den Kopf auf die Platte des Holztisches legen, vor dem
gen zu Leseproben, macht Tonaufnahmen. „Meistens ist
sich auf die Spur machen wie auf einem Pfad im Gebirge,
Amphitryon und dem Zerbrochenen Krug hätte ich ger-
sie sitzt, und ihr zuhören. Nur zuhören.
Lesen verbunden mit Arbeit. Wenn ich beruflich lese,
muss Orte suchen, die man von unten nicht ahnt. Man
ne ein Telegramm in den Dichterhimmel geschickt, um
dann sehr zielgerichtet, da geht man in Klausur.“ Die
lebt mit dem Text intensiv. Das Leben verändert ihn.
ihm zu sagen, wie er mich berührt. Goethe nimmt einen
linke seite: Hoher Lebensraum. Am lan-
Masse der Bände vom Reiseführer bis zum Lexikon steht
Wenn der Text gut ist, kann man unendlich lang mit ihm
mit zu einer Reise um und durch die ganze Welt und zu-
gen Esstisch der Schwabinger Atelierwoh-
in Regalen und in Kisten im Flur, vor der Tür zu ihrem ei-
leben. Ich habe Wer hat Angst vor Virginia Woolf von
rück. Aber mit Kleist steht man an ihrer Abbruchkante.“
nung lernt die Schauspielerin ihre Rollen
gentlichen Lebensraum. Man spürt im Gespräch: diese
Edward Albee 140-mal gespielt und nach jeder Auffüh-
Doch letztlich besitzt der Text für Sibylle Canonica
Frau ist durch ihren Beruf gewöhnt, auf mehreren Ebe-
rung dachte ich: Wie gut geschrieben!“
nen gleichzeitig zu beobachten und zu reagieren. Ein
Dieses Gefühl gilt auch dem Autor, der ihr beson-
Mensch mit unzähligen feinen Antennen, die jede
ders nahe steht: Heinrich von Kleist. „Kleist hat mich ein-
140
mit Blick über die Dächer der Stadt.
eine ganz eigene Macht: „T. S. Eliot hat Dantes Göttliche
oben: Jeder Text bekommt seinen Platz,
Komödie auf Italienisch gelesen, obwohl er gar kein Itali-
Worte erhalten Bedeutung. Sibylle Canoni-
enisch konnte. Aber er hat sich durchgekämpft. Mir geht
ca bei der Vorbereitung einer Lesung.
141
Sibylle Canonica
S
C
—Ein Buch für Stunden der
Melancholie: Melancholie? Heute
—Auf meinem Nachttisch liegt:
kommt das Wort ja kaum noch vor, man
schein und im Schatten von Christian
spricht viel von Depression. Wenn man
Kracht. Ein hochbegabter Autor. Dür-
UNTEN: Nur das Wesentliche darf ganz nah
sie als Zugang zur Nachtseite des Le-
renmatt oder Die Ahnung vom Ganzen
kommen. Im Atelierzimmer stehen die Ge-
bens sieht: Haikus. An einem gewissen
von Peter Rüedi. Minotaurus von Dür-
samtausgaben der Lieblingsautoren neben
Punkt kann man nur diese kleinen japa-
renmatt, ein kaum bekannter Text.
ausgesuchten Erinnerungsstücken aus
nischen Dreizeiler lesen. In der Melan-
4.48 Psychose von Sarah Kane.
ihrem Leben.
Zur Zeit Ich werde hier sein im Sonnen-
cholie hat man die Ruhe sie zu lassen,
wie sie sind.
—Ein Klassiker, der mich zu
Tode langweilt: Das Wort Klassiker
hat mich immer erschreckt. Man hat
Angst: Das verstehe ich nicht, das kennt
—Mein schönster erster Satz:
—Mein schönster letzter Satz:
doch jeder, aber ich habe keinen Zugang
Wenn ein Buch so gut ist, dass es einen
—Ein Buch, das mein Leben
verändert hat: Schwierig. Das be-
„Es war einmal ...“ Ein verheißungsvoller
Satz, der innerlich alle Türen aufstößt. So
gefangen hält, dann will man den letzten
rühmte Werther-Erlebnis hatte ich nie.
Das heißt für mich: Diese Literatur
haben immer die Geschichten angefan-
Satz nicht lesen. Ich bin dann wie ein
Aber die Begegnung mit den Büchern
ist absolut wind- und wasserfest. Was
gen, die ich mir für meinen Sohn ausge-
Esel, der sich sträubt, denn ich will noch
von Robert Walser hat mir in jungen
schwach ist, löst sich auf und flattert
dacht habe. Schön ist auch ein Satz aus
und noch fünf Seiten mehr. Konkret fällt
Jahren Räume eröffnet.
weg. Klassiker haben Bestand. Ich
dem ersten Kapitel des Don Quichotte.
mir Kleists Amphitryon ein. Der letzte
Es ist kein erster Satz, aber da das Buch
Satz ist nur ein einziges Wort: „Ach!“
so dick ist, ist er für mich so etwas Ähn-
dazu. Klassiker haben schon ihren Sinn.
musste relativ alt werden, um die Angst
vor der Ilias von Homer zu verlieren. Ich
Dieses „Ach“ der Alkmene ist so viel.
—Ein Buch, das mich einmal
gerettet hat: Ich hatte kein Buch zur
liches: „Schließlich versenkte er sich so
Alkmene, die die treueste Gattin war und
Hand, wenn ich es hätte brauchen kön-
stürzt und war dann so beglückt und be-
tief in seine Bücher, dass ihm die Näch-
nur Augen für Amphitryon hatte, ist fas-
nen. Und außerdem ist es doch so:
geistert. Bevor man gehen muss, muss
te vom Zwielicht bis zum Zwielicht und
sungslos, dass sie ihn ungewollt betro-
Wenn man schon wieder an Bücher den-
man dieses gigantische Buch lesen! Da
die Tage von der Dämmerung bis zur
gen hat. Sie weiß nicht mehr, wer sie ist,
ken kann, ist man bereits halb gerettet.
finden Sie Drama, epische Schlachten-
Dämmerung über dem Lesen hingingen;
ein ganzes Gebäude fällt für sie zusam-
gesänge, Götter und Menschen – das ist
und so, vom wenigen Schlafen und vom
men. Es öffnet sich schlagartig alles
ganz großes Kino! Aber noch einmal zu
vielen Lesen, trocknete ihm das Hirn so
nach oben und unten. Und es bleibt of-
Ihrer Frage: Ich habe keine Lust, einem
aus, dass er zuletzt den Verstand verlor.“
fen, in welche Richtung sie danach ge-
Autor eine aufs Dach zu geben, aber
Ich hatte immer Angst vor diesem dicken
hen wird. Wird alles ein Horror bleiben
wenn Sie schon fragen: Hesses Glas-
Buch. Aber das ist unbegründet. Man
oder wird sie sich in eine lebenskluge
perlenspiel, das viele sehr mögen, ist
muss den Don Quichotte einfach lesen –
Frau verwandeln? Das ist Kleist.
gar nicht meins.
habe mich in die 24 Gesänge reinge-
auch weil viele Künstler sich auf dieses
—Dieses Buch hätte ich gerne
geschrieben: Vor dem Schreiben
wunderbare Buch mit seinen Motiven
bezogen haben wie auf die Bibel.
habe ich viel zu viel Respekt.
142
143
• Exklusive Einblicke in die Räume bekannter Persönlichkeiten
• Eindrucksvolle Porträts über Moderatorin Barbara Schöneberger,
Schauspielerin Sibylle Canonica, Gourmetkritiker und Autor
Wolfram Siebeck, Verleger Gerhard Steidl und viele andere
• Das neue Buch der Bestseller-Autorinnen
Stefanie von Wietersheim und Claudia von Boch
Zeig mir WaS du lieSt und iCh Sage dir, Wer du BiSt.
Frei nach diesem Motto traf Stefanie von Wietersheim 20 starke
Persönlichkeiten. Autor Prinz Asfa-Wossen Asserate, Publizistin
Necla Kelek, Autorin Ildikó von Kürthy, Verleger Florian Langenscheidt
und weitere interessante Protagonisten öffneten Haus und Herz.
Die Autorin erfuhr in vertrauten Gesprächen, welche Rolle Bücher
in ihren Leben spielen. Es entstanden intime Porträts mit spannenden
Lebens- und Lesegeschichten. Alle stellten sich den literarischen und
persönlichen Fragen mit Esprit, Witz und Ernsthaftigkeit. Fotografin
Claudia von Boch fand ausdrucksstarke Bilder für die Personen in
ihren Lesewelten.
ISBN 978-3-7667-1934-8
,!7ID7G6-hbjdei!
www.callwey.de
http://vom-glueck-mit-buechern-zu-leben.de