Don`t break the rule – change it«
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Don`t break the rule – change it«
Nicola Kriesel »Don't break the rule – change it« Ein Besuch in der Sands School in Ashburton, England Die Internationale Konferenz für demokratische Bildung (IDEC – International Democratic Education Conference) fand dieses Jahr vom 4. bis 14. Juli in Ashburton, Devon, England statt und traf dort die Europäische Gemeinschaft für Demokratische Bildung (EUDEC – European Democratic Education Community). Die ausrichtende Schule war die Sands School in Ashburton, Gründungsmitglied von EUDEC und langjähriger Teilnehmer der IDEC. Eines der ersten IDEC-Treffen fand in den 90er Jahren schon in Sands statt. Ashburton ist ein kleiner Ort in der Grafschaft Devon im Südwesten von England, die Gassen sind eng und die Menschen »very british«, bei einem Spaziergang durch das Städtchen fühlte ich mich in einen Agatha Christie Krimi versetzt. Der Ort wirkt wie die Filmkulisse für einen englischen Film – die Häuser klein und bunt auf den beiden Hauptstrassen ein kleiner Laden neben dem anderen – Fruits and Vegetables, Gifts and Cards, Moor Chocolate, ein Bioladen, ein Krämerladen, ein Spar-Supermarkt, eine Food-Cooperative, die Post macht den Eindruck, als sei in ihr die Zeit vor 60 Jahren stehengeblieben, und die freundliche Dame hinter der Glasscheibe sieht so aus, als sitze sie dort ebenso lang. Fast vermittelt der Ort den Eindruck eines Museumdorfes. Haus und Park Zwischen all diesen sehr britisch anmutenden Orten findet sich ein ganz besonderer: von außen fast unscheinbar, reiht sich die Sands School in die Reihe der Häuser in der Hauptstraße ein: weiß gestrichenes Gebäude, etwas größer als die anderen und mit einem Holztor zur Einfahrt versehen. Hinter diesem Tor, ein paar Meter die Einfahrt runter und am Gebäude vorbei eröffnet sich ein parkartiger Garten von fast 5000 qm, der in diesem kleinen Städtchen eine echte Überraschung ist. Es finden sich auf dem Areal neben vielen kleinen angelegten Beten auch etliche Verstecke, Gebüschhöhlen und Baumhäuser. Sogar einen eigenen Tennisplatz hat Sands. Hier und da eine Schaukel und in einer der alten Backsteinbauten auf dem Gelände finde ich Trainingsgeräte wie aus dem Fitnessstudio, nur nicht mehr so fit. Gleich nebenan steht eine Halfpipe, die sichtbar viel genutzt wird. Das Gebäude der Sands School hält nicht minder wenige Überraschungen bereit. Im Erdgeschoss gibt es den Theaterraum mit eigener Kostümwerkstatt, die Schülerinnen und Schüler der Sands School haben während der ganzen Konferenz jeden Tag unterschiedliche Stücke aufgeführt, die professionell inszeniert waren und die Besucher sehr berührten. Außerdem gibt es eine Küche, in der Sean Bellamy, einer der Gründer der www.unerzogen-magazin.de Sands School, mit den Jugendlichen kocht und backt und die auch als Essraum fungiert. Im Flur findet sich direkt neben der Bürotür das Anwesenheitsbrett, das scheinbar universal in Freien Schulen verwendet wird. Jeder Schulbeteiligter hat dort ein Schildchen mit seinem oder ihrem Namen drauf und es gibt verschieden Möglichkeiten, wo das Schildchen an diesem Brett hängen kann. Folgende »Abteilungen« sind in Sands vorhanden: »in der Schule«, »zu Hause«, »in der Stadt«, »auf einem Ausflug« und »ist früher nach Hause gegangen.« Der Kunstlehrer Steve Hoare ist schon seit 18 Jahren in Sands und erzählt, dass er mit dem Anwesenheitsbrett immer wieder durcheinander kommt: »Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, das täglich zwei mal zu machen, deswegen passiert es dann, dass ich manchmal wochenlang immer in der Schule bin, oder in den Ferien auf einem Ausflug oder abends im Garten – wenn man dem Brett glaubt.« Er lacht. Eine herrschaftliche, mit dickem Teppich ausgelegte Wendeltreppe führt in die oberen Stockwerke, wo sich neben dem Musikraum einige Lernräume, eine Lounge, ein Computerraum mit ca. 20 Rechnern findet und wo ich neugierig hinter kleine Türen schaute, von denen ich dachte, da verbirgt sich vielleicht eine kleine Kammer. Aber nein – dort fanden sich mehrere kleine Treppenhäuser, durch die man auf vermeintlich geheimen Wegen aus anderen Richtungen wieder Zugang zur Küche, oder zum Kuppelraum im zweiten Stockwerk finden kann. Die Schule gehört der Schulversammlung Da ich während der Konferenz an einem Samstagnachmittag zum Scones backen und Cream Tea trinken in der Sands School war, habe ich keinen Unterricht oder ähnliches erleben können. Ich hatte auf der Konferenz jedoch Gelegenheit, mit Schülerinnen, Lehrern und Ehemaligen der Sands School zu sprechen. Die Sands School wurde 1987 gegründet und startete mit 22 Schülern in der Küche eines Bauernhofes, glücklicherweise fanden die Gründer das Gebäude in Ashburton zügig und waren nicht Nicola Kriesel 1968 geboren und Mutter zweier Kinder, ist Juristin und Mediatorin und arbeitet seit 2005 als Organisationsentwicklerin im Team der SOCIUS Organisationsberatung gGmbH, Berlin. Ihr besonderes Interesse gilt der Entwicklung Freier Schulen. nur vom Hauptgebäude sondern auch von den Nebengelassen begeistert, die im Laufe der Zeit zu Atelier, Holz- und Töpferwerkstatt ausgebaut wurden und nun der Schule ihren kreativen Charakter verleihen. Heute besuchen 65 Menschen im Alter zwischen 10 und 18 Jahren die Sands School und werden dort in ihrer Entwicklung von sechs Vollzeit- und sechs Teilzeit-Mitarbeitern begleitet. Bevor die Kinder an die Sands School gehen können, besuchen die meisten von ihnen eine reguläre staatliche Grundschule, einige wenige verbringen ihre Grundschulzeit in der ebenfalls in Devon gelegenen Park School, die zwar nicht nach den EUDEC-Standards demokratisch arbeitet, aber doch eine freie selbstbestimmte Lernumgebung für junge Kinder bietet. Organisiert ist die Schule rechtlich als »limited company« und Eigentümer ist die Schulversammlung. Auch in England wären es regulärer Weise Vorstände und Mitglieder oder Gesellschafter, die eine »limited company« betreiben, der Sands School ist es jedoch gelungen, das alles an einen Aufsichtsrat zu übertragen, der ausschließlich darüber wacht, dass die Schule funktioniert und rechtliche Aspekte der Finanzierung verantwortet. Alles andere wird wie in Demokratischen Schulen üblich von der Schulversammlung entschieden: die Mitarbeiter werden gewählt, genauso wie die Schüler, Gehaltsentscheidungen richten sich nach der finanziellen Situation der Schule, hier wird dann meistens ein Vorschlag der Mitarbeiter gemacht, der von einer Vertrauensperson der Schulversammlung, z. B. dem Schatzmeister erklärt und dann von der Schulversammlung ratifiziert wird. (Siehe zu Schulversammlungen auch den Artikel 3/2011 unerzogen 41 von Henning Graner »Schulversammlungen in Demokratischen Schulen – Warum parlamentarische Verfahrensweisen wichtig sind« in Heft 4/09.) In der Schulversammlung entscheiden die Beteiligten auch über die Regeln, die an der Schule gelten sollen. Die Aufforderung »Don’t break the rule – change und manchmal von freiwilligen Lehrern, die in Sands Erfahrungen an einer Demokratischen Schule sammeln wollen. Die Rolle der Eltern beschränkt sich darauf, den Prozess ihrer Kinder zu begleiten, das können sie über Kontakt zum Tutor des Kindes machen, den die Kinder sich selbst aussuchen. Grund- Die Schülerinnen und Schüler betrachten die Schule wirklich als ihre Angelegenheit und setzen sich für sie ein. it« (»Breche nicht die Regel – ändere sie«) fand ich auf einem Zettel im Computerraum, sie symbolisiert für mich eine Kultur, die es nicht nur an der Sands School, sondern auch an allen Demokratischen Schulen gibt, die ich bisher besucht habe: Der Aufruf zur Beteiligung und Gestaltung an der eigenen Umwelt, der die Einladung und die Möglichkeit beinhaltet, sich einzubringen und mitzuentscheiden, wie was in der Schule geregelt ist. Und wenn mir etwas nicht passt, muss ich kein Regelbrecher werden, sondern kann die Schulversammlung nutzen, um die Regel zu verändern. Die Schule wird hauptsächlich durch das Schulgeld der Eltern finanziert (6000 britische Pfund im Jahr pro Kind). Es gibt aber auch Wohlfahrtsverbände, die einzelne Familien unterstützen, und einige wenige Schulplätze werden sogar von den Behörden bezahlt. Von den 65 Schülern werden etwa 10 auf diese Art unterstützt, für alle anderen zahlen die Eltern die volle Schulgebühr, manchmal abgefedert durch Stipendien. Die Schule hat ein System entwickelt, bei dem 10 bis 15 % der Einnahmen der Schule in Stipendien fließt. Bellamy erklärt, dass es manchmal gelingt, mit den Behörden höhere Gebühren zu verhandeln, weil das Kind besonders intensiv betreut werden muss. Die Rolle der Eltern Sean Bellamy erzählt, dass die Eltern keine große Rolle an der Schule spielen, manche bieten ihre Freiwilligenarbeit an, diese wird für handwerkliche Arbeiten auch gerne in Anspruch genommen. Grundsätzlich wird die Schule aber von den Schülern und Mitarbeitern geführt 42 unerzogen 3/2011 sätzlich will die Sands School eine Schule sein, in der Kinder und Jugendliche sich möglichst frei von der Beobachtung ihrer Eltern entwickeln können. Die Schule sieht ihre Verantwortung darin, den Kindern diese vertrauensvolle Atmosphäre zu gewähren und einen ehrlichen Dialog mit den Eltern zu führen. Sean Bellamy sagt, dass die Schüler nur in die Schule kommen sollten, wenn sie auch wollen, dass also niemand kommen muss. Gleichzeitig erwähnt er, dass der Druck der Eltern und der Gesellschaft dafür sorgen, dass die Schüler ohnehin kommen. Er hofft, dass sie da sind, weil sie ihre Schule mögen und berichtet, dass viele sagen, dass es genauso ist. Dennoch sei es manchmal schwer zu unterscheiden, was stimmt, weil so viel Stigmatisierung damit verbunden ist, wenn jemand Schule verweigert. Schüler in Sands Mein persönlicher kleiner Eindruck der Sands Schülerinnen und Schüler, die mit der Sands Absolventin Chloe Duff die IDEC@EUDEC organisierten und fast 600 Gäste aus aller Welt für zehn Tage versorgten, Fragen beantworteten, Busverbindungen überprüften, auf- und umräumten, feierten, war, dass die Schüler ihre Schule sehr mögen und hochgradig mit ihr identifiziert sind. Das ist im übrigen etwas, was an vielen Demokratischen und Freien Schulen immens auffällt: Der hohe Grad an Identifizierung mit der Schule. Die Schülerinnen und Schüler betrachten die Schule wirklich als ihre Angelegenheit und setzen sich für sie ein. Die Schüler sind in Sands in Altergruppen eingeteilt, jedenfalls ab etwa 13 Jahren, wenn sie anfangen, auf freiwilliger Basis die Kurse für die Abschlussprüfungen zu besuchen, die es ihnen später ermöglichen, aufs College zu gehen. In der Regel verlassen sie die Sands School mit 17 Jahren. Pro Jahrgang werden in Sands nur 15 Schülerinnen und Schüler aufgenommen, wenn sich jemand von außerhalb z. B. als Gastschüler bewirbt, hängt die Aufnahme davon ab, was sein Anliegen in Sands ist: Möchte er Englisch lernen? Oder will sie die vielen Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks nutzen, die Sands bietet? Will jemand tatsächlich nach Sands, um eine britische Collegezulassung zu erwerben, muss er sich rechtzeitig bewerben. Sean Bellamy stellt klar: »Bei all der Weite und Freiheit, die wir in Sands haben, verlangen wir von den Schülern, dass sie zur Schule kommen, weil sie es wollen, sie sollten die Bereitschaft haben, sich auf das Lernen einzulassen, egal wie vage das vielleicht am Anfang ist. Wir sind kein Jugendklub. Und die anderen Schüler akzeptieren neue, die sich nicht aufs Lernen einlassen, nicht.« Abgesehen von den Kursen, in denen die Schüler nach Alterstufen aufgeteilt sind, gibt es im Schulalltag viele Möglichkeiten, sich zwischen den verschiedenen Alterstufen zu begegnen: beim Sport, in der Tischlerei, im Atelier, im Theater, bei den Versammlungen und natürlich bei den vielen sozialen Interaktionen und Begegnungen, die die Schulgemeinschaft füreinander bereit hält. Für deutsche Schulen selbstverständlich, für eine englische Schule besonders erwähnenswert: Es gibt keine Schuluniformen an der Sands School in Ashburton, Devon! Sands School Adresse: 48 East Street Ashburton Devon TQ13 7AX United Kingdom WWW: www.sands-school.co.uk Schüler: 65 (10-18 Jahre) Lehrer: 6 Vollzeit- und 6 Teilzeitmitarbeiter diverse Honorarkräfte und Freiwillige Schulgeld: 6000£/Jahr www.unerzogen-magazin.de Impressum Herausgeber: Sören Kirchner Chefredakteurin: Sabine Reichelt (sr) (V.i.S.d.P.) Redaktion: Johanna Gundermann (jgm) Layout: Sören Kirchner Nächstes Heft 4/11: Dezember 2011 Anschrift Redaktion und Verlag: Redaktion »unerzogen« tologo verlag Garskestr. 31 04205 Leipzig Tel: 0341/2562069 Fax: 0341/2562075 redaktion@unerzogen-magazin.de www.unerzogen-magazin.de Geschäftsführer: Sören Kirchner Anzeigen: Sören Kirchner Tel: 0341/2562069 Fax: 0341/2562075 anzeigen@unerzogen-magazin.de www.unerzogen-magazin.de/anzeigen Aboservice und Preise: Preise: Heftpreis: 6,90 Euro, Jahresabo (4 Ausgaben): 24,00 Euro frei Haus innerhalb Deutschlands. Bei Lieferungen ins Ausland fallen zusätzliche Versandkosten von 2,50 Euro pro Heft an. 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