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UNIVERSITY OF CINCINNATI January 25, 2008 Date:___________________ Laura Terézia Vas I, _________________________________________________________, hereby submit this work as part of the requirements for the degree of: Doctorate of Philosophy (Ph.D.) in: German Studies It is entitled: Orbis pictus: Intermedialität zwischen Berliner Stadtmalerei und literarischer Stadterfahrung dargestellt anhand der Werke von E.T.A. Hoffmann und Wilhelm Raabe This work and its defense approved by: Dr. Katharina Gerstenberger Chair: _______________________________ Dr. Sara Friedrichsmeyer _______________________________ Dr. Richard E. Schade _______________________________ _______________________________ _______________________________ Orbis pictus: Intermedialität zwischen Berliner Stadtmalerei und literarischer Stadterfahrung dargestellt anhand der Werke von E.T.A. Hoffmann und Wilhelm Raabe A thesis submitted to the Division of Research and Advanced Studies of the University of Cincinnati In partial fulfillment of the requirements for the degree of DOCTORATE OF PHILOSOPHY (Ph.D.) in the Department of German Studies of the College of Arts and Sciences 2008 by Laura Terézia Vas BA in German and History, University of Szeged, 1999 MA in German, University of Cincinnati, 2001 MS in Architecture, University of Cincinnati, 2007 Committee Chair: Dr. Katharina Gerstenberger Committee Members: Dr. Sara Friedrichsmeyer Dr. Richard E. Schade Abstract Orbis Pictus: Intertextuality between Visual Arts and Literature in 19th-century Berlin Texts in Works of ETA Hoffmann and Wilhelm Raabe This dissertation explores the relationship between the visual and textual Berlin representations of E.T.A. Hoffmann and Wilhelm Raabe and architectural and city paintings among others by Karl Friedrich Schinkel, Eduard Gaertner and Adolph Menzel. Besides interart comparison the dissertation uses non-fictional aesthetic writings, sociohistorical analyses and contemporary concepts of urban planning in the analyses of canonical Berlin texts. As city texts often bear an explicit or implicit affinity to the art of painting, concepts and techniques such as the elevated view, window view and the bird’s eye view in text and images are compared in Berlin texts and paintings. The dissertation argues that the innovative visual and textual representations of the civic spaces of Berlin served as frame for transforming the Berliners’ relationship to their urban environment and raised a new urban consciousness. The dissertation argues that early city texts and city paintings reflect similarly upon a new significance of seeing and a changing urban perception. The introduction is devoted to methodological questions as it explores the necessity of an interdisciplinary approach, the terminology for the concept intermediality and the interconnectedness of the representation of the urban environment in literature and in the visual arts. The first chapter analyses eight Berlin-texts by E.T.A. Hoffmann and discusses the label “Berlinische Geschichte” in a wide cultural context with the aid of Hoffmann’s Berlin drawings and of contemporary Berlin paintings. The second chapter is devoted the Hoffmann’s Des Vetters Eckfenster (1822), which is compared to two architectural paintings of the Gendarmenmarkt from 1822 and to the curtain design of the Schauspielhaus by Karl Friedrich Schinkel. The similarity of the representations manifests itself in extraordinary perspectives and reveals how the Gendarmenmarkt contributed to the emergence of a new civic space and a new urban consciousness, whose most important feature is the democratization of previously privileged vantages on the canvas as much as in literature. The third chapter interprets Wilhelm Raabe’s Die Chronik der Sperlingsgasse in context of Eduard Gaertner’s paintings and discusses the differences and similarities in the two media in regard to the concept of the elevated view above the city. Raabe mobilizes many images from the reservoir of Biedermeier Berlin paintings, however fills them with new political contents after the failed March Revolution. The fourth chapter analyses three Berlin novels by Raabe (Ein Frühling, Die Leute aus dem Walde, Ihre Wege, Sterne und Schicksale and Die Akten des Vogelsanges) and focuses on topics such as the description of the new Berlin neighborhoods versus the Altstadt (especially the vicinity of the university) and industrialization in the novels as well as in contemporary city paintings. Keywords: the city in art and literature, Berlin, E.T.A. Hoffmann, Wilhelm Raabe, intermediality, 19th century German city literature iii Kurzfassung Diese Dissertation zeigt an Berlin-Texten von E.T.A. Hoffmann und Wilhelm Raabe, dass Grenzüberschreitungen zwischen den bildenden Künsten und der Literatur in den literarischen und malerischen Repräsentationen von Berlin im 19. Jahrhundert häufig zu finden sind. Die Berlin-Werke zweier Autoren werden in einem breiten kulturwissenschaftlichen Kontext untersucht, um zu zeigen, dass die Großstadt eine Entwicklung von neuen Repräsentationstechniken und innovative literarische Verfahren fördert. Dieses Phänomen kommt in den besprochenen Texten unter anderem durch eine erhöhte Wechselbeziehung von Literatur und Malerei zu Tage. Eine intensivierte Intermedialität zwischen Literatur und der zeitgenössischen Berlin Malerei erscheint zum Beispiel in panoramengleichen Strukturen, in der innovativen Anwendung der Vogelschau und des Fensterblickes, sowie in der literarischen Mobilisierung von Repräsentationstechniken der zeitgenössischen Veduten- und Stadtmalerei. Das Ziel ist eine materielle Ausweitung des Gegenstandsbereichs der Literaturwissenschaft, indem die Stadt- und Baugeschichte Berlins, biographische Angaben der beiden Schriftsteller, außerliterarische Stadttexte, Zeichnungen der beiden Doppelbegabungen und Berliner Stadtgemälde in die stofflich orientierte Analyse der Primärtexte einbezogen werden. Die Analyse der literarischen Texte aus dieser Perspektive enthüllt, wie Werke der Literatur mit anderen Diskursen der Zeit in dialogischer Beziehung stehen und die tradierten literarischen und malerischen Wahrnehmungsmuster sich in der Auseinandersetzung mit dem neuen Sujet -- der wachsenden Großstadt -- auflösen. Das erste Kapitel beschäftigt sich mit Hoffmanns früheren Berliner Texten und versucht die Kategorie „Berlinische/Berliner Geschichte“ als großstadtliterarische Form zu konzeptualisieren. Das Kapitel hat das Ziel, neben der Formung und Analyse eines neuen Korpus von „Berlinischen Geschichten,“ eine thematische und strukturelle Klassifizierung dieser „Gattung“ vorzunehmen. Die Berlin-Schilderungen von acht Erzählungen Hoffmanns werden in einem breiteren Kontext untersucht und mit den Berliner Zeichnungen des Doppeltalents verglichen. Wenn diese Werke aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive untersucht werden, kommt es zu Tage, dass Hoffmanns Berlin-Beschreibungen aus einer „bildlosen“ Zeit, aus einer Übergangsphase in der Berliner Stadtmalerei stammen. Weiters wird die Analyse auch enthüllen, wie Hoffmanns frühe Berlinische Geschichten als Kritik der damaligen aufklärerischen Stadtplanung gelesen werden können. Schließlich wird gezeigt, dass die diversen malerischen und dichterischen Stadtbilder Hoffmanns mit den ästhetischen Ansichten des Künstlers korrespondieren. Das zweite Kapitel ist den malerischen und literarischen Repräsentationen des Gendarmenmarktes, der als ein kondensiertes Modell der modernen Großstadt angesehen wird, gewidmet. Der Gendarmenmarkt übte auf die Erzähltechnik und Thematik von E.T.A. Hoffmanns letzter Erzählung, Des Vetters Eckfenster (1822) einen markanten Einfluss aus. Einerseits erzeugt der Ort intensive Bildlichkeit, andererseits sind die Verhaltensweisen der Charaktere auf dem Markt und vor dem Theater Komponenten der Großstadtmentalität, die in theoretischen Werken von Georg Simmel und anderen Soziologen und Großstadtforschern über 80 Jahre später beschrieben wurden. In der iv Analyse wird die Stadtwahrnehmung in Des Vetters Eckfenster in einem breiten Kontext im Vergleich mit drei malerischen Repräsentationen des Gendarmenmarktes aus dem Jahre 1822 (von Carl Georg Adolf Hasenpflug, Carl Georg Enslen und Eduard Gaertner) behandelt. Abschließend wird Karl Friedrich Schinkels Baukunstphilosophie und sein Bühnenbildentwurf aus dem Jahre1822 mit der literarischen Repräsentation dieses neuen urbanen Raumes in Hoffmanns letzter Erzählung kontextualisiert. Die Entdeckung des komplexen Stadtraums und seine Veränderungen im Moment der Entstehung von Hoffmanns letzter Erzählung zeugen davon, dass bestimmte soziale, wahrnehmungsästhetische Phänomene sowohl in der Architektur und malerischen Repräsentationen des Platzes, als auch in der literarischen Schilderung des Ortes anwesend sind. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit repräsentativen Werken des Berliner Architekturmalers Eduard Gaertner, die in der zweiten Hälfte des Kapitels thematisch und strukturell mit der Großstadtdarstellung Raabes verglichen werden. In der Chronik findet sich nämlich mehrmals eine Imitation bzw. eine Inszenierung der biedermeierlichen Berliner Architekturmalerei, zu der auch die Werke Eduard Gaertners zu zählen sind. Eine Intermedialität entsteht zwischen dem Maler Gaertner und dem Schriftsteller Raabe auf mehreren Ebenen, die anhand der Analyse ihrer Repräsentationstechniken und der symbolischen Anwendung der öffentlichen und verborgenen Lokalitäten von Berlin erläutert wird. Raabe mobilisiert ein den Berlinern bereits bekanntes bildliches Reservoir in seinem Roman, in dem jedoch neben den intermedialen inhaltlichen und strukturellen Parallelen nach der gescheiterten Märzrevolution eine Neupositionierung der handelnden Personen stattfindet. In dem vierten Kapitel der Dissertation werden ausgewählte Werke aus dem Raabeschen Oeuvre mit den zeitgenössischen malerischen Repräsentationen Berlins, in erster Linie von Adolph Menzel, verglichen, um die ästhetischen und thematischen Ähnlichkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Drei Romane mit drei verschiedenen Themenkreisen und Erzähltechniken stehen im Zentrum dieses Kapitels: Altstadtromantik und Großstadtinteresse in Ein Frühling (1857), die Darstellung der Industrialisierung und die Anwendung der Vogelperspektive in Die Leute aus dem Walde, Ihre Wege, Sterne und Schicksale (1863) und die Schilderung der Berliner Vorstädte sowie der Universität in Die Akten des Vogelsanges (1896) und in malerischen Repräsentationen. Die drei Romane sind drei verschiedene Annäherungen, an die Komplexität Berlins darzustellen und können auch dazu benutzt werden, die künstlerische Entwicklung Raabes in Bezug auf seine Berlin-Repräsentationen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu analysieren. v vi Widmung Im Andenken an József Vas (1946-1993) vii Danksagung Die vorliegende Arbeit ist als Dissertation am 25. Januar 2008 im Fachbereich German Studies der University of Cincinnati angenommen worden. Ich danke besonders meiner Betreuerin Prof. Katharina Gerstenberger für ihr Interesse und die Unterstützung durch immerwährende Diskussionsbereitschaft und Anregungen. Auch Prof. Sara Friedrichsmeyer und Prof. Richard E. Schade gebührt mein Dank für das Zweitgutachten. Beide haben mir als kritische Leser einen großen Dienst erwiesen. Außerdem gilt mein Dank der University of Cincinnati (dem Lehrstuhl für German Studies, University Research Counsel und Taft Foundation) für die Verleihung von Promotionsstipendien. Ohne die Bibliothekare in den UC Bibliotheken und besonders im Interlibrary Loan Office wäre mir das Beschaffen vieler Bücher schwerer gefallen. Viele Seminare haben für die Dissertation eine wichtige Basis gelegt, besonders Kurse von Prof. Edward Dimendberg an der University of Michigan und Seminare von Prof. Katharina Gerstenberger an der University of Cincinnati. Ich bin auch dankbar für mehrere Textempfehlungen und Inspirationen von Professors Todd Herzog, Dörte Bischoff und Alexander Košenina. Ich habe auch an verschiedenen Konferenzen wie an der GSA 2005 Konferenz in Milwaukee, an der University of Manitoba, University of Virginia und der Péter-Pázmány-Katholischen Universität in Piliscsaba viele gute Vorschläge erhalten, für die ich sehr dankbar bin. Julia K. Baker bin ich besonders für ihre Freundschaft, für das prompte Korrekturlesen dieser Arbeit und für ihre ausgeprägte Hilfsbereitschaft in den letzten fünf Jahren dankbar. Meine Mitstudenten, Silke Schade, Aine Zimmerman und Wolfgang Lückel haben während Doktorandenkolloquien und in Seminaren an der University of Cincinnati zum Projekt beigetragen. Hier sei jedoch allen Mitstudenten am Lehrstuhl für German Studies der University of Cincinnati, die direkt oder indirekt zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben und nicht namentlich erwähnt wurden, mein herzlicher Dank ausgesprochen. Professors Patrick Snadon, John E. Hancock und Liz Riorden im Fachbereich Architektur an der University of Cincinnati bin ich auch sehr dankbar für ihre Hilfe während der Arbeit. Dr. Béla Kerékgyártó an der Technischen Universität Budapest war eine besonders große und ehrbare Hilfe, dessen Bemerkungen und Vorschläge diese Dissertation mehrfach verbessert haben. Meine Studenten im Kurs „Paris, Berlin, Wien: Die Stadt in Kunst und Literatur“ haben mit ihrem Interesse am Thema und mit ihren kritischen Fragen meine Motivation in einer besonders schweren Zeit am Leben gehalten. viii Ich möchte auch denen danken, die mir durch viele Gespräche, vielerlei Hilfe und Unterstützung geholfen haben, dieses Projekt durchzuführen. Dieser Dank gilt vor allem Debbie Page, Maria Romagnioli, Elizabeth Meyer, Marion Piening an der University of Cincinnati so wie Dr. Márta Harmat und Dr. Erzsébet Forgács in Szeged. Meiner Familie bin ich dankbar für die Unterstützung, ihre Kraft und ihre Liebe, die mich alle die Jahre durch mein Studium begleitet haben. Insbesondere möchte ich an dieser Stelle meiner Mutter, Terézia Újvári, Dank sagen, die mir eine Universitätsausbildung trotz vieler Schwierigkeiten so selbstverständlich erscheinen lassen und mich ständig unterstützt hat. Die Arbeit widme ich meinem Vater, József Vas, der mir vor 15 Jahren vorgeschlagen hat, trotz meines Interesses an Mathematik und Chemie nach dem Abitur Geschichte und Germanistik zu studieren. Leider hat er nie erlebt, dass ich seinen Vorschlag so zu Herzen genommen habe und einige Themen, über die wir uns im kleinen Dorf Tázlár in Ungarn so viel unterhalten haben, auch ihren Weg in diese Dissertation gefunden haben. Schließlich danke ich meinem Mann Ferenc Traser nicht nur für seine Soforthilfe bei Computerproblemen aller Art, sondern auch für seine Geduld und seinen Glauben an mein Projekt. Ohne seine Hilfe wäre es unmöglich gewesen, diese Arbeit fertig zu schreiben. Meine zweijährige Tochter, Zsófia Boróka Traser, erinnert mich jeden Tag daran, wie Lesen und Literatur unser Leben bereichern kann. ix Inhaltsverzeichnis Abstract............................................................................................................................. iii Kurzfassung ...................................................................................................................... iv Widmung ......................................................................................................................... vii Inhaltsverzeichnis ............................................................................................................. x Verzeichnis der Abbildungen......................................................................................... xii EINLEITUNG ................................................................................................................... 1 Doppelbegabungen in Berlin: E.T.A. Hoffmann und Wilhelm Raabe .................... 1 Der Topos Großstadt in der Literatur: Urbanisierung und Visualität .................. 5 Die Periodisierung von Berliner Stadttexten und Werken der Berliner Stadtmalerei im 19. Jahrhundert .............................................................................. 10 Methodologie: Kulturwissenschaftliche Ansätze und die Erforschung von Intermedialität............................................................................................................. 16 KAPITEL 1.: Geister und gespenstische Liebesbeziehungen: Die Berlinischen Geschichten E.T.A. Hoffmanns ..................................................................................... 24 Einführung................................................................................................................... 24 „Das lebendige Leben der großen Stadt, der Residenz wirkt doch nun einmal wunderbar auf das Gemüth“: E.T.A. Hoffmann in Berlin ..................................... 26 „Vater des Berliner Romans“: Editionsgeschichte der Berlin-Texte Hoffmanns 32 Kalte Herbst- und Winternächte in der Friedrichstadt: Berlin in den Fantasiestücken in Callots Manier ............................................................................. 36 Seltsame Begegnungen: Berlin in den Nachtstücken ............................................... 46 Brautwerbung in Berlin: ‚Berlinische Geschichten’ in den Serapions-Brüdern ... 53 Geheimnisse und Irrungen: Berlin in den Späten Werken ...................................... 60 Die Klassifizierung von Hoffmanns Berlinischen Geschichten .............................. 65 Intermedialität: Das gezeichnete und das erzählte Berlin bei Hoffmann .............. 69 Die bildlose Zeit Berlins: Hoffmann und die zeitgenössische Stadtmalerei .......... 75 Schlussfolgerung ......................................................................................................... 80 KAPITEL 2.: Rund um den Gendarmenmarkt: Eine ästhetische und sozialpolitische Sehschule in E.T.A. Hoffmanns Des Vetters Eckfenster (1822).................. 82 Einführung................................................................................................................... 82 Des Vetters Eckfenster: Quellen, Stoffwahl und Erzählstruktur ............................ 85 Eine Sonderposition im Hoffmannschen Oeuvre: Stand der Forschung .............. 88 „Prophete rechts, Prophete links / Das Weltkind in der Mitten.“: Der Gendarmenmarkt als ökonomisches, militärisches, kirchliches und kulturelles Zentrum ....................................................................................................................... 94 „...mir entwickelt sich daraus die mannigfachste Szenerie des bürgerlichen Lebens“: Der Markt in Des Vetters Eckfenster......................................................... 95 „Weit, hoch, herrlich der Blick / Rings ins Leben hinein!“: Der gemalte Gendarmenmarkt im Jahre 1822 und die panoramatische Erzähltechnik in Des Vetters Eckfenster ...................................................................................................... 103 „Eine Stadt ohne Theater ist wie ein Mensch mit zugedrückten Augen, wie ein Ort ohne Luftzug, ohne Kurs“: Die Bedeutung des Schinkelschen Theaters in Des Vetters Eckfenster ...................................................................................................... 119 x Des Vetters Eckfenster im Kontext der Berlinischen Geschichten ........................ 130 Schlussfolgerung ....................................................................................................... 133 KAPITEL 3.: Berlin in den Werken von Eduard Gaertner und Wilhelm Raabes Die Chronik der Sperlingsgasse: Ein intermedialer Vergleich ......................................... 136 Einführung................................................................................................................. 136 Berlin und Eduard Gaertner ................................................................................... 140 Malerei der Spreegassen: Die Berliner Altstadt in Gaertners Gemälden ........... 143 Berlin in sechs Stücken gerahmt: Eduard Gaertners Panoramabilder (1834/35) ..................................................................................................................................... 147 „Ohne Bekannte und Freunde in der großen Stadt“: Wilhelm Raabe in Berlin 160 Intermedialität zwischen Gaertner und Raabe: Malerei der Spreegassen und Die Chronik der Sperlingsgasse ....................................................................................... 164 „Wie ein Gebäude aus den bunten Steinen eines Kinderbaukastens“: Reflexivität und intensivierte Visualität in der Erzählform ...................................................... 170 „In hübsche Rahmen gefasst“: Der Blick aus der Höhe bei Gaertner und Raabe ..................................................................................................................................... 180 Schlussfolgerung ....................................................................................................... 188 KAPITEL 4.: Berlin-Topographien in ausgewählten Werken Wilhelm Raabes... 190 Einführung................................................................................................................. 190 „Ich bin unendlich froh, dass ich den Berliner Schwindel los bin!“: Berlin und Raabe nach der Chronik ........................................................................................... 193 Exkursus: Berliner Stadtmalerei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ... 197 Ein Frühling: Zwischen Altstadtromantik und Großstadtinteresse (1857) ........ 202 „Sieh nach den Sternen, gib acht auf die Straßen“: Die Anwendung der Vogelperspektive in Die Leute aus dem Walde, ihre Sterne, Wege und Schicksale (1863) .......................................................................................................................... 212 Verlorene Nachbarschaft und Hommage an der Berliner Universität: Die Akten des Vogelsangs (1895)................................................................................................ 233 Schlussfolgerung ....................................................................................................... 241 SCHLUSSWORT.......................................................................................................... 244 LITERATURVERZEICHNIS ..................................................................................... 249 xi Verzeichnis der Abbildungen 1. Lindenrolle – Panorama der Straße Unter den Linden, um 1819/20. Verwiebe, Birgit (Hg). Unter den Linden. Berlins Boulevard in Ansichten von Schinkel, Gaertner und Menzel. Berlin: GH Verlag, [1997]. S. 80. 2. Karl Friedrich Schinkel, Schauspielhaus, Berlin, 1818-1821. Bergdoll, Barry. Karl Friedrich Schinkel. An Architecture for Prussia. New York: Rizzoli, 1994. S. 62. 3. E.T.A. Hoffmann, Die Linden, datiert 8. September 1799. Bleistiftzeichnung, nachträglich mit Tinte nachgezogen. Steinecke, Hartmut. Die Kunst der Fantasie. E.T.A. Hoffmanns Leben und Werk. Frankfurt am Main: Insel, 2004. 4. E.T.A. Hoffmann, Der Kunzische Riss Hoffmann, E.T.A. E.T.A. Hoffmanns Briefwechsel I-III. Hg. Hans von Müller und Friedrich Schnapp, Winkler Verlag 1967. II, S. 66. 5. Dismar Dägen, Vogelschaubild der Friedrichstadt (um 1735) Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin Museum 1987. S. 23. 6. Carl Friedrich Fechhelm, Der Platz am Operhaus und die Straße Unter den Linden, 1756 Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin Museum 1987. S. 27. 7. Foto vom Gendarmenmarkt (2007) Autor: Ferenc Traser 8. Jacques Callot, Der Jahrmarkt von Impruneta (1620) 9. Carl Georg Adolf Hasenpflug (1802-58), Perspektivische Ansicht des neuen Schauspielhauses und der beiden Thürme (um 1822) Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin Museum 1987. S. 171. 10. Carl Georg Enslen, Blick auf den Gendarmenmarkt (1822) Bartmann, Dominik und Ancke Gondula (Hg). Eduard Gaertner. 1801-1877. Nicolai 2001, S. 105. 11. Eduard Gaertner, Ansicht des Gensd’armen-Marktes hieselbst (1857) Bartmann, Dominik und Ancke Gondula (Hg). Eduard Gaertner. 1801-1877. Nicolai 2001. S. 287. xii 12. Explanation of The Cosmorama, 29 St. James’s Bartmann, Dominik und Ancke Gondula (Hg). Eduard Gaertner. 1801-1877. Nicolai 2001, S. 105. 13. Bühne des Theaters und Dekoration des Eröffnungsprologs von Karl Friedrich Schinkel. Feder in Tusche, Sammlung Architektonischer Entwürfe, Blatt 14, 1826, bzw. 97. Reprint in Bergdoll, Barry. Karl Friedrich Schinkel. An Architecture for Prussia. New York: Rizzoli, 1994. S. 63. 14. Eduard Gaertner, Klosterstraße mit Parochialkirche (1830) Bartmann, Dominik und Ancke Gondula (Hg). Eduard Gaertner. 1801-1877. Nicolai 2001, S. 279. 15. Eduard Gaertner, Parochialstraße ehem. Reetzengasse (1831) Bartmann, Dominik und Ancke Gondula (Hg). Eduard Gaertner. 1801-1877. Nicolai 2001, S. 277. 16. Eduard Gaertner, Ein Panorama von Berlin, von der Werderschen Kirche aus aufgenommen (1834) Bartmann, Dominik und Ancke Gondula (Hg). Eduard Gaertner. 1801-1877. Nicolai 2001, S. 238-239. 17. Wilhelm Raabe, Tuschzeichnung Peter, Hans-Werner. Wilhelm Raabe. Der Dichter in seinen Federzeichnungen und Skizzen. Rosenheimer Verlagshaus Alfred Förg GmbH und Co, 1983. S. 54. 18. Wilhelm Raabes Zimmerzeichnungen aus Berlin und Stuttgart Peter, Hans-Werner. Wilhelm Raabe. Der Dichter in seinen Federzeichnungen und Skizzen. Rosenheimer Verlagshaus Alfred Förg GmbH und Co, 1983. S. 54, S. 105. 19. Adolph Menzel, Maurer auf dem Bau (1875) Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin Museum 1987. S. 205. 20. Georg Schöbel, Mühlendamm und Fischerbrücke (1890) Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin Museum 1987. S. 182. 21. Rudolf Dammeier, Die Spree längs der Stralauer Straße (1882) Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin Museum 1987. S. 208. xiii 22. Max Klinger, Ein Mord ist geschehen (aus dem Opus „Dramen“, 1882) Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin Museum 1987. S. 179. 23. Johann Georg Rosenberg, Berlin von den Rollbergen zu sehen (1786) Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin Museum 1987. S. 88. 24. Johann Georg Rosenberg, Ansicht Berlins mit dem Halleschen Tor, aufgenommen am Tempelhofer Berg (um 1785) Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin Museum 1987. S. 90. 25. Adolph Menzel, Der Blick auf Hinterhäuser (1847) Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin Museum 1987. S. 202. 26. Eduard Gaertner, Lithographie Portal der Universität zu Berlin (1932) Bartmann, Dominik und Ancke Gondula (Hg). Eduard Gaertner. 1801-1877. Nicolai 2001, S. 301. xiv EINLEITUNG Doppelbegabungen in Berlin: E.T.A. Hoffmann und Wilhelm Raabe In jeder Epoche gibt es kulturelle Ausdrucksformen, die in ihren Stilmerkmalen miteinander korrespondieren und einander wechselseitig fördern. Welche Form künstlerischer Darstellung den Anstoß zur Herausbildung eines neuen, die Zeit charakterisierenden Stils, gibt, ist verschieden: Im Barock lag der Ansatz in der bildenden Kunst und in der Klassik und Romantik bestimmte die Dichtung die Stilentwicklung. Dagegen ist der Stilwandel im Impressionismus und im Expressionismus am frühesten in der Malerei zu entdecken. In jeder Epoche kann man eine enge Verbundenheit beobachten und die verschiedenen Künste haben spannende Grenzüberschreitungen zur Welt hervorgebracht. Diese Grenzüberschreitungen sind besonders interessant für Literaturwissenschaftler, wenn die Analysen von literarischen Werke in diesem breiteren Kontext verdeutlichen, dass Texte und Bilder Produkte eines gemeinsamen stofflichen Quellenbereiches sind. Diese Dissertation zeigt an Berlin-Texten von E.T.A. Hoffmann und Wilhelm Raabe, dass Grenzüberschreitungen zwischen den bildenden Künsten und der Literatur in den frühesten literarischen und malerischen Repräsentationen von Berlin häufig zu finden sind. Stadtgemälde und Berlin-Texte korrespondieren und ergänzen einander nicht nur, sondern stellen auch einen festen Kanon von Repräsentationsformen über Berlin her. Diese Formen können die gesellschaftlichen, ökonomischen und stadtgeschichtlichen Veränderungen folgend mit neuen Inhalten erfüllt werden. Diese Dissertation untersucht die Berlin-Werke zweier Autoren in einem breiten kulturwissenschaftlichen Kontext, um 1 zu zeigen, dass die Großstadt eine Entwicklung von neuen Repräsentationstechniken und innovative literarische Verfahren fördert. Dieses Phänomen kommt in den besprochenen Texten unter anderem durch eine erhöhte Wechselbeziehung von Literatur und Malerei zu Tage. Eine intensivierte Intermedialität zwischen Literatur und der zeitgenössischen Berlin Malerei erscheint zum Beispiel in panoramengleichen Strukturen, in der innovativen Anwendung der Vogelschau und des Fensterblickes, sowie in der literarischen Mobilisierung von Repräsentationstechniken der zeitgenössischen Vedutenund Stadtmalerei. Die Vielfalt der Texte und Medien verlangt eine kulturwissenschaftliche Annäherung an die Stadttexte der zwei Doppelbegabungen Hoffmann und Raabe. Diese Dissertation beleuchtet Gemeinsamkeiten geisteswissenschaftlicher Fächer, deren Erkenntnismöglichkeiten und Verfahrensweisen viele Ähnlichkeiten aufzeigen. Das Ziel ist eine materielle Ausweitung des Gegenstandsbereichs der Literaturwissenschaft, indem die Stadt- und Baugeschichte Berlins, biographische Angaben der beiden Schriftsteller, außerliterarische Stadttexte, Zeichnungen der beiden Doppelbegabungen und Berliner Stadtgemälde in die stofflich orientierte Analyse der Primärtexte einbezogen werden. Die Analyse der literarischen Texte aus dieser Perspektive enthüllt, wie Werke der Literatur mit anderen Diskursen der Zeit in dialogischer Beziehung stehen und die tradierten literarischen und malerischen Wahrnehmungsmuster sich in der Auseinandersetzung mit dem neuen Sujet -- der wachsenden Großstadt -- auflösen. Ein Resultat dieser Veränderung ist neben der innovativen ästhetischen Präsentation des neuen Erzählstoffes eine thematische Veränderung, da die Stadtbilder von Hoffmann und Raabe keine reinen Phantasiestädte mehr sind, sondern auch reale Abbildungen der zeitgenössischen 2 sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse des im 19. Jahrhundert sich rapid verändernden Berlins. Als Ausgangspunkt der Stoffwahl diente die Doppelbegabung der beiden Schriftsteller, da beide gleichzeitig mehrfach begabt und künstlerisch tätig waren. Doppelbegabungen zeigen oft eine besondere Affinität zu den Werken von Malern und anderen Künstlern auf und dieses Phänomen tritt auch in den literarischen Werken von E.T.A. Hoffman und Wilhelm Raabe auf.1 E.T.A. Hoffmann2 und Wilhelm Raabe3 besaßen neben ihrer dichterischen Berufung auch eine Begabung als Zeichner und Maler.4 Intensive Visualität und Referenzen auf die bildende Kunst und auf bestimmte Maler nehmen eine wichtige Rolle in den Werken der beiden Schriftsteller ein.5 Beide machen Maler zu Protagonisten oder lassen ihre Erzähler als „Maler“ beim Schreiben arbeiten. Neben der Doppelbegabung verbinden Erzählwerke die beiden Schriftsteller, besonders Hoffmanns letzte Erzählung Des Vetters Eckfenster (1822) und Raabes Debütroman Die Chronik der Sperlingsgasse (1854/55), die zum festen Kanon der Berlinliteratur gehören. Ihr Einfluss erscheint auch in den späteren Berlin-Texten aus den 1920er Jahren, in denen Franz Hessel, Walter Benjamin und Joseph Roth während ihrer 1 Vor allem soll hier Hoffmanns Bezug auf Callots bildnerische Darstellungsweise, die auch im Titel der Sammlung der Fantasiestücke in Callots Manier erscheint. Vgl. dazu unter anderem Bomhoff und Olaf Schmidt. Ricarda Schmidt hat auch intermediale Beziehungen in mehreren von Hoffmanns Texten untersucht. 2 Die bekannte Grabinschrift Hoffmanns bezeichnet die Tätigkeiten des Verstorbenen in der folgenden Weise: „Kammergerichts-Rath / ausgezeichnet / im Amte / als Dichter / als Tonkünstler / als Maler.“ Zu Beschreibungen des Hoffmannschen zeichnerischen Oeuvres siehe: Böettcher/Mittenzwei 73-83 und Lee. 3 Vgl. dazu Arndt, Hoppe und Peter. 4 Beide Schriftsteller gehören zum festen Kanon der deutschsprachigen Doppeltalenten und ihre zeichnerische Erbe wurde auch in Anthologien und Büchern untersucht. Vgl. dazu Böettcher/Mittenzwei 73-83 und 162-65 und Günther 77-85 128-32. 5 Z.B. erwähnt der Protagonist in Des Vetters Eckfenster Callot, Hogarth und Chodowiecki , während Raabe den Erzähler in der Chronik als Maler auftreten lässt und als seinen Mitarbeiter einen Karikaturisten wählt. 3 Flanerie oft nach dem Erbe der beiden Schriftsteller suchen und ihre Namen nennen.6 Beide Doppelbegabungen kommen als Provinzler nach Berlin und haben das Großstadtleben als mächtige Bewusstseinserweiterung erlebt. Neben dieser gemeinsamen Perspektive in ihren literarischen Werken haben beide Berlin, bzw. den eigenen biographischen Hintergrund, in ihren berühmtesten Berlin-Texten sowohl literarisch als auch zeichnerisch verewigt: Hoffmann fertigte eine Tuschzeichnung über den Gendarmenmarktplatz7 an und Raabe eine über seine Berliner Wohnung in der Spreegasse.8 Für Raabe, der aus dem kleinen Wolfenbüttel nach Berlin kam, um dort zu studieren, war Berlin „die große Stadt,“ wie er sie nennt, ein Erlebnis und auch Hoffmann beschreibt in seinen Briefen enthusiastisch, wie sein Geist in der neuen Umgebung neugeboren wurde. Beide haben sich für die neusten Tendenzen in der zeitgenössischen Kunst in dem sich verändernden Berlin interessiert und diese Faszination kommt in ihren Berlin-Texten zum Ausdruck. Im Gegensatz zu Raabe, der die Stadt bewusst verließ und sich in Braunschweig zur Ruhe setzte, ist Hoffmann am Ende seines Lebens zu einem stolzen Berliner geworden. In beiden Fällen erscheinen die biographischen Erfahrungen der Schriftsteller in ihren Werken, in denen auch die Aktualitäten der sich verändernden preußischen Residenzstadt thematisiert werden. Beide Autoren haben aber in ihren Werken nicht nur die subjektiven Erlebnisse von nach Berlin übersiedelten Provinzlern 6 Vgl. dazu Hessel: Die Sperlingsgasse wurde eine der wichtigsten literarischen Lokalitäten in den 1920er Jahren. Franz Hessel besucht sie auch während seines Stadtrundgangs: “Sieh, da zur Rechten zweigt so ein Gässchen ab, Spreegasse heißt es und Raabes Sperlingsgasse, und da steht auch das Haus, in dem der Dichter gewohnt hat…” („Rundfahrt“ 65). 7 Zu einer Beschreibung der Tuschzeichnung siehe Georg Wirths Aufsatz. 8 Eine Tuschzeichnung hat Raabe über seine Berlin-Wohnung in der Spreegasse gemacht, die der Schriftsteller in einem Brief an seine Mutter gesandt hat. 4 verdichtet, sondern auch als Chronisten die objektiven Wirklichkeiten Berlins in ihren Texten aufgezeigt. Der Topos Großstadt in der Literatur: Urbanisierung und Visualität Es war gegen Mittag, als Franz Sternbald auf dem freien Felde unter einem Baume saß und die große Stadt Leyden betrachtete, die vor ihm lag. Er war an diesem Tage schon früh ausgewandert, um sie noch rechtzeitig zu erreichen; jetzt ruhte er aus, und es war ihm wunderbar, dass nun die Stadt, die weltberühmte, mit ihren hohen Türmen wie ein Bild vor ihm stand, die er sonst öfter im Bilde gesehn hatte. Er kam sich jetzt vor als eine von den Figuren, die immer in den Vordergrund eines solchen Prospektes gestellt werden, und er sah sich nun selber gezeichnet oder gemalt da liegen unter seinem Baume, und die Augen nach der Stadt vor ihm wenden. (Franz Sternbalds Wanderungen, 1798) Die Stadt als Gemälde, als gemaltes Bild ist ein oft benutztes literarisches Motiv. Wie das obige Zitat zeigt, hat auch Ludwig Tieck in Franz Sternbalds Wanderungen diese Technik angewandt. Die Stadt Leyden, das spätmittelalterliche Kunstzentrum, wird hier von dem Protagonisten, der sie aus der Ferne betrachtet, noch gar nicht wirklich gesehen, sondern nur als ein stimmungsvolles Gemälde erlebt. Das Stadtbild im Roman ist ein frei erfundenes Phantasiegemälde, das später als Hintergrund der Handlung dient. Stadtbeschreibungen, die Gemälde evozieren, erscheinen auch in Werken des 19. Jahrhunderts, jedoch verändert sich das obige stimmungsvolle Stillleben mit dem Aufstieg der Städte und der Verwandlung der Stadtkultur. Während sich mittelalterliche Städte in industrialisierte Großstädte verwandelt, verändert sich die Wahrnehmung der Stadtbewohner und diese Wandlung spiegelt sich in der Kunst und Literatur wider durch die Anwendung von neuen malerischen Techniken und innovativen Erzählstrategien. 5 Die Großstadt ist ein Ort, der die Enttraditionalisierung des Alltagsverhaltens beschleunigt, und diese Tendenzen haben ihre Spuren in mehreren Bereichen der ästhetischen Gestaltung des wachsenden Berlin im 19. Jahrhundert hinterlassen.9 Der Topos Großstadt fördert die Entwicklung von neuen Techniken und Wahrnehmungsformen. Die Großstadt und ihre einerseits abschreckende, andererseits erstrebenswerte Erfahrungswirklichkeit haben ein bestimmtes, neues Wahrnehmungsvermögen hervorgebracht. Die neuen objektiven Realitäten der Großstadt, wie neue Formen von Architektur, Ökonomie und öffentlichen Verkehrsmitteln, die aufgrund der demographischen Veränderungen in den Straßen wimmelnden Massen, der damit verbundene Lärm, haben einen markanten Einfluss auf das literarische Narrativ sowie auf die ästhetische Gestaltung von Stadtgemälden ausgeübt. Kunst und Literatur reagieren auf diese Veränderungen und deuten das neue Wahrnehmungsvermögen ästhetisch. Die neue Wahrnehmung bedeutete neue Einsichten in die fundamentalen Kategorien von Zeit und Raum, in die Grenzen des Individuums und die Autonomie des Einzelwesens. Die Beziehungen und Angelegenheiten des typischen Großstädters werden immer mannigfaltiger und komplizierter. Mit dem Erscheinen von neuen Technologien und der neuen Nutzung von öffentlichen und privaten Räumen erfahren Stadtbewohner Zeit und Raum anders als früher10 und urbanes Verhalten bringt eine neue Polarität zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, Isolation und Partizipation und Alleinsein und Dabeisein mit sich. Die Theoretisierung dieser Erfahrungen und die Beschreibung der neuen Wahrnehmung der Großstadtbewohner fand allerdings erst um die 9 Vgl. dazu Brüggemann und Lobsien. Siehe dazu unter anderem Schivelbusch. 10 6 Jahrhundertwende (z.B. in „Die Großstädte und das Geistesleben“ von Georg Simmel, 1903) statt. Das Bewusstsein, dass sich etwas verändert hat, erschließt sich nämlich oft erst am Ende, wenn ein Prozess zum Abschluss gekommen ist oder, wie Hegel schreibt, „Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ Mit dem Tempo und den Mannigfaltigkeiten des wirtschaftlichen, beruflichen, gesellschaftlichen Lebens entwickelte sich eine neue Subjektivität in der modernen Zivilisation, die mit der Urbanisierung in einer engen Beziehung steht. Die obigen Konditionen haben zur Problematik des modernen Lebensgefühls beigetragen, nämlich zu dem Gefühl der Desorientierung, der Vereinsamung und Isolation. Die meisten literarischen Texte aus dem 19. Jahrhundert beschreiben eine Vereinsamung und Isolation des Protagonisten, der vom Lande in die Stadt zieht. Die Abbildung der sozialen Mobilität und die Schwierigkeiten des Provinzlers, der in der Stadt ankommt, wird ein wichtiger Topos der sich entfaltenden Stadtliteratur. Durch ganz Europa konnte man im 19. Jahrhundert eine Migration vom Lande in die Großstädte beobachten und die Einwohnerzahl der europäischen Städte nahm radikal zu (besonders in London, Paris, St. Petersburg, Wien und Berlin). Der Umzug vom Land, so Simmel, erfordert ein völlig unterschiedliches Bewusstsein als das Landleben, das er als langsam, gewohnt und mit einem „gleichmäßiger fließenden Rhythmus“ charakterisiert (194).11 Die in die Großstadt ziehenden Protagonisten erleben die neue Umgebung in den literarischen Texten des 19. Jahrhunderts in einer ähnlichen Weise, die der Literaturhistoriker Robert Alter mit den folgenden Worten beschreibt: 11 Vgl. dazu die folgende Aussage von Jean Paul: „Lasse sich kein Dichter in einer Hauptstadt gebären und erziehen, sondern womöglich in einem Dorfe, höchstens in einem Städtchen! Die Überfülle und die Überreize einer großen Stadt sind für die erregbare schwache Kindseele ein Essen an einem Nachtisch und Trinken gebrannter Wasser und Baden in Glühwein.“ 7 The opportunity of social and economic upward mobility might ignite the new urbanite’s imagination, but the competitive ruthlessness of the metropolis could easily daunt and defeat him, and his own daily condition was likely to be the state of deracinated isolation. (5) Isolation, Vereinsamung jedoch auch Faszination mit der Großstadt sind die Motivationen in beiden berühmten Texten – in Hoffmanns Des Vetters Eckfenster sowie in Raabes Chronik – sich mit den komplexen Realitäten der Stadt auseinander zu setzten. Es wäre jedoch voreilig, die Stadtbeschreibungen des 19. Jahrhunderts mit einem binären Darstellungsschema – ‚Wunschbild Land und Schreckbild Stadt’ – zu charakterisieren, da die Werke beider Schriftsteller dem Leser ein viel differenzierteres Bild über die Folgen der Urbanisierung, sogar eine Faszination mit dem Stadtleben, bieten. Ihre künstlerische Tätigkeit und Produktivität sind mit der Stadt und mit dem Großstadtleben stark verbunden und etliche Werke der beiden Schriftsteller können als Produkte einer ambivalenten Stadtsucht charakterisiert werden. Die Repräsentation der Veränderungen in der Stadt erfolgt in der Literatur oft durch die Benutzung einer intensiven visuellen Sprache. Modernität, urbane Wahrnehmung und die Hegemonie des Sehens sind eng miteinander verbunden. In kulturwissenschaftlichen Analysen der Visualität, des Sehens und der Sichtbarkeit der Moderne hat sich früh eine theoretische Konstruktion herausgebildet, nach der der Diskurs über die Sinne in der Moderne durch die visuelle Wahrnehmung bestimmt ist.12 Die Hegemonie des Sehens ist mit dem Diskurs des Urbanismus in der Moderne verbunden, was sich zum Beispiel in dem von Georg Simmel zuerst beschriebenen Übergewicht der Aktivität des Auges gegenüber der des Gehörs in der öffentlichen Interaktion manifestiert. In einem Exkurs über die Soziologie der Sinne hat Simmel einen 12 Vgl. dazu Simmels Aufsatz über die Sinnesorgane und Brüggemann 5-7. 8 Zusammenhang zwischen der Großstadt, dem städtischen Sozialverhalten und der Vorherrschaft des Sehens hergestellt. Der Verkehr in der Großstadt zeigt nach Simmel ein unermessliches Übergewicht des Sehens über das Hören vor allem aufgrund der Entwicklung der öffentlichen Verkehrsmittel im 19. Jahrhundert, die den weit überwiegenden Teil aller sinnlichen Beziehungen zwischen den Menschen in der wachsenden Masse dem Sehen anheim gegeben hat. Mit dem Auftreten einer intensivierten Visualität in Stadttexten stellt sich die Frage, wie malerische Ansichten der sich verändernden Stadt mit den literarischen Werken miteinander korrespondieren und ob sie einander wechselseitig fördern. Dabei wird vorausgesetzt, dass eine solche Wechselbeziehung mit größter Wahrscheinlichkeit in den Werken von Doppeltalenten zu finden ist. Da Hoffmann und Raabe in ihren Berlin-Texten neben den subjektiven Erlebnissen ihrer Protagonisten auch zeitspezifische ökonomische, ökologische, technische und städtebauliche Veränderungen im Zusammenhang mit der Urbanisierung beschreiben, verlangt die Analyse ihrer Texte einen interdisziplinären Ansatz. Um ihre Werke in einem breiten Kontext untersuchen zu können, folgt zunächst eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten historischen und städtebaulichen Meilensteine Berlins im 19. Jahrhundert sowie eine kurze Beschreibung der signifikantesten literarischen und malerischen Abbildungen der Stadt von Hoffmann und Raabes Zeitgenossen. 9 Die Periodisierung von Berliner Stadttexten und Werken der Berliner Stadtmalerei im 19. Jahrhundert Mit dem Ende der Freiheitskriege begann für Preußen eine der längsten Friedensperioden seiner Geschichte. Auf die Turbulenzen der Napoleonischen Kriege folgte eine Zeit, in der das Land und seine Hauptstadt keine großen Veränderungen erlebten. Nach einem Jahrzehnt des nahezu ununterbrochenen Ausnahmezustandes kehrte die Normalität wieder zurück. Das zentrale und für die Entwicklung Berlins in diesen Jahrzehnten schlechthin entscheidende Phänomen ist das enorme Wachstum der Stadt. Das ganze städtische Leben stand im Schatten dieser Expansion. In den drei Friedensjahrzehnten vor 1848 hatte sich die Bevölkerung Berlins verdoppelt. Sie stieg, in stark gerundeten Zahlen, von knapp 200 000 auf gut 400 000 Einwohner und brachte die Stadt nach London, Paris und St. Petersburg auf den vierten Platz der europäischen Metropolen (Ribbe I, 480). Der künstlerische Glanz der Jahre zwischen den Freiheitskriegen und der Revolution knüpft sich vornehmlich an die großen Namen der Stadtarchitekten Berlins. Die Gebäude, die Berlin in dieser Zeit berühmt gemacht haben waren in erster Linie die Bauten im Stadtzentrum, mit denen Karl Friedrich Schinkel Berlin verschönerte. „Ein neues schönes Berlin ist seit 1815 entstanden, und an den Namen Schinkel knüpft sich der Ruhm dieser zweiten Gründung“ schreibt Willibald Alexis 1838 (zitiert nach Ribbe I, 499). Neben den Werken Schinkels sollen die Schöpfungen von Gottfried Schadow und seiner Schüler Christian Rauch, Friedrich Tieck und der Gebrüder Wichmann erwähnt werden. Schinkel übte auch starken Einfluss auf die Innenarchitektur und Bühnenbildnerei aus. Nicht nur die Architektur verschönerte sich, sondern auch 10 Straßenbeleuchtung, Kanalisation, neue Verkehrsmittel erschienen auf den Berliner Straßen und Gewässern. Die erste Hälfte des Jahrhunderts wird durch die Wiederherstellung der vorrevolutionären Staats- und Gesellschaftsordnung, eine strikt antiliberale und antinationale Politik charakterisiert. Seit dem Jahre 1815 befanden sich die fortschrittlichen Kräfte, die nach der äußeren Befreiung auch die innere erhofft hatten und nationale und konstitutionelle Wünsche erfüllt sehen wollten, auf dem Rückzug. Die politischen Ereignisse führten zu einem auf das Interieur gerichteten Lebensstil, der oft mit der Doppelbezeichnung „Schinkel- und Biedermeierzeit“ beschrieben worden ist. Dies bedeutet, dass trotz einer reaktionären Politik ein reges künstlerisches, geistiges und gesellschaftliches Leben die preußische Hauptstadt erfüllte. Der Überblick der wichtigsten Werke der Berliner Stadtliteratur und der Berliner Stadtmalerei im 19. Jahrhundert macht deutlich, dass Schriftsteller und Maler in den verschiedenen Epochen an der Repräsentation der preußischen Hauptstadt unterschiedlich teilgenommen haben. Die ersten Stadttexte im 19. Jahrhundert stammen von Autoren der Romantik, die die Stadt nicht nur als literarischen Topos entdeckt haben. „Die Romantiker der ersten Generation sind keine Provinzler, sondern bewusste Städter“ schreibt Marianne Thalmann (1963, 991).13 Von Ludwig Tieck sagt sie sogar im Nachwort ihrer Tieck-Ausgabe, dass er „bis in die Fingerspitzen Städter ist“ und „etwas von den Fleurs du mal ahnt, die im Nächtlichen und Künstlichen der Stadt aufschießen“ (Thalmann 1963, 1003). Diese Haltung erreicht einen Höhepunkt, so Thalmann, bei E.T.A. Hoffmann, der seine Anregungen „im bunten Gewühl der Stadt“ gefunden hat 13 Marianne Thalmann in der Tieck Ausgabe. Ludwig Tieck Frühe Erzählungen und Romane. Hg. Marianne Thalmann, München, 1963. S. 991. 11 (Thalmann 1965, 12). Das letzte Werk Hoffmanns, Des Vetters Eckfenster, steht oft am Anfang der Genealogie von Berlin-Texten.14 Dabei geraten jedoch Hoffmanns andere, weniger bekannte Berlin-Texte in Vergessenheit, sowie Autoren, die vor Hoffmann Berlin literarisch behandelten. Berlin wurde nämlich schon im 18. Jahrhundert unter anderem von Karl Philipp Moritz, Friedrich Nikolai aber auch von weiblichen Autoren wie Anna Louisa Karsch literarisiert.15 Hoffmanns Des Vetters Eckfenster wurde in der Literaturgeschichte vor allem durch Walter Benjamins Analyse bekannt, der den Text im 20. Jahrhundert abschätzig als biedermeierliche Genrebilder bezeichnete. Auch Raabes Chronik wird oft in einer ähnlichen Weise charakterisiert.16 Jedoch gibt es keine wesentlichen biedermeierlichen Texte über die Stadt Berlin aus dem 19. Jahrhundert, wohingegen die Stadtmalerei eine Blütezeit erlebte. Aus der Biedermeier-Epoche ist eine beachtliche Zahl von Architekturgemälden und Vedutenansichten überliefert.17 Besonders die repräsentativen Plätze und das neue Zentrum der Stadt sind in den Werken der Berliner Architekturmalerei verewigt worden. Die Grundgedanken der Biedermeierzeit, die 14 Als ein Beispiel ist Anke Glebers Buch The Art of Taking a Walk zu nennen. Auf der Suche nach den ersten Großstadtliteraten geht sie bis E.T.A. Hoffmanns Des Vetters Eckfenster zurück. 15 Siehe dazu Sekundärliteratur von Erlin, Košenina und McFarland. 16 Siehe dazu Klotz’ Interpretation von Raabes Debütroman. 17 Allerdings fand um die Jahrhundertwende 1900 eine Neubewertung dieser Epoche in Berlin statt und dementsprechend erschien das biedermeierliche Berlin in mehreren literarischen Texten. Georg Hermanns Jettchen Gebert und Henriette Jakoby sind Romane über eine jüdische Familie und spielen im Berliner Biedermeier in den Jahren 1839/40. Der Autor, Georg Hermann, der neben kunstkritischen Schriften bereits mehrere Novellen und Romane veröffentlicht hatte, wurde durch diesen Roman zu einem der meistgelesenen anspruchsvollen deutschen Unterhaltungsliteraten des frühen 20. Jahrhunderts. Nach einer langen Unterbrechung wurde Georg Hermann in den 1990er Jahren auch in der Literaturwissenschaft wiederentdeckt. 1999 hat Godela Weiss-Sussex in ihrer Dissertation die Darstellung Berlins in mehreren von Georg Hermanns Romanen (Spielkinder, Jettchen Geberts Geschichte, Kubinke und Die Nacht des Doktor Herzfeld) verfolgt und in ihrer Analyse auch die bildende Kunst, Biedermeier und impressionistische Gemälde, zur Hilfe genommen. Hermann, selbst auch Kunsthistoriker, hat nämlich vor Jettchen Gebert in einer ausgiebigen Studie unter dem Titel Das Biedermeier im Spiegel seiner Zeit seine Recherchen über die Geschichte und Kunstgeschichte des Biedermeiers veröffentlicht. Weiss-Sussex stellt plausible dar wie zum Beispiel das Fenstermotiv, ein beliebtes Symbol auch in der Biedermeier-Malerei, in Hermanns Romanen von rein dekorativen bis zu symbolischen Intentionen eingesetzt wird. 12 Abkehr von der streng klassizistischen Formenwelt und die Suche nach Schlichtheit, spiegeln sich in den Werken der Berliner Malerei in diesen Jahrzehnten. Der Hofmaler Franz Krüger, der die Stadt in seinen Gemälden von den einfachen Volksszenen bis hin zu den großen Paradenbildern festgehalten hat, gilt mit den Architektenmalern Eduard Gaertner und Erdmann Hummel als wichtiger Repräsentant der biedermeierlichen Malerei Berlins. Im Gegensatz zum Übergewicht von Gemälden, das im Vergleich zu den literarischen Texten im Biedermeier herrscht, findet man kulturelle Äußerungen der Vormärzzeit in der Literatur. Der liberale Schriftsteller Willibald Alexis verfasste umfangreiche historische Werke über Berlin und weitete damit den Blick der Berliner Stadtliteratur aus. Heinrich Heine, der nur drei Jahre in Berlin verbrachte, ist hier ebenso zu nennen wie Adelbert von Chamisso, der von 1819 bis 1839 für den Botanischen Garten in Schöneberg tätig war. Karl Gutzkow gehörte zu den entschiedenen liberalen Kritikern der politischen Restauration und trieb als geborener Berliner von 1830 bis zur Reichsgründung 1871 höchst engagierte Berliner „Milieustudien.“ Gutzkow stellte nach eigenen Worten die „Seelen- und Lebenszustände“ aller Gesellschaftsschichten sowie die politische und kulturelle Szene der heranwachsenden Weltstadt dar. Auch Bettina Brentano-von Arnims Dies Buch gehört dem König soll in diesem Kontext erwähnt werden, da die Schriftstellerin in den Anhang des Königsbuches eine frühe Sozialreportage mit dem Titel „Erfahrungen eines jungen Schweizers im Vogtland“ über die Armenkolonie in der Berliner Vorstadt aufnehmen wollte (Diers 128). Die statistischen Unterlagen, Denkschriften und Zeitungsartikel über die Situation der Armen 13 im Berliner Vogtland wurde sogar für den Druck vorbereitet, jedoch nie veröffentlicht (Diers 128, Trautmann, 62-65). Die soziale und kulturelle Topographie der Stadt fand einen Weg in die realistische Erzählkunst von Fontane, Keller und Raabe. Der Handlungsort Berlin spielt eine besonders wichtige Rolle in den Werken Fontanes, von dessen 17 Romanen elf ganz oder teilweise in Berlin stattfinden (Friedrich 184). Fontanes Vertrautheit mit der Topographie der Reichshauptstadt und seine Fähigkeit, diese Landschaft in ihren widersprüchlichen Beziehungen seinen Lesern nahe zu bringen, veranlasste den Publizisten Ernst Heilborn 1909, eine Rezension von Fontanes Gesamtwerken unter dem Titel Fontanepolis zu veröffentlichen (Friedrich 185). Die Figuren in Fontanes Werken sind ganz bestimmten Teilen der Stadt zugeordnet und der Schriftsteller benutzt die Berlinische Topographie, um die zeitgenössischen Gesellschaftskonflikte plausibel darzustellen.18 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielte das Thema Stadtansicht bis in die achtziger Jahre in der deutschen Malerei eine eher untergeordnete Rolle. Die im Biedermeier aufblühende Berliner Malerei hatte in den Jahren nach der 1848er Revolution zunehmend an Bedeutung verloren. Erst durch den Einfluss des französischen Impressionismus bekam die Berliner Kunst wieder neue Anreize (Bothe 173). An einer geringen Zahl von Gemälden aus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zeigt der Kunsthistoriker Rolf Bothe, dass Maler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neben der Darstellung von einigen Stadtbauten, der Industrialisierung und den Folgen des Wachstums das alte Zentrum Berlins für eine kurze Zeit wiederentdeckt hatten (Bothe 180). Die Berliner Stadtmaler, wenig bekannte Zeitgenossen und die zwei wichtigsten 18 Vgl. dazu Gutjahr, Hettche und Wruck. 14 Namen der Epoche, Adolph Menzel und Max Liebermann, wurden zu Bewahrern der Geschichte und haben in erster Linie die städtebaulichen Veränderungen in der Altstadt in einer nüchternen Weise gemalt, ohne die Wandlungen dabei kritisch zu würdigen (Bothe 182). Im Gegensatz zu der Malerei wurde die wachsende Großstadt in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in der Literatur öfters kritisch betrachtet. Die negativen Auswirkungen der industriellen Massenzivilisation wurden in den achtziger Jahren zum Fokus des literarischen Naturalismus, dessen Hauptthema die Stadt Berlin war. Auch in der Großstadtlyrik richteten Dichter ihren Blick auf die Probleme der Urbanisierung und beschrieben das Massenelend, Kriminalität und Entfremdung des Einzelnen. Eine ähnlich kritische Auseinandersetzung in der Malerei gab es nach dem Kunsthistoriker Bothe außer in den Werken von Adolph Menzel nur im Bereich der Gebrauchsgrafik (Bothe 178). Schon eine knappe Periodisierung der Berliner Stadtliteratur und Stadtmalerei zeigt, dass Schriftsteller und Maler in Bezug auf Abbildungen von der sich verändernden preußischen und später Reichshauptstadt unterschiedlich inspiriert worden sind. Es gibt jedoch Wechselbeziehungen zwischen den zwei Bereichen und diese Dissertation setzt sich zum Ziel, die direkte aber auch indirekte Korrespondenz zwischen Texten und Bildern herauszuarbeiten. Es soll gezeigt werden, dass die ästhetischen Gestaltungen Berlins in den Werken von Hoffmann und Raabe im Kontext mit der zeitgenössischen Stadtmalerei mehrfache Grenzüberschreitungen aufweisen. Die auch oben benutzten, traditionellen Formeln in der Periodisierung von Kunst und Literatur sind jedoch, wie Jost Hermand schreibt, vereinfachend: 15 With periodization concepts that are unambiguously based on the primacy of the political and the social [e.g. Vormärz LV], art is largely degraded to a mere illustration of certain historical and social processes, while with periodization concepts based on the autonomy of art [e.g. Realism LV] which try to avoid all historical references, art is so highly formalized that only mere isms or styleschemes are left over. (29) Diese Problematik bringt weitere Fragen in Bezug auf die Methodologie der Arbeit zu Tage. Die Dissertation untersucht nämlich literarische Texte in einem breiten historischen Kontext und neben den zeitgenössischen Gemälden werden auch nicht-fiktive Texte von Adolf Glassbrenner, Julius von Rodenberg, Friedrich Saß und Ernst Dronke in Betracht gezogen.19 Dieser Ansatz behandelt literarische Texte und die Berlin-Gemälde nicht als Produkte einer Kunstanatomie. Weiters behandelt diese Arbeit literarische Text auch nicht ausschließlich als Produkte bestimmten gewissen ökonomischen, politischen und historischen Kontextes. Eine Balance dazwischen ist das Ziel, wie Hermand treffend formuliert: „Art rises to its full potential only when it seeks to confront social contradictions in its own way, i.e. by aesthetic means“ (29). Methodologie: Kulturwissenschaftliche Ansätze und die Erforschung von Intermedialität Die Theoretisierung der Wechselbeziehung von den bildenden Künsten und der Literatur ist das Thema von zahlreichen Studien von Horaz bis heute. Die interdisziplinäre Forschung zu diesem Verhältnis hat in den letzten Jahrzehnten einen wichtigen Platz in der Literaturwissenschaft und in der Kunstgeschichte eingenommen. Diese Dissertation 19 Die Literaturwissenschaftler Tunnel und Kaiser schlagen zum Beispiel in ihrem Buch über Paris im 19. Jahrhundert vor, fiktionale Prosatexte wie Rilkes Malte Laurids Brigge oder Hoffmanns Fräulein von Scuderi auch „referentiell“ zu lesen, wie ebenfalls die Pariser Sachprosa der Zeit „nur ausnahmsweise fiktionalisierende Züge völlig entbehrt“ (3). 16 wird dieses Phänomen, das Zusammenspiel verschiedener Medien im Topos der Großstadtdarstellung im 19. Jahrhundert, im besonderen am Beispiel der Literarisierung von Berlin untersuchen. Als wissenschaftlicher Ansatz wird in erster Linie das Konzept Intermedialität angewandt, um in den Analysen von literarischen Texten eine Isolierung des Einzelmediums zu überwinden und das Beziehungsgeflecht zwischen Literatur und bildender Kunst zu rekonstruieren. Unter Intermedialität verstehe ich die Einbeziehung mindestens zweier konventionell als getrennt angesehener Ausdrucks- und Kommunikationsmedien.20 Thomas Eicher gibt zum Beispiel die folgende Kurzdefinition: „Der Begriff Intermedialität deutet auf mediale Brückenschläge, das Zusammenspiel verschiedener Medien. Zu denken wäre hier vor allem an Verbindungen zwischen Musik, Tanz, bildender Kunst, Sprache“ (11). Generalisierend kann man hier über zwei Kommunikationssysteme sprechen, die einander gegenseitig beeinflussen, berühren und nachahmen. Im Text erscheint dieses Phänomen als eine sprachliche Reaktion auf Bilder, da abgesehen von konkreter Poesie Bilder in den Texten nie richtig sichtbar werden. Wie Thomas Eicher schreibt: Der Text verleibt sich auf diesem Wege ein fremdes Medium ein und macht es zugleich zum comparandum der eigenen sprachlichen Bildlichkeit. Er bedient sich dieses bereits vorhandenen Reservoirs an Bedeutung, indem er zugleich als modifizierende, verfremdende oder gar konkurrierende Instanz auftritt, die bestehende Konnotationen des Bildes jedoch nie vergessen machen kann. (15) Eine Interrelation kann zum einen zwischen Texten und Bildern innerhalb desselben Mediums entstehen, wenn zum Beispiel ein Text auf einen vorgängigen Text Bezug nimmt. Die Benutzung des Terminus Intermedialität wird dann nötig, wenn Beziehungen komplexe Mediengrenzen überschreiten. Erst durch Dieterle wird 20 Vgl. dazu: Eichler (1994), Luserke (1996) und Scherpe (1998). 17 Intermedialität zum Terminus technicus, nach dem erzählte Bilder Texte sind, „in denen Bilder nicht nur als Motiv, sondern vor allem als Motivation, Anstoß, Veranlassung eine tragende Rolle spielen“ (10). Die Möglichkeiten der Bezugnahme reichen bei Dieterle „von der bloßen Erwähnung eines Malers oder eines Bildes über Bildbeschreibungen, Erörterungen künstlerischer Fragen bis hin zum Künstlerroman“ (10). In seinem Buch bietet er auch eine Menge von Analysen von Primärtexten. Seitdem kann man Studien über Intermedialität in den folgenden Gruppen einordnen: theoretische Fundierungen (Kranz), Arbeit an einzelnen Texten steht im Mittelpunkt (Eilert, Dieterle) und richtige Typologisierung bei Ulrich Weisstein (1992) in einem Handbuch. Weisstein bietet dem Feld eine Einführung in das Verhältnis von bildender Kunst und Literatur mit einem universalen Geltungsanspruch, während fünfzehn Formen intermedialer Beziehungen in seinem Buch listet. Die in der Dissertation interpretierten Texte sehe ich als Beispiele der Intermedialität an, da sie einerseits als Produkte von Doppeltalenten, andererseits als früheste Beispiele für über intensive Visualität verfügenden Stadttexten einen Versuch machen, mediale Grenzen zu überschreiten. Diese Kategorien erscheinen auch auf Weissteins Liste. Intermedialität ist ein Ansatz der kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft. Nach Klaus Scherpe und Hartmut Boehme ist Kulturwissenschaft ein Resultat des „Veralten[s] der philologischen Methoden gegenüber der Entwicklung der Künste selbst“ (Brenner 12), was ein vor allem in der dialogischen Beziehung der Literatur zu anderen Medien zu beobachtender Prozess ist. In diesem Sinne versucht die Kulturwissenschaft durch die Entwicklung interdisziplinärer Ansätze und Konzepte wie Intermedialität und Medienwechsel diesem Prozess entgegenzuwirken. Das Konzept Intermedialität stammt 18 aus dem 20. Jahrhundert und ist vor dem Hintergrund der mit dem Film erscheinenden Medien zu sehen. Wie der Film im 20. Jahrhundert, funktionierten oft auch neue malerischen Darstellungsweisen im 19. Jahrhundert, da eine bis dato unbekannte Innovationsdynamik mit jedem neuen Medium das gesamte Gefüge der kulturellen Produktions- und Rezeptionsbedingungen verändern kann (Metzler Lexikon, Kultur der Gegenwart 234). Es ist jedoch fraglich, in wie fern literarische Texte aus dem 19. Jahrhundert durch eine im 20. Jahrhundert konzipierte Theorie analysiert werden können. Obwohl hauptsächlich erst die Medienrevolution im 20. Jahrhundert die Aufmerksamkeit auf die Interdependenzen zwischen den Medien gelenkt hat, sollen auch ältere Konzepte erwähnt werden. Im Roman datieren Versuche der Annäherung an die Malerei ab dem Ende des 18. Jahrhunderts, Experimente mit einer Musikalisierung ab der Romantik und Imitation filmischer Techniken ab der Moderne. Coleridge hat bereits 1812 den Begriff „Intermedia“ geprägt, um die poetische Verschmelzung verschiedener Künste zu beschreiben (Metzler Lexikon, Kultur der Gegenwart 233). G. E. Lessings Bestimmung des medialen und semiotischen Wesens von Malerei, Plastik und Dichtkunst und die Verhältnisse zwischen ihnen wird immer wieder als Beziehungspunkt in der Theoretisierung von Intermedialität erwähnt. Lessings Laokoon beschreibt noch eine deutliche Trennung der Künste, indem er die Darstellungsweisen der Literatur primär als raumbezogen charakterisiert. Diese Trennung verschwindet aber in der Romantik, die synästhetische Kunstformen fördert. Der romantische Begriff die Gattungsgrenzen überschreitenden „progressiven Universalpoesie“ von Friedrich Schlegel ist bis heute ein wichtiger Ausgangspunkt in den meisten Definitionen von 19 Intermedialität. In diesem Sinne wird das anachronistische Prinzip der Intermedialität in dieser Dissertation auf Texte des 19. Jahrhunderts angewandt. Der Fokus ist jedoch auf Literatur, da die Interpretationen von Gemälden in der Dissertation nicht auf originaler Forschung beruhen und die Dissertation in erster Linie darauf abzielt, etwas Neues über den Stellenwert der literarischen Texte herauszufinden. Dabei soll die Anklage gegen die „Literatur-Abgewandheit“ (Barner 5) der Kulturwissenschaft überwunden werden. Die Primärtexte werden aus einer ungewöhnlichen Perspektive betrachtet und dabei soll etwas Neuartiges gelernt werden. Die Dissertation zeigt jedoch, dass ganz allgemeine Wahrnehmungsvorgänge und Konzeptualisierungsleistungen kaum zu trennen sind und bildende Kunst und Literatur im 19. Jahrhundert aufschlussreiche Beziehungen miteinander eingehen. Das erste Kapitel beschäftigt sich mit Hoffmanns früheren Berliner Texten und versucht die Kategorie „Berlinische/Berliner Geschichte“ als großstadtliterarische Form zu konzeptualisieren. Das Kapitel hat das Ziel, neben der Formung und Analyse eines neuen Korpus von „Berlinischen Geschichten,“ eine thematische und strukturelle Klassifizierung dieser „Gattung“ vorzunehmen. Die Berlin-Schilderungen von acht Erzählungen Hoffmanns werden in einem breiteren Kontext untersucht und mit den Berliner Zeichnungen des Doppeltalents verglichen. Wenn diese Werke aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive untersucht werden, kommt es zu Tage, dass Hoffmanns Berlin-Beschreibungen aus einer „bildlosen“ Zeit, aus einer Übergangsphase in der Berliner Stadtmalerei stammen. Weiters wird die Analyse auch enthüllen, wie Hoffmanns frühe Berlinische Geschichten als Kritik der damaligen aufklärerischen 20 Stadtplanung gelesen werden können. Schließlich wird gezeigt, dass die diversen malerischen und dichterischen Stadtbilder Hoffmanns mit den ästhetischen Ansichten des Künstlers korrespondieren. Das zweite Kapitel ist den malerischen und literarischen Repräsentationen des Gendarmenmarktes, der als ein kondensiertes Modell der modernen Großstadt angesehen wird, gewidmet. Der Gendarmenmarkt übte auf die Erzähltechnik und Thematik von E.T.A. Hoffmanns letzter Erzählung, Des Vetters Eckfenster (1822) einen markanten Einfluss aus. Einerseits erzeugt der Ort intensive Bildlichkeit, andererseits sind die Verhaltensweisen der Charaktere auf dem Markt und vor dem Theater Komponenten der Großstadtmentalität, die in theoretischen Werken von Georg Simmel und anderen Soziologen und Großstadtforschern über 80 Jahre später beschrieben wurden. In der Analyse wird die Stadtwahrnehmung in Des Vetters Eckfenster in einem breiten Kontext im Vergleich mit drei malerischen Repräsentationen des Gendarmenmarktes aus dem Jahre 1822 (von Carl Georg Adolf Hasenpflug, Carl Georg Enslen und Eduard Gaertner) behandelt. Abschließend wird Karl Friedrich Schinkels Baukunstphilosophie und sein Bühnenbildentwurf aus dem Jahre1822 mit der literarischen Repräsentation dieses neuen urbanen Raumes in Hoffmanns letzter Erzählung kontextualisiert. Die Entdeckung des komplexen Stadtraums und seine Veränderungen im Moment der Entstehung von Hoffmanns letzter Erzählung zeugen davon, dass bestimmte soziale, wahrnehmungsästhetische Phänomene sowohl in der Architektur und malerischen Repräsentationen des Platzes, als auch in der literarischen Schilderung des Ortes anwesend sind. 21 Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit repräsentativen Werken des Berliner Architekturmalers Eduard Gaertner, die in der zweiten Hälfte des Kapitels thematisch und strukturell mit der Großstadtdarstellung Raabes verglichen werden. In der Chronik findet sich nämlich mehrmals eine Imitation bzw. eine Inszenierung der biedermeierlichen Berliner Architekturmalerei, zu der auch die Werke Eduard Gaertners zu zählen sind. Eine Intermedialität entsteht zwischen dem Maler Gaertner und dem Schriftsteller Raabe auf mehreren Ebenen, die anhand der Analyse ihrer Repräsentationstechniken und der symbolischen Anwendung der öffentlichen und verborgenen Lokalitäten von Berlin erläutert wird. Raabe mobilisiert ein den Berlinern bereits bekanntes bildliches Reservoir in seinem Roman, in dem jedoch neben den intermedialen inhaltlichen und strukturellen Parallelen nach der gescheiterten Märzrevolution eine Neupositionierung der handelnden Personen stattfindet. In dem vierten Kapitel der Dissertation werden ausgewählte Werke aus dem Raabeschen Oeuvre mit den zeitgenössischen malerischen Repräsentationen Berlins, in erster Linie von Adolph Menzel, verglichen, um die ästhetischen und thematischen Ähnlichkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Drei Romane mit drei verschiedenen Themenkreisen und Erzähltechniken stehen im Zentrum dieses Kapitels: Altstadtromantik und Großstadtinteresse in Ein Frühling (1857), die Darstellung der Industrialisierung und die Anwendung der Vogelperspektive in Die Leute aus dem Walde, Ihre Wege, Sterne und Schicksale (1863) und die Schilderung der Berliner Vorstädte sowie der Universität in Die Akten des Vogelsanges (1896) und in malerischen Repräsentationen. Die drei Romane sind drei verschiedene Annäherungen, an die 22 Komplexität Berlins darzustellen und können auch dazu benutzt werden, die künstlerische Entwicklung Raabes in Bezug auf seine Berlin-Repräsentationen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu analysieren. 23 KAPITEL 1.: Geister und gespenstische Liebesbeziehungen: Die Berlinischen Geschichten E.T.A. Hoffmanns Einführung „E.T.A. Hoffmann gibt [den Berliner] Straßen Namen. Er zwingt uns durch diesen scheinbaren Realismus, wie ihn die Meister des Manierismus von Rabelais zu Bruegghel, Shakespeare, Cervantes und Callot gekannt haben, die Straßenschilder anders zu lesen“ schreibt Marianne Thalmann in Romantiker entdecken die Stadt (41). Kein anderer Schriftsteller der Romantik hat realistischere Berliner Ortsangaben benutzt als Hoffmann. Das Straßennetz Berlins erscheint in mehreren seiner Erzählungen und Lokalitäten funktionieren als Verknüpfungselemente und intertextuelle Beziehungen, die die verschiedenen Werken verbinden. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit Hoffmanns früheren Berliner Texten und versucht der Kategorie „Berlinische/Berliner Geschichte“ als großstadtliterarische Form nachzugehen. Der Begriff ‚Berliner Roman’ wurde zum erstenmal in der zeitgenössischen Berliner Rundschau von Julius von Rodenberg (1875) benutzt, aber auch Hoffmann verwendete den Untertitel „Berlinische Geschichte“ in seiner Erzählung Die Brautwahl (1818/19). Seitdem taucht er sporadisch in der HoffmannSekundärliteratur21 sowie auf den Buchdeckeln verschiedener Textausgaben auf.22 Da die verschiedenen Werkausgaben, die den Untertitel „Berlinische Geschichten Hoffmanns“ tragen, den Lesern unterschiedliche Texte anbieten, blieb es fraglich, ob der 21 Siehe dazu besonders Klaus Kanzogs Aufsatz. Z.B. in den folgenden Ausgaben: De Bruyn, Günter und Gerhardt Wolf (Hg). E.T.A. Hoffmann. Gespenster in der Friedrichstadt. Berlinische Geschichten. Berlin: Buchverlag Der Morgen, 1986 und Hans von Mueller (Hg). Zwölf Berlinische Geschichten aus den Jahren 1551-1816. Erzählt von E.T.A. Hoffmann. München: Georg Müller Verlag, 1921. 22 24 Terminus sinn- und gattungsgemäß benutzt werden kann und wenn, welche Werke damit bezeichnet werden können. Das Kapitel hat das Ziel, neben der Formung und Analyse eines neuen Korpus von „Berlinischen Geschichten,“ eine thematische und strukturelle Klassifizierung dieser „Gattung“ aufzustellen. Im weiteren werden die Berlin-Schilderungen von acht Erzählungen Hoffmanns in einem breiteren kulturwissenschaftlichen Kontext untersucht und mit den Berliner Zeichnungen Hoffmanns, in denen er berühmte Berliner Örtlichkeiten wie Unter den Linden und den Gendarmenmarkt zur Schau bringt, verglichen. Die kulturwissenschaftliche Untersuchung ergibt, dass Hoffmanns BerlinBeschreibungen aus einer „bildlosen“ Zeit, aus einer Übergangsphase in der Berliner Stadtmalerei stammen. Darüber hinaus können Hoffmanns frühe Berlinische Geschichten als Kritik der damaligen aufklärischen Stadtplanung gelesen werden. Die Friedrichstadt mit ihrem Schachbrettraster und dem streng gewahrten Axialsystem bildet einen auffälligen Kontrast zu den Abenteuern der Protagonisten, die auf den nächtlichen Straßen Berlins seltsamen Gestalten und Gespenstern begegnen, und unheimliche Ereignisse erleben. Es wird auch gezeigt, dass die diversen malerischen und dichterischen Stadtbilder Hoffmanns auch die ästhetischen Ansichten des Künstlers veranschaulichen. Das Kapitel beschäftigt sich zuerst mit den drei Berlin-Aufenthalten Hoffmanns, um zu zeigen, welche Stadtteile und kulturellen Veranstaltungen er besucht und miterlebt hat, und welchen Einfluss die preußische Hauptstadt auf seine Werke ausübte. Danach werden die verschiedenen Textausgaben diskutiert, die einen Versuch machen, das Publikum mit Hoffmanns Berlinischen Werken bekannt zu machen. Zunächst werden die Berlin-Bilder in acht Erzählungen Hoffmanns analysiert und typologisiert. Schließlich 25 wird die Klassifizierung der Werke mit einem Vergleich zwischen den literarischen Werken und den Berlin-Zeichnungen Hoffmanns sowie zeitgenössischen Stadtgemälden ergänzt. „Das lebendige Leben der großen Stadt, der Residenz wirkt doch nun einmal wunderbar auf das Gemüth“: E.T.A. Hoffmann in Berlin E.T.A. Hoffmann ist in Berlin dreimal ansässig gewesen und hat ein Viertel seines Lebens in der preußischen Hauptstadt verbracht. Das erste Mal war Hoffmann in Berlin von Ende August 1798 bis zu seiner Versetzung nach Posen im Sommer 1800, einige Jahre darauf vom 18. Juli 1807 bis zu seiner Abreise am 9. Juli 1808, um dann nach kurzen Aufenthalten in Posen die Stelle eines Musikdirektors am Bamberger Theater anzutreten und endlich, nach einem Intermezzo in Leipzig und Dresden, vom 26. September 1814 bis zu seinem Tod am 25. Juli 1822 (Briefe I-III, Safranski 496-503). Im Folgenden werden Hoffmanns Berlinaufenthalte im Kontext der damaligen Stadtplanung und wichtigsten städtebaulichen Veränderungen behandelt, um zu zeigen, an welchen Stadtteilen und urbanen Entwicklungen Hoffmann Interesse hatte. Als der erst 22jährige Referendar zum ersten Mal nach Berlin kam, um am Königlichen Kammergericht tätig zu werden, stand die fast 170 000 Einwohner zählende Haupt- und Residenzstadt Preußens noch immer hinter London und Paris zurück, war aber auf dem besten Weg, eine bedeutende europäische Metropole zu werden (Ribbe 502). Besuchern der Stadt um 1800 schien das neue Berlin, die Friedrichstadt, das Wesen der preußischen Hauptstadt besser zu repräsentieren als der historische Kern der Stadt um 26 das Schloss herum. Ein Beispiel dafür ist der Eindruck, den die Stadt auf die französische Schriftstellerin Madame de Staël bei ihrem Aufenthalt im Jahre 1804 machte: Berlin ist eine große Stadt mit sehr breiten, völlig geraden Straßen, das Ganze regelmäßig angelegt: doch da es erst vor nicht langer Zeit neu erbaut worden ist, findet man nichts von den Spuren der Vergangenheit [...] Berlin, eine ganz und gar moderne Stadt, hinterlässt keinen bleibenden Eindruck, so schön es auch ist; es lässt nichts von den Zeugnissen der Geschichte des Landes oder von der Art seiner Bürger erkennen, und seine prächtigen neuen Häuser scheinen nur dem bequemen Zusammenkommen bei Vergnügungen und der Arbeit zu dienen. (81) Diese Beschreibung Berlins war weder ganz neu, noch entsprach sie völlig der Wirklichkeit, doch setzte es sich als geläufige Formel der Berlin-Beschreibungen der folgenden Jahre durch. In den ehemaligen Zentren der Schwesterstädte Berlin und Cölln gab es aus dem Mittelalter erhaltene Bauten, doch wurden diese Teile von den Besuchern der Stadt kaum besucht. In den neunziger Jahren und um die Jahrhundertwende wurde überall in Berlin gebaut: Stattliche Wohnhäuser, Bürgerpalais, Repräsentationsbauten in den Bezirken der Friedrichstadt und der Luisenstadt, in den Randbezirken entstanden die ersten Mietskasernen (Ribbe 526). Neben den Prachtbauten Berlins zwischen dem Brandenburger Tor und dem Königlichen Schloss hin bis zum Gendarmenmarkt und dem Kammergericht in der südlichen Friedrichstadt, in der direkten Umgebung von Hoffmanns damaliger Berlin-Adresse (in der Friedrichstadt, in der Leipziger und Kurstraße), gab es eine ganze Reihe eindrucksvoller Palais und Prachtbauten, die der junge Referendar auf seinen Wegen zweifellos gesehen hat (Wirth 37, Safranski 114-20, de Bruyn 278-79). Hoffmann bewegte sich vorzugsweise im Umkreis jener tausend Meter der Friedrichstadt, wo in ungeheuerer Dichte und Eile „eine Kultur hervorbracht [wurde], die sich für den Mittelpunkt des Lebens“ hielt (Safranski 117). Aus den wenigen aus dieser 27 Zeit hinterlassenen Briefen kann zwar schwer festgestellt werden, durch welche Kulturerlebnisse Hoffmanns Fantasie bereichert worden ist, jedoch steht fest, dass er das Theater-, Kunst- und Musikleben genoss. Schriftstellerei erwähnt Hoffmann nicht unter den Aktivitäten, mit denen er sich in Berlin beschäftigt hat. „In Portrait mahlen allein glaube ich starke Fortschritte gemacht zu haben“ schreibt er an Hippel 1798 (Briefe, I, 141) und davon zeugt unter anderem eine Bleistiftzeichnung mit dem Titel „Die Linden,“ die während des ersten Berliner Aufenthaltes entstand (Steinecke, Die Kunst der Fantasie, 43). Hoffmanns zweiter Aufenthalt in Preußens Hauptstadt stand im Schatten der Napoleonischen Kriege und war von Not und Elend geprägt (de Bruyn 279, Wirth 38). Am 27. Oktober 1806 waren die siegreichen Franzosen durch das Brandenburger Tor in Berlin eingezogen und die Bevölkerung litt seitdem unter den Beschwernissen durch die französische Besatzung. Trotz drückender finanzieller Sorgen hatte Hoffmann auch in der kurzen Zeit dieses Aufenthaltes in Berlin mancherlei Anregung durch die Bekanntschaft mit Schriftstellern, Künstlern und Gelehrten, jedoch verbrachte er die meiste Zeit allein in seinem Zimmer in der Friedrichstadt (in der Charlotten- und später in der Friedrichstraße).23 Hoffmann konnte weder im Staatsdienst wieder eingestellt werden, noch seine Kompositionen und Zeichnungen verkaufen. Zeichnerisch fing er mit einem Projekt unter dem Titel „Sammlung grotesker Gestalten nach Darstellungen auf dem K. National-Theater in Berlin“ an, das erste Heft ließ sich jedoch gar nicht verkaufen, da die Berliner Gesellschaft zu der Zeit kein Bedürfnis an fantastischen und komischen 23 Vgl. dazu seinen Brief an Hippel im Dezember 1807: „Du kannst Dir überhaupt nicht denken, mein einziger Freund, was ich hier in B[erlin] für ein stilles zurückgezogenes Künstlerleben führe. In meinem kleinen Stübchen, umgeben von alten Meistern, Feo, Durante, Händel, Gluck, vergesse ich oft alles, was mich schwer drückt, und nur, wenn ich Morgens wieder aufwache, kommen alle schweren Sorgen wieder!“ (Briefe, I, 231). 28 Darstellungen hatte (Steinecke 74). Verzweifelt schrieb er an Hippel im Herbst 1807, dass er „kein Vermögen sondern nur Talent habe“ aber dass es unmöglich sei, „diese Talente [...] hier in dem menschenleeren geldarmen Berlin wuchern zu lassen“ (Briefe I, 221).24 Das Nachkriegselend und die damalige Berliner Gesellschaft werden Jahre später im Debüttext Ritter Gluck in Erinnerung gerufen. Als Hoffmann nach sechs für seine künstlerische Entwicklung entscheidenden Jahren und Aufenthalten in Bamberg, Dresden und Leipzig Ende September 1814 nach Berlin zurückkehrte, war er wiederum am Kammergericht tätig. Während der früheren Berlin-Aufenthalte war er als Schriftsteller noch wenig bekannt. Nach der Veröffentlichung der Fantasiestücke, die gleichzeitig mit dem Berlin-Umzug stattfand, wurde er ein bekannter Literat. Die dritte Berliner Phase Hoffmanns fand unter radikal unterschiedlichen Bedingungen statt als die ersten Besuche. Zuerst wohnte er im Hotel „Goldener Adler“, dann zog er in die Französische Straße, und schließlich in die Wohnung in der Taubenstraße 31, in der er auch gestorben ist.25 Bald kam Hoffmann „in die Mode“ und wurde ein von einem breiteren Publikum gelesener Autor. In dieser Hinsicht kann die bekannte Szene in Des Vetters Eckfenster, in der ein Blumenmädchen 24 Vgl. dazu: „Alles schlägt mir fehl, weder aus Bamberg, noch aus Zürich, noch aus Posen erhalte ich einen Pfennig; ich arbeite mich müde und matt, [...] und erwerbe Nichts! Seit fünf Tagen habe ich nichts gegessen, als Brod – so war es noch nie!“ An Hippel, Berlin den 7 Mai, 1808. (Briefe I, 242). 25 Hitzig beschreibt Hoffmanns Tagesroutine folgendermaßen: „Am Montage und Donnerstage brachte er die Vormittage in den Sitzungen des Kammergerichts, an den anderen Tagen zu Hause arbeitend, die Nachmittage in der Regel schlafend, im Sommer auch spazierengehend zu; die Abende und Nächte in dem Weinhause. War er, was häufig, in manchen Perioden täglich geschah, mittags und abends, in Gesellschaft [...] oft abends in zwei Zirkeln, von sieben bis neun und von neun bis zwölf, gewesen, so ging er, es mochte so spät sein als es wollte, wenn alle anderen sich nach Hause begaben, noch ins Weinhaus, um dort den Morgen zu erwarten. Früher in seine Wohnung zurückzukehren war ihm nicht gut möglich“ (zitiert nach de Bruyn 281). 29 auf dem Marktplatz ein von Hoffmann verfasstes Leihbibliotheksbuch liest, als eine durchaus realistische Facette der damaligen Zeit gelesen werden.26 Während Hoffmann als Komponist und Schriftsteller stadtbekannt wurde, erweiterte sich sein Freundes- und Bekanntenkreis ständig. In diesen Jahren entstanden die „nächtlichen“ Werke Die Elixiere des Teufels und Nachtstücke (1815-17). 1815 begann eine Flut von Erzählungen zu erscheinen, von denen ein Großteil in den Serapions-Brüdern (1819-21) gesammelt wurde. Daneben prägten sich in prosaischen Großformen satirisch, humoristische und experimentelle Schreibweisen aus – Seltsame Leiden eines Theater-Direktors, Klein Zaches, Prinzessin Brambilla, Kater Murr und Meister Floh. Insgesamt veröffentlichte Hoffmann in den knapp acht Jahren bis zu seinem Tod acht selbstständige Werke in 22 Bänden, über 30 Erzählungen und zahlreiche kleinere Schriften. Besonders häufig besuchte Hoffmann das Theater – schrieb in seinem Tagebuch auch gerne darüber – und war oft anschließend mit Freunden wie dem Schauspieler Ludwig Devrient, den Schriftstellern Chamisso und Fouqué zusammen – häufig in einer der Weinrestaurationen in der Nähe des Gendarmenmarktes wie Lutter und Wegner.27 Nicht nur Hoffmanns Leben und seine Einstellung zu Berlin veränderten sich durchgreifend während seines letzten Berlin-Aufenthaltes, sondern auch das Stadtbild Berlins, in dem man in jenen Jahren bis zu Hoffmanns Tod schon Schinkels Schöpferkraft erkennen konnte. Noch gehörte der Geschmack in Berlin vorwiegend dem Architekten Langhans und den Bildhauern Schadow, Rauch und Tieck, jedoch war Hoffmann einer der ersten Literaten, der Schinkels Bautätigkeit sorgfältig, oft am Fenster 26 27 Siehe mehr dazu unter „Hoffmann kommt in die Mode“ (Safranski 389-407). Mehr dazu siehe Safranskis Kapitel „Berliner Tage und Nächte“ (377-389). 30 seiner Wohnung auf dem Gendarmenmarkt stehend, verfolgte und in seinen Briefen über den Entwurf des Schauspielhauses schwärmte. Der Gendarmenmarkt, der schon seit der Eröffnung des Langhans-Theaters im Jahre 1802 ein Platz der bürgerlichen Öffentlichkeit wurde, erlebte eine weitere architektonische Veränderung durch den Brand des Vorgängerbaues. Im neuen architektonischen, kulturellen und ökonomischen Mittelpunkt Berlins wohnend, kommt Hoffmann entgültig in Berlin an und wird ein selbstbewusster Großstadtbewohner. Was die preußische Hauptstadt mit ihren mannigfachen künstlerischen Anregungen für Hoffmann bedeutete, wie aufmerksam und voller Stolz er gegen Ende seines Lebens die architektonischen Veränderungen seiner direkten Umgebung verfolgte, geht aus einem Brief vom 24. Juli 1820 an seinem Freund Theodor Gottlieb von Hippel hervor: Noch einmal, -- Du solltest hier seyn, denn Du gehörst eben so wenig als ich in die Provinz, und bist wohl auch nicht Caesars Meinung: lieber in dem kleinen beengten Kreise der erste zu seyn zu wollen, als in dem großen der zweite oder der dritte, vierte. Das lebendige Leben der großen Stadt, der Residenz wirkt doch nun einmal wunderbar auf das Gemüth, und solcher Kunstgenuss, wie er hier doch zu finden, ist das beste RestaurationsMittel für den Geist, den das Einerley erschlafft, wo nicht zuletzt tödtet. Man kann z.B. jetzt einen ganzen halben Tag und länger schwelgen, wenn man bloß in den neuen Theaterbau hineingeht, und dann bloß das Atelier der Bildhauer Tieck, Rauch und Konsorten im Lagerhause besucht. Am Theater arbeiten die ersten Künstler, und man kann ohne Übertreibung sagen, dass die kleinste Verzierung ein wahrhaftes Künstlerprodukt ist. (SW 4, 189-90) Was Hoffmann nach seinen Briefen und nach Ansicht seiner Biografen bewegt, sind das Theater und dessen „Kunstproduktionen,“ die Oper, die Ausstellungen, die Kaffeehäuser und Konditoreien, die Weinstube Lutter und Wegener, ebenso wie seine bescheidene Wohnung in der Taubenstraße 31, Ecke Charlottenstraße, dem Königlichen Schauspielhaus gegenüber. Hoffmann erfuhr in Berlin zum erstenmal Großstadtleben, 31 politisches Leben, große soziale Spannungen, neueste technische Erfindungen und ein reges Kunstleben. Während der Berlin-Aufenthalte Hoffmanns veränderte sich nicht nur das Stadtbild wesentlich,28 sondern auch Hoffmanns Einstellung zum Großstadtleben: Aus dem Provinzler wurde, wie sein Freund Hippel beschreibt, ein „verdorbener Stadtbewohner.“ „Vater des Berliner Romans“: Editionsgeschichte der Berlin-Texte Hoffmanns Schon am Ende des 19. Jahrhunderts fing man an, Hoffmanns Schilderungen wegen ihrer Exaktheit und Einzelartigkeit als kulturhistorische Dokumente Berlins zu schätzen. 1875 begann Julius Rodenberg, der Herausgeber der Deutschen Rundschau, „den Veränderungen nachzugehen, unter denen das alte Berlin,“ das er seit seiner Studentenzeit gekannt hat, „in das neue sich verwandelte“ (295). In einem Feuilleton mit dem Titel „Unter den Linden“ bietet Rodenberg den Berliner Zeitungslesern nicht nur eine chronologische literarische Geschichte Berlins an, in der Goethe, Schiller, Heine, Börne, E.T.A. Hoffmann und Keller die wichtigsten Rollen spielen, sondern lädt zu einem Strandrundgang ein, währenddessen er den Spuren berühmter Literaten in den von ihnen bewohnten Straßen, öffentlichen Plätzen und privaten Wohnungen Berlins folgt. E.T.A. Hoffmann „trifft“ Rodenberg in einem Cafe und legt ein detailliertes Porträt des 28 Wie schon erwähnt, betonen die nicht-fiktiven Berlin Beschreibungen der Zeit die Neuartigkeit Berlins. Die folgende Charakterisierung der preußischen Residenz ist nur eine der Berlin-Beschreibungen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der Berlin als eine der sich am schnellsten entwickelnden Städte dargestellt wird: „ Man sieht es, das Ansehen, die Größe und Schönheit Berlins beruhen sich nicht auf vielen Jahrhunderten; nicht das Mittelalter hat an dieser Stadt mitgebaut; sie ist schnell, wie auf einen Zauberschlag, zu Dem erhoben, was sie jetzt ist. Es gibt keine Stadt in Europa, die so plötzlich zu Ansehen und Pracht gelangte, wie Berlin; [...] Berlin ist ein steinernes Epos der preußischen Heldenzeit, und die paar Jahrhunderte, die zur Herrlichkeit desselben mithalfen, glänzen von Ruhm, Treue und Patriotismus.“ (E. Beuermann, Vertraute Briefe über Preußens Hauptstadt, 1841. Zitiert nach Gramlich 96) 32 Schriftstellers vor. Nach der Schilderung der legendären Tagesroutine Hoffmanns und der physiognomischen Beschreibung des bekannten Gesichtes erwähnt Rodenberg die wichtigsten Werke des Schriftstellers, die in Berlin spielen.29 Rodenberg versucht nachzuvollziehen, warum Hoffmann so viele von seinen Geschichten in Berlin hat spielen lassen. Dabei zitiert er einen Satz aus der Konversation, die die Serapionsbrüder nach der Erzählung Fragment aus dem Leben dreier Freunde führen: Du hattest bestimmten Anlass, die Szene nach Berlin zu verlegen und Straßen und Plätze zu nennen. Im allgemeinen ist es aber auch meines Bedünkens gar nicht übel, den Schauplatz genau zu bezeichnen. Außer dem, dass das Ganze dadurch einen Schein von historischer Wahrheit erhält, der einer trägen Phantasie aufhilft, so gewinnt es auch, zumal für den, der mit dem Schauplatz genannten Orte bekannt ist, ungemein an Lebendigkeit und Frische. (SW 4, 176) Deutlich wird hier festgelegt, dass die exakten Straßennamen nur einen scheinbaren Realismus hervorbringen. Rodenberg interpretiert Hoffmanns Entscheidung, Berlin als Schauplatz zu benutzen mit eigenen Worten des Schriftstellers, indem er feststellt, dass der spezifische, reale Ort Berlin bei Hoffmann als Katalysator funktioniert, um das verborgene und dämonische Berlin lebendig machen zu können. Nicht nur versucht Rodenberg Hoffmanns Stil zu beschreiben, er verwendet auch dasselbe Konzept, als er unter den Linden spazierend den in Das öde Haus beschriebenen Ort besucht und ihn der damaligen Berliner Gesellschaft wieder ins Gedächtnis ruft. Für einen Moment bricht er mit seinem eigenen Narrativ, versucht Hoffmann nachzuahmen und sich in die deutsche literarische Tradition einzuschreiben.30 29 Rodenberg analysiert in erster Linie Des Vetters Eckfenster, aber erwähnt auch Die Brautwahl. Vgl. dazu: „Das Haus in dieser Gestalt hat Hoffmann nicht mehr gekannt, denn der Durchbruch fand erst Ende der zwanziger Jahre statt; aber noch immer haftet etwas an diesem seltsamen Gebäude, was mir dasselbe vor allen Häusern Unter den Linden interessant macht. Immer noch wendet es seine ‚farblosen Mauern’ dieser elegantesten von Berlins Straßen zu, von ‚zwei schönen Gebäuden eingeklemmt’, wie zu 30 33 Die Schlussfolgerung des Hoffmann-Teiles in Rodenbergs Bericht ist die erste Erwähnung des Schriftstellers als „der Vater des Berliner Romans“: Man könnte Hoffmann den Vater des ‚Berliner Romans’ nennen, dessen Spur später, als man Berlin ‚die Hauptstadt’, den Tiergarten ‚den Park’, die Spree ‚den Fluss’ und die Regentenstraße (nach einer darin befindlichen Fontäne ‚die Springbrunnenstraße’ nannte, sich in Allgemeinheiten verlor, bis er in unseren Tagen wieder aufgelebt ist, freilich in Anlehnung eher an französische Vorbilder als an diesen echt deutschen Schriftsteller... (Rodenberg 306) Rodenberg benutzt den Terminus „Berlinische Geschichte“ quasi als eine Gattungsbezeichnung und weist Hoffmann in der Geschichte des Berliner Romans die Rolle des Gründers zu. Nach Rodenberg brachte Hoffmann in seinen Werken eine „Theorie des Romans“ zum Ausdruck, die zwei wesentliche Komponenten hat. Einerseits wird die Stadt „mit unfehlbarer Treue“ beschrieben und bestimmte Lokalitäten präzis und einzigartig dargestellt. Andererseits erscheint vor dem konkreten Hintergrund eine Existenz, „welche der gemeinen Wirklichkeit widerspricht und doch unmittelbar mit ihr verknüpft ist“ (307). Rodenberg benutzt also den Terminus „Berlinische Geschichte“ bewusst, um Hoffmanns in Berlin spielende Werke zu charakterisieren und der Journalist der Deutschen Rundschau erwähnt fünf Erzählungen Hoffmanns, Drei Freunde, Brautwahl, Ritter Gluck, Das öde Haus und Des Vetters Eckfenster, als Berlinische Geschichten. Die erste umfassende Textausgabe von Hoffmanns „Berlinischen Geschichten“ erschien im Jahre 1921 unter dem Titel Zwölf Berlinische Geschichten aus den Jahren 1551 – 1816 und wurde von dem Germanisten Hans von Müller herausgegeben und sorgfältig annotiert. Im Band gibt es zwölf Stücke, darunter zwei Briefe und weniger beiden Seiten es überragen – mit einem winzig kleinen Balkon, der in keinem rechten Verhältnis zu seiner Breite steht, mit Fenstern, die zwar nicht mehr ‚mit Papier verklebt’ sind, aber etwas Verschlafenes haben, wie von einem Traum, aus dem man schwer erwacht, und mit einem Torweg, der an der Seite angebracht, zugleich zur Haustüre dient“ (Rodenberg 309). 34 bekannte Texte mit den Titeln „Bettinas seltsame Krankheit“ und „Marie Stahlbaum und ihr Pate.“31 Obwohl die Sammlung von Hans von Müller als ein wertvoller Beitrag zum Korpus der Hoffmann-Testausgaben betrachtet werden muss, scheint das angewandte redaktionelle Verfahren des Herausgebers aus heutiger Sicht mehrfach problematisch. Textstellen, die sich nicht unmittelbar auf die preußische Hauptstadt beziehen, wurden eliminiert und die einzelnen Erzählungen mit eigenwilligen Kapitelüberschriften ergänzt. Wahrscheinlich ist das intendierte Publikum in diesem Fall der mit dem Hoffmanschen Oeuvre vertraute Leser, dem durch die sorgfältig aber relativ autoritär bearbeitete Ausgabe eine Zweitlektüre der bereits bekannten Texte angeboten wird. Im Unterschied dazu wird der unerfahrene Leser Hoffmanns diese Texte unter der Lenkung des Herausgebers kennen lernen. Die neueste und editionswissenschaftlich den heutigen Normen entsprechende Ausgabe von sechs Berlinischen Geschichten, Gespenster in der Friedrichstadt: Berlinische Geschichten, stammt von Günter de Bruyn und Gerhard Wolf aus dem Jahre 1985, und umfasst fünf Geschichten.32 Obwohl die Sammlung detailliert annotiert und mit einer Bibliografie ergänzt wurde, findet man keine Aussagen darüber, welche ästhetischen, thematischen und strukturellen Komponenten einen bestimmten Text zu einer Berlinischen Geschichte machen (de Bruyn, „Zum Text“ 296). 31 Diese Ausgabe enthält die folgenden Titel: Erstes Buch: Sechs Begebenheiten aus der Zeit vor Hoffmanns entgültiger Übersiedlung nach Berlin 1551 bis Frühjahr 1814 (Aus dem Leben eines bekannten Mannes, 1551-52; Der Baron von Bagge 1780/90; Geisterbeschwörungen Etwa. 1790-96; Ritter Gluck 1807-08; George Pepusch und Dörtje Bethmann, oder Cactus und Tulpe, 1807/08; Die drei Freunde 1814 und 1816). Zweites Buch: Sechs Begebenheiten aus der Zeit vom September 1814 bis zum September 1816. (Der Kapellmeister Johannes Kreisler an den Baron Wallborn. 27. September 1814; Die Abenteuer der Silvesternacht. Brief vom. 1. Januar 1815; Marie Stahlbaum und ihr Pate. Winter 1815/16; Bettinas seltsame Krankheit, 1816; Das öde Haus. Sommer 1816; Ein Brief an Herrn Baron de la Motte Fouqué, September 1816). 32 Die in diesem Buch veröffentlichten Texte sind die folgenden: Ritter Gluck, Die Abenteuer der Silvesternacht, Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde, Das öde Haus, Die Brautwahl und Des Vetters Eckfenster. 35 Im Folgenden werden Hoffmanns Geschichten, in denen Berlin eine wesentliche Rolle spielt, chronologisch besprochen und der Versuch gemacht, einen neuen Korpus von Hoffmanns Berlin-Texten herzustellen und sie zu klassifizieren. Das Ziel ist zu zeigen, durch welche Kriterien eine Hoffmannsche „Berlinische Geschichte“ thematisch und ästhetisch charakterisiert werden kann. Diese Typologisierung soll im zweiten Kapitel hilfreich sein, um nachzuweisen, wie die Darstellung des urbanen Raumes in Hoffmanns letzter Erzählung Des Vetters Eckfenster sowohl eine Sonderposition einnimmt, als auch als Kontinuität der Stadtbilder in Hoffmanns Berlinischer/Berliner Geschichten angesehen werden kann. Kalte Herbst- und Winternächte in der Friedrichstadt: Berlin in den Fantasiestücken in Callots Manier In den Fantasiestücken in Callots Manier gibt es mehrere Texte, die in Berlin spielen und präzise Ortsangaben enthalten. Vor allem die sogenannten „Zelte“ im Tiergarten scheint Hoffmann geliebt zu haben, da er zwei seiner Novellen, Ritter Gluck und Fragment aus dem Leben dreier Freunde hier beginnen lässt. Die erste Berlinische Erzählung Hoffmanns ist zugleich sein erster literarischer Erfolg, Ritter Gluck. Eine Erinnerung aus dem Jahre 1809, die seit der Wiederentdeckung Hoffmanns als ein Höhepunkt seiner Kunst zählt. Die Erzählung entstand etwa 1808 und erschien zuerst 1809 in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung (SW 2/1, 610). Ritter Gluck ist Hoffmanns literarisches Debüt „ohne Anfängerhaftes“ wie de Bruyn das Werk treffend charakterisiert (Nachwort 279), 36 in dem vieles, das später typisch für Hoffmann wird, zu finden ist: Die Musik als erste der Künste, die Problematik des Künstlers und Bürgers, und die Fantastik, die organischer Teil der genau beobachteten Welt zu sein scheint. Was Hoffmanns BerlinDarstellung betrifft, stimmt die Sekundärliteratur mit dem Germanisten Herbert Heckmann überein, der feststellt, dass eine Großstadtszene wie die Anfangsszene der Erzählung vor Hoffmann „keiner in der deutschen Literatur geschildert“ hat (31). Die im Text erscheinenden Berliner Orte und die damalige Berliner Gesellschaft hat Hoffmann in den ersten Zeilen der Erzählung mit erstaunlicher Genauigkeit geschildert: Der Spätherbst in Berlin hat gewöhnlich noch einige schöne Tage. Die Sonne tritt freundlich aus dem Gewölk hervor, und schnell verdampft die Nässe in der lauen Luft, welche durch die Straßen weht. Dann sieht man eine lange Reihe, buntgemischt -- Elegants, Bürger mit der Hausfrau und den lieben Kleinen in Sonntagskleidern, Geistliche, Jüdinnen, Referendare, Freudenmädchen, Professoren, Putzmacherinnen, Tänzer, Offiziere usw. durch die Linden nach dem Tiergarten ziehen. Bald sind alle Plätze bei Klaus und Weber besetzt; der Mohrrübenkaffee dampft, die Elegants zünden ihre Zigarros an, man spricht, man streitet über Krieg und Frieden... (SW 2/1, 16) Topographisch wie inhaltlich hat die Erzählung zwei Teile. Der erste, wie das obige Zitat zeigt, schildert die Begegnung des Ich-Erzählers mit einem Sonderling im Tiergarten, mit dem er in Richtung Brandenburger Tor spaziert. Der zweite Teil ist eine Begegnung einige Monate später, die beim Theater beginnt und in der Wohnung des Unbekannten in der Friedrichstadt endet. Aus den lebenslustigen, hellen Orten im Tiergarten ziehen sich die Protagonisten in der Folge der Erzählung in die „öden Räume“ von Berlin zurück, symbolisiert durch die Fassade eines „unansehnlichen Hauses“ in der Friedrichstadt. Bei großen Teilen der damaligen Friedrichstadt handelte es sich um Ansammlungen von 37 Neubauten in monotoner Bauweise.33 Berlin erscheint in Hoffmanns erster Erzählung als ein realer Ort, auf dessen Straßen der Ich-Erzähler und ein Irrer in ihrem Dialog das zeitgenössische Musikleben kritisch betrachten.34 Zwei der dargestellten Lokalitäten, „die Wohnung in der Friedrichstraße“ und das Theater, das von Langhans entworfene und erst 1802 fertiggestellte Königliche Nationaltheater am Gendarmenmarkt, befinden sich in der nahen Umgebung von Hoffmanns damaliger Berlin-Adresse: Friedrichstraße 179 (de Bruyn 300). Die in Ritter Gluck dargestellten Berliner Örtlichkeiten, die Zelten im Tiergarten, Unter den Linden und Orte in der Friedrichstadt, gehören ausnahmslos zum „neuen Berlin.“ Die Friedrichstadt mit ihren geraden Straßen und modernen Fassaden und die Umgebung des Tiergartens werden die wichtigsten und meistzitierten Hintergründe auch in den späteren Erzählungen Hoffmanns, während die Altstadt, den nicht-fiktiven Reisebeschreibugen der Zeit ähnlich, eher unerwähnt bleibt. Durch die realistisch wirkenden Passagen entsteht ein komplexer, urbaner Raum, der die Fantasie des Ich-Erzählers fördert, der sich dem „leichten Spiel“ seiner Einbildungskraft überlassend und die Kommenden und Gehenden beobachtend, auf eine eigentümliche Person aufmerksam wird und dieser mehrmals in der Stadt begegnet. „Sie verstehen sich ganz und gar nicht auf Berlin und die Berliner,“ erklärt der absonderliche Unbekannte dem Erzähler, von dessen Außenseiterperspektive die preußische Hauptstadt 33 Vgl dazu: Julius von Rodenberg beschreibt in der Deutschen Rundschau das Folgende: Das normale Berliner Wohnhaus der nachfriderizianischen Ära wirkte „nüchtern, ohne Schwung, wie der Staat jener Zeit, auf das Nothdürftige beschränkt, unfreundlich, monoton, langweilig, eines wie das andere“ (I, 344). 34 Die meisten Deutungsversuche der Erzählung versuchen die Existenz und die Identität des Titelhelden zu erklären. Die meisten betrachten den Fremden als Wahnsinnigen, der sich einbildet, Gluck zu sein. Andere halten Gluck für den Geist eines Komponisten, dessen Geist weiterlebt. Eine dritte Gruppe beschreibt die Titelfigur als ein Fantasiegebilde des Ich-Erzählers, der von sich selbst schreibt, als ob er sein eigener Gesprächspartner wäre. Eine Mehrdeutigkeit kommt in dieser Weise zu Tage, vor allem was das Verhältnis von Wirklichkeit und Fantasie betrifft. 38 beschrieben wird (SW 2/1, 23). Wenn man die Berliner Orte unter die Lupe nimmt, wird es deutlich, dass die präzis angegebenen Berliner Adressen nicht einfach auf einer zeitgenössischen Landkarte lokalisiert werden können. Die im ersten Absatz geschilderten geografischen Koordinaten und die zeitgeschichtlichen Details implizieren eine realistische Erzählkunst, jedoch erweisen sie sich nach einer gründlichen Analyse als ambivalente Realien: Dicht an dem Geländer, welches den Weberschen Bezirk von der Heerstraße trennt, stehen mehrere kleine runde Tische und Gartenstühle; hier atmet man freie Luft, beobachtet die Kommenden und Gehenden, ist entfernt von dem kakophonischen Getöse jenes vermaledeiten Orchesters: da setze ich mich hin... (SW 2/1, 19) Weder ein Weberscher Bezirk noch eine Heerstraße gab es im damaligen Berlin und werden umsonst auf einer zeitgenössischen Stadtkarte gesucht.35 Beide topographischen Angaben sind Hinweise, dass es in der ersten Berlinischen Geschichte Hoffmanns nicht auf realistische Genauigkeit ankommt. Die Heerstraße, als eine breite Straße, auf der die Masse zu finden ist, wird im Dialog zwischen dem Geistesgestörten und dem IchErzähler wieder erwähnt und als Gegenbild dem realistischen Berlin entgegensetzt: Ha, wie ist es möglich, die tausenderlei Arten, wie man zum Komponieren kommt, auch nur anzudeuten! -- Es ist eine breite Heerstraße, da tummeln sich alle herum und jauchzen und schreien: ‚wir sind Geweihte! wir sind am Ziel!’ -Durchs elfenbeinerne Tor kommt man ins Reich der Träume; wenige sehen das Tor einmal, noch wenigere gehen durch! -- Abenteuerlich sieht es hier aus. Tolle Gestalten schweben hin und her, aber sie haben Charakter -- eine mehr wie die andere. Sie lassen sich auf der Heerstraße nicht sehen, nur hinter dem elfenbeinernen Tor sind sie zu finden. (SW 2/1, 24) Während die Heerstraße die Charlottenburger Chaussee und das elfenbeinerne Tor das in der Erzählung auch erwähnte Brandenburger Tor evoziert, lernt der Leser eine fantastische Welt kennen, in der der Künstler lebt. Diese Fantastik, die Bilder aus Homers 35 Die Stellenkommentare in den Sämtlichen Werken ist das Folgende zu der Stelle: „Heerstraße“ als eine Bezeichnung für das Gewöhnliche, Normale „es ist eine breite Heerstraße.“ (SW 2/1 617) 39 Odyssee und Vergils Aeneis evoziert (SW 1, 622), scheint dem genau beobachteten Alltagsleben innezuwohnen und damit eng verbunden zu sein. Im Werk entsteht eine topographische Dichotomie, in der die eine Komponente zeitgenössisches, reales, jedoch teilweise subjektivisiertes Berlin konstituiert und die andere „das Reich der Träume“ ist, in der die gleichen architektonischen Konstruktionen dargestellt werden. Die breiten Spazierstraßen und ein Tor, die die Grenze der Stadt/des Traumreiches konnotieren, sind auch geschilderte Teile des realen Berlins. Neben den faktischen Straßen- und Ortsnamen (Linden, die „Zelte,“ Klaus und Weber im Tiergarten, Friedrichstraße, Brandenburger Tor) erscheinen fiktive (Heerstraße) oder mäßig veränderte Berliner Lokalitäten (der Webersche Bezirk) in der Erzählung. Den Berlinern sollte die Bezeichnung „Weberscher Bezirk“ fremd klingen, da die „Zelte“ am nördlichen Rand des Tiergartens, deren Wirte Klaus und Weber hießen, nie nach dem Namen der Besitzer in zwei Bezirke eingeteilt waren (SW 2/1, 618). Das „Webersche Zelt“ ist eine Erfindung Hoffmanns und die Bezeichnung evoziert den Namen des Kapellmeisters B.A. Weber, der unter anderem die in der Erzählung erwähnten Opern dirigierte (SW 2/1, 618). Inhaltlich und topographisch entsteht eine Multidimensionalität im Werk, zu deren Lösung der Ich-Erzähler keinen Schlüssel anbietet. Die Berlin-Bilder der ersten Erzählung Hoffmanns bringen eine dramatische Spannung und eine einzigartige Hoffmannsche Berlin-Topographie zustande, die auch auf die nachfolgenden Berlin Beschreibungen einen Einfluss ausgeübt haben.36 Eine weitere topographische Dichotomie entsteht zwischen dem ‚Alten’ und ‚Neuen,’ zum Beispiel in der Lage und Beschreibung der Wohnung von ‚Ritter Gluck.’ 36 Zum Beispiel erscheint „das Webersche Zelt“ auch in den anderen Berlin-Geschichten: Fragment (SW 4, 129) und Brautwahl (SW 4, 699). 40 Die Wohnung, in der die Enthüllung des Irren erfolgt, ist in einer Querstraße der Friedrichstadt gelegenen „unansehnlichen Haus“, in das der Ich-Erzähler an einem kalten Abend geführt wird. Während die Figuren in der Stadt stets unterwegs sind und ihre Gespräche teilweise auf den Straßen laufend in Bewegung stattfinden, steht die Zeit in der Wohnung still, deren sonderbare Einrichtung, „altmodisch, rein verzierte Stühle, eine Wanduhr mit vergoldetem Gehäuse und ein breiter, schwerfälliger Spiegel“ (SW 2/1, 29) detailliert beschrieben wird. Dieses „verjährte“ Domizil befindet sich im neuesten Teil der Stadt, die als ein Raster, auf dessen kalten und nassen nächtlichen Straßen die zwei Gestalten eilig und mechanistisch verkehren, angedeutet wird. Neben den neu/alt Oppositionen benutzt Hoffmann kalt/warm Gegenpole, um die Dichotomie zu intensivieren. Neben der Gegenüberstellung der kalten Straßen mit dem durch eine Kerze beleuchteten Zimmer erscheinen diese Gegenpole auch in den Worten von „Ritter Gluck,“ als er beschreibt, wie er aus dem „Reich der Träume“ in der hiesigen Welt ankam: „eine eiskalte Hand fasste in dies glühende Herz!“ (SW 2/1, 30). Eine Dualität ist auch in der Publikationsgeschichte der Erzählung präsent: Einerseits wurde das in literarische Form eingebettete Stück als musikkritische Schrift 1809 in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung veröffentlicht, andererseits erschien es 1814 als das zweite Stück in Fantasiestücke in Callot’s Manier. Dementsprechend können die topographischen Orte des Werkes zwiefach interpretiert werden. Teils verhüllen sie zeitgenössische Anspielungen auf Berliner Komponisten, Opernaufführungen und Unterhaltungsmusik, die auch in den Berlin-Bildern des Textes ihre Spuren hinterlassen haben.37 Teils entspricht die Ästhetik der topographischen 37 Oesterle interpretiert die Erzählung als eine subversive Auflösung der in der Aufklärung festgeschriebenen Zuständigkeiten von Poesie und Musik: „Durch Grenzübertritt von der rhetorischen 41 Beschreibungen dem von Hoffmann beschriebenen Prinzip in Callot’s Manier, was er in einem seiner Briefe an seinen Freund Kunz am prägnantsten zusammengefasst hat: „die besondere subjektive Art wie der Verfasser die Gestalten des gemein[en] Lebens anschaut und auffasst“ (Briefwechsel I, 416).38 Berlin wird romantisiert, indem die genau beobachteten Szenen der realen Welt mit fantastischen Schilderungen versetzt werden. Es ist augenfällig, dass die eindrucksvollsten Berliner Orte am Anfang und am Ende Hoffmanns literarischer Tätigkeit erscheinen. Eine fröhliche Menge Unter den Linden, die den Erzähler zum Tiergarten und dann „Ritter Gluck“ folgend in die Friedrichstadt zieht, ist der Anfang des Hoffmannschen Oeuvre, das mit dem elegischen Blick des Vetters auf die Menschenfülle des Gendarmenmarktes abgeschlossen wird. Zwischen den zwei obigen Meilensteinen gibt es aber mehrere, oft weniger bekannte Werke, in denen Berlin als Schauplatz eine wichtige Rolle bekommt. Die nächste Erzählung im vierten Band der Fantasiestücke, in der Berlin als Hintergrund benutzt wird, ist Die Abenteuer der Sylvester-Nacht, die in den ersten sechs Januartagen 1815 entstand. An die Stelle der linearen Ich-Erzählung tritt in diesem Text eine außerordentlich beziehungsreiche Verschränkung dreier Stimmen (Herausgeber, reisender Enthusiast und Spikher). Das Abenteuer ist eine Auseinandersetzung mit der zerstörenden Gewalt gesellschaftlich unterdrückter Sexualität. Poesie zur anderen Sprache der Traumpoesie und durch das Überschreiten der Töne der Musik zu Klang und Geräusch wird das Schema der Aufklärung, hier Begriffe und Vorstellungen der Poesie, dort Seelenempfindung der Musik, untergraben“ („E.T.A. Hoffmanns Ritter Gluck“ 63). 38 Vgl. dazu auch die Einführung „Jacques Callot“ in den Fantasiestücken: „das Gemeinste aus dem Alltagsleben [...] erscheint in dem Schimmer einer gewissen romantischen Originalität, so dass dem Fantastischen hingegebene Gemüt auf eine wunderbare Weise davon abgesprochen wird“ (SW 2/1, 17). 42 Die Erzählung beginnt mit den Worten des fiktiven Herausgebers, der die Begründung der Auswahl seiner Geschichte mit den folgenden Sätzen schließt: „Was kann ich mehr für den reisenden Enthusiasten tun, dem nun einmal überall, und so auch am Silvesterabend in Berlin, so viel Seltsames und Tolles begegnet ist?“ (SW 2/1, 325). Bald lernt der Leser den Maler Erasmus Spikher im ersten Kapitel der Erzählung („Die Geliebte“) kennen, der in der eiskalten Berliner Nacht der Kurtisane Giuiletta kurz in einem Zimmer wiederbegegnet, die ihn an die „engelschöne, jugendlich anmutige“ Julie erinnert, die neben ihm steht und „elektrische Feuerstrahlen“ aussendet (SW 2/1, 329). Musik und die Konversation mit Julie verstärken Spikhers Verzückung, was dazu führt, dass er die Gesellschaft fluchtartig verlässt. Metaphorische Gegenteile des KaltWinterlichen auf der einen Seite und des Glühend-Feurigen auf der anderen kommen in der Folge der Erzählung, wie in Ritter Gluck, immer wieder vor, wobei die Berliner Straßen als ‚kalte’ Wirklichkeit dargestellt werden.39 Wie der erste Abschnitt beginnt auch das zweite Kapitel („Die Gesellschaft im Keller“) der Erzählung mit einer Ortsangabe: „Die Promenade unter den Linden ist sonst ganz angenehm, aber nicht in der Silvester-Nacht bei tüchtigem Frost und Schneegestöber“ (SW 2/1, 331). Barköpfig und unbemäntelt läuft Spikher aus der Altstadt in die Friedrichstadt über die Opernbrücke, beim Schloss vorbei, biegt ab und geht über die Schleusenbrücke an der Münze vorüber. Die freundlichen Lichter in den Zimmern der Jägerstraße bewundernd, wird Spikher auf einen Keller aufmerksam. Aus 39 Ricarda Schmidt interpretiert jeden Charakter im Text als ein malerisches Ikon und ordnet jeder Figur Gemälde verschiedener historischer Maler zu: Julia vergleicht sie mit den Frauendarstellungen auf Gemälden Mieris, Breughels, Callots, Rembrandts und Rubens, den schattenlosen Mann den Bildern von Rubens und den Kleinen einer Enslerschen Fantasmagorie. Schmidt zeigt überzeugend, dass die Figuren ihre Bedeutung in der Erzählung mit Hilfe von zahlreichen malerischen Referenzen strukturieren. Diese Korrespondenz erscheint jedoch nur in Bezug auf die Erzählfiguren und nicht auf Berlin. Mehr dazu siehe Schmidt 90-114. 43 dem hellen Teezimmer steigt unser Protagonist in den dunklen Bierkeller in der Jägerstraße hinunter. Dort hat er wieder eine seltsame Begegnung, jetzt mit dem schattenlosen Peter Schlemihl, der nach einer Konversation über Botanik und Spiegelbilder „über den Gendarmesturm hinwegschritt und in der Nacht [verschwindet]“ (SW 2/1, 337). Der damit gemeinte Turm des Französischen Doms erscheint in mehreren Erzählungen und hat eine „disziplinierende“ Funktion, da die aus den Kellern kommenden (Silvesternacht) oder durch ein im Fenster erscheinendes Frauenbild verwirrten Protagonisten (Fragment aus dem Leben) auf diesem Platz entweder in die Normalität des Alltags zurückkehren (Silvesternacht) oder die Entscheidung treffen, Berlin mindestens für eine Weile zu verlassen (Alexander in Fragment aus dem Leben).40 In sein Hotel, Goldener Adler, zurückkehrend trifft Spiker im dritten Kapitel („Erscheinungen“) einen seiner Gesprächspartner, den janusköpfigen Kleinen, wieder. In einem Nachttraum fließen die bisherigen Ereignisse, die Erscheinung der Geliebten, das Gespräch im Keller und die Begegnung mit dem Kleinen, zusammen. Das vierte Kapitel („Geschichte vom verlornen Spiegelbilde“) erzählt in einer „Er-Form“ die vollständige Geschichte von Erasmus Spikher und dessen verlorenem Spiegelbild. Das raffiniert strukturierte Werk schließt mit den verschiedenen Bildern und Schicksalen der Protagonisten im Postskript des reisenden Enthusiasten, welches an E.T.A. Hoffmann adressiert ist. In den letzten Kapiteln kommt das zentrale Thema des Textes zu Tage: Spiegelbild, Spiegelungen und Identitätsproblematik. 40 Vgl. dazu: „Als ich über den Gensd’armesplatz kam, stellte sich gerade ein Trupp Freiwilliger zum Abmarsch, da stand es klar vor meiner Seele, was ich tun müsse, mich selbst zu beschwichtigen und die ärgerliche Geschichte zu vergessen“ (Fragment aus dem Leben dreier Freunde, SW 4, 154). Alexander geht danach zur Behörde, um seine Wiedereinstellung zu bewirken, um die Stadt wieder verlassen zu können. 44 Das in den ersten drei Kapiteln der mehrteiligen Erzählung dargestellte zeitgenössische winterliche Berlin mit präzisen Adressen erscheint als ein entseelter, starrer Block, wie die Friedrichstadt auf zeitgenössischen Stadtkarten. In den Träumen und Visionen der Protagonisten und in den eingeschobenen Herausgebernotizen und Binnengeschichten dagegen wird ein dämonisches Berlin vergegenwärtigt, das dem kalten Gegenpol des nüchtern beschriebenen urbanen Raumes entgegengesetzt wird und zugleich darauf weist. Es entsteht ein bipolares Berlin-Bild zwischen Rationalisierung und Dämonie, in dem die Lebensbereiche der alltäglichen bürgerlichen Zivilisation und die Sphäre des lebendigen Gefühls im starken Kontrast miteinander stehen. Die preußische Hauptstadt ist einerseits eine objektive Macht, eine „aufgeklärte“ Entität mit transparenten Qualitäten, andererseits ein Ort des Vergessens, oder wie Heinz Brüggemann treffend schreibt „ein Ort der Verführung, wo sich die tief eingeprägten Engelsbilder der ersten, der ‚himmlischen’ Liebe auflösen und verlieren in ganz anderen Sensationen des Wunderbaren, in den Abenteuern des Blicks, den Entdeckungen des Körpers“ (Das andere Fenster, 121). Die Grenzlinien zwischen den zwei Bereichen überschneiden sich in dieser Erzählung so eng, dass Hoffmanns Kritik des reisenden Enthusiasten erwähnt werden soll. Hoffmann bezweifelt nämlich die Glaubwürdigkeit dieser Erzählfigur, die zwischen Fantastik und Wirklichkeit keinen Unterschied machen kann. Den reisenden Enthusiasten sieht er als einen „Geisterseher“, der „offenbar sein inneres Leben so wenig von äußern, dass man beider Grenzlinien kaum zu unterscheiden vermag“ (SW 2/1, 325). Einer der Erzähler der Serapions-Brüder, Theodor, beschreibt die von Hoffmann bevorzugte 45 Poetik, in der es zwischen dem Alltäglichen und dem Fantastischen ein Gleichgewicht gibt: Ich meine, dass die Basis der Himmelsreiter, auf der man hinaufsteigen will in höhere Regionen, befestigt sein müsse im Leben, so dass jeder nachzusteigen vermag. Befindet er sich dann höher und höher hinaufgeklettert, in einem fantastischen Zauberbereich, so wird er glauben, dies Reich gehöre auch noch in sein Leben hinein, und sei eigentlich der wunderbar herrlichste Teil desselben (SW 4, 721) Die Metapher bestrebt eine Darstellung an, in der der Schriftsteller zwischen den verschiedenen Domänen, Innenwelt und Außenwelt, Körper und Geist eine Balance gewinnen kann. Diese Bestrebung manifestiert sich auch in der Schilderung des Berliner urbanen Raumes. Seltsame Begegnungen: Berlin in den Nachtstücken Ein Streben nach der oben geschilderten Balance kennzeichnet die späteren Berlin Beschreibungen. In Hoffmanns zweitem, Ende 1816 bzw. Ende 1817 veröffentlichtem Zyklus Nachtstücke gibt es ebenfalls Erzählungen, in denen Berlin plastisch dargestellt wird. Besonders die Berlin-Bilder der Erzählung Das öde Haus, die den zweiten Teil der Nachtstücke eröffnet, sind berühmt geworden. Die berlinspezifischen Einzelheiten des Textes werden vor dem Hintergrund von Hoffmanns Leben und Umgang in Berlin deutlicher. Hoffmanns Freund, Julius Eduard Hitzig schreibt, dass der Schriftsteller nach dem „Eindruck, den ein, unter den Linden gelegenes, Haus auf ihn machte, dessen Fenster nach vorn hinaus nie geöffnet erschienen, und hinter denen seine Fantasie ihm allerlei Spukhaftes sehen ließ“ zu der Erzählung angeregt worden sei (SW 3, 164). Gemäß einer Anmerkung von Günter de Bruyn handelte es sich bei dem Gebäude um das 46 Haus unmittelbar neben der bekannten Konditorei Fuchs, Unter den Linden No. 9 (alte Zählung), welches 1824 abgerissen wurde (307).41 Die Geschichte verfügt über eine vielschichtige, jedoch übersichtliche Struktur, in der das Rahmengespräch und die ausführlichen topographischen Angaben eine definitive Grenze zwischen dem Wunderlichen und dem Wirklichen produzieren. Die mit Gebäuden jener Art eingeschlossene Allee, welche nach dem ***er Tore führt, ist der Sammelplatz des höheren, durch Stand oder Reichtum zum üppigeren Lebensgenuss berechtigten Publikums. In dem Erdgeschoss der hohen breiten Palläste werden meistenteils Waren des Luxus feil geboten, indes in den obern Stockwerken Leute der beschriebenen Klasse hausen. [...] Schon oft war ich die Allee durchwandelt, als mir eines Tages plötzlich ein Haus ins Auge fiel, das auf ganz wunderliche seltsame Weise von allen übrigen abstach. Denkt euch ein niedriges, vier Fenster breites, von zwei hohen schönen Gebäuden eingeklemmtes Haus, dessen Stock über dem Erdgeschoss nur wenig über die Fenster im Erdgeschoss des nachbarlichen Hauses hervorragt, dessen schlecht verwahrtes Dach, dessen zum Teil mit Papier verklebte Fenster, dessen farblose Mauern von gänzlicher Verwahrlosung des Eigentümers zeugen. Denkt euch, wie solch ein Haus zwischen mit geschmackvollem Luxus ausstaffierten Prachtgebäuden sich ausnehmen muss. (SW 3, 165-66) Das ausgewählte Haus ist das eine, das von den großen, hohen Häusern der Linden absticht und aus der Gleichzeitigkeit der modernen Fassaden herausfällt. Sowie das öde Haus als ein bizarres Bild beschrieben wird, ist auch Theodors Benehmen, der immer wieder am Haus vorbeizieht, merkwürdig. Die Germanisten Heinz Brüggemann und Robert McFarland charakterisieren Theodors Verhalten als Flanerie, besonders in der Darstellung seiner Neigung, „oft allein durch die Straßen zu wandeln,“ sich „an jedem Kupferstich, an jedem Anschlagzettel zu ergötzen“, die ihm „begegnenden Gestalten zu 41 Mehr dazu siehe Safranski 397. 47 betrachten“ und „manchem in Gedanken das Horoskop zu stellen“ (SW 3, 165).42 Theodors Verhalten wird in neuster Forschung als das des Flaneurs beschrieben (McFarland 108-9), jedoch wird diese mobile Haltung zu einer starren Fixierung, als der Blick des Erzählers mit dem Fenster des öden Hauses verbunden bleibt. Die Erzählung vom öden Haus, wie die meisten Berlinischen Geschichten, handelt vom Liebeszauber. Der Blick Theodors, angezogen vom verschlossenen Haus und dessen verhängten Fenstern, ist der sexualisierte Blick, um dessen „Heilung“ es in der Geschichte geht (Brüggemann, Das andere Fenster 146).43 In der Folge der Erzählung verliert Theodor seine Beziehung zur Außenwelt, die sich in den breiten Schilderungen der lokalen Verhältnisse am Anfang und der detailgenauen Topographie der Linden manifestiert, um sie dann nach und nach zurückzuerlangen. Dem Geschmack eines breiten Publikums folgend, erzählt er eine schauderhafte Geschichte über ein Geheimnis, das die damaligen Berliner beschäftigt hat und zeigt dabei, dass es auch in den hellsten Orten der aufgeklärten Preußischen Hauptstadt dunkle Ecken gibt. Eine der populärsten Darstellungen von Berlins Prachtboulevard war die sogenannte „Lindenrolle,“ deren Ästhetik mit Hoffmanns realistischer LindenalleeSchilderung verglichen werden kann (Verwiebe, Unter den Linden 80). Kurz nach den Befreiungskriegen entwickelte sich die preußische königliche Prachtstraße, die mit Zeit auch als Wohn- und Geschäftsstraße fungierte, zur bürgerlichen Flaniermeile. Die 42 Rodenberg charakterisiert den Schriftsteller Hoffman mit ähnlichen semantischen Mitteln: „Tagelang läuft er hinter ihm unbekannten Personen her, „die irgendetwas Verwunderliches im Gang, Kleidung, Ton, Blick haben“ (257). 43 Vgl. auch dazu Lieb 58-75. 48 „Lindenrolle“ war eine frühe kleinpanoramatische Repräsentationsform, die die ganze Länge und Breite der Straße topographische genau und detailtreu darstellte.44 Abbildung 1: Lindenrolle – Panorama der Straße Unter den Linden, um 1819/20 Hoffmann bietet seinen Berliner Lesern eine ähnlich detailtreue Darstellung der Straße mit ihren Wohnhäusern, Geschäften und Restaurants, jedoch bleibt sein Blick auf einem Fenster fixiert, das wie die ungewöhnliche Gestalt im Tiergarten die Fantasie des IchErzählers beflügelt und eine seltsame Geschichte in Gang setzt. Das nächste Denkmal von Hoffmanns Berlin-Aufenthalt ist die im Herbst 1818 mit der Jahreszahl 1819 erschienene Theaterschrift Seltsame Leiden eines TheaterDirektors, die in den Hoffmann-Editionen sowie in der Hoffmann-Forschung vernachlässigt wird. Als Hoffmann diese Theaterschrift verfasste, lebte er schon seit einigen Jahren wieder in Berlin. Viele Erfahrungen und Beobachtungen Hoffmanns am Berliner Schauspielhaus sind in diese Schrift eingegangen, die Hoffmanns Ansichten über die Entwicklungen der Berliner Bühne in den Jahren 1817/18 enthält (SW 3, 1045).45 Die Theaterschrift bespricht Mängel des zeitgenössischen Theaters und 44 Alle Gebäude und Querstraßen sind auf der Rolle am unteren Bildrand benannt und mit der jeweiligen Hausnummer versehen (Vorwiebe 80). 45 Die kritische Ausgabe des Textes skizziert kurz die Verhältnisse des zeitgenössischen Berliner Theaterlebens, was das Verständnis des Textes dem heutigen Leser wesentlich erleichtert. Als Hoffmann 1814 nach Berlin kam, waren die Königlichen Schauspiele durch die Intendanz Ifflands geprägt. Die von 49 Theaterlebens. Von Äußerlichkeiten, wie der Größe des Theatergebäudes oder Fragen der Beleuchtung beschäftigt sich mit Problemen des Theaterdirektors und der Schauspieler bis hin zu Darstellungs- und Dramaturgiefragen. Die Schrift kritisiert und offenbar verspottet das zeitgenössische Theaterleben, enthält aber auch eine Reihe von Verbesserungsvorschlägen. Durch die Schrift propagiert Hoffmann ein „humoristisches, phantastisches, volkstümliches, ‚romantisches’ Theater, das in der deutschen Theaterwirklichkeit kein Vorbild hat“ (SW 3, 1051). Der Text besteht aus einer Dialogform, die dem Gesprächsthema eine besonders angemessene Form ist, zwischen zwei Theaterdirektoren, dem Braunen und dem Grauen. Die im Dialog teilnehmenden Partner reflektieren aber über das Theaterleben nicht nur aus einer pur didaktischen und theoretischen Perspektive, sondern erzählen auch Anekdoten und zeigen Humor, Ironie und Sarkasmus. In dieser Weise wird der Text mehr als eine Theaterschrift und wie Des Vetters Eckfenster kann der Dialog als eine Reflexion über Dichtung, die selbst zur Dichtung wird, beschrieben werden. Der Text ist aber nicht nur wegen der eigenartigen Struktur, der Dialogform und im Zusammenhang mit Des Vetters Eckfenster bemerkenswert. Obwohl keine spezifischen Ortsangaben in Seltsame Leiden eines Theater-Direktors angedeutet werden, wird oft impliziert, dass der Graue und der Braune das Berliner Theaterleben diskutieren.46 Im Gegensatz zu den anderen Berlin-Texten enthält dieses Stück außer der impliziten Beschreibung des ihm bevorzugte Darstellungsform des „idealisierten oder geformten Realismus“ setzte sich damals in Berlin durch. Nach Ifflands Tod beauftragte König Friedrich Wilhelm III. Graf Brühl mit der Intendanz. Brühl bevorzugte die von Goethe gelehrte Darstellungsweise aus Weimar, „die vom Geist der Stilisierung, von ‚gemessenen’ Bewegungen und ‚würdevollern’ Auftreten sowie einem stark skandierenden, ‚rhetorischen’ Sprechen geprägt war. [...] In der Auseinandersetzung zwischen beiden Darstellungsstilen nahm Hoffmanns Freund Ludwig Devrient eine Sonderstellung ein (SW 3,1047-48). Im Text verteidigt Hoffmann den genialen Verwandlungskünstler (mit dem man Devrient assoziieren kann) gegen die Vertreter des Weimar Stils. 46 Vgl. dazu: „In einer bedeutenden Residenz ist jetzt von der Errichtung eines neuen Theaters die Rede...“ (SW 3, 485). 50 Schinkelschen Schauspielhauses und dessen Größe (SW 3, 485) keine topographischen Angaben von Berlin. Die ortspezifischste Diskussion findet in der Besprechung eines Theatergebäudes statt, indem die zwei Theaterdirektoren, der Braune und der Graue gleichzeitig ihre Meinungen zu aktuellen Stadtbaudiskussionen äußern. Die Debatte wird von einer Hoffmannschen Dualität geprägt: Einerseits besprechen die zwei Figuren, dass die Größe eines Theaters die Zuschauer nie daran hindern dürfte, „Alles was auf der Bühne gesprochen und gesungen wird,“ vollkommen zu vernehmen (SW 3, 482-83). Andererseits drückt der Braune seine Faszination über die „geniale Wirkung“ der Theaterdekorationen von Gropius und Schinkel aus, die im Publikum “eine höhere Illusion” erzeugen (SW 3, 485): In einer bedeutenden Residenz [Berlin LV] ist jetzt von der Errichtung eines neuen Theaters die Rede, und so wie man Rücksichts der Dekorationen dort schon seit einiger Zeit auf jene höhere Illusion, von der ich vorhin sprach, recht genial gewirkt hat, so scheint es auch, als wolle man jetzt, nur den wahrhaft dramatischen Effekt im Auge, nach den Grundsätzen des alten Gretry und aller wahren Dramatiker zu Werke gehen. (SW 3, 485) Die Textstelle bezieht sich auf das Schauspielhaus, das unter Leitung von Karl Friedrich Schinkel 1818 begonnen worden war. Die Diskussion über die Größe des Theaters und die Teilnahme des Braunen und des Grauen an städtebaulichen Debatten korreliert auch mit einer Zeichnung, die Schinkel in der Sammlung Architektonischer Entwürfe über das entworfene Schauspielhaus veröffentlicht hat. 51 Abbildung 2: Karl Friedrich Schinkel, Schauspielhaus, Berlin, 1818-1821. In der Zeichnung der Fassade sieht man zwei kleine Figuren neben dem Schauspielhaus, die auf das Gebäude zeigend miteinander ein Gespräch führen. In der Zeichnung erscheinen die Figuren trotz der realistischen Darstellung viel zu klein im Gegensatz zum entworfenen Theater. Obwohl das Gebäude die Zeichnung dominiert, impliziert die Szene, dass sich die die Einwohner von Berlin mit den architektonischen Veränderungen auseinandersetzten. Implizite Ortsangaben und die Teilnahme an den städtebaulichen Diskussionen der Zeit qualifizieren den Text zur Aufnahme in einen Berlin-Textkorpus Hoffmanns. Die ungewöhnliche Darstellungsweise des Dialogs bezeugt eine Vielfalt und Multiperspektivität der Berlin-Texte Hoffmanns. Die merkwürdige Dialogform und die Erwähnung des Schauspielhauses bringen den Text der letzten Erzählung Des Vetters 52 Eckfenster nah und zeigen, dass die Bausteine des letzten Textes auch schon in früheren Berlin-Werken anwesend waren. Brautwerbung in Berlin: ‚Berlinische Geschichten’ in den Serapions-Brüdern Zwei in den Serapions-Brüdern gesammelte Werke spielen ebenfalls in Berlin: Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde wurde 1816 geschrieben, erschien zuerst 1817, und wurde danach in den ersten Band der Serapionsbrüder aufgenommen. Schauplatz der Handlung ist, wie schon im Ritter Gluck, der Berliner Tiergarten, das Webersche Zelt, ein öffentliches Lokal, wo sich drei Freunde, Alexander, Severin und Marzell, nach langer Trennung am zweiten Pfingsttag beim Kaffee treffen. Zu der Zeit, in der diese Erzählung spielt (1814 und 1816), waren längst massive Gebäude aus den Zelten geworden (de Bruyn 304), d.h. dass Hoffmann in dieser Erzählung seiner Leserschaft ein Stück vergangenes Berlin präsentiert. In der Konversation der Freunde geht es um Gespenstergeschichten, die alle mit dem Umzug vom Lande in die Großstadt verbunden sind. Alle drei Erzähler sind wie der Schriftsteller Hoffmann Provinzler, deren Umzug in die große Stadt mit Faszination aber auch mit Angst verbunden ist. Der erste Erzähler ist Alexander, der eine Erbschaft, eine „abgelegene Wohnung“ in einem öden Haus seiner verstorbenen Tante, erhalten hat, das seit deren Todestage unverändert blieb (SW 4, 136). In Alexanders Zimmer hängt ein lebensgroßes Gemälde der jugendlichen Tante im vollen Brautschmuck und Alexander erzählt seinen Freunden von deren nächtlichem Spuk. Die öffentliche Rede von Gespenstern interpretiert Heinz Brüggemann als „ein Erscheinungsbild jenes vernünftigen Berlin, das Hoffmann [...] in romantischer 53 Illumination, ironisch gebrochen, vorführt“ (Das andere Fenster 105). Die objektive, „aufgeklärte“ Großstadt entmachtet die vom Land nach Berlin umziehenden Freunde und verändert ihre gewöhnlichen Lebensverhältnisse. Auf Alexanders Spukgeschichte von der verstorbenen Tante folgt eine Gespenstergeschichte Marzells, der erst seit kurzem im westlichen Teil Berlins ansässig geworden ist: Gleich, nachdem ich angekommen [...] mietete ich in der Friedrichstraße ein nettes meubliertes Zimmer; wie Alexander warf ich mich todmüde aufs Lager; doch kaum wohl ich eine Stunde geschlafen habe, als es mir wie ein heller Schein auf die geschlossenen Augenlider brannte. Ich öffnete die Augen und – denkt euch mein Entsetzen! dicht vor meinem Bette steht eine lange hagere Figur mit todbleichen, graulich verzogenem Gesicht und starrt mich an mit hohlen gespenstischen Augen. (SW 4, 141) Am nächsten Morgen lernen wir das Gespenst als den Flurnachbarn kennen, der über besondere Gaben verfügt und die Fähigkeit, „unter gewissen Bedingungen in das Innerste der Menschen zu schauen und ihre geheimsten Gedanken zu erraten“ (SW 4, 145). Severin wohnt in dem entfernteren Teil des Tiergartens, südlich der Tiergartenstraße. Sowohl Alexander als auch Marzell begegnen seltsamen Gestalten in ihren Wohnungen während der Nacht. Sie erleben zum ersten Mal in ihren Leben Spukgeschichten, schon am ersten Tag in der Residenzstadt. Kein Wunder, dass Severin auch eine Spukgeschichte zu erzählen hat, über etwas, was ihm am ersten Tag in Berlin passierte. Sein Narrativ wird jedoch durch ein unerwartetes Geschehen unterbrochen (SW 4, 145).47 Eine Genreszene im Tiergarten lässt ihre leidenschaftliche Konversation verstummen und die drei Freunde versuchen, Hypothesen über den Briefboten und das nach Erhalt des Schreibens weinenden Mädchens am Nachbartisch aufzustellen. Dabei handelt es sich um ein intertextuelles Motiv, denn mehrere Berliner Erzählungen (Ritter 47 Vgl dazu: „... Gleich den ersten Tag als ich angekommen’ --- In dem Augenblick wurde Severin durch einen alten, sehr wohlgekleideten Mann unterbrochen“ (SW 4, 145). 54 Gluck, Das öde Haus, Geheimnisse) behandeln die Enthüllung der Identität beobachteter Figuren. Die anmutige, reizende Gestalt, wie in anderen Berlin Texten (Sylvesternacht, Geheimnisse, Das öde Haus), wird das Objekt ihres Begehrens. Nach einer unerwarteten Zäsur treffen sich die drei Freunde nach zwei Jahren am selben Ort, um dieselbe Zeit am zweiten Pfingsttag beim Kaffee. Alle drei erzählen ihre Geschichten, in denen die gemeinsam beobachtete Frau, Paulina Asling, die zentrale Rolle spielt. Severins und Marzells „Romanen“ über ihre erfolgslosen Werbungen um Paulinens Hand folgt Alexanders Geschichte über sein Liebesglück. Die drei verschiedenen Erzählungen mit ihren drei Perspektiven konstituieren eine verhältnismäßig kohärente Geschichte, wodurch die im Titel von einem „Fragment“ angekündigte Vorstellung nicht erfüllt wird. Die drei Geschichten des zweiten Teiles der Erzählung enthalten wiederum präzise Berliner Adressen und die Routen der Erzähler, die alle in die Grünstraße führen und auf einer Stadtkarte ganz genau verfolgt werden können. Wie in Ritter Gluck bewegen sich die Protagonisten vom Westen Berlins nach Osten. Der Leser kann die Asling Familie von den Zelten durch das Brandenburger Tor bis zum Schloss, und Severin die Breite Straße entlang über die Leipziger Straße laufen sehen. Eine alternative Strecke wird von Alexander erzählt, dem „eine ganz deutlich bestimmte Ahnung“ sagt, wann er „mit Anstrengung fort- und hineinlief durch das Leipziger Tor und dann nach den Linden“, die sehr langsam davonschreitende Familie am Ausgang derselben oder in der Nähe des Schlosses antreffen wird (SW 4, 157). Die Wohnung der Asling Familie befindet sich in der Neuen Grünstraße, die die Verlängerung der in Alt-Kölln gelegenen Grünstraße ist (de Bruyn 306). Diese Straße führt aus dem alten Berlin in einen neuen 55 Stadtteil über die Friedrichsgracht in die Köllnische Vorstadt. Topographisch deckt diese Erzählung die meisten Teile der damaligen Stadtkarte Berlins ab, jedoch wie in den anderen Texten dominieren die neuen, bürgerlichen Wohnzirkel und Schauplätze. Unter den exakt und für den zeitgenössischen Leser unschwer lokalisierbaren Adressen wird die Großstadt ein Ort des Zufalls und zum Schauplatz der Täuschung und gegenseitigen Verfehlung. Der komplexe, urbane Raum wird zum Spielplatz einer literarischen Fantastik und zerstört Gewissheiten. Wie in den anderen Berlin-Geschichten Hoffmanns erscheint ein klares und dunkles, ein kaltes und warmes, ein reales und irreales, ein aufgeklärtes und dämonisches Berlin, das einerseits präzise dargestellt wird, andererseits die Wahrnehmung des Selbst und des Anderen völlig verstellt.48 Diese Berlinische Geschichte enthält die ausdrücklichste Kritik der Rationalisierung der Aufklärung. Als Alexander das Haus, in dem er mit dem Spuk der verstorbenen Tante zusammen leben soll, verkaufen will, bekommt er von seinem Schwiegervater den folgenden Ratschlag: In alter Zeit hatten wir einen frommen schlichten Glauben, wir erkannten das Jenseits, aber auch die Blödigkeit unserer Sinne, dann kam die Aufklärung, die alles so klar machte, dass man vor lauter Klarheit nichts sah und sich am nächsten Baume im Walde die Nase stieß, jetzt soll das Jenseits erfasst werden mit hinübergestreckten Armen von Fleisch und Bein. (SW 4, 168) Wie in den vorigen Geschichten ist das Gespenstische mit dem aufgeklärten, klar lesbaren Berlin streng verbunden. Reale und irreale Bilder fließen ineinander, und es ist kein Zufall, dass während der „letzte[n] Schlage zwölf einer aus der Ferne dumpf 48 In Heinz Brüggemanns Worten, der die Literarisierung des urbanen Raumes ähnlich interpretiert: „[d]as Ich als Schauplatz, als Raum wird durchlässig gegenüber dem urbanen Raum – darin liegt die Bedeutung der Großstadt für die literarische Romantik“ (Das andere Fenster, 118). 56 tönenden Turmuhr“ (SW 4, 122) gleichzeitig ängstliches Seufzen und Stöhnen in den Wohnungen der Protagonisten zu hören ist. Zweifellos sind die Berliner Schauplätze auch in dieser Erzählung die von Hoffmann selbst bevorzugten Orte in der preußischen Hauptstadt. Die realitätsfernen Fantasien gehen von realen Bildern aus, was in einer idiosynkratischen Mischung von traumhaften und faktischen Elementen resultiert. Die Realien Berlins, die im Gespräch nach der Erzählung auch von den Serapions-Brüdern diskutiert werden, haben die Funktion, die Doppelbödigkeit der Realität zur Schau zu bringen. Die nächste Berlinische Erzählung Hoffmanns, Die Brautwahl, entstand 18181819 und erschien im dritten Band der Serapionsbrüder. Wie schon erwähnt hatte der Erstdruck den Titel Die Brautwahl, eine berlinische Geschichte, in der mehrere ganz unwahrscheinliche Abentheuer vorkommen (SW 4, 1466). Die Erwartungen, die durch den Titel gesetzt werden, zielen auf eine Mischung von realen Ereignissen, in der viele der Gestalten und Orte genau lokalisiert werden können („berlinische Geschichte“), aber auch auf Fantastik, die mit dieser Wirklichkeit eng verbunden ist. Der Text hat zwei Versionen, von denen die erste Fassung außer dem Titel mehr auf ein mit den zeitgenössischen Berliner Verhältnissen vertrautes Lesepublikum abzielt als die zweite Fassung, in der bestimmte Berliner Realien entfernt worden sind (SW 4, 1467). Im Folgenden wird die zweite Fassung mit der Berücksichtigung der Veränderungen untersucht. Die Geschichte handelt von der Brautwahl dreier Personen, dem Kanzleisekretär Tusmann, dem Maler Edmund Lehsen und dem wegen seiner Verdienste in Wien 57 baronisierten Benjamin Dümmerl, die alle um die Hand der hübschen Demoiselle Albertine Vosswinkel werben. Den Bewerbern folgend führt Hoffmann seine Leser in die Altstadt Berlins, zuerst die Königstraße entlang zum Berlinischen Rathaus, dann ins neue Berlin, auf den Alexanderplatz und in den Tiergarten. Die topographische Bewegung in dieser Erzählung verhält sich also umgekehrt zu den vorigen Texten, von der Altstadt nach Westen. Jedoch benutzt Hoffmann den altstadtlichen Hintergrund, von dem der Leser bald nach Osten weitergeführt wird, um zu zeigen, wie modernes Leben im alten Berlin geführt wird. Die Erzählung beginnt mit einer zeitgenössischen Kritik an der großen Stadt als Ort der Einförmigkeit und Regelhaftigkeit.49 In den ersten Zeilen beschreibt Hoffmann die Nachtroutine des weltfremden Geheimen Kanzleisekretärs Tusmann, dessen Gebärden und Gewohnheiten nach den Schlägen der Kirchenuhren organisiert sind: In der Nacht des Herbst-Äquinoktiums kehrte der Geheime Kanzleisekretär Tusmann aus dem Kaffeehause, wo er regelmäßig jeden Abend ein paar Stunden zuzubringen pflegte, nach seiner Wohnung zurück, die in der Spandauerstraße gelegen. In allem, was er tat, war der Geheime Kanzleisekretär pünktlich und genau. Er hatte sich daran gewöhnt, gerade während es auf den Türmen der Marien- und Nikolai-Kirchen elf Uhr schlug, mit dem Rock- und Stiefelausziehen fertig zu werden, so dass er, in die geräumigen Pantoffeln gefahren, mit dem letzten dröhnenden Glockenschlage sich die Nachtmütze über die Ohren zog. (SW 4,627) Die komischen Effekte von Tusmanns Nachtruhe sind Folgen der Rationalisierung des Lebens und der Zeitökonomie der Großstadt, deren Kritik auch in anderen BerlinErzählungen zum Ausdruck kommt. Während der Leser mit der nächtlichen Routine des in der Altstadt wohnenden Kanzleisekretärs bekannt gemacht wird, sehen wir unseren 49 Vgl. auch dazu das folgende Stelle in Die Brautwahl: „Eben dieser Entlegenheit ihrer Wohnungen halber hatten die Freunde einen öffentlichen Ort in der Stadt gewählt, wo sie sich an bestimmten Tagen und Stunden sehen wollten. Es geschah auch so; sie kamen aber mehr, um das sich gegebene Wort zu halten, als aus innerm Antriebe“ (SW 4, 141). 58 Protagonisten aus der Königsstraße in die Spandauerstraße hineinbiegen, plötzlich ein „seltsames Klopfen“ hören und an dem verfallenen Fenster des Rathausturms eine weibliche Gestalt, die ihm versprochene Albertine, erblicken. Der fixierte, erstarrte Blick auf das Liebesobjekt ist ein Leitfaden, der in mehreren Berlinischen Geschichten auftaucht (Das öde Haus, Fragment, Geheimnisse). Der Kanzleisekretär wird höchst erregt und wird in diesem Zustand von einem merkwürdigen Fremden in einen Keller auf dem Alexanderplatz gebracht. Der Abstieg in den Keller ist ebenfalls ein beliebtes intertextuelles Motiv der Berlin Erzählungen (Sylvesternacht). Die nächste Szene spielt sich an einem Tisch in einem Weinstübchen auf dem Alexanderplatz ab, wo unter anderem auch über Berlin diskutiert wird. Um die obige Kritik des getrennten modernen Lebens schärfer zu machen, wird an dieser Stelle der Erzählung das alte Berlin nostalgisch ins Gedächtnis gerufen: [D]amals gab es gar öfters fröhliche Hochzeit auf dem Rathause, und solche Hochzeiten sahen ein wenig anders aus als die jetzigen. [...] Überhaupt muss ich bekennen, dass damals Berlin bei weitem lustiger und bunter sich ausnahm als jetzt, wo alles auf einerlei Weise ausgeprägt wird, und man in der Langweile selbst die Lust sucht und findet, sich zu langweilen. (SW 4, 649) Dem Leser wird nahegelegt, dass Berlin am Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts bei weitem interessanter war als jetzt, wo alles von Monotonie geprägt ist. Wie Das Fragment enthält auch Die Brautwahl eine Aufklärungskritik, und ein Bild aus der Vergangenheit Berlins wird dazu benutzt, die Monotonie und Einförmigkeit des modernen Lebens zu verdeutlichen. Tussmanns Gebärden, sein moderner Tagesablauf und seine Vision der unerreichbaren Braut am Fenster des alten Rathauses werden den bunten mittelalterlichen Festen und fröhlichen Hochzeiten einer vergangenen Zeit gleichgestellt. Der Einsatz des alten Rathauses in zwei unterschiedlichen semantischen 59 Bereichen erzeugt die gleiche Dualität, die die anderen Berlin-Geschichten Hoffmanns prägt. Wie in Das Fragment gibt es eine Diskussion über Die Brautwahl im Rahmengespräch der Serapions-Brüder. Lothar erläutert den Freunden seine Erzählung mit den folgenden Worten: „Übrigens gewahrt ihr, dass ich meinem Hange das Märchenhafte in die Gegenwart, in das wirkliche Leben zu versetzen, wiederum treulich gefolgt bin“ (SW 4, 720). Nach Lothar wird hier ein in einen festgelegten Raum und bestimmte Zeit eingebettetes Märchen erzählt. Die wichtigsten Komponenten der Erzählung sind jedoch, wie auch in den früheren Texten, die reale Gegenwart Berlins und die Geschichte, „in der mehrere ganz unwahrscheinliche Abentheuer vorkommen“ (originaler Untertitel).50 Geheimnisse und Irrungen: Berlin in den Späten Werken In den Späten Werken gibt es zwei Erzählungen, Die Irrungen. Fragment aus dem Leben eines Fantasten aus 1820 und Die Geheimnisse. Fortsetzung des Fragments aus dem Leben eines Fantasten von 1821, deren Handlungsort in zahlreichen konkreten Bezügen Berlin ist. Die Erzählungen, von der Forschung kaum beachtet, verdienen höchstes Interesse.51 Die Doppelerzählung wurde wegen ihrer „sprunghaften, zerrissenen Darstellung“ abgewertet (Steinecke 131). Der Protagonist der beiden Texte wird im 50 Wegen der Märchenelemente in der Erzählung (Dreizahl der Bewerber, die Kästchenwahl) wurde die Erzählung als „Wirklichkeitsmärchen“ in der neusten kritischen Ausgabe des Textes charakterisiert (SW 4, 1474). 51 Aufsätze über die Doppelerzählung beschäftigen sich mit den kabbalistischen Mysterien und der frühromantischen Rezeption der antiken Mysterienkulte im Text (siehe Marco Lehmann), mit griechischen und hebräischen Wortspielen in den Charakternamen der Erzählung (siehe Praet und Janse 78-97) und mit der Rolle des Autors (siehe Deterding 2003, 45-69). 60 Untertitel als „Fantast“ bezeichnet, jedoch das Konzept im Vergleich mit den anderen Fantast-Werken parodistisch angewandt.52 Unter den Berlinischen Geschichten hat dieser Text den virtuosesten Umgang mit Autor- bzw. Herausgeberfiktionen, die von satirischen, ironischen und selbstironischen Zügen geprägt sind. Gerhard Kaiser zählt die zwei Erzählungen, in denen es um eine Liebesbegegnung bzw. um den griechischen Freiheitskampf geht, zur Vorgeschichte einer „Literatur des höchst poetischen Unsinns“ (95). Unter den eingeschalteten Blättern, mehreren Briefen, Herausgebernotizen und Traumbeschreibungen lässt sich die folgende Handlung herauskristallisieren: Magus versucht die Eheschließung einer griechischen Aristokratin mit einem Freiheitshelden zu verhindern und bringt die Fürstin nach Berlin, um sie dort an den Baron Theodor v. S. zu verheiraten. Obwohl der Baron sich in die rätselhafte Unbekannte verliebt, scheitert der Plan immer wieder. Die erste Geschichte wird noch relativ kontinuierlich erzählt mit der Einschaltung von Zeitungsanzeigen und Briefen. Der zweite Teil enthält mehrere fiktive Briefe des Autors und der Protagonisten und eine Brieftasche mit zahlreichen „Blättlein“, die ziemlich eigenartig und fragmentarisch nebeneinandergestellt sind. Das Resultat ist ein schwindelerregender Perspektivenwechsel und die aktive Teilnahme des Lesers, der dazu aufgefordert wird, die Geschichte aus Mosaiken zusammenzustellen. Der „reale“ Autor Hoffmann erscheint ein immer aktiver Erzähler und Teil der von ihm erschaffenen Berliner Welt. Er gibt dem Leser eine Reihe von Hinweisen, die es ermöglichen, Hoffmann mit dem Fantast zu identifizieren.53 52 Wie Magdolna Orosz an zahlreichen Beispielen in ihrem Buch zeigt, werden die Erzählstrategien Selbstreferenz und Parodie auch in anderen Werken von Hoffmann mit Vorliebe benutzt. 53 Das folgende Beispiel, das die Kleidungsstücke des Doppelgängers beschreibt ist ein intertextuelles Element zwischen diesem Text und Des Vetters Eckfenster: „ein Mann im weiten Warschauer Schlafrock, 61 Die ersten Zeilen der Erzählung Die Irrungen, die den Leser mit einer Anzeige aus der Haude- und Spenerschen Zeitung konfrontieren, beginnt mit einer genauen Ortsangabe: Ein junger, schwarz gekleideter Mann „mit braunen Augen, braunem Haar und etwas schief verschnittenem Backenbart“ wird gesucht, der „vor einiger Zeit im Tiergarten auf einer Bank unfern der Statue Apollo“ eine kleine himmelblaue Brieftasche mit goldenem Schloss gefunden hat (SW 5, 461).54 Der junge Mann, der sich ein bisschen darüber ärgert, dass sein Backenbart in der Anzeige als schief verschnitten bezeichnet wurde, ist Baron Theodor von S., der die Anzeige als Anfang eines Abenteuers sieht und in der Folge der Erzählung alles versucht, die geheimnisvolle Frau, die immer wieder als „ein in lange Schleier gehülltes Frauenzimmer“ erscheint, zu finden, der die Brieftasche gehört. Die Tasche enthält unter anderem ein Blättlein, in dem Berlin aus der Außenseiterperspektive der verschleierten Griechin beschrieben wird. Die preußische Residenz erscheint als eine „schön gebaute“ aber leere Stadt „mit schnurgeraden Straßen und großen Plätzen,“ mit Alleen von halbverdorrten Bäumen, mit öden Märkten und kleinen, versteckten Basaren (SW 5, 466). Geklagt wird auch über die Paläste, deren Baumaterial aus kleinen, hässlich roten Backsteinen, die die Autorin vorher noch nie gesehen hat, besteht (SW 5, 466). Die Stadtbeschreibung der fremden Dame stimmt mit den zeitgenössischen Reiseberichten überein, wie schon am Anfang des Kapitels durch ein rotes Käppchen auf dem Haupt, aus einer langen Pfeife Rauchwolken vor sich herblasend, von Gesicht, Stellung – nun! – sein eigenes Ebenbild trat ihm entgegen...“ (SW 5, 520). 54 Nach dem Stellenkommentar des Textes befand sich diese Apollo Statue von der Stadt aus gesehen links hinter dem Brandenburger Tor, direkt am Rande der nach Charlottenburg führenden Chausse (SW 5, 1080). Hoffmanns Versetzung der Statue in die Mitte eines runden umgegebenen Platzes bedeutet in diesem Fall die Benutzung eines teilweise fiktiven Ortes. 62 ein Zitat von Madame de Staël gezeigt wurde.55 Berlin wird, wie in vielen der früheren Prosawerke Hoffmanns (Ritter Gluck, Sylvesternacht) als ein Ort charakterisiert, dessen „tote kalte Steinmassen“ die „glühenden Herzen“ der Nicht-Berliner zu erdrücken drohen. Die nüchtern beschriebene Topographie Berlins steht im starken Kontrast zu den rätselhaften Figuren und deren irrealen Vorstellungen und surrealen Abenteuern. Der Baron Theodor von S., ganz außer sich, trifft die abenteuerliche Entscheidung, nach Griechenland zu fahren, um seine „Musarion“ zu finden. Er lässt sich beim Theaterschneider eine neugriechische Garderobe machen und setzt seinen Onkel von den Geheimnissen der bis jetzt verhüllten griechischen Ahnengalerie der Familie in Kenntnis. Bei diesen Aktivitäten folgt der Leser ihm an genau angegebene Orten von Berlin, durch die Linden, nach Zehlendorf, um die Apollo-Statue im Tiergarten, auf den Pariser Platz und zum Brandenburger Tor. Jedoch scheitert die Reise nach Griechenland am Tor von Berlin, und anstatt nach Petras zu fahren, wird Freienwalde – ein Ort außerhalb der Großstadt – des Barons Reiseziel um sich zu ‚heilen.’ Sobald es ihm dank des Mineralwassers besser geht, bekommt er eine „unüberwindliche Sehnsucht nach der Residenz“ und kommt „glücklich wieder in Berlin an“ (SW 5, 482). Bald findet er sich aber wieder in einem zerstörten Zustand, als er während eines Spazierganges durch die Linden einem seltsamen, gespensterhaften, fremdartigen Paar, einem „krummbeinichten alten Mann“ mit einer verschleierten Dame, zu folgen beginnt und sie im Spiegelkabinett des Konditorladen bei 55 Vgl. dazu auch Nikolais Beschreibung Berlins: „Die Friedrichstadt ist jetzt der ansehnlichste Theil von Berlin. Die Straßen gehen alle gerade, und stoßen fast alle winkelrecht aufeinander [...] “. Immerhin sah sich Nikolai durch die Monotonie der endlos wiederkehrenden Fassaden zur einer kritischen Bemerkung genötigt, dass die Häuser meist nur zwei Geschosse hoch und „unter Einem Dache fortgeführet“ seien, und ihnen dies „ein etwas einförmiges Ansehen“ verleihe. (183) 63 Fuchs beobachtet.56 Theodors Wahnsinn wird weiter gesteigert als er während seines nächsten Bummelns in der Friedrichstraße in spukhafter Weise „über [der] Türe [eines] schönen Hauses“ auf die folgende Inschrift aufmerksam wird: „Hier sind meublierte Zimmer zu vermieten“ (SW 5, 500). Im Haus begegnet der Baron jedenfalls dem seltsamen Paar und enthüllt die Identität „des Kleinen“ als die des Kanzlei-Assistenten Schnüsspelpold aus Brandenburg und der verschleierten Frau als die seines Protegees, einer tatsächlich griechischen Fürstin. Wohnungen in der Friedrichstadt (Ritter Gluck und Alexander in Das Fragment), in die man zufällig eingelassen wird und über eine verborgene Identität aufgeklärt wird, sind weitere Verknüpfungselemente unter den Berlinischen Geschichten. Da diese Szenen in mehreren Erzählungen anwesend sind, verbindet dieses Motiv die zwei in Späten Werken veröffentlichten Geschichten mit den anderen ‚Berlinischen Geschichten.’ Die beiden Erzählungen enthalten abenteuerliche Erfindungen und orientalistische Gestalten, die aber in einem höchstrealistischen Berlin verankert sind. Sogar exakte Daten werden genannt (die Gegenwart der Entstehung 1820/21). Dieses Berlin lässt sich noch an weit mehr Details als in anderen Berlinischen Geschichten Erzählungen topographisch leicht wiedererkennen. Bekannte Straßen, Plätze und Gebäude aus dem neuen Berlin werden in großer Zahl genannt (Unter den Linden, genaue mit Hausnummern versehene Adressen in der Friedrichstraße, Pariser Platz, Leipziger Tor, Brandenburger Tor, Apollo-Statue im Tiergarten). Auch zahlreiche spezifische Orte dienen als Schauplätze, die in den früheren Erzählungen benutzt wurden (Konditorei 56 Die Konditorei Fuchs erscheint in mehreren Berlin-Texten Hoffmanns aber auch in Briefe aus Berlin von Heine und im Text „Unter den Linden“ von Julius von Rodenberg. 64 Fuchs, Hotel Sonne). Diese detailreiche Verankerung der Erzählungen macht den Übergang zum Wunderbaren um so schrofferer und absonderlicher. Es geht auch sehr spezifisch um die Gesellschaft Berlins um 1820. Unter anderem beschreibt der Text die Graecomanie im damaligen Deutschland und die schwärmerische Begeisterung der Deutschen für die Griechen. Der Baron, der sich eine griechische Garderobe und Ahnengalerie besorgt, um sein neues Hobby auszuleben, schreckt aber vom ersehnten Liebesglück zurück als er erfährt, dass die griechische Fürstin mit ihm nach Griechenland will, damit er im Krieg als edler Held sterben kann.57 Die Griechenland-Schwärmerei ist hier nicht nur ein kulturhistorisches Denkmal, um den Philhellenismus Berlins zu verewigen, sondern auch eine ironische Darstellung der damaligen Griechen-Mode einer blasierten Gesellschaft. Die Klassifizierung von Hoffmanns Berlinischen Geschichten Die obigen Texte Hoffmanns und seine Vorliebe, Berliner Alltag und Lokalkolorit in seine Erzählungen einzubeziehen, zeugen davon, dass der aus Königsberg stammende E.T.A. Hoffmann einer der ersten Schriftsteller war, der die Großstadt in mehreren seiner Werke literaturfähig gemacht hat. In allen Berlinischen Geschichten werden fantastische Ereignisse geschildert, die – im Realen verankert – auf bekannten Straßen und an genau angegebenen Adressen spielen. Ein Inventar der Berliner Örtlichkeiten zeugt davon, dass Hoffmanns Figuren in ganz Berlin zu Hause sind (vom Westen nach Osten: die Zelte im 57 Die Realisierung der Wirklichkeit des Krieges verändert die Gefühle des Barons zu der griechischen Fürstin. Die Veränderung wird mit den schon oft benutzten kalt/warm Gegenpolen beschrieben: „In dem Inneren des Barons ging bei diesen Reden der Griechin eine seltsame Veränderung vor. Denn auf glühende Hitze folgte eine Eiskälte und es wollte den Baron gar eine Fieber-Angst überwältigen“ (SW 5, 506). 65 Tiergarten, zahlreiche genaue Adressen Unter den Linden, verschiedene Straßen und Plätze der Friedrichstadt, einige Orte in der Altstadt, Alexanderplatz), jedoch konzentrieren sie sich auf einen bestimmten Hoffmannschen Katalog, nämlich die Friedrichstadt und den Tiergarten. Alle Erzählungen sind an ein mit der Topographie Berlins und dem Alltag der Hauptstadt vertrautes Publikum gerichtet. Die realistischen Ortsangaben sind aber gelegentlich falsche Realien oder zumindest mit künstlerischer Freiheit behandelt. Viele der Berliner Örtlichkeiten erscheinen in mehreren Texten und können als Verknüpfungselemente und intertextuelle Referenzen betrachtet werden (z.B. das Webersche Zelt, Keller in der Friedrichstadt, der Spiegelsaal in der Fuchsischen Konditorei oder verborgene Wohnungen in der Friedrichstadt). In diesem Sinne ist die Bezeichnung der obigen Texte unter dem Oberbegriff Berlinische Geschichten zweckmäßig, da das gemeinsame Inventar und die oft übertragene Bedeutung von Berliner Orten im Kontext eines bestimmten Textkorpus besser verstanden und interpretiert werden können. Die Zahl der Protagonisten, die die berühmten Plätze, Straßen, Weinhäuser und Konditoreien bevölkern, ist in den Erzählungen auffällig reduziert, besonders im Vergleich mit Des Vetters Eckfenster, in dem ein turbulentes großstädtisches Treiben geschildert wird. Die meisten Protagonisten sind keine Berliner, ihre Fremdheit wird mehrmals angedeutet und sie verlassen die Stadt über kurz oder lang (Ritter Gluck, Fragment, Geheimisse). Bestimmte Schichten der Berliner Gesellschaft, wie die machtlos gewordene Aristokratie und das aufsteigende Bürgertum, werden immer wieder dargestellt. 66 Thematisch steht in den meisten Texten ein Liebesbegehren oder die Enthüllung der Identität beobachteter Figuren im Mittelpunkt aber eine Lösung wird nicht immer angeboten. Zweifellos nimmt Hoffmann in jeder Erzählung Themen aus einem chronologisch identifizierbaren Berliner Moment auf. Aktuelle Themen und Plaudereien wie die Geschichte einer seltsamen Familie in Das öde Haus, stadtplanerische Diskussionen oder Kritik der damaligen Unterhaltungsmusik, die die damaligen Berliner beschäftigt haben, sind die erzählerischen Anlässe der Berlinischen Geschichten. In diesem Sinne funktionieren sie als wichtige kulturhistorische Dokumente der postnapoleonischen Periode. Die vielschichtigen und heterogenen Texte produzieren kulturelles Wissen des damaligen Berlin. Hinter der Vielfalt der Erzählungen verstecken sich wiederkehrende Strukturelemente. Julius von Rodenberg beschreibt treffend die ästhetischen Mittel, die in den meisten Berlinischen Geschichten aufzufinden sind: „Für [Hoffmann] ist immer Geisterstunde. Mit scharfem Blick dringt er in das, was dem blöderen Auge dunkel ist, und bemerkt an jeder Kreatur den Fleck, wo das Spiel des Dämonischen, das Unerklärte, das Unerklärliche beginnt, auch in dem allertrivialsten Dasein“ (308). Den konkreten, präzis angegebenen, hellen Räumen des aufgeklärten Berlins werden so dämonische, ungreifbare, dunkle Szenen gegenüber gestellt. Der Normalzustand der bürgerlichen Zivilisation und die Sphäre des lebendigen Gefühls stehen im starken Kontrast miteinander und werden fast mit den gleichen semantischen Mitteln beschrieben (z.B. mit hell/dunkel, kalt/warm Oppositionen).58 Der schroffe Wechsel zwischen diesen Szenen 58 Julius Rodenberg charakterisiert die Berlinische Geschichten folgendermaßen: „Die Geisterwelt quält, foltert und nackt ihn, sie macht ihn abwechselnd selig und mehr als einmal physisch krank. Sie vertritt ihm den Weg am hellen Mittag in diesem vernünftigen Hegel’schen Berlin; sie geht ihm nach durch den Lärm der Königstraße zu den wenigen noch übrigen Resten des Mittelalters in der Gegend des zerfallenen 67 zeigt, wie geheimnisvolle Gestalten aus anderen Welten mitten unter den lebenden Berliner zu finden sind. Neben der Erzeugung eines scharfen Kontrasts zwischen dem Wunderbaren und dem Wirklichen funktionieren die exakten Stadtbeschreibungen als eine zeitgenössische Kritik an der großen Stadt als Ort der Gleichförmigkeit und Monotonie. In den obigen Beispielen wurde mehrmals gezeigt, dass diese Beschreibungen mit den zeitgenössischen, nicht-fiktiven Berlin-Beschreibungen übereinstimmen. Obwohl die semantischen und ästhetischen Stilmittel der obigen Erzählungen und der Ausgang der Geschichten in den meisten Fällen vorhersagbar sind, die verschwimmenden Grenzen eines „Hoffmannschen Berlinische Geschichten“ Kanons und die Stabilität der literarischen Gattungsbezeichnungen machen es fraglich, in wie fern die Bezeichnung „Berlinische Geschichten“ für die Literaturwissenschaft produktiv gemacht werden kann. Aus produktionsästhetischer Sicht stehen die obigen Geschichten miteinander in enger Beziehung und zeugen davon, dass während der Analyse eines bestimmten Berlin-Textes auch andere in Betracht gezogen werden sollten. Die Gefahr der Klassifizierung liegt aber darin, dass ein bestimmter Korpus von Texten von anderen, die mit ihm aus thematischen und ästhetischen Gründen in ebenso wichtiger Beziehung stehen, abgesondert werden. Ein ständiger Wechsel zwischen dem Wirklichen und Unwirklichen ist auch in anderen Werken Hoffmanns präsent, jedoch in Bezug auf den realen Hintergrund ist Berlin den Berlinischen Geschichten gemeinsam. Rathhauses; sie lässt ihn in der Grünstraße [...] einen geheimnisvollen Rosen- und Nelkenduft verspüren und verhext ihm den fashionablen Sammelplatz ‚des höheren Publikums’, die Linden“ (108). Der Herausgeber von Müller beschreibt die Ästhetik von Hoffmanns Berliner Stücken ähnlich: „[Hoffmann] bezeichnet nicht nur, er zeichnet und trifft mit unfehlbarer Treue. Visionär, hat er doch für die Bestimmtheit der Dinge den sichersten Griff und Ausdruck; er überzeugt durch den Gegensatz: von der sichersten Fertigkeit des Hintergrundes borgt die Magie seines ruhelosen Erfinden den Schein einer Existenz, welche der gemeinen Wirklichkeit widerspricht und doch untrennbar mit ihr verknüpft ist“ (xix). 68 Die schnellen Perspektivenwechsel in Die Irrungen und Die Geheimnisse sind aber auch wichtige textstrukturierende Merkmale in Prinzessin Brambilla und die Märchenhaftigkeit des Textes Die Brautwahl evoziert sowohl thematisch als auch strukturell Hoffmanns Märchen. Die Klassifikation Berlinische Geschichte darf in diesem Sinne keine fixierte Einzelform sein, jedoch soll die Behandlung der obigen Texte unter einer gemeinsamen Gattungsbezeichnung indizieren, dass Berliner Realien in zahlreichen Werke des Hoffmannschen Oeuvres vielfältig und schlüssig literarisiert worden sind. Die Kenntnis eines breiten Korpus von Berlin-Geschichten kann die Auslegung von einzelnen Werken verbessern, so dass interpretationsattraktive Texte aus einer ungewöhnlichen Perspektive analysiert und weniger bekannte Texte neu gedacht werden können. Intermedialität: Das gezeichnete und das erzählte Berlin bei Hoffmann Um die Berlin-Wiedergaben Hoffmanns besser zu verstehen, sollen auch die BerlinZeichnungen der Doppelbegabung in Betracht gezogen werden. Hoffmann war in seinen Berliner Jahren, besonders in der dritten Phase, auch als begeisterter Zeichner tätig. Von seinem letzten Berlin-Aufenthalt sind über 40 Arbeiten erhalten: Bilder zu den eigenen Werken, kleine Porträts, Skizzen, Karikaturen, die er oft in seinen Briefen angefertigt hat (Hyun-Sook 5). Es gibt zwei Zeichnungen Berlins im malerischen Nachlass des Schriftstellers, die im folgenden Teil die Basis eines Vergleiches zwischen Text und Bild konstituieren sollen. Die erste Zeichnung stammt aus dem ersten Berliner Aufenthalt und ist datiert auf Sonntag, den 8. September 1799. Das Bild zeigt die berühmteste Straße Berlins mit einer 69 Reihe von Einzelpersonen, vornehmen Bürgern, Herren im Frack, Soldaten und Frauen in eleganten Kleidern. Auffallend ist an dem auf einem kleinen Papier gezeichneten Bild, dass Hoffmann eine Menschenfülle darstellt, die alle in Bewegung ist. Dies ist zweifellos der erste Versuch Hoffmanns, das lebendige Großstadtleben in einer Zeichnung zu verbildlichen. Der Ort, Unter den Linden, wird neben dem Titel mit den am rechten Bildrand dargestellten Bäumen und dem oben gezeichneten Licht durch Realien angedeutet. Neben den realistischen Figuren befinden sich zwei Außenseiter auf dem Bild: Ein kleiner, buckliger Mann mit einem Zylinderhut und ein dicker, rundgesichtiger Mann mit einem Spazierstock, der als eine Karikatur des Spießbürgers interpretiert werden kann.59 In der Zeichnung kann man einen ersten Versuch Hoffmanns beobachten, eine mit präzisen Koordinaten angegebene Großstadtszene mit grotesken und fantastischen Figuren zu ergänzen und dadurch eine ähnliche Konstellation zu schaffen, die das Rückgrat der Berliner Geschichten ausmacht. Abbildung 3: E.T.A. Hoffmann, Die Linden 59 Für eine detaillierte Beschreibung der Zeichnung siehe Steinecke, Die Fantasie der Kunst 43-44. 70 Die zweite Berliner Zeichnung Hoffmanns ist eine großartige Federzeichnung, „der Kunzische Riss,“ wie Hoffmann sie nannte, die er seinem Bamberger Verleger Kunz im Sommer 1815 (während des zweiten Berliner Aufenthaltes) geschickt hat.60 Das Bild zeigt den Grundriss der neuen Wohnung am Gendarmenmarkt, aus deren Fenster Hoffmann mit seinem Freund Devrient hinausschaut. Die Basis der Zeichnung bilden die mit den genauen Namen bezeichneten Straßen und die mit wenigen, linearen Strichen hingeworfenen Gebäude, das Theater, die beiden Kirchen, die Restaurationen, die Weinstuben und der Grundriss von Hoffmanns Wohnung. In dieser Struktur hat Hoffmann zahllose Gruppen deutlich voneinander gesondert, jedoch ein einheitliches Stadtbild ins Leben gerufen, in dem die einzelnen Szenen miteinander in Zusammenhang stehen. Abbildung 4: E.T.A. Hoffmann, Der Kunzische Riss 60 Für ausführliche Beschreibungen und Analysen der Tuschzeichnung siehe Georg Wirth und Klaus Deterding. Der autobiographische Aspekt der Zeichnung mit den exakten Ortsangaben dominiert in den Annäherungen. Julius von Rondenberg fängt seine Beschreibung in der folgenden Weise an: „Draußen vor dem Fenster war das Gewühl des Markts und der Straßen, des Theaters und der Weinhäuser; aus diesem fing er alles auf und zeigt es in scharfen, eckigen Linien. Ihr könnt auch nur die Wohnung and der Taubenund Charlottenstraße-Ecke, wo jetzt unten der Konditor wohnt, ansehen – droben an dem Eckfenster hing der Spiegel“ (295)“ 71 Die Bedeutung des Kunzischen Risses kann für das Gesamtwerk kaum hoch genug eingeschätzt werden.61 Der Kunzische Riss ist ein Zeugnis davon, dass sich Hoffmann mit dem regen Stadtleben Berlins sowohl visuell als auch literarisch auseinandergesetzt hat. Die Zeichnung des Gendarmenmarktes kann als eine Visualisierung seiner poetischen Weltsicht interpretiert werden.62 Um die bemalten Szenen herum findet man oft abgehackte Sätze oder Stichwörter, um das Gesehene genau lokalisieren und interpretieren zu können. Die Zeichnung ist folglich eine Mischung aus Text und Bild. Einerseits stellt sie ein sonderbares Allgemeines der erlebten Wirklichkeit dar, also geschehene oder während des Zeichnens stattfindende Ereignisse (zum Beispiel in der Charlottenstraße „einen Hund,“ „einen Soldaten“ und „Damen“) aber auch Figuren aus der Fantasie (wie in der parallelen Markgrafenstraße „ein Strauss“ und „einen Löwen“). Auf der Zeichnung lassen sich auch Gestalten aus Hoffmanns literarischen Werken – auch Figuren aus den Berlinischen Geschichten -- erkennen: Anselmus, Paulmann, Spikher, Giulietta, Dapertutto, und Kreisler.63 Neben den genauen Straßennamenangaben dient die Platzierung der Zwillingskirchen auf dem Gendarmenmarkt zur Orientierung. Auf den französischen und deutschen Kirchen plaziert Hoffmann Glöckner, die mit ihren Glocken einander zuläuten. Auch bestimmte Örtlichkeiten erscheinen auf der Zeichnung: Das Restaurant Lutter & Wagner, Moretti, Thiermann und die Weinstube an der Ecke Markgrafen und Taubenstraße (Deterding 27). Der Grundriss der Wohnung in der Taubenstraße ist auch 61 Rodenberg beschreibt die Zeichnung mit den folgenden Worten: „Tauberstraße Nr. 31 steht am Rande des wunderlichen Blattes geschrieben, welches, wenn wir noch keinen Begriff davon hätten, wie die Wirklichkeiten des Tages sich auf dem „Zauberspiegel” dieses Kopfes malten, uns einen solchen geben würde ... So correct und richtig in seinem Capriccio hat Hoffmann alles angegeben, keine topographische Aufnahme, kein Plan von Berlin hätte mehr thun können” (296). 62 Klaus Deterding interpretiert die Zeichnung in dieser Weise: „Der Kunzische Riss gibt exemplarisch die poetische Weltsicht Hoffmanns als Integration des Realen und des Irrealen“ (25). 63 Diese Identifikationen basieren auf die Analysen von aus Deterding und Georg Wirth. 72 eine architektonisch höchstrealistische Illustration der damaligen Wohnverhältnisse Hoffmanns (Georg Wirth 39). Im Mittelpunkt der Zeichnung – unproportioniert – dominiert das „TheaterGebäude“ des Schauspielhauses, das für Hoffmann von erheblicher individueller Bedeutung war. Den Blick auf den Markt und die umherliegenden Straßen ergänzt Hoffmann durch eine Perspektive, die Volker Klotz und Heinz Brüggemann in AlainRené Lesages Le Diable beiteux (Der hinkende Teufel) aufgezeigt haben.64 In Lesages’ Roman nimmt der Teufel die Pariser Dächer ab, um einem Studenten zu zeigen, was sich alles im Inneren der Gebäude abspielt. Etwas Ähnliches passiert in der Zeichnung: Im Theater findet eine Tanzprobe statt, Choristen üben, dem Grafen Brühl dienen im Direktorzimmer Dichter, die ihre Werke aufgeführt haben möchten. Der Kapellmeister Weber genießt im Theater gutes Essen und Trinken. Das Dach des Gebäudes ist durch einen Affen unscharf angedeutet, da die im Theater stattfindenden Szenen die Federzeichnung dominieren. Auf Hoffmanns Abbildung ist der Gendarmenmarkt „in wirrem Durcheinander“ porträtiert. Mannigfachste Szenen des Alltagslebens und Hoffmanns Fantasie entsprungene stehen oft ohne kausale Zusammenhänge nebeneinander. Die multiplen Szenen, die die inneren und äußeren Räume des Platzes beleben, porträtieren ein intensives städtisches Treiben. Der Kunzische Riss fungiert wie die letzte Erzählung Des Vetters Eckfenster als eine „Sehschule“: Der erste Blick auf das mit zahlreichen Szenen gefüllte Blatt soll durch „ein Fixieren des Blicks“ abgelöst werden, um die Zeichnung verstehen zu können. 64 Vgl. dazu Klotz (22-48) und Brüggemann (Das andere Fenster, 14-44). 73 Wie in den Berliner Erzählungen, in denen der Berliner Alltag des Hier und Heute mit den von Hoffmann erfundenen fantastischen Gestalten gemischt werden, wird der Betrachter der Zeichnung mit dem Nebeneinander von Realität und Fantastik konfrontiert. In der Zeichnung kann man eine Opposition der linearen, geometrischen Formen, die als ein Netz funktionieren, bemerken. Wie in den Erzählungen kann der Beobachter sich auf der Hoffmannschen Stadtkarte ganz genau einordnen, jedoch trifft er in dem mit genauen Straßenschildern versehenen Berlin unerwartete Gestalten. Die topographischen Orte, wie oft in den Erzähltexten, zeugen von einer Subjektivität. Bestimmte Gebäude, wie das Langhanssche Theater hier, werden unproportioniert vergrößert und andere gleichgültig an die Peripherie gedrängt (zB. „Wohnungen unbekannter Leute“). Der Kunzische Riss ist ein wichtiges Dokument in Bezug auf die Berlin-Texte des Schriftstellers, da er exemplarisch die poetische Weltsicht Hoffmanns als Integration des Realen und Irrealen visualisiert. Die Beziehung zwischen den realen und fantastischen Gestalten in der Zeichnung, in der Berliner Persönlichkeiten wie Tieck, Fouqué, Brentano, Kunz mit den Erzählfiguren Erasmus Spikher, und Doktor Dapertutto aus den Abenteuern der Sylvesternacht, Anselmus und Paulmann aus dem Goldenen Topf auf dem gleichen Blatt erscheinen, ist ausgewogenen. Der Kunzische Riss und die frühe Zeichnung Unter den Linden bestätigen die gleiche Ästhetik, worin Wirklichkeit und Unwirklichkeit sich die Waage halten, und die die Berlinischen Geschichten charakterisiert. 74 Die bildlose Zeit Berlins: Hoffmann und die zeitgenössische Stadtmalerei Im letzten Teil des Kapitels sollen Hoffmanns Berlin-Erzählungen in einem breiteren kulturellen Kontext untersucht und mit den Berlin Stadtbildern von zeitgenössischen Malern verglichen werden. Das Interesse der Berliner Malerei an der Darstellung der preußischen Hauptstadt war in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nicht stark ausgeprägt, obwohl sie im 18. Jahrhundert über eine lange Tradition verfügt hatte. Neben den königlichen Aufträgen entwickelte sich auch ein bürgerlicher Markt nach 1756 in Berlin, der sich für Stadtansichten interessierte (Wellmann 28). Die Fechhelms und die Rosenbergers waren die berühmtesten Malerfamilien der Zeit, die sowohl Gesamtansichten als auch Ansichten einzelner Stadtteile malten. Berlin hatte sich um 1780 so stark vergrößert, dass die Stadtmaler in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Gegensatz zu den früheren, oft fiktiven Überblickdarstellungen und Luftschau-Perspektiven (z.B. Dismar Daegens Vogelschaubild der Friedrichstadt von 1735) zunehmend Teilansichten lieferten (z.B. Carl Friedrich Fechhelm, Der Platz am Operhaus und die Straße Unter den Linden, 1756). Abb. 5-6: Dismar Dägen, Vogelschaubild der Friedrichstadt (um 1735) und Carl Friedrich Fechhelm, Der Platz am Operhaus und die Straße Unter den Linden (1756) 75 In den früheren Gemälden erschien Berlin ohne Stadttreiben und die Abbildungen funktionierten als ausgesprochene Architekturbilder, während die späteren Darstellungen das alltägliche städtische Leben betonten (Wellmann 16, 28). Die Beziehung zwischen Stadtraum und den Menschen veränderte sich und die bemalten Gestalten wurden authentischer und raumbezogener. Das heißt, dass die Berliner Stadtmalerei im 18. Jahrhundert schon eine beachtliche Zahl von Berlin-Repräsentationen ins Leben gerufen und verschiedene Phasen erfahren hat. Am Ende des 18. Jahrhunderts war jedoch die malerische Stadtaufnahme Berlins zurückgegangen (Gramlich 95). Die Napoleonischen Kriege von 1792 bis 1815 unterbrachen fast alle malerische Arbeit an Berliner Stadtansichten. Nach 1800, aus der Zeit als Hoffmann Berlin kennen gelernt hat, sind nur einige gedruckte Stadtansichten Berlins überliefert (Wellmann 28). Die Kunsthistorikerin und Kuratorin des Berlin Museums, Irmgard Wirth, beschreibt die Kunstausstellungen, die Hoffmann in Berlin wahrscheinlich gesehen hat. Nach Wirth hat Hoffmann einige frühe Werken von Architektenmalern gesehen (z.B. 1814 von Johann Erdmann Hummel), jedoch die berühmten Vedutenmaler, wie Eduard Gaertner und Wilhelm Brücke, ließen noch auf sich warten (39). Bei seinem ersten Aufenthalt in Berlin hat Hoffmann eine im Jahre 1798 von der Königlichen Akademie der bildenden Künste und mechanischen Wissenschaften eröffnete Ausstellung besucht. Nach Wirths Meinung hat Hoffmann in dieser Ausstellung keine bedeutenden Stadtabbildungen sehen können (35). Jedoch hat er hier Gemälde von italienischen Landschaften von Philipp Hackert bewundert (Wirth 76 36).65 Landschaftsmalerei und eine ästhetische Diskussion über Landschaftsgemälde sind auch in eine der Berlinischen Geschichten eingebettet. Einer der Werber in Die Brautwahl ist der junge Maler Edmund Lehsen, der Landschaftsstudien malt.66 „An einer einsamen Stelle des Tiergartens“ entwirft Lehsen eine ganz besondere Zeichnung als Landschaftsstudie (SW 4, 655). Er malt eine „schöne Baumgruppe nach der Natur,“ bringt jedoch in die Blätter der Bäume „allerlei Gestalten [...] in buntesten Wechsel“ hinein, „bald Genien, bald seltsame Tiere, bald Jungfrauen, bald Blumen“ (SW 4, 655). Lehsen erklärt sein künstlerisches Verfahren damit, dass er „das wahrhaft Poetische, Fantastische in die Landschaft“ tragen will. Sein Gesprächspartner, der Goldschmidt Leonhard erscheint hier als sein Erzieher und kommentiert die Intentionen des jungen Malers in der folgenden Weise: „Sie sind eben jetzt auf dem schönsten Wege, eine großer Narr zu werden“ (SW 4, 658). Den Rest der Konversation hat Hoffmann aus der ersten Version des Textes getilgt, jedoch enthält die entfernte Passage eine aufschlussreiche Diskussion über die Aufgaben des Dichters und des Malers: [J]eder Maler, sey er Landschafter oder Historikus, muss zugleich ein Dichter seyn, denn Gemälde sind Gedichte mit dem Pinsel ausgeführt; aber nennen Sie das Dichten, wenn Bäume mit ihrem Laube, Stamm und ihren Wurzeln zugleich aussehen sollen, wie Menschen, Thiergestalten, ja wenn selbst Figuren zusammengestellt sind, nicht nur eine bestimmte Handlung, sondern nur eine außerhalb des Bildes liegende fantastische Idee ausdrücken? Da kommen wir in die Allegorie hinein, dem ärmlichsten, unkünstlerischsten Theil der Malerey. Hüten Sie sich vor den Nebeln und Schwebeln! (SW 4, 1481-82) 65 Vgl. auch dazu den Brief Hoffmanns aus Berlin (An Hippel, 15.10. 1798): „Hackert, der jetzt in Neapel lebt, hat zu dieser Ausstellung vier ganz vortreffliche Landschaften nach der Natur in Oel geschickt“ (Briefe 1, 140). 66 Der Berliner Maler Wilhelm Hensel (1794-1861) wird als Vorbild für diese Gestalt angesehen. (SW 4, 1480) 77 Die künstlerische Auffassung, die Hoffmann in den Mund von Leonhard legt, macht deutlich, dass die allegorische Malerei von Hoffmann nicht hochgeschätzt wird.67 Das Ablehnen eines nicht-mimetischen Programms ist eine Komponente von Hoffmanns ästhetischen Ansichten. Er warnt vor dem Verlust der Beziehungen zur realen Welt. Wie in seinen Berlin-Stadtzeichnungen plädiert Leonhard, der als das Sprachrohr Hoffmanns angesehen werden kann, erneut für eine Balance zwischen den inneren und äußeren Wirklichkeiten des Künstlers.68 Architekturmalerei erwähnt Hoffmann in seinen Berlin-Geschichten nicht, jedoch beschäftigt er sich mit dem Genre in der Künstlergeschichte Die Jesuitenkirche in G. Die Erzählung über das Schicksal des geheimnisvollen Malers Berthold schildert nicht nur die kreative Entwicklung eines Künstlers, sondern enthält auch mehrere Kunstauffassungen. Berthold studiert Malerei beim berühmtesten Landschaftsmaler der Zeit, Philipp Hackert, in Italien. Bald findet er aber Ungenügen in der naturtreuen Darstellung seines Meisters und lernt, dass er zum „tieferen Sinn der Natur,“ zu den Bildern in seinem „Innern“ fortschreiten muss (SW 3, 130).69 Bevor aber seine Lebensgeschichte von dem reisenden Enthusiasten mitgeteilt wird, trifft der Leser den Maler in einem Kloster, in dem er als Wand- und Architektenmaler tätig ist. Während einer Nacht besucht der Ich-Erzähler Berthold, der eifrig die Kirchenwand mit Marmorsäulen bemalt. Der Erzähler bietet seine Hand an und während der gemeinsamen Arbeit entfaltet sich eine Konversation über die Rangordnung der 67 Mehr dazu siehe Lee 205-18. Das Ablehnen einer entgegensetzten Einseitigkeit erscheint in Die Jesuitenkirche G. durch ein ähnliches Beispiel. Das mimetische Programm basiert auf einer „reinen Nachahmung der Natur“ (SW 3, 126), auf einer Wiedergabe des Gesehenen wie das in der Hackerts Landschaftsmalerei in Die Jesuitenkirche G. praktiziert wird. 69 „Berthold erlangte große Fertigkeit, die verschiedenen Baum- und Gesträucharten der Natur getreu darzustellen [...] aber auf ganz eigene Weise schien es ihm [...] ja selbst den Landschaften des Lehrers etwas fehle“ (SW 3, 127) 68 78 Genres in der Malerei. Die Geschicktheit Bertholds lobend stellt der Erzähler fest, dass der Maler zu etwas besseren taugt als Architekturmalerei. Die Begründung ist das Folgende: „Architektur-Malerei blieb immer etwas untergeordnetes; der Historien-Maler, der Landschafter steht unbedingt höher“ (SW 3, 116). Er lehnt die engen Schranken der geometrischen Linien ab, da Fantasie sich nur „im freien Fluge“ erheben kann (SW 3, 116).70 Mit diesen Worten tadelt der Erzähler von Bertholds Geschichte Repräsentationen, die nach naturtreuen Abbildungen streben und mit „mathematischer Spekulation“ eine rein mimetische Darstellung erzielen. Der Status der zeitgenössischen Berliner Stadtmalerei, die eigenen Erlebnissen des Schriftstellers und die obige Textanalyse zeigen, warum Hoffmann in seinen früheren Berlin-Texten sein künstlerisches Verfahren durch Landschaftsmalerei anstatt durch malerische Stadtansichten verbildlicht. Wegen der Napoleonischen Kriege begannen die Maler sich erst spät wieder für Berlin zu interessieren. Da bis 1825 nur wenige Gemälde Architektur wiedergeben und vorwiegend Zeichner und Stecher das Aussehen Berlins in zahlreichen Serien und Einzelblättern festhielten, ist es kein Wunder, dass Hoffmann über diese Darstellungen eine abschätzende Meinung hatte. Kunsthistoriker stimmen überein, dass die großen Namen unter den Berliner Malern in den Jahren 1814-20 noch nicht bekannt waren.71 Allerdings wurden die ersten Panoramen Berlins in diesen Jahren eingerichtet, für die ganz neue darstellungstechnische und wirtschaftliche Probleme zu lösen waren. Das vorrangige Anliegen der Panoramamalerei war die realitätsnahe Schilderung des 70 Mehr dazu: “Selbst das einzige Fantastischen Eurer Malerei, die sinnentäuschende Perspektive, hängt von genauer Berechnung ab, und so ist die Wirkung das Erzeugnis, nicht des genialen Gedankens, sondern nur mathematischer Spekulation” (SW 3, 116). 71 Vgl. dazu Wellmann und Gramlich. 79 bemalten Motivs. Die Familie Gropius, die mit ihren Bühnendekorationen und illusionistischer Dekorationsmalerei bekannt geworden ist, förderte die Anfertigung von Panoramen und hat wesentlich zur Wiederentdeckung der Stadt als Bildthema beigetragen. Die neuen künstlerischen Techniken beeinflussten die Künstler, die nach den Napoleonischen Kriegen in Berlin Stadtansichten malten, was in dem nächsten Kapitel in den Repräsentationen des Gendarmenmarktes – Schauplatz von Hoffmanns letzter Berlin-Erzählung – dargestellt wird. Schlussfolgerung Die jüngste Hoffmann-Forschung konzentriert sich auf den letzten Berlinischen Text Hoffmanns. Hier ist gezeigt worden, dass die bahnbrechende urbane Darstellung Berlins in Des Vetters Eckfenster schon in mehreren früheren Werken vorbereitet wurde. Die Analyse der Berlinischen Geschichten macht deutlich, dass das Doppeltalent Hoffmann im bunten Gewühl der Stadt Berlin sowohl literarisch als auch malerisch angeregt wurde. Er nahm am zeitgenössischen kulturellen Leben Berlins intensiv teil, äußerte seine Meinung über aktuelle Aufführungen, städtebauliche Entwicklungen, Kunstausstellungen und sogar alltägliche Gesprächsthemen, die die Fantasie der damaligen Berliner bewegten. Obwohl Hoffmanns Berlinische Geschichten ein vielschichtiges Bild der urbanen Topographie der preußischen Hauptstadt anbieten, sind sie auf „das neue Berlin“ reduziert und können als Kritik der damaligen aufklärischen Stadtplanung gelesen werden. Die Friedrichstadt mit ihrem Schachbrettraster und dem streng gewahrten 80 Axialsystem bildet einen auffälligen Kontrast zu den Abenteuern der Protagonisten, die auf den nächtlichen Straßen Berlins seltsamen Gestalten, Gespenstern und unheimlichen Ereignissen begegnen. Die Analysen der heterogenen Texte zeugen auch davon, dass die exakten Straßennamen nur einen scheinbaren Realismus hervorbringen. Der spezifische, reale Ort Berlin bei Hoffmann funktioniert als Katalysator, um das verborgene und dämonische Berlin zur Schau bringen zu können. In vielen von den Erzählungen entsteht ein bipolares Berlin-Bild zwischen Rationalisierung und Dämonie, in dem die Lebensbereiche der alltäglichen bürgerlichen Zivilisation und die Sphäre des lebendigen Gefühls im starken Kontrast miteinander stehen. Eine Darstellung, in der der Schriftsteller zwischen den verschiedenen Domänen, Innenwelt und Außenwelt, Körper und Geist eine Balance zu erhalten zielt. 81 KAPITEL 2.: Rund um den Gendarmenmarkt: Eine ästhetische und sozialpolitische Sehschule in E.T.A. Hoffmanns Des Vetters Eckfenster (1822) Einführung Man denke an den Orpheus, der, als ihm ein großer wüster Bauplatz angewiesen war, sich weislich an dem schicklichsten Ort niedersetzte und durch die belebenden Töne seiner Leier den geräumigen Marktplatz um sich her bildete. Die von kräftig gebietenden, freundlich lockenden Tönen schnell ergriffenen, aus ihrer massenhaften Ganzheit gerissenen Felssteine mussten, indem sie sich enthusiastisch herbei bewegten, sich kunst- und handwerksgemäß gestalten, um sich sodann in rhythmischen Schichten und Wänden gebührend hinzuordnen. Und so mag sich Straße zu Straßen anfügen! An wohlschützenden Mauern wird’s auch nicht fehlen. Die Töne verhallen, aber die Harmonie bleibt. Die Bürger einer solchen Stadt wandeln und weben zwischen ewigen Melodien; der Geist kann nicht sinken, die Tätigkeit nicht einschlafen. Das Auge übernimmt Funktion, Gebühr und Pflicht des Ohres, und die Bürger am gemeinsten Tage fühlen sich in einem ideellen Zustand: Ohne Reflexion, ohne nach dem Ursprung zu tragen, werden sie des höchsten sittlichen und religiösen Genusses teilhaftig. [...] Der Bürger dagegen in einer schlecht gebauten Stadt, wo der Zufall mit leidigem Besen die Häuser zusammenkehrte, lebt unbewusst in der Wüste eines düstern Zustandes; dem fremden Eintretenden jedoch ist es zu Mute, als wenn er Dudelsack, Pfeifen und Schellentrommeln hörte und sich bereiten müsste, Bärentänzen und Affensprüngen beiwohnen zu müssen. Johann Wolfgang von Goethe (Werk: Maximen und Reflexionen, Nachlaß, Über Kunst und Kunstgeschichte, Nr. 1133 von 1827) Goethes Charakterisierung der Baukunst als „erstarrte Musik“ und „verstummte Tonkunst“ ist einer der meistzitierten Aphorismen des Schriftstellers. Das Bild der idealen Stadt, die Goethe mit musikalischen semantischen Mitteln beschreibt, ist jedoch weniger bekannt. In diesem Text stellt Goethe dar, wie der Sänger Orpheus mit der Hilfe der Musik aus Naturelementen einen idealen urbanen Raum ins Leben ruft. Der Raum wird einerseits als Marktplatz konnotiert, andererseits als ein Ort, dessen Bewohner sich in einem geistigen und körperlichen Wohlstand befinden. Die gut gebaute Stadt nach Goethe hat ein „kunst- und handwerksgemäß“ gestaltetes, gut durchgedachtes Zentrum, 82 das Sichtachsen schafft, in dem Straße zu Straße gereiht ist und die schließlich mit Mauern geschützt ist. Die ewigen Melodien der stadtschaffenden Musik werden mit einer hohen Auffassung von Architektur verbunden. Die synästhetische Beschreibung betont den Primat des Sehens, während die restlichen Sinnesorgane sekundäre Funktionen bekommen. Der idealen Stadt wird ein Kontrast entgegengesetzt, eine ungeplante, sorglos entworfene Stadt, in der die Menschen ein unbewusstes Leben führen und zu Reflexionen unfähig sind. Die von Goethe betonte Harmonie und die aus der griechischen Mythologie entnommene Orpheus-Gestalt evozieren die klassizistische Formensprache der Architektur, die unter anderem zur Zeit der Verfassung der obigen Beschreibung auf dem Gendarmenmarkt in Berlin zu sehen war. Schinkel, dessen Entwurf des Schauspielhauses dem Platz seine Würde gab, bediente sich in seiner Planung der synästhetischen Konzeptionen der deutschen Klassik und Romantik.72 Die früheren Beschreibungen des Gendarmenmarktes wie zum Beispiel die Charakterisierung des Ortes von Karl Philipp Moritz aus dem Jahre 1795 in den Reisen eines Deutschen in Italien zeugen davon, dass dem architektonischen Gesamtbild des Gendarmenmarktes vor dem Fertigstellen des Schauspielhauses in der Regel nur eine herabschätzende Schilderung zu Teil ward. Moritz vergleicht den Gendarmenmarkt mit der Piazza del Popolo in Rom in der folgenden Weise: Diese Zwillingskuppeln [auf dem Platze del Popolo] machen hier den schönsten Effekt, den man sich denken kann; von ihnen ist die Idee zu den beiden Türmen auf dem Gensdarmenmarkte in Berlin genommen, welche dort gar keine Wirkung tun, weil es ihnen gänzlich an einem Vereinigungspunkte fehlt, der hier durch den Obelisk, welcher gerade in der Mitte vor den beiden gleichgebauten Kirchen steht, und durch das Tor, in welches man eintritt, hervorgebracht wird. (2, 435) 72 Die Orpheussage ist mehrfach beim Bildprogramm des Schauspielhauses zu sehen (Behr/Hoffmann 80). 83 Nach Moritz fehlt am Ende des 18. Jahrhunderts noch ein Mittelpunkt auf dem Gendarmenmarkt, der durch das spätere Theatergebäude eingenommen wird und dessen Entwurf drei berühmte preußische Architekten, Carl Gotthard Langhans, Friedrich Gilly und seinen Lehrling Karl Friedrich Schinkel, beschäftigte. Mit der Eröffnung des ersten Königlichen Nationaltheaters auf dem Platz im Januar 1802 wurde der Gendarmenmarkt zu einem Zentrum Berlins. Das neue Gebäude, wie sein Name auch zeigt, war eine Repräsentation der königlichen Familie aber wurde auch zu einem Versammlungsort der Einwohner Berlins. Der von Jürgen Habermas erforschte Strukturwandel von einer repräsentativen Öffentlichkeit des Hofes zu einer bürgerlichen Öffentlichkeit fand in der architektonischen Veränderung des neuen Platzes seinen Ausdruck. Auch in diesem Sinne kann das Goethesche Bild von der idealen Stadt auf den Gendarmenmarkt und besonders seine Rolle in den 1820er Jahren übertragen werden, nachdem das Schinkelsche Theatergebäude fertiggestellt wurde.73 Dem Architekturhistoriker Spiro Kostof zufolge sind Marktplätze, religiöse Zentren und militärische Sammelpunkte die drei wichtigsten Komponenten, die in der Entwicklung der Städte die initiative Rolle spielen.74 Die spektakuläre Architektur des Gendarmenmarktes (mit den zwei Domen, dem Schauspielhaus, Markt und den in der Nähe angelegten Zimmerreise-Ausstellungen) kann als ein kondensiertes Modell der modernen Großstadt angesehen werden. Dieser komprimierte Mikrokosmos übte auf die Erzähltechnik und Thematik von E.T.A. Hoffmanns letzter Erzählung, Des Vetters Eckfenster (1822), als dessen Hintergrund der Gendarmenmarkt dient, einen markanten 73 Klaus Gerlachs Studie zeigt die Vorgeschichte des Theaters und beurteilt Schinkels Entwurf als eine Reprise. 74 Andere Stadtdefinitionen, die hier noch benutzt werden können: “a relatively large, dense, permanent settlement of socially heterogeneous individuals” (L. Wirth, zitiert in Kostof 37), “a point of maximum concentration for the power and culture of a community” (L. Mumford, zitiert in Kostof 38). 84 Einfluss aus. Einerseits erzeugt der Ort intensive Bildlichkeit, andererseits sind die Verhaltensweisen der Charaktere auf dem Markt und vor dem Theater Komponenten der Großstadtmentalität, die in theoretischen Werken von Georg Simmel und anderen Soziologen und Großstadtforschern über 80 Jahre später beschrieben wurden. Der stark visuell geprägte erzählerische Gestus und die panoramengleiche Wahrnehmungsweise erscheinen als die notwendigen Ergebnisse einer Veränderung des Verhältnisses zwischen den Großstadtbewohnern der damaligen Zeit und ihrem sozialen Umfeld. Dieses Kapitel ist der Analyse des Gendarmenmarktes als Katalysator einer dynamischen und intermedialen Großstadtwahrnehmung gewidmet. Dabei wird die Stadtwahrnehmung in Des Vetters Eckfenster in einem breiten Kontext im Vergleich mit drei malerischen Repräsentationen des Gendarmenmarktes aus dem Jahre 1822 (von Carl Georg Adolf Hasenpflug, Carl Georg Enslen und Eduard Gaertner) behandelt. Abschließend wird der Beitrag Karl Friedrich Schinkels Baukunstphilosophie und seinen Bühnenbildentwurf aus 1822 mit der literarischen Repräsentation dieses neuen urbanen Raumes in Hoffmanns letzter Erzählung kontextualisieren. Eine Sonderposition Des Vetters Eckfenster wird in der folgenden Analyse deutlich, da Berlin als Hintergrund, die Großstadt und die damit verbundenen neuen Wahrnehmungsformen in keinem anderen Text Hoffmanns so plastisch beschrieben werden wie hier. Des Vetters Eckfenster: Quellen, Stoffwahl und Erzählstruktur In postnapoleonischen Berlin eilt ein junger Mann an einem Sonntag durch das Getümmel des Marktes und schiebt sich durch Verkäufer und Käufer aus allen Schichten und Ständen. Plötzlich trifft sein Blick auf ein Eckfenster, in dem eine rote Mütze 85 erkennbar wird und danach auch das Gesicht des sonst sich von der Welt abriegelnden, gelähmten Vetters im Warschauer Schlafrock, aus der türkischen Sonntagspfeife Tabak rauchend.75 Kurz entschlossen nutzt der Erzähler die günstige Gelegenheit zu einem Besuch. Dem am Anfang der Erzählung noch in der Menge Verlorenen, der spontan in die Höhe steigt, wird der Anblick von oben, aus dem Eckfenster, „in der Tat seltsam und überraschend“: Der ganze Markt schien eine einzige, dicht zusammengedrängte Volksmasse, so dass man glauben musste, ein dazwischengeworfener Apfel könne niemals zur Erde gelangen. Die verschiedensten Farben glänzten im Sommerschein, und zwar in ganz kleinen Flecken, auf mich machte den Eindruck eines großen, vom Wind bewegten, hin- und herwogenden Tulpenbeets... (SW 6, 471) Dem schwerkranken und an Schreibkrise leidenden Vetter gewährt der Fensterblick auf das Markttreiben, das am Anfang der Erzählung mit Naturmetaphern beschrieben wird, einen neuen Zugang zu der äußeren Welt. Das Gesehene fungiert als Trost und Therapie, die der Besucher, der Ich-Erzähler als Selbstheilung pathologisch findet. Zwischen den zwei Vettern beginnt eine Konversation und der Rest der Erzählung besteht aus zwölf von dem kranken Vetter ad hoc entworfenen Geschichten, die den Rädergang der Phantasie unaufhörlich in Bewegung halten und das Rückgrat des Textes konstituieren. Neben der Wirklichkeit des vor ihm liegenden Platzes hat Hoffmann als Quelle eine Erzählung mit dem Titel Scarron am Fenster von Karl Friedrich Kretschmann benutzt.76 Kretschmanns Erzählung beschreibt den französischen Dichter, der, zum Krüppel geworden, die Außenwelt aus seinem Fenster betrachtet und schildert. Beide Schriftsteller erwähnen ihre eigene Dichtung und benutzen dabei eine Metaphorik, die 75 Die Beschreibung der Kleidung und Lebensgewohnheiten des Vetters siehe auch die Berlinische Geschichte Irrungen (SW 5, 520). 76 Vgl. dazu Dirksens, Oesterles und Stadlers Interpretationen, in denen beide Germanisten auch einen Vergleich zwischen Kretschmann und Hoffmann anbieten. 86 der Malerei entlehnt ist. Obwohl beide zwölf Personen bzw. Gruppen beschreiben, gibt es wesentliche Unterschiede in ihrer Stoffwahl. Scarron beobachtet reiche Bürgerleute und Adelige und schildert sie als „handele es sich bei ihnen um Figuren einer Spielzeuguhr, die einander in wohlgeordnetem Abstand folgen“ (Stadler 503). Während Scarrons Figuren ganz und gar der Zeit des ancien régime gehören, wählt Hoffmann größtenteils Figuren aus den unteren gesellschaftlichen Schichten und beschreibt Marktfrauen, rabiate Hausfrauen, bürgerliche Frauen, die mit ihren Mägden auf den Markt geschickt werden, einen Blinden und verschiedene männliche und weibliche Gestalten, die auf dem Markt entweder als Kunden oder als Händler erscheinen. Im Vergleich zu Kretschmars Erzählung demokratisiert Hoffmann sowohl thematisch als auch strukturell seine Perspektive und lässt ein breiteres Segment der damaligen Berliner Gesellschaft auftreten. Der Erzähler, der den Marktplatz zuerst nur als ein unstrukturiertes, irritierendes Gewimmel von Farben – wie ein impressionistisches Gemälde – sieht, beginnt, wie das Zitat oben demonstriert, einzelne Szenen voneinander differenzieren und das Gesehene ästhetisch organisieren zu können. Der fast Schwindel erregende Totaleindruck des Blicks von oben wird im Laufe der gemeinsamen Beobachtung des Marktes durch ein „Fixieren des Blicks“ abgelöst. Die überwältigende Totalität des Berliner Gendarmenmarktes ersetzt eine Blickvervielfältigung, die ermöglicht, einzelne, sich im Gewühl der Menge ihren Weg bahnende Figuren zu verfolgen und genauer unter die Lupe zu nehmen. Der Gendarmenmarkt, der dem Beobachter die „mannigfachste[n] Szenerie[n] des bürgerlichen Lebens“ (SW 6, 471) anbietet, generiert eine narrative Sehschulung, die die Genesis einer modernen Großstadtwahrnehmung evoziert. 87 Eine Sonderposition im Hoffmannschen Oeuvre: Stand der Forschung E.T.A. Hoffmanns Des Vetters Eckfenster ist seit der ersten ausführlichen Besprechung durch Georg Ellinger (1894) einer der interpretationsattraktivsten Texte der HoffmannForscher geworden.77 Für den einen Teil der Kritiker stellt Des Vetters Eckfenster die letzte Vollendung der seit den Fantasiestücken in Callots Manier erprobten Schreibweise dar – andere beziehen es vorzugsweise auf das sogenannte „serapiontische Prinzip“78 – während der zweite Teil darin das erste Beispiel des poetischen Realismus sieht.79 Der gemeinsame Ausgangspunkt fast aller Überlegungen der neueren Forschung zu der Erzählung findet sich in Walter Benjamins zweitem Baudelaire-Essay, „Der Flaneur,“ der eigentlich für die Verehrung des Textes verantwortlich ist.80 Benjamin stellt darin Hoffmann als den Anfang der literarischen Großstadtdarstellung und –erfahrung dar, die ihren Weg über Edgar Allen Poe zu Charles Baudelaire hin nimmt und dort zum integrativen Bestandteil der Moderne wird. Auf der Suche nach Momenten der Moderne beschreibt Benjamin zwei verschiedene Tendenzen. Obwohl nach Benjamin Hoffmann mit der Schreibweise Poes und Baudelaires verwandt war und auch ihn das Schauspiel der Menge in Berlin faszinierte, bleibt Hoffmann wegen der sozialen Rückständigkeit Deutschlands in kleinbürgerlicher Befangenheit. Während Poes Mann der Menge in London als namenloser Konsument magisch von der Masse angezogen wird und sich in der Menge befindet, sitzt Hoffmanns Vetter sicher in seiner Dachstube wie in einer Rangloge. 77 Georg Ellinger. E.T.A. Hoffmann. Sein Leben und Werk. Leipzig, 1894. Siehe Wolfgang Preisendanz (1963), Wulf Segebrecht (1976) und Lothar Pikulik (1979). 79 Siehe dazu Karl Riha 172-181, Lutz Hagestedt 140ff und Rolf Selbmann. 80 Walter Benjamin. Charles Baudelaire. „Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus.“ Gesammelte Werke. 1, 551ff. 78 88 Benjamin beurteilt diese Positionen in der folgenden Weise: „Im Unterschied der Beobachtungsposten steckt der Unterschied zwischen Berlin und London“ (1/2, 551). Nach Benjamin ist der Blick des Mannes in der Menge in London durchdringend, jedoch gleitet der aus dem Fenster in Berlin geruhsam über das Gewühl hin. (1/2, 548). Benjamin endet den literarischen Vergleich mit einer bildnerischen Gegenüberstellung: Auf der einen Seite wie ein Vielerlei kleiner Genrebilder, die insgesamt ein Album von kolorierten Stichen bilden; auf der anderen Seite ein Umriss, der einen großen Radierer zu inspirieren im Stande wäre; eine unabsehbare Menge, in welcher keiner dem andern ganz deutlich und keiner dem andern ganz durchschaubar ist. (1/2, 551) Mit dem zitierten Vergleich kontrastiert Benjamin zwei visuelle Kulturen: Einerseits gerahmte, starre Bilder, die das Gesehene auf eine zugängliche Essenz reduziert (Hoffmann), andererseits rasche Bilder, die keine eindeutige Interpretation erlauben und undurchschaubar bleiben (Poe). Benjamin schließt den Vergleich mit einem literatursoziologischen Urteil ab: „Dem deutschen Kleinbürger sind seine Grenzen eng gesteckt“ (1/2, 552). Diese Einschränkung and deren Kritik bilden den Ausgangspunkt von mehreren Analysen des Hoffmann-Textes in jüngster Zeit.81 Im Gegensatz zu Benjamins Verdikt der Biedermeierlichkeit Hoffmanns bzw. seiner Erzählung wird in jüngster Zeit die Singularität in der deutschen Literaturgeschichte hervorgehoben, die bei allem Defizit einen eleganten Platz in der Großstadtliteratur des 19. Jahrhunderts hat.82 Für einige Interpreten markiert das Werk „zu einem besonders frühen Zeitpunkt [...] eine der wesentlichen Positionen des deutschen Frührealismus“ (Riha 141). In der neusten Forschungsliteratur sahen zahlreiche Interpreten in der Erzählung ein Musterbeispiel eines zentralen Themas der 81 Vgl. dazu besonders Brüggemann, Darby, Stadler, Osterle, Neumann, McFarland und Steigerwald. Vgl. dazu z.B. den Anfangsatz in Selbmanns Aufsatz: “Als letzte vollendete Erzählung Hoffmanns nimmt Des Vetters Eckfenster mit Recht eine Sonderstellung ein.” 82 89 Literatur der Aufklärung und der Romantik: Der Akt des Sehens. Günter Osterle zeigt die historische Wichtigkeit der „Vignetten“, die Hoffmann produziert, und nennt sie einen „kalkulierten Rückgriff auf Sehmuster der Aufklärung“ (103). Jörn Steigerwald analysiert die Erzählung aus einem kulturell historischen Standpunkt und situiert Hoffmanns Werk in die Mitte eines Umbruchs in der visuellen Kultur, der während der ersten zwei Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts stattfand. Trotz der Anerkennung für Hoffmanns Beteiligung an einer markanten visuellen Änderung schließt sich Steigerwald Walter Benjamins Verdikt an und verbindet die Erzählung mit den Sehmustern der Aufklärung. Eine Auseinandersetzung mit Benjamins Thesen beginnt mit Heinz Brüggemanns (1985), Silvio Viettas (1992), David Darbys (2003) und McFarlands (2005) Interpretationen. Trotz Benjamins verurteilender Bewertung von Des Vetters Eckfenster wird in den letztgenannten Interpretationen der Erzählung die Modernität des urbanen Schauens anerkannt.83 Darby vergleicht dabei Hoffmanns Erzählung mit Poes The Man of the Crowd und Robert McFarland zeigt, dass Hoffmanns „prä-modernes“ urbanes Schauen“ in Des Vetters Eckfenster schon in Das öde Haus existiert (McFarland 103), während Gerhard Neumann argumentiert, dass selbst der Prozess der Wahrnehmung der Protagonist des Textes ist, die als ein Resultat der radikalen Schreibhemmung anzusehen ist. Nach Neumann nimmt Hoffmanns letzter Text eine Schlüsselstelle ein in der Geschichte der Mimesis, indem der Schriftsteller in der Erzählung die Mimesis-Formel der Moderne anwendet und vielleicht „zum ersten Mal“ die „modernste Variante des Repräsentationsparadoxes benutzt (242). 83 Siehe dazu Eichler (1993), Neumann (2005) und McFarland (2005). 90 Einige der Aufsätze verdienen mehr Aufmerksamkeit im Bezug auf das Vorhaben dieses Kapitels. Linde Katritzky (1987) zeigt welchen Einfluss Hogarths Stiche und deren Kommentare von Lichtenberg aus 1794 auf Hoffmann ausgeübt haben. Die Kraft der Erzählung ist nach Katritzky an Lichtenbergs Methoden geschult und deckt sich völlig mit Lichtenbergs Beschreibungstechnik. Sie benutzt das Gemälde von Hogarth Vier Tageszeiten, besonders „Der Morgen“ was einen Londoner Gemüsemarkt vorstellt, um zu zeigen, wie Hogarth im Gewöhnlichen das Ungewöhnliche entdeckt. Wie der Gendarmenmarkt in Hoffmanns Erzählung erscheinen verschiedene Prachtgebäude (z.B. St. Pauls Kirche) im Blickfeld bei Hogarth(165). Katritzkys Schlussfolgerung ist, dass Lichtenbergs und Hogarths Gabe, das Besondere wie das Allgemeine in den gewöhnlichsten Begebenheiten auch des beschränktesten Alltags zu entdecken, hat Hoffmann offensichtlich „mit seiner durch Krankheit beengten Welt versöhnt und seine dichterischen Kräfte neu beflügelt“ (167). Günter Oesterle hat der letzten Erzählung Hoffmanns drei Aufsätze gewidmet. Der Aufsatz „’Lass Rom Rom seyn... Singe Berlin!’ Stadtpoesie in Prosa. Ludwig Tieck – Ludwig Robert – Heinrich Heine“ beschäftigt sich nur partiell mit Hoffmanns Erzählung. Das Jahr 1822 wird jedoch als „Höhepunkt deutscher Städteliteratur“ genannt, da neben Hoffmanns Erzählung auch Heines Briefe aus Berlin und Börnes Schilderung aus Paris aus diesem Jahr entstanden sind. Die drei Texte bewertet Oesterle als Beispiele eines Darstellungsstandards, der „westeuropäischen Können in nichts nachsteht“ (293). Der zweite Essay (2004), eine wahrnehmungstheoretische, thematologische und narratologische Analyse, bestätigt die Sonderstellung des Textes unter den Erzählungen des 19. Jahrhunderts. Der dritte Aufsatz (1987) von Oesterle analysiert Des Vetters 91 Eckfenster als eine „formal-ästhetische und eine politisch-soziale“ Schule des Sehens (104). Oesterle entdeckt in der Erzählung eine neuartige ästhetische Einstellung in der literarischen Mobilisierung eines modernen Bildreservoirs aus Callot, Chodowiecki und Hogarth. In der kreativen Mobilisierung von diesen Bildern ersetzt Hoffmann nach Oesterle die Hierarchie des Sichtweisen durch eine Pluralisierung und Relativierung, indem Hoffmann Techniken von Callots, Hogarth’ und Chodowieckis mischt. Die vielschichtigen Bezugnahmen auf die obigen Künstler machen eine narratologisch integrierte Intermedialität im Text offenbar. Oesterles Schlussfolgerung ist, dass die subjektive, monologische Imagination des einsamen Romantikers zurückgedrängt wird „gegenüber der geselligen Kommunikation [und] dem kombinatorischen Spiel“ (110). Ulrich Stadler (1986) und Thomas Eicher (1994) beschäftigen sich mit der strukturbildenden Qualität des panoramatischen Sehens in der Erzählung. Stadler verbindet mit dem Begriff des Panoramas eine undemokratische Perspektive des herrschenden Überblicks (503). Eicher zeigt in seiner Analyse, dass es zwischen dem Darstellungsmodus des Panoramas und der Erzählung „einen ganzen Korpus von Berührungspunkten“ gibt (361). Die Schwerpunkte der Parallelisierung liegen bei Eicher in der Realisierung eines künstlerischen Verhaltens und im Bereich der Rezeption. Eicher benutzt in seiner Interpretation großflächige Panoramagemälde, jedoch keine spezifischen Repräsentationen des Berliner Gendarmenmarktes. Gerhard Vowe (2005) widmet seine Interpretation der Rolle des Marktes in der Erzählung. Als Ausgangspunkt beschreibt er den Marktplatz als „ein Modell des öffentlichen Raumes“ (87). Der Gendarmenmarkt als öffentlicher Raum ist nicht nur ein Marktplatz, sondern ein komplexer Raum. Der Markt wird in der Erzählung als eine 92 gesellschaftlich wie kulturell wichtige Instanz konnotiert, der drei Funktionen (Koordination, Regulation und Integration) Platz gibt. Hermann Korte analysiert die Marktmechanismen in der Erzählung und beschreibt dabei die Gründe für die Krise des Schriftstellers in der sich entfaltender Marktwirtschaft. Im Gegensatz zu Vowe erscheint der Markt in Kortes Interpretation als eine fremde Macht, der „den einzelnen auf seine funktionale Größe in einer zirkulierenden Welt des Tausches und der Waren reduziert“ (133). Jürgen Gunia und Detlef Kremer (2001) besprechen die Erzählung durch das Mittel der Mauerschau (Teichoskopie) und untersuchen die aus einer „Bühne“ und „Zuschauerraum“ bestehende theatrale Topographie im Werk. Nach ihrer Analyse verbindet Hoffmann die aufklärerische Rahmenschau mit einer dynamischen Mauerschau, „die dem beschleunigten Objekt mit einer Elastizität der Optik begegnet“ (77). Im Weiteren führen die Autoren Hoffmanns Blickexperiment in der Erzählung auf ältere Modelle zurück und nennen dabei neben den Kupferstichen von Hogarth und Chodowiecki, die Orbis pictus Tradition (78). Die obigen Beispiele zeigen, dass der Text in der jüngsten Forschung immer wieder neuinterpretiert wurde. Die folgende Analyse hat das Ziel, die Erzählung in einem breiten Kontext zu untersuchen. Dabei ist der Fokus auf dem dargestellten Ort, dem Gendarmenmarkt sowie auf seinen zeitgenössischen malerischen Repräsentationen aus dem Entstehungsjahr des Primärtextes. Die Analyse bestätigt die Sonderposition der Erzählung im Vergleich zu den anderen Berlin-Texten Hoffmanns mit der Hilfe von zeitgenössischen malerischen Werken von Vedutenmalern und dem Architekten Schinkel. 93 „Prophete rechts, Prophete links / Das Weltkind in der Mitten.“:84 Der Gendarmenmarkt als ökonomisches, militärisches, kirchliches und kulturelles Zentrum Wenn man nach den Gründen forscht, die zum Ruf des Gendarmenplatzes führten, findet man sie alle in den frühen Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, insbesondere zwischen 1815 und 1830, konzentriert. Bis Ende des 17. Jahrhunderts gehörte der Gendarmenmarktplatz im Herzen Berlins zum Vorgelände des berlinerischen Festungswerkes. 1705 wurde der Französische Dom, 1708 der deutsche Dom gebaut. Um die zwei Kirchen errichtete der königliche Exerziermeister im Viereck Stallungen und Wachgebäude für sein Eliteregiment. Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Pferdeställe abgerissen und die beiden Kirchen erhielten zwei mächtige Kuppeln (Demps 15-42; Mühr 58-60). Abbildung 7: Foto vom Gendarmenmarkt (2007) Für den vor allem nach 1815 gewonnenen Ruf des Platzes sorgten neben dem Schauspielhaus die zahlreichen Gaststätten und Lokale und die dort lebenden Menschen. Die Häuser um den Platz herum beherbergten Berliner, die nicht zur städtischen Unterschicht zählten, aber ebenso wenig reich waren: Handwerkmeister, Staatsbeamte bis zum mittleren Dienst, Angehörige der Universität und der Akademie, und Schauspieler (Demps 45). E.T.A. Hoffmann richtete sein Leben während seines letzten BerlinAufenthaltes an diesem Platz ein. Dutzende von Geschichten und Anekdoten berichten 84 Goethe, Eröffnungsprolog zu Iphigenie auf Tauris (die erste Aufführung im Schinkelschen Schauspielhaus) 94 von seinen tatsächlichen oder angeblichen Eskapaden bei Lutter & Wagner und in anderen Lokalen am Ort (Safranski 496-503). Seit Sommer 1815 wohnte der Schriftsteller in einer Wohnung in der Taubenstraße 31, Ecke Charlottenstraße, gegenüber dem Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, deren Grundriss er realitätstreu auch im Kunzischen Riss verewigt hat. Für die Wohnverhältnisse in Berlin zu Hoffmanns Zeiten war die Wohnung in der Taubenstraße ein großzügiges und stattliches Heim.85 Die Lage der Wohnung des Vetters in seiner letzten Erzählung verweist eindeutig auf den Gendarmenmarkt: Dabei liegt aber meines Vetters Logis in dem schönsten Teile der Hauptstadt, nämlich auf dem große Markte, der von Prachtgebäuden umschlossen ist und in dessen Mitte das kolossal und genial gedachte Theatergebäude prangt. Es ist ein Eckhaus, was mein Vetter bewohnt, und aus dem Fenster eines kleinen Kabinetts übersieht er mit einem Blick das ganze Panorama des grandiosen Platzes. (SW 6, 469) In den folgenden Segmenten wird der in der Erzählung benutzte Ort, der Gendarmenmarkt aus mehreren Perspektiven untersucht. Zuerst wird seine Funktion als Marktplatz analysiert, dann die Ästhetik seine malerische Repräsentationen aus dem Jahre 1822 mit der Erzähltechnik Hoffmanns verglichen. Abschließend widmet sich dieses Kapitel der Wichtigkeit des Schauspielhauses und Schinkels Baukunstphilosophie in Bezug auf Hoffmanns letzter Erzählung. „...mir entwickelt sich daraus die mannigfachste Szenerie des bürgerlichen Lebens“: Der Markt in Des Vetters Eckfenster Der am Sonntag stattfindende Wochenmarkt und besonders Gemüseweiber, die auch in Des Vetters Eckfenster erwähnt werden, stellen auf dem Kunzischen Riss ein signifikantes 85 Vgl. dazu die Beschreibung des Grundrisses der Wohnung in Georg Wirths Aufsatz. 95 Stück der Zeichnung dar. In diesem Sinne sind die Gemüseweiber im Entstehungsjahr der Zeichnung (1815) realistische Figuren, erscheinen jedoch retrospektiv gesehen auch als poetisierte Figuren, wenn man an ihre Charakterisierung in Hoffmanns letzter Erzählung denkt (1822). Der Markt, von dem sich der Name des späteren Gendarmenmarktes ableitet, findet seine erste Erwähnung unter dem Namen „Friedrichstädtischer Markt.“86 Eine offizielle Benennung hat nie stattgefunden, schreibt der Stadthistoriker Laurenz Demps, aus der Entwicklung des Platzgedankens ergibt sich die Schlussfolgerung, dass eine Namensgebung nicht nötig war (7). Der Platz war immer ein wichtiger Knotenpunkt, da alle Häuserfronten auf die Straßen zeigten, die sich über den Platz hinweg fortsetzten. „Friedrichstädtischer Markt“ war eine Ortsbezeichnung in dem Sinne, dass es sich um den Markt in der Friedrichstadt handelte.87 Der Platz wurde unmittelbar westlich der alten Stadtbefestigung als Markt durch die Aussparung von drei Baublöcken aus dem schachbrettartigen Gesamtplan ins Leben gerufen. Nicht nur wegen seiner markanten Rechteckform, sondern auch wegen seiner Ausmaße unterscheidet er sich wesentlich von mittelalterlichen Marktplätzen (Behr/Hoffmann 15). Der auf dem mittleren Geviert des überdimensionalen Marktes unter freiem Himmel stattfindende Wochenmarkt ließ mit seinem Markttreiben den Raum zu einem lebendigen Organismus werden. Wie gezeigt, wurde der Platz mehrmals umgebaut bis er sein geschlossenes Bild bekam, jedoch blieb der Markt auch während der größten Bauarbeiten erhalten (z.B. während der Langhans-Theaterbauarbeiten). Der große Marktplatz diente der Versorgung der anwohnenden Berliner, die ihn durch Handel 86 Der Gendarmenmarkt war auch als Mittelmarkt, Großer Markt und Neuer Markt bekannt (Demps 16). 96 und Wandel täglich mit pulsierendem Leben voller Erwerb- und Bürgersinn erfüllten (Demps 25-32). Mit den ausführlichen Beschreibungen der verschiedenen Kunden und Waren verewigt Hoffmann die Realien des damaligen Berlins. Im Volksmund hieß der Gendarmenmarkt auch „Gänsemarkt“, weil auf ihm jeden Mittwoch und Sonnabend in der Stadt der größte Handel mit Gänsen stattfand (Demps 25). Die Gänse als Ware erscheinen auch in Hoffmanns Geschichte. Die Vielfältigkeit der Waren und ihrer Verkäufer und Käufer macht es eindeutig, dass so eine Literarisierung des Gendarmenmarktes nur durch die scharfen Beobachtungen des hier wohnenden Schriftstellers möglich ist, der die Marktereignisse und deren Akteuren genau kennt und sorgfältig befolgt. Die literarische Darstellung des Gendarmenmarktes als Marktplatz ist aber mehr als eine realistische Beschreibung der Berliner Alltage, da der Markt als einen wichtigen öffentlichen Ort der Stadt angesehen werden kann, der eine neue Wahrnehmungsform fördert und der von Soziologen und Stadtforscher mehrfach beschreiben und interpretiert worden ist. Der mittelalterliche Marktplatz wurde oft als Geburtsort der Stadt beschrieben und das Marktverhalten im 20. Jahrhundert mit der Großstadtmentalität verglichen. Nach dem Soziologen Hans Paul Bahrdts lässt sich Urbanisierung nach dem Modell des Marktes beschreiben. Im engen Wechselverhältnis einer öffentlichen und privaten Sphäre bei ihrer gleichzeitigen Polarität bildet sich ein Sozialverhalten aus, für das das Verhalten auf dem Markt das Modell darstellt (Bahrdt 63-68). Der Markt bei Bahrdt bedeutet eine „unvollständige Integration,“ Offenheit der sozialen Intentionalität der einzelnen und Beliebigkeit der Kontaktaufnahme (64). Das Modell des Marktes als Beschreibung des 97 Großstadtlebens bedeutet auch eine Flüchtigkeit und Unvermitteltheit der Begegnungen und eine nicht weichende Distanz. Diese Konstellation benötigt neue Kommunikationsformen. Diesen Verhaltensweisen schreibt der Soziologe eine doppelte Aufgabe und ein „darstellendes Verhalten“ zu: Einerseits zu verhüllen, was der nur beschränkt kalkulierbaren sozialen Umwelt entzogen werden soll, andererseits ihr all das, was für sie bestimmt ist, deutlich genug zeigen (Bahrdt 66-67). Der Marktplatz und Warenaustausch sind auch wichtige Ausgangspunkte in Georg Simmels bekannter Analyse über Großstadtmentalität. „Die Großstädte sind von jeher die Sitze der Geldwirtschaft gewesen, weil die Mannigfaltigkeit und Zusammendrängung des wirtschaftlichen Austausches dem Tauschmittel eine Wichtigkeit verschafft“ schreibt Simmel in Die Großstädte und das Geistesleben (191). Komplexität, Zirkulation, Warenaustausch und Geldwirtschaft sind mit dem Markt verbunden und diese Gedanken, wie Korte in seinem Aufsatz zeigt, erscheinen auch in Hoffmanns Des Vetters Eckfenster. Der Markt wird bei Hoffmann kein Raum für Dauerhaftes, sondern ein Ort für das Komplexe. Daneben erscheint der Markt als ein erotischer Ort, in dem die zwei männlichen Erzähler eine Menge von Frauen aus der Distanz beobachten können. Wir Oesterle beschreibt, wird der Markt bei Hoffmann zu einem Ort „für das Erotische, Wandelbare und Flüchtige“ (Oesterle 2004, 260). Der Markt mit seinen Vernehmungsnormen und bunten Menschenfülle ist also ein Raum, der als einer der wichtigsten Schauplätze der Geburt der modernen urbanen Wahrnehmung angesehen werden kann. Der Markt ist auch bei Hoffmann ein komplexer Ort, der mannigfaltig konnotiert wird. Diese Sektion der Dissertation beschäftigt sich mit der Art und Weise, wie 98 Hoffmann durch die Poetisierung des Marktes eine neue Wahrnehmung verbildlicht und seine Sehschule einführt. Der Marktplatz dient nämlich als Anregung zum Dialog über eine Sehschulung. Die Erzählung fängt mit dem Beginn des Marktes an und endet mit der Verminderung der Menge und dem Bild des leeren Marktplatzes. Zur Schulung des Besuchers gehört auch die Aufklärung über das wahre Wesen des Marktes. Vom Markt hochkommend charakterisiert der Besucher die untere Welt mit den folgenden Worten: „Jener Markt bietet dir nichts dar als den Anblick eines schrecklichen, sinnverwirrenden Gewühls des in bedeutungsloser Tätigkeit bewegten Volks“ (SW 6, 471) Die Reaktion des Vetters widerspricht der Klage seines Verwandten: „Hoho, mein Freund, mir entwickelt sich daraus die mannigfachste Szenerie des bürgerlichen Lebens, und mein Geist, ein wackerer Callot oder moderner Chodowiecki, entwirft eine Skizze nach der andern, deren Umrisse oft keck genug sind“ (SW 6, 471) Die Aufnahme der Bilder des Marktes erinnert den Vetter an die Arbeitsweise von typischen Großstadtmalern aus drei verschiedenen Kulturen, wie der französische Jacques Callot, der deutsch-polnische Daniel Chodowiecki und der englische William Hogarth.88 Das Gemälde Der Jahrmarkt von Impruneta von Callot hat Hoffmann besonders fasziniert.89 Der Kunsthistoriker Sadoul schreibt, „vor Impruneta hat noch kein Künstler eine ähnliche Menschenmenge dargestellt“ (zitiert nach Oesterle, 1989 108)90 88 Oesterle analyiert den Einfluss dieser drei Maler auf Hoffmanns Figurendarstellung und argumentiert, dass die Vielfalt der Figuren durch eine Mischung der Manieren Callots, Hogarths und Chodowieckis ermöglicht wird. So wird eine Figur in Callotscher Manier beschrieben und dann alternativ in Hogartscher satirisch hässlicher Manier oder in humorvoller Chodowieckischer Manier gedeutet (Vgl. dazu Oesterle 1989, 105-110). 89 Die Radierung gilt zurecht als Hauptwerk Callots, da es ihm hier in überzeugender Weise gelang, die unzähligen präzise beobachteten Einzelfiguren zu einer großen Menge zu vereinigen, welche sich harmonisch in die lichtdurchflutete italienische Landschaft einfügt. Zusammengehalten durch die rahmenden Bildmotive von Turm und Baum an den Blatträndern, führen die ausgefeilte Perspektive, äußerst differenzierte Hell-Dunkel-Abstufungen sowie die virtuose Lichtführung zu einem Werk von 99 Abbildung 8: Jacques Callot: Der Jahrmarkt von Impruneta, nach 1622 Die Darstellung einer Menge in einem kleinen Raum hat auch Hoffmann beschäftigt. In der Einleitung der Fantasiestücke Callots Manier schreibt Hoffmann in dieser Hinsicht zu Jacques Callot das Folgende: Warum kann ich mich an deinen sonderbaren fantastischen Blättern nicht satt sehen, du kecker Meister! [...] Schaue ich deine überreichen aus den heterogensten Elementen geschaffenen Kompositionen lange an, so beleben sich tausend und tausend Figuren, und jede schreitet, oft aus dem tiefsten Hintergrunde, wo es erst schwer hielt sie nur zu entdecken, kräftig und in den natürlichsten Farben glänzend hervor. – Kein Meister hat so wie Callot gewusst, in einem kleinen Raum eine Fülle von Gegenständen zusammenzudrängen, die ohne den Blick zu verwirren, nebeneinander, ja ineinander heraustreten, so dass das Einzelne als Einzelnes für sich bestehend, doch dem Ganzen sich anreiht. (SW 2/1, 17) beispielloser Intensität, das vorbildhaft wurde für die Veduten- und Volksdarstellung späterer Generationen. 90 Laut Katalog der Alten Pinakothek in München sind insgesamt 1138 Männer und Frauen, 45 Pferde, 67 Esel und 137 Hunde auf dem Gemälde abgebildet. 100 Die gleichen Prinzipien erscheinen auch in den einzelnen Bildern, die die Vetter aus dem Fenster den Gendarmenmarkt anschauend beschreiben. Nicht nur die zahlreichen Gruppierungen von Menschen und einzelne Gestalten, sondern auch Objekte werden in dieser Weise dargestellt. Die Waren einer Verkäuferin werden zum Beispiel in der folgenden Weise geschildert: lass uns noch einen Blick auf die dicke gemütliche Frau mit vor Gesundheit strotzenden Wangen werfen, die in stoischer Ruhe und Gelassenheit, die Hände unter die weiße Schürze gesteckt, auf einem Rohrstuhle sitzt und vor sich einen reichen Kram von hellpolierten Löffeln, Messern und Gabeln, Fayence, porzellanenen Tellern und Terrinen von verjährter Form, Teetassen, Kaffeekannen, Strumpfware, und was weiß ich sonst, auf weißen Tüchern ausgebreitet hat, so dass ihr Vorrat, wahrscheinlich aus kleinen Auktionen zusammengestümpert, einen wahren Orbis pictus bildet. (SW 6, 475) Der Katalog der verschiedenen Handelsgegenstände der erfolgreichen Frau konstituiert ein buntes Bild, das mit Johann Amos Comenius’ Orbis sensualium pictus (Die sichtbare Welt) verglichen wird. Comenius’ populäres Lehrbuch enthielt doppelseitige Artikel – links mit je einer mit Nummern versehenen Abbildung, rechts mit zweispaltigen Erläuterungen in lateinischer und deutscher Sprache – über Gott, die Welt, die Elemente, Pflanzen und Tiere. Comenius zielte mit seinem Buch nicht nur durch Worte, sondern durch Bilder über die Welt zu unterrichten. Das berühmte Werk kann zugleich als die Erfindung des Schulbuchs und als erstes tatsächlich „multimediales“ Unterrichtsmaterial angesehen werden, das in Hoffmanns Erzählung explizit auch auf die Sehschulung des Besuchers hinweist. Die stark visuelle Beschreibung bestätigt, dass der Markt die Hegemonie des Sehens fördert und eine neue Wahrnehmung verlangt, die erst gelernt werden muss. Derjenige, der diese Sehschule mit dem Autor unternimmt, kann über den Markt viel lernen. Der Wochenmarkt am Gendarmenmarkt enthüllt eine neue Heterogenität der 101 Einwohner des postnapoleonischen Berlins und zeigt schon Keime der kommenden kapitalistischen Marktmechanismen. In einer Szene erscheint das vom Vetter selbst verfasste Buch in der Zirkulation des Marktes. Der Blumenverkäuferin, die an ihrem Stand sein Werk liest, ist der Beruf des Dichters so völlig fremd, dass sie glauben könnte, „der liebe Gott ließe die Bücher wachsen wie die Pilze“ (SW 6, 481) Das aus der Vergangenheit ins Gedächtnis gerufene Gespräch zwischen dem Vetter und der Blumenverkäufern reduziert sich danach auf das Geschäftliche. Kleinlaut fragt der Vetter nach dem Preis des Nelkenstocks und zählt das Geld auf. Transaktionen, Verkauf und Streite „über das leidige Meum und Tuum“ (SW 6, 493) sind wiederkehrende Motive in der Erzählung. Die von Simmel und Barhdt ausführlich beschriebenen Marktmechanismen und Verhaltensmuster kann man schon auf dem von Hoffmann beschriebenen Wochenmarkt der 1820er Jahre in Berlin entdecken. Anschließend wird der Markt zum Gleichnis des Lebens im allgemeinen. Die rege Tätigkeit und das Bedürfnis des Augenblicks hat die Menschen nur für ein paar Stunden zusammengetrieben. In den letzten Szenen wird alles verödet, die Stimmen verklingen und die Menschen verlassen den Marktplatz. Der Vetter bleibt alleine und gelähmt ausgeliefert in seinem Zimmer. Die scharfen Beobachtungen werden von dem schriftstellerisch nicht begabten Besucher aufs Papier gebracht und der zum Schreiben unfähige Autor als Opfer der entwickelnden Marktmechanismen und Kapitalismus dargestellt. Der Wochenmarkt auf dem Berliner Gendarmenmarktplatz und dessen Teilnehmer dienen als Katalysator für eine Sehschule in Hoffmanns Erzählung. Der Ort Markt und die von Hoffmann beschriebenen Marktmechanismen und Marktereignissen 102 liefern dabei Beispiele zu den von den Großstadtforschern im 20. Jahrhundert theoretisierten urbanen Wahrnehmungsformen. „Weit, hoch, herrlich der Blick / Rings ins Leben hinein!“91: Der gemalte Gendarmenmarkt im Jahre 1822 und die panoramatische Erzähltechnik in Des Vetters Eckfenster Neben der Vielfältigkeit der dargestellten Transaktionen und Figuren des Sonntagmarktes trägt die Erzähltechnik Hoffmanns in Des Vetters Eckfenster, als eine stark visuelle Narrative mit zahlreichen Anspielungen auf verschiedene Maler und malerische Arbeitstechniken, zur Charakterisierung des Textes als eine der ersten literarischen Repräsentationen der modernen Großstadtwahrnehmung bei. Im Folgenden werden die malerischen Ansichten des Gendarmenmarktplatzes zur Zeit der Abfassung der Erzählung untersucht. Der größte Marktplatz der Friedrichstadt wurde in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts außer auf graphischen Blättern und kleinformatigen Aquarellen auf den Stadtansichten des biedermeierlichen Berlins nicht festgehalten (Gramlich 171). Jedoch gibt es mindestens zwei Beispiele um und aus dem Jahre 1822, dem Entstehungsjahr Des Vetters Eckfenster, die bestätigen, dass die Visualisierung des Gendarmenmarktes mehrere Maler und Architekten beschäftigte. In dieser Sektion der Dissertation werden Gemälde und Repräsentationstechniken von Carl Georg Adolf Hasenpflug und Carl Georg Eslen, die im Entstehungsjahr von Des Vetters Eckfenster den Gendarmenmarkt ins Bild gesetzt haben, mit der Erzähltechnik Hoffmanns verglichen. Carl Georg Adolf Hasenpflug, der zu dieser Zeit im Atelier des Theaterdekorationsmalers Gropius arbeitete, hat 1822 eine Ansicht des 91 Goethe, An Schwager Kronos (1774) 103 Gendarmenmarktes mit dem Titel Perspektivische Ansicht des neuen Schauspielhauses und der beiden Thürme auf der Kunstausstellung in Berlin gezeigt (Gramlich 170). Abbildung 9: Carl Georg Adolf Hasenpflug (1802-58), Perspektivische Ansicht des neuen Schauspielhauses und der beiden Thürme (um 1822) Im Gemälde bemühte er sich um eine möglichst umfassende Wiedergabe der großen Platzanlage und ihrer Bauten. Hasenpflug hat in seiner Ansicht eine städtebauliche Planung Schinkels verbildlicht, die nie realisiert wurde. Das Gemälde ist also trotz der präzisen und realistisch scheinenden Darstellung keine exakte Wiedergabe des bestehenden Zustandes, sondern die bildliche Veranschaulichung der Wirkung eines vorbedachten Umbaus.92 Die Kunsthistorikerin Sybille Gramlich charakterisiert das Bild als die Repräsentation einer Übergangphase, die die Berliner Malerei zwischen 1822 und 1825 92 Wie Gramlich zeigt, zeugt das Gemälde einerseits von einer direkten Beziehung zwischen dem Maler und dem Architekten Schinkel, andererseits darüber, dass die ideale bauliche Situation des Platzes die Fantasie der damaligen Maler beschäftigt hat (172). 104 erfuhr. Die Farbigkeit des Ölgemäldes, der lang auseinandergezogene Aufbau des Bildes, der hochgelegene Standort und die Vereinzelung der Staffagefiguren, deren Aktivitäten jedoch schwer identifizierbar dargestellt sind, bringen das Werk mit den Berliner und Potsdamer Ansichten des 18. Jahrhunderts in Beziehung (Gramlich 171). Wie die Gruppen der Figuren wirkt auch die Architektur isoliert im Bild. Die realitätsnahe Darstellung des Platzes, die zahlreichen Gruppierungen von Menschen und die Absicht des Malers, ein größtmögliches Segment des Platzes auf die Leinwand zu bringen, was sich in der Verzerrung der traditionellen Perspektive manifestiert, erzeugen Repräsentationstechniken, die die späteren Panoramagemälde charakterisieren. Die zweite Ansicht stammt von Carl Georg Enslen um 1822. Carl Georg Enslen gehörte zu den berühmtesten Kleinpanoramisten in Berlin. Das von Enslen gemalte Bild vom Gendarmenmarktplatz aus 1822 ist jedoch ein großflächiges Ölgemälde. Abbildung 10: Carl Georg Enslen, Blick auf den Gendarmenmarkt (1822) Auf dem Gemälde zeigt sich das 1821 eröffnete Schauspielhaus in strahlendem Glanz. Das Schinkelsche Theater ist betont der Mittelpunkt der symmetrischen Platzanlage. Den städtebaulichen Raum und den öffentlichen vom Theater dominierten Platz begrenzen 105 zum Teil repräsentative Wohnbauten. Die Umgebung und die nebenliegenden Straßen sind wegen der realistischen Abbildung einfach zu identifizieren.93 Die Westseite des Platzes bildet eine Häuserzeile an der Charlottenstraße (Behr/Hoffmann 58). Hinter dem Schauspielhaus kann man auch das Eckfenster von Hoffmanns Berliner Wohnung in der Taubenstraße entdecken. Ähnlich dem Gemälde von Hasenflug hat der Maler versucht, eine möglicht breite Ansicht des Platzes zu veranschaulichen. Diese Darstellungsweise und die zahlreichen und genau dargestellten Marktszenen mit Verkäufern, Kunden und Waren vor dem Deutschen Dom evozieren die Detailliertheit der damaligen Panoramen. Die Ästhetik des Bildes ist dem ersten Beispiel mehrfach ähnlich. Realistische Figuren aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten, die den Platz erfüllen, der erhobene Stadtpunkt und der lang ausgezogene Aufbau des Bildes charakterisieren beide Ansichten. Das majestätische Theater befindet sich in beiden Fällen in der Mitte der Komposition zwischen den zwei Domen. Beide Ansichten zeugen vom Einfluss, den die zeitgenössische Panoramamalerei auf die Vedutenansichten ausgeübt (erhöhte und verzerrte Perspektive, Überblick über die Stadt oder einen Ort, möglichst realitätsnahe Darstellung) hat. Alle genannten Merkmale sind auch Kennzeichnen der gleichzeitigen PanoramaMalerei, deren vorrangiges Anliegen in der möglichst realitätsnahen Schilderung des Motivs bestand. Panorama bezieht sich auf ein Genre, das seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts überall in Mode war. Ihre Erfindung reicht ins Jahr 1787 zurück und hat ihre Wurzeln in der Illusionskunst der barocken Theatermalerei. Der Grundgedanke des Panoramas ist es, ein so kunstvoll-künstliches Bild zu liefern, dass der Betrachter in ihm 93 Südlich vom Schauspielhaus verläuft die Taubenstraße zur Mauerstraße, and der Nordseite des Theaters befindet sich die Jägerstraße, dann gleitet der Blick über die Marktgrafenstraße zur Behrenstraße. 106 „nicht die gemalte, sondern die reale Natur zu sehen, zu haben“ glaubt (Oettermann 41).94 Der Erfinder der Panoramen war Robert Barker aus Edinburgh, der 1792 in London sein erstes Rundgemälde mit einer Darstellung der englischen Flotte gezeigt hatte. Um die Jahrhundertwende war es auch in Paris und in Berlin soweit. Neben den beliebten Panoramen mit Darstellungen großer Städte waren nunmehr auch Landschaften, später besonders Schlachtdarstellungen gefragt. Das beliebteste Sujet von Panoramen war jedoch die Großstadt: Der Erfinder Barker hatte für seine ersten Rundbilder die Ansichten von London und Edinburgh gewählt; in Paris folgte man diesem Beispiel mit einer Darstellung der französischen Hauptstadt und das erste Berliner Panorama bot die Ansicht Roms von den Ruinen der Kaiservilla aus (Buddemeier 22).95 Nach Oettermann was das Panorama die erste Kunstform, die auf die optischen Bedürfnisse einer anonymen Großstadtmesse reagierte. Es war die rapide wachsende städtische Bevölkerung, die mit ihren Eintrittskarten die Herstellung und Ausführung des Massenmediums Panorama ermöglichte (45). Das gemalte Panorama ist das Resultat einer Entwicklung zu einer möglichst detailgetreuen Wirklichkeitsabbildung. Um die Eigenartigkeit dieser Repräsentationen zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem breiteren Kontext zu akzentuieren, soll eine dritte Ansicht des Gendarmenmarktes, 94 Vgl. dazu: „Der Zweck dieser neuen Art von Mahlerey soll seyn, zu zeigen, wie weit die Kunst die Blendwerke der Täuschung treiben kann“ (Johann August Eberhard, Handbuch der Ästhetik, Halle, 1807; zitiert nach Buddemeier 173). 95 Dabei wählten die Maler in allen drei Fällen ihren Standort so, dass hinter der Stadt die umliegende Landschaft sichtbar wurde und der Zuschauer den Eindruck gewann, die vor ihm liegende Stadt sei in die Natur eingebettet. Bei der Wahl dieses Sichtpunktes ist zu bedenken, dass im 19. Jahrhundert die Hauptstädte sprunghaft anwuchsen und Dimensionen annahmen, durch die den Bewohnern der Stadt der Zugang zur Natur beinahe abhanden kam. Es ist höchst bezeichnend, dass bei dem Versuch, einen verlorenen Zustand vorzutäuschen, Mittel verwendet wurden, die jener technischen Revolution entstammten, die für die Veränderung der Städte verantwortlich waren. 107 Der Gendarmenmarkt im Winter von Eduard Gaertner aus dem Jahre 1857, untersucht werden. Die wesentliche zeitliche Differenz zwischen den obigen zwei Ansichten und Gaertners Gemälde soll zeigen, wie sich die malerische Darstellung des Platzes während des 19. Jahrhunderts verändert hat. Abbildung 11: Eduard Gaertner, Ansicht des Gensd’armen-Marktes hieselbst (1857) In diesem Gemälde benutzt der Maler keinen erhöhten Standpunkt, so dass der Blick der Zuschauer auf den Platz begrenzt ist. Die Betonung der linearen Bildelemente, die Architektur des Platzes und der niedrige Standort des Malers sind entscheidende Merkmale der späteren Berlin Stadtansichten. Die Lichtführung mit deutlicher Unterscheidung in Licht- und Schattenzonen setzen jedoch den Akzent auf das Schauspielhaus: Die zwei Kirchen liegen teilweise im Schatten und das Theater wird dagegen von der Sonne beschienen. Der deutsche Dom und der um die Kirche stattfindende Wochenmarkt dominieren das Bildfeld und die Staffagefiguren sind 108 voneinander weniger abgesondert als in den früheren Darstellungen. Sie beleben das Gemälde bis zum Vordergrund und werden in ihren vielfältigen Beschäftigungen detailgenau erfasst und ebenso sorgfältig wie die Architektur behandelt und damit zum gleichberechtigten Teil des künstlerischen Gesamteindrucks. Der Vergleich soll demonstrieren, dass die ersten zwei Bilder keinen vollständigen Rundblick, sondern eine optisch-perspektivistisch täuschende breitmöglichste Schau des Platzes darbieten und in dieser Weise mit den Repräsentationstechniken der damaligen Panoramen in Verbindung gesetzt werden können. Neben diesen Gemälden zeigen Schinkels frühe optisch-illusorische Bühnendekorationen, die Hoffmann in dem gegenüberliegenden Theater gesehen hatte dass sich die Wahrnehmungswelt der damaligen Berliner wegen der verändernden Sinneseindrücke in der wachsenden preußischen Hauptstadt wesentlich verwandelt hat.96 Wenn man die Umgebung des Gendarmenmarkte ebenfalls in Betracht zieht, soll auch die Ausstellung der sog. Enslersche Zimmerreise in diesem Kontext erwähnt werden. Der Panoramaforscher Stephan Oettermann stellt fest, dass Deutschland in der Herstellung von Kleinpanoramen, sowohl was die Menge als auch was ihre technische Perfektion und Qualität angeht, eine führende Rolle spielte. Die bekanntesten Kleinpanoramisten waren alle aus Berlin wie zum Beispiel Wilhelm Ernst Gropius (1765-1852), Vater von Carl Wilhelm Gropius, der von 1827 bis 1850 in Berlin mehrere Dioramen zeigte. Zwischen 1816 und 1865 war die ‚malerische Zimmerreise’ von Enslen mit Ausnahme von Finnland, den Balkanstaaten und Spanien in jedem Land Europas 96 Karl Friedrich Schinkel malte seit 1806 regelmäßig Panoramen für Gropius, bevor er sich als Architekt einen Namen machen konnte. Er schuf mehrere Zyklen „perspektivisch-optischer Gemälde,“ die mit wechselnder Beleuchtung und mit Musik- und Gesanguntermalung mit Landschaften, Stadtansichten und Architekturphantasien ein begeistertes Publikum fanden. 109 ausgestellt, durchweg mit besten Kritiken (Oettermann 182). Die große Sammlung von Landschafts- und Stadtansichten muss sehr interessant für das Publikum gewesen sein. Die sog. Enslenschen Phantasmagorien, wie man diese Zimmerausstellungen nannte, erscheinen auch in mehreren Berlinischen Geschichten (Sylvesternacht, Fragment aus dem Leben dreier Freunde).97 Oettermann sagt sogar, dass Des Vetters Eckfenster ihre literarische Form „ganz von der Präsentation des Enslenschen ‚Zimmerreise’“ geborgt hat (182). Abbildung 12: Explanation of The Cosmorama, 29 St. James’s Oettermanns Forschung zeigt auch, dass die berühmte Zimmerreise zur Zeit der Abfassung des Textes ganz in der Nähe der Wohnung des Autors am Gendarmenmarkt in Berlin ausgestellt wurde (182). Die Doppelbegabung Hoffmann hat frühzeitig erkannt, welches Potential in der Panoramakunst, besonders in Schinkels Theaterdekorationen steckt, die er selbst als Bühnenmaler betrieb. Im Theatergebäude auf dem Gendarmenmarkt wurden zur Zeit von Hoffmanns letztem Berlin-Aufenthalt oft innovative Gemälde zu Theaterdekorationen 97 Vgl. dazu auch Ricarda Schmidt 95. 110 benutzt. Am 16. 8. 1815 denkt Hoffmann in einem Brief an Fouqué sogar über ein Engagement Schinkels „wegen der UndineDekoration“ nach (Briefe 70). Schinkel hatte jedoch bis dahin keine Bühnenbilder gemalt (Oettermann 160). Nur durch die Panoramen bei Gropius konnte Hoffmann von seinen Fähigkeiten wissen, die er zugleich für das Theater benutzen wollte. Am 3. August 1816 fand letztendlich die Uraufführung der Oper mit Schinkels Dekorationen statt, am 29. Juli 1817 brannte das Schauspielhaus ab. Hoffmann hat von seiner Wohnung aus mit grimmigem Humor und selbst nicht ungefährdet dem Brand zugesehen, bei dem auch alle Dekorationen zur Undine vernichtet wurden.98 Diese Erfahrungen setzen nicht nur eine Bekanntschaft mit den Panoramagemälden voraus, sondern auch eine Beschäftigung mit der Technik ihrer Entstehung. Die Gemälde, die Bühnenbilder, die Panoramaausstellungen und nicht zuletzt der im ersten Kapitel diskutierte Kunzische Riss demonstrieren, dass die Umgebung des Gendarmenmarktes zu Beginn des 19. Jahrhundert in Berlin nicht nur ein höchst komplexer Stadtraum geworden ist, sondern auch ein Platz, auf dem und in dessen Umgebung nach einer bildlosen Zeit die Einwohner und Besucher Berlins mit Bildern und neuen visuellen Reizen bombardiert wurden. Eine zentrale Frage in der Analyse von Hoffmanns Text ist, wie sich der äußerst komplexe und vielfältige urbane Raum so erfassen und beschreiben lässt, dass er dem Leser und dem Geschichte abschreibenden Vetter zugänglich wird. Der Vetter will seinem Besucher etwas Neues beweisen: „Auf 98 Vgl. dazu: „Ich könnte Ihnen erzählen, dass ich bei dem Brande des Theaters von dem ich nur 15 bis 20 Schritt entfernt wohne, in die augenscheinlichste Gefahr geriet da das Dach meiner Wohnung bereits brannte, noch mehr! – dass der Credit des Staats wankte, da, als die Perückenkammer in Flammen stand und fünftausend Perücken aufflogen, Unzelmanns Perücke aus dem Dorfbarbier mit einem langen Zopf, wie ein bedrohliches feuriges Meteor über dem Bankgebäude schwebte – doch Ihnen alles der Zauberer mündlich erzählen und hinzufügen, dass beide gerettet sind, ich und der Staat” (25. November 1817 an Adolph Wagner). 111 Vetter! ich will sehen, ob ich dir nicht wenigstens die Primizien der Kunst zu schauen beibringen kann.“ (SW 6, 472) Das Ziel der Übung ist die Erfahrbarkeit des Marktgeschehens, die Überwindung des Schwindels und ein deutliches Schauen. Auch die Berichte, dass „zartnervige Damen“ und „junge Stutzer“ in den ersten Panoramen seekrank wurden und Schwindel erlebten, sind nach Oettermann zahlreich (13). Wenn Hoffmann in Des Vetters Eckfenster den besuchenden und den Dialog abschreibenden Vetter bemerken lässt, dass der gelähmte Schriftsteller von seinem Fenster aus „mit einem Blick das ganze Panorama des grandiosen Platzes“ übersieht (SW 6, 472), impliziert diese Aussage ein umfassendes Wissen über das neuartige künstlerische Verfahren. Der Vetter erteilt seinem Besucher eine Lektion in der panoramengleichen Erfassung der Welt. Die Position des Vetters und seines Besuchers an einem erhöhten Eckfenster macht die spezifische Struktur und die Thematik der Erzählung aus. Die Vetter können den ganzen Marktplatz überblicken. Gleichzeitig verlieren sie mit dem Gewinn an Blickfreiheit die Wahrnehmbarkeit des Geschehens durch ihre anderen Sinne. In dieser Weise hat das Auge den Primat in der Wahrnehmung, genau wie im Fall der Panoramenbesucher. In diesem Sinne hat das Auge den Primat in der Wahrnehmung, die fast ausschließlich auf visuelle Details reduziert ist. Wie aus der Erzählung zu Tage kommt, ist diese neue Technik kein künstlerischer Selbstzweck, sondern eine bittere Notwendigkeit. Dieses neue, panoramengleiche Verfahren versetzt den Vetter in die Lage, eine Krise zu überwinden, die nicht nur persönlicher, sondern allgemeiner, gesellschaftlicher Natur ist. Schon der Titel der Erzählung zeigt, dass es in 112 der Geschichte weniger um bestimmte Handlungen geht als vielmehr um eine bestimmte Art der Wahrnehmung.99 Der Vetter leitet seine Belehrung über die „Primizien der Kunst zu schauen“ mit folgenden Worten ein: „Gut Vetter, das Fixieren des Blicks erzeugt das deutliche Schauen“ (SW 6, 475). Wie während des gesamten Gesprächs immer wieder deutlich wird, ist mit dem „Fixieren des Blicks“ das Fixieren von Details gemeint. Das begründet auch den Gebrauch des Fernglases, das die oben beschriebene Fixierung ermöglicht. Das Fernglas ermöglicht dem Vetter, die zahlreichen Waren einer Händlerin beschreiben zu können.100 So enthüllt eine „blutrote, noch dazu ziemlich mannhaft gebaute Faust“ eine rätselhafte Person (SW 6, 474). Die detaillierte Beschreibung der physischen Details kommt auch in der zeitgenössischen Popularität von Physiognomielehren zu Tage und dem Vetter sind diese Theorien bekannt. Wie die Panoramenmaler lässt der Vetter nicht das kleinste Detail versteckt, damit seine Hypothesen überzeugend klingen. Wie in der Leinwand der Panoramen gibt es keine offenkundige hierarchische Ordnung unter den betrachteten Figuren in den Beschreibungen der Einzelgestalten bzw. Gruppierungen, jeder Figur kommt das gleiche Interesse zu. Keine Figur dominiert in der Erzählung und es gibt auch keine wiederkehrenden Gestalten, nur ein scheinbar beliebiges Hin- und Herspringen zwischen den Menschen. Das mit dieser Technik skizzierte Gesamtbild ist in diesem Sinne eher polyperspektivisch als zentralperspektivisch organisiert. Wie der Blick des 99 Die Erzählung wurde für die Zeitschrift Der Zuschauer geschrieben. Zur Relevanz dieser Zeitschrift siehe Schirmer 66. 100 Mehr dazu siehe Stadlers Aufsatz über „Brillen, Lorgnetten, Fernrohren und Kuffischen Sonnenmikroskopen“ in Hoffmanns Erzählungen. 113 Panoramenbesuchers über die Leinwand springt, so fordert Hoffmann seine Leser zum beständigen, oft abrupten Wechsel der Perspektive.101 Der Einsatz des Fernglases modifiziert jedoch den ständigen Wechsel der Perspektive mit der Fixierung einer Szene. Der Blick durch das Fernglas nimmt eine einzige, gut beobachtbare Szene aus dem Gesamtbild aus und trägt zum detailgenauen Schauen bei. Die vom Vetter erwähnte „Fixierung des Blickes“ auf ein Detail bedeutet die Reduktion des komplexen Geschehens auf kleine Ausschnitte. Diese Reduktion des Geschehens auf ein Detail wirkt aber lähmend für nach einer Übersicht strebenden Vetter.102 Die durch das Fernrohr beobachteten Details haben eine wichtige Funktion: Sie setzen die Phantasie in Gang.103 Wie in den früheren Berlinischen Geschichten dienen die konkreten Beschreibungen als Katalysator zum Erzählen, aber die Geschichten sind in Des Vetters Eckfenster eher plausibel als fantastisch. Als Beispiel kann die Beschreibung des Besuchers über zwei alte Marktweiber angegeben werden: „in der Tat ein paar auffallende Physiognomien! welches dämonische Lächeln - welche Gestikulation mit den dürren Knochenarmen!“ (SW 6, 474). Diese Abfassungen beschreiben die beiden Figuren als zwei außerordentliche Charaktere. Der Vetter relativiert jedoch die Beobachtungen des Besuchers durch realistische Schilderungen: „Die Weiber sitzen beständig beisammen [...] haben sie sich doch bis heute stets mit feindseligen Blicken angeschielt“ (SW 6, 475). Der erfahrene Vetter wird mit seinen Ergänzungen zum Komponist des 101 Eine ausgezeichnete Analyse dieser Bewegung (sog. „punctum saliens“) in der Erzählung liefert Gerhard Neumann (233-35). 102 Ulrich Stadler schreibt in diesem Zusammenhang das Folgende: „Der Blick durchs Fernglas lässt das Ferne nah, das Kleine groß erscheinen; er verzerrt die Proportionen und isoliert vor allem das Wahrgenommene von seinem Umfeld. Die Zerstörung des gewohnten Zusammenhangs fordert in hohem Maße die Phantasie des Betrachters heraus, neue Zusammenhänge ins wahrgenommene Bild hineinzusehen. Die Imagination wird entzündet - gerade durch die „Fixierung des Blicks“ auf ein Detail, das immer als ein Detail von etwas erkannt sein möchte.“ (507) 103 Oesterle schreibt darüber, dass die „beschreibende Oberflächenwahrnehmung des Besuchers im Rollenspiel der Gesprächspartner immer wieder ans Phantastische grenzt“ (1987, 14). 114 Blicks seines Besuchers, da er den Marktplatz und seine Teilnehmer schon gut kennt. Der Zeitausdruck „beständig“ zeigt auch, dass er die Frauen schon auch in der Vergangenheit beobachtet hat. Seine Augen kennen auch die Stützpunkte des Marktes: Indem ich den ganzen Markt überschaue, bemerke ich, daß die Mehlwagen dort, über die Tücher wie Zelte aufgespannt sind, deshalb einen malerischen Anblick gewähren, weil sie dem Auge ein Stützpunkt sind, um den sich die bunte Masse zu deutlichen Gruppen bildet. (SW 6, 490-91) Diese Funktion entspricht genau der, die bei der Panoramenmalerei der auf der Plattform sich befindliche Inspekteur zur Aufgabe hat.104 Wie der Vetter hat er durch seine distanzierte Beobachtungsposition eher das Gesamtbild im Blick. Das erlaubt es ihm, die Ausführungen der einzelnen Maler (hier die des schreibenden Vetters) zu lenken. Dies tut auch der Vetter, wenn der Besuchende zu lange Zeit mit der Beschreibung einer Figur verbringt und er seinen Blick auf eine neue Gestalt lenkt.105 Sowohl bei der Produktion eines Panoramas als auch beim dichterischen Verfahren des Vetters lässt sich eine ähnliche Arbeitsteilung erkennen. Jedes Einzelstück muss stimmen, aber es darf niemals den Rahmen überschreiten. Auf der Leinwand des vollendeten Panoramas und der Vedutenansicht muss jedes Detail möglichst realitätstreu abgebildet sein. Die fertige Leinwand soll ein geschlossenes, den Betrachter komplett umgebendes Ganzes bilden, damit sein Blick nie auf eine Lücke trifft, die die Illusion zerstören kann. Wenn man diese Regel auf die Erzählung anwendet, kommt der Unterschied zwischen den zwei Medien zu Tage. 104 Siehe dazu auch Eicher, der in seinem Aufsatz einen ausgezeichneten produktionsästhetischen Vergleich zwischen der Panoramamalerei und Hoffmanns Primärtextes liefert (367-70). 105 Vgl. dazu: Vetter: „Ehe wir uns von der Theaterwand abwenden, lass uns noch ein Blick auf die dicke gemütliche Frau mit vor Gesundheit strotzenden Wangen werfen...“ (SW 6, 475) oder Vetter: „Still, still, Vetter, genug von der Rosenroten! – Betrachte aufmerksam jenen Blinden, dem das leichtsinnige Kind der Verderbnis Almosen spendete“ (SW 6, 487). 115 Einerseits handelt es sich bei dem Marktplatz um ein Durcheinander, das niemals stillzustehen scheint. Figuren kommen und gehen und oft verlassen sie den Marktplatz. Andererseits beschreiben der Vetter und sein Besucher gerade nicht alle Figuren, die sich auf dem Marktplatz darbieten, so dass es weiße Flecken im Gesamtbild gibt. Auch wenn der Vetter kein fertiges, allumfassendes Panorama erstellt, so zeigen doch viele seiner Bemerkungen, dass er ein ähnliches Vorhaben zum Ziel hat. An vielen Stellen der Erzählung wird deutlich, dass der Vetter bestimmte Figuren und Gruppierungen schon lange und sorgfältig beobachtet hat.106 Er sieht die eigentlich unsichtbaren Details, weil er sie schon lange und sorgfältig betrachtet hat. Nur weil er ein detailliertes Panorama im Kopf hat, kann er die Handelsgegenstände der von der Theaterwand sitzenden „dicken, gemütlichen Frau“ (SW 6, 475) beschreiben oder die Gesichtsausdrücke des lesenden Blumenmädchens schildern.107 Ein paar Bemerkungen, die als Rahmen der Erzählung funktionieren, machen sogar explizit, dass das Ziel des Vetters auch um die Beschreibung eines Gesamtbildes geht. In den ersten Seiten der Erzählung stellt der Vetter fest, dass sich ihm aus dem Anblick des Marktplatzes die „mannigfachste Szenerie des bürgerlichen Lebens“ entwickelt (SW 6, 471). Am Ende der Erzählung wird dieses Bestreben noch deutlicher, besonders im folgenden Satz: „Dieser Markt [...] ist auch jetzt ein treues Abbild des ewig wechselnden Lebens“ (SW 6, 497) Die Rahmen der Erzählung streben nach einem allumfassenden Bild, in dem alle Details und alle Figuren des Marktes ihren Platz finden 106 Vgl. dazu: Vetter: „Genug habe ich mir schon über diese exotische Figur den Kopf zerbrochen“ (SW 6, 484). 107 Vgl. dazu: „Sie saß wie in einer dichten Laube von blühenden Geranien und hatte das Buch aufgeschlagen auf dem Schoße, den Kopf in die Hand gestützt. Der Held mußte gerade in augenscheinlicher Gefahr oder sonst ein wichtiger Moment der Handlung eingetreten sein; denn höher glühten des Mädchens Wangen, ihre Lippen bebten, sie schien ihrer Umgebung ganz entrückt“ (SW 6, 480). 116 sollen. Das Gesamtbild, das der Vetter aus dem Gesehenen in einen Text überträgt wird als eine Darstellung des „ewig wechselnden Lebens“ charakterisiert (SW 6, 497). Mit diesem Wechsel wird jedoch am Ende der Erzählung einen Stillstand ins Leben gerufen. Wenn alles beweglich und wandelbar ist, dann passiert eigentlich nichts wirklich, ähnlich wie auf der starren Panoramenleinwand. Im Vergleich mit den Stadtgemälden aus dem Jahre 1822 ist es auch augenfällig, dass Hoffmann den unteren Teil des Gendarmenmarktplatzes, architektonisch die Treppe und die unteren Türöffnungen des Schauspielhauses, im Fokus hält. Obwohl in beiden malerischen Repräsentation, sowie in der Erzählung, den Platz aus einer erhöhten Perspektive angenähert wird, werden die Leute und die Marktereignisse in Hoffmanns Fall viel detaillierter geschildert -- ähnlich wie man im visuellen Bereich in der späteren Darstellung des Marktes von Eduard Gaertner aus 1857 beobachten kann. Hoffmann charakterisiert die Architektur des Platzes als „kolossal“ und „genial gedacht“, jedoch erwähnt er explizit davon nur ein paar Details, zu deren Schilderung die erhöhte Position unnötig ist. In den Vedutengemälden spielen im weiteren auch die das Schauspielhaus umrahmenden Dome eine wichtige Rolle, so dass eklesiastische Architektur mit den profanen verbunden wird, während sie bei Hoffman gar nicht erwähnt werden. Die Maltechnik der obigen Repräsentationen des Gendarmenmarktes und Schinkels und Gropius’ illusionistischer Bühnenbilder und das poetische Verfahren des Vetters stimmen daher keinesfalls exakt überein. Das ist schon deshalb unmöglich, weil die Maler und der Vetter sich unterschiedlicher Medien bedienen, die ihren Gegenstand letztlich immer unterschiedlich abbilden. Der Vetter ist kein Panoramenmaler, und es ging Hoffmann mit Sicherheit nicht darum, die Anwendbarkeit eines Verfahrens der 117 bildenden Kunst für die Literatur zu prüfen. Die Verknüpfungen sitzen tiefer, sie wurzeln in dem historischen Moment, in dem sowohl das Panorama, Gropius und Schinkels Bühnendekorationen als auch die Erzählung entstanden sind. Fasst man es sehr allgemein, so zeichnet sich die Zeit um die Jahrhundertwende durch eine Flut neuartiger Signale, Reize und Erfahrungen aus, die von den damaligen Subjekten nicht sofort verarbeitet werden konnten. Zu diesen sinnverwirrenden neuen Erfahrungen gehören die Eroberung neuer Sehräume durch die Entdeckung des Horizontes,108 die Veränderungen, die die Napoleonischen Kriege mit sich brachten und die Herausbildung der modernen Großstadt. Diese Veränderungen schufen einen Bedarf nach neuen Wahrnehmungsformen, nach einer neuen Positionierung des Subjektes zu seiner Umwelt, mit denen es diese wieder verarbeiten konnte. Die panoramengleiche Wahrnehmungsform, wie sie sich an der Malerei und in Des Vetters Eckfenster in ihren Grundzügen ablesen lässt, sind Denkmäler von dieser nicht nur räumlichen, sondern auch psychischen und ästhetischen Neupositionierung. Ebenso wie das Panorama stellt die Erzählung eine Lektion in dieser neuen Form der Wahrnehmung dar. Oettermann fasst mit den folgenden Worten treffend zusammen, wie Rundgemälde und seine Vorläufer (Theaterdekorationen, Stadtbilder mit verzerrten Perspektiven, Zimmerpanoramen und Dioramen) zur Schule des Blicks geworden sind: 108 Vgl dazu die folgende Beschreibung: „Horizont, Hoffnung, Kerker, Montgolfiere, Seh-Sucht und SehKrankheit. – In keiner anderen Zeit als dieser konnte das Panorama erfunden werden. [...] Die Entdeckung des Horizonts, die Befreiung des Blicks und zugleich das diffuse Kerkergefühl der Zeit materialisiert sich im Panorama vollkommen: scheinbar den freiesten Blick auf die unverstellte Landschaft bietend, umstellt es den Betrachter vollkommen und viel enger als alle anderen Versuche bildlicher Wiedergabe von Landschaft vorher. Das Panorama, ein Gemälde ‚sans bornes’, in dem der ‚Augenaufschlag des Bürgertums’ sich selbst feiert, ist zugleich ein vollkommener Kerker des Blicks“ (Oettermann 18). 118 Im Rundgemälde etabliert sich das Erlebnis des Horizonts als Kunstform; indem es so an Dauer gewann, wurde das Panorama zur Schule des Blicks, zum optischen Simulator, in der der extreme Sinneseindruck, das sensationelle, weil ungewohnte Erlebnis immer wieder und wieder geübt werden konnte, bis es zur Selbstverständlichkeit und zum alltäglichen Bestandteil menschlichen Sehens wurde. (19) Hoffmanns Erzählung leistet so eine ästhetische Sehschule im Medium der Literatur sowie die zeitgenössischen Gemälde über den Gendarmenmarkt aus dem Entstehungsjahr Des Vetters Eckfenster. „Eine Stadt ohne Theater ist wie ein Mensch mit zugedrückten Augen, wie ein Ort ohne Luftzug, ohne Kurs“: Die Bedeutung des Schinkelschen Theaters in Des Vetters Eckfenster Im letzten Segment des Kapitels soll das von Schinkel entworfene Schauspielhaus und seine Bilder auf Hoffmanns Text übertragen werden. In der Mitte des Kunzischen Risses dominiert das Langhanssche Theatergebäude, das die Anwesenheit des Spielhauses auf dem Platz als die wichtigste Attraktion des Gendarmenmarktes konnotiert. Auch die Bauarbeiten an dem Schinkelschen Theater in den ersten Jahren der 1820er faszinierten Hoffmann, der in seinem Tagebuch and Briefen immer wieder die neuesten Sehenswürdigkeiten der Baustelle beschreibt: „Man kann einen ganzen halben Tag und länger schwelgen, wenn man bloß in den neuen Theaterbau hineingeht ... am Theater arbeiten die ersten Künstler, und man kann ohne Übertreibung sagen, dass die kleinste Verzierung ein wahrhaftes Kunstprodukt ist“ schreibt er unter anderem Hippel am 30. August 1816 an seinen Freund (II, 98).109 Hoffmann hatte eine vielfältige Beziehung zu beiden Gebäuden (sowohl zu dem Langhansschen, als auch dem Schinkelschen Theater): 109 Vgl. auch dazu: “… die Dekorationen, die aber auch das genialste der Art sind, die ich jemals gesehen” (II, 98). 119 Seine einzige Oper wurde dort aufgeführt, er sah dem Feuer und der Vernichtung des ursprünglichen Theaters aus seinem Fenster zu und war am Eröffnungsabend des neuen Theaters anwesend. Um 1800 bekommt das Theater eine führende Rolle in der preußischen Architektur. Obwohl der Entwurf des Nationaltheaters keine öffentliche Aufgabe war und der König autoritär über die Ausführung des Baues entschied, gab es mehrere miteinander konkurrierende architektonische Pläne (Gerlach 216, Bergdoll 15). Gillys Nationaltheaterprojekt von 1800 war einer der ersten modernen Bauentwürfe, der jedoch nicht verwirklicht wurde. Nach der Vernichtung des Langhansschen Baus war Schinkels Schauspielhaus in Berlin ein ebenso wichtiges Projekt, das, wie Marianne Thalmann es beschreibt „auf das kühle Blau und Silber einer Novaliswelt gestimmt“ (21) war. Obwohl der Theaterplan von Langhans statt Gillys Entwurf in den Jahren 1801-1802 von dem König realisiert wurde, arbeitete Gilly an seinem Projekt in den nächsten Jahren weiter. Der Kunsthistoriker Berry Bergdoll charakterisiert Gillys Projekt mit den folgenden Worten: His [Gilly’s] studies for the stagehouse and auditorium include numerous views that transform the perspectival frames of the Frederick the Great monument into stage sets, creating an architectural experience in the illusory space of the theater, where a heroic public realm could be projected, anticipating the changes on the real urban stage where new social and political realities were beginning to emerge. (Bergdoll 15) Die Zeichnung des nie gebauten Theaters erbte sein begabtester Student, Karl Friedrich Schinkel.110 Auf den Spuren von Gilly hatte Schinkel vor, mit dem neuen Theater einen dramatischen Hintergrund zu den Ritualen und täglichen Aktivitäten des Berliner bürgerlichen Lebens zu schaffen. Sein Ziel war die traditionelle Rolle des Theaters zu 110 Vgl. dazu Bergdoll 60. 120 verändern und das Gebäude mit den benachbarten Domen in Dialog zu setzen. Nach Schinkels Auffassung sollte das Theater ein allen Menschen zugänglicher Raum sein, „wo sich Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit Anstrengung, Kurzweil mit Bildung gattet, wo keine Kraft der Seele zum Nachteil der andern gespannt, kein Vergnügen auf Unkosten des Ganzen genossen wird“ (zitiert nach Bergdoll 61). Schinkel wollte mit seiner Architektur die menschlichen Beziehungen und Charaktere veredeln im Schillerschen Sinne der „ästhetischen Erziehung des Menschen“ und die Demokratisierung der Berliner Gesellschaft fördern. Die Bereitstellung des neugestalteten Platzes für eine öffentliche Nutzung und die Anziehung großer Menschenmengen wirkten beschleunigend auf die städtebauliche Entwicklung Berlins. Schon mit dem Erbauen des Langhansschen Theaters entstand auf dem Gendarmenmarkt vor dem Theater ein öffentlicher Platz und öffentlicher Raum.111 Mit Schinkels Projekt wurde jedoch diese Idee weiterentwickelt, was sich unter anderem im Inneren des Theaters manifestierte. Der Zuschauerraum war eine Kombination aus Rang- und Logentheater, bei dem Schinkel ausdrücklich an gutes Hören und Sehen gedacht hatte und weniger an das übliche Sich-selbst-zur-Schaustellen des Publikums. Dies wurde auch in den Seltsamen Leiden eines Theaterdirektors von Hoffmann diskutiert. Die drei Ränge mit großen gemauerten Säulen sollten im Inneren des Theaters eine bessere Sicht ergeben. Die Logen waren nicht mehr wie in feudalen Zeiten als ganze von adeligen Familien gemietet, sondern die Plätze darin wurden einzeln vergeben. Karl Gutzkows Beschreibung des Schauspielhauses reflektiert, wie Schinkels Vorstellungen in die Praxis realisiert wurden: 111 Vgl. dazu auch Gerlach 211-15. 121 Das Innere dieses Theaters, wiederum nicht ausgehend von der speziellen Ansicht Schinkels, hat ganz jenen gedruckten Miniatur- und Privatcharakter, den ein Haus, das früher Nationaltheater hieß, nicht haben sollte. [...] Ein Rang ist dem andern unsichtbar. Das Parterre und Parkettelogen sehen nichts von den Rängen. Man weiß an einer Stelle des Hauses nicht, ob es an der andern besetzt ist. Eine Übersicht des Ganzen ist nur auf dem Proszenium und Podium möglich, so dass man, um zu wissen ob das Haus besetzt war, die Schauspieler fragen muss („Dom, Schauspielhaus“ 14-15). Die ganze Dekoration stammte bis in die Einzelheiten von Schinkel selbst. Dazu gehörte auch eine Ansicht des ganzen Platzes, die im Kontrast zu den malerischen Darstellungen des Gendarmenmarktes von Hasenpflug und Enslen, deren Werke wahrscheinlich nur wenige zu Sehen bekamen, von einem breiten Berliner Publikum gesehen wurde. Zu den Zuschauern gehört auch Hoffmann, der am Eröffnungsabend des Schauspielhauses anwesend war.112 Schinkel hatte den Vorhang zu dem von Goethe verfassten Eröffnungsprolog selbst entworfen und von Gropius ausführen lassen. Eine detaillierte Baubeschreibung vom Schauspielhaus und eine Charakterisierung seiner Architektur veröffentlichte Schinkel im 2. Heft seiner Sammlung Architektonischer Entwürfe (1821) und im 2. Heft der zweiten Folge (1826). Den Vorhangentwurf beschreibt der Architekt mit den folgenden Worten: Der Vorhang bildet einen grünen, mit stark erhabener goldener Stickerei verzierter Teppich. Die [...] dargestellte Scenen-Verzierung hatte ich für den schönen Einweihungs-Prolog von Göthe angegeben; sie stellte einen, an zwei Seiten von Säulenhallen eingeschlossenen hochliegenden Platz dar, dessen Frontseite über eine Brustwehr fort eine freie Aussicht über Berlin gestattete, aus dessen Mitte sich das neue Schauspielhaus zwischen den beiden, von Friedrich dem Grossen gebauten, Kirchthürmen in seiner ganzen Hauptform hervorhob, und dem Zuschauer auch die äußere Form des eben eingeweihten Gebäudes vergegenwärtigte. (zitiert nach Behr/Hoffmann 105) 112 Vgl. dazu: Am Sonnabend, dem 26. Mai 1821 fand die Eröffnung des Theaters statt. Eine Berliner Zeitung berichtete: „Am Tage der Aufführung belagerte schon vier Studenten vor Beginn eine große Menschenmenge die Eingänge des Schauspielhauses, und als die Pforten endlich sich öffneten, entstand ein gefährliches Gedränge. Das Parterre füllten, Kopf an Kopf, die patriotische Jugend, vor allem die Studenten, junge Gelehrte und Künstler, u.a. Heinrich Heine, E.T.A. Hoffmann, der junge Mendelssohn und das ganze geistige Berlin. Uniformen waren fast gar nicht zu sehen, und auch der Hof, der tags zuvor eine Olympiaaufführung befohlen, blieb unvertreten“ (zitier nach Behr/Hoffmann, 93-93). 122 Abbildung 13: Bühne des Theaters und Dekoration des Eröffnungsprologs von Karl Friedrich Schinkel. Als sich bei der Eröffnung des Schauspielhauses der Vorhang hob, erblickte das Publikum den neuen bürgerlichen Musentempel zwischen den beiden Domen. Schinkel wollte mit dem Vorhang eine Anleitung zum Genuss der Architektur als schöner Kunst geben. Wie in einem Spiegel erblickte das Publikum im Bühnenhintergrund noch einmal den Gendarmenmarkt. Die Zuschauer wurden während des von Goethe für den Eröffnungsabend geschriebenen Prologs („Verwandte Kunst, sie hat mich übertroffen“) mit dem neusten öffentlichen Gebäude Berlins, in dem sie gleichzeitig gesessen haben, und mit ihrer verändernden Beziehung zu der eigenen Heimatstadt konfrontiert. Der amerikanische Kunsthistoriker Barry Bergdoll analysiert die im Vorhang benutzte Perspektive in der folgenden Weise: „It could be no coincidence that the viewpoint was an idealized version of that available from the royal apartments in the 123 upper floor of the Royal Palace. Here in the newly configured theater the perspective would be enjoyed equally by all, and not simply by the king“ (60). Nach Bergdoll war der detaillierte und realistische Anblick auf Berlin eine zweifellos bürgerliche Veranschaulichung der preußischen Hauptstadt, der einen vormals ausschließlich dem König zugänglichen Standpunkt dem breiten Publikum des Schauspielhauses zur Verfügung stellte. Wie in den panoramatischen Repräsentationstechniken kann diese Darstellung des Gendarmenmarktes als eine Demokratisierung des Blickes angesehen werden, was besonders im Vergleich zur Struktur des barocken Theaters zu Tage kommt: Das barocke Theater war Hoftheater; es zeichnet sich vor allem durch seine Fluchten tief in die Bühne gestaffelter Kulissenflügel aus, die auf einen einzigen Fluchtpunkt hin orientiert waren. Im Augenpunkt dieser strengen zentralperspektivischen Konstruktion, der auch die ganze Architektur der Theaterhäuser unterworfen war, befand sich die Fürstenloge; d.h. nur der dort sitzende Souverän sah das Bühnenbild perspektivisch richtig, für alle andere Zuschauer verzerrte es sich mehr oder weniger. [...] Alle Augen waren weniger auf das Bühnengeschehen als auf den Souverän gerichtet; er war der einzige, der sah. (Oettermann 20) Wenn es demgemäss in den Studien von Schinkel oder in den städtebaulichen Diskussionen der Zeit über Hörbarkeit und Sichtbarkeit die Rede ist, geht es in übertragenem Sinne um eine neue bürgerliche Öffentlichkeit und gesellschaftliche Veränderungen so wie um ästhetische Fragen. In wie fern Schinkels Ideale in die Wirklichkeit übergingen oder auch den am Gendarmenmarkt lebenden Schriftsteller okkupierten, sollen zwei Szenen in Des Vetters Eckfenster demonstrieren. Die letzten Facetten, die das bunte Bild der verschiedenen Marktgestalten ergänzen sind Beschreibungen des ganzen Marktes. Die folgende Schilderung des Marktes ist ein Blick in die politisch-gesellschaftliche Situation der Berliner Bevölkerung in den Jahren nach 1815: 124 Sonst war der Markt der Tummelplatz des Zanks, der Prügeleien, des Betrugs, des Diebstahls, und keine honette Frau durfte es wagen, ihren Einkauf selbst besorgen zu wollen, ohne sich der größten Unbill auszusetzen. Denn nicht allein daß das Hökervolk gegen sich selbst und alle Welt zu Felde zog, so gingen noch Menschen ausdrücklich darauf aus, Unruhe zu erregen, um dabei im trüben zu fischen, wie z. B. das aus allen Ecken und Enden der Welt zusammengeworbene Gesindel, welches damals in den Regimentern steckte. Sieh, lieber Vetter, wie jetzt dagegen der Markt das anmutige Bild der Wohlbehaglichkeit und des sittlichen Friedens darbietet. (SW 6, 495)113 Es ist ein unerwartetes Element im Laufe des Textes, dass die Menge des Platzes, dessen Architektur mit den Attributen „kolossal“ und „genial gedacht“ kennzeichnet werden, am Ende der Erzählung wegen seiner neu erworbenen Sittlichkeit und Anständigkeit gelobt wird. Die Aussage im Preußen der Restauration nach den Karlsbader Beschlüssen ist durchaus politisch. Hoffmanns Protagonist macht den neuen Ort der bürgerlichen Öffentlichkeit anschauend einerseits deutlich, dass die Marktbesucher sozial gesehen heterogener als je geworden sind, andererseits verdeutlicht er durch ein Beispiel, dass das Volk Konflikte und Streite ohne Polizei lösen kann.114 Hoffmann argumentiert gegen die polizeistaatlichen Maßnahmen der Restauration und setzt sich für eine Demokratisierung in der Berliner Gesellschaft ein. In diesem Sinne wird die Sehschulung in Des Vetters Eckfenster nicht nur eine ästhetische, wie der obige Teil des Kapitels demonstriert hat, sondern auch eine politisch-soziale Bildung des Lesers in einer ähnlichen Weise, wie das 113 Vgl. auch dazu: „das Volk hat an äußerer Sittlichkeit gewonnen; und wenn du dich einmal an einem schönen Sommertage gleich nachmittags nach den Zelten bemühst und die Gesellschaften beobachtest, welche sich nach Moabit einschiffen lassen, so wirst du selbst unter gemeinen Mägden und Tagelöhnern ein Streben nach einer gewissen Courtoisie bemerken, das ganz ergötzlich ist. Es ist der Masse so gegangen, wie dem einzelnen, der viel Neues gesehn, viel Ungewöhnliches erfahren, und der mit dem Nil admirari die Geschmeidigkeit der äußern Sitte gewonnen. Sonst war das Berliner Volk roh und brutal; man durfte z. B. als Fremder kaum nach einer Straße oder nach einem Hause oder sonst nach etwas fragen, ohne eine grobe oder verhöhnende Antwort zu erhalten oder durch falschen Bescheid gefoppt zu werden. Der Berliner Straßenjunge, der den kleinsten Anlaß, einen etwas auffallenden Anzug, einen lächerlichen Unfall, der jemanden geschah, zu dem abscheulichsten Frevel benutzte, existiert nicht mehr“ (SW 6, 495). 114 Vgl auch dazu: „Also herrscht in der Tat im Volk ein Sinn für die zu erhaltende Ordnung, der nicht anders als für Alle sehr ersprießlich wirken kann“ (SW 6, 494). 125 Schauspielhaus und seine Dekorationen für eine Demokratisierung des Blickes plädierten. Das Theater spielt auch in der ästhetischen Wahrnehmung der Großstadt eine wichtige Rolle, die Hoffmann in seinen letzten Berlinischen Text mehrfach einbezogen hat. Marianne Thalmann schreibt in ihrem Buch Die Romantiker entdecken die Stadt, dass die Romantiker „theaternärrische Epiker“ waren. Der Gedanke, dass der Mensch „ein Gaukler, ein Spieler, ein Komödiant“ ist, erscheint in mehreren Werken der Romantiker, in deren Texten auch die Bühnenmetapher oft benutzt wird (Thalmann 19). Dieselbe Idee, dass die Erscheinung des Menschen selbst problematisch geworden ist und dass er eine Person ist, die wir sehen und eine dahinter, mit vielen Gesichtern, also ein Schauspieler, erscheint auch in den theoretischen Schriften der Großstadtsoziologen.115 Unter anderem beschreibt Simmel, dass die äußerlich erkennbare Erscheinungsform des Verhaltens in der Großstadt weniger ein natürlich hervorwachsender Ausdruck eines Innern ist, als vielmehr ein „Sich-Geben“, ein „Auftreten, ein Sich-Darstellen“ (vlg. dazu auch Bahrdt 66-70). Urbanes Sozialverhalten nach Simmel ist kein natürlicher Ausdruck eines Innern, sondern ein Sich-Darstellen, ein Auftreten wegen der Flüchtigkeit der Begegnungen: Wo die quantitative Steigerung von Bedeutung und Energie an ihre Grenze kommen, greift man zu qualitativer Besonderung, um so, durch Erregung der 115 Wenn man die architektonischen Entwürfe des Schinkelschen Theaters aus dieser Perspektive untersucht, sieht man, dass Schinkel und sein Bauentwurf mit den Gedanken über „Sich-Darstellen“ und „Sich-Geben“ ein Spiel treibt. In seinen Notizen über das Projekt schreibt Schinkel das Folgende: „[das neue Theater soll] zu einem überall vollendeten, außen und innen vollkommen zusammenstimmenden Kunstwerk [...] erheben“ und das neue Gebäude müsse „ein regelmäßiges ästhetisch geordnetes Ganzes sein; unerlässlich ist es aber auch, dass der Charakter des Gebäudes sich von außen vollkommen ausspreche und das Theater durchaus nur für ein Theater gehalten werden kann“ (zitiert nach Forsmann 102). 115 Diese Forderung deckt in dem „Ideal der Zweckmäßigkeit“ in der Baukunst, das Schönheit und Zweckmäßigkeit miteinander verbindet. 126 Unterschiedsempfindlichkeit, das Bewusstsein des sozialen Kreises irgendwie für sich zu gewinnen: was dann schließlich zu den tendenziösesten Wunderlichkeiten verführt, zu den spezifisch großstädtischen Extravaganzen des Apartseins, der Kaprice, des Pretiösentums, deren Sinn gar nicht mehr in den Inhalten solchen Benehmens, sondern nur in seiner Form des Andersseins, des Sich-Heraushebens und dadurch Bemerklichwerdens liegt - für viele Naturen schließlich noch das einzige Mittel, auf dem Umweg über das Bewusstsein der anderen irgend eine Selbstschätzung und das Bewusstsein einen Platz auszufüllen, für sich zu retten. (Simmel 190) „Die Bewohner der Großstadt sind Schauspieler, die einander gegenseitig betrügen“ schreibt Kleist in einem Brief aus Paris. Die Theatermetapher über die Großstadt erschien in mehreren Briefen deutscher Schriftsteller im 19. Jahrhundert.116 In Hoffmanns Des Vetters Eckfenster wird „das kolossal und genial gedachte Theatergebäude“ mit Bedacht zum Bestandteil der Kulisse gemacht. Vor der Theaterwand werden die Menschen auf dem Marktplatz zu Akteuren eines unvollkommenen Illusionstheaters. Eine Begrenzung wird jedoch durch die Bühnenmetapher anschaulich. Einerseits gewährt die Bühne dem Blick eine relative Freiheit, gaukelt ihm die Varietät der Erscheinungen vor, während sie ihn gleichzeitig gefangen hält, weil sie den Horizont versperrt. In dieser Weise entsteht eine mangelhafte Wahrnehmung der Totalität. In drei Textpassagen werde ich die theatralischen Qualitäten in Hoffmanns Erzählung nach diesem Modell untersuchen. Erstens, in der Darstellung der drei in der dritten Türöffnung des Theaters stehenden Frauen, zweitens in den zwei Hypothesen zur über den Markt eilenden „exotische Figur“ und drittens in der Beschreibung des mit seinem Rücken an der Mauer des Theaters lehnenden blinden Mannes. 116 Vgl. damit auch Hebbels Beschreibung von Paris: „Diesmal war ich nicht produktiv, ich legte mich vielmehr auf der Terrasse vor der Betkapelle ins Grüne, sah auf Paris mit seinen Kuppeln, Turmspitzen und Millionen Schornsteinen wie auf ein großes Theater hinab und dachte: Dort fällt vielleicht in jedem Augenblick jede Szene, die überhaupt im Menschenleben vorkommt, vor, es werden Menschen geboren und es sterben welche, man küsst sich zum erstenmal, man stößt sich vielleicht den Dolch ins Herz!” (Hebbel an Elise Lensing, Briefe III. 194). 127 Genau vor der Theaterwand bildet sich eine Gruppe, die nach dem Vetter würdig wäre „von dem Crayon eines Hogarth’s verewigt zu werden“ (SW 6, 473). Ein paar alte Frauen sitzen hier auf niedrigen Stühlen und verkaufen bunte Tücher, die „auf den Effekt für blöde Augen berechnet“ sind (SW 6, 473). Hier wird zum ersten Mal zu dem Gesehenen eine ganze Geschichte erzählt. Die erzählte Geschichte über einen Streit und die darauf folgende Versöhnung unter den Weibern klingt sehr plausibel für den Besucher, der feststellt: „Von allem, was du da herauskombinierst, lieber Vetter, mag kein Wörtchen wahr sein, aber indem ich die Weiber anschaue, ist mir, Dank sei es deiner lebendigen Darstellung, alles so plausibel, daß ich daran glauben muß, ich mag wollen oder nicht“ (SW 6, 475) Vor der Kulisse spielt sich also eine kurze Szene ab. Das mit visuellen Bezügen beschriebene – die Gruppenkonstellation á la Hogarth – Bild ist jedoch kein Einfrieren eines temporären Ereignisses sondern eine narrative Struktur des Bildes. Das Hogarthsche Bild wird zum bewegten Leben, zu einem Akt auf einer Bühne, die die Vetter sich aus dem als Loge dienenden Fenster anschauen. Um über den Platz ein Gesamtbild anzubieten, verknüpft der Vetter die einzelnen Figuren mit verschiedenen Hypothesen oder Rollen. Am offensichtlichsten wird dies im Fall der „exotischen Figur,“ zu der der Vetter zwei vollständig unterschiedliche Hypothesen aufstellt, denn, wie er erklärt „die Varietät kann nie bunt genug sein“ (SW 6, 485)117 Die Darstellung von zwei Hypothesen, also die Anwendung einer „pluralisierenden Perspektive“ wie Gerhard Neumann schreibt (2005, 237), scheint gänzlich den Regeln der Panoramamalerei zu widersprechen, wo Eindeutigkeit das Ziel ist. Doch zum einen stimmen beide Hypothesen mit den visuellen Details überein, zum 117 „So habe ich den widrigen zynischen deutschen Zeichenmeister augenblicklich zum gemütlichen französischen Pastetenbäcker umgeschaffen, und ich glaube, daß sein Äußeres, sein ganzes Wesen recht gut dazu paßt“ (SW 6, 486). 128 anderen werden sie beide entworfen im Hinblick auf des Vetters Gesamtbild. Das die Figur zuerst als ein deutscher Zeichenmeister, dann als ein französischer Pastetenbäcker gedeutet wird, veranschaulicht den historischen Hintergrund der Erzählung, insbesondere die Napoleonischen Kriege und die mit ihnen einhergehenden Völkervermischungen. In dieser Weise wird diese Szene eine wichtige Repräsentation von Berlin der 1820er Jahren, in dessen Straßen man nicht mehr genau wissen kann, wem man vorbeigeht. Eine ähnliche Rolle wird auch von dem Blinden gespielt, der als Nichtsehender an die Mauer des Theaters gelehnt „mit emporgerichtetem Haupt in die weite Ferne zu schauen scheint“ (SW 6, 488) Die Vetter beobachten einen Blinden, der nicht sieht, aber sein Schauen zeigt. Der Vetter beschreibt das Aussehen des Bettlers seinem Besucher in der folgenden Weise: [es] ist doch merkwürdig, daß man die Blindheit, sollten auch die Augen nicht verschlossen sein, oder sollte auch kein anderer sichtbarer Fehler den Mangel des Gesichts verraten, dennoch an der emporgerichteten Stellung des Hauptes, die den Erblindeten eigentümlich, sogleich erkennt; es scheint darin ein fortwährendes Streben zu liegen, etwas in der Nacht, die den Blinden umschließt, zu erschauen (SW 6, 488) Die Thematisierung des Sehens zeigt, wie schon frühere Studien argumentieren, dass die Protagonisten Hoffmanns letzter Erzählung nicht die Vetter sind, sondern eine sich verändernde Wahrnehmung. In der Figur des Blinden wird der Akt des Sehens gleichzeitig anerkannt und betont, aber auch verleugnet. In dem Spiel mit dem Sehenbzw. Nicht-Sehen-Können und die Darstellung des Blinden als Seher und Nicht-Seher eröffnet sich ein pluraler Raum, dessen Figuren mit den Augen der am Eckfenster stehenden Vetter nicht mehr eindeutig wahrgenommen werden können. Die ästhetische und sozial-politische Sehschulung in Des Vetters Eckfenster kann mit der Entwicklung des Architekturensembles auf dem Gendarmenmarkt in Beziehung 129 gesetzt werden. Die Entdeckung des komplexen Stadtraums und seine Veränderungen im Moment der Verfassung von Hoffmanns letzter Erzählung zeugen davon, dass bestimmte soziale, wahrnehmungsästhetischen Phänomenen sowohl in der Architektur und malerischen Repräsentationen des Platzes, als auch in der literarischen Schilderung des Ortes anwesend sind. Des Vetters Eckfenster im Kontext der Berlinischen Geschichten In welcher Beziehung steht Hoffmanns letzte Berlin-Erzählung mit den im ersten Kapitel behandelten Texten? Kann die Sonderposition Des Vetters Eckfenster im Kontext mit den anderen Berlin-Geschichten erneut bestätigt werden? Im Gegensatz zu Des Vetters Eckfenster, in dem die Realitäten des Gendarmenmarktplatzes dominieren, erscheinen Berliner Orte in den anderen Erzählungen nur an der Peripherie und sporadisch erwähnt. Nach Karl Riha, der in seiner Eckfenster-Analyse auch die anderen Berlin-Geschichten kurz erwähnt, erscheint „die große Stadt“ in den anderen Berlin-Texten nur peripher und dient nur zur Exposition des Phantastischen. In dieser Weise findet keine richtige Integration des Großstadtstoffes in die Poetische statt und die geheimnissoll-skurrilen Elemente dominieren in den Erzählungen: In ihrem innerem Gewicht und dem Stellenwert nach sind daher die aufgeführten Berlin-Schilderungen Hoffmanns [Das öde Haus, [Sylvesternacht Gesellschaft im Keller] und Die drei Freunde LV] den vergleichbaren, ‚Großstadt’-Passagen bei Nicolai oder Tieck kaum an die Seite zu stellen; sie führen nicht ins Zentrum der jeweiligen Texte, repräsentieren nicht die zentrale poetische Absicht. Sie bleiben außerhalb der eigentlichen Erzählung (Riha 135) Günther Oesterle adressiert kurz diese Frage in seinem ersten Aufsatz über Des Vetters Eckfenster. Nach seiner Meinung machen genau diese Unterschiede, die nach 130 Riha ihre Aufnahme in die Großstadtliteratur disqualifiziert, die früheren Berlin-Texte besonders wertvoll: „Denn gerade dadurch, dass dort die äußere Topographie und Lokalität der Städte nur das empirische Substrat für das Phantastische bilden, wird in diesen Erzählungen die innere Physiognomie der Großstadt möglich: ihre Anonymität, ihr Flüchtiges, ihr Unheimliches (also genau das, was Benjamin am ‚Eckfenster’ vermisst)“ (1987, 95). In diesem Zusammenhang positioniert er die Stellung des letzten Textes in der folgenden Weise: „Wenn Hoffmann vor der Abfassung des ‚Eckfensters’ die moderne Großstadterfahrung darzustellen wusste, kann die spätere Erzählung schwerlich pauschal, ‚als ein Zeugnis deutscher Verspätung und kleinbürgerliche Begrenztheit,’ wie Benjamin vermutet hat, gelten“ (Oesterle 1987, 95). Beide Interpretationen, obwohl mit unterschiedlichen Ergebnissen, argumentieren, dass Des Vetters Eckfenster im Vergleich mit den anderen Berlin-Texten als ein Sonderstück erscheint. Die Analyse der früheren Texte in dieser Dissertation zeigt, dass die einzigartige Darstellung des urbanen Raumes in Des Vetters Eckfenster sowohl eine Sonderposition einnimmt, als auch als Kontinuität der Stadtbilder in Hoffmanns Berlinischer/Berliner Geschichten angesehen werden kann. Konkrete örtliche und zeitliche Beziehungen zu Berlin, die die erzählte Geschichte im Realen verankern, verbinden die Texte miteinander. Der Gendarmenmarkt als konkret-realer Ort, auch wenn peripher, erscheint schon auch in anderen Erzählungen. Wie viele von den anderen Berliner Orte (die Zelte im Tiergarten und verschiedene Wohnungen in der Friedrichstadt), ist er ein wichtiger autobiographischer Winkel Berlins. 131 Es gibt auch viele Beispiele für thematische und strukturelle Intertextualität mit den anderen Erzählungen, auf die zum Beispiel in den Analysen der Texte Die Irrungen. Fragment aus dem Leben eines Fantasten und Die Geheimnisse. Fortsetzung des Fragments aus dem Leben eines Fantasten thematisch und in Seltsame Leiden eines Theaterdirektors strukturell hingewiesen wurde. Eine Intermedialität mit dem Kunzischen Riss kommt besonders in der panoramengleichen Struktur der Skizze zu Tage aber auch in der Anwesenheit von konkreten Figuren, wie die Gemüseweiber, die Hoffmann aus seinem Fenster wahrscheinlich schon lange beobachtet hatte. Es gibt jedoch keine Referenzen auf frühere Hoffmannsche Gestalten oder fantastische Figuren in der Erzählung, die im Kunzischen Riss erscheinen. Eher strukturell als poetologisch kann man den Kunzischen Riss der Erzählung nebeneinander stellen, was auch für die Beziehung zwischen Fantastik und Wirklichkeit gilt. Wie auf dem Kunzischen Riss ist sie ausgeglichener, besser balanciert und es gibt keinen schroffen Wechsel zwischen Wirklichkeit und Fantastik. Wie die anderen Berlin-Texten kann Des Vetters Eckfenster als poetische Auseinandersetzung mit der preußischen Hauptstadt und ein literarisches Dokument angeschaut werden. Die Konzentration der Erzählung auf einen konkreten Ort, der am Anfang der 1820er Jahren zu einem der wichtigsten Berliner Knotenpunkte und durch seine verändernde Architektur zu einem wichtigen ökonomischen und politischen öffentlichen Raum geworden ist, sichert unter anderem der Erzählung eine Sonderposition im Oeuvre der Berlinischen Geschichten. Die ästhetische und politische Sehschule, die mit den zeitgenössischen visuellen Repräsentationen des Gendarmenmarktes korrespondiert, der Markt und das Theater und die damit 132 verbundenen neuen Wahrnehmungsformen unterscheiden die letzte Erzählung von den früheren Berlin-Texten. Schlussfolgerung Vier Jahre nach Hoffmanns Tod schrieb Heinrich Heine: „Jedes Zeitalter, wenn es neue Ideen bekommt, bekommt auch neue Augen“ (3, 149). Der Vetter, der seinem Besucher und dem Lesen eine ästhetische, soziale und politische Sehschulung anbietet ist ganz und gar Städter. Für ihn gibt es keine Landschaft außerhalb der Stadt. Er ist ausschließlich im Straßengefüge zu Hause. Sein kleines Zimmer, dessen Inneres unbeschrieben bleibt, wird mit von außen stammenden rasch ablaufenden Bildern erfüllt. Hoffmanns Erzählung beschreibt ein bestimmtes historisches Moment zu Anfang der zwanziger Jahre des 19. Jahrhundert in Berlin. Die stark visuelle Narrative und die panoramatische Wahrnehmungsweise erscheinen als notwendige Ergebnisse einer Veränderung des Verhältnisses zwischen dem Großstadtbewohner der damaligen Zeit und seiner sozialen Umwelt. Die Art und Weise, wie die Ereignisse eines Marktes vor der Kulisse eines Theaters auf einem Ort von neuer bürgerlichen Öffentlichkeit beschrieben werden, erzeugt eine höchstkomplexe Erzähltechnik, die die Grundkonstellationen einer entwickelnden urbanen Wahrnehmungsform darstellen. An dieser neuen Wahrnehmungsform lässt sich sowohl ein Gewinn als auch ein Verlust an Wirklichkeitserfahrung erkennen. Distanzierung und der Primat des Sehens erlauben es, ein Geschehen in seiner visuellen Gesamtheit abzubilden, das aus der Nähe mit seinen vielfältigen Sinnreizen das Subjekt überfordern 133 würde. Zum anderen lässt die Reduktion des Geschehens auf visuelle Eindrücke keine sicheren und in die Tiefe gehenden Erkenntnisse mehr zu sondern nur noch Hypothesen. Die distanzierte Beobachterposition, die Aufmerksamkeit auf das äußerliche Detail, die Unterteilung des Sichtfeldes und der Verzicht auf tiefgreifende Erkenntnis zugunsten eines harmonischen Gesamtbildes sind die Merkmale einer Wahrnehmungsform, die in ihrer Betonung des Optischen schon auf die späteren Medien der Fotografie und des Films vorausweist. An dieser neuen Wahrnehmungsform lässt sich sowohl ein Gewinn als auch ein Verlust an Wirklichkeitserfahrung ablesen. Die erhöhte Perspektive erlaubt einen Kontrollgewinn, indem sich ein Geschehen in seiner visuellen Gesamtheit abzubilden lässt, während das Subjekt unten durch die vielfältigen Sinnreize überfordert wäre. Gleichzeitig resultiert die Reduktion des Geschehens auf visuelle Eindrücke in keinen sicheren Erkenntnissen mehr und nur Hypothesen bleiben übrig. Der Vetter wird nie herausbekommen, ob die merkwürdige Figur ein deutscher Zeichenmeister oder ein französischer Bäcker ist. Eine klare Identifikation der Gestalt ist auch nicht sein Ziel. Zu Beginn der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts geht Hoffmann auf eigene und originelle Weise vor und bietet dem deutschen Leser eine innovative Art von atmosphärisch und perspektivisch ausgerichteter Repräsentation an, dessen Komponente mehrfach mit den Bausteinen des Gendarmenmarktes, der als ein komplexer urbaner Raum fungiert, verknüpft sind. Die Entdeckung des komplexen Stadtraums und seine Veränderungen im Moment der Verfassung von Hoffmanns letzter Erzählung zeugen davon, dass bestimmte soziale, wahrnehmungsästhetische Phänomene sowohl in der 134 Architektur und malerischen Repräsentationen des Platzes als auch in der literarischen Schilderung des Ortes anwesend waren. 135 KAPITEL 3.: Berlin in den Werken von Eduard Gaertner und Wilhelm Raabes Die Chronik der Sperlingsgasse: Ein intermedialer Vergleich Einführung Eine von den berühmtesten literarischen Straßen in Berlin ist die Sperlingsgasse, die eine von den ältesten Berliner Gassen ist. Die Gasse war ursprünglich mit dem Namen „Neue Gasse zur Spree“ als Gang zur Spree angelegt worden, damit die Einwohner Cöllns bei Feuergefahr schnell zum Wasser gelangen konnten. Der Historiker Herbert Mayer schreibt das Folgende über die Namensgebung des Ortes: „Im September 1931 vermeldeten die Amtsblätter, dass die Spreestraße am 29. August den heutigen Namen Sperlingsgasse erhalten hatte. Dies war die vorläufig letzte Umbenennung einer der ältesten Berliner Straßen, deren Spuren sich bis in das 16. Jahrhundert zurückverfolgen lassen“ (14). Der neue Name der nicht einmal 100 Meter langen Straße mit ihren 18 Häusern zwischen der Friedrichsgracht und der Brüderstraße war eine Hommage an den Schriftsteller Wilhelm Raabe, dessen Geburtstag sich 1931 zum hundersten Male jährte. Dass die Identität dieses Ortes in Alt-Berlin auf ein literarisches Werk zurückgeführt werden kann, zeigt die Namensgebung eindeutig. Wie der Gendarmenmarktplatz mit dem Schriftsteller E.T.A. Hoffmann und der Alexanderplatz mit den Namen von Alfred Döblin verbunden ist, verweist die Taufe der Gasse auf eine Wechselbeziehung zwischen konkreten Orten und literarisch konstruierten Räumen, die einen gegenseitigen Einfluss aufeinander ausüben. Das von Raabe verdichtete Stück Berlin wird in diesem Kapitel mit den Gemälden des biedermeierlichen Malers Eduard Gaertner (1801-1877) verglichen, dessen Werke wie Raabes Chronik zum gemalten 136 Kanon der Berlin-Repräsentationen des 19. Jahrhunderts gehören. Gaertners Spektrum reicht von der Prachtstraße Unter den Linden bis zu den von kleinen Leuten bevölkerten Spreegassen, von den prächtigen Domen auf dem Gendarmenmarkt bis zu verfallenen gotischen Kirchen. Gaertners Gemälde von Schinkels Neubauten in den öffentlichen Plätzen und über den Alltag der Berliner in den versteckten Stadtteilen bestimmen eindrücklich unser Bild von der biedermeierlichen preußischen Hauptstadt. Anhand repräsentativer Gemälde von Eduard Gaertner und am Beispiel des Romans Die Chronik der Sperlingsgasse werde ich in diesem Kapitel zeigen, dass die urbane Wahrnehmungsästhetik, die wir als modern bezeichnen, wie das Verhältnis wechselseitiger Aneignung zwischen dem wahrnehmenden Subjekt (Autor) und dem wahrgenommenen Objekt (Stadt), der Bruch mit der herkömmlichen Erzählweise und die Anwendung innovativer Raumkonstellationen Stadtansichten in der Malerei sowie die Großstadttexte des 19. Jahrhunderts prägt.118 Da Raabes Erzähler Johannes Wachholder diese Techniken aus dem Bereich der bildenden Künste ausleiht, gilt es, die intensive Wechselbeziehung von Literatur und Malerei und die Visualität in Raabes Romanen in Bezug auf die Großstadtbeschreibung zu untersuchen und mit den Werken des zeitgenössischen Architekturmalers Eduard Gaertner zu vergleichen. Ein Leitfaden in der Analyse ist die Polarität zwischen öffentlichen und privaten Räumen in der wachsenden Großstadt, die im malerischen Oeuvre Gaertners so wie in den Berlin-Bildern von Raabe zu Tage kommt. Die Gegenüberstellung von Text und Bild soll zeigen, dass die malerischen und literarischen Repräsentationen von Berlin in der Mitte des 19. 118 Es kann kein allgemeingültiges ästhetisches Inventar aufgestellt werden, da auch moderne Großstadtdarstellung durch mehrere Phasen ging. Klaus Scherpe beschreibt den transitorischen Charakter der modernen Großstadtdarstellung und ihre drei wichtigsten Phasen in seinem Artikel “Ausdruck, Medium, Funktionen.” 137 Jahrhunderts über ein vergleichbares ästhetisches Inventar verfügen. Beide Künstler verwenden innovative Repräsentationstechniken, um ihre Umgebung darzustellen und in beiden Fällen besteht ihre Motivation für diese Neuigkeiten an ihrer Absicht, die sich verändernde Beziehung der Bewohner mit ihrem Lebensort zu definieren und im Stadtbild auch aktuelle politische Ereignisse und Machtverhältnisse zu verdeutlichen. Neben den ästhetischen Innovationen in beiden Bereichen machen sowohl Maler als auch Schriftsteller einen Versuch, die von Georg Simmel beschriebene „subjektive Kultur“ der Berliner Stadtbewohner in der wachsenden preußischen Residenzstadt zu lokalisieren.119 Obwohl die Gemälde des Architektenmalers Gaertner auf die Romane von Raabe wohl weder direkten noch indirekten Einfluss geübt haben, kann die Nebeneinanderstellung ihrer Werke mehrfach begründet werden. Beide bieten einen Blick auf Berlin in der Mitte des 19. Jahrhunderts, und die Werke beider Künstler können sowohl inhaltlich als auch strukturell interpretiert als künstlerische Reflexionen urbaner Wahrnehmung betrachtet werden. Beide benutzen ähnliche Perspektiven und Orte, um die Stadt darzustellen. Gaertner hat nicht nur einige von den Spreegassen gemalt, die Raabe in seinem Roman als Titel- und Hauptort wählt, sondern er stellt auch in berühmten mehrteiligen Gemälden (einer Sonderform der Panoramamalerei) die preußische Hauptstadt vom Dach der neuerrichteten Friedrichwerderschen Kirche dar, während Raabes Protagonisten sich mit dem wachsenden Berlin aus einem Fenster oder aus einer Distanz von den nahen Hügeln blickend auseinandersetzen. 119 Vgl. dazu: „Die tiefsten Probleme des modernen Lebens quellen aus dem Anspruch des Individuums, die Selbständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft, des geschichtlich Ererbten, der äußerlichen Kultur und Technik des Lebens zu bewahren...“ (Hervorhebungen von mir, Simmel Die Grosstädte und das Geistesleben, 187). 138 Das Kapitel beschäftigt sich mit repräsentativen Werken Gaertners, die in der zweiten Hälfte des Beitrages thematisch und strukturell mit der Großstadtdarstellung Raabes verglichen werden. Zuerst werden die von Gaertner bevorzugten Orte Berlins untersucht und analysiert, damit die Interpretation der Chronik von Raabe in einem breiten historischen, ästhetischen und kulturellen Kontext ausgeführt werden kann. Eine Intermedialität entsteht zwischen dem Maler Gaertner und dem Schriftsteller Raabe auf mehreren Ebenen, die anhand der Analyse ihrer Repräsentationstechniken und der symbolischen Anwendung der öffentlichen und verborgenen Lokalitäten von Berlin erläutert wird. Raabe mobilisiert ein schon den Berlinern bekanntes und früher existierendes bildliches Reservoir in seinem Roman, in dem jedoch neben den intermedialen inhaltlichen und strukturellen Parallelen nach der gescheiterten Märzrevolution eine Neupositionierung der handelnden Personen stattfindet. In der Chronik findet sich mehrmals eine Imitation bzw. eine Inszenierung der biedermeierlichen Berliner Architekturmalerei, zu der auch die Werke Eduard Gaertner zu zählen sind. Neben den parallelen Erscheinungen gibt es jedoch wesentliche Unterschiede, die in erster Linie aus der zeitlichen Differenz zwischen den zwei Künstler stammen: Gaertner stellt die Stadt nach den Befreiungskriegen als Produkt ihrer Einwohner dar, während Raabe nach der gescheiterten Märzrevolution die bekannten biedermeierlichen Berlin-Bilder in seinen Momentaufnahmen aus dem sozialen Leben einer einzigen Gasse mit einer scharfen Zeitkritik der Restauration ausfüllt. Das von Raabe mobilisierte biedermeierliche Bildreservoir wird um eine scharfe Zeitkritik der politischen Anpassung im Nachmärz ergänzt. 139 Berlin und Eduard Gaertner Mit der nach 1830 einsetzenden politischen und wirtschaftlichen Konsolidierung begann der schnelle Ausbau Berlins. Kein Zufall, dass die Berliner Architekturmalerei aus dieser Zeit eine große Zahl guter, auf Stadtmotive spezialisierte Maler hervorbrachte, zu denen auch Eduard Gaertner zählte.120 Die malerische Tätigkeit Gaertners ist mit der deutschen Hauptstadt, die in den 1830er und 40er Jahren für bildende Künstler einen Anziehungspunkt bildete, eng verbunden.121 Günstig war diese Zeit für die Berliner Architekturmaler auch wegen des ausgeprägten Interesses von Friedrich Wilhelm III. an der bildlichen Wiedergabe der königlichen Schlösser und der regen Bautätigkeit Berlins. In dieser Blütezeit von Vedutenmalerei gilt Eduard Gaertner als primus inter pares, als der begabteste und vielseitigste unter den Architektenmalern der Zeit. Die Kunsthistorikerin Irmgard Wirth schreibt das Folgende über das Gaertnersche Oeuvre: „Es ist eine Symbiose von realistisch-dokumentarischer Wiedergabe des Gesehenen und meist hoher künstlerischer Qualität, die in dem Architekturmaler Gaertner auch den erstrangigen Vedutenmaler erkennen lässt“ (69). Eduard Gaertner wurde in Berlin geboren, musste aber als fünfjähriges Kind mit seiner Mutter die Stadt verlassen. In Kassel erhielt der begabte Junge seinen ersten Unterricht im Zeichnen beim Hofmeister Franz Hubert Müller (Trost 6). 1813 kehrte Gaertner nach Berlin zurück und begann eine sechsjährige Ausbildung als Porzellanmaler bei der Königlichen Porzellanmanufaktur. Hier erhielt er nach eigenem Dafürhalten „eine 120 Andere Namen zu nennen sind Johann Heinrich Hintze, Friedrich Wilhelm Klose und Franz Krüeger. In Gaertners rund 50 Schaffensjahren entstanden 131 und heute bekannte Gemälde; etwa die Hälfte davon – 65 – sind Berliner Stadtansichten; ungefähr im gleichen Verhältnis bewegt sich der Berlin-Anteil bei den mehr als 160 Aquarellen (Cosmann 81). 121 140 oberflächliche Lehre der Perspektive“ und die Fähigkeit „Ringe, Bänder und Käntchens“ zu malen.122 Mit dem Eintritt in das Atelier des Berliner Theaterinspektors und Dekorationsmalers Carl Wilhelm Gropius bewegte sich Gaertners Laufbahn in die gewünschte Richtung: Bei der Mitarbeit an großen Bühnenprospekten erwarb er Kenntnisse in der Handhabung großer Formate und in der Architekturdarstellung. Gaertner begann seine Laufbahn demnach nicht als Schüler der Akademie, sondern wie Karl Friedrich Schinkel als Dekorationsmaler im Gropiusschen Atelier reichte er seine Arbeiten zu Akademieausstellungen ein. Zu der Ausstellung 1827 schickte er mehrere Arbeiten ein, nachdem er eine Reise nach Paris unternommen und zahlreiche Stadtansichten in Öl und Aquarell von der französischen Hauptstadt gemalt hatte.123 Seine Pariser Gemälde, die über die nüchterne Architektur hinausweisend die dargestellten Gegenstände zu einer künstlerischen Einheit zusammenschließen, wurden von der Akademie mit Erstaunen wahrgenommen.124 Nach mehreren Reisen ließ sich Gaertner als freischaffender Maler 1830 in Berlin nieder und begann sowohl die engen Straßen der Innenstadt, als auch – vornehmlich in königlichen Aufträgen – die repräsentativen Gebäude der Stadt wie Schinkels Neue Wache und das Schloss zu malen.125 Gaertner schuf in unablässiger Tätigkeit eine große Anzahl von Ansichten von Berliner Straßen, Plätzen und Gebäuden, deren Genauigkeit das Auge noch heute besticht. Seine Berlin Gemälde sind nicht nur bemerkenswert präzise und realistisch, sondern sie erfassen auch den unverwechselbaren Charakter Berlins in der Zeit des Biedermeier und des Vormärz. Gaertner malte eine Reihe von Berliner Stadtbildern, 122 Zitiert nach Franke 412. Anhand der Gaertner Biographien von Edit Trost und Irmgard Wirth. 124 Die Skizzen und Gemälde aus der Pariser Zeit machen deutlich, dass die Abbildung der französischen Hauptstadt in Gaertners künstlerischer Ausbildung ein wichtiger Meilenstein war (vgl. dazu Bartmann) 125 Vgl. dazu Gaertner Biografien von Trost (12-20) und Wirth (25-30). 123 141 deren Motive er zu verschiedenen Zeiten wiederholte, wobei er die baulichen Veränderungen genau beachtete und hinzufügte. Heute ist Gaertners Nachlass mit der gängigen Wahrnehmung des Berliner Biedermeier streng verbunden und seine Gemälde erscheinen oft auf Buchdeckeln von literarischen Werken, in denen die biedermeierliche preußische Hauptstadt eine wesentliche Rolle spielt.126 Zwischen 1830 und 1840 erreichte Gaertner den Zenit seines Schaffens. Gegen Ende der Regierungszeit Friedrich Wilhelm des III. hatte die Stadt an Pracht und Schönheit gewonnen. Neben den Monumentalgebäuden aus den friderizianischen Zeiten waren Schinkels Bauten errichtet worden.127 Das Industriezeitalter hatte begonnen und der Bau der ersten Eisenbahnlinie zwischen Berlin und Potsdam war in Vorbereitung (Bauer 262). Verglichen mit Paris oder London war Berlin mit seinen knapp 300.000 Einwohnern ein eher beschaulicher Ort, bot jedoch das ideale Architekturmotiv für Gaertner. Die Stadt war in ständiger Veränderung, aber immer noch überschaubar. Erst ab den sechziger Jahren verloren Architekturstücke an Popularität und Gaertner widmete sich der Landschaftsmalerei. Der Grund für Gaertners Abwendung von der Architekturmalerei war die Tatsache, dass Berlin mit den technischen Fortschritten, Industrialisierung und ausgedehnten Wohnvierteln unübersichtlicher geworden war, so dass die Architekturmalerei, die stets eine Konzentration aufs Einzelne und Zuständige erfordert, einer neuen Sicht weichen musste. Statt Stadtbilder wurden derzeit Genredarstellungen und Historienbilder vom Berliner Publikum bevorzugt.128 126 Zum Beispiel: in Klotz’ Buch: Raabe und Gaertner und im 20. Jahrhunderts auf den Buchdeckeln von Georg Hermanns Romanen (Jettchen Gebert, Henriette Jakoby), aber auch auf dem Buchdeckel von deBruyns Als Poesie gut (2006). 127 Für eine ausführliche Beschreibung der Bautätigkeit der Zeit siehe Ernst Heinrich „Die städtebauliche Entwicklung Berlins seit dem Ende des 18. Jahrhunderts“ in Dietrich 201-237. 128 Ein Grund dafür war auch der unterschiedliche Geschmack des neuen Königs Friedrich Wilhelm den IV. 142 Es gibt einen wichtigen zeitlichen Abstand zwischen Gaertner und Raabe. Der Text fängt an, wo die Bilder aufhören und schildert eine biedermeierliche Stadt, jedoch auch die Folgen der Industrialisierung. Sogar ein genauer Zeitpunkt für die Trennung kann aufgestellt werden: die Märzrevolution im Jahre 1848. Eines von den letzten Berlin Gemälden Gaertners zeigt Barrikaden in der Breiten Straße (Barrikade in der Breiten Straße, 1848), ganz in der Nähe der Spreegasse, die Märzereignisse spielen auch in Raabes Roman eine wichtige Rolle und das Datum funktioniert ebenso wie bei Gaertner als eine Zäsur. Malerei der Spreegassen: Die Berliner Altstadt in Gaertners Gemälden Eines von den Pionierwerken über Großstadtwahrnehmung in Literatur ist Volker Klotz’ Buch Die erzählte Stadt (1969), in dem Klotz in seiner Raabe-Analyse „Stadtflucht nach innen“ ein Gemälde von Gaertner benutzt, um den Hauptort von Raabes Roman zu veranschaulichen. Das Gemälde heißt Parochialstraße, ehem. Reetzengasse in Berlin und stammt aus dem Jahre 1831. Keine der von Gaertner gemalten Gassen ist die von Raabe beschriebene Sperlingsgasse, für die die folgenden Koordinaten vom Erzähler angegeben werden: „Der Sperlingsgasse ist ein kurzer, enger Durchgang, welcher die Kronenstraße mit einem Ufer des Flusses verknüpft, der in vielen Armen und Kanälen die große Stadt durchwindet“ (BA I, 19) Während sich Raabes Sperlingsgasse in Alt-Kölln befindet, konzentriert sich Gaertner auf die Gassen in Alt-Berlin. In diesem Sinne sind die gemalten Gassen in Gaertners Gemälden ebenfalls enge Spreegassen, deren Funktion und Geschichte mit der der Sperlingsgasse übereinstimmen und die zu den bevorzugten 143 Motiven Gaertners am Ende der zwanziger Jahre gehörten. In den folgenden Abschnitten werden zwei Ansichten von diesen Gassengemälden untersucht, damit diese Repräsentationen mit der literarischen Darstellung der Sperlingsgasse in der zweiten Hälfte des Kapitels verglichen werden können. Gaertners Interesse galt den Straßen in dem heutigen Nikolaiviertel, besonders der Klosterstraße und der Parochialstraße. Die Architektur in diesem Bereich war weitgehend von ehrwürdigen barocken Gebäuden aber auch von Neubauten geprägt. Zwei thematisch ähnliche, jedoch in mehreren Hinsichten unterschiedliche Gemälde von Gaertner stellen dieses Stadtviertel dar. Abb. 14-15: Eduard Gaertner, Parochialstraße ehem. Reetzengasse (1831) und Klosterstraße mit Parochialkirche (1830) Das erste Bild heißt Klosterstraße mit Parochialkirche (1830) und das zweite ist das Gemälde Parochialstraße ehem. Reetzengasse (1831), das auch Volker Klotz als Illustration verwand.129 In beiden Gemälden werden bogenförmige Straßenverläufe mit 129 Volker Klotz nennt Raabes Debütroman „Stadtflucht nach innen,“ da der Ich-Erzähler sich bewusst ins Bekannte zurückzieht und die Stadt in seiner Dachwohnung sitzend mit einer kontemplativen Haltung schildert. In seiner textnahen Analyse weigert sich Klotz sogar, Raabes Roman als „Stadtroman“ zu bezeichnen (192), da der Erzähler nicht die ganze Stadt, sondern nur einen kleinen Teil davon beschreibt 144 vorspringenden Simsen und vertikalen Gliederungselementen dargestellt und als Hauptmotiv der Bildkomposition benutzt Gaertner einen Kirchenturm. In beiden Fällen gibt es detailgetreu dargestellte Figuren auf dem Bürgersteig und auf der Fahrbahn. Zwischen den zwei Ansichten gibt es aber wesentliche Unterschiede. Auf dem ersten Gemälde dominiert ein Schinkelscher Neubau auf der rechten Seite und erzeugt damit eine spannende Beziehung zwischen Alt- und Neubauten. Auf der linken Seite malte Gaertner eine alte Häuserreihe, jedoch wird die Einheitlichkeit dieser Seite mit Gerüstbalken abgebrochen, die das baldige Ende der Arbeiten an dem Observatorium der unten liegenden Schule signalisieren (Gaertner 1801-1877, 276). Die Staffage ist auch bemerkenswert, da Kunsthistoriker unter den dargestellten Figuren mehrere zeitgenössische Künstler und Maler identifizieren konnten: Rechts vor dem Erweiterungsbau steht Schinkel zusammen mit dem Begründer des Gewerbeinstituts Peter Christian Wilhelm Beuth (Gaertner 1801-1877, 276). Links vor seiner Werkstatt erblickt man den Bildhauer Rauch, dessen Atelier sich in der Nähe befand (ebenda). In der Mitte des Bildes kann man den Maler Gaertner sehen und hoch auf dem Pferd der bekannte preußische Hofmaler Franz Krüger. Diese Motivwahl erzeugt eine Repräsentation der Stadt, in der der Status des Bürgertums akzentuiert wird und die enge Spreegasse als „ein bürgerlicher öffentlicher Raum“ funktioniert. Eine Szene erscheint hier auf dem Bild, dessen Staffage zur Veränderung der feudalen Stadt in ein bürgerliches Zentrum mit ihren architektonischen Entwürfen und Kunstwerken bewusst beitragen kann. Die berühmten zeitgenössischen Künstler führen hier Gespräche miteinander und und er die Stadt persönlich nicht aufsucht und entdeckt, sondern sich innerhalb der Stadt in eine Gasse und innerhalb der Gasse in eine Dachwohnung zurückzieht. 145 dadurch entstehen ein öffentlicher Raum und eine bürgerliche Öffentlichkeit in der engen Gasse der Berliner Altstadt. Im Gegensatz zu dem ersten Gemälde stellt die zweite Abbildung einen pittoresken Altstadtwinkel Berlins dar, in dem die Zeit stillzustehen scheint. Mit dem Turmhelm von St. Nikolai erinnert die Ansicht der Kronengasse an die ein Jahr zuvor gemalte Perspektive der Klosterstraße. Aber im Kontrast zu dem dort dargestellten großzügig dimensionierten Straßenraum scheinen sich die schmalen mehrstöckigen Häuser zu beiden Seiten der Gasse fast zu berühren. Die Intensität des Raumes, der sich wieder aus zwei ungleich verkürzten Häuserfluchten entwickelt, hat gegenüber der Klosterstraße noch zugenommen. Die Staffage ist Biedermeier par excellence und zeigt die Gemütlichkeit der anonymen, kleinen Leute. Pfeifeschmauchend lehnt ein Kupferschmied im Türrahmen seines Ladens, „um ihn herum die Erzeugnisse seiner Kunstfertigkeit“ (278). Auf dem Fahrdamm vor dem Nachbarhaus sägt, hackt und transportiert man Brennholz. Auf der anderen Straßenseite stillen zwei Männer ihren Durst. Im Kontrast zu den stadtschaffenden und berühmten Namen des damaligen Kunstlebens in Berlin erscheinen anonyme Figuren auf diesem Bild und ein Stück AltBerlin. Ähnliche Kulissen werden auch in Raabes Chronik inszeniert, wenn der Erzähler Johannes Wachholder über „Salatwaschen, Schuhflicken, Strümpfestopfen, Hämmern, Sägen, Federkritzeln“ aus den Alltagen der engen Gasse benachrichtigt. Bedeutend sind diese zwei Ansichten von Gaertner für unseren Kontext, da Raabes Sperlingsgasse auch eine ähnliche Gasse ist, die von Leuten aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und Ursprüngen bewohnt wird.130 Während die Figuren in 130 „Jedes Alter, jeder Stand war vertreten, ja sogar die vornehmste Welt überschritt einmal ihre närrischen Grenzen“ (BA I, 108). 146 den monumentalen Berlinansichten neben der großzügig bemalten Architektur marginal und Klein erscheinen, werden in den zwei Gassengemälden von Gaertner bekannte und unbekannte Bewohner Berlins als signifikante, funktionierende und agierende Glieder des urbanen Organismus geschildert. Gaertner bildete mit diesen Ansichten Bilder eines bürgerlichen Selbstbewusstseins ab, das auch in Raabes Debütroman thematisiert wird. Berlin in sechs Stücken gerahmt: Eduard Gaertners Panoramabilder (1834/35) Neben den engen Gassen malte Gaertner die neuen architektonischen Anlagen des biedermeierlichen Spree-Athens, das er in seiner Gesamtheit auf einem Panoramagemälde verewigt hat. Die Kunsthistoriker sind sich einig, dass der Höhepunkt von Eduard Gaertners Gesamtwerk sein sechsteiliges Berlinpanorama ist.131 1834 begann Gaertner sein berühmtes Gemälde, das Berlin vom Dach der von Schinkel soeben errichteten Friedrichswerderschen Kirche darstellt. Die Friedrichswerdersche Kirche war der erste neogotische Kirchenbau in Berlin, mit dessen Entwurf Schinkel nach einer Verschmelzung des Mittelalters und der Antiken strebte. Das als Aussichtsplattform genutzte Dach der Kirche war damals ein beliebtes Ausflugsziel der Berliner. Die Friedrichswerdersche Kirche war der erste Kirchenentwurf von Schinkel und wurde gleichzeitig mit dem Bau des Alten Museums realisiert. Der Kunsthistoriker Berry Bergdoll macht auf die Beziehung zwischen den zwei Projekten aufmerksam, da auch das Dach des Alten Museums als ein öffentlicher Raum angelegt worden war: It [die Friedrichswerdersche Kirche] is the most dramatic example of the reciprocal relationship with which he [Schinkel] sought to foster a new connection between Berlin’s citizens and their daily environment. Just as the staircase and roof terrace of the Altes Museum framed views of the larger urban 131 Vgl. Wirth (33), Verwiebe (103), Oettermann (171). 147 order, so Schinkel insisted that the church towers be open to the public. From here the view was returned to the transfigured Lustgarten. (87) Wichtig ist es zu erwähnen, dass Gaertner für diesen Blick nicht das Alte Museum, sondern eine Kirche gewählt hat. In dieser Weise entsteht eine allumfassende Perspektive aus einem sakralen Standpunkt. Der transformierte Blick auf die Stadt ist jedoch in einem eigenwilligen Panorama verewigt, da Gaertner kein Rotundengemälde, kein begehbares öffentliches Bild malte, sondern sich für sechs einzelne Tafeln, also eine zum in Wohnräumen Aufhängen gedachte Dimension, entschied. Das von Gaertner gemalte Berlin-Panorama besteht aus zwei Reihen von jeweils drei im Winkel zueinander angeordneten Bildern, die einen Rundblick über die Dächer Berlins vermitteln. Die Arbeit wurde zwar vom Hof in Auftrag gegeben, die ungewöhnliche Idee aber soll vom Künstler selbst stammen (Trost 15). Nach dem Panoramaforscher Stephan Ottomann war Gaertners Erfindung eine Sonderform innerhalb der Panoramamalerei des 19. Jahrhunderts (171). Die eigenartige Gestaltung des Gemäldes erzeugt eine Spannung zwischen öffentlichen und privaten Räumen. Öffentliche Räume der Stadt werden als ein Innenraum dargestellt und in eine private Stube hineingebracht. Die separaten Teile des Panoramas funktionieren als gerahmte Einzelbilder, die die Totalität der Repräsentation in Frage stellen. Gaertner bediente sich für seine große Aufgabe einer Camera obscura, einer Zeichenmaschine, die benutzt wurde, wenn größte Genauigkeit in der Perspektive und in den Proportionen erforderlich war.132 In seinem Nachlass finden sich etliche 132 Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften beschreibt anschaulich den Gebrauch der Camera obscura: „In dieser Zeit kam Charlotten der Besuch einer Engländers sehr gelegen ... Er beschäftigte sich die größte Zeit des Tags, die malerischen Aussichten des Parks in einer tragbaren dunklen Kammer aufzufangen und zu zeichnen, um dadurch sich und anderen von seinen Reisen eine schöne Frucht zu gewinnen. Er hatte 148 Federzeichnungen auf Transparentpapier, die wohl in Zusammenhang mit der Benutzung einer Camera obscura stehen und nun mit den ausgeführten Bildern verglichen werden können. Eine aufsehenerregende Sammlung früher Fotografien aus seinem Besitz beweist zudem das bislang nur vermutete Faktum, dass sich der Maler bei seiner Arbeit mit diesem zu seiner Zeit neuen Medium durchaus auseinander setzte.133 Da der Zeitgeist die Anwendung der Camera obscura – als einen die künstlerische Qualität schmälernden Vorgang – ablehnte,134 vermied Gaertner ihre Erwähnung in seinen Tagebüchern.135 Die Anwendung der Camera obscura fördert die Entwicklung moderner urbaner Wahrnehmung, die man auch in Gaertners Berlinpanorama beobachten kann.136 Das dieses schon seit mehreren Jahren in allen bedeutenden Gegenden getan und sich dadurch die angenehmste und interessanteste Sammlung verschafft. Ein größeres Portefeuille, das er mit sich führte, zeigte er den Damen vor und unterhielt sie, teils durch das Bild, teils durch die Auslegung. Sie freuten sich, hier in ihrer Einsamkeit die Welt so bequem zu durchreisen, Ufer und Häfen, Berge, Seen und Flüsse, Städte und Kastelle und manches andre Lokal, das in der Geschichte einen Namen hat, vor sich vorbeiziehen zu sehen“ (430). 133 Ursula Cosmann hat die Fotografiesammlung des Künstlers (ausschließlich Stadtansichten von Berlin) untersucht und einige der Fotos mit seinen Bildern verglichen. Cosmann zeigt, dass die Fotografie von Vertretern einer realistischen Kunstanschauung, so auch von Gaertner, hochgeschätzt wurde. Sie stellt aber auch anhand mehrerer Vergleiche zwischen Gaertners Gemälden und seiner Fotosammlung eindeutig fest, dass Gaertners Gemälde der Fotografie überlegen ist (87). Für die Gaertner nachfolgende Generation haben aber Architekturfotografen das Themenfeld der detailgetreuen Wirklichkeitswiedergaben übernommen und die Malerei hat neue Themen gefunden (95). 134 Vor allem Kunstphilosophen im 19. Jahrhundert wie z.B. August Wilhelm Schlegel fanden die Verwendung der Camera obscura problematisch: „Das bloße perpectivische Aufnehmen von Gegenden, aufs Gerathewohl, oder um einen deutlichen Begriff von ihrer Lage zu geben, ist freylich Copisten-Arbeit, weil nicht in das Gebiet der schönen Kunst gehört. Dabey mag auch der Gebrauch eines mechanischen Hilfsmittels, der camera obscura, welche Algarotti so empfiehlt, sehr zu Statten kommen; dabey eigentlich pittoresken Zwecken möchte er bedenklich sein und zu einer kleinlichen Manier hinlenken. Dieß optische Kunststück unterjocht gleichsam dem Künstler die Landschaft und macht sie zahm, statt daß, wenn sein Auge unmittelbar mit dem kühnen Wildheit der Natur ringt, er auch die Großheit des Anblicks in sein verkleinertes Bild übertragen wird...“ (205). 135 Kolta beschreibt in ihrem Buch, dass es üblich war, die Verwendung der Camera obscura zu verschweigen. Verwiede demonstriert das gleiche Verhalten in den Tagebuchnotizen Gaertners, der immer wieder einen Euphemismus (z.B. den Ausdruck Bude) statt des Wortes ‚Zeichenmaschine’ oder ‚Camera obscura’ benutzt (Verwiede 107-8). 136 In seinem Buch Aber schickt keinen Poeten nach London! analysiert Heinz Brüggemann die Beschreibung der Camera obscura in den Journalartikeln von London und Paris und stellt fest, dass die Wahrnehmungsästhetik, die durch die Camera obscura ins Leben gerufen wurde, auch als Modell der Großstadtwahrnehmung verstanden werden kann. Im Kapitel „Zauberlaterne und Schmelztiegel“ beschreibt er eine Krise der ästhetischen Erfahrung, die die Stellung des Autors insofern betrifft, als an die Stelle seiner individuellen sprachlichen und stilistischen Kompetenz zunehmend die Dingwelt des Alltagslebens 149 durch eine Camera obscura produzierte Bild kann das Allernächste und Bedrängende in einem verkleinerten Maßstab bewusst machen. Die Konzentration auf einen Teil der Großstadt entlastet den Künstler von der Überbeanspruchung seiner Sinne und von den überwältigenden Aspekten der Stadt. Das Resultat ist ein überschaubares Bild, das eine Distanz ermöglicht und dem Betrachter des Bildes die Illusion von Kontrolle und Selbstverfügung vermittelt. Panoramagemälde zeugen in dieser Weise von einem subtilen Eindringen der technischen und industriellen Revolution in die Bereiche der Kunst. Der Panoramaforscher Stephan Oettermann schreibt sogar, dass das Panorama nur mit dem Beginn der Industriellen Revolution und deshalb nur in England erfunden werden konnte, wo die Industrialisierung am weitesten fortgeschritten war (38). Zur Erreichung vollkommener Illusion mussten neue Techniken der Malerei, vor allem aber neue Techniken der Präsentation des Bildes entwickelt werden. Um die Illusion zu steigern, musste das Bild den Betrachter vollständig umgeben, um ihm den Vergleich mit realer Natur unmöglich zu machen. Die Mechanisierung der Abbildung mit der Hilfe einer Camera obscura, die Lösung schwieriger perspektivischer Probleme und der Bau einer Rotunde, um die größtmögliche Täuschung zu garantieren, deuten auf eine neue Verbindung zwischen Kunst und Technik hin. Technik erscheint bei Gaertner nicht in dem Sinne, dass eine industrialisierte Stadt dargestellt wird, sondern durch die Repräsentationstechnik, die mit der Hilfe der Camera obscura ermöglicht wird. Das Panorama war aus mehreren Gründen ein Massenmedium. Einerseits ist die Betrachtung von Panoramen mit kollektiver Wahrnehmung und der Erscheinung von als organisierende Instanz tritt (21). Eine ähnliche Erfahrung also, die die Maler bei der Verwendung einer Camera obscura erlebt haben könnten. 150 Massen in den Städten verbunden. Panoramen waren mehrere Tafelbilder, die in den kreisförmigen Rundgemälden aneinandergereiht waren. Ein solches Bild, das z.B. acht Einzelperspektiven aneinander reiht kann nicht nur von einer, sondern gleichzeitig von acht Personen betrachtet werden. Bei einem vollendeten Kreisbogen ist aber die Anzahl der Augenpunkte unendlich. Diese „Demokratisierung“ der Perspektive ermöglicht, dass Panoramabilder von bis zu 150 Personen gleichzeitig angesehen werden können (Oettermann 26). Dieses Phänomen veränderte auch die Ausstellungspraxis. Im Gegensatz zu in privaten Räumlichkeiten aufbewahrten Bildern waren Panoramen der zahlenden Öffentlichkeit zugänglich. Dementsprechend kann man eine Veränderung in den Bildinhalten beobachten: Anstatt von mythologischen und allegorischen Darstellungen, die nur von einem begrenzten Publikum interpretiert werden konnten, wurden realistische Stadt- und Landschaftsdarstellungen und real-politische Ereignisse populär. Die Sonderform von Gaertners Panorama zeigt jedoch, dass seine Absicht kein richtiges Panorama war, das für ein breites Publikum gemalt worden wäre. Warum ging aber das Publikum, das seine Hauptstadt kennen lernen wollte, lieber in die Panoramaausstellungen als auf die Türme von Kirchen? Die Panoramen hatten den Vorteil, dem Besucher einen privilegierten Standort anzubieten, von dem die Wirklichkeit völlig ausgeklammert wurde. Im Panorama ist das Gesehene dem Betrachter ausgeliefert, und er kann es ungestört analysieren. Wenn er von der erhöhten Plattform herabblickte, konnte der Besucher des Panoramas sich dem Eindruck hingeben, die dargestellte Wirklichkeit zu kontrollieren. In seinem Buch Framing Attention schreibt Lutz Koepnick diesen Mechanismus auch Gaertners Berlin-Panorama zu: Artists and scientists here joined their efforts in order to present the city as a meaningful unity, a coherent cosmos to be discerned in its spectacular totality by 151 a distant and detached observer. Through it effectively mobilized the viewer and this participated in the modernization of sight in the early nineteenth century, Gaertner’s spectacular panorama fortified long familiar viewing habits that Mary Pratt calls the ‚monarch-of-all-I-survey’ position. […] the ‚monarch-of-all-Isurvey’ gaze fuses the aesthetic experience of panoramic landscapes, as seen from an elevated point of view, with the act of imperial appropriation. […]Rather than displace this familiar rhetorical fusion, Gaertner’s panorama reinvented it for the sake of entertaining his viewers with at once realistic and scientific observations of contemporary Berlin. (55). Obwohl Gaertner die Mehrheit von seinen Gemälden im Auftrag „Seiner Majestät“ Friedrich Wilhelm III. anfertigte, wird hier die königliche Residenzstadt eher als eine „bürgerliche Bildungslandschaft“ statt einer illusionären Schaustellung dargestellt, in der ästhetischer Genuss, räumliche Ordnung und die Ausübung von Macht die wichtigsten Komponenten wären. Der Künstler befindet sich auf der gemeinsamen Ebene mit dem Bildbetrachter und bietet ihm eine an der Wirklichkeit orientierte Darstellungsweise an. Die „monarch-of-all-I-survey“ Position erscheint in diesem Sinne problematisch, da der Betrachter des Panoramas nicht mehr sieht als die Berliner, die sich vom Dach der neuerrichteten Kirche die preußische Hauptstadt angesehen haben. Gaertner verwendet einen realen den damaligen Einwohnern zugänglichen Standort und eine reale Perspektive, die jeder Berliner erfahren konnte. Dieses Konzept erscheint nicht nur bei Gaertner, sondern auch in den Gemälden von anderen zeitgenössischen Vedutenmaler. Die Kunsthistorikerin Renate Franke charakterisiert die Berlin-Ansichten von Eduard Gaertner und Franz Krüger in der folgenden Weise: „ihre Bildkonzepte sind nicht auf Belehrung ‚von oben herab’, sondern auf den Dialog von gleich zu gleich ausgerichtet“ (155). Während der Betrachter des Bildes sich mit dem Maler identifizieren kann, erhält er auch eine aktive Rolle. Von einem öffentlichen Standpunkt im Zentrum Berlins wird eine Vista auf die Schauplätze der bürgerlichen Öffentlichkeit dargestellt. In diesem 152 Kontext wird die traditionelle „monarch-of-all-I-survey“ Position mit neuen bürgerlichen Elementen ergänzt. Um Gaertners Position in der Entwicklung der Architekturmalerei besser zu verstehen, sollen die Details des Panoramas untersucht werden. Das Panorama präsentiert den Rundblick auf die preußische Residenz mit ihren bedeutenden Gebäuden und Plätzen. Warme, reich nuancierte Farbigkeit entfaltet sich im sommerlichen Nachmittagslicht, das bereits lange Schatten wirft und die Plastizität der Architektur zur Geltung bringt. Abbildung 16: Eduard Gaertner, Ein Panorama von Berlin, von der Werderschen Kirche aus aufgenommen (1834) Nach Norden gerichtet, geht der Blick von der Hedwigskirche, Oper und Universität zum Zeughaus, Museum, Dom und Schloss. Richtung Süden wandert das Auge von der nahezu vollendeten Bauakademie über Wohngegenden, den Kreuzberg in Hintergrund, bis hin zum Gendarmenmarkt.137 Die öffentlichen Gebäude und bürgerlichen Versammlungsorte wie Universität, Oper und das von Schinkel errichtete Alte Museum, das Schauspielhaus sowie die Bauakademie sind würdig präsentiert, jedoch wird das 137 Da ich nicht zu allen Details der Gemälde Zugang hatte, stammt diese Identifizierung der öffentlichen Gebäude größtenteils von der Bildbeschreibung der Kunsthistorikerin Birgit Verwiebe. 153 königliche Schloss an den Rand gedrängt. Wie in der Repräsentationstechnik erscheint ein Bestreben auch in der Thematik des Bildes, Berlin als bürgerliche Stadt darzustellen, der nach den Befreiungskriegen eine gewisse Demokratisierung stattgefunden hat. Den größtmöglichen Blickwinkel benutzte Gaertner nicht nur, um das Profil der Stadt festzuhalten, sondern auch um sie als Lebensort zu zeigen und vom Alltag ihrer Bewohner zu erzählen. Der detaillierten Beschreibung des Panoramas durch die Kunsthistorikerin Birgit Verwiebe zufolge schenkt Gaertner seine Aufmerksamkeit auch den Berliner Einwohnern. Voyeuristisch lässt Gaertner seinen Blick sogar in mehrere Fenster der naheliegenden Wohnungen fallen. Im Gemälde können unter anderem Wäsche waschende Frauen, Männer mit Karren, Fässer transportierende Kahnfahrer, ein Pfeiferaucher am Fenster, eine Bettenklopferin und ein Schornsteinfeger beobachtet werden (Verwiebe 106). Über Straßen und Plätze bewegen sich Spaziergänger, Reiter, Kutschen, Lustgarten- und Museumsbesucher. Nicht zuletzt beleben Kinder aber auch Tiere wie Hunde, Tauben, Schwäne und Pferde das Geschehen. Geschichten werden erzählt und transitorische Ereignisse als prägnante Momente dargestellt, die die Fantasie des Betrachters mobilisiert. Gaertners Figurenstaffage erzählt mehrere Geschichten aus dem Alltag der preußischen Hauptstadt und ihrer Bewohner, die bewusst mehrere gesellschaftliche Stände repräsentieren. Die anonymen Leute werden jedoch nie kleiner als diejenige, die bekannte Namen tragen, dargestellt. Kunsthistoriker haben mehrere der Figuren im Panorama als Gaertners Zeitgenossen identifiziert. An der Balustrade steht zum Beispiel Karl Friedrich Schinkel138 und ihm gegenüber Alexander von Humboldt,139 der, an einem Fernrohr 138 Berry Bergdoll schreibt sogar, dass Schinkel Gaertner gebeten hat, einige Teile der Gemälde nach seinem Geschmack anzufertigen: „Schinkel even asked Gaertner, whose preparatory drawings he reviewed, 154 stehend, in Richtung Friedrichsforum weist (Verwiebe 107). Sein Fernrohr bietet den Schlüssel zum Verständnis von Gaertners Bildwelt: Das Einzelne kann optisch durchaus nah herangeholt und für sich betrachtet werden, es bleibt aber immer Teil des urbanen und sozialen Organismus. In jedem Detail des Gemäldes erschließt sich eine eigene Bildwelt. Die Alltagsszenen und die repräsentativen öffentlichen Gebäude schließen sich jedoch im Panorama zu einer künstlerischen Einheit zusammen, die über ein nüchternes Inventar von Berlin und seinen Bauten und Bewohnern hinausweist und ein harmonisches, einheitliches Stadtbild entstehen lässt. Ein künstlich erschaffenes Berlin, das Produkt seiner Bewohner ist, erscheint hier, in dessen Stadtbild die letzten Bauarbeiten ausgeführt werden. Gaertner hat die Architekturmalerei zu einer Aussageform gesteigert, die neben der Topographie auch das Wesen der Stadt sichtbar macht.140 Um eine bildliche Einheit zu erzielen, hat Gaertner die in Panoramagemälden übliche Technik benutzt und das Kirchendach und die darauf befindlichen Zuschauer in den Vordergrund des Bildes gebracht. Obwohl Gaertners Bilder von einer größtmöglichen Exaktheit zeugen und die Einbeziehung des Vordergrunds ins Gemälde den täuschenden Charakter der Panoramabilder evozieren, sind sie weder biedermeierliche Stadtveduten, noch illusionäre Panoramabilder, sondern „urbane Bildungslandschaften,“ in denen die zivilen to depict a workman still completing one of the church’s brick finials which otherwise would have obstructed the view of the side elevation of the Altes Museum“ (65). 139 Renzo Dubbine begründet Humboldts Anwesenheit im Gemälde folgendermaßen: „The scientific descriptions of Humboldt, the great naturalist, had been an inspiration for artists. Putting these two men [Schinkel und Humboldt] in the panorama was a dual homage to the architect and constructor of a new artificial landscape and to the scientist and investigator of the physical world. This panorama’s vast but detailed view was analogous to the total, multilevel vision of von Humboldt’s Kosmos (1845-62), a complex work on changes in the observation of natural phenomena that documents ways in which humankind has changed its landscape“ (81). 140 Vgl. dazu Bartmans Analyse, der Gaertners Werk als eine Verbindung aus Elementen der klassizistischen und der romantischen Schule in ihrer Betonung der Komposition einerseits und des Kolorits andererseits versteht (Bartmann 65). 155 Umgangsformen einer bürgerlichen Gesellschaft gezeigt und auch praktiziert werden. Gaertners Werk ist eine Synthese von den zwei Genres, ein Umstand, der Gaertner eine Sonderposition in der Geschichte der Panoramamalerei sichert. Die auffälligste Komponente des Panoramabildes ist Gaertners Absicht, neben dem Interesse der damaligen Berliner sein eigenes Interesse an ihrer Stadt sichtbar zu machen. Alexander von Humboldt mit seinem Fernrohr und weitere Einzelheiten im Bild – kleine Szenen, in denen in und aus Fenstern hinein- und hinausgeblickt wird – offenbaren eine generelle Neugier und visuelle Eroberungslust der Stadtbewohner.141 Als einen der Besucher des Aussichtdaches hat Gaertner sich selbst dargestellt. Sein eigenes Sehen reflektierend, weist er sich selbst als Urheber und Gestalter seines Blicks aus, d.h. er präsentiert sich selbst mit dem deutlichen Selbstbewusstsein des modernen Künstlers. Hinter ihm lehnt eine Zeichenmappe mit der Aufschrift: „Panorama von Berlin aufgenommen im Jahre 1834 von E. Gaertner“ (Vorwiebe 106). Das wahrnehmende Subjekt Gaertner versteht sich selbst als Teil der wahrgenommenen urbanen Landschaft und findet es wichtig, die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf die Figur des schaffenden Künstlers zu lenken. Obwohl die Stadt noch als eine übersehbare und einheitliche urbane Landschaft erscheint und Gaertner Berlin als eine progressive politische Landschaft malt, manifestiert im Gemälde eine kaum merkbare Spannung zwischen der AutonomieÄsthetik der bürgerlichen Epoche und dem möglichen Verlust der individuellen Souveränität in der wachsenden Großstadt. Diese Kontrolle über den urbanen Raum zeigt sich einerseits in Gaertners Liebe zum Detail, so dass sich Lage und Aussehen der 141 Beispiele dafür: aus einem Wohnhausfenster in Höhe des Schauspielhauses schaut ein Kind einer Frau zu, aus einem Fenster eines Wohnhauses beobachtet eine Familie mit einem Kleinkind Tauben etc. (Verwiebe 106-7). 156 einzelnen Straßen noch heute genau nachprüfen lassen. Andere Zeugnisse für diese Kontrolle sind die zur Orientierung des Betrachters benutzten Titel, die Gaertner unter das Bild gemalt hat. Alle Bezeichnungen beziehen sich auf Gebäude von Berlin außer der einer, die mit „Selbstbildnis“ überschrieben ist. Die Kontrolle erscheint am markantsten in der eigensinnigen Form des Panoramas, das aus sechs separaten, gerahmten Bildern besteht.142 Die sechs separaten Bilder können im Vergleich zu den echten Rundgemälden als eine einfacher „konsumierbare Menge“ verstanden werden. Die Umrahmung gestattet dem Betrachter eine Sichtweise, sich auf in der Großstadt Vertrautes zu konzentrieren und die Stadt zu überblicken. Wie die Anwendung der Camera obscura, so ermöglicht die Umrahmung der einzelnen Bestandteile eine kontemplative Distanz, die die Zuschauer benutzen können, um sich selbst in das Stadtbild einzuordnen. Die Verwendung des mechanischen Apparates, die Anwesenheit der Rahmen und die Anwendung der erhöhten Perspektive erlauben dem Maler, die wachsende Stadt aus der Höhe im Blick – und gleichzeitig unter Kontrolle – zu halten, um davon soviel wie möglich im Bild festhalten zu können. Die harmonische Einheit des Bildes vermittelt den Eindruck, dass die Stadt interpretierbar und überschaubar ist. Gaertner kreiert eine Fiktion des Wissens über den urbanen Raum und transformiert das Durcheinander der Stadt in ein klar lesbares Bild. Henri Lefevbre schreibt in dem Essay “Seen from the Window” das Folgende: „the one walking on the street is immersed into the multiplicity of noises, rumours, rhythms [...] but from the window noises are distinguishable, fluxes separate themselves, rhythms answer each 142 Nach den meisten Gaertner-Forscher kann die merkwürdige Form dadurch erklärt werden, dass Gaertners Gemälde nicht für ein massenhaftes, zahlendes Publikum bestimmt wurde, sondern für einen einzelnen Privatmann berechnet war. Oettermann spekuliert jedoch, dass Gaertner das Panorama anfangs als richtiges Rundbild geplant hat, dann aber sein ursprüngliches Vorhaben aufgab, weil er für das Projekt keinen Mäzen gefunden hat (171). 157 other. […] So there is a relative silence in the crowd. […] It’s incredible what one sees and hears (from the window). Strict harmony“ (220). Die erhöhte Position am Fenster erzeugt eine paradoxe Situation, wie der Literaturkritiker Heinz Brüggemann beschreibt. Laut Brüggemann ist der Fensterblick eine Wahrnehmungsform des vereinzelten Subjekts der großen Städte, „ein Abbruch mit aller lebendigen, aktiven Kommunikation mit der Außenwelt“ (Das andere Fenster, 13). Durch das Fenster, und auch durch den Rahmen in Gaertners Gemälde, entsteht eine Distanz, die es ermöglicht, das Mannigfaltige in einem Bild fixieren zu können. Es gibt jedoch Zeichen für eine Spannung zwischen Allwissenheit und Fragmentierung in Gaertners Darstellung. Die separaten Teile brechen mit der illusorischen absoluten Repräsentation Berlins und implizieren eine Diskontinuität und Fragmentierung in der Darstellung des urbanen Raumes. Gaertners Bild, obwohl bewusst Panorama genannt, verzichtet auf die dem Panorama eigene Form und stellt den Rundblick auf einzelnen Flachbilder dar, was eine ganz andere Art von Rezeption verlangt. Anstatt dem Zuschauer einen allwissenden Anblick zu versprechen, gewöhnt Gaertner ihn absichtsvoll oder unabsichtlich daran, dass die Darstellung der Großstadt als eine zusammenhängende, harmonische Ganzheit nicht mehr möglich ist. Die Hegemonie des Blicks des Betrachters der Stadt ist, allerdings noch fast unmerklich, schon in Frage gestellt. Im Gegensatz zu den illusionären Rundgemälden wird man in Gaertners Werk mit einer Fragmentierung des urbanen Raumes konfrontiert, die auch in der Repräsentation der Großstadt in den Romanen von Wilhelm Raabe entdeckt werden kann. 158 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Gaertners Oeuvre aus dem Berliner Biedermeier eine Varietät von urbanen Szenen darstellt, in denen unterschiedliche Lokalitäten des sich verändernden sowie des alten Berlins aus verschiedenen Perspektiven geschildert werden. In allen Fällen entfaltet sich ein harmonisches Bild der Großstadt, in der die Bewohner eine aktive Rolle spielen und das Stadtbild selbst verändern und bewirken können. Gaertners Gemälde stellen eine Totalität des biedermeierlichen Berlins dar und zeugen, wie die Repräsentationen des Schauspielhauses von einer Demokratisierung der Perspektive aus einer Zeit, in der die preußische Grosstadt noch über übersichtliche Proportionen verfügte. Mit dem Ausklang der Berliner Vedutenmalerei fällt die Geburt von Raabes Chronik überein, die bekannte Berlin-Bilder mit neuen Themen ausfüllt und die von Gaertner und seinen Zeitgenossen produzierten Wahrnehmungen Berlins in dem ersten Berlin-Roman einerseits übernimmt und in seinem Text ins Szene setzt, andererseits auch wegen des zeitlichen Abstandes verwandelt. 159 „Ohne Bekannte und Freunde in der großen Stadt“: Wilhelm Raabe in Berlin Abbildung 17: Wilhelm Raabe, Tuschzeichnung Die Tuschzeichnung, vermutlich für die Mutter des Künstlers als Beilage eines nicht abgeschickten Briefes angefertigt, stellt Raabes Berliner Zimmer im ersten Stock des Hauses in der Spreegasse Nr. 11 dar.143 Im Zentrum des Bildes sitzt, zwischen zwei majestätischen Fenstern, der 24jährige Schriftsteller, dessen Erstlingswerk ihm schnell einen literarischen Ruf eingebracht hat. Wie die Tuschzeichnung zeigt, zählt Wilhelm Raabe zu den Künstlern, denen nicht nur die Sprache, sondern auch die bildnerische 143 Vgl. dazu die Beschreibungen dieser Zeichnung in Hoppe 21 und Fuld 94. 160 Ausdruckskunst zu Verfügung stand. In der Zeichnung des Zimmers des angehenden Schriftstellers liegen auf dem schmalen Schreibtisch Manuskriptblätter, auf der Kommode rechts steht eine kleine Lampe, die Raabe von Umzug zu Umzug immerfort begleitet hat.144 Hier begann Raabe am 15. November 1854 mit der Abfassung der Chronik der Sperlingsgasse, nach der die Spreegasse später in Sperlingsgasse umgetauft wurde.145 Die Zeichnung, eine Art Selbststilisierung als Schriftsteller präsentierend, zeugt davon, dass das Doppeltalent Raabe sich während seines Berliner Aufenthaltes für die schriftstellerische Laufbahn entschieden hat. Der Spiegel an der Wand reflektiert auch, dass Raabes erster Berlin-Aufenthalt eine Selbsterfindung and Selbstkenntnis erzeugt hat. Wie E.T.A. Hoffmanns Schlafzimmer in seinen Details mit der Beschreibung des Raumes in der letzten Erzählung Des Vetters Eckfenster übereinstimmt, ist auch Raabes Erstlingsroman stark autobiographisch geprägt.146 Berlin war offenbar in Raabes Leben ein wichtiger Meilenstein; die preußische Großstadt diente nicht nur als Hintergrund, sondern auch als Subjekt für sein literarisches Debüt. Berlin war damals zwar eine Großstadt, aber mit seinen rund 400 000 Einwohnern im Jahre 1854 noch vergleichsweise überschaubar und architektonisch vom Klassizismus geprägt. In rascher Folge erstanden jedoch die ersten großen Eisenbahnlinien, die eine Grundvoraussetzung für den gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung bildeten. Berlin war auf dem Weg, sich von der Provinzstadt zur Industrie- und Kulturmetropole zu verwandeln. Als Raabe 1854 in Berlin eintraf, versuchte er, das Berliner Großstadtleben 144 Vgl. dazu Hoppe 35, Fuld 94-5. Die berühmte Datumsangabe vom 15. November oder wie in der Raabe-Forschung bekannt „Federansetzungstag“ stimmt nach Fuld nicht. In einer sorgfältigen und einleuchtenden Analyse von Raabes Berliner Leseerlebnisse bestätigt Fuld, dass das obige Datum nach Ticks Novelle Der fünfzehnte November konzipiert worden ist. Vgl. dazu Fuld 88-9. 146 Siehe zum Beispiel das folgende Beschreibung Wachholders: „ein Student der Philosophie in der großen Haupt- und Universitätsstadt“ (44) 145 161 kennen zu lernen. Er studierte in Berlin das Schöne sowie das Hässliche des Großstadtlebens. Der junge Raabe ging in öffentliche Bibliotheken, in private Leihbüchereien, ins Theater, in die Oper und betrachtete die verschiedenen Baustile der Berliner Häuser, um sich ein Bild von der gesamten Architektur zu machen.147 Er wanderte stundenlang durch die Straßen Berlins, beobachtete aber nicht nur die prachtvollen Teile der Stadt, sondern auch die Arbeitersiedlungen in den alten Vorstadtgemeinden. Hier wurde er zum ersten Mal in seinem Leben mit der Armut des Volkes konfrontiert, die nicht in seine bürgerliche Vorstellung von der geordneten Welt passte. In der Stadt der „zusammengedrängten Hunderttausenden“ (BA 2, 477) begegnete Raabe neben dem prachtvollen bürgerlichen Leben auch Pauperismus in den Elendsvierteln und den bereits grauenvollen sozialen Zuständen in den dunklen Gassen der Arbeitervierteln.148 Raabe kam nach Berlin, um sein Universitätsstudium zu absolvieren. Er hörte Vorlesungen über Geschichte, Literatur und Kunstgeschichte. In Berlin wurde Raabe auch leidenschaftlicher Buchkonsument: er liest angefangen von Hölderlin zu Balzac, Longfellow und Edgar Allan Poe, Dickens und Hegel – alles was ihm angeboten wird (von Studnitz 103-4). Später – eindeutig autobiografisch – beschreibt er sein Berlinstudium in Theklas Erbschaft in der folgenden Weise: Ich war ein Student und ich studierte in Berlin die schönen Wissenschaften und die hässlichen, für das Vergnügen und ums liebe Brot. Ich studierte aber auch das 147 Nach den Briefen und Tagebuchnotizen konnten die Biographen Cecilia von Studnitz und Werner Fuld die Details von Raabes Berliner Aufenthalt recht genau rekonstruieren. Vgl. dazu Fehse 125-149, Fuld 6799 und Studnitz (97-119). 148 Vgl. dazu Raabes Beschreibung der Armenviertel Berlins: „Eng, steil und dunkel sind in der Dunkelgasse die Treppen der Häuser, die Wände salpeterglänzend, der Boden feucht und moderig. Feucht und moderig ist alles hier, und das Geschlecht, welches auf solchem Boden vegetiert, steht meistens in demselben Verhältnis zu den begünstigteren Schichten der menschlichen Gesellschaft, wir die wunderbare Pilzwelt, die im Schatten, in der Feuchte unendlich aufschießt und verwest, zu den gepflegteren Gewächsen in den Gärten“ (GW I, 190). 162 Leben, und in ihm das Schöne und das Hässliche von demselben Blatt; -- o großer Gott, was studierte ich alles! Es ist mir heute noch ein Mirakel, dass ich nicht mit einem Riss, einem Sprung im Hirnkasten oder einem darum gelegten eisernen Bande herumlaufe; die Gehirnerweiterung war zu mächtig. (BA 2, 376) Vor allem war aber Raabe in der Großstadt mit sich selbst und mit seiner Einsamkeit konfrontiert. Er mied Bekanntschaften und zog sich in seine Wohnung zurück, wie er in seinem Tagebuch notiert: „Ohne Bekannte und Freunde in der großen Stadt war ich vollständig auf mich selbst beschränkt und bildete mir in dem Getümmel eine eigene Welt“ (BA 2, 66). Nach einem halbjährigen Berliner Aufenthalt entdeckt Raabe, was genau seine eigene Welt werden wird. Menschen mit ausgesprochener Doppelbegabung haben es oft nicht leicht, ihre wahre Berufung zu definieren. Raabe war von frühester Jugend zum Zeichnen und Malen hingezogen und spielte auch mit dem Gedanken, sich zum Maler ausbilden zu lassen (Hoppe 18). Seine Mutter ließ ihm zu diesem Zweck bei einem Braunschweiger Grafiker und Maler Privatunterricht geben. Raabe, der bestrebt war, die Techniken des Zeichnens und Malens zu erlernen, benutzte seine Schreibfeder sein ganzes Leben hindurch auch zum Zeichnen. Bleistift, Kohle und Aquarellfarben vervollständigten das Werkzeug, mit dem Raabe auf Schreibpapier, Notizbuchblättern, Rückseiten von Einladungskarten, Briefumschlägen, erledigten Rechnungen, Manuskripträndern – auf jedem geeigneten Stück Papier - zeichnete (Peter 14). In der Berliner Zeit hat sich Raabe nach der Abfassung der Chronik für das Dichtertum entschieden, obwohl die Zeichenfeder sein dichterisches Schaffen zeitlebens begleitete. 149 149 Die Raabe-Forscher Hans-Werner Peter und Karl Hoppe beschäftigten sich mit dem zeichnerischen und malerischen Nachlass Raabes. Beide argumentieren, dass Raabes nahezu unbekanntes zeichnerisches und malerisches Werk ergänzend und oftmals gleichwertig neben das dichterische Werk gestellt werden kann. 163 In der textnahen Analyse von Raabes Briefen aus der Berliner Zeit bestätigt der Biografieforscher Werner Fuld, dass Raabe im Schreiben der Chronik seine Identität und sein Berufsziel gefunden hat (97). Die Niederschrift der Chronik war nach mehreren Raabe-Forschern eine Flucht in die Kreativität und eine Art Selbsttherapie.150 In Berlin, frei von familiärem Druck und beruflichen Verpflichtungen, konnte Raabe eine Selbstdefinition formulieren und, wie die obige Zeichnung darstellt, sich als Schriftsteller definieren. Obwohl die im Oktober 1856 erschienene Chronik kein finanzieller Erfolg wurde, wurde sie ein Leseerfolg in Berlin und begründete Raabes schriftstellerischen Ruf. Intermedialität zwischen Gaertner und Raabe: Malerei der Spreegassen und Die Chronik der Sperlingsgasse Im Gegensatz zu Gaertner vermeidet Raabe die öffentlichen Räume der preußischen Großstadt und zieht sich in eine enge, versteckte Spreegasse in der Altstadt Berlins zurück. Sein Protagonist, der alte Chronikschreiber Johannes Wachholder, bevorzugt die verborgenen Straßen der Großstadt, wie er dem Leser schon am Anfang seiner Chronik bekannt gibt: Die „krumme[n], dunkle[n] Gassen [sind] Mittelpunkte einer vergangenen Zeit“ (10). Die Bewohner der alten Stadtteile benehmen sich anders; diese Plätze verfügen noch über eine benjaminische ‚Aura,’ über eine gegebene räumliche, zeitliche und sensuellen Eigenartigkeit.151 Im Kontrast zu der vornehmeren, aber auch öderen 150 Vgl. dazu Fuld 81-2, Studnitz 118. Siehe Walter Benjamins Aurabegriff in „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“; vgl. auch dazu das folgende Zitat aus der Chronik: „Selbst die Bewohner des älteren Stadtteiles scheinen noch ein originelles, sonderbareres Völkchen zu sein als die Leute in den modernen Viertel“ (Chronik 10). Fast alle Sinneseindrücke werden hier benutzt und erwähnt: „Die Dämmerung, die Nacht produzieren hier wundersamere Beleuchtungen durch Lampenlicht und Mondschein, seltsamere Töne als anderswo. Das Klirren und Ächzen der verrosteten Wetterfahnen, das Klappen des Windes mit 151 164 Neustadt, auf deren „liniengerade[n], parademäßig[en] aufmarschierte[n] Straßen und Plätze[n]“ sich ein neues Leben entfaltet, enthält die kleine Straße „die wahre Geschichte“ (BA I, 15). Expliziter als E.T.A. Hoffmann kritisiert auch Raabe das aufklärerische Stadtmodell und die bewusste Stadtplanung, als sein Protagonist sich über die Monotonie der Friedrichstadt beklagt und eine deutliche Präferenz für die Lokalitäten der Altstadt ausdrückt: Ich liebe in großen Städten diese alte Stadtteile [...] ich liebe sie mit ihren Giebelhäusern und wundersamen Dachtraufen, mit ihren alten Kartaunen und Feldschlangen, welche man als Prellsteine an die Ecken gesetzt hat. Ich liebe diesen Mittelpunkt einer vergangenen Zeit, um welchen sich ein neues Leben in liniengeraden, parademäßig aufmarschierten Straßen und Plätzen angesetzt hat, und nie kann ich um die Ecke meiner Sperlingsgasse biegen, ohne den alten Geschützlauf mit der Jahreszahl 1589, der dort lehnt, liebkosend mit der Hand zu berühren. (BA I, 22) Die Beschreibung der kleinen Gasse zeugt von einer Intermedialität mit den Gassengemälden von Gaertner, in denen die Gemütlichkeit eines pittoresken Winkels der Berliner Altstadt aber auch das Eindringen der Veränderungen nachhaltig sind. Wie in Gaertners Gassengemälden wird eine Kirche, bei Raabe die in der Nähe stehende Sophienkirche in Alt-Kölln, als ein wichtiger Beziehungspunkt konnotiert.152 Die den Dachziegeln, das Weinen der Kinder, das Miauen der Katzen, das Gekeife der Weiber, wo klingt es passender – man möchte sagen dem angemessener, als hier in diesen engen Gassen, zwischen den hohen Häusern, wo jeder Winkel, jede Ecke, jeder Vorsprung den Ton auffängt, bricht und verändert zurückwirft!“ (34); „Hier gibt es noch die alten Patrizierhäuser, -- die Geschlechter selbst sind freilich meistens lange dahin – welche nach einer Eigentümlichkeit ihrer Bauart oder sonst einem Wahrzeichen unter irgendwelcher naiven merkwürdigen Benennung im Munde des Volks fortleben.“ (36) 152 Alt-Berlin: „In der alten [Sophienkirche] war’s, wo eine Tafel an der Wand hing, wo die Namen aller der darauf standen, welche in dem Franzosenkriege aus unserem Viertel gefallen waren, und worunter auch meine Jungen waren: Ludwig Friedrich Karl Karsten und Wilhelm Johannes Albert Karsten. Die Tafel hatten wir unserm Kirchenstuhl gerade gegenüber, und des Sonntags schauten wir immer darauf und dachten an unseren braven Jungen, und mein Alter war stolz auf die Tafel und ich auch, wenn ich auch genug darüber geweint hatte und noch weinte.“ (BA I, 122) Die Geschichte der Sophienkirche beschreibt auch impliziter Weise die Ereignisse im Jahre 1848 als eine Zäsur in der deutschen Geschichte. Beschreibt wie die Kirche abbrennt und die Tafeln vernichtet werden. „Mutter Gottlob, die Tafel ist verbrannt“ (BA I, 123). 165 Glocken der Kirche mit einer direkten Anspielung auf Schillers berühmtes Gedicht funktionieren als ein textverknüpfendes Motiv, das das Rückgrat des Romans konstituiert. Der Turmhelm der Kirche wird mehrmals erwähnt ebenso wie ihre Geschichte von den napoleonischen Kriegen bis zur Erzählgegenwart. Nicht nur die bei Raabe wiederkehrende in den Hintergrund gedrückte Ansicht der Sophienkirche erinnert Raabes Stadtdarstellung an Gaertners Gemälde, sondern auch die Architektur der Gasse. Wie in dem Gemälde von Gaertner Parochialstraße, ehem. Reetzengasse (1831) wird auch Raabes Spreegasse mit alten Patrizierhäusern und mit einem „wahre[n] Reich der Keller- und Dachwohnungen“ eingerichtet. In dieser Weise entsteht ein intimer Ort, der mit den gegenüber liegenden Wohnungen zusammen einen vielfältigen, komplexen Erzählraum erzeugt. Die äußere Gasse wird oft als Innenraum verdichtet und Szenen in den privaten Zimmern von der Gasse beobachtet und beschrieben. Wie bei Gaertner entsteht im Roman von Raabe ein intensiver Raum, der mit ähnlichen Figuren, fiktiven jedoch repräsentativen Intellektuellen der Großstadt und anonymen Leuten bevölkert wird. Wie die Lage und Architektur der engen Gasse in der Altstadt werden auch die Bewohner der Gasse im Roman mit ähnlichen semantischen Mitteln geschildert und zwischen ihnen und den Bevölkerungen der neuen Stadtteile eine analoge Polarität aufgestellt: Selbst die Bewohner des älteren Stadtteils scheinen noch ein originelleres, sonderbares Völkchen zu sein als die Leute der modernen Viertel. Hier neben der Arbeit und des Ernsts, und der zusammengedrängtere Verkehr reibt die Menschen in tolleren, ergötzlicheren Szenen aneinander als in den vornehmeren, aber auch öderen Straßen. (BA I, 25) 166 Raabes Protagonist verdeutlicht durch diese Stelle, dass die soziale Umgebung und die Bewohner der Altstadt spannendere Konstellationen ins Leben rufen und dem Schriftsteller einen eindringlicheren Stoff liefern als die modernen Stadteile Berlins. Diese Intensität erzeugt einen paradigmatischen Sozial- und Geschichtsraum, der im Kontrast zu den neuen Stadtteilen Berlins „Spiegel und Gegenwelt der Geschichte in einem“ ist (Göttsche 28). Einerseits ist die Gasse eine Oase und ein vormodernes Zentrum in der Stadt, andererseits wird sie „eine unschätzbare Bühne des Weltlebens [...] wo Krieg und Friede, Elend und Glück, Hunger und Überfluss, alle Antinomien des Daseins sich widerspiegeln“ (BA I, 17). Die Gasse spiegelt pars pro toto die politische und soziale Realität Berlins in den privaten Geschichten der Gassenbewohner wider. Die unauffällige Sperlingsgasse, Subjekt und Objekt des Romans, entbehrt jedoch nicht des Tempos und der Nervosität der neuen Stadtteile. Wachholder wählt sie als Mittelpunkt seiner Chronik, weil sie „lebendig genug [ist], einen mit nervösem Kopfweh Behafteten wahnsinnig zu machen und ihn im Irrenhause enden zu lassen“ (BA I, 12). Diese Beschreibung evoziert Georg Simmels Charakterisierung der Nervosität der Großstadt, die die psychologische Grundlage der Großstadtmentalität ins Leben ruft. Diese Schilderungen der Sperlingsgasse erzeugen eine Spannung: Einerseits ist die kleine Gasse mit der Vergangenheit eng verbunden und funktioniert als eine untergehende ländliche Idylle im Herzen der wachsenden preußischen Hauptstadt (wie die Stadt in dem zweiten Gassengemälde von Gaertner), andererseits ist sie eine Abbildung der großen Stadt (wie Berlin im ersten Gassengemälde von Gaertner), ein Mikrokosmos im Makrokosmos. 167 In der Chronik der Sperlingsgasse werden die Ereignisse auf zwei Zeitebenen erzählt. Dirk Göttsche beschreibt die komplexe Zeitstruktur des Romans in der folgenden Weise: An die Stelle der pragmatischen Handlungsstruktur eines konventionellen ‚Romans’ (BA I, 75) oder einer streng autobiographischen Erzählfiktion tritt eine genau komponierte Sequenz von Aufzeichnungen, die sich über die chronologische ‚Folge’ der erzählten ‚Begebenheiten’ (BA I, 15) hinweg zu einem ästhetischen Reflexionsraum des Zeitbewusstseins und der Geschichtserfahrung zusammenschließen. (19) Die erste Zeitebene ist die Gegenwart, die Reaktionszeit der 50er Jahre in Berlin und als Erzähler dient der gealterte Gelehrte Johannes Wachholder, der schon dreißig Jahre in der Sperlingsgasse lebt und seine Beobachtungen und Erinnerungen vom Winter 1854 aufzeichnet. Eine Chronik nennt er sein Werk, in der gegenwartsbezogene Tagebucheintragungen, traumselige Erinnerungen, ältere Niederschriften, Briefe und Erzählungen Dritter miteinander verknüpft werden. Zu den charakteristischen Gestalten gehören intellektuelle Gassenbewohner wie der Karikaturist Strobel und der Journalist Wimmer, der wegen eines „fatalen politischen Hustens“ aus Berlin ausgewiesen worden ist (BA I, 119). Weitere Bewohner der Sperlingsgasse sind ein liberaler Lehrer, Roder, der nach dem Scheitern der Märzrevolution nach Amerika flieht, kleine Handwerker, die nicht mehr konkurrenzfähig sind und die hübsche Balletttänzerin, deren Kind zu Hause im Sterben liegt, während sie im Theater auftreten soll. Die Bewohner der Gasse stammen aus verschiedenen sozialen Schichten und ihre Herkunft und Rolle im Roman sind auch durch die oben oder unten liegenden Wohnungen beschrieben. Mit dieser Topographie entsteht die Gasse wie in Gaertners Gemälden als ein bedacht konstituierter Sozialraum. Das von Wachholder mehrmals erwähnte ständige „Kommen und Gehen“ 168 bezieht sich auch auf die gesellschaftliche Mobilität der Gassenbewohner, die durchweg Beispiele sozialer Verdrängung sind. Die zweite Zeitebene ist die Vergangenheit, die gemeinsame Kindheit des Erzählers und seiner Nachbarn im provinziellen Ulfelden und die Vergegenwärtigung der Liebe zu Marie, die den gemeinsamen Freund, den Maler Ralff geheiratet hat. Ihre Tochter Elise ist jedoch bei Wachholder aufgewachsen, der nach dem Tod der Eltern die Pflegschaft übernommen und in ihre Wohnung umgezogen ist. Elise heiratet Gustav Berg, der auch in der Sperlingsgasse großgeworden ist und am Ende des Romans als Maler mit Elise in Italien sesshaft wird. Die einander zugewandten Fenster und Blickaustausche symbolisieren eine Kultur des Miteinanders und der Solidarität. In der geschlossenen Welt der Sperlingsgasse beschreibt Wachholder das enge Zusammenleben einer bunten Bevölkerung, die durch die Großstadt miteinander in Kontakt gebracht worden ist, deren Leben jedoch in den meisten Fällen durch die Großstadt auch zerstört wird.153 Großstadtfeindlich ist Raabes Roman in dem Sinne, dass der Autor die Großstadt mit moralischem Verfall, sozialen Problemen und mit einer Zerstörung von idyllischen Lebensformen und der Zivilisation assoziiert und statt ihrer Gegenwart ihre nicht mehr existierende Vergangenheit akzentuiert. Im Roman wechseln Jetzt und Einst, und die Beschreibung der Kindheitsjahre in der Kleinstadt Ulfelden fällt besonders nostalgisch aus. Raabes Gassengemeinschaft schafft in der Altstadt Berlins eine Oase, in der eine vergessene Innerlichkeit und Idylle bewahrt werden können, die aber auch als ein Ort bewusster bürgerlicher Zeitkritik funktioniert. Viele von den Geschichten der Bewohner 153 Für eine Analyse über die soziale Empfindlichkeit Raabes in der Chronik siehe das Raabe Kapitel von Alfred Whites Buch. 169 enthüllen die Enttäuschung der liberalen Erwartungen durch die Restauration und reflektieren die Folgen der gescheiterten Revolution von 1848. Dabei kommt in den Geschichten der Vergangenheit eine Adelskritik zu Tage ebenso wie die Darstellung der existenziellen Abhängigkeit der Schriftsteller und Lehrer von den politischen Veränderungen in der Restaurationszeit. Im Gegensatz zu Gaertners Gemälden, in denen die Stadt als Produkt ihrer Einwohner dargestellt wird und in denen agile und selbstbewusste Stadtbewohner gezeigt werden, skizziert Raabe seine Intellektuellen in der Sperlingsgasse als Individuen, deren Freiheitsansprüche nicht erfüllt wurden, die sich in einer ökonomischen Abhängigkeit befinden und die Opfer der Zensur und der Ausweisung werden. In diesem Sinne schafft sowie Raabe als auch Gaertner, eine selbstbewusste, bürgerliche „urbane Bildungslandschaft“, in der auch aktuelle Ereignisse und Machtverhältnisse der 1850er Jahre thematisiert werden. „Wie ein Gebäude aus den bunten Steinen eines Kinderbaukastens“: Reflexivität und intensivierte Visualität in der Erzählform Die literarische Historiografie über Raabes Chronik hat die großstadtfeindliche Stadtdarstellung des Romans betont und gezeigt, dass Raabes Berlinroman Baudelaires modernen Parisschilderungen aus der gleichen Zeit nicht das Wasser reichen kann.154 Obwohl die Erzählform des Romans zur Entwicklung der modernen urbanen Wahrnehmungsästhetik erheblich beigetragen hat, wird in der Forschung die ‚Modernität’ von Raabes Roman nur selten erwähnt.155 Im folgenden argumentiere ich, dass Raabes 154 Die großstadtfeindlichen Elemente Raabes Erzählung dominieren in den folgenden Analysen: Fairley (1961), Fries (1980), Klotz (1969), Maatje (1964), Meyer (1953), Scherpe (1989) und Richter (1968). 155 Heinrich Spiero charakterisiert Raabes Roman in der folgenden Weise: „Ein episches Verfahren [das] in vollem Umfang [...] erst im 20. Jahrhundert Schule gemacht hat“ (29) und Anke Glebert zählt Raabes 170 Roman im Ansatz bereits Elemente der modernen Großstadtprosa enthält, die sich in der montageartigen Erzählform des Romans, die einen Ort -- die Sperlingsgasse -- zum Erzähler avancieren lässt, in der Darstellung der Nervosität des Großstadtlebens, in der Schilderung der Abhängigkeit des kreativen Künstlers von der Stadt zeigt und in einer erhöhten Visualität manifestiert. Die Erzählstruktur muss auf den zeitgenössischen Leser wohl fremd gewirkt haben, wie Wachholders bester Freund, der Chronik-Mitschreiber und Karikaturenzeichner Strobel es auch bemerkt: „Wie Sie in diesen Blättern Vergangenheit und Gegenwart, Wahrheit und Dichtung durcheinanderwerfen, das ist denn doch des Guten zuviel (143).“ Die Erzählform der Chronik erinnere ihn, sagt Strobel, an Albrecht Dürer, der sich bei einer gewissen Gelegenheit zwar lobend über das Bild eines Malers aussprach – es stellte eine Jagdszene dar –, aber gestehen musste, dass er nicht wisse, welches die Hasen und welches die Hunde seien: „Wer darüber nicht konfus wird, der ist es schon!“ (143). Für die Erzählform wird von Wachholder immer wieder das titelgebende Genre Chronik benutzt und in der folgenden Weise definiert: Eine Chronik aber nenne ich diese Bogen, weil ihr Inhalt, was den Zusammenhang betrifft, gar sehr jenen alten naiven Aufzeichnungen gleichen wird, die in bunter Folge die Begebenheiten aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erzählen; die jetzt eine Schlacht mitliefern, jetzt das Erscheinen eines wundersamen Himmelzeichens beobachten; die bald über den nahen Weltuntergang predigen, bald wieder sich über ein Stachelschwein, welches die deutsche Kaiserin im Klostergarten vorführen lässt, wundern und freuen. Und wie die alten Molche hier und da zwischen den Pergamentblätter ihrer Historien und Messbücher hübsche, farbige, zierlich ausgeschnittene Heiligenbilder legten, so will ich ähnliche Blätter einflechten und durch die eintönigen, farblosen Aufzeichnungen meiner alten Tage frischere, blütenvollere Ranken schlingen. (BA I, 15) Chronik in ihrem Buch The Art of Taking a Walk zu den frühesten Beispiele einer „sesshaften Flanerie“ zusammen mit ETA Hoffmanns Des Vetters Eckfenster (18). 171 Diese personalisierte Genrebeschreibung widerspricht jedoch der offiziellen Definition der Chronik, die die Ereignisse in zeitlich genauer Reihenfolge darstellen sollte. Ziel der Chronik ist daneben die Geschehnisse in größeren Zeiträumen überschauend darzustellen, miteinander zu verknüpfen und eine Epochengliederung zu entwickeln. Chroniken verfolgen die Absicht zu belehren und versuchen, einen Zusammenhang zwischen christlicher Heilsgeschichte und profaner Weltgeschichte herzustellen.156 Wachholder alteriert diese Form zu seinen Zwecken und benutzt die Chronik als Medium bürgerlichen Selbstbewusstseins, als Autobiographie und als eine individualisierte Chronik gasamtdeutscher Geschichte. Durch mehrere Erzählungen reicht der berichtete Zeitraum bis zu den Napoleonischen Kriegen zurück, und in dieser Weise entsteht eine Chronik der deutschen Geschichte aus der Perspektive der Bewohner in der Sperlingsgasse. In der Beschreibung der Geschichte der Gasse und der Erinnerungen ihrer Bewohner fragmentiert der Erzähler Wachholder seine einsame, homogene Welt in ein Kaleidoskop von singulären Ereignissen. Die herkömmliche Erzählweise löst sich in der Auseinandersetzung mit dem Sujet Großstadt und der Mannigfaltigkeit ihrer Bewohner auf und kommt eine Narration zustande, die den extrem fragmentierten Großstadtromanen wie Rilkes Parisroman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und Döblins Berlin, Alexanderplatz den Weg bereitet. Da die umgebende Stadt im Roman kein festes Raumgefüge anbietet, bekommt der einzige feste Raum, die Sperlingsgasse, markante Konturen. Diese Konstellation charakterisiert Hermann Meyer prägnant: „Der eigentliche Zement indessen, der die aus 156 Chronik. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 2. 1955–2026. 172 den Fugen gegangenen und auseinanderstrebenden Zeitteile zusammenhält, ist der mit sich selbst identisch bleibende Raum, der enge Bezirk der Sperlingsgasse“ (105). Besonders in diesem Detail lässt sich die Modernität von Raabes Roman erkennen. Der rein räumlich inspirierte Text weist nämlich auf die berühmten Flaneurfiguren der 1920er Jahre voraus; Franz Hessels, Walter Benjamins und Siegfried Kracauers Berlin-Texte sind ebenfalls von Berliner Lokalitäten angeregt worden. Ihre Feuilletons und Berliner Kurzprosa sind fast ausnahmslos mit Berliner topografischen Namen – Pariser Straße, Kurfürstendamm, Tiergarten, Tempelhof etc. – überschrieben. Alle drei Autoren betonen eine Passivität des Erzählers, der der Stadt ohne etwas „Bestimmtes vorzuhaben“ zuhören und zuschauen, und als Empfänger seine Wahrnehmungen in einen Text umwandeln soll.157 Diese Umsetzung der traditionellen Subjekt-Objekt-Beziehung, in der die Straße aktiv erzählt und der Chronikschreiber die dort stattfindenden Ereignisse passiv aufschreibt, ist schon im 19. Jahrhundert vorhanden. Ludwig Börnes Zitat über die Stadt Paris, „Ein aufgeschlagenes Buch ist Paris zu nennen, durch seine Straßen wandern, heißt lesen,“ ist besonders in jüngster Zeit in den Interpretationen von Berliner Flaneurtexten aus den 1920er Jahren immer wieder zitiert worden.158 1929 beschrieb Franz Hessel Flanieren in einer ähnlichen Weise als „eine Art Lektüre der Straße, wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Cafeterrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten 157 Vgl. dazu: „Um richtig zu flanieren, darf man nichts Bestimmtes vorhaben“ (Hessel) oder „Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht man Schulung. Da müssen Straßennamen zu dem Irrenden so sprechen wie das Knacken trockener Reiser und kleine Straßen um Stadtinnern ihm die Tageszeiten so deutlich wir eine Bergmulde widerspiegeln“ („Tiergarten,“ 9). 158 Vgl. dazu Gleber 8-11. 173 eines immer neuen Buches ergeben” („Berlins Boulevard“ 145). Diese Kontinuität entsteht auch dadurch, dass der Paradeflaneur Franz Hessel in seinen Feuilletons auch Raabe und die Sperlingsgasse mehrmals erwähnt.159 Das oben dargestellte Verhältnis zwischen dem wahrnehmenden Autor und der wahrgenommenen Stadt findet man auch in Raabes Chronik. Immer wieder unterstreicht Wachholder die eigene Passivität bei der Verfassung der Chronik und weist dadurch auf die Aktivität der Straße hin: „Ich schreibe keinen Roman und kann mich wenig um den schriftstellerischen Kontrapunkt bekümmern; was mir die Vergangenheit gebracht hat, was mir die Gegenwart gibt, will ich hier, in hübsche Rahmen gefasst, zusammenheften“ (9-10).160 Die Gasse ist bei Raabe zugleich Veranstalter und Gegenstand der Erzählung. Obwohl Raabes Erzähler sich ausschließlich von einer einzigen Lokalität anregen lässt, die er sesshaft aus seinem Zimmer entdeckt, trägt diese neue Raumkonstellation zu einem Bruch mit der tradierten, herkömmlichen Erzählform bei. 161 Neben der Infragestellung der Autonomie des Erzählers erscheint die Modernität des Textes in der Akzentuierung der Nervosität der Großstadt und –wenn auch nur implizit – ihr produktiver Einfluss auf die künstlerische Tätigkeit Wachholders. Wie 159 Die Sperlingsgasse wurde eine der wichtigsten literarischen Lokalitäten in der 1920er Jahren. Franz Hessel besucht sie auch während seines Stadtrundgangs: “Sieh, da zur Rechten zweigt so ein Gässchen ab, Spreegasse heißt es und Raabes Sperlingsgasse, und da steht auch das Haus, in dem der Dichter gewohnt hat…” („Rundfahrt“ 65). 160 Vgl. auch dazu: „Einem Wässerchen will ich diese Chronik vergleichen, einem Wässerchen, welches sich aus dem Schoss der Erde mühevoll losringt und, anfangs trübe, noch die Spuren seiner dunkler schmerzvollen Geburtsstätte an sich trägt. Bald aber wird es in das helle Sonnenlicht sprudeln, Blumen werden sich in ihm spiegeln, Vögelchen werden ihre Schnäbel in ihm netzen. An dieser Stelle werdet ihr es fast zu verlieren glauben, an jener wird es fröhlich wieder hervorhüpfen. Es wird seine eigene Sprache reden in wagehalsigen Sprüngen über Felsen, im listigen Suchen und Finden der Auswege, -- Gott bewahre es nur vor dem Verlaufen im Sande!“ (BA I, 25). 161 Eine radikale Verwechslung von wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt beschreibt Rilke in dem Pariser Tagebuch von Malte Laurids Brigge: „Noch eine Weile kann ich das alles aufschreiben und sagen. Aber es wird ein Tag kommen, da meine Hand weit von mir sein wird, und wenn ich schreiben heißen werde, wird sie Worte schreiben, die ich nicht meine. [...] [d]iesmal werde ich geschrieben werden. Ich bin der Eindruck, der sich verwandeln wird“ (Rilke, Malte 47). 174 schon in der Einführung dieser Analyse erwähnt, beschreibt Wachholder die Sperlingsgasse, den Mikrokosmos des Makrokosmos, als einen Ort, der „lebendig genug [ist], einen mit nervösem Kopfweh Behafteten wahnsinnig zu machen und ihn im Irrenhause enden zu lassen“ (BA 2, 17). Diese Beschreibung der kleinen Gasse entspricht der psychologischen Grundlage großstädtischer Individualitäten, die der Soziologe Georg Simmel um die Jahrhundertwende prägnant aufgezeichnet hat. Nach Simmel erlebt man in der Großstadt eine „Steigerung des Nervenlebens,“ die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht. Trotz Wachholders selbstgewählter Isolation und des Mangels einer direkten Stadterfahrung ist hinter den Zeilen der Chronik ein Überfluss von Reizen erkennbar. Die Sperlingsgasse, ein Ort von „ununterbrochene[m] Strom des Gehens und Kommens“ (BA I, 25), fördert eine Multiplizität von rapiden, mannigfaltigen Reizen, die die tradierte Erzählweise umformen und Wachholder anregen, beim Verfertigen seiner Chronik neue Erzähltechniken anzuwenden. Die Großstadt begünstigt Wachholders Kreativität, dessen Chronik unter anderem von einem befreienden Gefühl, das man in der Stadt als Künstler erleben kann, zeugt. Wachholders kreative Tätigkeit ist abhängig von der Stadt, die ihm die Erzählmotivation und den Erzählstoff liefert. Jedoch hat diese Stadtsucht und die in der Großstadtluft erlebbare „Freiheit“ auch eine von Simmel am prägnantesten beschriebene Kehrseite, die in Raabes Chronik ebenso anwesend ist: Denn die gegenseitige Reserve und Indifferenz, die geistigen Lebensbedingungen großer Kreise, werden in ihrem Erfolg für die Unabhängigkeit des Individuums nie stärker gefühlt, als in dem dichtesten Gewühl der Großstadt, weil die körperliche Nähe und Enge die geistige Distanz erst recht anschaulich macht; es ist offenbar nur der Revers dieser Freiheit, wenn man sich unter Umständen nirgends so einsam und verlassen fühlt, als eben in dem großstädtischen Gewühl; 175 denn hier wie sonst ist es keineswegs notwendig, dass die Freiheit des Menschen sich in seinem Gefühlsleben als Wohlbefinden spiegele. (Hervorhebungen von mir, Simmel 199) Simmels Argument zeigt sachlich und gnadenlos, dass einem die Großstadt gewisse Unabhängigkeit sichert und künstlerischen Innovationen Raum gibt, jedoch bringt dieser Zustand nicht unbedingt ein emotionelles Wohlbefinden mit sich. Wilhelm Raabe, dessen Braunschweiger Skizze Einer aus der Menge (1858) als Antwort auf Edgar Allan Poes Man of the Crowd keineswegs die rauschhafte und verführerische Masse literarisch beschreibt, sondern in der verfallenen Großstadt nach Perlen und Kostbarkeiten sucht, macht auch in seiner Chronik einen resignierten Versuch, die bedrohte Einzigartigkeit und die emotionelle Stabilität des Individuums zu retten.162 Die Anwendung von modernen Erzähltechniken ist bei Raabe, wie in diesem Beispiel, oft mit traditionellen Inhalten ausgefüllt. Die Spannung zwischen tradierter Erzählung und moderner Großstadtwahrnehmung in Raabes Erstlingswerk erzeugt eine erhöhte Visualität und eine intensivierte Wechselbeziehung zwischen Literatur und bildender Kunst. Visualität und Modernität stehen in einem engen Zusammenhang miteinander.163 Die Hegemonie des Sehens wurde mit dem Diskurs des Urbanismus in der Moderne zum einen durch die von Georg Simmel analysierte Dominanz der Aktivität des Auges über die des Gehörs in die öffentliche Interaktion aufgenommen. Die Überlegenheit des Sehens erscheint auch bei Raabe, der seine Arbeitsweise in der folgenden Weise beschrieben hat: „Der Begriff war 162 In der Chronik schreit Wachholder: „Ich bin allein! – Allein.“ (BA I, 28) Heinz Brüggemann analysiert die Diskussionen und kulturwissenschaftlichen Analysen in der Einführung seines Buches, Architekturen des Augenblicks, und stellt fest, dass das Modell, in dem der Sinnesdiskurs in der Moderne durch eine Hegemonie des Sehens bestimmt ist, gestützt vor allem auf Heideggers Deutung des cartesianischen Perspektivismus als dem herrschenden visuellen Konzept neuzeitlicher Subjektivität (Die Zeit des Weltbildes, 1938), sich seitdem immer mehr zu einer Konvention verfestigt hat (12-3). 163 176 mir gar nichts, ich nahm alles aus der Anschauung“ (Zitiert nach Peter, 10).164 In der Chronik hat Raabe die Eigenart des zeichnerischen Gestaltungswillens von sich selbst auf den Erzähler übertragen. Wachholders Ziel ist es, die eintönigen, farblosen Aufzeichnungen der Chronik durch bunte Bilder aufzulockern und das in der Sperlingsgasse Geschehene bildhaft-anschaulich zu Papier zu bringen. Um dieses Ziel zu erreichen, soll der Erzähler nach Raabe nicht mehr als Schriftsteller, sondern als Maler tätig sein. Wachholder, der mehrfach über seine kreative Tätigkeit reflektiert, sagt explizite, dass er keinen traditionellen Roman schreibt: „ Ich male Bilder und bringe keine Handlung“ (BA I, 73). Im Folgenden analysiere ich die Spannung zwischen tradierter und moderner Stadtwahrnehmung in der Visualität des Romans, während die Arbeitstechniken des Schriftstellers mit denen des Malers verglichen und im oben erwähnten Kontext auch die Anwendung der erhöhten Perspektive – der Fensterblick und die Vogelschau – untersucht werden. Im „Traum- und Bilderbuch der Sperlingsgasse“ (BA I, 13) gibt es mehrere Referenzen auf die Arbeitstechnik des Malers und Schriftstellers. Raabe, der selbst gerne Skizzen anfertigte, völkerte die Sperlingsgasse mit mehreren Künstlern: Die wichtigsten Bekanntschaften Wachholders sind seine Künstlernachbarn, der Maler Ralff und der Karikaturist Strobel. Die Arbeitsweise des Malers, der einen flüchtigen, aber prägnanten Moment auf seinem Papier festhält, erweist sich als besonders hilfreich, wenn 164 Raabe, der Vorlesungen über Kunsttheorie in Berlin belegte, war wohl auch mit den Gedanken von Arthur Schopenhauer vertraut, der in seinem berühmten Buch Welt als Wille und Vorstellung die Anschauung als die wichtigsten Quelle aller produktiven Tätigkeit bezeichnete: „Die Anschauung ist es, welcher zunächst das eigentliche und wahre Wesen der Dinge, wenn auch noch bedingterweise, sich aufschließt und offenbart. Alle Begriffe, alles Gedachte, sind ja nur Abstraktionen... eine anschauliche Auffassung ist allemal der Zeugungsprozess gewesen, in welchem jedes echte Kunstwerk, jeder unsterbliche Gedanke den Lebensfunken erhielt. Alles Urdenken geschieht in Bildern“ (II. Teil, 3 Buch, 31 Kapitel). Der Protagonist des Romans Die Leute aus dem Walde liest auch Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung während seiner Ausbildung in der Stadt (BA 5, 162). 177 Wachholder die Vollständigkeit eines Ereignisses oder die Menge in der kleinen Gasse aufs Papier zu bringen versucht.165 Wachholder arbeitet mit dem Karikaturenzeichner Strobel zusammen, Strobel verfasst mehrere Seiten der Chronik und beide suchen nach Bildern, die sie im Text bzw. im Bild bannen möchten. Eine Verbindung ihres Arbeitsverfahrens tritt mehrmals im Roman auf. Strobel beobachtet zum Beispiel eine attraktive, mit ihrem Kind spielende Frau von seinem Fenster aus und bemerkt dabei: „Das Bild da drüben gehört hinein [in die Chronik], wie es in meine Skizzenmappe gehört“ (BA I, 36).166 Dieses Wechselspiel zwischen den beiden Gattungen trägt zweifellos zur innovativen Struktur des Romans bei. Anstatt einer linearen Erzählung, mit Lessings Terminus „Nacheinander von Handlungen,“ entsteht ein „Nebeneinander“ von Bildern in Raabes Chronik (Lessing 114). Nach Lessings Theorie kann Dichtung zeitliche Abfolgen darstellen und die bildende Kunst nur einen einzelnen Augenblick, „einen prägnanten Moment,“ wie zum Beispiel das obige Bild von der hinter dem Fensterrahmen mit ihrem Kind spielenden Frau.167 Raabes Erzähltechnik unterstützt eine gewisse Grenzüberschreitung zwischen Malerei und Dichtung, während er ‚Bilder’ aus der Sperlingsgasse nebeneinander reiht und über seine Schreibtechnik in der folgenden Weise reflektiert: 165 Dieses Phänomen erscheint auch in Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in dem besonders die Beschreibungen von öffentlichen Plätzen, die wegen ihrer Vollzähligkeit schwer zu beschreiben sind, höchstvisuell sind und von Cézannes Einfluss auf Rilkes zeugen (Tráser-Vas, 105). 166 Vgl. dazu auch die folgende Beschreibung Strobels über seine eigene Arbeitstechnik: „Und die seitwärts abführenden Holzwege? [...] Laufen alle der großen Straße wieder zu, nachdem sie an irgendeiner schönen, merkwürdigen, lehrreichen Stelle vorübergeführt haben. Ich, der Fußwanderer, habe nie so viel Erfahrungen für den Geist, so viel Skizzen für meine Mappe hineingebracht, als wenn ich mich verirrt hatte.“ (BA I, 76) 167 Karl Gutzkow ist der Erfinder des Romans des Nebeneinander (eine Theorie, die er in seinem monumentalen Roman Die Ritter vom Geiste in die Praxis übertragen hat), dessen Komposition Lessings Beschreibung der bildenden Künste evoziert. Gutzkow beschreibt die Aufgabe des modernen Schriftstellers in Ritter vom Geiste mit den folgenden Worten: „er [der Schriftsteller] sieht aus der Perspektive des in Lüften schwebenden Adlers herab. Da ist ein endloser Teppich ausgebreitet, eine Weltanschauung, neu, eigentümlich, leider polemisch. Thron und Hütte, Markt und Wald sind zusammengedrückt.“ 178 Ein Bild nach dem andern zieht wie in einer Laterna magica an mir vorbei, verschwindend, wenn ich mich bestrebe, es fest zu halten. O, es ist wahrlich nicht das, was mich am meisten fesselt und hinreißt, was ich auf das Papier festbannen kann; ein ganz anderer Maler müsste ich sein, um das zu vermögen. (BA I, 19) In dieser Charakterisierung der eigenen Narration wird die Anwendung einer Bilderkette beschrieben, die schon auf eine Form energetischer Stadtwahrnehmung weist. Die Metapher der Laterna Magica evoziert die Mechanisierung des Blickes und ein Streben nach realistischen Beschreibungen von genau beobachteten Szenen. Die Laterna Magica, auch Zauberlaterne genannt, ist eine Projektionsvorrichtung, die nach dem umgekehrten optischen Prinzip der Camera obscura funktioniert: Es handelt sich um einen Kasten mit einer Öffnung, in dem sich eine Lichtquelle befindet. Wachholders Blick aus seinem Fenster ist in einer ähnlichen Weise eine Öffnung auf die äußere Welt und in einem ästhetischen Sinn eine Bereitschaft für die Anwendung neuer Repräsentationstechniken. Der Erzähler gibt zu, dass er sich anstrengen muss, die schnell vorüberziehenden Bilder in seiner Chronik festhalten zu können. Wachholders Erklärung ist ein Ausdruck einer Krise in der ästhetischen Erfahrung der Großstadt, und sein Zweifel an der poetischen Souveränität in der Organisation des Materials. Jedoch sind die hier erwähnten Bilder Facetten aus der Vergangenheit und nicht Szenen aus dem zeitgenössischen Alltag der Großstadt. Wachholder muss also nicht mit einem sensuellen Überfluss zurecht kommen, sondern mit seiner eigenen Geschichte und Vergangenheit. Der Ich-Erzähler fügt aber hinzu, dass er sich nicht für diese Bilder interessiert und, dass er „ein ganz anderer Maler“ sein sollte, diese vorbeifliehenden Facetten der Vergangenheit in seiner Chronik festhalten zu können. In der schriftstellerischen 179 Selbstreflexion entsteht eine Definition der eigenen Schreib- bzw. Maltechnik. Der Erzähler Wachholder hat vor, Bilder der Vergangenheit und der Gegenwart „in hübschen Rahmen“ in einer neuen Art und Weise festzuhalten. In einer Oase in der Mitte des wachsenden Berlins formuliert Raabes Erzähler eine neue künstlerische Technik von in Rahmen gezwungenen Momentaufnahmen, die aus einem Dachstubenfenster skizziert werden. „In hübsche Rahmen gefasst“: Der Blick aus der Höhe bei Gaertner und Raabe Wachholders Position im obersten Stock der Gasse wird mehrmals, wie die Dachwohnung des Vetters bei E.T.A. Hoffmann, als der idealste Platz charakterisiert, um die Ereignisse der Stadt zu beobachten. Der Alte behauptet, dass „ein angehender Dichter oder Maler [...]nirgends anders wohnen dürfte als hier“ (11). Der greise Chronist betreibt ein „Fensterstudium“ und das Fenster wird die wichtigste Verbindung zur Welt draußen. Der Blick aus dem Fenster, wie in der Malerei der Spätromantik und des Biedermeier, verkleinert die äußere Welt und zähmt die unüberschaubar gewordene Umgebung. Wachholder erlebt die Stadt gerahmt, durch das Fenster, das als Filter – mit Simmels Terminologie als Stimulusschild – dient, um die äußere Welt zu bändigen. Dem Leser eröffnet sich also kein Panorama der Stadt, sondern nur ein verkleinertes und gleichzeitig idealisiertes Stück davon. Mit dem Fensterblick verwendet Raabe ein weiteres bekanntes 180 und beliebtes Motiv der zeitgenossischen Malerei und bietet dadurch seinen Lesern eine familiäre Perspektive an.168 Raabes Anwendung des Fensterblicks enthält aber eine Spannung zwischen tradierter Erzählform und moderner urbaner Stadtwahrnehmung insofern, als sie einerseits als eine moderne, fragmentierte Wahrnehmungsform des vereinzelten Subjekts der Großstadt angesehen werden kann und andererseits als eine melancholische Erfahrung und ein Rückzug auf das Selbst interpretiert werden kann. Das Fenster erscheint als ein paradoxes Medium, durch das die Mannigfaltigkeit der Sperlingsgasse beschreibbar und erfassbar wird. Zum einen fungiert es als eine Laterna Magica, vor deren Öffnung die äußere Welt verschiedene Bilder einschiebt und vorüberziehen lässt, zum anderen etabliert es feste Rahmen und eine kontemplative Distanz, durch die das Mannigfaltige fixiert werden kann. Das bedeutet, dass der Fensterblick eine dynamische Wahrnehmung der Großstadt fördert, während er gleichzeitig die unberechenbaren Reize der Außenwelt entschärft. Das Fenster mit seinen Rahmen bedeutet dem Erzähler zweierlei: es lässt ihn teilhaben während es ihn zur gleichen Zeit auch isoliert. Wachholder schildert von seinem durchaus privaten Standpunkt aus den privaten Alltag und die ihm vertraute Vergangenheit seiner Nachbarn. In der ihm gegenüber liegenden Wohnung Nr. 11 hat er sogar selbst gewohnt, bevor er hinüber ins Haus Nr. 7 umgesiedelt ist. Der Chronik-Mitschreiber Strobel zieht in Wohnung Nr. 11 wodurch Wachholder seine Verbindung zum alten Wohnort bewahrt. Während er die Chronik verfasst, pflegt Wachholder einen lebhaften Blickkontakt mit seiner alten Wohnung. Von Wohnung zu Wohnung spazierend gewinnt er nicht nur Einblick in die intimen 168 Deutsche Maler, die unter anderem bekannte Fensterblicke bemalt haben: CD Friedrich: „Das Fenster“, „Im Atelierfenster“; Louise Henry: „Mädchen am Fenster“; Moritz von Schwind: „Morgensonne“; Otto Scholderer: „Geiger“; Karl Spitzweg: „Der abgefangene Liebesbrief“, „Blumenfenster.“ 181 Alltagsszenen der Gassenbewohner, sondern auch in sein eigenes Leben. Wie Gaertner sich selbst in seine Gemälde einmalt, erscheint auch der Ich-Erzähler als wichtiger Protagonist im Roman. Wachholder wird jedoch nicht als selbstbewusster, freier Schriftsteller dargestellt, sonder als ein Intellektueller auf der Straße, deren künstlerische Tätigkeiten von den politischen Entscheidungen beschränkt werden. Die einzelnen Genreszenen, die er aus seinem Fenster beobachtet, werden benutzt, Wachholders Meinung über aktuelle politische Entscheidungen in einer verborgenen Weise an die Öffentlichkeit zu bringen. In diesem Sinne öffnet Raabes Protagonist das Fenster und wendet sich nicht nur der Gasse, sondern auch den aktuellen Ereignissen der Nachmärzzeit zu. Seine Entscheidung für die Limitation des Stoffes begründet er mit den folgenden Worten: Was kann ein Chronikerschreiber bei so bewandten Umständen Besseres tun, als sein Haus einzig und allein zum Gegenstand seiner Aufzeichnungen zu machen und die große Welt draußen, die allgemeine Gassengeschichte, gehen zu lassen, wie sie will? [...] Die Geschichte eines Hauses ist die Geschichte seiner Bewohner, die Geschichte seiner Bewohner ist die Geschichte der Zeit, in welcher sie lebten und leben... (Hervorhebung von mir, 92) Die so „bewandte[n] Umstände“ beziehen sich auf die Zensur und die fatalen Folgen des „politischen Hustens“, das der Gassenbewohner und liberale Journalist Wimmer begeht, und weswegen er aus der Stadt ausgewiesen wird. Die Beschränkung des Erzählstoffes und Erzählraumes sowie die Fensterrahmen selbst können also als geschickt gewählte Öffnungen verstanden werden, die resignierend die politische Entmündigung des Bürgertums thematisieren. Im Folgenden sollen drei Textstellen diese Technik demonstrieren, in denen die Beschreibung bestimmter Stadtteile eine wichtige Rolle spielt. 182 Eine städtische Ansicht eröffnet sich für Wachholder, als er sich die Ereignisse eines Sonntagausfluges in einem Wald am Stadtrand in Erinnerung ruft. Ein allumfassender, wenn auch unscharfer, nebliger Überblick über die große Stadt wird nur vom Wald aus gewährt. Beim Ausflug erscheint die Stadt in der Ferne: Wenn wir zurückblicken, liegt die große Stadt noch verhüllt in dem silbergrauen Duftschleier, den sie selbst sich webt und den sie, wie Penelope den ihrigen, nur zertrennt, um ihn von neuem zu knüpfen. Wie eingewebte Goldsterne blitzen die Kreuze der Türme – die Zeichen des Leids – darauf. (BA I, 79) Berlin ist in Nebel verhüllt und verfügt über keine festen Konturen. Wachholder sucht nach einer erhöhten Perspektive und identifiziert sich mit den Türmen der Stadt und deren symbolischer Bedeutung, jedoch kann er den stadtumgebenden Schleier nicht durchbrechen. Die Aussparung der Namen von spezifischen Lokalitäten impliziert eine Unvertrautheit mit der Großstadt. Wachholder, der dreißig Jahre seines Lebens in Berlin verbracht hat, scheut sich, seine Kenntnis der preußischen Hauptstadt preiszugeben und die soziale Realität der Großstadt außerhalb der Sperlingsgasse auszusprechen. Jedoch gibt es Anspielungen an bekannte öffentliche Plätze in Berlin, die andeuten, dass sich Wachholder in Berlin sehr wohl auskennt. Das Sprachrohr dafür ist aber der aus Berlin ausgewiesene Journalist Wimmer, der das gleiche Stadtbild in der folgenden Weise schildert: Ha, da liegt sie – die Undankbare, in welcher ich meine Nächte durchwachte und meine Tage verschlief – Sänger und Sängerinnen, Schauspieler und Schauspielerinnen, Ballettänzer und Ballettänzerinnen lobte oder herunterriss – in welcher ich so manchen Leitartikel schrieb“ [...] „Nest! – Brüste Dich mit Deinen Gardeleutnants, Deiner famosen Musenbude, die ich dort über die Dächer zwischen dem Pfeffer und Salzfasse regen sehe; ich verachte Dich, ein deutscher Zeichnungsschreiber!“ [...] Kehren wir dem Nest den Rücken zu! (BA I, 79) 183 Das sich zwischen dem „Pfeffer und Salzfasse“ befindende, als „Musenbude“ bezeichnete Gebäude ist Schinkels Schauspielhaus auf dem Gendarmenmarkt, das in den früheren Abbildungen als wichtiger Ort der bürgerlichen Öffentlichkeit dargestellt wurde. Die Erwartungen auf eine Demokratisierung wurden aber nicht erfüllt, was in der obigen Aussage Wimmers zu Tage kommt, der resigniert und enttäuscht über seine journalistische Tätigkeit berichtet.169 Berlin wird als „Nest“ bezeichnet, was mit den ironischen Stadtbeschreibungen von Heine überein klingt, der die preußische Residenzstadt in seinen Briefen aus Berlin einen „Krähwinkel“ genannt hat.170 Außer dem Sonntagausflug in den Wald übernimmt Wachholder mehrere Spaziergänge in der Stadt und beschreibt dabei Marktplätze, den Prachtboulevard Unter den Linden und auch einen Ausflug im Lustgarten.171 Der kürzeste Ausflug findet während der Nacht mit einer Nachbarin Helene Berg statt. Sie ist die Tochter des Grafen Seeburg, der Vater des Freundes Franz Ralff, der Wachholders Nachbarn war. Mit der Figur des Grafen erscheint im Roman eine Adelskritik, die durch paradigmatische Motive der adeligen Verführung aus dem 18. Jahrhundert in den Text eingebaut wird.172 Helene 169 Vgl. dazu besonders die Beschreibungen des Theaters als „Schreiers Hunde- und Affenkomödie,“ „eine buntgeschmückte Bude.“ Das Theater hat dabei das Ziel, „die ästhetische Ausbildung des Hundes zu erfrischen. [...] „Affen und Äffinnen, Hunde und Hündinnen machten ihre Kunststücke, und die Bretter bedeuteten hier eine Welt, und Affe und Äffin, Hund und Hündin betrugen sich wie Menschen“ (BA I, 128). 170 Heine schreibt folgendermaßen über Berlin: „Ich habe es längst gewusst, dass eine Stadt wie ein junges Mädchen ist, und ihr holdes Angesicht gern wiedersieht im Spiegel fremder Korrespondenz. Aber nie hätte ich gedacht, dass Berlin bei einem solchen Bespiegeln sich wie ein altes Weib, wie eine ächte Klatschlise , gebehrden würde. Ich machte bei dieser Gelegenheit die Bemerkung: Berlin ist ein großes Krähwinkel.“ (124) 171 Wachholder verlässt seine Wohnung acht mal während der Verfassung der Chronik. Die Exkursionen führen entweder in den Friedhof, zu Maries Grab oder in den Wald außer der Stadt. Innerhalb von Berlin besucht er einen Weihnachtsmarkt und kurz Wimmers Redaktion. Wachholders Spaziergänge finden in der Nacht statt, wenn er sich mit der gewöhnlichen Menge der Stadt nicht auseinandersetzen soll. 172 Franz’ Mutter Louise wird von dem Grafen verführt und der aus der Beziehung stammende Sohn, Franz Ralff, Wachholders Kindheitsfreund, von dem Onkel Burchhard in einem Wald erzogen. In der Geschichte erscheint das schon aus dem 18. Jahrhundert bekannte Schema über die unstandesgemäße Liebe und Verfehlung der Adeligen gegen die bürgerliche Moral. Mehr dazu siehe Göttsche 33. 184 Berg zieht in die Sperlingsgasse und Wachholder wird bei einem Besuch auf einen Ring mit dem Wappen der Grafen Seeburg, das eine Schlange (Zeichen der Verführung) darstellt, aufmerksam. Nachdem Helene Berg über das Umherirren des Grafen und sein unglückliches Leben erzählt, machen sich die Frau und Wachholder in der Nacht auf dem Weg: Noch an demselben Abend trug ich [den Ring] auf die Königsbrücke, und warf ihn weithin in den Storm, nachdem ich ihn in zwei Stücke zerbrochen hatte. Helene lehnte neben mir am Geländer, und schweigend gingen wir zurück in die Sperlingsgasse zu unsern Kindern. (BA I, 105) Durch die glückliche Liebe der Kinder, Elise Ralff, die nach dem Tod der Eltern von Wachholder erzogen wird und Gustav, Helene Bergs Sohn, werden die Konflikte der früheren Generationen versöhnt. Symbolisch wird der Familienring von der Königsbrücke in die Spree geworfen und durch den ausgewählten Ort und die komplexe Geschichte der Grafenfamilie eine durchdachte Zeitkritik über die Enttäuschungen der bürgerlichen Hoffnungen auf ein konstitutionelles Deutschland verdeutlicht. Die königliche Familie und die Adligen erscheinen in einer weiteren Geschichte, in der über den Tod des Sohnes der Balletttänzerin erzählt wird. Obwohl sich Wachholder während des tragischen Ereignisses die ganze Zeit in der engen Dachstube der kleinen Familie befindet, unternimmt er eine fiktive Reise durch die Stadt. In einer Vision beschreibt er die parallelen Begebenheiten in dem Unter den Linden liegenden Operhaus: Der König, die Königin und das Publikum haben sich erhoben; -- der schwere goldbesternte Vorhang rollt langsam nieder. [...] die arme Choristin ist halb bewusstlos an einer Kulisse zu Boden gesunken [...] mit dem herzerreißenden Schrei: ‚mein Kind! mein Kind! [...] Wir in dem kleinen Dachstübchen haben das nicht gesehen, nicht gehört, aber jeder kürzer werdende Atemzug des sterbenden 185 Kindes sagte uns, was dort in dem lichterglänzenden, musikerfüllten Gebäude am andern Ende der großen Stadt geschehe. (BA I, 125) So wie Elises Medizin „wie die oktroyierte Verfassung“ schmeckt, stellt die obige Szene eine Zeitkritik dar, an der Aussichtslosigkeit der unteren gesellschaftlichen Schichten und der mitleidlosen Großstadt. Im Gegensatz zu Gaertners Panoramagemälde, in denen die öffentlichen Plätze Berlins gefeiert werden, benutzt Raabe die gleichen Orte, um ein Urteil über die Verhältnisse der Nachmärzzeit zu äußern. Der Schriftsteller artikuliert eine Skepsis gegenüber den in Berlin stattfindenden Ereignissen und zeigt, dass der Preis des Fortschritts nicht die Zerstörung individueller Leben sein darf. Ein allumfassender Blick wird in Bezug auf Berlin nie benutzt. Eine richtige Vogelperspektive wird in der Chronik für einen ganz bestimmten Zweck reserviert, nämlich um - statt Berlin - den bekannten Herkunftsort, das provinzielle Ulfelden zu beschreiben: Was ist das für eine kleine Stadt zwischen den grünen buchenbewachsenen Bergen? Die roten Dächer schimmern in der Abendsonne; da und dort laufen die Kornfelder an den Berghalden hinauf; aus einem Tal kommt rauschend und plätschernd ein klarer Bach, der mitten durch die Stadt hüpft, einen kleinen Teich bildet, bedeckt am Rande mit Binsen und gelben Wasserlilien, und in einem anderen Tal verschwindet. Ich kenne das alles, ich kann die Bewohner der meisten Häuser mit Namen nennen; ich weiß, wie es klingen wird, wenn man in dem spitzen, schiefergedeckten Turm jener hübschen alten Kirche anfangen wird zu läuten. ... Und das ist Ulfelden, die Stadt meiner Kindheit, -- das ist meine Vaterstadt! (BA I, 19-20) Die Erhaltung der Vogelperspektive für die Beschreibung der naturverbundenen, organischen Kleinstadt zeigt deutlich, dass Wachholder nur über diesen provinziellen Ort volle Kontrolle hat. Die Großstadt dagegen erscheint als eine unlenkbare Macht, der man sich nur durch den verhübschten Fensterblick annähern kann. Jedoch bedeutet die obige Beschreibung nicht, dass Raabes Roman mit einem binären Darstellungsschema – 186 ‚Wunschbild Land und Schreckbild Stadt’ – charakterisiert werden kann. Durch die harsche Adelskritik wird auch die ländliche Idylle der Provinz in Frage gestellt. Ein letzter umfassender Blick aus der Höhe wird von der von Wachholder erzogenen Tochter Elise Berg beschrieben. Während eines Ausfluges durch Unter den Linden in die Richtung Lustgarten erzählt Elise „an dem Becken des lustig im Mondschein sprudelnden Springbrunnens“ über einen seltsamen Traum und ein wunderbares Märchen.173 Im Traum wird sie am Fenster sitzend auf kleine „zauberische Wesen“ aufmerksam und ihnen folgend schwebt sie langsam zum Fenster: Ich hatte durchaus keine Frucht, trotzdem dass es da draußen wie eine verzauberte Welt war. – Die ganze Gasse war ein Gewirr von Tönen und Licht [...] Dabei hatte ich nicht die Fähigkeit verloren, die gröbere, gewöhnliche Welt zu schauen und zu vernehmen; ich kannte und belauschte die Leute in den Haustüren, die Kinderköpfe in den Fenstern, die schlafenden Sperlinge und Schwalben in ihren Nestern; es war wunderhübsch! (BA I, 156) Während ihres Gassenfluges beschreibt Elise in die Fenster einblickend verschiedene Szenen: Das kranke Kind der armen Frau Nudhart, den alten Marquart im Keller und „das Strickzeug in den Händen“ haltend die Frau Hofrätin Zehrbein. Elise schildert eine Kette von biedermeierlichen gemütlichen Genrebildern aus der Sperlingsgasse in der Mitte Berlins sitzend. Im Kontrast zu Wachholder ist ihre spielerische Schilderung einer Idylle im Herzen der Stadt. 173 Vgl. dazu Elises„Mondscheinfahrt“: „Die scharfen Schatten auf dem Pflaster und an den Häuserwänden, das Glitzern der Fensterscheiben, die ziehenden, beleuchteten Wolken am dunkeln Nachthimmel, die flüsternden Gruppen in den Haustüren und an den Straßenecken, alles wird nun zu einem Bild für Gustav, zu einem Märchen für Elise. Da beleben sich die Straßen, Gassen und Plätze mit den wundersamen Gestalten; auf den Ecksteinen lauern, zusammengekauert, grimmbärtige Kobolde; aus den dunkeln Torwegen der alten Patrizierhäuser treten seltsame Gesellen mit nickenden Federn und weiten Mänteln und schöne Damen besteigen weiße Zelter, in die Nacht davon reitend; Söldner im Harnisch, die Partisanen auf den Schultern, ziehen über den Markt; Prozessionen vermummter Mönche winden sich langsam aus dem Domportal aus alles liegt morgen, in den hübschesten Skizzen festgebannt, auf Elisens Nähtischchen, oder treibt sich auf dem Fußboden umher“ (BA I, 157). 187 Die verschiedenen auf Berlin angewandten Perspektiven bieten in Raabes Roman eine Vielfalt von Lebenserfahrungen dar. Die aus dem Reservoir der biedermeierlichen Stadtgemälde mobilisierten Szenen erfüllt Raabe mit genau komponierten Einbindungen und subtiler Zeitkritik. Statt der selbstbewussten Bürger der postnapoleonischen Zeit, die in den Gemälden von Gaertner erscheinen, schildert Raabe Berlin als einen Ort der verfehlten Erwartungen und gescheiterter Hoffnung nationaler Erneuerung. Schlussfolgerung Eine wachsende Großstadt umgibt die Sperlingsgasse, jedoch erfährt der Leser nur zwischen den Zeilen, dass diese Stadt Berlin ist. Im Verlauf der Erzählung werden Berlins Lokalitäten nur hier und da erwähnt, aber nie im Detail beschrieben.174 Die „große Stadt“ bleibt im Roman, dessen Titel paradoxerweise den Namen eines sehr spezifischen Ortes der Berliner Altstadt trägt, namenlos.175 Im starken Kontrast zu den unscharfen Silhouetten der Großstadt treten die Räumlichkeiten der Sperlingsgasse, Wohnungen, Zimmer und Fenster in den Vordergrund und werden in genausten Details beschrieben. Diese räumliche Organisierung und die anscheinend formlose, mosaikartige Erzählung ist jedoch ein streng durchkomponiertes Werk.176 In der Komposition werden 174 Raabe erwähnt in seinem Roman Berlin fast nie explizit: „Ein Student in der Philosophie in der großen Haupt- und Universitätsstadt“ (BA I, 15); „wenn die Fensterscheiben nicht so gefroren wären, könntet ihr den Turm der neuen Sophienkirche sehen, die gebaut wurde, nachdem die alte abgebrannt ist“ (102). Sporadisch werden einige Berliner Lokalitäten genannt, aber nie richtig beschrieben: Johanniskirchhof, Sophienkirche, Butter und Wagener am Gänsemarkt, Wassertor, Grüner Tor (216), Fontainenplatz, Goldfische füttern (248), Gustav: Schnollys Konditorei, Gemüsemarkt, bal champêtre in Wasserhof („Der Weg dahin ist gar nicht schön“ Faust über den Wasserhof). 175 Die Bezeichnung “die große Stadt” bezieht sich bei Raabe konsequent, auch in seinen späteren Romanen, auf die Stadt Berlin. Vgl. dazu Fuld 67, Klotz 168. 176 Vgl. dazu die Werke von Brand, Maatje und Göttsche, die Raabes Chronik als eine Sammlung von Widerspieglungen und als rigide durchstrukturierte Doppelform lesen. 188 bekannte Bilder der Berliner Vedutenmalerei benutzt und mit tagespolitischen Inhalten ergänzt und neu geschrieben. Raabe beschreibt keineswegs die verführerische Masse in der Großstadt, sondern sucht nach einer verlorenen Welt und kritisiert die bestehenden Verhältnisse durch die Lebensgeschichten der Bewohner der verborgenen Straßen. Wachholder, wie viele andere Raabe Protagonisten, schützt sein eigenes Territorium. Diese scheinbar ländliche Idylle funktioniert jedoch als eine harsche, umfassende Zeitkritik, in der auch die öffentlichen Plätze der Stadt eine wichtige, oft symbolische Rolle spielen. Berlin funktioniert als ein ständig präsenter Reiz des Fremden, dem Wachholder nicht widerstehen kann. Seine kreative Tätigkeit ist völlig abhängig vom urbanen Raum, was eine Spannung ins Leben ruft: Einerseits ist die Stadt eine drohende, fremde, mitleidslose Macht, anderseits erlebt Wachholder sie als einen befreienden Raum, in dem er künstlerisch und literarisch kreativ inspiriert wird und schriftstellerisch experimentieren kann.177 Zu diesem Experimentieren gehört zweifellos sein Versuch, im Roman eine erhöhte Beziehung zwischen Malerei und Literatur ins Leben zu rufen und so einen Text zu produzieren, dessen Visualität und frühe Montagetechnik zur radikalen Umwandlung der herkömmlichen Erzählweise in den kanonisierten Großstadttexten des 20. Jahrhunderts erheblich beigetragen hat. Das Erbe des Biedermeier weiterführend verwendet Raabe ein komplexes, selbstreflexives Darstellungsverfahren in den Blättern seiner Chronik, die eine würdige Position im Kanon der Berlin-Texte des 19. Jahrhunderts verdient. 177 Die Chronik ist unter anderem ein literarisches Experiment, in dessen Verfassung der Leser, der regelmäßig angeredet wird, mehrmals einbezogen wird. 189 KAPITEL 4.: Berlin-Topographien in ausgewählten Werken Wilhelm Raabes Einführung „Die Geschichten, die ich selber erlebe, sind mir ein sehr schätzbares Material zur Weiterbildung und Vervollkommnung meiner Individualität [...] Ich lernte von den Pflastersteinen in der Gasse und den Wänden meines Zimmers, und von den letzteren, sowie von der Decke und dem Fußboden fast noch mehr als von den ersteren, denn sie waren sehr dünn und pflanzten die Schallwellen eher fort, als dass sie dieselben aufhielten.“ (Theklas Erbschaft) Autobiographische Geschichten in Berlin sind in dem Raabeschen Oeuvre von besonderer Bedeutung. Die obigen räumlichen Beschreibungen, die Pflastersteine der Gassen und die Zimmerwände, können mit Raabes erstem und bedeutendestem Berlin Aufenthalt sowie mit seinem Debütroman verbunden werden. Im Gegensatz zur Fensterblick und zu Wachholders erhöhter Perspektive in der Chronik bekommen die untere Welt der Stadt, „der Fußboden“ und der in der Großstadt Geschichten sammelnde Erzähler eine wichtige Rolle in mehreren nachkommenden Romanen von Raabe. In einem späten Text, der unter dem an Edgar Allan Poes The Man of the Crowd anspielenden Titel „Einer aus der Menge“ veröffentlicht wurde, charakterisiert Raabe die in der Stadt Geschichten sammelnden Erzähler als „Lumpensammler“ und „Kehrichtdurchschauer“ (BA II, 45). Der Protagonist erscheint auf den Pflastersteinen von Berliner Gassen sowie in intimen inneren Räumen und sucht nach einer Geborgenheit im Treiben der Welt und nach Schätzen und Perlen der Vergangenheit. Die Suche nach Sicherheit und die Wichtigkeit der intimen inneren Räume erscheinen auch in Raabes Zeichnungen. In jeder Stadt, in der Raabe eine längere Zeit verbracht hat, Berlin, 190 Braunschweig und Stuttgart, verewigte das Doppeltalent sein Arbeitszimmer in einer Zeichnung. Abbildung 18: Wilhelm Raabes Zimmerzeichnungen aus Berlin und Stuttgart In den Federzeichnungen erscheinen jedoch nur Interieurs und nie die äußere Wirklichkeit der entsprechenden Städte. In dem vierten Kapitel der Dissertation werden ausgewählte Werke vom Raabeschen Oeuvre mit den zeitgenössischen malerischen Repräsentationen Berlins verglichen, um die ästhetischen und thematischen Ähnlichkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Drei Romane mit drei verschiedenen Themenkreisen und Erzähltechniken stehen im Zentrum des Kapitels: Altstadtromantik und Großstadtinteresse in Ein Frühling (1857), die Darstellung der Industrialisierung und die Anwendung der Vogelperspektive in Die Leute aus dem Walde, Ihre Wege, Sterne und Schicksale (1863) und die Schilderung der Berliner Vorstädte sowie der Universität in Die Akten des Vogelsanges (1895) und in malerischen Repräsentationen. Die drei Romane sind drei verschiedene Annäherungen, um die Komplexität Berlins darzustellen und können auch dazu benutzt werden, die künstlerische Entwicklung Raabes in Bezug 191 auf seine Berlin-Repräsentationen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu analysieren. In dem ersten Roman, Ein Frühling, werde ich Raabes Vorliebe für die Vorstädte, den Übergang von der Altstadt zu dem Stadtrand diskutieren und sein Text mit der biedermeierlichen Vedutenmalerei und mit Werken der zeitgenössischen Berlinischen Malerei vergleichen. Ein Frühling hat noch mehrere Elemente aus der Chronik, jedoch weist der Text schon auf Raabes Spätinteresse in Bezug auf Berlin voraus. Den zweiten Text, Die Leute aus dem Walde, benutze ich, um Raabes Anwendung der erhöhten Perspektive (Turmblick und Vogelschau) im Kontext der zeitgenössischen Literatur, und Malerei zu analysieren. Dabei werden Werke aus dem ganzen 19. Jahrhundert benutzt und Raabes Einzigartigkeit in dieser Repräsentationsform erklärt. Das letzte Segment dieses Kapitels widmet sich einem Universitätsroman und vergleicht dabei Raabes Thematisierung der Berliner Nachbarschaften mit einem Gemälde von Adolph Menzel und die Darstellung der Berliner Universität mit Eduard Gaertners berühmten Universitätslithographie. Die drei Romane wurden mit dem Ziel ausgewählt, um die Vielfältigkeit von Raabes Berlin-Darstellungen zur Schau zu bringen und chronologisch drei verschiedene Repräsentationsphasen zu analysieren. Trotz der verschiedenen Themen und Topographien wird Berlin jedoch in allen drei Texten oft mit den gleichen semantischen und erzähltechnischen Mitteln charakterisiert, was ermöglicht, die wichtigsten Komponenten von Raabes „Berlinischen Geschichten“ zu definieren. In den Analysen werden einerseits Gemälde von Adolph Menzel aber auch von der Biedermeierzeit in Betracht gezogen. Es werden auch nicht-fiktive Berlin Texte von Julius von Rodenberg und Friedrich Sass benutzt, die als Berliner Chronisten über die 192 Folgen der Industrialisierung, Gasbeleuchtung, Wasserversorgung, Linienverkehr aber auch von den Entwicklungen wie Verarmung, Verelendung, Verwahrlosung und Prostitution berichtet haben. Ziel ist in den kulturwissenschaftlichen Interpretationen von literarischen Texten einen breiten Kontext in Betracht zu ziehen und die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den gemalten und verdichteten Stadtrepräsentationen herauszuarbeiten und eine partielle Typologisierung von den Berlin-Bildern Raabes aufzustellen. Raabes Berlin-Bilder sind mehr als Repräsentationen einer unbekannten Stadt aus der Ferne, die im Nebel verhüllt und durch einen Schleier angeschaut wird, sondern es sind komplexe Darstellungen von zahlreichen zeitgenössischen Problemen über Großstadtentwicklung und Modernisierung sowie bewusste Einschreibungsversuche in den schon existierenden literarischen und malerischen Kanon von BerlinRepräsentationen des 19. Jahrhunderts. „Ich bin unendlich froh, dass ich den Berliner Schwindel los bin!“: Berlin und Raabe nach der Chronik Obwohl Raabe nach dem Erfolg der Chronik nie wieder eine längere Zeit in Berlin verbracht hat, hat die Stadt auch auf seine späteren Werke einen prägnanten Einfluss ausgeübt. Berlin erscheint in zahlreichen Texten; der Germanist Albert Lorenz zählt „fast zwanzig Werke,“ in denen die Hauptstadt ganz oder teilweise thematisiert wird (40). In diesen Texten kommt es zu Tage, dass Raabe die Realitäten der Hauptstadt in den späteren Jahren seines Lebens nur indirekt kannte, da in den späteren Texten seine Jugenderinnerungen dominieren. Raabes Berlin-Erfahrung ist stark ambivalent geblieben: Trotz aller haftenden Eindrücke und nachhaltenden Erinnerungen, die Raabe mit seinen 193 Studienjahren in Berlin verband und die auch in seine Romane einen Weg gefunden haben, hat Raabe die Stadt nach dem Universitätsstudium vermieden. In der jüngsten Zeit haben mehrere Raabe Biographen nach den Gründen dieser Vermeidung gefragt und spekuliert, warum Raabe nie wieder in Berlin sesshaft werden wollte. „In Berlin nicht zu ermitteln“ ist der Titel von Horst Denklers Beschreibung von Raabes Beziehung zu Berlin nach dem Erfolg der Chronik. Diese Analyse beginnt mit einer Geschichte, die die Ambivalenz in Raabes Beziehung zu Berlin klar macht. Berliner Postbeamte haben nämlich einen falsch adressierten Brief an den Schriftsteller nach Braunschweig weitergesandt, was zeigt, dass Raabes Wohnsitz zu seiner Zeit auch in Berlin vermutet werden konnte. Die Geschichte macht aber auch klar, dass die Berliner Postbeamten besser gewusst haben als ihre Kollegen in der Provinz, die den Brief nicht zustellen konnten, wo der berühmte Schriftsteller lebt. Nach Horst Denkler hatte Raabe mehrere Gründe, Berlin nicht sehen und besuchen zu wollen: Er wollte Vieles verdrängen und er nahm an viele Sachen (Literaturbetrieb, Erfahrungsbereiche des Intimlebens) Anstoß. Raabe erlebte in Berlin eine Auflösung der alten Sittlichkeitsbegriffe, wobei, wie Friedrich Sass es beschrieb „parisische Lebenselemente sich geltend machen“ (Sass 27).178 Nach seinen Biographen soll der junge Schriftsteller in der Leipziger Straße Tanzunterricht genommen und dafür seine Schiller-Ausgabe versetzt haben.179 Raabe besuchte auch gern das Theater und die Figuren des Theaterlebens, besonders Balletttänzerinnen, erscheinen in mehreren Berlin-Texten. Faszination wie Anstoß sind mit diesen Figuren und Erlebnissen verbunden, was eine Komponente der oben 178 179 Vgl. auch dazu Glassbrenners Beschreibung Berlins als „modernes Babylon“ (Glassbrenner I, 46). Vgl. dazu Fritz Hartmann 27. 194 erwähnten Ambivalenz konstituiert.180 Als Beispiele sind die arme Balletttänzerin in der Chronik und die Sängerin Alida in Ein Frühling zu nennen, die beide liebenswürdige, jedoch mit Distanz beschriebene Figuren sind. Zweitens hatte der Schriftsteller Probleme an der Universität und auch zu dem ‚gelehrten Berlin’ eine zwiespältige Beziehung aufgebaut. Strenge Hochschulordnung und repressive Innenpolitik waren nämlich mit der Berliner Universität in der Schul- und Bildungspolitik der Restauration verbunden. Horst Denkler zeigt in seinem Artikel Spuren der Selbstbefreiung Raabes von den Uniprofessoren, indem der Student Wörter wie „Autodidactik“, „Kunstfleiß“ und „selbstschöpferische Freiheit“ notiert.181 Einerseits war die Berliner Universität dem wissensdurstigen Studenten Orientierungshilfe, jedoch distanzierte sich Raabe selbst bald vor der „Kunst und Litteratur-Stadt“ Berlin.182 Durch seine Universitätsstudien in Berlin wurde für Raabe die preußische Hauptstadt vor allem zum Bildungserlebnis und erscheint auch in seinen Romanen immer wieder als Universitätsstadt. Das Thema zeigt sich am markantsten im Roman Die Akten des Vogelsangs und wird auch in diesem Kapitel untersucht. Wichtig ist zu erwähnen, dass Raabe Berlin nach 1857 nie wieder besucht hat. Es sei ihm nicht möglich, wie er schreibt, „einen Platz wieder zu betreten,“ von dem er 1857 „mit der festen Überzeugung weggegangen“ sei, „dort nie in weiten Kreisen wieder einen Widerhall zu finden“ (zitiert nach Goldammer 58). Raabe wollte sich jedoch mit Berlin aus der Distanz, als Schriftsteller der Provinz literarisch auseinandersetzen und seine 180 Sängerinnen und Balletttänzerinnen erscheinen in den ersten zwei Berlin-Romanen (Die Chronik, Ein Frühling). 181 Raabe „begann er sich bereits aus der politisch geknebelten und wissenschaftlich verknöcherten Universität herauszutasten“ (Goldhammer 50) 182 Horst Denkler zeigt auch, was Raabe in sein Tagebuch während eines Berlin-Aufenthaltes eingetragen hat: „Imaginationen. Ich imaginiere. Ich imaginiere mich in mich hinein.“ (Tagebucheintrag Oktober/November 1857). 195 Stadtfantasien enthüllen Angst und Faszination gleichzeitig. Nach Volker Klotz und Charlotte Jolles bleibt Berlin - wie in der Chronik - auch in den späten Berlin-Romanen anonym (Jolles 55, Klotz 76).183 Das kommt einerseits in einer Namenlosigkeit (Berlin wird „die Millionenstadt“, „die Allerweltstadt“ etc.), anderseits in der Anwendung von fiktiven Straßen zu Tage. Die im ersten Berlin-Roman erfolgreich angewandte Topographie, die eine enge Straße als den Hauptort wählt, erscheint auch in den späteren Berlin-Romanen. Es gibt eine gute Zahl von Berliner Straßen in den späteren Berlin-Romanen: die Dunkelgasse in Ein Frühling, die Musikantengasse in Die Leute aus dem Walde, die Grinsegasse in Der Hungerpastor, die Schulzenstraße Im alten Eisen. Im Gegensatz zu der Spreegasse befinden sich jedoch diese Gassen nicht mehr im Zentrum der Stadt, sondern in ärmlichen Viertel der wachsenden Stadt. In diesem Sinne gibt es eine Verschiebung in der Anwendung des Gassentopos in den der Chronik nachfolgenden Werken. Berlin aus der Ferne betrachtend literarisiert Raabe nicht nur viele zeitgenössische Probleme, wie die sozialen und ökonomischen Folgen der Industrialisierung, sondern er webt in den Texten auch seine Jugenderinnerungen ein mit reichen Referenzen auf die biedermeierliche Vedutenmalerei sowie auf die zeitgenössischen Tendenzen in den malerischen Repräsentationen Berlins. Viele von den Stadtbeschreibungen findet man auch in den zeitgenössischen Stadtgemälden Berlins, die nach der Revolution sowohl thematisch, als auch ästhetisch veränderten. 183 Eine oft zitierte Technik Raabes, die Stadt anonym darzustellen, sind Beschreibungen in denen Berlin im Nebel oder hinter einem Schleier dargestellt wird. Ein solches Bild wurde im dritten Kapitel behandelt, jedoch erscheint auch im zweiten Berlin-Roman (Ein Frühling) von Raabe. Dieses Mal erscheint die Mitte der Stadt im Nebel verhüllt: „Der Graf Richard Hagenheim stand am Fenster des Vaterhauses, die Arme über der Brust gekreuzt, hinausschauend in das weiße Meer des Morgennebels, der den weiten Opernplatz fast ganz verhüllte. Die gegenüberliegende Häuserreihe war dem Auge vollständig entzogen, gespensterhaft schaute das Operhaus selbst durch den Schleier, welcher es verdeckte, und nur der eherne Apollo, der auf der Giebelspitze sein Viergespann lenkt, trat klarer in der reinern, höhern Luft hervor“ (BA I, 406). 196 Exkursus: Berliner Stadtmalerei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Um die Gemäldewahl in den nächsten Textanalysen zu begründen, soll zuerst ein kurzer Exkursus in die Geschichte der Berliner Stadtmalerei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemacht werden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielte das Thema Stadtansichten bis in die achtziger Jahre in der deutschen Malerei eher eine untergeordnete Rolle. Die Berliner Malerei, wie das dritte Kapitel in Bezug auf Gaertner und seine Zeitgenossen zeigt, hatte in der Biedermeierzeit auf dem Gebiet der Stadtdarstellung wichtige Leistungen erbracht, jedoch verlor sie in den Jahren nach der 1948er Revolution zunehmend an Bedeutung. Das heißt, dass es in Raabes Schaffenszeit eine geringere Zahl von bedeutenden Stadtgemälden gab als in der vorrevolutionären Zeit. Nach 1871 vermochte die Hauptstadtfunktion keinerlei Impulse für eine Weiterentwicklung der Malerei zu geben. Erst durch den Einfluss der französischen Malerei, besonders des Impressionismus, erhielt die Berliner Kunst, die zu diesem Zeitpunkt weit hinter München stand, entscheidende Anregungen (Bothe 173). Erst um 1900 war Berlin wieder zur führenden deutschen Kulturmetropole aufgestiegen. Eine Ausnahme innerhalb des Niedergangs der Berliner Kunst bildete Adolph Menzel (1815-1905), der bereits in den vierziger Jahren die Stadt als Bildthema entdeckte und stilistisch einen völlig neuen Weg einschlug. Sein Bruch mit der Tradition erscheint in ästhetischen und thematischen Bereichen, wie in der Anwendung einer vorimpressionistischen Malweise und in der Entdeckung des unmittelbaren Lebensbereiches und in der Darstellung von Elend und Armut. 197 Die Entdeckung der Berliner Gegenwart manifestiert sich in einer Vielfalt von Themen und in Bezug auf Raabes Berlin-Texten sind Menzels Repräsentationen der ausdehnenden Stadt und die Folgen der regen Bautätigkeit von besonderer Bedeutung. Wichtig ist hier zu erwähnen, dass, nach dem Kunsthistoriker Karl Arndt, kein anderer als Adolph Menzel den größten künstlerischen Einfluss auf den zeichnenden Raabe geübt hat (133), besonders mit seinen Abbildung 19: Adolph Menzel, Maurer auf dem Bau (1875) Buchillustrationen. Arndt vergleicht mehrere Skizzen Raabes mit Menzels Buchillustrationen und kommt zur Schlussfolgerung, dass Menzel in Raabes Formensprache sowie im thematischen Bereich eines der wichtigsten Vorbilder war (135). Diese Beziehung wird in der Analyse der malerischen Darstellung der berlinischen Vorstädte bei Menzel und Raabe in dem letzten Teil dieses Kapitels demonstriert. Beide, Maler wie Schriftsteller, zeigen besonderes Interesse für die Thematisierung des Stadtrandes während der zunehmenden Urbanisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 198 Neben der Darstellung von Stadtbauten, Industrialisierung und den Folgen des Wachstums, was besonders bei Menzel eine wichtige Rolle bekommt, haben Maler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das alte Zentrum Berlins für eine kurze Zeit wiederentdeckt (Bothe 180). Nach den Befreiungskriegen war die Darstellung mittelalterlicher Bauten zum bestimmenden Thema der Architekturmalerei geworden, wie Werke der Vedutenmalerei aus dieser Zeit demonstrieren. Die Gemälde in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts konzentrierten sich nicht mehr auf die neuen Stadtteile und funktionierten als eine Kritik der biedermeierlichen Veduten- und Architekturmalerei. Die Kritik an der Architekturmalerei verschärfte sich nach 1860, als sich die stimmungsvolle und auf oberflächliche Beleuchtungseffekte zielende Darstellung von Bauten immer stärker auf die Wiederholung konzentrierte. Die nüchterne Wiedergabe von Straßen und Plätzen einer regelmäßig gebauten Stadt wurde zum Opfer der Kunstkritik und war nicht mehr der Gegenstand malerischen Interesses. Gleichzeitig wurde das Aufkommen der Fotographie als Konkurrenz angesehen und hat auch den Geschmack der Kunstkunden verändert. Im Gegensatz zu den Vedutenmalern, deren Gemälde die neusten Einrichtungen Berlins thematisierten, haben Maler in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Altstadt entdeckt. Ihr Interesse galt aber nicht nur den mittelalterlichen Kirchen (wie in den Zeichnungen von Friedrich Gilly und Karl Friedrich Schinkel), sondern der historischen Stadtgestalt als Gesamtorganismus vom Mittelalter bis weit ins 19. Jahrhundert, sofern er als gebauter Lebensraum gefährdet war. Viele Gebäude wurden kurz von ihren Abbrüchen (z.B. Berliner Rathaus) gemalt. Der Kunsthistoriker Rolf Bothe charakterisiert diese Tendenz mit den folgenden Worten: „Die Maler wurden zu 199 Bewahrern der Geschichte und nur bedingt zu Chronisten ihrer Zeit“ (182). Dabei gab es aber keine kritische oder anklagende Darstellungen über die Zerstörung der alten Stadtteile, sondern eine objektive Schilderung der aktuellen Bauverhältnisse und Veränderungen. In diesem Sinne arbeiteten die Maler als Chronisten, die die zeitgenössischen Umgestaltungen in ihren Darstellungen nüchtern zur Kenntnis genommen haben. Die folgenden Bilder sind Beispiele für diese Annäherungen: Abbildung 20: Georg Schöbel, Mühlendamm und Fischerbrücke (1890) 200 Abbildung 21: Rudolf Dammeier, Die Spree längs der Stralauer Straße (1882) In der bildenden Kunst blieb die kritische Auseinandersetzung mit der Stadt vorrangig auf die Gebrauchsgraphik beschränkt. Aus den 80er Jahren gibt es einige Graphiken von Max Klinger, die sich mit den sozialen Problemen und dem Pauperismus in den Vorstädten und Berliner Hinterhäusern auseinandersetzen. Mordszenen, Familiengewalt, Armut und Kriminalität sind die wichtigsten Themen in diesen graphischen Darstellungen. Außer diesen graphischen Repräsentationen gab es im neuen Deutschen Reich vorrangig Gemälde, die, wie schon oben gezeigt, im Gegensatz zu den technischen und industriellen Entwicklungen eine städtische Vergangenheit betonten. Abbildung 22: Max Klinger, Ein Mord ist geschehen (aus dem Opus „Dramen“, 1882) 201 Der Exkursus in die Geschichte der Berliner Stadtmalerei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weist wesentlich zwei Richtungen auf. Einerseits gibt es ein allgemeines Interesse für die alte, vergangene Zeit, die man in Gemälden, die die Altstadt darstellen, entdecken kann. Andererseits gibt es auch Beispiele, die die aktuellen architektonischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen repräsentieren. Dass die Doppelbegabung Raabe in seinen späteren Berlin-Werken oft besonders diese zwei Strategien anwendet, rechtfertigt die Nebeneinanderstellung von Gemälden mit den literarischen Texten. Neben den zeitgenössischen malerischen Tendenzen mobilisiert Raabe auch Abbildungen Berlins, die aus der Biedermeierzeit stammen. Die bekannten Bilder werden jedoch mit neuen Inhalten aktualisiert, wie es schon im Fall der Chronik analysiert wurde. Ein Frühling: Zwischen Altstadtromantik und Großstadtinteresse (1857) Den zweiten Roman Raabes, den er nach der Fertigstellung der Chronik 1857 verfasst hat, nennt der Erzähler – den Chronisten Johannes Wachholder evozierend – ein buntes „Frühlings-Bilderbuch“ (BA I, 285). Der Text war von Ende Juni bis Anfang August in der Deutschen Reichszeitung abgedruckt worden, die in dem Braunschweiger Verlag Friedrich Vieweg & Sohn erschien. Der Schauplatz ist immer noch Berlin, jedoch verändert sich die urbane Topographie der preußischen Hauptstadt und während einige ästhetische Merkmale mit der Chronik verbunden werden können, weisen andere schon auf die Rolle, die Berlin in den Spätwerken prägt, hin. Die Gestalten in diesem Roman leben wie diejenigen in der Chronik in kleinen Berliner Gassen. 202 Die Enge der zentralen Gasse, wie in der Chronik, treibt ganz verschiedene Leute zusammen und funktioniert als ein zusammengedrängter Raum und eine schroffe Abbildung der sozialen Diversität der Großstadt: Eng, steil und dunkel sind in der Dunkelgasse die Treppen der Häuser, die Wände salpeterglänzend, der Boden feucht und moderig [...]. Bleich und abgemagert sind die Gesichter der meisten Bewohner in der Dunkelgasse; Haufen schmutziger, zerlumpter Kinder – Pilzgeschlecht! – kauern auf den Treppenstufen der Häuser... Eine Runzel auf dem Gesichte der großen Stadt ist die Dunkelgasse. (BA I, 190) Wie aber schon das obige Zitat und die Namen der Gassen, die in diesem Text bewohnt werden, die Dunkelgasse und die Blutgasse, implizieren, bekommen die Realitäten der Großstadt in diesem Roman viel dunklere Farben als in der Chronik. Die zitierte Beschreibung der Dunkelgasse steht mit der Sperlingsgasse in einem starken Kontrast, da sie nicht mehr als Oase funktioniert, sondern als eine komplexe Abbildung der sozialen und ökonomischen Realitäten der modernisierenden preußischen Hauptstadt.184 Diese ästhetische Wendung in der Darstellung Berlins ist auch das Resultat von Raabes poetischer Entwicklung, der nach dem Erscheinen der Chronik in ein Heft die folgende ästhetische Reflexion eingetragen hat: „Niemals eine bloß ins Kleine malende Schilderung, sondern stets durchwoben mit lebenden Bildern. – Leben! Leben! Leben! – Plastik!“ (BA I, 475). Im Gegensatz zu der Chronik, deren Beschreibung in der Sekundärliteratur als eine Kette von „genrehaften Szenen“ immer wieder betont wurde, wollte sich Raabe nach seiner Aussage in den nächsten Werken von dieser Bezeichnung befreien und statt biedermeierlichen Genreszenen plastische und lebendige Bilder verdichten.185 Diese poetische Verwandlung wird in diesem Segment des Kapitels in der 184 Pauperismus und Elend erscheint auch in der Sperlingsgasse, jedoch dominieren diese Bilder mehr in dem zweiten Roman. 185 Einige Figuren aus der Chronik erscheinen in diesem Werk. Die arme Tänzerin lebt in der Gestalt Angela weiter und der Karikaturenzeichner Strobel, sein Grabdenkmal, wird auch besucht: „Ulrich Georg 203 topographischen Darstellung (und Neuschreibung) Berlins durch eine räumliche und intermediale Analyse herausgearbeitet. Wie viele der zeitgenössischen Berlin-Gemälde aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kann der zweite Berlin-Roman Raabes als eine Mischung von Altstadtromantik und Großstadtrealitäten charakterisiert werden, in dem auch bekannte Bilder der biedermeierlichen Malerei mit neuen Inhalten ausgefüllt werden. Diese Mischung erscheint auch in der Suche nach dem titelgebenden Frühling in der Großstadt: „Wo ist der Frühling? [...] in der großen Stadt, wo Fesseln und Gefängnisse, Krankenbetten und Särge, alles Böse und Traurige, welches der Menschheit anklebt, am meisten zu finden ist, müssen wir ihn suchen!“ (BA I, 370). Die Stadt wird schon in den ersten Seiten des Romans mit Tod, Elend und Armut in Verbindung gebracht, jedoch hofft der Erzähler, dass er, wie andere „Suchende“ in Raabes BerlinTexten, in der Mitte des Elends Schönheit und Idylle schaffen kann. Diese Ideale werden durch die Protagonistin Klärchen Aldeck zum Ausdruck gebracht. Klärchen wird auf dem Lande, in einem Kloster groß und träumt sich „unter Vögelzwitscher, Orgel- und Glockenton und dem Gesang der Domgemeinde [...] ins Selbstbewusstsein hinein“ (BA I, 182). Nach der kurzen Beschreibung der ländlichen Kindheit erscheint die großgewordene Klärchen jedoch selbstbewusst und wie eine eingeborene Berlinerin im Herzen der preußischen Hauptstadt und ihre Anpassungsfähigkeit und selbstsichere Bewegung in der Stadt findet der Erzähler faszinierend.186 Der Erzähler folgt Klärchen in Strobel! [...] Ein Maler Tochter! Einer von jenen Einsamen, die von denen welche den Namen Gottes stets im Munde führen und denen doch die Welt leer ist von Gott, nie begriffen werden! In Neapel lernte ich ihn kennen, ehe ich nach Rom kam [...] Ruhe sanft, Ulrich Strobel!“ (400). Obermeier: „Soll ein vertaufter Gesell gewesen sein, dieser Strobel!“ (BA I, 401) 186 Vgl. auch dazu: „Was suchst du hier in der hässlichen, schmutzigen Stadt?“ (BA I, 179) 204 der Stadt und bezeichnet sie als „ein Kind der Gassen“ und ihre Geschichte als „ein Gassenmärchen“ (BA I, 185). Der anonyme Biograph Klärchens reflektiert oftmals über seine Erzählstrategie und enthüllt dabei seine fehlenden Kenntnisse über die Topographie Berlins: „Jetzt aber müssen wir unserm Klärchen folgen. Drei Stufen für eine nehmend, springt sie die Treppe hinab und ohne Furcht hinein in den Regennebel der Straße“ (BA I, 189) [...] „Ich bin vollständig zu Ende mit meiner Ortskenntnis. Willst du deinen Biographen Hals und Beine brechen lassen?“ (BA I, 201). Es gibt jedoch auch Stellen, die von der Allwissenheit des Erzählers zeugen, der sich in der Mitte der Stadt sowie am Stadtrand gut auskennt.187 Klärchen, auch „Caritas der Gasse“ genannt, verkehrt ohne Schwierigkeiten zwischen den alten und neuen Stadtteilen, zwischen armen und reichen Haushalten und erscheint „in dumpfen Kellerhöhlen“ sowie „in windigen Dachstuben“ (BA I, 190). Mit dieser Strategie schafft der Erzähler einen vielfältigen urbanen Raum, in dem die bei Raabe schon in der Chronik angewandten engen Gassen nur eine partielle Rolle bekommen. Neben fiktiven Gassennamen, den „dunklen Gangen, welchen nur der hier genau Bekannte ohne Gefahr für Hals und Beine beschreiten [können]“ (BA I, 187), wie die Dunkelgasse und die Blutgasse, erscheinen auch viele reale Orte in Berlin. Einige Adressen von diesen öffentlichen Berliner Orten werden präzis angegeben: Hörsäle der Universität, das renommierte Putzgeschäft der Madam Mecker in der Königsstraße, die Firma Hack und Kompanie: Mineral- und Drogeriehandlung in der Innenstadt, Rauchzimmer von einer Konditorei und die Geschäftsgewölbe des alten Kleiderhändlers 187 Vgl. dazu zum Beispiel die folgende Aussage des Erzählers: „Schon einmal haben wir in einer Nacht – der Walpurgisnacht – die große Stadt durchwandert, die Gestalten unseres Frühlingsbilderbuchs aufzusuchen. Dasselbe müssen wir jetzt tun“ (BA I, 302). 205 Jakob Rosenstein (BA I, 357), um nur einige zu nennen. Die Mischung von realen und fiktiven Ortsangaben und Berliner Adressen hat eine doppelte Wirkung. Einerseits spricht der Text Leser an, denen die Topographie Berlins bekannt ist, andererseits wird die Stadt im Roman poetisiert und Orte als Metapher benutzt. Dem letzteren Ziel dient auch die Strategie, Gestalten durch ihre Berliner Adressen zu charakterisieren: z.B. Alida, die weltberühmte Sängerin wohnt in der Mitte der Stadt in der Ritterstraße Nr. 16. und das vielgeprüfte und verarmte Geschwisterpaar Georg und Eugenie am Stadtrand in der Blutstraße Nr. 6., in einem Haus, das auch als „Zur scharfen Ecke“ bekannt ist und durch eine blutige Geschichte belastet ist. In der Darstellung von öffentlichen Plätzen der Hauptstadt, wie die Umgebung des Opernplatzes und Orte Unter den Linden, benutzt Raabe oft aus der biedermeierlichen Vedutenmalerei bekannte Bilder. Das folgende Zitat schildert die Umgebung der Oper, die aus dem Fenster eines Unter den Linden liegenden Hauses beschrieben wird: „Der Alte stand auf und schlug den Fenstervorhang etwas zurück; noch glühte die Quadriga auf der Giebelspitze des Opernhauses im letzten, roten Stahl der Abendsonne“ (BA I, 330). Ein aus den Gemälden der biedermeierlichen Architekturmaler bekannter Ort, das Opernhaus, wird durch die von den Vedutenmalern bevorzugten Lichteffekte, wie der abendlichen Wärme, charakterisiert. Raabe mobilisiert jedoch auch die zeitgenössischen Techniken in der Charakterisierung der wachsenden Hauptstadt, wenn er neben der Evozierung der Vedutenmalerei das Großstadtinteresse sowie die Altstadtromantik der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schaffenden Berliner Maler teilt. 206 In Ein Frühling stellt Raabe durch die urbane Topographie sowie durch die Figurenkonstellation ein Panorama aller Schichten der hauptstädtischen Gesellschaft dar und bezieht auch die Welt außerhalb der Stadt in den Roman ein. Neben der Hauptdarstellerin, dem Waisenkind Klärchen Aldeck, lernt der Leser Intellektuelle (der Naturforscher Privatdozent Dr. Justus Obermeier, Doktor Hagen, Antiquar Seibold und der Student Georg Leiding), Künstler (Sängerin Alida aka Lida Mayer) und kleinbürgerliche Geschäftsführer und Mädchen des damaligen Berlins (z.B. Louis Schollenberger und Ruth Rosenstein) kennen. Durch die reichen und armen, auf verschiedenen Stufen der sozialen Leiter stehenden Figuren ergibt sich ein komplexes Stadtbild, in dem enge Dachstuben der Armut ebenso viel Raum bekommen wie die reichen, geräumigen Häuser in der Prachtstraße Unter den Linden.188 Die Dichotomie zwischen Armut und Reichtum charakterisiert die Dunkelgasse besonders, wie das folgende Zitat zeigt: „Eine Runzel auf dem Gesichte der großen Stadt ist die Dunkelgasse! [in der] die Gegensätze pikant sind, weil Lumpen malerisch sein können“ (BA I, 190). Die Ungleichheiten existieren jedoch noch ziemlich harmonisch nebeneinander und dabei funktioniert Klärchen,189 die „Caritas der Gassen“, als eine Verknüpfungsfigur, die mit allen gesellschaftlichen Schichten in Verbindung steht und deren Charakter eine einzelartige Hilfsbereitschaft in der großen Stadt verkörpert.190 188 Vgl. dazu: „Die Fenster der Dachstube, zu welcher Klärchen hinaufsteigt, sind mit armseligen, zerrissenen Vorhängen verhüllt.“ (BA I, 191) und „In der glänzenden, meistenteils von der vornehmen Welt bewohnten Königsstraße befindet sich das elegante Magazin der großen Modistin Madam Adelaide Mecker, née Bollenberg“ (BA I, 346). 189 Soziale Status von Klärchen: „Als eine zu Hause Arbeitende steht Klärchen gewissermaßen zwei und einen halben Zoll höher in der menschlichen Gesellschaft als diese eingesperrten Vögelchen der Madam Mecker“ (BA I, 253). 190 Im Gegensatz zu Mitleid und Hilfsbereitschaft in den Nachbarschaften vgl. das folgende Zitat im Spätwerk, Im alten Eisen: „In der ganzen, großen Stadt Berlin hatte niemand von denen, die helfen konnten, -- auch keine Frau – eine Ahnung davon, was sich nebenan ereignen sollte, der Zeit nach gerechnet von diesem Sonntagmorgen bis zum Morgen des nächsten Mittwochs. Nebenan, das ist wohl ein 207 Eine weitere Dichotomie in der urbanen Topographie erscheint in der Darstellung von Kultur und Natur. Je mehr Schornsteine und Fabriknamen erscheinen in den der Chronik folgenden Berlin-Texten, desto schwerer wird es den Großstadtbewohnern, die Natur zu finden. In den späteren Texten besteigen die Protagonisten hohe Türme, um grüne Flecken in der Stadt lokalisieren zu können. Diese Technik, um die Folgen der Urbanisierung darzustellen, erscheint schon im zweiten Roman Raabes, dessen Erzähler in der Mitte der Stadt immer wieder nach dem Frühling sucht: Wir sind in einem kleinen Stübchen, ziemlich nahe dem Dache, in einem der hohen, finsterblickenden Häuser der Dunkelgasse [...] Ein einziges, aber ziemlich breites, tief in die Wand eingelassenes Fenster erhellt den Raum, zeigt über den gegenüberliegenden Dächern und Schornsteinen ein lustiges Stück blauen Himmels zwischen den ziehenden Wolken des letzten Aprils und erlaubt einen mutwilligen Sonnenschein“ (BA I, 177) Nicht nur Bäume und Natur, sondern auch Sonnenschein und Licht sind im Raabeschen Berlin schwer zu finden. Viele von den Ereignissen finden in der Nacht statt und auch der Name der Dunkelgasse enthüllt Raabes Vorliebe für Schatten, Konturen und Düsterkeit. Die obigen Dichotomien werden durch Hoffmannschen Erzählstrategien verstärkt und dadurch entsteht ein Berlin-Text, der mehrere Referenzen auf Hoffmanns bekannte „Berlinische Geschichten“ enthält.191 Wie Julius Rodenberg benutzt auch Raabe ein von Hoffmann erfundenes Inventar, um die Komplexität Berlins zu veranschaulichen, eine ästhetische Tradition weiterzuführen und sich in den Berlin-Kanon einzuschreiben. Bestimmte Gebäude, wie ein seltsames Haus am Opernplatz Unter den Linden, „das öde Haus“ genannt oder der Rote Turm, sowie Geister und Gespenster in Berlin sorgen für etwas enges Begriff für eine so weitläufige Stadt wie die Stadt Berlin; aber alle diejenigen, die nachher zuerst in den Zeitungen [...] von dem Vorgefallenen zu lesen bekamen, hatten doch sämtlich das Gefühl, dass die Geschichte dicht neben ihnen selbst an passiert sein.“ (BA XVI, 341) Charlotte Jolles schreibt über die „Verlorenheit der Toten“ (64), Anonymität, Verlassenheit und Tod in der Stadt in Raabes Werken. 191 Für eine Analyse über den Einfluss, Hoffmann auf Raabe in anderen Werken ausgeübt hat, siehe Schultz’ Aufsatz. 208 die Hoffmannsche Atmosphäre. Wenn Georg Leiding zum Beispiel in der Nacht zum Operplatz eilt, wird die Stadt in der folgenden Weise geschildert: Was er [Georg] in dieser Nacht denken konnte, hatte sich plötzlich in Wesen und Fleisch und Blut verwandelt, in heimtückische Kobolde, böse Quälgeister, die ihn grinsend umtanzten und die zu fangen er im wilden Lauf durch die Straße eilte. [...] Die Quälgeister, die bösen Gedanken, kletterten an den Mauern herauf, sie klammerten sich an die Karyatiden. (BA I, 343) Karyatiden, Mauern und die realen Bausteine der Stadt werden mit Kobolden und Geistern belebt, wodurch es klar wird, dass Raabe in der literarischen Repräsentation der Stadt neben seinen persönlichen Beobachtungen und Kenntnissen über die aktuellen Entwicklungen Berlins, schon früher existierende literarische Traditionen aufnimmt. In dieser Weise entsteht eine Wechselbeziehung zwischen der physischen Umgebung Berlins und der literarischen Repräsentationen der preußischen Hauptstadt: nicht nur die Stadt fördert die literarische Fantasie, sondern literarisierte Stadtbilder schaffen Erwartungen für die Leser von Berlin-Texten und bauen eine fiktive Stadt auf. Die Beschreibung des Palais des einstigen Ministers von Hagenheim am Opernplatz im 15. Kapitel, mit dem Titel „Das öde Haus“ überschrieben, greift am anschaulichsten auf Hoffmann zurück: Weil mir das Haus öfters aufgefallen ist; bei Tage durch seine wunderbare, fast lächerliche Rokokobauart und des Abends oder bei Nacht durch jenen Schatten dort an den Fenstern. [...] Am Tage mag das Palais des alten Ministers wohl auffallen durch die potenzierteste Ausbildung des Rokokostils, aber jetzt, im Dunkel der Nacht, wo der Schein der Laternen nur hier und da die hervorragendsten Schnörkel der Säulen und Karyatiden trifft, hat es bei seiner imposanten Front etwas unheimlich Finsteres. (BA I, 226-27)192 192 Vgl. dazu das folgende Zitat: „Das Zimmer war öde und unbehaglich, die wenigen Gerätschaften verschwanden fast ganz darin; einige Stühle, ein Tisch bedeckt mit Buchern, chirurgischen und physikalischen Instrumenten, bildeten die ganze Ausstattung“ (BA I, 353). 209 Der Erzähler, der wie schon früher gezeigt, über seine Erzähltechnik oft laut Gedanken ausspricht, reflektiert über diese Beschreibung mit den folgenden Worten: „der Dämon, den wir heraufbeschworen haben, damit er die bunten Bilder in die Zauberlaterne dieses Kapitels schiebe“ (BA I, 227). Die Intertextualität mit Hoffmann, die Anspielungen auf den „Vater des Berlinischen Romans“ und die Anwendung der in der deutschen Literatur schon existierenden Topographie machen den Roman einen Berliner Großstadttext. Außer den Hoffmann-Anspielungen erscheinen auch viele neue Elemente in der Darstellung Berlins, besondern in der Schilderung der alten Stadtteile. Wie viele der zeitgenössischen Maler widmet sich auch Raabe der Altstadt und versucht Bilder der Vergangenheit wieder ins Leben zu rufen und die Aufmerksamkeit seiner Leser auf das Wachstum der Stadt und die Veränderungen im Stadtbild zu lenken. In dem folgenden Absatz versucht der Erzähler, das Aussehen der nicht mehr existierenden Stadtmauer zu rekonstruieren: Auf dem Plane der Stadt könnt ihr noch an den zickzacklaufenden letzten Häuserreihen der Altstadt die einstige Grenze des Weichbildes und den Zug ihrer jetzt verschwundenen Mauern und Bollwerke deutlich erkennen. Jenes alte Gemäuer, der Rote Turm, ist noch eins der vielen niedergerissenen Stadttore. ’s ist ein prächtiges Stück Mittelalter, dieser alte Torturm, und eben seiner seltsamen Bauart verdankt er seine Erhaltung, während alle seine früheren Genossen nur noch in den rohen Holzschnitten einiger Stadtchroniken fortleben. Am Ende der Blutgasse bildet er einen finstern Torweg, und von ihm aus lief sonst nach beiden Seiten hin die Stadtmauer weiter fort. (BA I, 201) Neben der akkuraten Beschreibung der heutigen und einstigen Bauverhältnisse bemerkt der Erzähler, dass die alte Stadt nur in Holzschnitten in alten Stadtchroniken aufbewahrt worden ist. Diese Strategie sowie die Suche nach der Geschichte von einzelnen 210 Gebäuden193 ergänzt die verdichtete Stadt mit dokumentarischen Quellen und arbeitet bewusst, wie die zeitgenössischen Maler, als Chronist. Gleichzeitig verweist die spezifische, private Geschichte der Blutgasse pars pro toto auf die öffentliche Geschichte Deutschlands. Diese Strategie erscheint auch in der Chronik, wenn Johannes Wachholder durch das Abschreiben der Geschichte der Sophienkirche oder durch das „Märchen“ einer alten Frau eine knappe Chronik der napoleonischen Kriege und der nachfolgenden Jahre verewigt. Das Ineinanderweben von Fiktion und Dokumentation charakterisiert auch die Berlin-Topographie der nachkommenden Romane. Die Analyse der urbanen Topographie von Raabes zweitem Berlin-Roman in einem breiten Kontext zeigt, dass sich der Schriftsteller in den früheren und zeitgenössischen malerischen und literarischen Repräsentationen der preußischen Hauptstadt gut auskennt und sie in seinem Berlin Text erfolgreich und vielfältig mobilisiert. Raabes Berlin evoziert das Erbe des Biedermeiers sowie das von Hoffmanns dämonischem Berlin, jedoch setzt es sich auch mit den derzeitigen Entwicklungen der Stadt auseinander. Durch die literarische Anwendung und Komplizierung der literarischen und malerischen Repräsentationen von dem zeitgenössischen und dem vergangenen Berlin wird Raabes Ein Frühling ein wahrhaft intermediales Produkt des 19. Jahrhunderts. 193 Zur scharfen Ecke: „Renovatum anno Domini MDIX. ist auf einem in die Mauer eingelassenen Stein des Hauses Numero sechs zu lesen. In jener wilden Nacht, nach welcher man die Gasse umtaufte und ihr den Namen gab, den sie heute noch führt, hatte sich ein verzweifelnder Haufen der Angreifer in dieses Gebäude geworfen. Es entstand ein schrecklicher Kampf“ (BA I, 272). 211 „Sieh nach den Sternen, gib acht auf die Straßen“: Die Anwendung der Vogelperspektive in Die Leute aus dem Walde, ihre Sterne, Wege und Schicksale (1863) Die Darstellung von Städten aus einer Vogelperspektive war immer ein mit Vorliebe benutztes Motiv der Stadtmalerei. Die Vogelperspektive oder Luftschau bedeutet eine kartenverwandte Darstellung, die dem Blick auf eine Landschaft aus einer größeren Höhe entspricht und als eine schräge Geländedarstellung charakterisiert werden kann. Die hohen Standpunkte, von denen Städte in Holzschnitten und Gemälden verewigt wurden, waren aber oft fiktiv, da dem Maler kein entsprechender Stadtpunkt zur Verfügung stand. Die Darstellungen aus fiktiven Standpunkten sind wichtige Leistungen und zeigen einerseits frühe städtebauliche Zusammenhänge (Wellmann 19), andererseits sind sie Zeichen des Strebens danach, den eigenen Wohnort übersehen zu können. Die in erster Linie aus der Malerei bekannte Vogelperspektive aus fiktiven und realen Stadtpunkten wurde auch in der Stadtliteratur im 19. Jahrhundert mit Vorliebe benutzt. Dieses Segment des Kapitels untersucht zunächst ihre Anwendung in einer Zahl von literarischen Primärtexten und theoretischen Ansätzen, um ihre Komplexität zu verstehen und die Analyse dieser Perspektive in Raabes Berlin-Roman Die Leute aus dem Walde, Ihre Wege, Sterne und Schicksale vorzubereiten. Als Ausgangspunkt sollen die frühesten gemalten Gesamtansichten Berlins aus dieser Perspektive erwähnt werden. Die ersten Vogelperspektive anwendenden Stadtansichten stammen aus dem 17. und 18. Jahrhundert und die meisten LuftschauAnsichten Berlins aus dieser Zeit zeigen Bauvorhaben und hängen mit der kartographischen Landaufnahme zusammen (Wellmann 19). Die Beispiele von Johann 212 Friedrich Fechhelm (Der Tempelhofer Berg mit Blick auf Berlin, 1781) und von Johann Georg Rosenberg (Berlin von den Rollbergen zu sehen, 1786) sind zwei repräsentative Gemälden aus dieser Epoche. Beide stellen eine geordnete Landschaft dar und schildern weniger die Stadt. Die Wegesysteme in die Stadt werden detailliert gemalt und in der Stadt nur die Türme von bestimmten Kirchen (z.B. der deutsche und französische Dom bei Rosenberg) und das Schloss (bei Fechhelm) machen Berlin identifizierbar. Beide Gemälde zeigen Berlin als die preußische Metropole zur Zeit ihrer Blüte und sind Produkte von der Landschaftsmalerei sowie der sich etablierenden Stadtmalerei. Abbildung 23: Johann Georg Rosenberg, Berlin von den Rollbergen zu sehen (1786) 213 Abbildung 24: Johann Georg Rosenberg, Ansicht Berlins mit dem Halleschen Tor, aufgenommen am Tempelhofer Berg (um 1785) Eine sehr ähnliche Stadtansicht benutzt Raabe in dem Roman Der Hungerpastor (1864).194 Das 15. Kapitel des Romans beschreibt eine Szene über das Ankommen von Hans Unwirrsch in der Stadt. Während der Einfahrt in die Stadt wird Berlin vom Kreuzberg gesehen, wie wir es nur noch von den obigen Gemälden kennen, auf denen die Stadt einen fast gemütlichen Eindruck macht. Dem Erzähler kommt aber die Stadt gar nicht als eine harmonische Einheit vor und Hans beschreibt sie in der folgenden Weise: Mit Stauen und Schrecken starrte Hans auf den feurigen Schein vor ihm und horchte auf das dumpfe Rollen und Summen, welches aus einer unendlichen Tiefe dicht zu seinen Füssen zu kommen schien. „Das ist die Stadt“ sagte der Leutnant Goetz. „In einer halben Stunde sind wir an den Barrieren und in einer Stunde im Grünen Baum bei den Neuntötern. (BA VI, 201) Das Grüne als Schutz und Natur (auch durch den Namen der Unterkunft „Der Grüne Baum“) wird mit der fremden Stadtlandschaft, mit „ungemütlichen“ neuen Häusern, die 194 Diese Sicht auf Berlin war in der Malerei sowie in der Literatur ziemlich beliebt. In einem Kurzessay vergleicht Alexander Koŝenina zum Beispiel Fechhelms Ölgemälde mit einem Gedicht von Moritz, da beide das „aufgeklärte“ Berlin vom Tempelhofer Berg beschreiben. 214 „zwischen Pfahlgerüsten und unvollendeten Mauern oder auf kahlen Flecken“ stehen (BA VI, 203), kontrastiert. Natur und Kultur, Landschaft und die Stadt stehen in einem starken Kontrast miteinander. Der Spaziergang in der Stadt und die in den Straßen gesehenen Masse evozieren Hans Unwirrsch’ Schulzeitlektüre über die blutigen Kämpfe in römischen Arenen. Es wird ihm schwindlig und er bedarf der Hilfe seines Führers: Das ist, wie das Meer sein muss [...] und ich stehe am Rande wie ein Knabe, der das Schwimmen lernen soll. Es treibt mich mit unwiderstehlicher Gewalt hinab, und doch fürchte ich mich. (BA VI, 202) Hans Unwirrsch und Leutnant Goetz gehen in die Stadt durch die Randbebauung, schreiten durch das militärisch bewachte nachts geschlossene Südtor (vermutlich das Hallesche), und Hans „gafft“ auf den Platz – den Belle-Alliance-Platz – und „starrt“ auf die lichterfüllten Straßen, die von dem Platz ausstrahlen. Der Ausgangspunkt korrespondiert mit den frühesten malerischen Darstellungen Berlins, jedoch der Spaziergang in der Stadt enthüllt die Komplexität der wachsenden Stadt. Die Anwendung des erhöhten Standpunkts erlaubt die detaillierte Beschreibung der Begegnung mit der Stadt aus der Perspektive des Landbewohners und zeigt, wie sich die Wahrnehmungsformen in der Stadt verändert haben und welchen elementaren Einfluss sie auf den aus der Provinz Ankommenden ausüben können. Raabe schickt seine Protagonisten auch in früheren Texten gerne auf hohe Türme und lässt die die Stadt durch die hier erlangte Vogelperspektive beobachten. Die erhöhte Perspektive in den frühen Berlin-Texten bedeutet die Auseinandersetzung mit der Stadt durch Fensterrahmen und aus Dachstuben während der Turmblick später erscheint. In Ein Frühling wird zum Beispiel der Turmblick nur kurz am Anfang kurz als eine 215 katastrophale Erfahrung dargestellt, wenn der Leser mit Klärchen auf einen Turm hochgeführt wird: Bis auf die erste Galerie des Turmes gelangte sie ebenfalls und schaute von da zitternd und staunend über das Häusermeer der Stadt und die Ameisenmenschen hinweg in die blaue Ferne. Wovon hängt doch oft die Bildung unseres ganzen Charakters ab! Von dem Augenblicke an liebte Klärchen Aldeck nichts so sehr als enge Winkel, niedrige Zimmer, Zusammenhuschen – kurz die Welt der Nähe, des Kleinen.[...] nichts konnte sie in ihrem ferneren Leben dazu bringen, jemals wieder einen Turm zu besteigen. (BA I, 182-83) Die Anwendung der Turmperspektive in Ein Frühling hat zweierlei Funktion: Einerseits ist sie mit Angst verbunden, andererseits hilft sie Klärchen einen Überblick zu bekommen und Regeln zu gestalten, die in ihrem restlichen Leben von großer Wichtigkeit werden. Diese Angst vor der Höhe verschwindet in den späteren Texten und wird im Roman Die Leute aus dem Walde mit der größten Vorliebe benutzt.195 Um die Anwendung des Turmblickes und der Vogelperspektive in der nachfolgenden Textanalyse des Roman Die Leute aus dem Walde in einem breiten Kontext erfassen zu können, werden zuerst einige Primärtexte und theoretische Modelle der erhöhten Perspektive in literarischen Werken des 19. Jahrhunderts (von Adalbert Stifter, Heinrich von Kleist und Victor Hugo) und in theoretischen Texten des 20. Jahrhunderts (von Henri Lefevbre und Michel de Certeau) untersucht. Adalbert Stifters Vorrede unter dem Titel „Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephanthurmes“ zu seiner 1844 erschienenen Essaysammlung Wien und die Wiener in Bildern aus dem Leben ist eine der berühmtesten deutschsprachigen literarischen Anwendungen der Vogelperspektive im 19. Jahrhunderts. Von oben 195 „Halt, da malt sich ein hohes, turmartiges Gebäude schwärzer gegen den dunkeln Nachthimmel ab – gottlob, jetzt weiß ich wenigstens wieder, wo wir sind. Das ist der Rote Turm. Wir befinden uns in der Blutgasse.“ (BA I, 201) 216 organisiert Stifter -- Ameisenmenschen, Käferpferde und Nussschalenkutschen beobachtend --, das Panorama der Stadt und sucht den breitesten Winkel, um möglichst viele Phänomene des wachsenden Wiens - Wetter, Verkehrswege, öffentliche Räume und private Interieurs - gleichzeitig beschreiben zu können. Von der Spitze des Turmes schildert der für seine Landschaftsbeschreibungen bekannte Stifter Wien in einer distanzierten, mitleidlosen Weise in raschem Wechsel von Bildern aus verschiedenen Bereichen. Stifter benutzt eine höchst visuelle Sprache, wenn er über seine Motivation für die Essaysammlung schreibt: In ernsten und heiteren Bildern [solle er] wie ein Kaleidoskop Szenen der Hauptstadt vorbeiführen, so dass sich dem Leser nach und nach ein Bild des Lebens und Treibens dieser Residenz zusammenmale, welches dem, der es nie gesehen, eine Vorstellung gibt, dem aber der hier gewesen oder noch ist, eine ergötzliche Erinnerung ist. (zitiert nach Lieselotte Hoffmann 163) Das Zitat zeigt, dass die rein visuelle Wahrnehmung eine größere Rolle in den literarischen Auseinandersetzungen mit der Stadt bekommt. Stifters Ziel ist es, seinen Lesern eine Sammlung von Bildern zu vermitteln, die eine konzentrierte, stilisierte Überschau des komplex gewordenen urbanen Milieus ermöglicht. Stifters Position über der Stadt lässt eine kontemplative Distanz zu, mit deren Hilfe er das Bewegende und von unten Unüberschaubare in der Stadt als bedeutende Einzelheiten in Bildern fixieren kann.196 Stifter reflektiert über den Wahrnehmungsakt auf der Spitze des Turmes in der folgenden Weise: „In der That, von dieser Höhe der Vogelperspective angesehen, hat selbst für den Eingeborenen seine Stadt etwas Fremdes und Abentheuerliches, sodass er 196 Das Nebeneinanderreihen von verschiedenen Bildern weist schon auf eine Form energetischer Stadtwahrnehmung voraus, die man in erster Linie mit den Schriftstellern Zola, Döblin oder Dickens assoziiert. 217 sich für den Augenblick nicht zu finden weiß“ (211). Der Standort bietet einen Reichtum von Perspektiven an: der fremde Blick auf die vertraute Stadt wird durch einen Fernrohrblick, durch Fern- und Näherrücken gesteigert. Besonders der Mangel an akustischen Wahrnehmungen ermöglicht ihm eine eigene Imaginationssphäre, in der sich die vertraute Stadt in unvertrauten Bildern präsentiert.197 Gleichzeitig hat er auf der Spitze seiner ‚Pappel,’ wie er den berühmten Turm nennt, eine größere visuelle Kontrolle über die Stadt als unten in den Straßen, wo „der Wanderer ganz und gar in die Irre [geht]“ (Stifter 212). Ein anderes früheres Beispiel für die Anwendung der Vogelperspektive über den urbanen Raum stammt von Kleist, der die Übersicht über die Stadt Dresden in der folgenden Weise beschreibt: „Ich blicke von dem hohen Ufer herab über das herrliche Elbtal, es lag da wie ein Gemälde von Claude Lorrain unter meinen Füssen – es schien mir wie eine Landschaft auf einen Teppich gestickt, grüne Fluren, Dörfer, ein breiter Storm, der sich schnell wendet, Dresden zu küssen.“198 Das Zitat von Kleist weist auf eine erhöhte Intensität zwischen bildender Kunst und Literatur in Stadtbeschreibungen hin. Am Elbeufer stehend verwendet Kleist eine Perspektive, die die ästhetische Aneignung der Stadt ermöglicht. In einem statischen Bild, das sogar implizit über einen Rahmen verfügt, fixiert Kleist das von oben gesehene Dresden. Die noch naturverbundene und organische Stadt erscheint als Abbild, das handhabbar und verfügbar dargestellt wird. Kleists Beschreibung von Dresden vermittelt jedoch eine frühe und problemlose Beziehung des Autors mit dem wahrgenommenen Objekt. 197 Interessant ist hier Simmels Essay über die „Sociology of the Senses“, in dem er die Beziehung des Sehens und des Hörens in der folgenden Weise charakterisiert: „the person who sees without hearing is generally much more confused, helpless and disturbed than one who hears without being able to see“ (114). 198 An Wilhelmine v. Zenge, den 4. Mai 1801. 218 Stifters Text und Kleists Brief sind nur zwei Beispiele für zahlreiche Versuche, sich an die verwirrende, unüberschaubar gewordene Stadt im 19. Jahrhundert aus der erhöhten Perspektive anzunähern.199 Auch die Großstadtromane von Victor Hugo und Honoré de Balzac zeugen davon, dass die Wiedergabe der zunehmenden Vielfalt und Widersprüche der wachsenden Städte von den Schriftstellern eine neue optische Einstellung und ein Streben nach modifizierten Mitteln der Darstellung verlangt. Die bekannteste französische Vogelperspektive stammt von Victor Hugo, der Paris aus dem Turm von Notre-Dames in seinem berühmten Roman Der Glöckner von Notre-Dame beschreibt. The spectator, on arriving breathless at that peak, was dazzled by the chaos of roofs, chimneys, streets, bridges, belfries, towers, and steeples. All burst at once upon eye […] The eye was long bewildered by this labyrinth of heights and depths where everything originated from art, from the humblest dwelling, with its painted and carved wooden surface, low doorway, and overwhelming stories, to the royal Louvre, which then had a colonnade of towers. But when the eye began to reduce this tumult of edifices to some kind of order…“ (Hervorhebungen von mir, Hugo 109) Obwohl der Erzähler verwirrt zu sein scheint als er zum ersten Mal das wachsende Paris aus der Höhe anblickt, gibt er danach eine organisierte, detaillierte Panoramabeschreibung der Stadt und ihrer Baugeschichte. Wenngleich Paris keine homogene Stadt mehr ist, wie sie es im Mittelalter war, ist sie aus dieser Höhe immer noch überschaubar. Hugo beschreibt die Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Pariser Bau- und Stadtentwicklung und preist die Totalität der urbanen Wahrnehmung, wenn das visuelle Erlebnis mit den lauten Glocken von Paris ergänzt wird. Die stark organisierte 199 Christopher Prendergast analysiert mehrere die Vogelschau anwendende Paris-Romane aus dem 19. Jahrhundert, im Kapitel „The High View: Three Cityscapes“ seines Buches Paris in the Nineteenth Century. 219 Stadtbeschreibung und die berühmte Hugo’schen Historiographie von Paris sind nur von oben, vom damaligen höchsten Standpunkt, vom Kirchturm von Notre-Dame, möglich. Obwohl die literarische Anwendung der Vogelperspektive in Texten des 19. Jahrhunderts schon mehrmals erscheint, stammen die bekanntesten theoretischen Ansätze in Bezug auf diese Repräsentation aus dem 20. Jahrhundert. Eine scheinbar absolute Kontrolle der hohen Perspektive beschreibt der Kulturtheoretiker Michel de Certeau in den späten 70er Jahren in seinem Essay Walking in the City. Wie er feststellt, kann der Betrachter nur von oben, in seinem Beispiel aus dem 107. Stock des World Trade Centers hinaus, die Stadt als lesbares Textgewebe beobachten: „His altitude transforms him into a voyeur. It places him at a distance. It changes an enchanting world into a text“ (102). Von diesem Aussichtspunkt zeigt sich die Metropolis als ein im Ganzen fassbares Bild, im Gegensatz zu dem Chaos und Durcheinander der unteren Stadt, durch die man sich auf der Straße bewegt. De Certeau preist die Höhe, da sie die Entstehung eines lesbaren Textes fördert, aber er kritisiert diese Perspektive auch, weil sich die Überschaubarkeit der Stadt aus einer Vogelschau oft als täuschend erweist und die Realität der unteren Welt der Straßen ausklammert.200 Ein weiteres Beispiel für die Theoretisierung der erhöhten Perspektive, jedoch in diesem Fall das Fenster als Beispiel benutzt, ist der Essay “Seen from the Window” von Henri Lefevbre, in dem er schreibt: The one walking on the street is immersed into the multiplicity of noises, rumours, rhythms [...] but from the window noises are distinguishable, fluxes separate themselves, rhythms answer each other. […] So there is a relative silence 200 Auf dieses Problem weist zum Beispiel der Germanist Lutz Koepnick in seinem Artikel über die Kritik von Sir Norman Fosters Reichstagkuppel hin: „today’s visitor’s experience [while walking in the cupola of the German parliament] is not an ocular destabilization anymore but the commanding standpoint of the premodern traveler resting on a mountain top and beholding urban topographies“ (314). 220 in the crowd. […] It’s incredible what one sees and hears (from the window). Strict harmony. (220) Die erhöhte Position am Fenster erzeugt eine paradoxe Situation, wie der Literaturkritiker Heinz Brüggemann in den 1980er Jahren in mehreren Büchern beschreibt. Laut Brüggemann ist der Fensterblick eine Wahrnehmungsform des vereinzelten Subjekts der großen Städte, „ein Abbruch mit aller lebendigen, aktiven Kommunikation mit der Außenwelt“ (Das andere Fenster, 13). Durch das Fenster entsteht eine Distanz, die es ermöglicht, das Mannigfaltige in einem Bild fixieren zu können. Im Gegensatz zum Fensterblick, steigert der Turmblick dieses Paradox weiter. Den zeitlichen und kulturgeschichtlichen Abstand zwischen den obigen Beispielen außer Acht lassend, kann festgestellt werden, dass das urbane Milieu ein spezifisches Wahrnehmungsvermögen produziert und dabei die erhöhte Perspektive sich als ein ambivalentes Phänomen erweist. Einerseits manifestiert sich in diesem Schauwinkel ein Wunsch nach Kontrolle über einen unübersichtlich gewordenen Raum, andererseits impliziert der gleiche Wunsch einen Verlust an der Erfahrbarkeit der direktern Umgebung. Die Anwendung der erhöhten Perspektive erhellt auch die Instabilität und die Grenzen der literarischen und malerischen Repräsentatierbarkeit der Großstadt. Da Raabe den in seinen früheren Berlin-Werken benutzten Fensterblick im Roman Die Leute aus dem Walde vermehrend mit dem Turmblick ersetzt, soll die Analyse der Anwendung der Turmperspektive dabei helfen, den Wunsch des Subjekts nach Kontrolle seiner komplexer gewordenen Umgebung sowie die ästhetischen Aneignungen des wachsenden Berlins zu untersuchen. 221 Die Leute aus dem Walde ist ein Produkt aus Raabes Wolfenbütteler Zeit und wurde zwischen Oktober 1861 und November 1862 geschaffen und im Jahre 1864 veröffentlicht. Wie in der Chonik, stehen die breiten Straßen zu den verborgenen Gassen in der Altstadt auch in diesem Text in einem scharfen Kontrast, und auch den Hauptort, die Musikantengasse haben wir in der Nähe der Spreegasse zu suchen. Die Musikantengasse hat alte Gebäude, deren Schönheit nur dem aufmerksamen und sensiblen Beobachter auffallen, wie es in der folgenden Beschreibung eines dort zu findenden Hauses zu Tage kommt: Es war eigentlich ein altes Gebäude voll wunderlicher Baumeisterlaunen längst verlorengegangener Architekturwissenschaft. Aber über seine Vorderseite hatte die Zeit, die ebenso eine Zunge hat, wie sie Zähne besitzt, weggeleckt und alles schön modern gestrichen, bis an das Dach hinan. Ähnlich war es allen andern Gebäuden der Musikantengasse ergangen; aber darum blieb die Gasse nichtsdestoweniger alt, und die Häuser blieben auch alt, und aus den Fenstern der Hinterseiten sah man in die tollste Welt von schwarzen Höfen, Giebeln, Brandmauern und Schornsteinen... (BA V, 50) Raabes Vorliebe für die Altstadt ist also auch in diesem Roman präsent, in dem die enge Musikantengasse ähnlich wie in der Sperlingsgasse von einer bunten Bevölkerung bewohnt wird. Berliner Lokalitäten, die in diesem Roman spezifisch erwähnt werden: Ulex’ Giebel im Nikolaikloster, die Musikantengasse und die Schulstraße in der Altstadt. Die Kronenstraße, in der die Familie Wienand wohnt befindet sich südlich von der Altstadt. Alle Szenen im Roman, genau wie in der Chronik, spielen sich in Berlins Altstadt ab. Öffentliche Räume erscheinen im Roman kaum, nur die Polizeistation und der Hamburger Bahnhof werden erwähnt. 222 Im Gegensatz zu den alten Stadtteilen werden die modernen Viertel Berlins nur karg beschrieben und mit negativen Attributen charakterisiert, wie zum Beispiel das Haus des Bankiers Wienand, dessen Beschreibung der Erzähler sogar explizit verweigert: In einer ruhigen, breiten Straße [...] ein ganz modernes Hause, welches sich durch nichts von seinen Nachbarn, welche ebenfalls groß, stattlich und modern waren, auszeichnete. Je weniger charakteristisch ein Gegenstand ist, desto schwerer ist er zu beschreiben; wir beschreiben deshalb das Haus des Bankiers nicht. (BA V, 62-3)201 Das im Gegensatz zu der mehrseitigen, detaillierten Beschreibung der Musikantengasse lakonische Zitat zeigt, dass Raabe auch in diesem Roman die „wahre Stadt“ in den kleinen Gassen von Berlin findet. Jedoch ist der Erfahrungshorizont des jungen Protagonisten Robert Wolf viel breiter als der des alten Johannes Wachholders and der von Klärchen Aldeck. Der Roman ist eine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Problematik des Lebens überhaupt und eine dichterische Beantwortung der Frage über das Verhältnis des Menschen zur Welt seines Zeitalters dargestellt an der Entwicklung eines Knaben zum Mann. Der ursprüngliche Titel des Bildungsromans war Der Sternseher und der Roman war nach Meinung der Kritiker viel zu sehr an Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre angelehnt.202 Im Mittelpunkt steht der junge Robert Wolf, der wie Parzival oder Grimmelshausens Simplicissimus sein Leben weit von der Zivilisation in einem Wald beginnt und durch eine Reise, in diesem Fall in die Großstadt und nach Amerika erzogen wird. Eine Gruppe von Menschen führen ihn in Berlin sowie in Amerika herum, von 201 Raabe beschreibt Häuser in genausten Details mit dem Zweck ihre Bewohner zu charakterisieren. Solche Beispiele im Roman sind die Schilderung des Hauses von der Baronin von Poppen und seines Sohnes Leon von Poppen (178) und die Beschreibung des Eckhauses von Juliane Poppen (258). 202 Pongs stellt in Der Leute aus dem Walde eine Reihe von Parallelen zu Goethes Wilhelm Meister. Mehr dazu siehe auch im Anhang der Kritischen Ausgabe des Textes, BA V, 435-6. 223 denen viele wie Robert aus dem Winzelwald stammen.203 Die alte Generation wird durch den Polizeischreiber Fritz Fiebiger, den Astronom Heinrich Ulex und das Freifräulein Juliane von Poppen repräsentiert, während die junge Generation in den Gestalten von Friedrich Wolf, Roberts Bruder, und Eva Dornblut, Friedrichs Geliebter, auftritt. Der Autor hat diesen in der Raabe-Forschung eher vernachlässigten Roman später mit den folgenden Worten charakterisiert: Das Buch ist noch ein recht jugendliches Produkt nach der alten Aquarellmanier, welche die Figuren erst mit schwarzer Tusche umriss und sie dann mit bunten Farben ausmalte. So scharf grenzen sich die Charaktere im Leben nicht ab und sollen es also auch in der Kunst nicht. (zitiert nach Oppermann 55) Eine von diesen nach Raabe unscharf dargestellten Figuren ist der achtzehnjährige Robert, der „durch die Liebe“ nach Berlin kommt, um seine Geliebte Eva Dornblut zu finden.204 Wie Döblins Franz Biberkopf lernt der Leser Robert Wolf in den ersten Seiten des 400seitigen Romans in einem Berliner Gefängnis kennen, da er gleich nach seiner Ankunft in der großen Stadt wegen Hausfriedensbruchs eingesperrt wird, nachdem er versucht hatte, das geliebte Mädchen aufzusuchen. Der Protokollführer Fiebiger, der familienlose Landsmann von Robert Wolf entscheidet sich nach dem Verhör des Jungen, ihn in seiner Wohnung aufzunehmen und zu einem anständigen Mann zu erziehen. Roberts tragische Kindheitsgeschichte berührt ihn während der Aufnahme des Protokolls tief und er möchte „die Seele des Knaben retten“ (BA V, 35). Auf dem Weg zu Fiebigers Wohnung in der Musikantengasse begegnet Robert Wolf auf einmal, genau wie Wilhelm Meister seiner Natalie, während eines Unfalles, in 203 Im Anhang der KA des Textes wird der Winzelwald mit seinen Dörfern als eine Landschaft in der Nähe des Harzes zu erkennen (437). Raabe hat solche Dörfer auch malerisch aufs Papier gebracht (siehe dazu Beispiele bei Arndt). 204 Ein Reiz, der die Stadt auf das Leben der Leute aus dem Winzelwald ausübt, erscheint mehrfach im Roman. Robert Wolf verlässt den Wald wegen seiner Liebe zu Eva; Ulex und Fiebiger beschreiben eine Anziehungskraft der Großstadt: “ein dunkler Trieb zog sie der Hauptstadt zu” (BA V, 81). 224 dem er sein Bewusstsein verliert, der richtigen Frau, der jungen, eleganten Dame, Helene Wienand. Die ältere Generation aus dem Wald, der Astronom Heinrich Ulex im Observatorium, Fritz Fiebiger in der Musikantengasse und „die närrische Jungfer“ Juliane von Poppen, Helenas Erzieherin, kümmern sich alle um Roberts Ausbildung, der wie Wilhelm Meister, den ärztlichen Beruf wählt.205 Die wichtigste Lehre aber, die die drei Alten Robert Wolf beibringen, ist eine Synthese ihrer drei verschiedenen Lebensphilosophien. Fiebiger, der Gassenphilosoph, ergänzt nämlich das von Ulex formulierte Axiom „Sieh nach den Sternen,“ mit seiner Lebensregel „gib acht auf die Gassen“ (BA V, 155).206 Diese Lehre wird durch die urbane Metapher sowie durch die Anwendung der Luftschauperspektive anschaulich gemacht. Bevor der Protagonist die Stadt aus der Höhe eines Turmes betrachtet, wird Berlin, wie in den vorigen Berlin-Werken, auch in Die Leute aus dem Walde durch das Fenster geschildert. Während der ersten Nacht in der Musikantengasse träumt Robert Wachholder vom Heimatdorf und der Natur im Winzelwald. Im Dämmerlicht setzt er sich danach am Fenster mit der großen Stadt auseinander: Robert Wolf rieb die Augen und warf einen Blick auf die grauen Brandmauern vor seinem Fenster, auf die schmutzigen, regennassen oder beschneiten Dächer, die qualmenden Schornsteine und Kaminröhren, welche den Dunst vermehrten und sich in ihm, in der Ferne, schattenhaft verloren. Der Qualm der Steinkohlen, der verschiedenartigen Gase füllte die Brust des Knaben, wenn er das verquollene Fenster mit Mühe geöffnet hatte. Und unter dem grauen Schleier rauschte und knarrte, pochte und kreischte und rollte das große Leben der Stadt, so fremd, so 205 Die drei Alten halten auch in der Stadt zusammen. Ihr Leben in der Stadt scheint von ihrem früheren Leben im Wald nicht viel unterschiedlicher zu sein: “In der großen Stadt kann man sich verstecken wie in dem Winzelwalde; jede hat ihren Schatten, ihre geheimnisvolle Lust und Schauer wie dieser. Wie in dem Winzelwalde fanden sich die drei frühern Genossen zusammen” (BA V, 86). 206 Vgl. dazu: “In den Gassen wusste der Sternseher nicht so gut Bescheid, wie der Polizeischreiber; er führte andere Register als dieser” (BA V, 158); „Wie in dem Winzelwalde fanden sich die frei frühern Genossen zusammen. Sie waren im Leben arg hin und her geworfen worden; sie suchten nunmehr die Einsamkeit und die Stille. Sie hatten alle viel gelernt; aber jeder sah die Welt auf seine Weise an; am kindlichsten war der Idealist Heinrich Ulex geblieben, am nüchternsten war Juliane von Poppen geworden; der Humorist Fritz Fiebiger bildete das verbindliche Mittelglied“ (BA V, 86). 225 beängstigend, so erdrückend, dass Robert unwillkürlich nach der Kehle griff, gleich einem Erstickenden. Nur richtete sich aber sein Blick auf einen von den vielen Giebeln, und von dorther kam ihm der Trost, der erste Anhalt in dieser schwindelregenden, fremden Welt. In jenem Giebel schlief Ulex, der Sternseher, seinen langen Morgenschlaf nach ernst durchgewanderter Nacht. (BA V, 153) Durch die Fensterrahmen empfindet Robert die optischen und akustischen Qualitäten der Großstadt, die ihn völlig überwältigen. Die Multipliziät von Reizen der Stadt manifestiert sich in einem unkontrollierbaren Gewirr von Sinneseindrücken. Roberts Blick entdeckt die grauen Brandmauern, die fensterlosen, abweisenden Rückseiten der Häuser, die keinerlei menschliche Spuren von ihren Bewohner aufweisen. Sein Blick trifft auf Dächer und ein Durcheinander von Schornsteinen, deren Silhouetten sich in der Ferne verlieren. Vorher nie gehörte Geräusche echoen in seinen Ohren, deren Quellen sich nicht lokalisieren lassen. Im Gegensatz zu Johannes Wachholder in der Chronik, den sein Zimmer und Fenster vor dem Chaos der Stadt schützt, fühlt sich der Junge von der Stadt bedroht, die ihn durch ihre Sinnesreize fast erstickt. Die Fensterrahmen eröffnen Robert ein abstoßendes Bild von Berlin, dessen Eindrücke beängstigend sind.207 Berlin wird zur Vision einer Großstadt, die es, als Raabe dort weilte, noch gar nicht war, und als Vision war sie schreckensregend für denjenigen, der die Stadt zum ersten Male betrat. 207 Ähnliche semantische Mittel benutzt Kleist in einem am 18. Juli 1801 an Caroline von Schlieben verfassten Brief, in dem er Paris aus seinem Fenster beschreibt: “Wenn ich das Fenster öffne, so sehe ich nichts, als die blasse, matte, fade Stadt, mit ihren hohen, grauen Schieferdächern und ihren ungestalteten Schornsteinen, ein wenig von den Thuillerieen, und lauter Menschen, die man vergisst, wenn sie um die Ecke sind. Noch kenne ich wenige von ihnen, ich liebe noch keinen, und weiß nicht, ob ich einen lieben werde. Denn in den Hauptstädten sind die Menschen zu gewitzigt, um offen, zu zierlich, um wahr zu sein. Schauspieler sind sie, die einander wechselseitig betrügen und dabei thun, als ob sie es nicht merkten. Man geht kalt an einander vorüber; man windet sich in den Straßen durch einen Haufen von Menschen, denen nichts gleichgültiger ist, als ihres Gleichen; ehe man eine Erscheinung erfasst hat, ist sie schon von zehn anderen verdrängt; dabei knüpft man sich an keinen, keiner knüpft sich an uns; man grüßt einander höflich, aber das Herz ist hier so unbrauchbar, wir eine Lunge unter der luftleeren Campane, und wenn ihm einmal ein Gefühl entschlüpft, so verhallt es, wie ein Flötenton im Orkan” (69). 226 Robert macht keinen Versuch, mit dem überwältigenden Bild zurechtzukommen und sich vor dem Gesamtbild durch eine Fokussierung auf seine Einzelheiten zu retten. Die Stadt erscheint als ein unerklärliches Phänomen, das nur Unheil verbreiten kann. Robert ist nicht im Geringsten von ihr fasziniert und sein Blick sucht nur nach ‚Rettung.’ Diese kommt in einem freundlichen, unerklärbar vertrauten Element des Bildes: Den Giebeln in der Ferne. Nicht mehr das Fenster dient zum Schutz des Protagonisten, sondern eine höhere Perspektive. Der Blickwechsel von den erschreckenden Teilen der Stadt auf die Giebel in der Ferne steht auch für eine Loslösung von einem kollektiven Dasein zum Individuellen. Die Türme symbolisieren eine Miniaturwelt und entziehen sich dem dumpfen Treiben unten – ganz genau wie Certeau dieses Phänomen beschreibt – und bieten den Blick von oben hinab. Der Junge sucht letztendlich einen einzigen Turm aus, in dem der Astronom und Landsmann Ulex wohnt. Ulex lebt in diesem Turm, den er nur abends oder morgens verlässt, um sich der bedrohlichen Stadtebene zu entziehen.208 Seine Tätigkeit als Astronom fordert ein waches Leben, so arbeitet er, wenn das Leben in der Stadt ruht. Roberts Fensterblick, obwohl der Junge im Gegensatz zu Wachholder die überwältigende Realität aus der Stadt in sein Zimmer hereinkommen lässt, kann mit Wachholders Technik verglichen werden. Der Junge sucht nach einem stabilen Standpunkt, den er nicht in einer kleinen Straße, sondern in der Ferne in einem Turm findet. Den Kontrollverlust erlebt Robert Wolf nicht als ein kreatives Ereignis, sondern als eine lähmende Überwältigung durch die Großstadt, mit der er sich nicht 208 Oben in seinem Turm beobachtet Ulex die Stadt unten. Am glücklichsten ist er, wenn die Stadt unerkennbar wird und er seine Phantasie einen freien Lauf lassen kann: „Den wallenden Nebel schätzte er auch mehr als andere weniger phantasiebegabten Menschen. Er konnte Bilder darin aufbauen, Gestalten darin hervorzaubern, er konnte ihn formen wie der Bildhauer den Ton, er konnte darauf zeichnen wir der Maler auf der grauen Leinwand“ (BA V, 243). 227 auseinandersetzen kann. Ulex’ Lehre verspricht ihm die Lösung und eine völlige Kontrolle: „Sieh nach den Sternen [...] Da droben ist alles Harmonie und Ordnung; nach ewigen Gesetzen wandelt jedes Glied der großen, glänzenden Gemeinschaft; selbst die regellosesten unten ihnen, die Kometen ziehen ihren vorgeschriebenen Weg. Welch ein Kontrast gegen das Getümmel hier unten!“ (V, 159).209 Dass das Fenster nicht mehr das entsprechende Medium ist, den Jungen vor dem Gewirr der Stadt zu schützen, zeigt, wie schnell Berlin sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt hat. Die Stadt erscheint als eine große Maschine und ein zerstörerisches Labyrinth; der Beobachter erlebt das Gesehene als eine geistige Überforderung, die einem den Orientierungssinn nimmt. Robert Wolf sucht in einem fernliegenden Turm nach einer optischen und seelischen Rettung, um die Überwältigung durch die Großstadt zu verdrängen. Robert Wolf findet die anorganischen Einzelheiten der Stadt210 beängstigend und sucht nach organischen Flecken in der Stadt, die ihm mit seinem Heimatort, mit dem ländlichen Poppenhagen und Winzelwald verbinden und eine emotionale Stabilität und sowie ein Gefühl der Kontrolle vermitteln können. 209 Um Raabes Die Leute aus dem Walde in der literarischen Stadtwahrnehmungsgeschichte präziser positionieren zu können, konnte der Fensterblick des in der Stadt ankommenden Jungen im folgenden mit Siegfried Kracauers Kurzprosa „Der Blick aus dem Fenster“ verglichen werden. In der Form des Stadtfeuilletons beschreibt Kracauer das von seinem Fenster Gesehene in der folgenden Weise: Von meinem Fenster verdichtet sich die Stadt zu einem Bild, das herrlich wie ein Naturspiel ist. Doch ehe ich mich ihm zuwende, muss ich des Standortes gedenken, von dem aus es sich erschließt. Es befindet sich hoch über einer unregelmäßigen Platzanlage, der eine wunderbare Fähigkeit eignet. Sie kann sich unsichtbar machen, sie hat eine Tarnkappe auf. Mitten in einem großstädtischen Wohnviertel gelegen und Treffpunkt mehrerer breiten Straßen entzieht sich der kleine Platz so sehr der öffentlichen Aufmerksamkeit, dass kaum jemand auch nur seinen Namen kennt. [...] Ein Schwarm von glänzenden Parallelen, der tief genug unter dem Fenster liegt, um seiner ganzen Ausdehnung nach übersehen werden zu können. Mit ihren vielen Signalmasten und Schuppen macht die Fläche beinahe den Eindruck eines mechanischen Modells, das ein Knabe, der irgendwo unsichtbar kniet, zum Experimentieren benutzt. (50-51). 210 Klaus Scherpe beschreibt diese Ästhetik als ein „anorganisches Muster der Stadtbeschreibung“ und als „Fiktion der Bedingtheit und Vermitteltheit“(Ausdruck, 150). Kracauers Text zeugt nämlich von einer Aufmerksamkeit für das räumliche Arrangement von Linien und Flächen und von einem Reiz für die ‚kalten’ Strukturen der Stadt. Der reale Stadtplan und die technische Stadt verwandeln sich in Kracauers Texten in einen imaginären Raum, der den Überlastungsdruck der Großstadt als ein kindliches Spiel und Experiment mit geometrischen Formen beschreibt 228 Wenige Seiten später erlebt Robert die Stadt noch einmal durch das Fenster, dieses Mal aus Ulex’ Wohnung im Nikolaiklostergiebel: Der Jüngling am Fenster des Klostergiebels sah es stehen, achtete jedoch anfangs weniger auf das niedliche Kind als auf das grüne Gebüsch und die Baumwipfel, an welchen die Blüten sich öffneten. Jeden Fortschritt der Vegetation auf diesem winzigen Punkt inmitten der grauen Einöde beobachtete er, sozusagen gierigen Auges. Es lag ein Trost darin, eine Art Bürgschaft dafür, dass die Welt doch noch nicht ganz zu Mauerwerk, Schornsteinen und Feuermessenqualm geworden sei. (Hervorhebung von mir, V, 163)211 Das Zitat bestätigt Roberts Flucht vor den realen Verhältnissen der Großstadt und seine Sehnsucht nach idyllischen Orten in der Mitte der Stadt. Er sucht in der urbanen Topografie Orte, in denen sich Grün gegen das vorherrschende Grau, Natur gegen Zivilisation und das Einzelne gegen das Kollektiv der Großstadt und ihrer Bewohner durchsetzt. An der Spitze von Ulex’ Giebel bietet sich ihm wieder ein Überblick über die Stadt, in dem er verlässliche und übersichtliche Punkte finden kann. Hier kann Robert als ein autonomes, menschliches Individuum funktionieren, im Gegensatz zum Treiben unten, zu den Regungen der Großstadt, deren Gesetze ihm verborgen bleiben. 212 Im Kontrast zu dem Certeausches Modell sucht Robert Wolf nicht nach einem im Ganzen fassbaren Bild der Stadt, sondern nach Winkeln Berlins, die seinen Augen einen festen Standpunkt anbieten und seine Identität, die in erster Linie durch den Herkunftsort konstituiert ist, bestätigen. 211 Vgl. dazu auch “Wie schon gesagt, der Jüngling [Robert Wolf] hatte ein gutes Auge aus dem Walde in die Stadt gebracht, und es entging ihm keine Einzelheit des grünen von der Sonne beschienenen Fleckchens” (BA V, 162). 212 Robert Wolf fühlt sich in Berlin in den ersten Tagen seines Aufenthaltes fast ohnmächtig: “Anfangs hatte Robert sich vor den Gassen, vor dem Gewimmel der großen Stadt sehr gescheut, fast gefürchtet, und der einzige Weg, welchen er allein ging, war der zum Giebel des Nikolaiklosters gewesen. In das Gewühl der Stadt hatte er sich nur an der Seite des Polizeischreibers gewagt, und stets war er bedrückt und verwirrt daraus heimgekehrt. Er schien auf keine Weise sich darin zurechtfinden zu können; die Häuser und Mauern wollten ihm auf den Kopf fallen, die Tausende aber Tausende von Gesichtern waren ihm unheimlich; überall vermutete er lauernde Feinde, Spott und höhnisches Lachen” (BA V, 166). 229 Die Suche nach Orientierungspunkten erscheint auch in nicht-fiktiven Berlin Beschreibungen der Zeit. Julius von Rodenberg hat einen Text mit dem Titel „Die letzte Pappel“ in Bilder aus dem Berliner Leben im Jahre 1875 veröffentlicht. Wie der Protagonist Raabes sucht er nach grünen Flecken der sich verändernden Stadt, nach Pappeln, die zur Zeit Friedrichs des Grossen gepflanzt waren: Als ich zuerst in diese Gegend der Stadt kam, vor vierzehn oder fünfzehn Jahren, da waren mehr Pappeln hier; in der Tat mehr Pappeln als Häuser. Das Haus in dem ich jetzt wohne, war noch nicht, und alle anderen Straßen und sie her waren noch nicht. Gärten waren da, mit kleinen, niedrigen, einstöckigen Häuschen und gemütlichen Leuten darin... (Rodenberg 6)213 Die Pappeln wurden aber gefällt und die letzte wird mit diesem Text betrauert. Das Verschwinden der Natur geht mit der Erweiterung der Stadt zusammen, wie Rodenberg schreibt, „der Zusammenhang stellte sich bald heraus: es war auf ein neues Stadtviertel und eine vollkommene Vernichtung der ländlichen Allee abgesehen“ (14). Riesengrosse Gebäude und neue Straßen mit bisher noch nicht gesehenen Namen erscheinen in der Nachbarschaft, deren letzte Pappel „aus dem steinernen Umfange von Berlin“ mit kleinen Gärten und alten Restaurationen hinausgetrieben wird (16). Auch Raabes Robert Wolf setzt sich mit den ökologischen Folgen der Urbanisierung aus der Höhe auseinander. Die Vollendung von Roberts Erziehung bedeutet eine Versöhnung der zwei schon erwähnten Perspektiven, „Sieh nach den Sternen, gib acht auf die Gassen,“ die ihm seine Landsmänner beibringen. Nach der Vollendung seiner Ausbildung hat der Junge aus dem Walde keine Angst vor der Großstadt mehr: „Robert Wolf wagte es, auf eigene Faust die Gassen zu durchstreifen; die Scheu, die Angst vor den Menschen verlor sich“ (BA V, 166). Jedoch findet der Leser Robert Wolf nur selten auf den Straßen Berlins und die 213 In dem schon erwähnten Wien Beschreibung Stifters nennt der Autor den Stephansdom mehrmals als „seine Pappel.“ 230 Anwesenheit Berlins ist in diesem Roman noch begrenzter als in der Chronik. Die Stadt hat eine wichtige Rolle, insofern sie mit ihrer Komplexität zur Ausbildung Roberts etwas beitragen kann. Sobald Robert lernt, in seinem Leben zwischen dem Materialismus der Gassen und dem Idealismus der Sterne eine aurea mediocritas zu finden, ist er auch dazu bereit, ganz genau wie der Verfasser des Romans, die Stadt hinter sich zu lassen. Mit seiner Gattin Helena Wienand zieht er nach Poppenhagen zurück, um ein neues Leben zu beginnen. Roberts Geschichte endet topographisch, wo sie angefangen hat. Obwohl Raabes Bildungsroman die Großstadt zum Hauptschauplatz der Handlung wählt, erfüllt er seinen Roman – wie Wachholder seine Chronik -- mit einem tradierten Erzählstoff, der sich auch in der Anwendung von verschiedenen Perspektiven, wie dem Fensterblick und der Vogelschau, offenbart. Berlin fungiert als eine Metapher; das Wort „Wald“ im Titel bezieht sich auf die Stadt wie auf das Land.214 Die Großstadt mit ihren Massen und der Multiplizität von Reizen zwingt den Protagonisten, seine eigene Position zu definieren. Anstatt Robert zu einem Stadtbewohner avancieren zu lassen, entscheidet der Erzähler, das Leben des Jungen für ein und allemal mit dem provinziellen Deutschland zu verbinden. Dieser Akt ist die wahre ‚Rettung der Seele’ von Robert, die der Polizeischreiber Fritz Fiebiger am Anfang des Romans antizipiert hat, und die Raabe mit den folgenden Worten begründet: In unserer Zeit, wo die bewegende Kraft in die Massen zurückfällt, wo selbst die Größten nur das wollen dürfen, was die Allgemeinheit will, in dieser Zeit steht der einzelne, der stets mit aller Kraft das Edle und Gute gewollt hat, freier Verantwortlichkeit für andere da als in irgendeiner Epoche. Geschlechter, Stände mögen im Lachen der Menge zugrunde gehen; der tadellose, fleckenreine Schild des einzelnen wird um so heller glänzen. (BA V, 410) 214 Fries beschreibt diese Äquivalenz treffend: „The forest which surrounded these characters in Poppenhagen has changed its material structure and has become a forest of buildings. The title applies to Poppenhagen and to Berlin“ (36). 231 Die Anwendung der Vogelperspektive erfüllt mehrere Funktionen in diesem Roman: Die erhöhte Perspektive wird als Erziehungsmittel benutzt und sie bezieht sich auf die Wichtigkeit des Individuums und der Stabilität der einzelnen Grenzen. Die Mobilisierung eines tradierten Motivs in der Malerei in der Beschreibung der sich ausdehnenden Stadt betont auch die Veränderungen im Stadtbild. Berlin bekommt im Vergleich zu der Chronik eine enorme Größe und Komplexität, mit der man sich aus dem Fenster nicht mehr auseinandersetzen kann. Berlin wird drohend fremd, beängstigend und erdrückend in den Erfahrungen von Robert Wolf, der nach der Versöhnung mit den Realitäten der Großstadt den Heimatort als zu Hause wählt (wie Raabe es auch getan hat!). Die Anwendung der Turmperspektive als einziges Mittel, die Stadt aus einem geschützten Punkt kennen zu lernen, impliziert die Sehnsucht nach Kontrolle über die unüberschaubar gewordene Stadt, die man unten in den Straßen nicht mehr verstehen kann. Der distanzierte, erhöhte Blick ermöglicht dabei aber auch eine nüchterne Beschreibung der ökologischen Folgen der Industrialisierung, die die grünen Flecken in der Stadt nach und nach abschafft. 232 Verlorene Nachbarschaft und Hommage an der Berliner Universität: Die Akten des Vogelsangs (1895) Die Berlinische Topographie in Raabes Die Akten des Vogelsangs führt den Leser wieder nach Berlin, jedoch konzentriert sich der Roman auf zwei verschiedene Stadtteile: Auf die Transformation der alten am Stadtrand liegenden, von Hecken umgebenen Nachbarschaften und auf die Umgebung der Berliner Universität.215 In der folgenden Analyse werden diese zwei Orte mit Gemälden der Berliner Stadtmalerei verglichen. Es gibt spannende Überlappungen zwischen dem Text und den Gemälden von Berlin, was zeigt, dass diese Orte immer wieder mit symbolischen Inhalten aufgeladen werden und im 19. Jahrhundert sowohl in der Malerei als auch in der Literatur eine wichtige Rolle spielen. Umweltveränderung und Industrialisierung beschäftigten Raabe in mehreren Romanen aber in Bezug auf Berlin erscheint dieses Interesse in der Darstellung von Ortschaften, deren Gesicht und Struktur sich durch Bauten der Gründerjahre wesentlich verändern. In dem Roman Die Akten des Vogelsangs erscheint so eine Ortschaft in dem Titel. Der Chronist Karl Krumhardt erzählt von der alten Nachbarschaft, die Vorstadt genannt Vogelsang, in der er großgeworden ist, bevor diese mit der grünen Hecke, dem Symbol der Nachbarschaft, verloren ging. Wie in der Chronik, Ein Frühling und Die Leute aus dem Walde wird auch in diesem Roman eine geteilte Kindheitsgeschichte erzählt. Der Erzähler ist Karl Krumhardt, der seinen Kindern in ein Tagebuch über seine 215 Auch Adam Asche und Eberhard Pfister in Pfisters Mühle studieren in Berlin. In Villa Schönow ist die Figur des Universitätsprofessors Kiebitz von der Friedrich-Wilhelm-Universität zu erwähnen, der in seiner Wohnung in der Mittelstraße in unmittelbarer Nähe der Universität eine große Bibliothek besitzt. Die Ansiedlung von gelehrten Figuren in der Umgebung der Universität mit genauer Straßenbezeichnung zeugt vom Eindruck, den Berlin auf den Studenten Raabe gemacht hat. 233 Kindheitsfreunde, Velten Andres und Helen Trotzendorff, aber auch über die ganze Nachbarschaft, in der sie zusammen aufwuchsen, seine Erinnerungen einträgt. Die Nachbarkinder im Vogelsang, Karl Krumhardt und Velten Andres werden im Roman als Gegenpole benutzt. Als Sprachrohr wird Karl Krumhardt gewählt, der „als ein wohlgeratener Sohn, als ein älterer, verständiger Mann, als wohlgestellter Familienvater, als ‚angesehener,’ höher Staatsbeamter“ (BA XIX, 244) die Kindheitserinnerungen ins Gedächtnis ruft. Im Gegensatz zu Krumhardt stirbt Andres alleine ohne Familie, „eigentumlos, besitzesmüde“ (BA XIX, 286) und „ist in seinem kurzen Leben alles gewesen: Gelehrter, Kaufmann, Luftschiffer, Soldat, Schiffsmann, Zeitungsschreiber – aber gebracht hat er es nach bürgerlichen Begriffen zu nichts“ (BA XIX, 318). Die ersten Seiten über die Vergangenheit beschreiben ein „Zauber der Nachbarschaft,“ eine Idylle, die nicht mehr existiert (BA XIX, 327). In diesem Roman wird die Vernichtung der alten Vorstädte am explizitesten geschildert: „Aus Büschen werden Bäume, aus Bäumen Hausmauern, aus Grün Grau. Aus obststehlenden (freilich meistens dazu verführten) Schuljungen werden die besten Verwaltungsbeamten und Regierungsräte, sowie die schärfsten Staatsanwälte“ (BA XIX, 328). Das Zitat beschreibt die Veränderungen in kargen Worten, jedoch ist die Schilderung der Veränderungen nicht immer ohne Nostalgie: Die Nachbarschaft! Ein Wort, das leider Gott immer wieder mehr Menschen zu einem Begriff wird, in den sie sich nur mühsam und mit Aufbietung von Nachdenken und Überdenken von allerlei behaglicher Lektüre hineinzufinden wissen. Unsereinem, der noch eine Nachbarschaft hatte, geht immer ein Schauder über, wenn er hört oder liest, dass wieder eine Stadt im deutschen Volk das erste Hunderttausend ihrer Einwohnerzahl überschritten habe, somit eine Großstadt und aller Ehren und Vorzüge einer solcher teilhaftig geworden sei, um das Nachbarschaftsgefühl dafür hinzugeben (BA XIX, 218)216 216 „Mit den Gärten sind heutzutage zwar auch die Vögel im Vogelsang ausgerottet; aber in den Wäldern jenseits des Osterberges singen auch heute noch, aus Überlieferung“ (BA XIX, 222). 234 Der Nachbarschaft wird die wachsende Metropole, Industrialisierung, Stadterweiterung, „Fabriken, Mietshäuser, Tanzlokale“ gegenübergestellt. Aus dem Roman erfährt der Leser, dass an der Stelle der im Rückblick idyllischen Gartenvorstadt in der Erzählgegenwart ein Naherholungsgebiet und ein Kurpark „Asyl für Nervenkranke“ liegen. Der Roman wird nach der etwas pessimistischen Darstellung der Zerstörung zur unsentimentalen Chronik eines Unterganges der Idylle und zur Schilderung der Ende einer sozialen Kultur „nachbarschaftlichen Zusammenwohnens und Anteilnahmens“ (BA XIX, 218).217 Vororte und alte Nachbarschaften, die wegen der regen Urbanisierung aus der Landkarte verschwinden, sind auch Gegenstände von Adolph Menzels Werken. Den Wandel Berlins von der gemütlichen Provinz zur Großstadt hat Menzel in zahlreichen Gemälden und Zeichnungen festgehalten. Das Gemälde Der Blick auf Hinterhäuser (1847) zeigt einen Blick aus dem Fenster des Malers (Achenbach 101). Der Blick richtet sich über eine Gartenlandschaft in die Richtung der Innenstadt. Am Horizont kann man die Kuppel des Berliner Schlosses und die Turmspitzen von der Marien-, Nikolai- und Luisenstädtischer Kirchen „als Garanten der Beständigkeit“ entdecken (Achenbach 101). Die von dem Maler verewigte Mischung von alten und neuen, hohen and kleinen Häusern bildet einen starken Kontrast und zeigt, wie Raabe in seinen Romanen, wie sich die die Stadt umgebende Landschaft in der Folge der Industrialisierung und Stadterweiterung verändert. 217 „Bauschutt, Fabrikaschenwege, Kanalisationsarbeiten und dergleichen gab es auch noch nicht zu unserer Zeit in der Vogelstadt, genannt „Zum Vogelsang. Die Vögel hatten dort wirklich noch nicht ihre Baupläne dem Stadtbauamt zur Begutachtung vorzulegen.“ (BA XIX, 219). 235 Abbildung 25: Adolph Menzel, Der Blick auf Hinterhäuser (1847) In der Thematisierung dieses Motivs gibt es wichtige intermediale Wirkungen zwischen Literatur und Malerei. Raabe als Schriftsteller reflektiert detailliert über die Motivationen, Möglichkeiten und Hindernisse der Nachbarschaftsbewohner, die ihre Wohnorte verlassen. Die drei Charaktere des Romans symbolisieren die Veränderung des Sozialraums und zeigen drei verschiedene Reaktionen auf die Veränderungen. Als Grund zum Untergang bezeichnet Raabe nicht eine gnadenlose Urbanisierung, sondern zeigt, dass die Voraussetzungen dafür schon im Inneren der idyllischen und als eine zusammengehörende Familie funktionierenden Nachbarschaft existierten. Wie Dirk Göttsche es treffend formuliert, kommt die Aufstiegsmentalität „früher als die Konservenfabrik“ (91). Die Entwurzelung der Einwohner und der Zusammenbruch der alten Lebensformen sind nicht nur als Folgen der äußeren Veränderungen außerhalb der Nachbarschaft, sondern auch Fortsetzungen der Veränderung der bürgerlichen Mentalität 236 innerhalb der Gemeinschaft, wie der Erzähler es dem Leser nüchtern zur Kenntnis bringt, während seine Eltern über den Verkauf ihres Hauses entscheiden: Wahrhaftig, ich bin es nicht gewesen, der die zwei treuen, wacheren Seelen [die Eltern] mit ihren Wurzeln aus dem Boden hob und sie so in ihren greisen Tagen in ein fremdes Erdreich versetzte! Ihre liebe menschliche Torheit war’s, die da Pflicht, Pflichten, Vorzug, Gewinn, Ehre, Lob, Ruhm und Glück sah, wo die übrigen Millionen unserer Brüder und Schwestern im Erdenleben – ebendasselbe sahen. (Hervorhebungen von mir, BA XIX, 322) Wie die Eltern ziehen sich auch die Vertreter der zweiten Generation aus der Nachbarschaft aus: Helene kehrt in die Vereinigten Staaten zurück, Velten Andres studiert in Berlin und Karl Krumhardt, der Familientradition folgend, in Göttingen. Raabes Erzähler, Karl Krumhardt, wird in der Schilderung dieser bedeutungsvollen Entscheidung nicht sentimental und geht als ein Chronist um, der die Veränderungen, wie die zeitgenössischen Maler die sich verändernde Berliner Altstadt, nüchtern registriert. Raabe zeigt durch die städtebaulichen Veränderungen gnadenlos, welchen Preis man für den bürgerlichen Aufstieg und für die soziale Mobilität bezahlen muss. Neben den verschwindenden Vorstädten bekommen bestimmte zentrale Orte, die mit der Berliner Universität verbunden sind, eine wichtige Rolle in der zweiten Hälfte des Romans. Einerseits werden die Unterschiede zwischen dem Universitätsstudium in Göttingen und Berlin thematisiert.218 Die Entscheidung war auch eine persönliche Entscheidung von Raabe: Die Wahl zwischen der preußischen Hauptstadt mit ihrer nationalpatriotischen und revolutionären Tradition als Studienort und Göttingen, wo sich Raabes Vater und Bruder für die juristische Beamtenlaufbahn im Herzogtum 218 Berlin ist in den späteren Raabe Texten eine Stadt der Gelehrten. Das Gelehrtendasein bietet Zuflucht und Befriedigung in der Anonymität Berlins. Gelehrten, die in Berlin studierten erscheinen in mehreren Romanen Raabes. Die haben auch die Funktion, in der sich wachsenden Stadt ein ruhiges Einzelleben zu führen. „Doktor in Berlin“, „Berliner Doktor“ gibt es in vielen Texten: Ein Frühling zB. Der Naturwissenschaftler in Pfisters Mühle: „meine vier Wände in Berlin, die Bücher an den Wänden und der Blick durchs Fenster in die bunte lärmende Gasse“ (BA XIV, 263). 237 Braunschweig ausbilden ließen. Dementsprechend wird Karl Krumhardt zum Studiosus juris in Göttingen und Andres Velten zum Studiosus Philosophiae an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität. Krumhardt besucht seinen Kindheitsfreund während des Studiums in der mit Bedacht konstruierten Studentenstube Veltens in der Dorothenstraße, die als eine Nachbarschaft von Zugezogenen und Außenseiter in der Mitte der „Millionenstadt“ (BA XIX, 280) fungiert. Die beiden Jugendfreunde besuchen die alte aus Jena stammende Frau Fechtmeister Feucht, bei der Velten Andres untergebracht ist und deren Hinterhofwohnung mit ihren Erinnerungstücken die emanzipatorische Studentenschaft ins Leben ruft: In ganz Deutschland gab es kein Witwenstübchen, das diesem glich. Mitten in diesem Berlin diese ganze deutsche Jugend, soweit sie sich in Jena und auf ihren Verbindungsbildern zusammengefunden hatte! Alle Wände damit bedeckt; -dazwischen, wo nur ein Räumchen, alles voll von Schattenrissen mit allen Couleuren an Mütze und Band. Waffentrophäen statt des Spiegels, Schläger und Stulpen und was sonst noch dazu gehört, wo nur noch was Äugzuhängen war. Keine Ritterdame des romantischen Mittelalters hatte je zu der Ausstattung ihres Ahnensaales und ihrer Kemenate so gepasst wie die Frau Fechtmeisterin Feucht zu dem Schmuck und der Zierde ihres Altweiberstübchens, wie gesagt: mitten in diesem Berlin! (BA XIX, 281) Nicht die Aktualitäten der Berliner Universität werden in Raabes Roman dargestellt, sondern ein Stück von deren Vergangenheit betont. Das gelehrte Berlin wird nie als ein öffentlicher Ort geschildert, sondern kommt in privaten Zimmern und seltsamen Interieurs zu Tage. Die kleine Stube der Frau Fechtmeister Feucht funktioniert, wie in anderen Romanen einzelne Häuser (das seltsame Haus in der Blutgasse in Ein Frühling) oder bestimmte Kirchen (die Sophienkirche in der Chronik) als eine Metapher der gesamtdeutschen Geschichte aber auch als eine Kritik der Berliner Universität und 238 Gelehrten. Die Kritik der Berliner Universität, die die ursprünglichen Ziele der emanzipatorischen Studentenschaft nach Raabe nicht in Erfüllung gebracht hat, wird im Folgenden Eduard Gaertners Lithographie Portal der Universität zu Berlin (1932) gegenüber gestellt. Abbildung 26: Eduard Gaertner, Lithographie Portal der Universität zu Berlin (1832) Die im Königlichen Lithographischen Institut gedruckte Lithographie Gaertners offenbart einen ungewöhnlichen Blick auf die Hauptfront des Opernhauses zwischen zwei massiven Schilderhäusern hindurch. Die beiden denkmalartigen, die Oper optisch 239 rahmenden Bauten sind Bestandteile eines Zauns, der den Ehrenhof des ehemaligen Prinz-Heinrich-Palais abschließt (Bartmann, 301). Die Darstellungsweise ist ganz eigenartig, da Gaertner sich dem Thema auf unabhängige und originelle Weise nähert. Zwei Gruppen diskutierender Studenten hat der Maler zwischen die beiden portalbildenden Schilderhäusern gestellt. Ihre Kleidung, wie z.B. Schirmmützen und hohe Stiefel, macht sie als Burschenschaftler kenntlich. Zwischen beiden Gruppen besteht eine Distanz, die durch das halbseitig geschlossene Torgitter noch betont wird. Ein in der Türöffnung stehender Student tritt als Vermittler auf. Er trägt unter seinen verschränkten Armen zwei Schläger, degenartige studentische Waffen. Die Szene erschließt sich somit als eine Vorbereitung für ein Duell.219 In diesem Sinne entsteht vor dem Berliner Publikum eine weitverbreitete Vorstellung des studentischen Lebenswandels. Die von den Burschenschaftlern ausgefochtenen Duelle und ihr Auftreten in den nächtlichen Straßen mögen in der biedermeierlichen Geordnetheit in der noch jungen Universitätsstadt Berlin befremdlich gewirkt haben, boten aber genug Anlass für genrehaften Darstellungen (Bartmann, 302). So ist Gaertners Darstellung weniger ein Sinnbild auf sich im Schutze der Nacht treffende, von Reaktion und Demagogenverfolgung bedrohte, politisch engagierte Studenten, sondern eher ein illustratives und genrehaftes Motiv. Bartmann schreibt auch, dass es wegen des Druckortes auch schwer vorstellbar ist, dass das Bild antihöfische oder revolutionäre Gesinnung propagieren sollte, jedoch macht die nächtliche Atmosphäre die Abbildung in diesem Sinne schon ambivalent (303). 219 Die Beschreibung der „Handlung“ des Bildes habe ich von dem Kunsthistoriker Bartmann übernommen. 240 Wilhelm Raabe benutzt ein ähnliches Topos in Die Akten des Vogelsangs, in dem die als Museum fungierende Stube das Scheitern der Studentenbewegungen enthüllt. Im Gegensatz zu Gaertner stellt Raabe die Berliner Universität nicht als einen öffentlichen Ort dar, sondern präsentiert ihr wahres Wesen durch ein vorsätzlich dekoriertes Interieur. Die Ereignisse in Gaertners Lithographie finden jedoch, wie die Begegnung der Frau Fechtmeister Feucht bei Raabe, während der Nacht statt. Raabe greift auf das malerische Erbe des Biedermeiers zurück und formuliert seine Kritik über die Bildungspolitik durch ein Interieur, ein Stillbild, das den Leser auf die revolutionären Studentenbewegungen der jüngsten Vergangenheit erinnert. Der Spätroman Die Akten des Vogelsangs behandelt zwei völlig unterschiedliche Berlin-Topographien in einem Text. Verknüpfungsfiguren sind die Repräsentanten der zweiten Generation, deren Eltern als erste in die Stadt umziehen. In beiden Fällen äußert der Erzähler eine nüchterne, distanzierte Kritik über die gesellschaftlichen, ökologischen und bildungspolitischen Veränderungen, die im derzeitigen Berlin stattfinden. In der dargestellten urbanen Topographie findet man mehrfache thematischen und ästhetische Entsprechungen mit der zeitgenössischen aber auch mit der biedermeierlichen Stadtmalerei. Schlussfolgerung Drei ausgewählte Romane standen im Fokus des vierten Kapitels, die alle in Berlin stattfinden und als repräsentative Werke von Raabes Berlin-Texten aus drei verschiedenen Zeitpunkten angesehen werden können. Ein traditioneller Topos der 241 literarischen Stadtbeschreibung erscheint in den ersten zwei Romanen, der Besuch des Provinzlers in der Stadt, der auf all die Reize, die ihn in der Stadt erwarten, nicht vorbereitet ist. In dem dritten Roman sind die Protagonisten geborene Berliner, jedoch gibt es eine topographische Spaltung im Roman zwischen den verschwindenden alten Nachbarschaften und der modernisierenden Großstadt. Einige von den Gestalten kommen in Berlin entgültig zu Hause an (Klärchen Aldeck oder Karl Krumhardt),220 andere (wie Robert Wolf) treffen die Entscheidung, auf das Land zu ziehen und die Stadt zu verlassen. Berlin wird in allen drei Romanen ohne Namen dargestellt, jedoch wird es in allen drei Fällen klar, dass das Geschehene in der deutschen Hauptstadt spielt. Obwohl die drei Romane drei verschiedene Themen behandeln, gibt es viele Ähnlichkeiten, die die Charakteristik der Raabeschen Berlin Romane ausmachen. In allen drei Texten geht es um eine geschlossene Gruppe von Figuren, die zusammen, in der Provinz oder in einer ländlichen Vorstadt, großgeworden sind. Durch diese Lebensgeschichten entsteht eine Polarität zwischen der Kleinstadt und der Grosstadt sowie zwischen der verschwindenden Altstadt, den ländlichen Vorstädten und modernen Stadtteilen innerhalb von Berlin. Die Suche nach Sicherheit und die Wichtigkeit der intimen inneren Räume erscheinen in allen drei Texten und Raabe bietet seinen Protagonisten eine Zahl von Möglichkeiten an (z.B. auf dem Lande sesshaft zu werden oder in der Mitte der Stadt eine Oase finden zu können). 220 Eberhard Pfister und seine Ehefrau Emmy in Pfisters Mühle ziehen sich nach Berlin um. Die junge Frau bringt den heimatlichen „wundervollen Efeu“ auf ihren Berliner Balkon mit, ein Motiv, das auch in der Chronik erscheint. Sie fühlen sich wohl in der Großstadt, in der sie in einer modernen Mietswohnung sesshaft werden: „Wir waren auch in Berlin viel eher, als wir es dachten. Und obgleich es heute nicht mehr die Kirchtürme der Städte sind, sondern die Fabrikschornsteine, die zuerst am Horizont auftauchen, so hindert das einen auch heute noch nicht, gesund, gesegnet und – soviel es dem Menschen auf dieser Erde möglich ist, zufrieden mit seinem Schicksale, ergeben in den Willen der Götter, nach Hause zu kommen. Dichter drängte sich mein junges Weib an mich heran und flüsterte: ‚Ich freue mich so sehr auf unsere eigenen vier Wände, und ich will es dir auch so behaglich machen, dass du denken sollst, das Beste habest du doch mitgebracht nach Berlin von Pfisters Mühle.“ 242 Obwohl Raabe nach der Niederschreibung und dem Erfolg der Chronik nie wieder in Berlin sesshaft geworden ist und auch in seinen Spätwerken seine Jugenderlebnisse dominieren, beschäftigt er sich mit einer beachtlichen Zahl von zeitgenössischen Problemen, die als Folge der raschen Urbanisation und Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Berlin auftraten. Wie die zeitgenössischen malerischen Repräsentationen Berlins setzt sich auch Raabe mit den städtebaulichen Veränderungen auseinander und sucht nach den Motiven und Folgen der rapiden Transformation. Seine Werke lehnen den Fortschritt und die Modernisierung nie ab, jedoch zeigen sie den Lesern sachlich und distanziert, was für eine Wirkung der Wandel der traditionellen Lebensverhältnisse auf das Leben des Einzelnen ausüben kann und welche Entscheidungen zu bestimmten Veränderungen führen können. Trotz der verschiedenen Themen und Topographien wird Berlin in den drei Texten oft mit den gleichen semantischen und erzähltechnischen Mitteln charakterisiert. Die Doppelbegabung Raabe korrespondiert dabei mit Themen der zeitgenössischen Malerei aber mobilisiert auch Abbildungen aus der Biedermeierzeit. In dieser Weise entstehen komplexe Darstellungen von zahlreichen Problemen und Paradoxien über Großstadtentwicklung und Modernisierung. Mit der Anwendung von schon existierenden literarischen und malerischen Vorbildern macht Raabe bewusste und erfolgreiche Einschreibungsversuche in den schon existierenden literarischen und malerischen Kanon von Berlin-Repräsentationen des 19. Jahrhunderts. 243 SCHLUSSWORT Zwei in dieser Dissertation behandelte Texte sind heute die bekanntesten Darstellungen der Berlin-Literatur des 19. Jahrhunderts: E.T.A. Hoffmanns letzte Erzählung Des Vetters Eckfenster und Wilhelm Raabes Debütroman Die Chronik der Sperlingsgasse. Seit der Entstehung dieser Werke suchen Spaziergänger in Berlin immer wieder nach den Spuren der beiden Schriftsteller, wenn sie die Spreegasse oder die Umgebung des Gendarmenmarktes besuchen. Beide Werke haben im Kanon der Berlin-Texte einen festen Platz, da beide Autoren Beobachtungsprozesse und Modelle zur Stadtbeschreibung ins Leben riefen, die nicht nur Schriftsteller der nachfolgenden Berlin-Texte, sondern auch Kritiker und Journalisten der späteren Jahrzehnte mit Vorliebe benutzten. Des Vetters Eckfenster und Die Chronik der Sperlingsgasse verfügen über mehrere Berührungspunkte, die in den früheren Texten von Hoffmann bzw. in den späteren Texten von Raabe nicht mehr vorkommen. In beiden Prosatexten dienen konkrete Berliner Orte und autobiographische Erlebnisse zur Förderung der Fantasie, und beide Texte bieten präzise Einsichten in die soziale Welt des Berlins der 1820er und 1850er Jahre. In beiden Fällen spielen das Bestreben nach einem Verständnis der Veränderungen in der Stadt, die Einbildungskraft des schöpferischen Beobachters und die Entzifferung der beobachteten Figuren eine wichtige Rolle in der Konstruktion der literarischen Texte. Beide Autoren beschreiben eine Masse, aber diese Beschreibungen weisen auch wesentliche Unterschiede auf. Obwohl die Masse in beiden Texten aus einer Distanz 244 beobachtet und beschrieben wird, sind die Schilderungen der beobachteten Szenen bei Hoffmann mit Humor und Fantasie gefärbt, werden sie bei Raabe mit einer wissenschaftlichen und nüchternen Stimme charakterisiert. Raabe greift jedoch auf das literarische Erbe von Hoffmann mehrmals zurück und schreibt sich in eine Tradition ein, wie im dritten und vierten Kapitel an mehreren Beispielen demonstriert wurde. Den auffälligsten Berührungspunkt zwischen den zwei Texten bilden die vom Leben abgewandten Erzähler, die in der Abschreibung ihrer Beobachtungen das Fenster als Hilfe benutzen. Diese Position konnotiert in beiden Fällen eine ambivalente Haltung. Einerseits enthüllt sie die Vereinsamung und die Isolation des Erzählers in der Stadt, anderseits zeugt sie von einer Faszination, da das vom Fenster aus erlebte und beobachtete Stadtleben zum Anlass des literarischen Schaffens wird. Die Auseinandersetzung mit der Stadt wird dementsprechend auch ambivalent: die Stadt als Darstellungsobjekt fördert die literarische Tätigkeit, gleichzeitig stellt sie die Autorität des Erzählers über den Erzählstoff in Frage. In beiden Werken gibt es nämlich mehrere Erzähler. In Des Vetters Eckfenster schreibt der Besucher den Text auf und bleibt der als Schriftsteller dargestellte Vetter ausgeliefert und gelähmt im Hintergrund. In der Chronik ist der Nachbar-Karikaturist Strobel der Verfasser einiger Seiten und der Erzähler Wachholder thematisiert mehrmals die sich verändernde Rolle des Schriftstellers im zeitgenössischen Berlin. Diese innovativen Erzähltechniken bilden einen Bruch in der herkömmlichen Erzählweise. Beide Texte können als Experimente mit der Wahrnehmung in der Großstadt charakterisiert werden, indem Themen wie Sichtbares und Unsichtbares, Natur und Kultur, Privates und Öffentliches mehrmals thematisiert werden. 245 In der Entwicklung von neuen Techniken, um die veränderten Realitäten der Großstadt effektiv beschreiben zu können, kann man in beiden Fällen über ‚eine Kreativität wider Willen’ sprechen. Beide Schriftsteller entwickeln etwas Neues, aber beide Erzählerfiguren erscheinen auch als resignierte Gestalten inmitten der wachsenden Stadt. In dieser Weise wird die Großstadt gleichzeitig zum Objekt von Sehnsucht und Furcht. Beide Texte literarisieren eine neue Wahrnehmung aus der Perspektive eines Außenseiters, der als Provinzler nach Berlin kommt und sich mit den Realitäten einer neuen Umgebung auseinandersetzen soll. Diese Auseinandersetzung findet auf mehreren Ebenen statt: Hinweise auf die aktuelle politische Geschichte und auf die Stadtgeschichte Berlins sowie Anspielungen auf die gesamtdeutsche Geschichte erscheinen in beiden Werken. Die neuen objektiven Realitäten der Großstadt üben einen markanten Einfluss auf die ästhetische Gestaltung der Texte aus, die neben der innovativen Erzähltechnik in beiden Texten in einer erhöhten Visualität zu Tage kommt. Beide Prosatexte sind intermediale Produkte des 19. Jahrhunderts, indem man mehrfache Experimente mit der Wahrnehmung der Welt mittels der konkurrierenden Kunst der Malerei entdecken kann. Beide Autoren bezeichnen sich als Maler und beschreiben kurze Szenen und Bilder, in ihren Texten. Die intensivierte Visualität zeigt, dass wie sich die Wahrnehmung der Stadtbewohner im rasch verändernden und zur Großstadt wachsenden Berlin des 19. Jahrhunderts veränderte. Diese Texte sind jedoch nicht die einzigen literarischen Auseinandersetzungen mit der preußischen Hauptstadt, da beide Autoren eine Menge andere Berlin-Texte verfassten. Die früheren Berlin-Texte Hoffmanns zeigen, dass die rational erfassbare 246 Welt zugleich eine Kehrseite besitzt, die in der Literatur einfacher darzustellen ist als in anderen Bereichen. Im Gegensatz dazu bieten Raabes Texte dem Leser distanzierte, nüchterne Beschreibungen des wachsenden Berlins und seiner ökologischen, gesellschaftlichen und städtebaulichen Probleme. Die zwei bekanntesten Texte haben jedoch diese früheren bzw. späteren Werke in den Hintergrund gedrängt und dominieren, wenn man Hoffmanns bzw. Raabes literarisches Berlin charakterisiert. Die Beschreibungen des Gendarmenmarktes und die Bilder der Sperlingsgasse werden in beiden Fällen als die bestgelungensten Repräsentationsformen angesehen. Die weniger bekannten Berlin-Texte der beiden Autoren zeigen jedoch, dass Berlin im ganzen Oeuvre eine wichtige Rolle spielt und die bekanntesten Beispiele mehrere Vorgänger bzw. Kontinuitäten haben. Wenn man diese Korpora von Texten statt der einzelnen Werke in Betracht zieht, werden die Berlin-Bilder von Hoffmann und Raabe viel differenzierter. Während Hoffmanns Protagonisten in den früheren BerlinTexten als Außenseiter beschrieben werden, kommt der letzte Erzähler in Berlin an. Statt der früheren mobilen Gestalten benutzt Hoffmann eine sesshafte Figur, welche die Stadt von seinem Fenster aus sehr gut kennt. Im Gegensatz zu Hoffmann beginnt Raabe mit einer ähnlichen Position, jedoch entfernt sich sein Blick von der Stadt und bevorzugt in den späteren Texten eine viel distanziertere Position, die unter anderen durch die Anwendung des Turmblickes sichtbar wird. Raabe beobachtet Berlin aus einer Distanz und er beschreibt in einem nüchternen Ton, was die Vor- und Nachteile der Urbanisierung sind. Hoffmann beendet seine Berlin-Texte im damaligen Zentrum, so dass er selbst zum Teil der Stadt wird, zu einer der Legenden Berlins. 247 Bekannte und weniger bekannte Stadttexte von Hoffmann und Raabe zeigen, dass die Wahrnehmungsveränderung und die Veränderungen im Zivilisationsprozess im sozialen Raum der Stadt eng ineinander greifen. Diese Dissertation zeigt, dass die poetischen Auseinandersetzungen von Hoffmann und Raabe in Form von Prosa mit anderen wissenschaftlichen, politischen und ökonomischen Texten der Kultur, in der sie entstehen, in enger Beziehung stehen. Die kulturwissenschaftliche Analyse der literarischen Primärtexte in einem breiteren Kontext, mit der Hilfe von nicht-fiktiven, außerliterarischen Texten, Berlin-Ansichten und architektonische Konzepten, hat die Kapazität, die Komplexität der Primärtexte tiefer darzustellen. Die Berlin-Texte der beiden Autoren sind nicht nur poetische Abbildungen der Veränderungen, die das mittelalterliche Cölln/Berlin in eine moderne und signifikante europäische Stadt verwandelten, sondern auch aktive Agenzien der von der Stadt geformten Bilder. Die Prosatexte, Gemälde, Fotografien, und später der Film, schaffen nämlich solche Repräsentationsformen, die neben den nicht-fiktiven Quellen als wichtige Referenzen fungieren können. Die objektive Wahrnehmung wird oft zu einer Illusion und in diesem Fall kann die künstlerische Darstellung der Stadt das von der Stadtgeschichte bekannte Berlin modifizieren und einige von Historikern und Stadtforschern bislang nicht gefüllte Lücken ergänzen. Die Stadtbilder Hoffmanns und Raabes sind deshalb nicht nur poetische Abbilder von bestimmten Orten des damaligen Berlins, sondern wie Architekten formen sie ein Berlin, das eigentlich nur eine unsichtbare, imaginäre Stadt ist. 248 LITERATURVERZEICHNIS Siglen: BA: Wilhelm Raabe. Sämtliche Werke. Braunschweiger Ausgabe. Hg. von Karl Hoppe. Freiburg i. Br. und Braunschweig: Verlagsanhalt Hermann Klemm, 1951ff. SW: Hoffmann, E.T.A. Sämtliche Werke in sechs Bänden. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1985ff. Bd. 2/1: Fantasiestücke in Callot’s Manier. Werke 1814. Hg. von Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen und Wulf Segebrecht. 1993. Bd. 2/2: Die Elixiere des Teufels. Werke 1814-1816. Hg. von Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen. 1988. Bd. 3: Nachtstücke. Klein Zaches. Prinzessin Brambilla. Werke 1816-1820. Hg. von Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen. 1985. Bd. 4. Die Serapions-Brüder. 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