university of cincinnati - OhioLINK Electronic Theses and

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university of cincinnati - OhioLINK Electronic Theses and
UNIVERSITY OF CINCINNATI
January 25, 2008
Date:___________________
Laura Terézia Vas
I, _________________________________________________________,
hereby submit this work as part of the requirements for the degree of:
Doctorate of Philosophy (Ph.D.)
in:
German Studies
It is entitled:
Orbis pictus: Intermedialität zwischen Berliner Stadtmalerei und
literarischer Stadterfahrung dargestellt anhand der Werke von
E.T.A. Hoffmann und Wilhelm Raabe
This work and its defense approved by:
Dr. Katharina Gerstenberger
Chair: _______________________________
Dr. Sara Friedrichsmeyer
_______________________________
Dr. Richard E. Schade
_______________________________
_______________________________
_______________________________
Orbis pictus: Intermedialität zwischen Berliner Stadtmalerei und
literarischer Stadterfahrung dargestellt anhand der Werke von
E.T.A. Hoffmann und Wilhelm Raabe
A thesis submitted to the
Division of Research and Advanced Studies
of the University of Cincinnati
In partial fulfillment of the
requirements for the degree of
DOCTORATE OF PHILOSOPHY (Ph.D.)
in the Department of German Studies
of the College of Arts and Sciences
2008
by
Laura Terézia Vas
BA in German and History, University of Szeged, 1999
MA in German, University of Cincinnati, 2001
MS in Architecture, University of Cincinnati, 2007
Committee Chair: Dr. Katharina Gerstenberger
Committee Members:
Dr. Sara Friedrichsmeyer
Dr. Richard E. Schade
Abstract
Orbis Pictus: Intertextuality between Visual Arts and Literature in 19th-century Berlin
Texts in Works of ETA Hoffmann and Wilhelm Raabe
This dissertation explores the relationship between the visual and textual Berlin
representations of E.T.A. Hoffmann and Wilhelm Raabe and architectural and city
paintings among others by Karl Friedrich Schinkel, Eduard Gaertner and Adolph Menzel.
Besides interart comparison the dissertation uses non-fictional aesthetic writings, sociohistorical analyses and contemporary concepts of urban planning in the analyses of
canonical Berlin texts. As city texts often bear an explicit or implicit affinity to the art of
painting, concepts and techniques such as the elevated view, window view and the bird’s
eye view in text and images are compared in Berlin texts and paintings. The dissertation
argues that the innovative visual and textual representations of the civic spaces of Berlin
served as frame for transforming the Berliners’ relationship to their urban environment
and raised a new urban consciousness. The dissertation argues that early city texts and
city paintings reflect similarly upon a new significance of seeing and a changing urban
perception.
The introduction is devoted to methodological questions as it explores the necessity of an
interdisciplinary approach, the terminology for the concept intermediality and the
interconnectedness of the representation of the urban environment in literature and in the
visual arts. The first chapter analyses eight Berlin-texts by E.T.A. Hoffmann and
discusses the label “Berlinische Geschichte” in a wide cultural context with the aid of
Hoffmann’s Berlin drawings and of contemporary Berlin paintings. The second chapter is
devoted the Hoffmann’s Des Vetters Eckfenster (1822), which is compared to two
architectural paintings of the Gendarmenmarkt from 1822 and to the curtain design of the
Schauspielhaus by Karl Friedrich Schinkel. The similarity of the representations
manifests itself in extraordinary perspectives and reveals how the Gendarmenmarkt
contributed to the emergence of a new civic space and a new urban consciousness, whose
most important feature is the democratization of previously privileged vantages on the
canvas as much as in literature. The third chapter interprets Wilhelm Raabe’s Die
Chronik der Sperlingsgasse in context of Eduard Gaertner’s paintings and discusses the
differences and similarities in the two media in regard to the concept of the elevated view
above the city. Raabe mobilizes many images from the reservoir of Biedermeier Berlin
paintings, however fills them with new political contents after the failed March
Revolution. The fourth chapter analyses three Berlin novels by Raabe (Ein Frühling, Die
Leute aus dem Walde, Ihre Wege, Sterne und Schicksale and Die Akten des Vogelsanges)
and focuses on topics such as the description of the new Berlin neighborhoods versus the
Altstadt (especially the vicinity of the university) and industrialization in the novels as
well as in contemporary city paintings.
Keywords: the city in art and literature, Berlin, E.T.A. Hoffmann, Wilhelm Raabe,
intermediality, 19th century German city literature
iii
Kurzfassung
Diese Dissertation zeigt an Berlin-Texten von E.T.A. Hoffmann und Wilhelm Raabe,
dass Grenzüberschreitungen zwischen den bildenden Künsten und der Literatur in den
literarischen und malerischen Repräsentationen von Berlin im 19. Jahrhundert häufig zu
finden sind. Die Berlin-Werke zweier Autoren werden in einem breiten
kulturwissenschaftlichen Kontext untersucht, um zu zeigen, dass die Großstadt eine
Entwicklung von neuen Repräsentationstechniken und innovative literarische Verfahren
fördert. Dieses Phänomen kommt in den besprochenen Texten unter anderem durch eine
erhöhte Wechselbeziehung von Literatur und Malerei zu Tage. Eine intensivierte
Intermedialität zwischen Literatur und der zeitgenössischen Berlin Malerei erscheint zum
Beispiel in panoramengleichen Strukturen, in der innovativen Anwendung der
Vogelschau und des Fensterblickes, sowie in der literarischen Mobilisierung von
Repräsentationstechniken der zeitgenössischen Veduten- und Stadtmalerei. Das Ziel ist
eine materielle Ausweitung des Gegenstandsbereichs der Literaturwissenschaft, indem
die Stadt- und Baugeschichte Berlins, biographische Angaben der beiden Schriftsteller,
außerliterarische Stadttexte, Zeichnungen der beiden Doppelbegabungen und Berliner
Stadtgemälde in die stofflich orientierte Analyse der Primärtexte einbezogen werden. Die
Analyse der literarischen Texte aus dieser Perspektive enthüllt, wie Werke der Literatur
mit anderen Diskursen der Zeit in dialogischer Beziehung stehen und die tradierten
literarischen und malerischen Wahrnehmungsmuster sich in der Auseinandersetzung mit
dem neuen Sujet -- der wachsenden Großstadt -- auflösen.
Das erste Kapitel beschäftigt sich mit Hoffmanns früheren Berliner Texten und versucht
die Kategorie „Berlinische/Berliner Geschichte“ als großstadtliterarische Form zu
konzeptualisieren. Das Kapitel hat das Ziel, neben der Formung und Analyse eines neuen
Korpus von „Berlinischen Geschichten,“ eine thematische und strukturelle
Klassifizierung dieser „Gattung“ vorzunehmen. Die Berlin-Schilderungen von acht
Erzählungen Hoffmanns werden in einem breiteren Kontext untersucht und mit den
Berliner Zeichnungen des Doppeltalents verglichen. Wenn diese Werke aus einer
kulturwissenschaftlichen Perspektive untersucht werden, kommt es zu Tage, dass
Hoffmanns Berlin-Beschreibungen aus einer „bildlosen“ Zeit, aus einer Übergangsphase
in der Berliner Stadtmalerei stammen. Weiters wird die Analyse auch enthüllen, wie
Hoffmanns frühe Berlinische Geschichten als Kritik der damaligen aufklärerischen
Stadtplanung gelesen werden können. Schließlich wird gezeigt, dass die diversen
malerischen und dichterischen Stadtbilder Hoffmanns mit den ästhetischen Ansichten des
Künstlers korrespondieren.
Das zweite Kapitel ist den malerischen und literarischen Repräsentationen des
Gendarmenmarktes, der als ein kondensiertes Modell der modernen Großstadt angesehen
wird, gewidmet. Der Gendarmenmarkt übte auf die Erzähltechnik und Thematik von
E.T.A. Hoffmanns letzter Erzählung, Des Vetters Eckfenster (1822) einen markanten
Einfluss aus. Einerseits erzeugt der Ort intensive Bildlichkeit, andererseits sind die
Verhaltensweisen der Charaktere auf dem Markt und vor dem Theater Komponenten der
Großstadtmentalität, die in theoretischen Werken von Georg Simmel und anderen
Soziologen und Großstadtforschern über 80 Jahre später beschrieben wurden. In der
iv
Analyse wird die Stadtwahrnehmung in Des Vetters Eckfenster in einem breiten Kontext
im Vergleich mit drei malerischen Repräsentationen des Gendarmenmarktes aus dem
Jahre 1822 (von Carl Georg Adolf Hasenpflug, Carl Georg Enslen und Eduard Gaertner)
behandelt. Abschließend wird Karl Friedrich Schinkels Baukunstphilosophie und sein
Bühnenbildentwurf aus dem Jahre1822 mit der literarischen Repräsentation dieses neuen
urbanen Raumes in Hoffmanns letzter Erzählung kontextualisiert. Die Entdeckung des
komplexen Stadtraums und seine Veränderungen im Moment der Entstehung von
Hoffmanns
letzter Erzählung zeugen davon, dass bestimmte soziale,
wahrnehmungsästhetische Phänomene sowohl in der Architektur und malerischen
Repräsentationen des Platzes, als auch in der literarischen Schilderung des Ortes
anwesend sind.
Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit repräsentativen Werken des Berliner
Architekturmalers Eduard Gaertner, die in der zweiten Hälfte des Kapitels thematisch
und strukturell mit der Großstadtdarstellung Raabes verglichen werden. In der Chronik
findet sich nämlich mehrmals eine Imitation bzw. eine Inszenierung der
biedermeierlichen Berliner Architekturmalerei, zu der auch die Werke Eduard Gaertners
zu zählen sind. Eine Intermedialität entsteht zwischen dem Maler Gaertner und dem
Schriftsteller Raabe auf mehreren Ebenen, die anhand der Analyse ihrer
Repräsentationstechniken und der symbolischen Anwendung der öffentlichen und
verborgenen Lokalitäten von Berlin erläutert wird. Raabe mobilisiert ein den Berlinern
bereits bekanntes bildliches Reservoir in seinem Roman, in dem jedoch neben den
intermedialen inhaltlichen und strukturellen Parallelen nach der gescheiterten
Märzrevolution eine Neupositionierung der handelnden Personen stattfindet.
In dem vierten Kapitel der Dissertation werden ausgewählte Werke aus dem Raabeschen
Oeuvre mit den zeitgenössischen malerischen Repräsentationen Berlins, in erster Linie
von Adolph Menzel, verglichen, um die ästhetischen und thematischen Ähnlichkeiten
und Unterschiede herauszuarbeiten. Drei Romane mit drei verschiedenen Themenkreisen
und Erzähltechniken stehen im Zentrum dieses Kapitels: Altstadtromantik und
Großstadtinteresse in Ein Frühling (1857), die Darstellung der Industrialisierung und die
Anwendung der Vogelperspektive in Die Leute aus dem Walde, Ihre Wege, Sterne und
Schicksale (1863) und die Schilderung der Berliner Vorstädte sowie der Universität in
Die Akten des Vogelsanges (1896) und in malerischen Repräsentationen. Die drei
Romane sind drei verschiedene Annäherungen, an die Komplexität Berlins darzustellen
und können auch dazu benutzt werden, die künstlerische Entwicklung Raabes in Bezug
auf seine Berlin-Repräsentationen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu
analysieren.
v
vi
Widmung
Im Andenken an József Vas (1946-1993)
vii
Danksagung
Die vorliegende Arbeit ist als Dissertation am 25. Januar 2008 im Fachbereich German
Studies der University of Cincinnati angenommen worden.
Ich danke besonders meiner Betreuerin Prof. Katharina Gerstenberger für ihr Interesse
und die Unterstützung durch immerwährende Diskussionsbereitschaft und Anregungen.
Auch Prof. Sara Friedrichsmeyer und Prof. Richard E. Schade gebührt mein Dank für das
Zweitgutachten. Beide haben mir als kritische Leser einen großen Dienst erwiesen.
Außerdem gilt mein Dank der University of Cincinnati (dem Lehrstuhl für German
Studies, University Research Counsel und Taft Foundation) für die Verleihung von
Promotionsstipendien. Ohne die Bibliothekare in den UC Bibliotheken und besonders im
Interlibrary Loan Office wäre mir das Beschaffen vieler Bücher schwerer gefallen.
Viele Seminare haben für die Dissertation eine wichtige Basis gelegt, besonders Kurse
von Prof. Edward Dimendberg an der University of Michigan und Seminare von Prof.
Katharina Gerstenberger an der University of Cincinnati. Ich bin auch dankbar für
mehrere Textempfehlungen und Inspirationen von Professors Todd Herzog, Dörte
Bischoff und Alexander Košenina. Ich habe auch an verschiedenen Konferenzen wie an
der GSA 2005 Konferenz in Milwaukee, an der University of Manitoba, University of
Virginia und der Péter-Pázmány-Katholischen Universität in Piliscsaba viele gute
Vorschläge erhalten, für die ich sehr dankbar bin.
Julia K. Baker bin ich besonders für ihre Freundschaft, für das prompte Korrekturlesen
dieser Arbeit und für ihre ausgeprägte Hilfsbereitschaft in den letzten fünf Jahren
dankbar. Meine Mitstudenten, Silke Schade, Aine Zimmerman und Wolfgang Lückel
haben während Doktorandenkolloquien und in Seminaren an der University of Cincinnati
zum Projekt beigetragen. Hier sei jedoch allen Mitstudenten am Lehrstuhl für German
Studies der University of Cincinnati, die direkt oder indirekt zum Gelingen dieser Arbeit
beigetragen haben und nicht namentlich erwähnt wurden, mein herzlicher Dank
ausgesprochen.
Professors Patrick Snadon, John E. Hancock und Liz Riorden im Fachbereich Architektur
an der University of Cincinnati bin ich auch sehr dankbar für ihre Hilfe während der
Arbeit.
Dr. Béla Kerékgyártó an der Technischen Universität Budapest war eine besonders große
und ehrbare Hilfe, dessen Bemerkungen und Vorschläge diese Dissertation mehrfach
verbessert haben.
Meine Studenten im Kurs „Paris, Berlin, Wien: Die Stadt in Kunst und Literatur“ haben
mit ihrem Interesse am Thema und mit ihren kritischen Fragen meine Motivation in einer
besonders schweren Zeit am Leben gehalten.
viii
Ich möchte auch denen danken, die mir durch viele Gespräche, vielerlei Hilfe und
Unterstützung geholfen haben, dieses Projekt durchzuführen. Dieser Dank gilt vor allem
Debbie Page, Maria Romagnioli, Elizabeth Meyer, Marion Piening an der University of
Cincinnati so wie Dr. Márta Harmat und Dr. Erzsébet Forgács in Szeged.
Meiner Familie bin ich dankbar für die Unterstützung, ihre Kraft und ihre Liebe, die mich
alle die Jahre durch mein Studium begleitet haben. Insbesondere möchte ich an dieser
Stelle meiner Mutter, Terézia Újvári, Dank sagen, die mir eine Universitätsausbildung
trotz vieler Schwierigkeiten so selbstverständlich erscheinen lassen und mich ständig
unterstützt hat. Die Arbeit widme ich meinem Vater, József Vas, der mir vor 15 Jahren
vorgeschlagen hat, trotz meines Interesses an Mathematik und Chemie nach dem Abitur
Geschichte und Germanistik zu studieren. Leider hat er nie erlebt, dass ich seinen
Vorschlag so zu Herzen genommen habe und einige Themen, über die wir uns im kleinen
Dorf Tázlár in Ungarn so viel unterhalten haben, auch ihren Weg in diese Dissertation
gefunden haben.
Schließlich danke ich meinem Mann Ferenc Traser nicht nur für seine Soforthilfe bei
Computerproblemen aller Art, sondern auch für seine Geduld und seinen Glauben an
mein Projekt. Ohne seine Hilfe wäre es unmöglich gewesen, diese Arbeit fertig zu
schreiben. Meine zweijährige Tochter, Zsófia Boróka Traser, erinnert mich jeden Tag
daran, wie Lesen und Literatur unser Leben bereichern kann.
ix
Inhaltsverzeichnis
Abstract............................................................................................................................. iii Kurzfassung ...................................................................................................................... iv Widmung ......................................................................................................................... vii Inhaltsverzeichnis ............................................................................................................. x Verzeichnis der Abbildungen......................................................................................... xii EINLEITUNG ................................................................................................................... 1 Doppelbegabungen in Berlin: E.T.A. Hoffmann und Wilhelm Raabe .................... 1 Der Topos Großstadt in der Literatur: Urbanisierung und Visualität .................. 5 Die Periodisierung von Berliner Stadttexten und Werken der Berliner
Stadtmalerei im 19. Jahrhundert .............................................................................. 10 Methodologie: Kulturwissenschaftliche Ansätze und die Erforschung von
Intermedialität............................................................................................................. 16 KAPITEL 1.: Geister und gespenstische Liebesbeziehungen: Die Berlinischen
Geschichten E.T.A. Hoffmanns ..................................................................................... 24 Einführung................................................................................................................... 24 „Das lebendige Leben der großen Stadt, der Residenz wirkt doch nun einmal
wunderbar auf das Gemüth“: E.T.A. Hoffmann in Berlin ..................................... 26 „Vater des Berliner Romans“: Editionsgeschichte der Berlin-Texte Hoffmanns 32 Kalte Herbst- und Winternächte in der Friedrichstadt: Berlin in den
Fantasiestücken in Callots Manier ............................................................................. 36 Seltsame Begegnungen: Berlin in den Nachtstücken ............................................... 46 Brautwerbung in Berlin: ‚Berlinische Geschichten’ in den Serapions-Brüdern ... 53 Geheimnisse und Irrungen: Berlin in den Späten Werken ...................................... 60 Die Klassifizierung von Hoffmanns Berlinischen Geschichten .............................. 65 Intermedialität: Das gezeichnete und das erzählte Berlin bei Hoffmann .............. 69 Die bildlose Zeit Berlins: Hoffmann und die zeitgenössische Stadtmalerei .......... 75 Schlussfolgerung ......................................................................................................... 80 KAPITEL 2.: Rund um den Gendarmenmarkt: Eine ästhetische und sozialpolitische Sehschule in E.T.A. Hoffmanns Des Vetters Eckfenster (1822).................. 82 Einführung................................................................................................................... 82 Des Vetters Eckfenster: Quellen, Stoffwahl und Erzählstruktur ............................ 85 Eine Sonderposition im Hoffmannschen Oeuvre: Stand der Forschung .............. 88 „Prophete rechts, Prophete links / Das Weltkind in der Mitten.“: Der
Gendarmenmarkt als ökonomisches, militärisches, kirchliches und kulturelles
Zentrum ....................................................................................................................... 94 „...mir entwickelt sich daraus die mannigfachste Szenerie des bürgerlichen
Lebens“: Der Markt in Des Vetters Eckfenster......................................................... 95 „Weit, hoch, herrlich der Blick / Rings ins Leben hinein!“: Der gemalte
Gendarmenmarkt im Jahre 1822 und die panoramatische Erzähltechnik in Des
Vetters Eckfenster ...................................................................................................... 103 „Eine Stadt ohne Theater ist wie ein Mensch mit zugedrückten Augen, wie ein
Ort ohne Luftzug, ohne Kurs“: Die Bedeutung des Schinkelschen Theaters in Des
Vetters Eckfenster ...................................................................................................... 119 x
Des Vetters Eckfenster im Kontext der Berlinischen Geschichten ........................ 130 Schlussfolgerung ....................................................................................................... 133 KAPITEL 3.: Berlin in den Werken von Eduard Gaertner und Wilhelm Raabes Die
Chronik der Sperlingsgasse: Ein intermedialer Vergleich ......................................... 136 Einführung................................................................................................................. 136 Berlin und Eduard Gaertner ................................................................................... 140 Malerei der Spreegassen: Die Berliner Altstadt in Gaertners Gemälden ........... 143 Berlin in sechs Stücken gerahmt: Eduard Gaertners Panoramabilder (1834/35)
..................................................................................................................................... 147 „Ohne Bekannte und Freunde in der großen Stadt“: Wilhelm Raabe in Berlin 160 Intermedialität zwischen Gaertner und Raabe: Malerei der Spreegassen und Die
Chronik der Sperlingsgasse ....................................................................................... 164 „Wie ein Gebäude aus den bunten Steinen eines Kinderbaukastens“: Reflexivität
und intensivierte Visualität in der Erzählform ...................................................... 170 „In hübsche Rahmen gefasst“: Der Blick aus der Höhe bei Gaertner und Raabe
..................................................................................................................................... 180 Schlussfolgerung ....................................................................................................... 188 KAPITEL 4.: Berlin-Topographien in ausgewählten Werken Wilhelm Raabes... 190 Einführung................................................................................................................. 190 „Ich bin unendlich froh, dass ich den Berliner Schwindel los bin!“: Berlin und
Raabe nach der Chronik ........................................................................................... 193 Exkursus: Berliner Stadtmalerei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ... 197 Ein Frühling: Zwischen Altstadtromantik und Großstadtinteresse (1857) ........ 202 „Sieh nach den Sternen, gib acht auf die Straßen“: Die Anwendung der
Vogelperspektive in Die Leute aus dem Walde, ihre Sterne, Wege und Schicksale
(1863) .......................................................................................................................... 212 Verlorene Nachbarschaft und Hommage an der Berliner Universität: Die Akten
des Vogelsangs (1895)................................................................................................ 233 Schlussfolgerung ....................................................................................................... 241 SCHLUSSWORT.......................................................................................................... 244 LITERATURVERZEICHNIS ..................................................................................... 249 xi
Verzeichnis der Abbildungen
1. Lindenrolle – Panorama der Straße Unter den Linden, um 1819/20. Verwiebe,
Birgit (Hg). Unter den Linden. Berlins Boulevard in Ansichten von Schinkel,
Gaertner und Menzel. Berlin: GH Verlag, [1997]. S. 80.
2. Karl Friedrich Schinkel, Schauspielhaus, Berlin, 1818-1821.
Bergdoll, Barry. Karl Friedrich Schinkel. An Architecture for Prussia. New York:
Rizzoli, 1994. S. 62.
3. E.T.A. Hoffmann, Die Linden, datiert 8. September 1799. Bleistiftzeichnung,
nachträglich mit Tinte nachgezogen.
Steinecke, Hartmut. Die Kunst der Fantasie. E.T.A. Hoffmanns Leben und Werk.
Frankfurt am Main: Insel, 2004.
4. E.T.A. Hoffmann, Der Kunzische Riss
Hoffmann, E.T.A. E.T.A. Hoffmanns Briefwechsel I-III. Hg. Hans von Müller
und Friedrich Schnapp, Winkler Verlag 1967. II, S. 66.
5. Dismar Dägen, Vogelschaubild der Friedrichstadt (um 1735)
Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin
Museum 1987. S. 23.
6. Carl Friedrich Fechhelm, Der Platz am Operhaus und die Straße Unter den
Linden, 1756
Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin
Museum 1987. S. 27.
7. Foto vom Gendarmenmarkt (2007)
Autor: Ferenc Traser
8. Jacques Callot, Der Jahrmarkt von Impruneta (1620)
9. Carl Georg Adolf Hasenpflug (1802-58), Perspektivische Ansicht des neuen
Schauspielhauses und der beiden Thürme (um 1822)
Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin
Museum 1987. S. 171.
10. Carl Georg Enslen, Blick auf den Gendarmenmarkt (1822)
Bartmann, Dominik und Ancke Gondula (Hg). Eduard Gaertner. 1801-1877.
Nicolai 2001, S. 105.
11. Eduard Gaertner, Ansicht des Gensd’armen-Marktes hieselbst (1857)
Bartmann, Dominik und Ancke Gondula (Hg). Eduard Gaertner. 1801-1877.
Nicolai 2001. S. 287.
xii
12. Explanation of The Cosmorama, 29 St. James’s
Bartmann, Dominik und Ancke Gondula (Hg). Eduard Gaertner. 1801-1877.
Nicolai 2001, S. 105.
13. Bühne des Theaters und Dekoration des Eröffnungsprologs von Karl
Friedrich Schinkel. Feder in Tusche, Sammlung Architektonischer Entwürfe,
Blatt 14, 1826, bzw. 97.
Reprint in Bergdoll, Barry. Karl Friedrich Schinkel. An Architecture for Prussia.
New York: Rizzoli, 1994. S. 63.
14. Eduard Gaertner, Klosterstraße mit Parochialkirche (1830)
Bartmann, Dominik und Ancke Gondula (Hg). Eduard Gaertner. 1801-1877.
Nicolai 2001, S. 279.
15. Eduard Gaertner, Parochialstraße ehem. Reetzengasse (1831)
Bartmann, Dominik und Ancke Gondula (Hg). Eduard Gaertner. 1801-1877.
Nicolai 2001, S. 277.
16. Eduard Gaertner, Ein Panorama von Berlin, von der Werderschen Kirche aus
aufgenommen (1834)
Bartmann, Dominik und Ancke Gondula (Hg). Eduard Gaertner. 1801-1877.
Nicolai 2001, S. 238-239.
17. Wilhelm Raabe, Tuschzeichnung
Peter, Hans-Werner. Wilhelm Raabe. Der Dichter in seinen Federzeichnungen
und Skizzen. Rosenheimer Verlagshaus Alfred Förg GmbH und Co, 1983. S. 54.
18. Wilhelm Raabes Zimmerzeichnungen aus Berlin und Stuttgart
Peter, Hans-Werner. Wilhelm Raabe. Der Dichter in seinen Federzeichnungen
und Skizzen. Rosenheimer Verlagshaus Alfred Förg GmbH und Co, 1983. S. 54,
S. 105.
19. Adolph Menzel, Maurer auf dem Bau (1875)
Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin
Museum 1987. S. 205.
20. Georg Schöbel, Mühlendamm und Fischerbrücke (1890)
Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin
Museum 1987. S. 182.
21. Rudolf Dammeier, Die Spree längs der Stralauer Straße (1882)
Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin
Museum 1987. S. 208.
xiii
22. Max Klinger, Ein Mord ist geschehen (aus dem Opus „Dramen“, 1882)
Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin
Museum 1987. S. 179.
23. Johann Georg Rosenberg, Berlin von den Rollbergen zu sehen (1786)
Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin
Museum 1987. S. 88.
24. Johann Georg Rosenberg, Ansicht Berlins mit dem Halleschen Tor,
aufgenommen am Tempelhofer Berg (um 1785)
Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin
Museum 1987. S. 90.
25. Adolph Menzel, Der Blick auf Hinterhäuser (1847)
Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin
Museum 1987. S. 202.
26. Eduard Gaertner, Lithographie Portal der Universität zu Berlin (1932)
Bartmann, Dominik und Ancke Gondula (Hg). Eduard Gaertner. 1801-1877.
Nicolai 2001, S. 301.
xiv
EINLEITUNG
Doppelbegabungen in Berlin: E.T.A. Hoffmann und Wilhelm Raabe
In jeder Epoche gibt es kulturelle Ausdrucksformen, die in ihren Stilmerkmalen
miteinander korrespondieren und einander wechselseitig fördern. Welche Form
künstlerischer Darstellung den Anstoß zur Herausbildung eines neuen, die Zeit
charakterisierenden Stils, gibt, ist verschieden: Im Barock lag der Ansatz in der bildenden
Kunst und in der Klassik und Romantik bestimmte die Dichtung die Stilentwicklung.
Dagegen ist der Stilwandel im Impressionismus und im Expressionismus am frühesten in
der Malerei zu entdecken. In jeder Epoche kann man eine enge Verbundenheit
beobachten und die verschiedenen Künste haben spannende Grenzüberschreitungen zur
Welt hervorgebracht. Diese Grenzüberschreitungen sind besonders interessant für
Literaturwissenschaftler, wenn die Analysen von literarischen Werke in diesem breiteren
Kontext verdeutlichen, dass Texte und Bilder Produkte eines gemeinsamen stofflichen
Quellenbereiches sind.
Diese Dissertation zeigt an Berlin-Texten von E.T.A. Hoffmann und Wilhelm
Raabe, dass Grenzüberschreitungen zwischen den bildenden Künsten und der Literatur in
den frühesten literarischen und malerischen Repräsentationen von Berlin häufig zu finden
sind. Stadtgemälde und Berlin-Texte korrespondieren und ergänzen einander nicht nur,
sondern stellen auch einen festen Kanon von Repräsentationsformen über Berlin her.
Diese Formen können die gesellschaftlichen, ökonomischen und stadtgeschichtlichen
Veränderungen folgend mit neuen Inhalten erfüllt werden. Diese Dissertation untersucht
die Berlin-Werke zweier Autoren in einem breiten kulturwissenschaftlichen Kontext, um
1
zu zeigen, dass die Großstadt eine Entwicklung von neuen Repräsentationstechniken und
innovative literarische Verfahren fördert. Dieses Phänomen kommt in den besprochenen
Texten unter anderem durch eine erhöhte Wechselbeziehung von Literatur und Malerei
zu Tage. Eine intensivierte Intermedialität zwischen Literatur und der zeitgenössischen
Berlin Malerei erscheint zum Beispiel in panoramengleichen Strukturen, in der
innovativen Anwendung der Vogelschau und des Fensterblickes, sowie in der
literarischen Mobilisierung von Repräsentationstechniken der zeitgenössischen Vedutenund Stadtmalerei.
Die Vielfalt der Texte und Medien verlangt eine kulturwissenschaftliche
Annäherung an die Stadttexte der zwei Doppelbegabungen Hoffmann und Raabe. Diese
Dissertation beleuchtet Gemeinsamkeiten geisteswissenschaftlicher Fächer, deren
Erkenntnismöglichkeiten und Verfahrensweisen viele Ähnlichkeiten aufzeigen. Das Ziel
ist eine materielle Ausweitung des Gegenstandsbereichs der Literaturwissenschaft, indem
die Stadt- und Baugeschichte Berlins, biographische Angaben der beiden Schriftsteller,
außerliterarische Stadttexte, Zeichnungen der beiden Doppelbegabungen und Berliner
Stadtgemälde in die stofflich orientierte Analyse der Primärtexte einbezogen werden. Die
Analyse der literarischen Texte aus dieser Perspektive enthüllt, wie Werke der Literatur
mit anderen Diskursen der Zeit in dialogischer Beziehung stehen und die tradierten
literarischen und malerischen Wahrnehmungsmuster sich in der Auseinandersetzung mit
dem neuen Sujet -- der wachsenden Großstadt -- auflösen. Ein Resultat dieser
Veränderung ist neben der innovativen ästhetischen Präsentation des neuen Erzählstoffes
eine thematische Veränderung, da die Stadtbilder von Hoffmann und Raabe keine reinen
Phantasiestädte mehr sind, sondern auch reale Abbildungen der zeitgenössischen
2
sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse des im 19. Jahrhundert sich rapid
verändernden Berlins.
Als Ausgangspunkt der Stoffwahl diente die Doppelbegabung der beiden
Schriftsteller, da beide gleichzeitig mehrfach begabt und künstlerisch tätig waren.
Doppelbegabungen zeigen oft eine besondere Affinität zu den Werken von Malern und
anderen Künstlern auf und dieses Phänomen tritt auch in den literarischen Werken von
E.T.A. Hoffman und Wilhelm Raabe auf.1 E.T.A. Hoffmann2 und Wilhelm Raabe3
besaßen neben ihrer dichterischen Berufung auch eine Begabung als Zeichner und
Maler.4 Intensive Visualität und Referenzen auf die bildende Kunst und auf bestimmte
Maler nehmen eine wichtige Rolle in den Werken der beiden Schriftsteller ein.5 Beide
machen Maler zu Protagonisten oder lassen ihre Erzähler als „Maler“ beim Schreiben
arbeiten.
Neben der Doppelbegabung verbinden Erzählwerke die beiden Schriftsteller,
besonders Hoffmanns letzte Erzählung Des Vetters Eckfenster (1822) und Raabes
Debütroman Die Chronik der Sperlingsgasse (1854/55), die zum festen Kanon der
Berlinliteratur gehören. Ihr Einfluss erscheint auch in den späteren Berlin-Texten aus den
1920er Jahren, in denen Franz Hessel, Walter Benjamin und Joseph Roth während ihrer
1
Vor allem soll hier Hoffmanns Bezug auf Callots bildnerische Darstellungsweise, die auch im Titel der
Sammlung der Fantasiestücke in Callots Manier erscheint. Vgl. dazu unter anderem Bomhoff und Olaf
Schmidt. Ricarda Schmidt hat auch intermediale Beziehungen in mehreren von Hoffmanns Texten
untersucht.
2
Die bekannte Grabinschrift Hoffmanns bezeichnet die Tätigkeiten des Verstorbenen in der folgenden
Weise: „Kammergerichts-Rath / ausgezeichnet / im Amte / als Dichter / als Tonkünstler / als Maler.“ Zu
Beschreibungen des Hoffmannschen zeichnerischen Oeuvres siehe: Böettcher/Mittenzwei 73-83 und Lee.
3
Vgl. dazu Arndt, Hoppe und Peter.
4
Beide Schriftsteller gehören zum festen Kanon der deutschsprachigen Doppeltalenten und ihre
zeichnerische Erbe wurde auch in Anthologien und Büchern untersucht. Vgl. dazu Böettcher/Mittenzwei
73-83 und 162-65 und Günther 77-85 128-32.
5
Z.B. erwähnt der Protagonist in Des Vetters Eckfenster Callot, Hogarth und Chodowiecki , während
Raabe den Erzähler in der Chronik als Maler auftreten lässt und als seinen Mitarbeiter einen Karikaturisten
wählt.
3
Flanerie oft nach dem Erbe der beiden Schriftsteller suchen und ihre Namen nennen.6
Beide Doppelbegabungen kommen als Provinzler nach Berlin und haben das
Großstadtleben als mächtige Bewusstseinserweiterung erlebt. Neben dieser gemeinsamen
Perspektive in ihren literarischen Werken haben beide Berlin, bzw. den eigenen
biographischen Hintergrund, in ihren berühmtesten Berlin-Texten sowohl literarisch als
auch zeichnerisch verewigt: Hoffmann fertigte eine Tuschzeichnung über den
Gendarmenmarktplatz7 an und Raabe eine über seine Berliner Wohnung in der
Spreegasse.8
Für Raabe, der aus dem kleinen Wolfenbüttel nach Berlin kam, um dort zu
studieren, war Berlin „die große Stadt,“ wie er sie nennt, ein Erlebnis und auch Hoffmann
beschreibt in seinen Briefen enthusiastisch, wie sein Geist in der neuen Umgebung
neugeboren wurde. Beide haben sich für die neusten Tendenzen in der zeitgenössischen
Kunst in dem sich verändernden Berlin interessiert und diese Faszination kommt in ihren
Berlin-Texten zum Ausdruck. Im Gegensatz zu Raabe, der die Stadt bewusst verließ und
sich in Braunschweig zur Ruhe setzte, ist Hoffmann am Ende seines Lebens zu einem
stolzen Berliner geworden. In beiden Fällen erscheinen die biographischen Erfahrungen
der Schriftsteller in ihren Werken, in denen auch die Aktualitäten der sich verändernden
preußischen Residenzstadt thematisiert werden. Beide Autoren haben aber in ihren
Werken nicht nur die subjektiven Erlebnisse von nach Berlin übersiedelten Provinzlern
6
Vgl. dazu Hessel: Die Sperlingsgasse wurde eine der wichtigsten literarischen Lokalitäten in den 1920er
Jahren. Franz Hessel besucht sie auch während seines Stadtrundgangs: “Sieh, da zur Rechten zweigt so ein
Gässchen ab, Spreegasse heißt es und Raabes Sperlingsgasse, und da steht auch das Haus, in dem der
Dichter gewohnt hat…” („Rundfahrt“ 65).
7
Zu einer Beschreibung der Tuschzeichnung siehe Georg Wirths Aufsatz.
8
Eine Tuschzeichnung hat Raabe über seine Berlin-Wohnung in der Spreegasse gemacht, die der
Schriftsteller in einem Brief an seine Mutter gesandt hat.
4
verdichtet, sondern auch als Chronisten die objektiven Wirklichkeiten Berlins in ihren
Texten aufgezeigt.
Der Topos Großstadt in der Literatur: Urbanisierung und Visualität
Es war gegen Mittag, als Franz Sternbald auf dem freien Felde unter einem Baume
saß und die große Stadt Leyden betrachtete, die vor ihm lag. Er war an diesem Tage
schon früh ausgewandert, um sie noch rechtzeitig zu erreichen; jetzt ruhte er aus, und
es war ihm wunderbar, dass nun die Stadt, die weltberühmte, mit ihren hohen Türmen
wie ein Bild vor ihm stand, die er sonst öfter im Bilde gesehn hatte. Er kam sich jetzt
vor als eine von den Figuren, die immer in den Vordergrund eines solchen Prospektes
gestellt werden, und er sah sich nun selber gezeichnet oder gemalt da liegen unter
seinem Baume, und die Augen nach der Stadt vor ihm wenden. (Franz Sternbalds
Wanderungen, 1798)
Die Stadt als Gemälde, als gemaltes Bild ist ein oft benutztes literarisches Motiv. Wie das
obige Zitat zeigt, hat auch Ludwig Tieck in Franz Sternbalds Wanderungen diese
Technik angewandt. Die Stadt Leyden, das spätmittelalterliche Kunstzentrum, wird hier
von dem Protagonisten, der sie aus der Ferne betrachtet, noch gar nicht wirklich gesehen,
sondern nur als ein stimmungsvolles Gemälde erlebt. Das Stadtbild im Roman ist ein frei
erfundenes Phantasiegemälde, das später als Hintergrund der Handlung dient.
Stadtbeschreibungen, die Gemälde evozieren, erscheinen auch in Werken des 19.
Jahrhunderts, jedoch verändert sich das obige stimmungsvolle Stillleben mit dem
Aufstieg der Städte und der Verwandlung der Stadtkultur. Während sich mittelalterliche
Städte in industrialisierte Großstädte verwandelt, verändert sich die Wahrnehmung der
Stadtbewohner und diese Wandlung spiegelt sich in der Kunst und Literatur wider durch
die Anwendung von neuen malerischen Techniken und innovativen Erzählstrategien.
5
Die Großstadt ist ein Ort, der die Enttraditionalisierung des Alltagsverhaltens
beschleunigt, und diese Tendenzen haben ihre Spuren in mehreren Bereichen der
ästhetischen Gestaltung des wachsenden Berlin im 19. Jahrhundert hinterlassen.9 Der
Topos Großstadt fördert die Entwicklung von neuen Techniken und
Wahrnehmungsformen. Die Großstadt und ihre einerseits abschreckende, andererseits
erstrebenswerte Erfahrungswirklichkeit haben ein bestimmtes, neues
Wahrnehmungsvermögen hervorgebracht. Die neuen objektiven Realitäten der Großstadt,
wie neue Formen von Architektur, Ökonomie und öffentlichen Verkehrsmitteln, die
aufgrund der demographischen Veränderungen in den Straßen wimmelnden Massen, der
damit verbundene Lärm, haben einen markanten Einfluss auf das literarische Narrativ
sowie auf die ästhetische Gestaltung von Stadtgemälden ausgeübt. Kunst und Literatur
reagieren auf diese Veränderungen und deuten das neue Wahrnehmungsvermögen
ästhetisch.
Die neue Wahrnehmung bedeutete neue Einsichten in die fundamentalen
Kategorien von Zeit und Raum, in die Grenzen des Individuums und die Autonomie des
Einzelwesens. Die Beziehungen und Angelegenheiten des typischen Großstädters werden
immer mannigfaltiger und komplizierter. Mit dem Erscheinen von neuen Technologien
und der neuen Nutzung von öffentlichen und privaten Räumen erfahren Stadtbewohner
Zeit und Raum anders als früher10 und urbanes Verhalten bringt eine neue Polarität
zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, Isolation und Partizipation und Alleinsein und
Dabeisein mit sich. Die Theoretisierung dieser Erfahrungen und die Beschreibung der
neuen Wahrnehmung der Großstadtbewohner fand allerdings erst um die
9
Vgl. dazu Brüggemann und Lobsien.
Siehe dazu unter anderem Schivelbusch.
10
6
Jahrhundertwende (z.B. in „Die Großstädte und das Geistesleben“ von Georg Simmel,
1903) statt. Das Bewusstsein, dass sich etwas verändert hat, erschließt sich nämlich oft
erst am Ende, wenn ein Prozess zum Abschluss gekommen ist oder, wie Hegel schreibt,
„Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ Mit
dem Tempo und den Mannigfaltigkeiten des wirtschaftlichen, beruflichen,
gesellschaftlichen Lebens entwickelte sich eine neue Subjektivität in der modernen
Zivilisation, die mit der Urbanisierung in einer engen Beziehung steht.
Die obigen Konditionen haben zur Problematik des modernen Lebensgefühls
beigetragen, nämlich zu dem Gefühl der Desorientierung, der Vereinsamung und
Isolation. Die meisten literarischen Texte aus dem 19. Jahrhundert beschreiben eine
Vereinsamung und Isolation des Protagonisten, der vom Lande in die Stadt zieht. Die
Abbildung der sozialen Mobilität und die Schwierigkeiten des Provinzlers, der in der
Stadt ankommt, wird ein wichtiger Topos der sich entfaltenden Stadtliteratur. Durch ganz
Europa konnte man im 19. Jahrhundert eine Migration vom Lande in die Großstädte
beobachten und die Einwohnerzahl der europäischen Städte nahm radikal zu (besonders
in London, Paris, St. Petersburg, Wien und Berlin). Der Umzug vom Land, so Simmel,
erfordert ein völlig unterschiedliches Bewusstsein als das Landleben, das er als langsam,
gewohnt und mit einem „gleichmäßiger fließenden Rhythmus“ charakterisiert (194).11
Die in die Großstadt ziehenden Protagonisten erleben die neue Umgebung in den
literarischen Texten des 19. Jahrhunderts in einer ähnlichen Weise, die der
Literaturhistoriker Robert Alter mit den folgenden Worten beschreibt:
11
Vgl. dazu die folgende Aussage von Jean Paul: „Lasse sich kein Dichter in einer Hauptstadt gebären und
erziehen, sondern womöglich in einem Dorfe, höchstens in einem Städtchen! Die Überfülle und die
Überreize einer großen Stadt sind für die erregbare schwache Kindseele ein Essen an einem Nachtisch und
Trinken gebrannter Wasser und Baden in Glühwein.“
7
The opportunity of social and economic upward mobility might ignite the new
urbanite’s imagination, but the competitive ruthlessness of the metropolis could
easily daunt and defeat him, and his own daily condition was likely to be the state
of deracinated isolation. (5)
Isolation, Vereinsamung jedoch auch Faszination mit der Großstadt sind die
Motivationen in beiden berühmten Texten – in Hoffmanns Des Vetters Eckfenster sowie
in Raabes Chronik – sich mit den komplexen Realitäten der Stadt auseinander zu setzten.
Es wäre jedoch voreilig, die Stadtbeschreibungen des 19. Jahrhunderts mit einem binären
Darstellungsschema – ‚Wunschbild Land und Schreckbild Stadt’ – zu charakterisieren, da
die Werke beider Schriftsteller dem Leser ein viel differenzierteres Bild über die Folgen
der Urbanisierung, sogar eine Faszination mit dem Stadtleben, bieten. Ihre künstlerische
Tätigkeit und Produktivität sind mit der Stadt und mit dem Großstadtleben stark
verbunden und etliche Werke der beiden Schriftsteller können als Produkte einer
ambivalenten Stadtsucht charakterisiert werden.
Die Repräsentation der Veränderungen in der Stadt erfolgt in der Literatur oft
durch die Benutzung einer intensiven visuellen Sprache. Modernität, urbane
Wahrnehmung und die Hegemonie des Sehens sind eng miteinander verbunden. In
kulturwissenschaftlichen Analysen der Visualität, des Sehens und der Sichtbarkeit der
Moderne hat sich früh eine theoretische Konstruktion herausgebildet, nach der der
Diskurs über die Sinne in der Moderne durch die visuelle Wahrnehmung bestimmt ist.12
Die Hegemonie des Sehens ist mit dem Diskurs des Urbanismus in der Moderne
verbunden, was sich zum Beispiel in dem von Georg Simmel zuerst beschriebenen
Übergewicht der Aktivität des Auges gegenüber der des Gehörs in der öffentlichen
Interaktion manifestiert. In einem Exkurs über die Soziologie der Sinne hat Simmel einen
12
Vgl. dazu Simmels Aufsatz über die Sinnesorgane und Brüggemann 5-7.
8
Zusammenhang zwischen der Großstadt, dem städtischen Sozialverhalten und der
Vorherrschaft des Sehens hergestellt. Der Verkehr in der Großstadt zeigt nach Simmel
ein unermessliches Übergewicht des Sehens über das Hören vor allem aufgrund der
Entwicklung der öffentlichen Verkehrsmittel im 19. Jahrhundert, die den weit
überwiegenden Teil aller sinnlichen Beziehungen zwischen den Menschen in der
wachsenden Masse dem Sehen anheim gegeben hat.
Mit dem Auftreten einer intensivierten Visualität in Stadttexten stellt sich die
Frage, wie malerische Ansichten der sich verändernden Stadt mit den literarischen
Werken miteinander korrespondieren und ob sie einander wechselseitig fördern. Dabei
wird vorausgesetzt, dass eine solche Wechselbeziehung mit größter Wahrscheinlichkeit
in den Werken von Doppeltalenten zu finden ist. Da Hoffmann und Raabe in ihren
Berlin-Texten neben den subjektiven Erlebnissen ihrer Protagonisten auch zeitspezifische
ökonomische, ökologische, technische und städtebauliche Veränderungen im
Zusammenhang mit der Urbanisierung beschreiben, verlangt die Analyse ihrer Texte
einen interdisziplinären Ansatz. Um ihre Werke in einem breiten Kontext untersuchen zu
können, folgt zunächst eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten historischen und
städtebaulichen Meilensteine Berlins im 19. Jahrhundert sowie eine kurze Beschreibung
der signifikantesten literarischen und malerischen Abbildungen der Stadt von Hoffmann
und Raabes Zeitgenossen.
9
Die Periodisierung von Berliner Stadttexten und Werken der Berliner Stadtmalerei
im 19. Jahrhundert
Mit dem Ende der Freiheitskriege begann für Preußen eine der längsten Friedensperioden
seiner Geschichte. Auf die Turbulenzen der Napoleonischen Kriege folgte eine Zeit, in
der das Land und seine Hauptstadt keine großen Veränderungen erlebten. Nach einem
Jahrzehnt des nahezu ununterbrochenen Ausnahmezustandes kehrte die Normalität
wieder zurück. Das zentrale und für die Entwicklung Berlins in diesen Jahrzehnten
schlechthin entscheidende Phänomen ist das enorme Wachstum der Stadt. Das ganze
städtische Leben stand im Schatten dieser Expansion. In den drei Friedensjahrzehnten vor
1848 hatte sich die Bevölkerung Berlins verdoppelt. Sie stieg, in stark gerundeten Zahlen,
von knapp 200 000 auf gut 400 000 Einwohner und brachte die Stadt nach London, Paris
und St. Petersburg auf den vierten Platz der europäischen Metropolen (Ribbe I, 480).
Der künstlerische Glanz der Jahre zwischen den Freiheitskriegen und der
Revolution knüpft sich vornehmlich an die großen Namen der Stadtarchitekten Berlins.
Die Gebäude, die Berlin in dieser Zeit berühmt gemacht haben waren in erster Linie die
Bauten im Stadtzentrum, mit denen Karl Friedrich Schinkel Berlin verschönerte. „Ein
neues schönes Berlin ist seit 1815 entstanden, und an den Namen Schinkel knüpft sich
der Ruhm dieser zweiten Gründung“ schreibt Willibald Alexis 1838 (zitiert nach Ribbe I,
499). Neben den Werken Schinkels sollen die Schöpfungen von Gottfried Schadow und
seiner Schüler Christian Rauch, Friedrich Tieck und der Gebrüder Wichmann erwähnt
werden. Schinkel übte auch starken Einfluss auf die Innenarchitektur und
Bühnenbildnerei aus. Nicht nur die Architektur verschönerte sich, sondern auch
10
Straßenbeleuchtung, Kanalisation, neue Verkehrsmittel erschienen auf den Berliner
Straßen und Gewässern.
Die erste Hälfte des Jahrhunderts wird durch die Wiederherstellung der
vorrevolutionären Staats- und Gesellschaftsordnung, eine strikt antiliberale und
antinationale Politik charakterisiert. Seit dem Jahre 1815 befanden sich die
fortschrittlichen Kräfte, die nach der äußeren Befreiung auch die innere erhofft hatten
und nationale und konstitutionelle Wünsche erfüllt sehen wollten, auf dem Rückzug. Die
politischen Ereignisse führten zu einem auf das Interieur gerichteten Lebensstil, der oft
mit der Doppelbezeichnung „Schinkel- und Biedermeierzeit“ beschrieben worden ist.
Dies bedeutet, dass trotz einer reaktionären Politik ein reges künstlerisches, geistiges und
gesellschaftliches Leben die preußische Hauptstadt erfüllte.
Der Überblick der wichtigsten Werke der Berliner Stadtliteratur und der Berliner
Stadtmalerei im 19. Jahrhundert macht deutlich, dass Schriftsteller und Maler in den
verschiedenen Epochen an der Repräsentation der preußischen Hauptstadt unterschiedlich
teilgenommen haben. Die ersten Stadttexte im 19. Jahrhundert stammen von Autoren der
Romantik, die die Stadt nicht nur als literarischen Topos entdeckt haben. „Die
Romantiker der ersten Generation sind keine Provinzler, sondern bewusste Städter“
schreibt Marianne Thalmann (1963, 991).13 Von Ludwig Tieck sagt sie sogar im
Nachwort ihrer Tieck-Ausgabe, dass er „bis in die Fingerspitzen Städter ist“ und „etwas
von den Fleurs du mal ahnt, die im Nächtlichen und Künstlichen der Stadt aufschießen“
(Thalmann 1963, 1003). Diese Haltung erreicht einen Höhepunkt, so Thalmann, bei
E.T.A. Hoffmann, der seine Anregungen „im bunten Gewühl der Stadt“ gefunden hat
13
Marianne Thalmann in der Tieck Ausgabe. Ludwig Tieck Frühe Erzählungen und Romane. Hg. Marianne
Thalmann, München, 1963. S. 991.
11
(Thalmann 1965, 12). Das letzte Werk Hoffmanns, Des Vetters Eckfenster, steht oft am
Anfang der Genealogie von Berlin-Texten.14 Dabei geraten jedoch Hoffmanns andere,
weniger bekannte Berlin-Texte in Vergessenheit, sowie Autoren, die vor Hoffmann
Berlin literarisch behandelten. Berlin wurde nämlich schon im 18. Jahrhundert unter
anderem von Karl Philipp Moritz, Friedrich Nikolai aber auch von weiblichen Autoren
wie Anna Louisa Karsch literarisiert.15
Hoffmanns Des Vetters Eckfenster wurde in der Literaturgeschichte vor allem
durch Walter Benjamins Analyse bekannt, der den Text im 20. Jahrhundert abschätzig als
biedermeierliche Genrebilder bezeichnete. Auch Raabes Chronik wird oft in einer
ähnlichen Weise charakterisiert.16 Jedoch gibt es keine wesentlichen biedermeierlichen
Texte über die Stadt Berlin aus dem 19. Jahrhundert, wohingegen die Stadtmalerei eine
Blütezeit erlebte. Aus der Biedermeier-Epoche ist eine beachtliche Zahl von
Architekturgemälden und Vedutenansichten überliefert.17 Besonders die repräsentativen
Plätze und das neue Zentrum der Stadt sind in den Werken der Berliner
Architekturmalerei verewigt worden. Die Grundgedanken der Biedermeierzeit, die
14
Als ein Beispiel ist Anke Glebers Buch The Art of Taking a Walk zu nennen. Auf der Suche nach den
ersten Großstadtliteraten geht sie bis E.T.A. Hoffmanns Des Vetters Eckfenster zurück.
15
Siehe dazu Sekundärliteratur von Erlin, Košenina und McFarland.
16
Siehe dazu Klotz’ Interpretation von Raabes Debütroman.
17
Allerdings fand um die Jahrhundertwende 1900 eine Neubewertung dieser Epoche in Berlin statt und
dementsprechend erschien das biedermeierliche Berlin in mehreren literarischen Texten. Georg Hermanns
Jettchen Gebert und Henriette Jakoby sind Romane über eine jüdische Familie und spielen im Berliner
Biedermeier in den Jahren 1839/40. Der Autor, Georg Hermann, der neben kunstkritischen Schriften
bereits mehrere Novellen und Romane veröffentlicht hatte, wurde durch diesen Roman zu einem der
meistgelesenen anspruchsvollen deutschen Unterhaltungsliteraten des frühen 20. Jahrhunderts. Nach einer
langen Unterbrechung wurde Georg Hermann in den 1990er Jahren auch in der Literaturwissenschaft
wiederentdeckt. 1999 hat Godela Weiss-Sussex in ihrer Dissertation die Darstellung Berlins in mehreren
von Georg Hermanns Romanen (Spielkinder, Jettchen Geberts Geschichte, Kubinke und Die Nacht des
Doktor Herzfeld) verfolgt und in ihrer Analyse auch die bildende Kunst, Biedermeier und
impressionistische Gemälde, zur Hilfe genommen. Hermann, selbst auch Kunsthistoriker, hat nämlich vor
Jettchen Gebert in einer ausgiebigen Studie unter dem Titel Das Biedermeier im Spiegel seiner Zeit seine
Recherchen über die Geschichte und Kunstgeschichte des Biedermeiers veröffentlicht. Weiss-Sussex stellt
plausible dar wie zum Beispiel das Fenstermotiv, ein beliebtes Symbol auch in der Biedermeier-Malerei, in
Hermanns Romanen von rein dekorativen bis zu symbolischen Intentionen eingesetzt wird.
12
Abkehr von der streng klassizistischen Formenwelt und die Suche nach Schlichtheit,
spiegeln sich in den Werken der Berliner Malerei in diesen Jahrzehnten. Der Hofmaler
Franz Krüger, der die Stadt in seinen Gemälden von den einfachen Volksszenen bis hin
zu den großen Paradenbildern festgehalten hat, gilt mit den Architektenmalern Eduard
Gaertner und Erdmann Hummel als wichtiger Repräsentant der biedermeierlichen
Malerei Berlins.
Im Gegensatz zum Übergewicht von Gemälden, das im Vergleich zu den
literarischen Texten im Biedermeier herrscht, findet man kulturelle Äußerungen der
Vormärzzeit in der Literatur. Der liberale Schriftsteller Willibald Alexis verfasste
umfangreiche historische Werke über Berlin und weitete damit den Blick der Berliner
Stadtliteratur aus. Heinrich Heine, der nur drei Jahre in Berlin verbrachte, ist hier ebenso
zu nennen wie Adelbert von Chamisso, der von 1819 bis 1839 für den Botanischen
Garten in Schöneberg tätig war. Karl Gutzkow gehörte zu den entschiedenen liberalen
Kritikern der politischen Restauration und trieb als geborener Berliner von 1830 bis zur
Reichsgründung 1871 höchst engagierte Berliner „Milieustudien.“ Gutzkow stellte nach
eigenen Worten die „Seelen- und Lebenszustände“ aller Gesellschaftsschichten sowie die
politische und kulturelle Szene der heranwachsenden Weltstadt dar. Auch Bettina
Brentano-von Arnims Dies Buch gehört dem König soll in diesem Kontext erwähnt
werden, da die Schriftstellerin in den Anhang des Königsbuches eine frühe
Sozialreportage mit dem Titel „Erfahrungen eines jungen Schweizers im Vogtland“ über
die Armenkolonie in der Berliner Vorstadt aufnehmen wollte (Diers 128). Die
statistischen Unterlagen, Denkschriften und Zeitungsartikel über die Situation der Armen
13
im Berliner Vogtland wurde sogar für den Druck vorbereitet, jedoch nie veröffentlicht
(Diers 128, Trautmann, 62-65).
Die soziale und kulturelle Topographie der Stadt fand einen Weg in die
realistische Erzählkunst von Fontane, Keller und Raabe. Der Handlungsort Berlin spielt
eine besonders wichtige Rolle in den Werken Fontanes, von dessen 17 Romanen elf ganz
oder teilweise in Berlin stattfinden (Friedrich 184). Fontanes Vertrautheit mit der
Topographie der Reichshauptstadt und seine Fähigkeit, diese Landschaft in ihren
widersprüchlichen Beziehungen seinen Lesern nahe zu bringen, veranlasste den
Publizisten Ernst Heilborn 1909, eine Rezension von Fontanes Gesamtwerken unter dem
Titel Fontanepolis zu veröffentlichen (Friedrich 185). Die Figuren in Fontanes Werken
sind ganz bestimmten Teilen der Stadt zugeordnet und der Schriftsteller benutzt die
Berlinische Topographie, um die zeitgenössischen Gesellschaftskonflikte plausibel
darzustellen.18
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielte das Thema Stadtansicht bis in
die achtziger Jahre in der deutschen Malerei eine eher untergeordnete Rolle. Die im
Biedermeier aufblühende Berliner Malerei hatte in den Jahren nach der 1848er
Revolution zunehmend an Bedeutung verloren. Erst durch den Einfluss des französischen
Impressionismus bekam die Berliner Kunst wieder neue Anreize (Bothe 173). An einer
geringen Zahl von Gemälden aus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zeigt der
Kunsthistoriker Rolf Bothe, dass Maler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neben
der Darstellung von einigen Stadtbauten, der Industrialisierung und den Folgen des
Wachstums das alte Zentrum Berlins für eine kurze Zeit wiederentdeckt hatten (Bothe
180). Die Berliner Stadtmaler, wenig bekannte Zeitgenossen und die zwei wichtigsten
18
Vgl. dazu Gutjahr, Hettche und Wruck.
14
Namen der Epoche, Adolph Menzel und Max Liebermann, wurden zu Bewahrern der
Geschichte und haben in erster Linie die städtebaulichen Veränderungen in der Altstadt
in einer nüchternen Weise gemalt, ohne die Wandlungen dabei kritisch zu würdigen
(Bothe 182).
Im Gegensatz zu der Malerei wurde die wachsende Großstadt in der zweiten
Hälfte des Jahrhunderts in der Literatur öfters kritisch betrachtet. Die negativen
Auswirkungen der industriellen Massenzivilisation wurden in den achtziger Jahren zum
Fokus des literarischen Naturalismus, dessen Hauptthema die Stadt Berlin war. Auch in
der Großstadtlyrik richteten Dichter ihren Blick auf die Probleme der Urbanisierung und
beschrieben das Massenelend, Kriminalität und Entfremdung des Einzelnen. Eine ähnlich
kritische Auseinandersetzung in der Malerei gab es nach dem Kunsthistoriker Bothe
außer in den Werken von Adolph Menzel nur im Bereich der Gebrauchsgrafik (Bothe
178).
Schon eine knappe Periodisierung der Berliner Stadtliteratur und Stadtmalerei
zeigt, dass Schriftsteller und Maler in Bezug auf Abbildungen von der sich verändernden
preußischen und später Reichshauptstadt unterschiedlich inspiriert worden sind. Es gibt
jedoch Wechselbeziehungen zwischen den zwei Bereichen und diese Dissertation setzt
sich zum Ziel, die direkte aber auch indirekte Korrespondenz zwischen Texten und
Bildern herauszuarbeiten. Es soll gezeigt werden, dass die ästhetischen Gestaltungen
Berlins in den Werken von Hoffmann und Raabe im Kontext mit der zeitgenössischen
Stadtmalerei mehrfache Grenzüberschreitungen aufweisen.
Die auch oben benutzten, traditionellen Formeln in der Periodisierung von Kunst
und Literatur sind jedoch, wie Jost Hermand schreibt, vereinfachend:
15
With periodization concepts that are unambiguously based on the primacy of the
political and the social [e.g. Vormärz LV], art is largely degraded to a mere
illustration of certain historical and social processes, while with periodization
concepts based on the autonomy of art [e.g. Realism LV] which try to avoid all
historical references, art is so highly formalized that only mere isms or styleschemes are left over. (29)
Diese Problematik bringt weitere Fragen in Bezug auf die Methodologie der Arbeit zu
Tage. Die Dissertation untersucht nämlich literarische Texte in einem breiten historischen
Kontext und neben den zeitgenössischen Gemälden werden auch nicht-fiktive Texte von
Adolf Glassbrenner, Julius von Rodenberg, Friedrich Saß und Ernst Dronke in Betracht
gezogen.19 Dieser Ansatz behandelt literarische Texte und die Berlin-Gemälde nicht als
Produkte einer Kunstanatomie. Weiters behandelt diese Arbeit literarische Text auch
nicht ausschließlich als Produkte bestimmten gewissen ökonomischen, politischen und
historischen Kontextes. Eine Balance dazwischen ist das Ziel, wie Hermand treffend
formuliert: „Art rises to its full potential only when it seeks to confront social
contradictions in its own way, i.e. by aesthetic means“ (29).
Methodologie: Kulturwissenschaftliche Ansätze und die Erforschung von
Intermedialität
Die Theoretisierung der Wechselbeziehung von den bildenden Künsten und der Literatur
ist das Thema von zahlreichen Studien von Horaz bis heute. Die interdisziplinäre
Forschung zu diesem Verhältnis hat in den letzten Jahrzehnten einen wichtigen Platz in
der Literaturwissenschaft und in der Kunstgeschichte eingenommen. Diese Dissertation
19
Die Literaturwissenschaftler Tunnel und Kaiser schlagen zum Beispiel in ihrem Buch über Paris im 19.
Jahrhundert vor, fiktionale Prosatexte wie Rilkes Malte Laurids Brigge oder Hoffmanns Fräulein von
Scuderi auch „referentiell“ zu lesen, wie ebenfalls die Pariser Sachprosa der Zeit „nur ausnahmsweise
fiktionalisierende Züge völlig entbehrt“ (3).
16
wird dieses Phänomen, das Zusammenspiel verschiedener Medien im Topos der
Großstadtdarstellung im 19. Jahrhundert, im besonderen am Beispiel der Literarisierung
von Berlin untersuchen. Als wissenschaftlicher Ansatz wird in erster Linie das Konzept
Intermedialität angewandt, um in den Analysen von literarischen Texten eine Isolierung
des Einzelmediums zu überwinden und das Beziehungsgeflecht zwischen Literatur und
bildender Kunst zu rekonstruieren.
Unter Intermedialität verstehe ich die Einbeziehung mindestens zweier
konventionell als getrennt angesehener Ausdrucks- und Kommunikationsmedien.20
Thomas Eicher gibt zum Beispiel die folgende Kurzdefinition: „Der Begriff
Intermedialität deutet auf mediale Brückenschläge, das Zusammenspiel verschiedener
Medien. Zu denken wäre hier vor allem an Verbindungen zwischen Musik, Tanz,
bildender Kunst, Sprache“ (11). Generalisierend kann man hier über zwei
Kommunikationssysteme sprechen, die einander gegenseitig beeinflussen, berühren und
nachahmen. Im Text erscheint dieses Phänomen als eine sprachliche Reaktion auf Bilder,
da abgesehen von konkreter Poesie Bilder in den Texten nie richtig sichtbar werden. Wie
Thomas Eicher schreibt:
Der Text verleibt sich auf diesem Wege ein fremdes Medium ein und macht es
zugleich zum comparandum der eigenen sprachlichen Bildlichkeit. Er bedient sich
dieses bereits vorhandenen Reservoirs an Bedeutung, indem er zugleich als
modifizierende, verfremdende oder gar konkurrierende Instanz auftritt, die
bestehende Konnotationen des Bildes jedoch nie vergessen machen kann. (15)
Eine Interrelation kann zum einen zwischen Texten und Bildern innerhalb
desselben Mediums entstehen, wenn zum Beispiel ein Text auf einen vorgängigen Text
Bezug nimmt. Die Benutzung des Terminus Intermedialität wird dann nötig, wenn
Beziehungen komplexe Mediengrenzen überschreiten. Erst durch Dieterle wird
20
Vgl. dazu: Eichler (1994), Luserke (1996) und Scherpe (1998).
17
Intermedialität zum Terminus technicus, nach dem erzählte Bilder Texte sind, „in denen
Bilder nicht nur als Motiv, sondern vor allem als Motivation, Anstoß, Veranlassung eine
tragende Rolle spielen“ (10). Die Möglichkeiten der Bezugnahme reichen bei Dieterle
„von der bloßen Erwähnung eines Malers oder eines Bildes über Bildbeschreibungen,
Erörterungen künstlerischer Fragen bis hin zum Künstlerroman“ (10). In seinem Buch
bietet er auch eine Menge von Analysen von Primärtexten.
Seitdem kann man Studien über Intermedialität in den folgenden Gruppen
einordnen: theoretische Fundierungen (Kranz), Arbeit an einzelnen Texten steht im
Mittelpunkt (Eilert, Dieterle) und richtige Typologisierung bei Ulrich Weisstein (1992) in
einem Handbuch. Weisstein bietet dem Feld eine Einführung in das Verhältnis von
bildender Kunst und Literatur mit einem universalen Geltungsanspruch, während
fünfzehn Formen intermedialer Beziehungen in seinem Buch listet. Die in der
Dissertation interpretierten Texte sehe ich als Beispiele der Intermedialität an, da sie
einerseits als Produkte von Doppeltalenten, andererseits als früheste Beispiele für über
intensive Visualität verfügenden Stadttexten einen Versuch machen, mediale Grenzen zu
überschreiten. Diese Kategorien erscheinen auch auf Weissteins Liste.
Intermedialität ist ein Ansatz der kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft.
Nach Klaus Scherpe und Hartmut Boehme ist Kulturwissenschaft ein Resultat des
„Veralten[s] der philologischen Methoden gegenüber der Entwicklung der Künste selbst“
(Brenner 12), was ein vor allem in der dialogischen Beziehung der Literatur zu anderen
Medien zu beobachtender Prozess ist. In diesem Sinne versucht die Kulturwissenschaft
durch die Entwicklung interdisziplinärer Ansätze und Konzepte wie Intermedialität und
Medienwechsel diesem Prozess entgegenzuwirken. Das Konzept Intermedialität stammt
18
aus dem 20. Jahrhundert und ist vor dem Hintergrund der mit dem Film erscheinenden
Medien zu sehen. Wie der Film im 20. Jahrhundert, funktionierten oft auch neue
malerischen Darstellungsweisen im 19. Jahrhundert, da eine bis dato unbekannte
Innovationsdynamik mit jedem neuen Medium das gesamte Gefüge der kulturellen
Produktions- und Rezeptionsbedingungen verändern kann (Metzler Lexikon, Kultur der
Gegenwart 234).
Es ist jedoch fraglich, in wie fern literarische Texte aus dem 19. Jahrhundert
durch eine im 20. Jahrhundert konzipierte Theorie analysiert werden können. Obwohl
hauptsächlich erst die Medienrevolution im 20. Jahrhundert die Aufmerksamkeit auf die
Interdependenzen zwischen den Medien gelenkt hat, sollen auch ältere Konzepte erwähnt
werden. Im Roman datieren Versuche der Annäherung an die Malerei ab dem Ende des
18. Jahrhunderts, Experimente mit einer Musikalisierung ab der Romantik und Imitation
filmischer Techniken ab der Moderne. Coleridge hat bereits 1812 den Begriff
„Intermedia“ geprägt, um die poetische Verschmelzung verschiedener Künste zu
beschreiben (Metzler Lexikon, Kultur der Gegenwart 233).
G. E. Lessings Bestimmung des medialen und semiotischen Wesens von Malerei,
Plastik und Dichtkunst und die Verhältnisse zwischen ihnen wird immer wieder als
Beziehungspunkt in der Theoretisierung von Intermedialität erwähnt. Lessings Laokoon
beschreibt noch eine deutliche Trennung der Künste, indem er die Darstellungsweisen der
Literatur primär als raumbezogen charakterisiert. Diese Trennung verschwindet aber in
der Romantik, die synästhetische Kunstformen fördert. Der romantische Begriff die
Gattungsgrenzen überschreitenden „progressiven Universalpoesie“ von Friedrich
Schlegel ist bis heute ein wichtiger Ausgangspunkt in den meisten Definitionen von
19
Intermedialität. In diesem Sinne wird das anachronistische Prinzip der Intermedialität in
dieser Dissertation auf Texte des 19. Jahrhunderts angewandt.
Der Fokus ist jedoch auf Literatur, da die Interpretationen von Gemälden in der
Dissertation nicht auf originaler Forschung beruhen und die Dissertation in erster Linie
darauf abzielt, etwas Neues über den Stellenwert der literarischen Texte herauszufinden.
Dabei soll die Anklage gegen die „Literatur-Abgewandheit“ (Barner 5) der
Kulturwissenschaft überwunden werden. Die Primärtexte werden aus einer
ungewöhnlichen Perspektive betrachtet und dabei soll etwas Neuartiges gelernt werden.
Die Dissertation zeigt jedoch, dass ganz allgemeine Wahrnehmungsvorgänge und
Konzeptualisierungsleistungen kaum zu trennen sind und bildende Kunst und Literatur
im 19. Jahrhundert aufschlussreiche Beziehungen miteinander eingehen.
Das erste Kapitel beschäftigt sich mit Hoffmanns früheren Berliner Texten und
versucht die Kategorie „Berlinische/Berliner Geschichte“ als großstadtliterarische Form
zu konzeptualisieren. Das Kapitel hat das Ziel, neben der Formung und Analyse eines
neuen Korpus von „Berlinischen Geschichten,“ eine thematische und strukturelle
Klassifizierung dieser „Gattung“ vorzunehmen. Die Berlin-Schilderungen von acht
Erzählungen Hoffmanns werden in einem breiteren Kontext untersucht und mit den
Berliner Zeichnungen des Doppeltalents verglichen. Wenn diese Werke aus einer
kulturwissenschaftlichen Perspektive untersucht werden, kommt es zu Tage, dass
Hoffmanns Berlin-Beschreibungen aus einer „bildlosen“ Zeit, aus einer Übergangsphase
in der Berliner Stadtmalerei stammen. Weiters wird die Analyse auch enthüllen, wie
Hoffmanns frühe Berlinische Geschichten als Kritik der damaligen aufklärerischen
20
Stadtplanung gelesen werden können. Schließlich wird gezeigt, dass die diversen
malerischen und dichterischen Stadtbilder Hoffmanns mit den ästhetischen Ansichten des
Künstlers korrespondieren.
Das zweite Kapitel ist den malerischen und literarischen Repräsentationen des
Gendarmenmarktes, der als ein kondensiertes Modell der modernen Großstadt angesehen
wird, gewidmet. Der Gendarmenmarkt übte auf die Erzähltechnik und Thematik von
E.T.A. Hoffmanns letzter Erzählung, Des Vetters Eckfenster (1822) einen markanten
Einfluss aus. Einerseits erzeugt der Ort intensive Bildlichkeit, andererseits sind die
Verhaltensweisen der Charaktere auf dem Markt und vor dem Theater Komponenten der
Großstadtmentalität, die in theoretischen Werken von Georg Simmel und anderen
Soziologen und Großstadtforschern über 80 Jahre später beschrieben wurden. In der
Analyse wird die Stadtwahrnehmung in Des Vetters Eckfenster in einem breiten Kontext
im Vergleich mit drei malerischen Repräsentationen des Gendarmenmarktes aus dem
Jahre 1822 (von Carl Georg Adolf Hasenpflug, Carl Georg Enslen und Eduard Gaertner)
behandelt. Abschließend wird Karl Friedrich Schinkels Baukunstphilosophie und sein
Bühnenbildentwurf aus dem Jahre1822 mit der literarischen Repräsentation dieses neuen
urbanen Raumes in Hoffmanns letzter Erzählung kontextualisiert. Die Entdeckung des
komplexen Stadtraums und seine Veränderungen im Moment der Entstehung von
Hoffmanns letzter Erzählung zeugen davon, dass bestimmte soziale,
wahrnehmungsästhetische Phänomene sowohl in der Architektur und malerischen
Repräsentationen des Platzes, als auch in der literarischen Schilderung des Ortes
anwesend sind.
21
Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit repräsentativen Werken des Berliner
Architekturmalers Eduard Gaertner, die in der zweiten Hälfte des Kapitels thematisch
und strukturell mit der Großstadtdarstellung Raabes verglichen werden. In der Chronik
findet sich nämlich mehrmals eine Imitation bzw. eine Inszenierung der
biedermeierlichen Berliner Architekturmalerei, zu der auch die Werke Eduard Gaertners
zu zählen sind. Eine Intermedialität entsteht zwischen dem Maler Gaertner und dem
Schriftsteller Raabe auf mehreren Ebenen, die anhand der Analyse ihrer
Repräsentationstechniken und der symbolischen Anwendung der öffentlichen und
verborgenen Lokalitäten von Berlin erläutert wird. Raabe mobilisiert ein den Berlinern
bereits bekanntes bildliches Reservoir in seinem Roman, in dem jedoch neben den
intermedialen inhaltlichen und strukturellen Parallelen nach der gescheiterten
Märzrevolution eine Neupositionierung der handelnden Personen stattfindet.
In dem vierten Kapitel der Dissertation werden ausgewählte Werke aus dem
Raabeschen Oeuvre mit den zeitgenössischen malerischen Repräsentationen Berlins, in
erster Linie von Adolph Menzel, verglichen, um die ästhetischen und thematischen
Ähnlichkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Drei Romane mit drei verschiedenen
Themenkreisen und Erzähltechniken stehen im Zentrum dieses Kapitels:
Altstadtromantik und Großstadtinteresse in Ein Frühling (1857), die Darstellung der
Industrialisierung und die Anwendung der Vogelperspektive in Die Leute aus dem
Walde, Ihre Wege, Sterne und Schicksale (1863) und die Schilderung der Berliner
Vorstädte sowie der Universität in Die Akten des Vogelsanges (1896) und in malerischen
Repräsentationen. Die drei Romane sind drei verschiedene Annäherungen, an die
22
Komplexität Berlins darzustellen und können auch dazu benutzt werden, die
künstlerische Entwicklung Raabes in Bezug auf seine Berlin-Repräsentationen in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu analysieren.
23
KAPITEL 1.: Geister und gespenstische Liebesbeziehungen: Die Berlinischen
Geschichten E.T.A. Hoffmanns
Einführung
„E.T.A. Hoffmann gibt [den Berliner] Straßen Namen. Er zwingt uns durch diesen
scheinbaren Realismus, wie ihn die Meister des Manierismus von Rabelais zu Bruegghel,
Shakespeare, Cervantes und Callot gekannt haben, die Straßenschilder anders zu lesen“
schreibt Marianne Thalmann in Romantiker entdecken die Stadt (41). Kein anderer
Schriftsteller der Romantik hat realistischere Berliner Ortsangaben benutzt als Hoffmann.
Das Straßennetz Berlins erscheint in mehreren seiner Erzählungen und Lokalitäten
funktionieren als Verknüpfungselemente und intertextuelle Beziehungen, die die
verschiedenen Werken verbinden.
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit Hoffmanns früheren Berliner Texten und
versucht der Kategorie „Berlinische/Berliner Geschichte“ als großstadtliterarische Form
nachzugehen. Der Begriff ‚Berliner Roman’ wurde zum erstenmal in der
zeitgenössischen Berliner Rundschau von Julius von Rodenberg (1875) benutzt, aber
auch Hoffmann verwendete den Untertitel „Berlinische Geschichte“ in seiner Erzählung
Die Brautwahl (1818/19). Seitdem taucht er sporadisch in der HoffmannSekundärliteratur21 sowie auf den Buchdeckeln verschiedener Textausgaben auf.22 Da
die verschiedenen Werkausgaben, die den Untertitel „Berlinische Geschichten
Hoffmanns“ tragen, den Lesern unterschiedliche Texte anbieten, blieb es fraglich, ob der
21
Siehe dazu besonders Klaus Kanzogs Aufsatz.
Z.B. in den folgenden Ausgaben: De Bruyn, Günter und Gerhardt Wolf (Hg). E.T.A. Hoffmann.
Gespenster in der Friedrichstadt. Berlinische Geschichten. Berlin: Buchverlag Der Morgen, 1986 und
Hans von Mueller (Hg). Zwölf Berlinische Geschichten aus den Jahren 1551-1816. Erzählt von E.T.A.
Hoffmann. München: Georg Müller Verlag, 1921.
22
24
Terminus sinn- und gattungsgemäß benutzt werden kann und wenn, welche Werke damit
bezeichnet werden können.
Das Kapitel hat das Ziel, neben der Formung und Analyse eines neuen Korpus
von „Berlinischen Geschichten,“ eine thematische und strukturelle Klassifizierung dieser
„Gattung“ aufzustellen. Im weiteren werden die Berlin-Schilderungen von acht
Erzählungen Hoffmanns in einem breiteren kulturwissenschaftlichen Kontext untersucht
und mit den Berliner Zeichnungen Hoffmanns, in denen er berühmte Berliner
Örtlichkeiten wie Unter den Linden und den Gendarmenmarkt zur Schau bringt,
verglichen. Die kulturwissenschaftliche Untersuchung ergibt, dass Hoffmanns BerlinBeschreibungen aus einer „bildlosen“ Zeit, aus einer Übergangsphase in der Berliner
Stadtmalerei stammen. Darüber hinaus können Hoffmanns frühe Berlinische Geschichten
als Kritik der damaligen aufklärischen Stadtplanung gelesen werden. Die Friedrichstadt
mit ihrem Schachbrettraster und dem streng gewahrten Axialsystem bildet einen
auffälligen Kontrast zu den Abenteuern der Protagonisten, die auf den nächtlichen
Straßen Berlins seltsamen Gestalten und Gespenstern begegnen, und unheimliche
Ereignisse erleben. Es wird auch gezeigt, dass die diversen malerischen und dichterischen
Stadtbilder Hoffmanns auch die ästhetischen Ansichten des Künstlers veranschaulichen.
Das Kapitel beschäftigt sich zuerst mit den drei Berlin-Aufenthalten Hoffmanns,
um zu zeigen, welche Stadtteile und kulturellen Veranstaltungen er besucht und miterlebt
hat, und welchen Einfluss die preußische Hauptstadt auf seine Werke ausübte. Danach
werden die verschiedenen Textausgaben diskutiert, die einen Versuch machen, das
Publikum mit Hoffmanns Berlinischen Werken bekannt zu machen. Zunächst werden die
Berlin-Bilder in acht Erzählungen Hoffmanns analysiert und typologisiert. Schließlich
25
wird die Klassifizierung der Werke mit einem Vergleich zwischen den literarischen
Werken und den Berlin-Zeichnungen Hoffmanns sowie zeitgenössischen Stadtgemälden
ergänzt.
„Das lebendige Leben der großen Stadt, der Residenz wirkt doch nun einmal
wunderbar auf das Gemüth“: E.T.A. Hoffmann in Berlin
E.T.A. Hoffmann ist in Berlin dreimal ansässig gewesen und hat ein Viertel seines
Lebens in der preußischen Hauptstadt verbracht. Das erste Mal war Hoffmann in Berlin
von Ende August 1798 bis zu seiner Versetzung nach Posen im Sommer 1800, einige
Jahre darauf vom 18. Juli 1807 bis zu seiner Abreise am 9. Juli 1808, um dann nach
kurzen Aufenthalten in Posen die Stelle eines Musikdirektors am Bamberger Theater
anzutreten und endlich, nach einem Intermezzo in Leipzig und Dresden, vom 26.
September 1814 bis zu seinem Tod am 25. Juli 1822 (Briefe I-III, Safranski 496-503). Im
Folgenden werden Hoffmanns Berlinaufenthalte im Kontext der damaligen Stadtplanung
und wichtigsten städtebaulichen Veränderungen behandelt, um zu zeigen, an welchen
Stadtteilen und urbanen Entwicklungen Hoffmann Interesse hatte.
Als der erst 22jährige Referendar zum ersten Mal nach Berlin kam, um am
Königlichen Kammergericht tätig zu werden, stand die fast 170 000 Einwohner zählende
Haupt- und Residenzstadt Preußens noch immer hinter London und Paris zurück, war
aber auf dem besten Weg, eine bedeutende europäische Metropole zu werden (Ribbe
502). Besuchern der Stadt um 1800 schien das neue Berlin, die Friedrichstadt, das Wesen
der preußischen Hauptstadt besser zu repräsentieren als der historische Kern der Stadt um
26
das Schloss herum. Ein Beispiel dafür ist der Eindruck, den die Stadt auf die französische
Schriftstellerin Madame de Staël bei ihrem Aufenthalt im Jahre 1804 machte:
Berlin ist eine große Stadt mit sehr breiten, völlig geraden Straßen, das Ganze
regelmäßig angelegt: doch da es erst vor nicht langer Zeit neu erbaut worden ist,
findet man nichts von den Spuren der Vergangenheit [...] Berlin, eine ganz und
gar moderne Stadt, hinterlässt keinen bleibenden Eindruck, so schön es auch ist;
es lässt nichts von den Zeugnissen der Geschichte des Landes oder von der Art
seiner Bürger erkennen, und seine prächtigen neuen Häuser scheinen nur dem
bequemen Zusammenkommen bei Vergnügungen und der Arbeit zu dienen. (81)
Diese Beschreibung Berlins war weder ganz neu, noch entsprach sie völlig der
Wirklichkeit, doch setzte es sich als geläufige Formel der Berlin-Beschreibungen der
folgenden Jahre durch. In den ehemaligen Zentren der Schwesterstädte Berlin und Cölln
gab es aus dem Mittelalter erhaltene Bauten, doch wurden diese Teile von den Besuchern
der Stadt kaum besucht. In den neunziger Jahren und um die Jahrhundertwende wurde
überall in Berlin gebaut: Stattliche Wohnhäuser, Bürgerpalais, Repräsentationsbauten in
den Bezirken der Friedrichstadt und der Luisenstadt, in den Randbezirken entstanden die
ersten Mietskasernen (Ribbe 526). Neben den Prachtbauten Berlins zwischen dem
Brandenburger Tor und dem Königlichen Schloss hin bis zum Gendarmenmarkt und dem
Kammergericht in der südlichen Friedrichstadt, in der direkten Umgebung von
Hoffmanns damaliger Berlin-Adresse (in der Friedrichstadt, in der Leipziger und
Kurstraße), gab es eine ganze Reihe eindrucksvoller Palais und Prachtbauten, die der
junge Referendar auf seinen Wegen zweifellos gesehen hat (Wirth 37, Safranski 114-20,
de Bruyn 278-79).
Hoffmann bewegte sich vorzugsweise im Umkreis jener tausend Meter der
Friedrichstadt, wo in ungeheuerer Dichte und Eile „eine Kultur hervorbracht [wurde], die
sich für den Mittelpunkt des Lebens“ hielt (Safranski 117). Aus den wenigen aus dieser
27
Zeit hinterlassenen Briefen kann zwar schwer festgestellt werden, durch welche
Kulturerlebnisse Hoffmanns Fantasie bereichert worden ist, jedoch steht fest, dass er das
Theater-, Kunst- und Musikleben genoss. Schriftstellerei erwähnt Hoffmann nicht unter
den Aktivitäten, mit denen er sich in Berlin beschäftigt hat. „In Portrait mahlen allein
glaube ich starke Fortschritte gemacht zu haben“ schreibt er an Hippel 1798 (Briefe, I,
141) und davon zeugt unter anderem eine Bleistiftzeichnung mit dem Titel „Die Linden,“
die während des ersten Berliner Aufenthaltes entstand (Steinecke, Die Kunst der
Fantasie, 43).
Hoffmanns zweiter Aufenthalt in Preußens Hauptstadt stand im Schatten der
Napoleonischen Kriege und war von Not und Elend geprägt (de Bruyn 279, Wirth 38).
Am 27. Oktober 1806 waren die siegreichen Franzosen durch das Brandenburger Tor in
Berlin eingezogen und die Bevölkerung litt seitdem unter den Beschwernissen durch die
französische Besatzung. Trotz drückender finanzieller Sorgen hatte Hoffmann auch in der
kurzen Zeit dieses Aufenthaltes in Berlin mancherlei Anregung durch die Bekanntschaft
mit Schriftstellern, Künstlern und Gelehrten, jedoch verbrachte er die meiste Zeit allein in
seinem Zimmer in der Friedrichstadt (in der Charlotten- und später in der
Friedrichstraße).23 Hoffmann konnte weder im Staatsdienst wieder eingestellt werden,
noch seine Kompositionen und Zeichnungen verkaufen. Zeichnerisch fing er mit einem
Projekt unter dem Titel „Sammlung grotesker Gestalten nach Darstellungen auf dem K.
National-Theater in Berlin“ an, das erste Heft ließ sich jedoch gar nicht verkaufen, da die
Berliner Gesellschaft zu der Zeit kein Bedürfnis an fantastischen und komischen
23
Vgl. dazu seinen Brief an Hippel im Dezember 1807: „Du kannst Dir überhaupt nicht denken, mein
einziger Freund, was ich hier in B[erlin] für ein stilles zurückgezogenes Künstlerleben führe. In meinem
kleinen Stübchen, umgeben von alten Meistern, Feo, Durante, Händel, Gluck, vergesse ich oft alles, was
mich schwer drückt, und nur, wenn ich Morgens wieder aufwache, kommen alle schweren Sorgen wieder!“
(Briefe, I, 231).
28
Darstellungen hatte (Steinecke 74). Verzweifelt schrieb er an Hippel im Herbst 1807,
dass er „kein Vermögen sondern nur Talent habe“ aber dass es unmöglich sei, „diese
Talente [...] hier in dem menschenleeren geldarmen Berlin wuchern zu lassen“ (Briefe I,
221).24 Das Nachkriegselend und die damalige Berliner Gesellschaft werden Jahre später
im Debüttext Ritter Gluck in Erinnerung gerufen.
Als Hoffmann nach sechs für seine künstlerische Entwicklung entscheidenden
Jahren und Aufenthalten in Bamberg, Dresden und Leipzig Ende September 1814 nach
Berlin zurückkehrte, war er wiederum am Kammergericht tätig. Während der früheren
Berlin-Aufenthalte war er als Schriftsteller noch wenig bekannt. Nach der
Veröffentlichung der Fantasiestücke, die gleichzeitig mit dem Berlin-Umzug stattfand,
wurde er ein bekannter Literat. Die dritte Berliner Phase Hoffmanns fand unter radikal
unterschiedlichen Bedingungen statt als die ersten Besuche. Zuerst wohnte er im Hotel
„Goldener Adler“, dann zog er in die Französische Straße, und schließlich in die
Wohnung in der Taubenstraße 31, in der er auch gestorben ist.25 Bald kam Hoffmann „in
die Mode“ und wurde ein von einem breiteren Publikum gelesener Autor. In dieser
Hinsicht kann die bekannte Szene in Des Vetters Eckfenster, in der ein Blumenmädchen
24
Vgl. dazu: „Alles schlägt mir fehl, weder aus Bamberg, noch aus Zürich, noch aus Posen erhalte ich
einen Pfennig; ich arbeite mich müde und matt, [...] und erwerbe Nichts! Seit fünf Tagen habe ich nichts
gegessen, als Brod – so war es noch nie!“ An Hippel, Berlin den 7 Mai, 1808. (Briefe I, 242).
25
Hitzig beschreibt Hoffmanns Tagesroutine folgendermaßen: „Am Montage und Donnerstage brachte er
die Vormittage in den Sitzungen des Kammergerichts, an den anderen Tagen zu Hause arbeitend, die
Nachmittage in der Regel schlafend, im Sommer auch spazierengehend zu; die Abende und Nächte in dem
Weinhause. War er, was häufig, in manchen Perioden täglich geschah, mittags und abends, in Gesellschaft
[...] oft abends in zwei Zirkeln, von sieben bis neun und von neun bis zwölf, gewesen, so ging er, es mochte
so spät sein als es wollte, wenn alle anderen sich nach Hause begaben, noch ins Weinhaus, um dort den
Morgen zu erwarten. Früher in seine Wohnung zurückzukehren war ihm nicht gut möglich“ (zitiert nach de
Bruyn 281).
29
auf dem Marktplatz ein von Hoffmann verfasstes Leihbibliotheksbuch liest, als eine
durchaus realistische Facette der damaligen Zeit gelesen werden.26
Während Hoffmann als Komponist und Schriftsteller stadtbekannt wurde,
erweiterte sich sein Freundes- und Bekanntenkreis ständig. In diesen Jahren entstanden
die „nächtlichen“ Werke Die Elixiere des Teufels und Nachtstücke (1815-17). 1815
begann eine Flut von Erzählungen zu erscheinen, von denen ein Großteil in den
Serapions-Brüdern (1819-21) gesammelt wurde. Daneben prägten sich in prosaischen
Großformen satirisch, humoristische und experimentelle Schreibweisen aus – Seltsame
Leiden eines Theater-Direktors, Klein Zaches, Prinzessin Brambilla, Kater Murr und
Meister Floh. Insgesamt veröffentlichte Hoffmann in den knapp acht Jahren bis zu
seinem Tod acht selbstständige Werke in 22 Bänden, über 30 Erzählungen und zahlreiche
kleinere Schriften. Besonders häufig besuchte Hoffmann das Theater – schrieb in seinem
Tagebuch auch gerne darüber – und war oft anschließend mit Freunden wie dem
Schauspieler Ludwig Devrient, den Schriftstellern Chamisso und Fouqué zusammen –
häufig in einer der Weinrestaurationen in der Nähe des Gendarmenmarktes wie Lutter
und Wegner.27
Nicht nur Hoffmanns Leben und seine Einstellung zu Berlin veränderten sich
durchgreifend während seines letzten Berlin-Aufenthaltes, sondern auch das Stadtbild
Berlins, in dem man in jenen Jahren bis zu Hoffmanns Tod schon Schinkels
Schöpferkraft erkennen konnte. Noch gehörte der Geschmack in Berlin vorwiegend dem
Architekten Langhans und den Bildhauern Schadow, Rauch und Tieck, jedoch war
Hoffmann einer der ersten Literaten, der Schinkels Bautätigkeit sorgfältig, oft am Fenster
26
27
Siehe mehr dazu unter „Hoffmann kommt in die Mode“ (Safranski 389-407).
Mehr dazu siehe Safranskis Kapitel „Berliner Tage und Nächte“ (377-389).
30
seiner Wohnung auf dem Gendarmenmarkt stehend, verfolgte und in seinen Briefen über
den Entwurf des Schauspielhauses schwärmte. Der Gendarmenmarkt, der schon seit der
Eröffnung des Langhans-Theaters im Jahre 1802 ein Platz der bürgerlichen Öffentlichkeit
wurde, erlebte eine weitere architektonische Veränderung durch den Brand des
Vorgängerbaues. Im neuen architektonischen, kulturellen und ökonomischen Mittelpunkt
Berlins wohnend, kommt Hoffmann entgültig in Berlin an und wird ein selbstbewusster
Großstadtbewohner.
Was die preußische Hauptstadt mit ihren mannigfachen künstlerischen
Anregungen für Hoffmann bedeutete, wie aufmerksam und voller Stolz er gegen Ende
seines Lebens die architektonischen Veränderungen seiner direkten Umgebung verfolgte,
geht aus einem Brief vom 24. Juli 1820 an seinem Freund Theodor Gottlieb von Hippel
hervor:
Noch einmal, -- Du solltest hier seyn, denn Du gehörst eben so wenig als ich in
die Provinz, und bist wohl auch nicht Caesars Meinung: lieber in dem kleinen
beengten Kreise der erste zu seyn zu wollen, als in dem großen der zweite oder
der dritte, vierte. Das lebendige Leben der großen Stadt, der Residenz wirkt doch
nun einmal wunderbar auf das Gemüth, und solcher Kunstgenuss, wie er hier
doch zu finden, ist das beste RestaurationsMittel für den Geist, den das Einerley
erschlafft, wo nicht zuletzt tödtet. Man kann z.B. jetzt einen ganzen halben Tag
und länger schwelgen, wenn man bloß in den neuen Theaterbau hineingeht, und
dann bloß das Atelier der Bildhauer Tieck, Rauch und Konsorten im Lagerhause
besucht. Am Theater arbeiten die ersten Künstler, und man kann ohne
Übertreibung sagen, dass die kleinste Verzierung ein wahrhaftes Künstlerprodukt
ist. (SW 4, 189-90)
Was Hoffmann nach seinen Briefen und nach Ansicht seiner Biografen bewegt, sind das
Theater und dessen „Kunstproduktionen,“ die Oper, die Ausstellungen, die Kaffeehäuser
und Konditoreien, die Weinstube Lutter und Wegener, ebenso wie seine bescheidene
Wohnung in der Taubenstraße 31, Ecke Charlottenstraße, dem Königlichen
Schauspielhaus gegenüber. Hoffmann erfuhr in Berlin zum erstenmal Großstadtleben,
31
politisches Leben, große soziale Spannungen, neueste technische Erfindungen und ein
reges Kunstleben. Während der Berlin-Aufenthalte Hoffmanns veränderte sich nicht nur
das Stadtbild wesentlich,28 sondern auch Hoffmanns Einstellung zum Großstadtleben:
Aus dem Provinzler wurde, wie sein Freund Hippel beschreibt, ein „verdorbener
Stadtbewohner.“
„Vater des Berliner Romans“: Editionsgeschichte der Berlin-Texte Hoffmanns
Schon am Ende des 19. Jahrhunderts fing man an, Hoffmanns Schilderungen wegen ihrer
Exaktheit und Einzelartigkeit als kulturhistorische Dokumente Berlins zu schätzen. 1875
begann Julius Rodenberg, der Herausgeber der Deutschen Rundschau, „den
Veränderungen nachzugehen, unter denen das alte Berlin,“ das er seit seiner
Studentenzeit gekannt hat, „in das neue sich verwandelte“ (295). In einem Feuilleton mit
dem Titel „Unter den Linden“ bietet Rodenberg den Berliner Zeitungslesern nicht nur
eine chronologische literarische Geschichte Berlins an, in der Goethe, Schiller, Heine,
Börne, E.T.A. Hoffmann und Keller die wichtigsten Rollen spielen, sondern lädt zu
einem Strandrundgang ein, währenddessen er den Spuren berühmter Literaten in den von
ihnen bewohnten Straßen, öffentlichen Plätzen und privaten Wohnungen Berlins folgt.
E.T.A. Hoffmann „trifft“ Rodenberg in einem Cafe und legt ein detailliertes Porträt des
28
Wie schon erwähnt, betonen die nicht-fiktiven Berlin Beschreibungen der Zeit die Neuartigkeit Berlins.
Die folgende Charakterisierung der preußischen Residenz ist nur eine der Berlin-Beschreibungen aus der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der Berlin als eine der sich am schnellsten entwickelnden Städte
dargestellt wird: „ Man sieht es, das Ansehen, die Größe und Schönheit Berlins beruhen sich nicht auf
vielen Jahrhunderten; nicht das Mittelalter hat an dieser Stadt mitgebaut; sie ist schnell, wie auf einen
Zauberschlag, zu Dem erhoben, was sie jetzt ist. Es gibt keine Stadt in Europa, die so plötzlich zu Ansehen
und Pracht gelangte, wie Berlin; [...] Berlin ist ein steinernes Epos der preußischen Heldenzeit, und die paar
Jahrhunderte, die zur Herrlichkeit desselben mithalfen, glänzen von Ruhm, Treue und Patriotismus.“ (E.
Beuermann, Vertraute Briefe über Preußens Hauptstadt, 1841. Zitiert nach Gramlich 96)
32
Schriftstellers vor. Nach der Schilderung der legendären Tagesroutine Hoffmanns und
der physiognomischen Beschreibung des bekannten Gesichtes erwähnt Rodenberg die
wichtigsten Werke des Schriftstellers, die in Berlin spielen.29
Rodenberg versucht nachzuvollziehen, warum Hoffmann so viele von seinen
Geschichten in Berlin hat spielen lassen. Dabei zitiert er einen Satz aus der Konversation,
die die Serapionsbrüder nach der Erzählung Fragment aus dem Leben dreier Freunde
führen:
Du hattest bestimmten Anlass, die Szene nach Berlin zu verlegen und Straßen und
Plätze zu nennen. Im allgemeinen ist es aber auch meines Bedünkens gar nicht
übel, den Schauplatz genau zu bezeichnen. Außer dem, dass das Ganze dadurch
einen Schein von historischer Wahrheit erhält, der einer trägen Phantasie aufhilft,
so gewinnt es auch, zumal für den, der mit dem Schauplatz genannten Orte
bekannt ist, ungemein an Lebendigkeit und Frische. (SW 4, 176)
Deutlich wird hier festgelegt, dass die exakten Straßennamen nur einen scheinbaren
Realismus hervorbringen. Rodenberg interpretiert Hoffmanns Entscheidung, Berlin als
Schauplatz zu benutzen mit eigenen Worten des Schriftstellers, indem er feststellt, dass
der spezifische, reale Ort Berlin bei Hoffmann als Katalysator funktioniert, um das
verborgene und dämonische Berlin lebendig machen zu können. Nicht nur versucht
Rodenberg Hoffmanns Stil zu beschreiben, er verwendet auch dasselbe Konzept, als er
unter den Linden spazierend den in Das öde Haus beschriebenen Ort besucht und ihn der
damaligen Berliner Gesellschaft wieder ins Gedächtnis ruft. Für einen Moment bricht er
mit seinem eigenen Narrativ, versucht Hoffmann nachzuahmen und sich in die deutsche
literarische Tradition einzuschreiben.30
29
Rodenberg analysiert in erster Linie Des Vetters Eckfenster, aber erwähnt auch Die Brautwahl.
Vgl. dazu: „Das Haus in dieser Gestalt hat Hoffmann nicht mehr gekannt, denn der Durchbruch fand erst
Ende der zwanziger Jahre statt; aber noch immer haftet etwas an diesem seltsamen Gebäude, was mir
dasselbe vor allen Häusern Unter den Linden interessant macht. Immer noch wendet es seine ‚farblosen
Mauern’ dieser elegantesten von Berlins Straßen zu, von ‚zwei schönen Gebäuden eingeklemmt’, wie zu
30
33
Die Schlussfolgerung des Hoffmann-Teiles in Rodenbergs Bericht ist die erste
Erwähnung des Schriftstellers als „der Vater des Berliner Romans“:
Man könnte Hoffmann den Vater des ‚Berliner Romans’ nennen, dessen Spur
später, als man Berlin ‚die Hauptstadt’, den Tiergarten ‚den Park’, die Spree ‚den
Fluss’ und die Regentenstraße (nach einer darin befindlichen Fontäne ‚die
Springbrunnenstraße’ nannte, sich in Allgemeinheiten verlor, bis er in unseren
Tagen wieder aufgelebt ist, freilich in Anlehnung eher an französische Vorbilder
als an diesen echt deutschen Schriftsteller... (Rodenberg 306)
Rodenberg benutzt den Terminus „Berlinische Geschichte“ quasi als eine
Gattungsbezeichnung und weist Hoffmann in der Geschichte des Berliner Romans die
Rolle des Gründers zu. Nach Rodenberg brachte Hoffmann in seinen Werken eine
„Theorie des Romans“ zum Ausdruck, die zwei wesentliche Komponenten hat. Einerseits
wird die Stadt „mit unfehlbarer Treue“ beschrieben und bestimmte Lokalitäten präzis und
einzigartig dargestellt. Andererseits erscheint vor dem konkreten Hintergrund eine
Existenz, „welche der gemeinen Wirklichkeit widerspricht und doch unmittelbar mit ihr
verknüpft ist“ (307). Rodenberg benutzt also den Terminus „Berlinische Geschichte“
bewusst, um Hoffmanns in Berlin spielende Werke zu charakterisieren und der Journalist
der Deutschen Rundschau erwähnt fünf Erzählungen Hoffmanns, Drei Freunde,
Brautwahl, Ritter Gluck, Das öde Haus und Des Vetters Eckfenster, als Berlinische
Geschichten.
Die erste umfassende Textausgabe von Hoffmanns „Berlinischen Geschichten“
erschien im Jahre 1921 unter dem Titel Zwölf Berlinische Geschichten aus den Jahren
1551 – 1816 und wurde von dem Germanisten Hans von Müller herausgegeben und
sorgfältig annotiert. Im Band gibt es zwölf Stücke, darunter zwei Briefe und weniger
beiden Seiten es überragen – mit einem winzig kleinen Balkon, der in keinem rechten Verhältnis zu seiner
Breite steht, mit Fenstern, die zwar nicht mehr ‚mit Papier verklebt’ sind, aber etwas Verschlafenes haben,
wie von einem Traum, aus dem man schwer erwacht, und mit einem Torweg, der an der Seite angebracht,
zugleich zur Haustüre dient“ (Rodenberg 309).
34
bekannte Texte mit den Titeln „Bettinas seltsame Krankheit“ und „Marie Stahlbaum und
ihr Pate.“31 Obwohl die Sammlung von Hans von Müller als ein wertvoller Beitrag zum
Korpus der Hoffmann-Testausgaben betrachtet werden muss, scheint das angewandte
redaktionelle Verfahren des Herausgebers aus heutiger Sicht mehrfach problematisch.
Textstellen, die sich nicht unmittelbar auf die preußische Hauptstadt beziehen, wurden
eliminiert und die einzelnen Erzählungen mit eigenwilligen Kapitelüberschriften ergänzt.
Wahrscheinlich ist das intendierte Publikum in diesem Fall der mit dem Hoffmanschen
Oeuvre vertraute Leser, dem durch die sorgfältig aber relativ autoritär bearbeitete
Ausgabe eine Zweitlektüre der bereits bekannten Texte angeboten wird. Im Unterschied
dazu wird der unerfahrene Leser Hoffmanns diese Texte unter der Lenkung des
Herausgebers kennen lernen.
Die neueste und editionswissenschaftlich den heutigen Normen entsprechende
Ausgabe von sechs Berlinischen Geschichten, Gespenster in der Friedrichstadt:
Berlinische Geschichten, stammt von Günter de Bruyn und Gerhard Wolf aus dem Jahre
1985, und umfasst fünf Geschichten.32 Obwohl die Sammlung detailliert annotiert und
mit einer Bibliografie ergänzt wurde, findet man keine Aussagen darüber, welche
ästhetischen, thematischen und strukturellen Komponenten einen bestimmten Text zu
einer Berlinischen Geschichte machen (de Bruyn, „Zum Text“ 296).
31
Diese Ausgabe enthält die folgenden Titel: Erstes Buch: Sechs Begebenheiten aus der Zeit vor
Hoffmanns entgültiger Übersiedlung nach Berlin 1551 bis Frühjahr 1814 (Aus dem Leben eines bekannten
Mannes, 1551-52; Der Baron von Bagge 1780/90; Geisterbeschwörungen Etwa. 1790-96; Ritter Gluck
1807-08; George Pepusch und Dörtje Bethmann, oder Cactus und Tulpe, 1807/08; Die drei Freunde 1814
und 1816). Zweites Buch: Sechs Begebenheiten aus der Zeit vom September 1814 bis zum September
1816. (Der Kapellmeister Johannes Kreisler an den Baron Wallborn. 27. September 1814; Die Abenteuer
der Silvesternacht. Brief vom. 1. Januar 1815; Marie Stahlbaum und ihr Pate. Winter 1815/16; Bettinas
seltsame Krankheit, 1816; Das öde Haus. Sommer 1816; Ein Brief an Herrn Baron de la Motte Fouqué,
September 1816).
32
Die in diesem Buch veröffentlichten Texte sind die folgenden: Ritter Gluck, Die Abenteuer der
Silvesternacht, Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde, Das öde Haus, Die Brautwahl und Des
Vetters Eckfenster.
35
Im Folgenden werden Hoffmanns Geschichten, in denen Berlin eine wesentliche
Rolle spielt, chronologisch besprochen und der Versuch gemacht, einen neuen Korpus
von Hoffmanns Berlin-Texten herzustellen und sie zu klassifizieren. Das Ziel ist zu
zeigen, durch welche Kriterien eine Hoffmannsche „Berlinische Geschichte“ thematisch
und ästhetisch charakterisiert werden kann. Diese Typologisierung soll im zweiten
Kapitel hilfreich sein, um nachzuweisen, wie die Darstellung des urbanen Raumes in
Hoffmanns letzter Erzählung Des Vetters Eckfenster sowohl eine Sonderposition
einnimmt, als auch als Kontinuität der Stadtbilder in Hoffmanns Berlinischer/Berliner
Geschichten angesehen werden kann.
Kalte Herbst- und Winternächte in der Friedrichstadt: Berlin in den
Fantasiestücken in Callots Manier
In den Fantasiestücken in Callots Manier gibt es mehrere Texte, die in Berlin spielen und
präzise Ortsangaben enthalten. Vor allem die sogenannten „Zelte“ im Tiergarten scheint
Hoffmann geliebt zu haben, da er zwei seiner Novellen, Ritter Gluck und Fragment aus
dem Leben dreier Freunde hier beginnen lässt. Die erste Berlinische Erzählung
Hoffmanns ist zugleich sein erster literarischer Erfolg, Ritter Gluck. Eine Erinnerung aus
dem Jahre 1809, die seit der Wiederentdeckung Hoffmanns als ein Höhepunkt seiner
Kunst zählt.
Die Erzählung entstand etwa 1808 und erschien zuerst 1809 in der Allgemeinen
Musikalischen Zeitung (SW 2/1, 610). Ritter Gluck ist Hoffmanns literarisches Debüt
„ohne Anfängerhaftes“ wie de Bruyn das Werk treffend charakterisiert (Nachwort 279),
36
in dem vieles, das später typisch für Hoffmann wird, zu finden ist: Die Musik als erste
der Künste, die Problematik des Künstlers und Bürgers, und die Fantastik, die
organischer Teil der genau beobachteten Welt zu sein scheint. Was Hoffmanns BerlinDarstellung betrifft, stimmt die Sekundärliteratur mit dem Germanisten Herbert
Heckmann überein, der feststellt, dass eine Großstadtszene wie die Anfangsszene der
Erzählung vor Hoffmann „keiner in der deutschen Literatur geschildert“ hat (31).
Die im Text erscheinenden Berliner Orte und die damalige Berliner Gesellschaft
hat Hoffmann in den ersten Zeilen der Erzählung mit erstaunlicher Genauigkeit
geschildert:
Der Spätherbst in Berlin hat gewöhnlich noch einige schöne Tage. Die Sonne tritt
freundlich aus dem Gewölk hervor, und schnell verdampft die Nässe in der lauen
Luft, welche durch die Straßen weht. Dann sieht man eine lange Reihe,
buntgemischt -- Elegants, Bürger mit der Hausfrau und den lieben Kleinen in
Sonntagskleidern, Geistliche, Jüdinnen, Referendare, Freudenmädchen,
Professoren, Putzmacherinnen, Tänzer, Offiziere usw. durch die Linden nach dem
Tiergarten ziehen. Bald sind alle Plätze bei Klaus und Weber besetzt; der
Mohrrübenkaffee dampft, die Elegants zünden ihre Zigarros an, man spricht, man
streitet über Krieg und Frieden... (SW 2/1, 16)
Topographisch wie inhaltlich hat die Erzählung zwei Teile. Der erste, wie das obige Zitat
zeigt, schildert die Begegnung des Ich-Erzählers mit einem Sonderling im Tiergarten, mit
dem er in Richtung Brandenburger Tor spaziert. Der zweite Teil ist eine Begegnung
einige Monate später, die beim Theater beginnt und in der Wohnung des Unbekannten in
der Friedrichstadt endet. Aus den lebenslustigen, hellen Orten im Tiergarten ziehen sich
die Protagonisten in der Folge der Erzählung in die „öden Räume“ von Berlin zurück,
symbolisiert durch die Fassade eines „unansehnlichen Hauses“ in der Friedrichstadt. Bei
großen Teilen der damaligen Friedrichstadt handelte es sich um Ansammlungen von
37
Neubauten in monotoner Bauweise.33 Berlin erscheint in Hoffmanns erster Erzählung als
ein realer Ort, auf dessen Straßen der Ich-Erzähler und ein Irrer in ihrem Dialog das
zeitgenössische Musikleben kritisch betrachten.34
Zwei der dargestellten Lokalitäten, „die Wohnung in der Friedrichstraße“ und das
Theater, das von Langhans entworfene und erst 1802 fertiggestellte Königliche
Nationaltheater am Gendarmenmarkt, befinden sich in der nahen Umgebung von
Hoffmanns damaliger Berlin-Adresse: Friedrichstraße 179 (de Bruyn 300). Die in Ritter
Gluck dargestellten Berliner Örtlichkeiten, die Zelten im Tiergarten, Unter den Linden
und Orte in der Friedrichstadt, gehören ausnahmslos zum „neuen Berlin.“ Die
Friedrichstadt mit ihren geraden Straßen und modernen Fassaden und die Umgebung des
Tiergartens werden die wichtigsten und meistzitierten Hintergründe auch in den späteren
Erzählungen Hoffmanns, während die Altstadt, den nicht-fiktiven Reisebeschreibugen
der Zeit ähnlich, eher unerwähnt bleibt.
Durch die realistisch wirkenden Passagen entsteht ein komplexer, urbaner Raum,
der die Fantasie des Ich-Erzählers fördert, der sich dem „leichten Spiel“ seiner
Einbildungskraft überlassend und die Kommenden und Gehenden beobachtend, auf eine
eigentümliche Person aufmerksam wird und dieser mehrmals in der Stadt begegnet. „Sie
verstehen sich ganz und gar nicht auf Berlin und die Berliner,“ erklärt der absonderliche
Unbekannte dem Erzähler, von dessen Außenseiterperspektive die preußische Hauptstadt
33
Vgl dazu: Julius von Rodenberg beschreibt in der Deutschen Rundschau das Folgende: Das normale
Berliner Wohnhaus der nachfriderizianischen Ära wirkte „nüchtern, ohne Schwung, wie der Staat jener
Zeit, auf das Nothdürftige beschränkt, unfreundlich, monoton, langweilig, eines wie das andere“ (I, 344).
34
Die meisten Deutungsversuche der Erzählung versuchen die Existenz und die Identität des Titelhelden
zu erklären. Die meisten betrachten den Fremden als Wahnsinnigen, der sich einbildet, Gluck zu sein.
Andere halten Gluck für den Geist eines Komponisten, dessen Geist weiterlebt. Eine dritte Gruppe
beschreibt die Titelfigur als ein Fantasiegebilde des Ich-Erzählers, der von sich selbst schreibt, als ob er
sein eigener Gesprächspartner wäre. Eine Mehrdeutigkeit kommt in dieser Weise zu Tage, vor allem was
das Verhältnis von Wirklichkeit und Fantasie betrifft.
38
beschrieben wird (SW 2/1, 23). Wenn man die Berliner Orte unter die Lupe nimmt, wird
es deutlich, dass die präzis angegebenen Berliner Adressen nicht einfach auf einer
zeitgenössischen Landkarte lokalisiert werden können. Die im ersten Absatz
geschilderten geografischen Koordinaten und die zeitgeschichtlichen Details implizieren
eine realistische Erzählkunst, jedoch erweisen sie sich nach einer gründlichen Analyse als
ambivalente Realien:
Dicht an dem Geländer, welches den Weberschen Bezirk von der Heerstraße
trennt, stehen mehrere kleine runde Tische und Gartenstühle; hier atmet man freie
Luft, beobachtet die Kommenden und Gehenden, ist entfernt von dem
kakophonischen Getöse jenes vermaledeiten Orchesters: da setze ich mich hin...
(SW 2/1, 19)
Weder ein Weberscher Bezirk noch eine Heerstraße gab es im damaligen Berlin und
werden umsonst auf einer zeitgenössischen Stadtkarte gesucht.35 Beide topographischen
Angaben sind Hinweise, dass es in der ersten Berlinischen Geschichte Hoffmanns nicht
auf realistische Genauigkeit ankommt. Die Heerstraße, als eine breite Straße, auf der die
Masse zu finden ist, wird im Dialog zwischen dem Geistesgestörten und dem IchErzähler wieder erwähnt und als Gegenbild dem realistischen Berlin entgegensetzt:
Ha, wie ist es möglich, die tausenderlei Arten, wie man zum Komponieren
kommt, auch nur anzudeuten! -- Es ist eine breite Heerstraße, da tummeln sich
alle herum und jauchzen und schreien: ‚wir sind Geweihte! wir sind am Ziel!’ -Durchs elfenbeinerne Tor kommt man ins Reich der Träume; wenige sehen das
Tor einmal, noch wenigere gehen durch! -- Abenteuerlich sieht es hier aus. Tolle
Gestalten schweben hin und her, aber sie haben Charakter -- eine mehr wie die
andere. Sie lassen sich auf der Heerstraße nicht sehen, nur hinter dem
elfenbeinernen Tor sind sie zu finden. (SW 2/1, 24)
Während die Heerstraße die Charlottenburger Chaussee und das elfenbeinerne Tor das in
der Erzählung auch erwähnte Brandenburger Tor evoziert, lernt der Leser eine
fantastische Welt kennen, in der der Künstler lebt. Diese Fantastik, die Bilder aus Homers
35
Die Stellenkommentare in den Sämtlichen Werken ist das Folgende zu der Stelle: „Heerstraße“ als eine
Bezeichnung für das Gewöhnliche, Normale „es ist eine breite Heerstraße.“ (SW 2/1 617)
39
Odyssee und Vergils Aeneis evoziert (SW 1, 622), scheint dem genau beobachteten
Alltagsleben innezuwohnen und damit eng verbunden zu sein. Im Werk entsteht eine
topographische Dichotomie, in der die eine Komponente zeitgenössisches, reales, jedoch
teilweise subjektivisiertes Berlin konstituiert und die andere „das Reich der Träume“ ist,
in der die gleichen architektonischen Konstruktionen dargestellt werden. Die breiten
Spazierstraßen und ein Tor, die die Grenze der Stadt/des Traumreiches konnotieren, sind
auch geschilderte Teile des realen Berlins.
Neben den faktischen Straßen- und Ortsnamen (Linden, die „Zelte,“ Klaus und
Weber im Tiergarten, Friedrichstraße, Brandenburger Tor) erscheinen fiktive
(Heerstraße) oder mäßig veränderte Berliner Lokalitäten (der Webersche Bezirk) in der
Erzählung. Den Berlinern sollte die Bezeichnung „Weberscher Bezirk“ fremd klingen, da
die „Zelte“ am nördlichen Rand des Tiergartens, deren Wirte Klaus und Weber hießen,
nie nach dem Namen der Besitzer in zwei Bezirke eingeteilt waren (SW 2/1, 618). Das
„Webersche Zelt“ ist eine Erfindung Hoffmanns und die Bezeichnung evoziert den
Namen des Kapellmeisters B.A. Weber, der unter anderem die in der Erzählung
erwähnten Opern dirigierte (SW 2/1, 618). Inhaltlich und topographisch entsteht eine
Multidimensionalität im Werk, zu deren Lösung der Ich-Erzähler keinen Schlüssel
anbietet. Die Berlin-Bilder der ersten Erzählung Hoffmanns bringen eine dramatische
Spannung und eine einzigartige Hoffmannsche Berlin-Topographie zustande, die auch
auf die nachfolgenden Berlin Beschreibungen einen Einfluss ausgeübt haben.36
Eine weitere topographische Dichotomie entsteht zwischen dem ‚Alten’ und
‚Neuen,’ zum Beispiel in der Lage und Beschreibung der Wohnung von ‚Ritter Gluck.’
36
Zum Beispiel erscheint „das Webersche Zelt“ auch in den anderen Berlin-Geschichten: Fragment (SW 4,
129) und Brautwahl (SW 4, 699).
40
Die Wohnung, in der die Enthüllung des Irren erfolgt, ist in einer Querstraße der
Friedrichstadt gelegenen „unansehnlichen Haus“, in das der Ich-Erzähler an einem kalten
Abend geführt wird. Während die Figuren in der Stadt stets unterwegs sind und ihre
Gespräche teilweise auf den Straßen laufend in Bewegung stattfinden, steht die Zeit in
der Wohnung still, deren sonderbare Einrichtung, „altmodisch, rein verzierte Stühle, eine
Wanduhr mit vergoldetem Gehäuse und ein breiter, schwerfälliger Spiegel“ (SW 2/1, 29)
detailliert beschrieben wird. Dieses „verjährte“ Domizil befindet sich im neuesten Teil
der Stadt, die als ein Raster, auf dessen kalten und nassen nächtlichen Straßen die zwei
Gestalten eilig und mechanistisch verkehren, angedeutet wird. Neben den neu/alt
Oppositionen benutzt Hoffmann kalt/warm Gegenpole, um die Dichotomie zu
intensivieren. Neben der Gegenüberstellung der kalten Straßen mit dem durch eine Kerze
beleuchteten Zimmer erscheinen diese Gegenpole auch in den Worten von „Ritter
Gluck,“ als er beschreibt, wie er aus dem „Reich der Träume“ in der hiesigen Welt
ankam: „eine eiskalte Hand fasste in dies glühende Herz!“ (SW 2/1, 30).
Eine Dualität ist auch in der Publikationsgeschichte der Erzählung präsent:
Einerseits wurde das in literarische Form eingebettete Stück als musikkritische Schrift
1809 in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung veröffentlicht, andererseits erschien es
1814 als das zweite Stück in Fantasiestücke in Callot’s Manier. Dementsprechend
können die topographischen Orte des Werkes zwiefach interpretiert werden. Teils
verhüllen sie zeitgenössische Anspielungen auf Berliner Komponisten,
Opernaufführungen und Unterhaltungsmusik, die auch in den Berlin-Bildern des Textes
ihre Spuren hinterlassen haben.37 Teils entspricht die Ästhetik der topographischen
37
Oesterle interpretiert die Erzählung als eine subversive Auflösung der in der Aufklärung
festgeschriebenen Zuständigkeiten von Poesie und Musik: „Durch Grenzübertritt von der rhetorischen
41
Beschreibungen dem von Hoffmann beschriebenen Prinzip in Callot’s Manier, was er in
einem seiner Briefe an seinen Freund Kunz am prägnantsten zusammengefasst hat: „die
besondere subjektive Art wie der Verfasser die Gestalten des gemein[en] Lebens
anschaut und auffasst“ (Briefwechsel I, 416).38 Berlin wird romantisiert, indem die genau
beobachteten Szenen der realen Welt mit fantastischen Schilderungen versetzt werden.
Es ist augenfällig, dass die eindrucksvollsten Berliner Orte am Anfang und am
Ende Hoffmanns literarischer Tätigkeit erscheinen. Eine fröhliche Menge Unter den
Linden, die den Erzähler zum Tiergarten und dann „Ritter Gluck“ folgend in die
Friedrichstadt zieht, ist der Anfang des Hoffmannschen Oeuvre, das mit dem elegischen
Blick des Vetters auf die Menschenfülle des Gendarmenmarktes abgeschlossen wird.
Zwischen den zwei obigen Meilensteinen gibt es aber mehrere, oft weniger bekannte
Werke, in denen Berlin als Schauplatz eine wichtige Rolle bekommt.
Die nächste Erzählung im vierten Band der Fantasiestücke, in der Berlin als
Hintergrund benutzt wird, ist Die Abenteuer der Sylvester-Nacht, die in den ersten sechs
Januartagen 1815 entstand. An die Stelle der linearen Ich-Erzählung tritt in diesem Text
eine außerordentlich beziehungsreiche Verschränkung dreier Stimmen (Herausgeber,
reisender Enthusiast und Spikher). Das Abenteuer ist eine Auseinandersetzung mit der
zerstörenden Gewalt gesellschaftlich unterdrückter Sexualität.
Poesie zur anderen Sprache der Traumpoesie und durch das Überschreiten der Töne der Musik zu Klang
und Geräusch wird das Schema der Aufklärung, hier Begriffe und Vorstellungen der Poesie, dort
Seelenempfindung der Musik, untergraben“ („E.T.A. Hoffmanns Ritter Gluck“ 63).
38
Vgl. dazu auch die Einführung „Jacques Callot“ in den Fantasiestücken: „das Gemeinste aus dem
Alltagsleben [...] erscheint in dem Schimmer einer gewissen romantischen Originalität, so dass dem
Fantastischen hingegebene Gemüt auf eine wunderbare Weise davon abgesprochen wird“ (SW 2/1, 17).
42
Die Erzählung beginnt mit den Worten des fiktiven Herausgebers, der die
Begründung der Auswahl seiner Geschichte mit den folgenden Sätzen schließt: „Was
kann ich mehr für den reisenden Enthusiasten tun, dem nun einmal überall, und so auch
am Silvesterabend in Berlin, so viel Seltsames und Tolles begegnet ist?“ (SW 2/1, 325).
Bald lernt der Leser den Maler Erasmus Spikher im ersten Kapitel der Erzählung („Die
Geliebte“) kennen, der in der eiskalten Berliner Nacht der Kurtisane Giuiletta kurz in
einem Zimmer wiederbegegnet, die ihn an die „engelschöne, jugendlich anmutige“ Julie
erinnert, die neben ihm steht und „elektrische Feuerstrahlen“ aussendet (SW 2/1, 329).
Musik und die Konversation mit Julie verstärken Spikhers Verzückung, was dazu führt,
dass er die Gesellschaft fluchtartig verlässt. Metaphorische Gegenteile des KaltWinterlichen auf der einen Seite und des Glühend-Feurigen auf der anderen kommen in
der Folge der Erzählung, wie in Ritter Gluck, immer wieder vor, wobei die Berliner
Straßen als ‚kalte’ Wirklichkeit dargestellt werden.39
Wie der erste Abschnitt beginnt auch das zweite Kapitel („Die Gesellschaft im
Keller“) der Erzählung mit einer Ortsangabe: „Die Promenade unter den Linden ist sonst
ganz angenehm, aber nicht in der Silvester-Nacht bei tüchtigem Frost und
Schneegestöber“ (SW 2/1, 331). Barköpfig und unbemäntelt läuft Spikher aus der
Altstadt in die Friedrichstadt über die Opernbrücke, beim Schloss vorbei, biegt ab und
geht über die Schleusenbrücke an der Münze vorüber. Die freundlichen Lichter in den
Zimmern der Jägerstraße bewundernd, wird Spikher auf einen Keller aufmerksam. Aus
39
Ricarda Schmidt interpretiert jeden Charakter im Text als ein malerisches Ikon und ordnet jeder Figur
Gemälde verschiedener historischer Maler zu: Julia vergleicht sie mit den Frauendarstellungen auf
Gemälden Mieris, Breughels, Callots, Rembrandts und Rubens, den schattenlosen Mann den Bildern von
Rubens und den Kleinen einer Enslerschen Fantasmagorie. Schmidt zeigt überzeugend, dass die Figuren
ihre Bedeutung in der Erzählung mit Hilfe von zahlreichen malerischen Referenzen strukturieren. Diese
Korrespondenz erscheint jedoch nur in Bezug auf die Erzählfiguren und nicht auf Berlin. Mehr dazu siehe
Schmidt 90-114.
43
dem hellen Teezimmer steigt unser Protagonist in den dunklen Bierkeller in der
Jägerstraße hinunter. Dort hat er wieder eine seltsame Begegnung, jetzt mit dem
schattenlosen Peter Schlemihl, der nach einer Konversation über Botanik und
Spiegelbilder „über den Gendarmesturm hinwegschritt und in der Nacht [verschwindet]“
(SW 2/1, 337). Der damit gemeinte Turm des Französischen Doms erscheint in mehreren
Erzählungen und hat eine „disziplinierende“ Funktion, da die aus den Kellern
kommenden (Silvesternacht) oder durch ein im Fenster erscheinendes Frauenbild
verwirrten Protagonisten (Fragment aus dem Leben) auf diesem Platz entweder in die
Normalität des Alltags zurückkehren (Silvesternacht) oder die Entscheidung treffen,
Berlin mindestens für eine Weile zu verlassen (Alexander in Fragment aus dem Leben).40
In sein Hotel, Goldener Adler, zurückkehrend trifft Spiker im dritten Kapitel
(„Erscheinungen“) einen seiner Gesprächspartner, den janusköpfigen Kleinen, wieder. In
einem Nachttraum fließen die bisherigen Ereignisse, die Erscheinung der Geliebten, das
Gespräch im Keller und die Begegnung mit dem Kleinen, zusammen. Das vierte Kapitel
(„Geschichte vom verlornen Spiegelbilde“) erzählt in einer „Er-Form“ die vollständige
Geschichte von Erasmus Spikher und dessen verlorenem Spiegelbild. Das raffiniert
strukturierte Werk schließt mit den verschiedenen Bildern und Schicksalen der
Protagonisten im Postskript des reisenden Enthusiasten, welches an E.T.A. Hoffmann
adressiert ist. In den letzten Kapiteln kommt das zentrale Thema des Textes zu Tage:
Spiegelbild, Spiegelungen und Identitätsproblematik.
40
Vgl. dazu: „Als ich über den Gensd’armesplatz kam, stellte sich gerade ein Trupp Freiwilliger zum
Abmarsch, da stand es klar vor meiner Seele, was ich tun müsse, mich selbst zu beschwichtigen und die
ärgerliche Geschichte zu vergessen“ (Fragment aus dem Leben dreier Freunde, SW 4, 154). Alexander
geht danach zur Behörde, um seine Wiedereinstellung zu bewirken, um die Stadt wieder verlassen zu
können.
44
Das in den ersten drei Kapiteln der mehrteiligen Erzählung dargestellte
zeitgenössische winterliche Berlin mit präzisen Adressen erscheint als ein entseelter,
starrer Block, wie die Friedrichstadt auf zeitgenössischen Stadtkarten. In den Träumen
und Visionen der Protagonisten und in den eingeschobenen Herausgebernotizen und
Binnengeschichten dagegen wird ein dämonisches Berlin vergegenwärtigt, das dem
kalten Gegenpol des nüchtern beschriebenen urbanen Raumes entgegengesetzt wird und
zugleich darauf weist. Es entsteht ein bipolares Berlin-Bild zwischen Rationalisierung
und Dämonie, in dem die Lebensbereiche der alltäglichen bürgerlichen Zivilisation und
die Sphäre des lebendigen Gefühls im starken Kontrast miteinander stehen. Die
preußische Hauptstadt ist einerseits eine objektive Macht, eine „aufgeklärte“ Entität mit
transparenten Qualitäten, andererseits ein Ort des Vergessens, oder wie Heinz
Brüggemann treffend schreibt „ein Ort der Verführung, wo sich die tief eingeprägten
Engelsbilder der ersten, der ‚himmlischen’ Liebe auflösen und verlieren in ganz anderen
Sensationen des Wunderbaren, in den Abenteuern des Blicks, den Entdeckungen des
Körpers“ (Das andere Fenster, 121).
Die Grenzlinien zwischen den zwei Bereichen überschneiden sich in dieser
Erzählung so eng, dass Hoffmanns Kritik des reisenden Enthusiasten erwähnt werden
soll. Hoffmann bezweifelt nämlich die Glaubwürdigkeit dieser Erzählfigur, die zwischen
Fantastik und Wirklichkeit keinen Unterschied machen kann. Den reisenden Enthusiasten
sieht er als einen „Geisterseher“, der „offenbar sein inneres Leben so wenig von äußern,
dass man beider Grenzlinien kaum zu unterscheiden vermag“ (SW 2/1, 325). Einer der
Erzähler der Serapions-Brüder, Theodor, beschreibt die von Hoffmann bevorzugte
45
Poetik, in der es zwischen dem Alltäglichen und dem Fantastischen ein Gleichgewicht
gibt:
Ich meine, dass die Basis der Himmelsreiter, auf der man hinaufsteigen will in
höhere Regionen, befestigt sein müsse im Leben, so dass jeder nachzusteigen
vermag. Befindet er sich dann höher und höher hinaufgeklettert, in einem
fantastischen Zauberbereich, so wird er glauben, dies Reich gehöre auch noch in
sein Leben hinein, und sei eigentlich der wunderbar herrlichste Teil desselben
(SW 4, 721)
Die Metapher bestrebt eine Darstellung an, in der der Schriftsteller zwischen den
verschiedenen Domänen, Innenwelt und Außenwelt, Körper und Geist eine Balance
gewinnen kann. Diese Bestrebung manifestiert sich auch in der Schilderung des Berliner
urbanen Raumes.
Seltsame Begegnungen: Berlin in den Nachtstücken
Ein Streben nach der oben geschilderten Balance kennzeichnet die späteren Berlin
Beschreibungen. In Hoffmanns zweitem, Ende 1816 bzw. Ende 1817 veröffentlichtem
Zyklus Nachtstücke gibt es ebenfalls Erzählungen, in denen Berlin plastisch dargestellt
wird. Besonders die Berlin-Bilder der Erzählung Das öde Haus, die den zweiten Teil der
Nachtstücke eröffnet, sind berühmt geworden. Die berlinspezifischen Einzelheiten des
Textes werden vor dem Hintergrund von Hoffmanns Leben und Umgang in Berlin
deutlicher. Hoffmanns Freund, Julius Eduard Hitzig schreibt, dass der Schriftsteller nach
dem „Eindruck, den ein, unter den Linden gelegenes, Haus auf ihn machte, dessen
Fenster nach vorn hinaus nie geöffnet erschienen, und hinter denen seine Fantasie ihm
allerlei Spukhaftes sehen ließ“ zu der Erzählung angeregt worden sei (SW 3, 164).
Gemäß einer Anmerkung von Günter de Bruyn handelte es sich bei dem Gebäude um das
46
Haus unmittelbar neben der bekannten Konditorei Fuchs, Unter den Linden No. 9 (alte
Zählung), welches 1824 abgerissen wurde (307).41
Die Geschichte verfügt über eine vielschichtige, jedoch übersichtliche Struktur, in
der das Rahmengespräch und die ausführlichen topographischen Angaben eine definitive
Grenze zwischen dem Wunderlichen und dem Wirklichen produzieren.
Die mit Gebäuden jener Art eingeschlossene Allee, welche nach dem ***er Tore
führt, ist der Sammelplatz des höheren, durch Stand oder Reichtum zum
üppigeren Lebensgenuss berechtigten Publikums. In dem Erdgeschoss der hohen
breiten Palläste werden meistenteils Waren des Luxus feil geboten, indes in den
obern Stockwerken Leute der beschriebenen Klasse hausen. [...] Schon oft war ich
die Allee durchwandelt, als mir eines Tages plötzlich ein Haus ins Auge fiel, das
auf ganz wunderliche seltsame Weise von allen übrigen abstach. Denkt euch ein
niedriges, vier Fenster breites, von zwei hohen schönen Gebäuden eingeklemmtes
Haus, dessen Stock über dem Erdgeschoss nur wenig über die Fenster im
Erdgeschoss des nachbarlichen Hauses hervorragt, dessen schlecht verwahrtes
Dach, dessen zum Teil mit Papier verklebte Fenster, dessen farblose Mauern von
gänzlicher Verwahrlosung des Eigentümers zeugen. Denkt euch, wie solch ein
Haus zwischen mit geschmackvollem Luxus ausstaffierten Prachtgebäuden sich
ausnehmen muss. (SW 3, 165-66)
Das ausgewählte Haus ist das eine, das von den großen, hohen Häusern der Linden
absticht und aus der Gleichzeitigkeit der modernen Fassaden herausfällt. Sowie das öde
Haus als ein bizarres Bild beschrieben wird, ist auch Theodors Benehmen, der immer
wieder am Haus vorbeizieht, merkwürdig. Die Germanisten Heinz Brüggemann und
Robert McFarland charakterisieren Theodors Verhalten als Flanerie, besonders in der
Darstellung seiner Neigung, „oft allein durch die Straßen zu wandeln,“ sich „an jedem
Kupferstich, an jedem Anschlagzettel zu ergötzen“, die ihm „begegnenden Gestalten zu
41
Mehr dazu siehe Safranski 397.
47
betrachten“ und „manchem in Gedanken das Horoskop zu stellen“ (SW 3, 165).42
Theodors Verhalten wird in neuster Forschung als das des Flaneurs beschrieben
(McFarland 108-9), jedoch wird diese mobile Haltung zu einer starren Fixierung, als der
Blick des Erzählers mit dem Fenster des öden Hauses verbunden bleibt.
Die Erzählung vom öden Haus, wie die meisten Berlinischen Geschichten,
handelt vom Liebeszauber. Der Blick Theodors, angezogen vom verschlossenen Haus
und dessen verhängten Fenstern, ist der sexualisierte Blick, um dessen „Heilung“ es in
der Geschichte geht (Brüggemann, Das andere Fenster 146).43 In der Folge der
Erzählung verliert Theodor seine Beziehung zur Außenwelt, die sich in den breiten
Schilderungen der lokalen Verhältnisse am Anfang und der detailgenauen Topographie
der Linden manifestiert, um sie dann nach und nach zurückzuerlangen. Dem Geschmack
eines breiten Publikums folgend, erzählt er eine schauderhafte Geschichte über ein
Geheimnis, das die damaligen Berliner beschäftigt hat und zeigt dabei, dass es auch in
den hellsten Orten der aufgeklärten Preußischen Hauptstadt dunkle Ecken gibt.
Eine der populärsten Darstellungen von Berlins Prachtboulevard war die
sogenannte „Lindenrolle,“ deren Ästhetik mit Hoffmanns realistischer LindenalleeSchilderung verglichen werden kann (Verwiebe, Unter den Linden 80). Kurz nach den
Befreiungskriegen entwickelte sich die preußische königliche Prachtstraße, die mit Zeit
auch als Wohn- und Geschäftsstraße fungierte, zur bürgerlichen Flaniermeile. Die
42
Rodenberg charakterisiert den Schriftsteller Hoffman mit ähnlichen semantischen Mitteln: „Tagelang
läuft er hinter ihm unbekannten Personen her, „die irgendetwas Verwunderliches im Gang, Kleidung, Ton,
Blick haben“ (257).
43
Vgl. auch dazu Lieb 58-75.
48
„Lindenrolle“ war eine frühe kleinpanoramatische Repräsentationsform, die die ganze
Länge und Breite der Straße topographische genau und detailtreu darstellte.44
Abbildung 1: Lindenrolle – Panorama der Straße Unter den Linden, um 1819/20
Hoffmann bietet seinen Berliner Lesern eine ähnlich detailtreue Darstellung der Straße
mit ihren Wohnhäusern, Geschäften und Restaurants, jedoch bleibt sein Blick auf einem
Fenster fixiert, das wie die ungewöhnliche Gestalt im Tiergarten die Fantasie des IchErzählers beflügelt und eine seltsame Geschichte in Gang setzt.
Das nächste Denkmal von Hoffmanns Berlin-Aufenthalt ist die im Herbst 1818
mit der Jahreszahl 1819 erschienene Theaterschrift Seltsame Leiden eines TheaterDirektors, die in den Hoffmann-Editionen sowie in der Hoffmann-Forschung
vernachlässigt wird. Als Hoffmann diese Theaterschrift verfasste, lebte er schon seit
einigen Jahren wieder in Berlin. Viele Erfahrungen und Beobachtungen Hoffmanns am
Berliner Schauspielhaus sind in diese Schrift eingegangen, die Hoffmanns Ansichten
über die Entwicklungen der Berliner Bühne in den Jahren 1817/18 enthält (SW 3,
1045).45 Die Theaterschrift bespricht Mängel des zeitgenössischen Theaters und
44
Alle Gebäude und Querstraßen sind auf der Rolle am unteren Bildrand benannt und mit der jeweiligen
Hausnummer versehen (Vorwiebe 80).
45
Die kritische Ausgabe des Textes skizziert kurz die Verhältnisse des zeitgenössischen Berliner
Theaterlebens, was das Verständnis des Textes dem heutigen Leser wesentlich erleichtert. Als Hoffmann
1814 nach Berlin kam, waren die Königlichen Schauspiele durch die Intendanz Ifflands geprägt. Die von
49
Theaterlebens. Von Äußerlichkeiten, wie der Größe des Theatergebäudes oder Fragen der
Beleuchtung beschäftigt sich mit Problemen des Theaterdirektors und der Schauspieler
bis hin zu Darstellungs- und Dramaturgiefragen. Die Schrift kritisiert und offenbar
verspottet das zeitgenössische Theaterleben, enthält aber auch eine Reihe von
Verbesserungsvorschlägen. Durch die Schrift propagiert Hoffmann ein „humoristisches,
phantastisches, volkstümliches, ‚romantisches’ Theater, das in der deutschen
Theaterwirklichkeit kein Vorbild hat“ (SW 3, 1051).
Der Text besteht aus einer Dialogform, die dem Gesprächsthema eine besonders
angemessene Form ist, zwischen zwei Theaterdirektoren, dem Braunen und dem Grauen.
Die im Dialog teilnehmenden Partner reflektieren aber über das Theaterleben nicht nur
aus einer pur didaktischen und theoretischen Perspektive, sondern erzählen auch
Anekdoten und zeigen Humor, Ironie und Sarkasmus. In dieser Weise wird der Text
mehr als eine Theaterschrift und wie Des Vetters Eckfenster kann der Dialog als eine
Reflexion über Dichtung, die selbst zur Dichtung wird, beschrieben werden. Der Text ist
aber nicht nur wegen der eigenartigen Struktur, der Dialogform und im Zusammenhang
mit Des Vetters Eckfenster bemerkenswert. Obwohl keine spezifischen Ortsangaben in
Seltsame Leiden eines Theater-Direktors angedeutet werden, wird oft impliziert, dass der
Graue und der Braune das Berliner Theaterleben diskutieren.46 Im Gegensatz zu den
anderen Berlin-Texten enthält dieses Stück außer der impliziten Beschreibung des
ihm bevorzugte Darstellungsform des „idealisierten oder geformten Realismus“ setzte sich damals in Berlin
durch. Nach Ifflands Tod beauftragte König Friedrich Wilhelm III. Graf Brühl mit der Intendanz. Brühl
bevorzugte die von Goethe gelehrte Darstellungsweise aus Weimar, „die vom Geist der Stilisierung, von
‚gemessenen’ Bewegungen und ‚würdevollern’ Auftreten sowie einem stark skandierenden, ‚rhetorischen’
Sprechen geprägt war. [...] In der Auseinandersetzung zwischen beiden Darstellungsstilen nahm Hoffmanns
Freund Ludwig Devrient eine Sonderstellung ein (SW 3,1047-48). Im Text verteidigt Hoffmann den
genialen Verwandlungskünstler (mit dem man Devrient assoziieren kann) gegen die Vertreter des Weimar
Stils.
46
Vgl. dazu: „In einer bedeutenden Residenz ist jetzt von der Errichtung eines neuen Theaters die Rede...“
(SW 3, 485).
50
Schinkelschen Schauspielhauses und dessen Größe (SW 3, 485) keine topographischen
Angaben von Berlin.
Die ortspezifischste Diskussion findet in der Besprechung eines Theatergebäudes
statt, indem die zwei Theaterdirektoren, der Braune und der Graue gleichzeitig ihre
Meinungen zu aktuellen Stadtbaudiskussionen äußern. Die Debatte wird von einer
Hoffmannschen Dualität geprägt: Einerseits besprechen die zwei Figuren, dass die Größe
eines Theaters die Zuschauer nie daran hindern dürfte, „Alles was auf der Bühne
gesprochen und gesungen wird,“ vollkommen zu vernehmen (SW 3, 482-83).
Andererseits drückt der Braune seine Faszination über die „geniale Wirkung“ der
Theaterdekorationen von Gropius und Schinkel aus, die im Publikum “eine höhere
Illusion” erzeugen (SW 3, 485):
In einer bedeutenden Residenz [Berlin LV] ist jetzt von der Errichtung eines
neuen Theaters die Rede, und so wie man Rücksichts der Dekorationen dort schon
seit einiger Zeit auf jene höhere Illusion, von der ich vorhin sprach, recht genial
gewirkt hat, so scheint es auch, als wolle man jetzt, nur den wahrhaft
dramatischen Effekt im Auge, nach den Grundsätzen des alten Gretry und aller
wahren Dramatiker zu Werke gehen. (SW 3, 485)
Die Textstelle bezieht sich auf das Schauspielhaus, das unter Leitung von Karl Friedrich
Schinkel 1818 begonnen worden war. Die Diskussion über die Größe des Theaters und
die Teilnahme des Braunen und des Grauen an städtebaulichen Debatten korreliert auch
mit einer Zeichnung, die Schinkel in der Sammlung Architektonischer Entwürfe über das
entworfene Schauspielhaus veröffentlicht hat.
51
Abbildung 2: Karl Friedrich Schinkel, Schauspielhaus, Berlin, 1818-1821.
In der Zeichnung der Fassade sieht man zwei kleine Figuren neben dem Schauspielhaus,
die auf das Gebäude zeigend miteinander ein Gespräch führen. In der Zeichnung
erscheinen die Figuren trotz der realistischen Darstellung viel zu klein im Gegensatz zum
entworfenen Theater. Obwohl das Gebäude die Zeichnung dominiert, impliziert die
Szene, dass sich die die Einwohner von Berlin mit den architektonischen Veränderungen
auseinandersetzten.
Implizite Ortsangaben und die Teilnahme an den städtebaulichen Diskussionen
der Zeit qualifizieren den Text zur Aufnahme in einen Berlin-Textkorpus Hoffmanns. Die
ungewöhnliche Darstellungsweise des Dialogs bezeugt eine Vielfalt und
Multiperspektivität der Berlin-Texte Hoffmanns. Die merkwürdige Dialogform und die
Erwähnung des Schauspielhauses bringen den Text der letzten Erzählung Des Vetters
52
Eckfenster nah und zeigen, dass die Bausteine des letzten Textes auch schon in früheren
Berlin-Werken anwesend waren.
Brautwerbung in Berlin: ‚Berlinische Geschichten’ in den Serapions-Brüdern
Zwei in den Serapions-Brüdern gesammelte Werke spielen ebenfalls in Berlin: Ein
Fragment aus dem Leben dreier Freunde wurde 1816 geschrieben, erschien zuerst 1817,
und wurde danach in den ersten Band der Serapionsbrüder aufgenommen. Schauplatz der
Handlung ist, wie schon im Ritter Gluck, der Berliner Tiergarten, das Webersche Zelt, ein
öffentliches Lokal, wo sich drei Freunde, Alexander, Severin und Marzell, nach langer
Trennung am zweiten Pfingsttag beim Kaffee treffen. Zu der Zeit, in der diese Erzählung
spielt (1814 und 1816), waren längst massive Gebäude aus den Zelten geworden (de
Bruyn 304), d.h. dass Hoffmann in dieser Erzählung seiner Leserschaft ein Stück
vergangenes Berlin präsentiert. In der Konversation der Freunde geht es um
Gespenstergeschichten, die alle mit dem Umzug vom Lande in die Großstadt verbunden
sind. Alle drei Erzähler sind wie der Schriftsteller Hoffmann Provinzler, deren Umzug in
die große Stadt mit Faszination aber auch mit Angst verbunden ist. Der erste Erzähler ist
Alexander, der eine Erbschaft, eine „abgelegene Wohnung“ in einem öden Haus seiner
verstorbenen Tante, erhalten hat, das seit deren Todestage unverändert blieb (SW 4, 136).
In Alexanders Zimmer hängt ein lebensgroßes Gemälde der jugendlichen Tante im vollen
Brautschmuck und Alexander erzählt seinen Freunden von deren nächtlichem Spuk.
Die öffentliche Rede von Gespenstern interpretiert Heinz Brüggemann als „ein
Erscheinungsbild jenes vernünftigen Berlin, das Hoffmann [...] in romantischer
53
Illumination, ironisch gebrochen, vorführt“ (Das andere Fenster 105). Die objektive,
„aufgeklärte“ Großstadt entmachtet die vom Land nach Berlin umziehenden Freunde und
verändert ihre gewöhnlichen Lebensverhältnisse. Auf Alexanders Spukgeschichte von
der verstorbenen Tante folgt eine Gespenstergeschichte Marzells, der erst seit kurzem im
westlichen Teil Berlins ansässig geworden ist:
Gleich, nachdem ich angekommen [...] mietete ich in der Friedrichstraße ein
nettes meubliertes Zimmer; wie Alexander warf ich mich todmüde aufs Lager;
doch kaum wohl ich eine Stunde geschlafen habe, als es mir wie ein heller Schein
auf die geschlossenen Augenlider brannte. Ich öffnete die Augen und – denkt
euch mein Entsetzen! dicht vor meinem Bette steht eine lange hagere Figur mit
todbleichen, graulich verzogenem Gesicht und starrt mich an mit hohlen
gespenstischen Augen. (SW 4, 141)
Am nächsten Morgen lernen wir das Gespenst als den Flurnachbarn kennen, der über
besondere Gaben verfügt und die Fähigkeit, „unter gewissen Bedingungen in das Innerste
der Menschen zu schauen und ihre geheimsten Gedanken zu erraten“ (SW 4, 145).
Severin wohnt in dem entfernteren Teil des Tiergartens, südlich der Tiergartenstraße.
Sowohl Alexander als auch Marzell begegnen seltsamen Gestalten in ihren Wohnungen
während der Nacht. Sie erleben zum ersten Mal in ihren Leben Spukgeschichten, schon
am ersten Tag in der Residenzstadt. Kein Wunder, dass Severin auch eine
Spukgeschichte zu erzählen hat, über etwas, was ihm am ersten Tag in Berlin passierte.
Sein Narrativ wird jedoch durch ein unerwartetes Geschehen unterbrochen (SW 4, 145).47
Eine Genreszene im Tiergarten lässt ihre leidenschaftliche Konversation
verstummen und die drei Freunde versuchen, Hypothesen über den Briefboten und das
nach Erhalt des Schreibens weinenden Mädchens am Nachbartisch aufzustellen. Dabei
handelt es sich um ein intertextuelles Motiv, denn mehrere Berliner Erzählungen (Ritter
47
Vgl dazu: „... Gleich den ersten Tag als ich angekommen’ --- In dem Augenblick wurde Severin durch
einen alten, sehr wohlgekleideten Mann unterbrochen“ (SW 4, 145).
54
Gluck, Das öde Haus, Geheimnisse) behandeln die Enthüllung der Identität beobachteter
Figuren. Die anmutige, reizende Gestalt, wie in anderen Berlin Texten (Sylvesternacht,
Geheimnisse, Das öde Haus), wird das Objekt ihres Begehrens.
Nach einer unerwarteten Zäsur treffen sich die drei Freunde nach zwei Jahren am
selben Ort, um dieselbe Zeit am zweiten Pfingsttag beim Kaffee. Alle drei erzählen ihre
Geschichten, in denen die gemeinsam beobachtete Frau, Paulina Asling, die zentrale
Rolle spielt. Severins und Marzells „Romanen“ über ihre erfolgslosen Werbungen um
Paulinens Hand folgt Alexanders Geschichte über sein Liebesglück. Die drei
verschiedenen Erzählungen mit ihren drei Perspektiven konstituieren eine
verhältnismäßig kohärente Geschichte, wodurch die im Titel von einem „Fragment“
angekündigte Vorstellung nicht erfüllt wird.
Die drei Geschichten des zweiten Teiles der Erzählung enthalten wiederum
präzise Berliner Adressen und die Routen der Erzähler, die alle in die Grünstraße führen
und auf einer Stadtkarte ganz genau verfolgt werden können. Wie in Ritter Gluck
bewegen sich die Protagonisten vom Westen Berlins nach Osten. Der Leser kann die
Asling Familie von den Zelten durch das Brandenburger Tor bis zum Schloss, und
Severin die Breite Straße entlang über die Leipziger Straße laufen sehen. Eine alternative
Strecke wird von Alexander erzählt, dem „eine ganz deutlich bestimmte Ahnung“ sagt,
wann er „mit Anstrengung fort- und hineinlief durch das Leipziger Tor und dann nach
den Linden“, die sehr langsam davonschreitende Familie am Ausgang derselben oder in
der Nähe des Schlosses antreffen wird (SW 4, 157). Die Wohnung der Asling Familie
befindet sich in der Neuen Grünstraße, die die Verlängerung der in Alt-Kölln gelegenen
Grünstraße ist (de Bruyn 306). Diese Straße führt aus dem alten Berlin in einen neuen
55
Stadtteil über die Friedrichsgracht in die Köllnische Vorstadt. Topographisch deckt diese
Erzählung die meisten Teile der damaligen Stadtkarte Berlins ab, jedoch wie in den
anderen Texten dominieren die neuen, bürgerlichen Wohnzirkel und Schauplätze.
Unter den exakt und für den zeitgenössischen Leser unschwer lokalisierbaren
Adressen wird die Großstadt ein Ort des Zufalls und zum Schauplatz der Täuschung und
gegenseitigen Verfehlung. Der komplexe, urbane Raum wird zum Spielplatz einer
literarischen Fantastik und zerstört Gewissheiten. Wie in den anderen Berlin-Geschichten
Hoffmanns erscheint ein klares und dunkles, ein kaltes und warmes, ein reales und
irreales, ein aufgeklärtes und dämonisches Berlin, das einerseits präzise dargestellt wird,
andererseits die Wahrnehmung des Selbst und des Anderen völlig verstellt.48
Diese Berlinische Geschichte enthält die ausdrücklichste Kritik der
Rationalisierung der Aufklärung. Als Alexander das Haus, in dem er mit dem Spuk der
verstorbenen Tante zusammen leben soll, verkaufen will, bekommt er von seinem
Schwiegervater den folgenden Ratschlag:
In alter Zeit hatten wir einen frommen schlichten Glauben, wir erkannten das
Jenseits, aber auch die Blödigkeit unserer Sinne, dann kam die Aufklärung, die
alles so klar machte, dass man vor lauter Klarheit nichts sah und sich am nächsten
Baume im Walde die Nase stieß, jetzt soll das Jenseits erfasst werden mit
hinübergestreckten Armen von Fleisch und Bein. (SW 4, 168)
Wie in den vorigen Geschichten ist das Gespenstische mit dem aufgeklärten, klar
lesbaren Berlin streng verbunden. Reale und irreale Bilder fließen ineinander, und es ist
kein Zufall, dass während der „letzte[n] Schlage zwölf einer aus der Ferne dumpf
48
In Heinz Brüggemanns Worten, der die Literarisierung des urbanen Raumes ähnlich interpretiert: „[d]as
Ich als Schauplatz, als Raum wird durchlässig gegenüber dem urbanen Raum – darin liegt die Bedeutung
der Großstadt für die literarische Romantik“ (Das andere Fenster, 118).
56
tönenden Turmuhr“ (SW 4, 122) gleichzeitig ängstliches Seufzen und Stöhnen in den
Wohnungen der Protagonisten zu hören ist.
Zweifellos sind die Berliner Schauplätze auch in dieser Erzählung die von
Hoffmann selbst bevorzugten Orte in der preußischen Hauptstadt. Die realitätsfernen
Fantasien gehen von realen Bildern aus, was in einer idiosynkratischen Mischung von
traumhaften und faktischen Elementen resultiert. Die Realien Berlins, die im Gespräch
nach der Erzählung auch von den Serapions-Brüdern diskutiert werden, haben die
Funktion, die Doppelbödigkeit der Realität zur Schau zu bringen.
Die nächste Berlinische Erzählung Hoffmanns, Die Brautwahl, entstand 18181819 und erschien im dritten Band der Serapionsbrüder. Wie schon erwähnt hatte der
Erstdruck den Titel Die Brautwahl, eine berlinische Geschichte, in der mehrere ganz
unwahrscheinliche Abentheuer vorkommen (SW 4, 1466). Die Erwartungen, die durch
den Titel gesetzt werden, zielen auf eine Mischung von realen Ereignissen, in der viele
der Gestalten und Orte genau lokalisiert werden können („berlinische Geschichte“), aber
auch auf Fantastik, die mit dieser Wirklichkeit eng verbunden ist. Der Text hat zwei
Versionen, von denen die erste Fassung außer dem Titel mehr auf ein mit den
zeitgenössischen Berliner Verhältnissen vertrautes Lesepublikum abzielt als die zweite
Fassung, in der bestimmte Berliner Realien entfernt worden sind (SW 4, 1467). Im
Folgenden wird die zweite Fassung mit der Berücksichtigung der Veränderungen
untersucht.
Die Geschichte handelt von der Brautwahl dreier Personen, dem Kanzleisekretär
Tusmann, dem Maler Edmund Lehsen und dem wegen seiner Verdienste in Wien
57
baronisierten Benjamin Dümmerl, die alle um die Hand der hübschen Demoiselle
Albertine Vosswinkel werben. Den Bewerbern folgend führt Hoffmann seine Leser in die
Altstadt Berlins, zuerst die Königstraße entlang zum Berlinischen Rathaus, dann ins neue
Berlin, auf den Alexanderplatz und in den Tiergarten. Die topographische Bewegung in
dieser Erzählung verhält sich also umgekehrt zu den vorigen Texten, von der Altstadt
nach Westen. Jedoch benutzt Hoffmann den altstadtlichen Hintergrund, von dem der
Leser bald nach Osten weitergeführt wird, um zu zeigen, wie modernes Leben im alten
Berlin geführt wird.
Die Erzählung beginnt mit einer zeitgenössischen Kritik an der großen Stadt als
Ort der Einförmigkeit und Regelhaftigkeit.49 In den ersten Zeilen beschreibt Hoffmann
die Nachtroutine des weltfremden Geheimen Kanzleisekretärs Tusmann, dessen
Gebärden und Gewohnheiten nach den Schlägen der Kirchenuhren organisiert sind:
In der Nacht des Herbst-Äquinoktiums kehrte der Geheime Kanzleisekretär
Tusmann aus dem Kaffeehause, wo er regelmäßig jeden Abend ein paar Stunden
zuzubringen pflegte, nach seiner Wohnung zurück, die in der Spandauerstraße
gelegen. In allem, was er tat, war der Geheime Kanzleisekretär pünktlich und
genau. Er hatte sich daran gewöhnt, gerade während es auf den Türmen der
Marien- und Nikolai-Kirchen elf Uhr schlug, mit dem Rock- und Stiefelausziehen
fertig zu werden, so dass er, in die geräumigen Pantoffeln gefahren, mit dem
letzten dröhnenden Glockenschlage sich die Nachtmütze über die Ohren zog.
(SW 4,627)
Die komischen Effekte von Tusmanns Nachtruhe sind Folgen der Rationalisierung des
Lebens und der Zeitökonomie der Großstadt, deren Kritik auch in anderen BerlinErzählungen zum Ausdruck kommt. Während der Leser mit der nächtlichen Routine des
in der Altstadt wohnenden Kanzleisekretärs bekannt gemacht wird, sehen wir unseren
49
Vgl. auch dazu das folgende Stelle in Die Brautwahl: „Eben dieser Entlegenheit ihrer Wohnungen
halber hatten die Freunde einen öffentlichen Ort in der Stadt gewählt, wo sie sich an bestimmten Tagen und
Stunden sehen wollten. Es geschah auch so; sie kamen aber mehr, um das sich gegebene Wort zu halten, als
aus innerm Antriebe“ (SW 4, 141).
58
Protagonisten aus der Königsstraße in die Spandauerstraße hineinbiegen, plötzlich ein
„seltsames Klopfen“ hören und an dem verfallenen Fenster des Rathausturms eine
weibliche Gestalt, die ihm versprochene Albertine, erblicken.
Der fixierte, erstarrte Blick auf das Liebesobjekt ist ein Leitfaden, der in mehreren
Berlinischen Geschichten auftaucht (Das öde Haus, Fragment, Geheimnisse). Der
Kanzleisekretär wird höchst erregt und wird in diesem Zustand von einem merkwürdigen
Fremden in einen Keller auf dem Alexanderplatz gebracht. Der Abstieg in den Keller ist
ebenfalls ein beliebtes intertextuelles Motiv der Berlin Erzählungen (Sylvesternacht). Die
nächste Szene spielt sich an einem Tisch in einem Weinstübchen auf dem Alexanderplatz
ab, wo unter anderem auch über Berlin diskutiert wird.
Um die obige Kritik des getrennten modernen Lebens schärfer zu machen, wird
an dieser Stelle der Erzählung das alte Berlin nostalgisch ins Gedächtnis gerufen:
[D]amals gab es gar öfters fröhliche Hochzeit auf dem Rathause, und solche
Hochzeiten sahen ein wenig anders aus als die jetzigen. [...] Überhaupt muss ich
bekennen, dass damals Berlin bei weitem lustiger und bunter sich ausnahm als
jetzt, wo alles auf einerlei Weise ausgeprägt wird, und man in der Langweile
selbst die Lust sucht und findet, sich zu langweilen. (SW 4, 649)
Dem Leser wird nahegelegt, dass Berlin am Ende des 17. und zu Beginn des 18.
Jahrhunderts bei weitem interessanter war als jetzt, wo alles von Monotonie geprägt ist.
Wie Das Fragment enthält auch Die Brautwahl eine Aufklärungskritik, und ein Bild aus
der Vergangenheit Berlins wird dazu benutzt, die Monotonie und Einförmigkeit des
modernen Lebens zu verdeutlichen. Tussmanns Gebärden, sein moderner Tagesablauf
und seine Vision der unerreichbaren Braut am Fenster des alten Rathauses werden den
bunten mittelalterlichen Festen und fröhlichen Hochzeiten einer vergangenen Zeit
gleichgestellt. Der Einsatz des alten Rathauses in zwei unterschiedlichen semantischen
59
Bereichen erzeugt die gleiche Dualität, die die anderen Berlin-Geschichten Hoffmanns
prägt.
Wie in Das Fragment gibt es eine Diskussion über Die Brautwahl im
Rahmengespräch der Serapions-Brüder. Lothar erläutert den Freunden seine Erzählung
mit den folgenden Worten: „Übrigens gewahrt ihr, dass ich meinem Hange das
Märchenhafte in die Gegenwart, in das wirkliche Leben zu versetzen, wiederum treulich
gefolgt bin“ (SW 4, 720). Nach Lothar wird hier ein in einen festgelegten Raum und
bestimmte Zeit eingebettetes Märchen erzählt. Die wichtigsten Komponenten der
Erzählung sind jedoch, wie auch in den früheren Texten, die reale Gegenwart Berlins und
die Geschichte, „in der mehrere ganz unwahrscheinliche Abentheuer vorkommen“
(originaler Untertitel).50
Geheimnisse und Irrungen: Berlin in den Späten Werken
In den Späten Werken gibt es zwei Erzählungen, Die Irrungen. Fragment aus dem Leben
eines Fantasten aus 1820 und Die Geheimnisse. Fortsetzung des Fragments aus dem
Leben eines Fantasten von 1821, deren Handlungsort in zahlreichen konkreten Bezügen
Berlin ist. Die Erzählungen, von der Forschung kaum beachtet, verdienen höchstes
Interesse.51 Die Doppelerzählung wurde wegen ihrer „sprunghaften, zerrissenen
Darstellung“ abgewertet (Steinecke 131). Der Protagonist der beiden Texte wird im
50
Wegen der Märchenelemente in der Erzählung (Dreizahl der Bewerber, die Kästchenwahl) wurde die
Erzählung als „Wirklichkeitsmärchen“ in der neusten kritischen Ausgabe des Textes charakterisiert (SW 4,
1474).
51
Aufsätze über die Doppelerzählung beschäftigen sich mit den kabbalistischen Mysterien und der
frühromantischen Rezeption der antiken Mysterienkulte im Text (siehe Marco Lehmann), mit griechischen
und hebräischen Wortspielen in den Charakternamen der Erzählung (siehe Praet und Janse 78-97) und mit
der Rolle des Autors (siehe Deterding 2003, 45-69).
60
Untertitel als „Fantast“ bezeichnet, jedoch das Konzept im Vergleich mit den anderen
Fantast-Werken parodistisch angewandt.52 Unter den Berlinischen Geschichten hat dieser
Text den virtuosesten Umgang mit Autor- bzw. Herausgeberfiktionen, die von
satirischen, ironischen und selbstironischen Zügen geprägt sind. Gerhard Kaiser zählt die
zwei Erzählungen, in denen es um eine Liebesbegegnung bzw. um den griechischen
Freiheitskampf geht, zur Vorgeschichte einer „Literatur des höchst poetischen Unsinns“
(95).
Unter den eingeschalteten Blättern, mehreren Briefen, Herausgebernotizen und
Traumbeschreibungen lässt sich die folgende Handlung herauskristallisieren: Magus
versucht die Eheschließung einer griechischen Aristokratin mit einem Freiheitshelden zu
verhindern und bringt die Fürstin nach Berlin, um sie dort an den Baron Theodor v. S. zu
verheiraten. Obwohl der Baron sich in die rätselhafte Unbekannte verliebt, scheitert der
Plan immer wieder. Die erste Geschichte wird noch relativ kontinuierlich erzählt mit der
Einschaltung von Zeitungsanzeigen und Briefen. Der zweite Teil enthält mehrere fiktive
Briefe des Autors und der Protagonisten und eine Brieftasche mit zahlreichen „Blättlein“,
die ziemlich eigenartig und fragmentarisch nebeneinandergestellt sind. Das Resultat ist
ein schwindelerregender Perspektivenwechsel und die aktive Teilnahme des Lesers, der
dazu aufgefordert wird, die Geschichte aus Mosaiken zusammenzustellen. Der „reale“
Autor Hoffmann erscheint ein immer aktiver Erzähler und Teil der von ihm erschaffenen
Berliner Welt. Er gibt dem Leser eine Reihe von Hinweisen, die es ermöglichen,
Hoffmann mit dem Fantast zu identifizieren.53
52
Wie Magdolna Orosz an zahlreichen Beispielen in ihrem Buch zeigt, werden die Erzählstrategien
Selbstreferenz und Parodie auch in anderen Werken von Hoffmann mit Vorliebe benutzt.
53
Das folgende Beispiel, das die Kleidungsstücke des Doppelgängers beschreibt ist ein intertextuelles
Element zwischen diesem Text und Des Vetters Eckfenster: „ein Mann im weiten Warschauer Schlafrock,
61
Die ersten Zeilen der Erzählung Die Irrungen, die den Leser mit einer Anzeige
aus der Haude- und Spenerschen Zeitung konfrontieren, beginnt mit einer genauen
Ortsangabe: Ein junger, schwarz gekleideter Mann „mit braunen Augen, braunem Haar
und etwas schief verschnittenem Backenbart“ wird gesucht, der „vor einiger Zeit im
Tiergarten auf einer Bank unfern der Statue Apollo“ eine kleine himmelblaue Brieftasche
mit goldenem Schloss gefunden hat (SW 5, 461).54 Der junge Mann, der sich ein bisschen
darüber ärgert, dass sein Backenbart in der Anzeige als schief verschnitten bezeichnet
wurde, ist Baron Theodor von S., der die Anzeige als Anfang eines Abenteuers sieht und
in der Folge der Erzählung alles versucht, die geheimnisvolle Frau, die immer wieder als
„ein in lange Schleier gehülltes Frauenzimmer“ erscheint, zu finden, der die Brieftasche
gehört.
Die Tasche enthält unter anderem ein Blättlein, in dem Berlin aus der
Außenseiterperspektive der verschleierten Griechin beschrieben wird. Die preußische
Residenz erscheint als eine „schön gebaute“ aber leere Stadt „mit schnurgeraden Straßen
und großen Plätzen,“ mit Alleen von halbverdorrten Bäumen, mit öden Märkten und
kleinen, versteckten Basaren (SW 5, 466). Geklagt wird auch über die Paläste, deren
Baumaterial aus kleinen, hässlich roten Backsteinen, die die Autorin vorher noch nie
gesehen hat, besteht (SW 5, 466). Die Stadtbeschreibung der fremden Dame stimmt mit
den zeitgenössischen Reiseberichten überein, wie schon am Anfang des Kapitels durch
ein rotes Käppchen auf dem Haupt, aus einer langen Pfeife Rauchwolken vor sich herblasend, von Gesicht,
Stellung – nun! – sein eigenes Ebenbild trat ihm entgegen...“ (SW 5, 520).
54
Nach dem Stellenkommentar des Textes befand sich diese Apollo Statue von der Stadt aus gesehen links
hinter dem Brandenburger Tor, direkt am Rande der nach Charlottenburg führenden Chausse (SW 5, 1080).
Hoffmanns Versetzung der Statue in die Mitte eines runden umgegebenen Platzes bedeutet in diesem Fall
die Benutzung eines teilweise fiktiven Ortes.
62
ein Zitat von Madame de Staël gezeigt wurde.55 Berlin wird, wie in vielen der früheren
Prosawerke Hoffmanns (Ritter Gluck, Sylvesternacht) als ein Ort charakterisiert, dessen
„tote kalte Steinmassen“ die „glühenden Herzen“ der Nicht-Berliner zu erdrücken
drohen. Die nüchtern beschriebene Topographie Berlins steht im starken Kontrast zu den
rätselhaften Figuren und deren irrealen Vorstellungen und surrealen Abenteuern.
Der Baron Theodor von S., ganz außer sich, trifft die abenteuerliche
Entscheidung, nach Griechenland zu fahren, um seine „Musarion“ zu finden. Er lässt
sich beim Theaterschneider eine neugriechische Garderobe machen und setzt seinen
Onkel von den Geheimnissen der bis jetzt verhüllten griechischen Ahnengalerie der
Familie in Kenntnis. Bei diesen Aktivitäten folgt der Leser ihm an genau angegebene
Orten von Berlin, durch die Linden, nach Zehlendorf, um die Apollo-Statue im
Tiergarten, auf den Pariser Platz und zum Brandenburger Tor.
Jedoch scheitert die Reise nach Griechenland am Tor von Berlin, und anstatt nach
Petras zu fahren, wird Freienwalde – ein Ort außerhalb der Großstadt – des Barons
Reiseziel um sich zu ‚heilen.’ Sobald es ihm dank des Mineralwassers besser geht,
bekommt er eine „unüberwindliche Sehnsucht nach der Residenz“ und kommt „glücklich
wieder in Berlin an“ (SW 5, 482). Bald findet er sich aber wieder in einem zerstörten
Zustand, als er während eines Spazierganges durch die Linden einem seltsamen,
gespensterhaften, fremdartigen Paar, einem „krummbeinichten alten Mann“ mit einer
verschleierten Dame, zu folgen beginnt und sie im Spiegelkabinett des Konditorladen bei
55
Vgl. dazu auch Nikolais Beschreibung Berlins: „Die Friedrichstadt ist jetzt der ansehnlichste Theil von
Berlin. Die Straßen gehen alle gerade, und stoßen fast alle winkelrecht aufeinander [...] “. Immerhin sah
sich Nikolai durch die Monotonie der endlos wiederkehrenden Fassaden zur einer kritischen Bemerkung
genötigt, dass die Häuser meist nur zwei Geschosse hoch und „unter Einem Dache fortgeführet“ seien, und
ihnen dies „ein etwas einförmiges Ansehen“ verleihe. (183)
63
Fuchs beobachtet.56 Theodors Wahnsinn wird weiter gesteigert als er während seines
nächsten Bummelns in der Friedrichstraße in spukhafter Weise „über [der] Türe [eines]
schönen Hauses“ auf die folgende Inschrift aufmerksam wird: „Hier sind meublierte
Zimmer zu vermieten“ (SW 5, 500). Im Haus begegnet der Baron jedenfalls dem
seltsamen Paar und enthüllt die Identität „des Kleinen“ als die des Kanzlei-Assistenten
Schnüsspelpold aus Brandenburg und der verschleierten Frau als die seines Protegees,
einer tatsächlich griechischen Fürstin. Wohnungen in der Friedrichstadt (Ritter Gluck und
Alexander in Das Fragment), in die man zufällig eingelassen wird und über eine
verborgene Identität aufgeklärt wird, sind weitere Verknüpfungselemente unter den
Berlinischen Geschichten. Da diese Szenen in mehreren Erzählungen anwesend sind,
verbindet dieses Motiv die zwei in Späten Werken veröffentlichten Geschichten mit den
anderen ‚Berlinischen Geschichten.’
Die beiden Erzählungen enthalten abenteuerliche Erfindungen und orientalistische
Gestalten, die aber in einem höchstrealistischen Berlin verankert sind. Sogar exakte
Daten werden genannt (die Gegenwart der Entstehung 1820/21). Dieses Berlin lässt sich
noch an weit mehr Details als in anderen Berlinischen Geschichten Erzählungen
topographisch leicht wiedererkennen. Bekannte Straßen, Plätze und Gebäude aus dem
neuen Berlin werden in großer Zahl genannt (Unter den Linden, genaue mit
Hausnummern versehene Adressen in der Friedrichstraße, Pariser Platz, Leipziger Tor,
Brandenburger Tor, Apollo-Statue im Tiergarten). Auch zahlreiche spezifische Orte
dienen als Schauplätze, die in den früheren Erzählungen benutzt wurden (Konditorei
56
Die Konditorei Fuchs erscheint in mehreren Berlin-Texten Hoffmanns aber auch in Briefe aus Berlin von
Heine und im Text „Unter den Linden“ von Julius von Rodenberg.
64
Fuchs, Hotel Sonne). Diese detailreiche Verankerung der Erzählungen macht den
Übergang zum Wunderbaren um so schrofferer und absonderlicher.
Es geht auch sehr spezifisch um die Gesellschaft Berlins um 1820. Unter anderem
beschreibt der Text die Graecomanie im damaligen Deutschland und die schwärmerische
Begeisterung der Deutschen für die Griechen. Der Baron, der sich eine griechische
Garderobe und Ahnengalerie besorgt, um sein neues Hobby auszuleben, schreckt aber
vom ersehnten Liebesglück zurück als er erfährt, dass die griechische Fürstin mit ihm
nach Griechenland will, damit er im Krieg als edler Held sterben kann.57 Die
Griechenland-Schwärmerei ist hier nicht nur ein kulturhistorisches Denkmal, um den
Philhellenismus Berlins zu verewigen, sondern auch eine ironische Darstellung der
damaligen Griechen-Mode einer blasierten Gesellschaft.
Die Klassifizierung von Hoffmanns Berlinischen Geschichten
Die obigen Texte Hoffmanns und seine Vorliebe, Berliner Alltag und Lokalkolorit in
seine Erzählungen einzubeziehen, zeugen davon, dass der aus Königsberg stammende
E.T.A. Hoffmann einer der ersten Schriftsteller war, der die Großstadt in mehreren seiner
Werke literaturfähig gemacht hat. In allen Berlinischen Geschichten werden fantastische
Ereignisse geschildert, die – im Realen verankert – auf bekannten Straßen und an genau
angegebenen Adressen spielen. Ein Inventar der Berliner Örtlichkeiten zeugt davon, dass
Hoffmanns Figuren in ganz Berlin zu Hause sind (vom Westen nach Osten: die Zelte im
57
Die Realisierung der Wirklichkeit des Krieges verändert die Gefühle des Barons zu der griechischen
Fürstin. Die Veränderung wird mit den schon oft benutzten kalt/warm Gegenpolen beschrieben: „In dem
Inneren des Barons ging bei diesen Reden der Griechin eine seltsame Veränderung vor. Denn auf glühende
Hitze folgte eine Eiskälte und es wollte den Baron gar eine Fieber-Angst überwältigen“ (SW 5, 506).
65
Tiergarten, zahlreiche genaue Adressen Unter den Linden, verschiedene Straßen und
Plätze der Friedrichstadt, einige Orte in der Altstadt, Alexanderplatz), jedoch
konzentrieren sie sich auf einen bestimmten Hoffmannschen Katalog, nämlich die
Friedrichstadt und den Tiergarten. Alle Erzählungen sind an ein mit der Topographie
Berlins und dem Alltag der Hauptstadt vertrautes Publikum gerichtet. Die realistischen
Ortsangaben sind aber gelegentlich falsche Realien oder zumindest mit künstlerischer
Freiheit behandelt. Viele der Berliner Örtlichkeiten erscheinen in mehreren Texten und
können als Verknüpfungselemente und intertextuelle Referenzen betrachtet werden (z.B.
das Webersche Zelt, Keller in der Friedrichstadt, der Spiegelsaal in der Fuchsischen
Konditorei oder verborgene Wohnungen in der Friedrichstadt). In diesem Sinne ist die
Bezeichnung der obigen Texte unter dem Oberbegriff Berlinische Geschichten
zweckmäßig, da das gemeinsame Inventar und die oft übertragene Bedeutung von
Berliner Orten im Kontext eines bestimmten Textkorpus besser verstanden und
interpretiert werden können.
Die Zahl der Protagonisten, die die berühmten Plätze, Straßen, Weinhäuser und
Konditoreien bevölkern, ist in den Erzählungen auffällig reduziert, besonders im
Vergleich mit Des Vetters Eckfenster, in dem ein turbulentes großstädtisches Treiben
geschildert wird. Die meisten Protagonisten sind keine Berliner, ihre Fremdheit wird
mehrmals angedeutet und sie verlassen die Stadt über kurz oder lang (Ritter Gluck,
Fragment, Geheimisse). Bestimmte Schichten der Berliner Gesellschaft, wie die
machtlos gewordene Aristokratie und das aufsteigende Bürgertum, werden immer wieder
dargestellt.
66
Thematisch steht in den meisten Texten ein Liebesbegehren oder die Enthüllung
der Identität beobachteter Figuren im Mittelpunkt aber eine Lösung wird nicht immer
angeboten. Zweifellos nimmt Hoffmann in jeder Erzählung Themen aus einem
chronologisch identifizierbaren Berliner Moment auf. Aktuelle Themen und Plaudereien
wie die Geschichte einer seltsamen Familie in Das öde Haus, stadtplanerische
Diskussionen oder Kritik der damaligen Unterhaltungsmusik, die die damaligen Berliner
beschäftigt haben, sind die erzählerischen Anlässe der Berlinischen Geschichten. In
diesem Sinne funktionieren sie als wichtige kulturhistorische Dokumente der
postnapoleonischen Periode. Die vielschichtigen und heterogenen Texte produzieren
kulturelles Wissen des damaligen Berlin.
Hinter der Vielfalt der Erzählungen verstecken sich wiederkehrende
Strukturelemente. Julius von Rodenberg beschreibt treffend die ästhetischen Mittel, die in
den meisten Berlinischen Geschichten aufzufinden sind: „Für [Hoffmann] ist immer
Geisterstunde. Mit scharfem Blick dringt er in das, was dem blöderen Auge dunkel ist,
und bemerkt an jeder Kreatur den Fleck, wo das Spiel des Dämonischen, das Unerklärte,
das Unerklärliche beginnt, auch in dem allertrivialsten Dasein“ (308). Den konkreten,
präzis angegebenen, hellen Räumen des aufgeklärten Berlins werden so dämonische,
ungreifbare, dunkle Szenen gegenüber gestellt. Der Normalzustand der bürgerlichen
Zivilisation und die Sphäre des lebendigen Gefühls stehen im starken Kontrast
miteinander und werden fast mit den gleichen semantischen Mitteln beschrieben (z.B. mit
hell/dunkel, kalt/warm Oppositionen).58 Der schroffe Wechsel zwischen diesen Szenen
58
Julius Rodenberg charakterisiert die Berlinische Geschichten folgendermaßen: „Die Geisterwelt quält,
foltert und nackt ihn, sie macht ihn abwechselnd selig und mehr als einmal physisch krank. Sie vertritt ihm
den Weg am hellen Mittag in diesem vernünftigen Hegel’schen Berlin; sie geht ihm nach durch den Lärm
der Königstraße zu den wenigen noch übrigen Resten des Mittelalters in der Gegend des zerfallenen
67
zeigt, wie geheimnisvolle Gestalten aus anderen Welten mitten unter den lebenden
Berliner zu finden sind. Neben der Erzeugung eines scharfen Kontrasts zwischen dem
Wunderbaren und dem Wirklichen funktionieren die exakten Stadtbeschreibungen als
eine zeitgenössische Kritik an der großen Stadt als Ort der Gleichförmigkeit und
Monotonie. In den obigen Beispielen wurde mehrmals gezeigt, dass diese
Beschreibungen mit den zeitgenössischen, nicht-fiktiven Berlin-Beschreibungen
übereinstimmen.
Obwohl die semantischen und ästhetischen Stilmittel der obigen Erzählungen und
der Ausgang der Geschichten in den meisten Fällen vorhersagbar sind, die
verschwimmenden Grenzen eines „Hoffmannschen Berlinische Geschichten“ Kanons
und die Stabilität der literarischen Gattungsbezeichnungen machen es fraglich, in wie
fern die Bezeichnung „Berlinische Geschichten“ für die Literaturwissenschaft produktiv
gemacht werden kann. Aus produktionsästhetischer Sicht stehen die obigen Geschichten
miteinander in enger Beziehung und zeugen davon, dass während der Analyse eines
bestimmten Berlin-Textes auch andere in Betracht gezogen werden sollten.
Die Gefahr der Klassifizierung liegt aber darin, dass ein bestimmter Korpus von
Texten von anderen, die mit ihm aus thematischen und ästhetischen Gründen in ebenso
wichtiger Beziehung stehen, abgesondert werden. Ein ständiger Wechsel zwischen dem
Wirklichen und Unwirklichen ist auch in anderen Werken Hoffmanns präsent, jedoch in
Bezug auf den realen Hintergrund ist Berlin den Berlinischen Geschichten gemeinsam.
Rathhauses; sie lässt ihn in der Grünstraße [...] einen geheimnisvollen Rosen- und Nelkenduft verspüren
und verhext ihm den fashionablen Sammelplatz ‚des höheren Publikums’, die Linden“ (108). Der
Herausgeber von Müller beschreibt die Ästhetik von Hoffmanns Berliner Stücken ähnlich: „[Hoffmann]
bezeichnet nicht nur, er zeichnet und trifft mit unfehlbarer Treue. Visionär, hat er doch für die
Bestimmtheit der Dinge den sichersten Griff und Ausdruck; er überzeugt durch den Gegensatz: von der
sichersten Fertigkeit des Hintergrundes borgt die Magie seines ruhelosen Erfinden den Schein einer
Existenz, welche der gemeinen Wirklichkeit widerspricht und doch untrennbar mit ihr verknüpft ist“ (xix).
68
Die schnellen Perspektivenwechsel in Die Irrungen und Die Geheimnisse sind aber auch
wichtige textstrukturierende Merkmale in Prinzessin Brambilla und die
Märchenhaftigkeit des Textes Die Brautwahl evoziert sowohl thematisch als auch
strukturell Hoffmanns Märchen. Die Klassifikation Berlinische Geschichte darf in diesem
Sinne keine fixierte Einzelform sein, jedoch soll die Behandlung der obigen Texte unter
einer gemeinsamen Gattungsbezeichnung indizieren, dass Berliner Realien in zahlreichen
Werke des Hoffmannschen Oeuvres vielfältig und schlüssig literarisiert worden sind. Die
Kenntnis eines breiten Korpus von Berlin-Geschichten kann die Auslegung von einzelnen
Werken verbessern, so dass interpretationsattraktive Texte aus einer ungewöhnlichen
Perspektive analysiert und weniger bekannte Texte neu gedacht werden können.
Intermedialität: Das gezeichnete und das erzählte Berlin bei Hoffmann
Um die Berlin-Wiedergaben Hoffmanns besser zu verstehen, sollen auch die BerlinZeichnungen der Doppelbegabung in Betracht gezogen werden. Hoffmann war in seinen
Berliner Jahren, besonders in der dritten Phase, auch als begeisterter Zeichner tätig. Von
seinem letzten Berlin-Aufenthalt sind über 40 Arbeiten erhalten: Bilder zu den eigenen
Werken, kleine Porträts, Skizzen, Karikaturen, die er oft in seinen Briefen angefertigt hat
(Hyun-Sook 5). Es gibt zwei Zeichnungen Berlins im malerischen Nachlass des
Schriftstellers, die im folgenden Teil die Basis eines Vergleiches zwischen Text und Bild
konstituieren sollen.
Die erste Zeichnung stammt aus dem ersten Berliner Aufenthalt und ist datiert auf
Sonntag, den 8. September 1799. Das Bild zeigt die berühmteste Straße Berlins mit einer
69
Reihe von Einzelpersonen, vornehmen Bürgern, Herren im Frack, Soldaten und Frauen in
eleganten Kleidern. Auffallend ist an dem auf einem kleinen Papier gezeichneten Bild,
dass Hoffmann eine Menschenfülle darstellt, die alle in Bewegung ist. Dies ist zweifellos
der erste Versuch Hoffmanns, das lebendige Großstadtleben in einer Zeichnung zu
verbildlichen. Der Ort, Unter den Linden, wird neben dem Titel mit den am rechten
Bildrand dargestellten Bäumen und dem oben gezeichneten Licht durch Realien
angedeutet. Neben den realistischen Figuren befinden sich zwei Außenseiter auf dem
Bild: Ein kleiner, buckliger Mann mit einem Zylinderhut und ein dicker, rundgesichtiger
Mann mit einem Spazierstock, der als eine Karikatur des Spießbürgers interpretiert
werden kann.59 In der Zeichnung kann man einen ersten Versuch Hoffmanns beobachten,
eine mit präzisen Koordinaten angegebene Großstadtszene mit grotesken und
fantastischen Figuren zu ergänzen und dadurch eine ähnliche Konstellation zu schaffen,
die das Rückgrat der Berliner Geschichten ausmacht.
Abbildung 3: E.T.A. Hoffmann, Die Linden
59
Für eine detaillierte Beschreibung der Zeichnung siehe Steinecke, Die Fantasie der Kunst 43-44.
70
Die zweite Berliner Zeichnung Hoffmanns ist eine großartige Federzeichnung,
„der Kunzische Riss,“ wie Hoffmann sie nannte, die er seinem Bamberger Verleger Kunz
im Sommer 1815 (während des zweiten Berliner Aufenthaltes) geschickt hat.60 Das Bild
zeigt den Grundriss der neuen Wohnung am Gendarmenmarkt, aus deren Fenster
Hoffmann mit seinem Freund Devrient hinausschaut. Die Basis der Zeichnung bilden die
mit den genauen Namen bezeichneten Straßen und die mit wenigen, linearen Strichen
hingeworfenen Gebäude, das Theater, die beiden Kirchen, die Restaurationen, die
Weinstuben und der Grundriss von Hoffmanns Wohnung. In dieser Struktur hat
Hoffmann zahllose Gruppen deutlich voneinander gesondert, jedoch ein einheitliches
Stadtbild ins Leben gerufen, in dem die einzelnen Szenen miteinander in Zusammenhang
stehen.
Abbildung 4: E.T.A. Hoffmann, Der Kunzische Riss
60
Für ausführliche Beschreibungen und Analysen der Tuschzeichnung siehe Georg Wirth und Klaus
Deterding. Der autobiographische Aspekt der Zeichnung mit den exakten Ortsangaben dominiert in den
Annäherungen. Julius von Rondenberg fängt seine Beschreibung in der folgenden Weise an: „Draußen vor
dem Fenster war das Gewühl des Markts und der Straßen, des Theaters und der Weinhäuser; aus diesem
fing er alles auf und zeigt es in scharfen, eckigen Linien. Ihr könnt auch nur die Wohnung and der Taubenund Charlottenstraße-Ecke, wo jetzt unten der Konditor wohnt, ansehen – droben an dem Eckfenster hing
der Spiegel“ (295)“
71
Die Bedeutung des Kunzischen Risses kann für das Gesamtwerk kaum hoch
genug eingeschätzt werden.61 Der Kunzische Riss ist ein Zeugnis davon, dass sich
Hoffmann mit dem regen Stadtleben Berlins sowohl visuell als auch literarisch
auseinandergesetzt hat. Die Zeichnung des Gendarmenmarktes kann als eine
Visualisierung seiner poetischen Weltsicht interpretiert werden.62 Um die bemalten
Szenen herum findet man oft abgehackte Sätze oder Stichwörter, um das Gesehene genau
lokalisieren und interpretieren zu können. Die Zeichnung ist folglich eine Mischung aus
Text und Bild. Einerseits stellt sie ein sonderbares Allgemeines der erlebten Wirklichkeit
dar, also geschehene oder während des Zeichnens stattfindende Ereignisse (zum Beispiel
in der Charlottenstraße „einen Hund,“ „einen Soldaten“ und „Damen“) aber auch Figuren
aus der Fantasie (wie in der parallelen Markgrafenstraße „ein Strauss“ und „einen
Löwen“). Auf der Zeichnung lassen sich auch Gestalten aus Hoffmanns literarischen
Werken – auch Figuren aus den Berlinischen Geschichten -- erkennen: Anselmus,
Paulmann, Spikher, Giulietta, Dapertutto, und Kreisler.63
Neben den genauen Straßennamenangaben dient die Platzierung der
Zwillingskirchen auf dem Gendarmenmarkt zur Orientierung. Auf den französischen und
deutschen Kirchen plaziert Hoffmann Glöckner, die mit ihren Glocken einander zuläuten.
Auch bestimmte Örtlichkeiten erscheinen auf der Zeichnung: Das Restaurant Lutter &
Wagner, Moretti, Thiermann und die Weinstube an der Ecke Markgrafen und
Taubenstraße (Deterding 27). Der Grundriss der Wohnung in der Taubenstraße ist auch
61
Rodenberg beschreibt die Zeichnung mit den folgenden Worten: „Tauberstraße Nr. 31 steht am Rande
des wunderlichen Blattes geschrieben, welches, wenn wir noch keinen Begriff davon hätten, wie die
Wirklichkeiten des Tages sich auf dem „Zauberspiegel” dieses Kopfes malten, uns einen solchen geben
würde ... So correct und richtig in seinem Capriccio hat Hoffmann alles angegeben, keine topographische
Aufnahme, kein Plan von Berlin hätte mehr thun können” (296).
62
Klaus Deterding interpretiert die Zeichnung in dieser Weise: „Der Kunzische Riss gibt exemplarisch die
poetische Weltsicht Hoffmanns als Integration des Realen und des Irrealen“ (25).
63
Diese Identifikationen basieren auf die Analysen von aus Deterding und Georg Wirth.
72
eine architektonisch höchstrealistische Illustration der damaligen Wohnverhältnisse
Hoffmanns (Georg Wirth 39).
Im Mittelpunkt der Zeichnung – unproportioniert – dominiert das
„TheaterGebäude“ des Schauspielhauses, das für Hoffmann von erheblicher individueller
Bedeutung war. Den Blick auf den Markt und die umherliegenden Straßen ergänzt
Hoffmann durch eine Perspektive, die Volker Klotz und Heinz Brüggemann in AlainRené Lesages Le Diable beiteux (Der hinkende Teufel) aufgezeigt haben.64 In Lesages’
Roman nimmt der Teufel die Pariser Dächer ab, um einem Studenten zu zeigen, was sich
alles im Inneren der Gebäude abspielt. Etwas Ähnliches passiert in der Zeichnung: Im
Theater findet eine Tanzprobe statt, Choristen üben, dem Grafen Brühl dienen im
Direktorzimmer Dichter, die ihre Werke aufgeführt haben möchten. Der Kapellmeister
Weber genießt im Theater gutes Essen und Trinken. Das Dach des Gebäudes ist durch
einen Affen unscharf angedeutet, da die im Theater stattfindenden Szenen die
Federzeichnung dominieren.
Auf Hoffmanns Abbildung ist der Gendarmenmarkt „in wirrem Durcheinander“
porträtiert. Mannigfachste Szenen des Alltagslebens und Hoffmanns Fantasie
entsprungene stehen oft ohne kausale Zusammenhänge nebeneinander. Die multiplen
Szenen, die die inneren und äußeren Räume des Platzes beleben, porträtieren ein
intensives städtisches Treiben. Der Kunzische Riss fungiert wie die letzte Erzählung Des
Vetters Eckfenster als eine „Sehschule“: Der erste Blick auf das mit zahlreichen Szenen
gefüllte Blatt soll durch „ein Fixieren des Blicks“ abgelöst werden, um die Zeichnung
verstehen zu können.
64
Vgl. dazu Klotz (22-48) und Brüggemann (Das andere Fenster, 14-44).
73
Wie in den Berliner Erzählungen, in denen der Berliner Alltag des Hier und Heute
mit den von Hoffmann erfundenen fantastischen Gestalten gemischt werden, wird der
Betrachter der Zeichnung mit dem Nebeneinander von Realität und Fantastik
konfrontiert. In der Zeichnung kann man eine Opposition der linearen, geometrischen
Formen, die als ein Netz funktionieren, bemerken. Wie in den Erzählungen kann der
Beobachter sich auf der Hoffmannschen Stadtkarte ganz genau einordnen, jedoch trifft er
in dem mit genauen Straßenschildern versehenen Berlin unerwartete Gestalten. Die
topographischen Orte, wie oft in den Erzähltexten, zeugen von einer Subjektivität.
Bestimmte Gebäude, wie das Langhanssche Theater hier, werden unproportioniert
vergrößert und andere gleichgültig an die Peripherie gedrängt (zB. „Wohnungen
unbekannter Leute“). Der Kunzische Riss ist ein wichtiges Dokument in Bezug auf die
Berlin-Texte des Schriftstellers, da er exemplarisch die poetische Weltsicht Hoffmanns
als Integration des Realen und Irrealen visualisiert.
Die Beziehung zwischen den realen und fantastischen Gestalten in der Zeichnung,
in der Berliner Persönlichkeiten wie Tieck, Fouqué, Brentano, Kunz mit den
Erzählfiguren Erasmus Spikher, und Doktor Dapertutto aus den Abenteuern der
Sylvesternacht, Anselmus und Paulmann aus dem Goldenen Topf auf dem gleichen Blatt
erscheinen, ist ausgewogenen. Der Kunzische Riss und die frühe Zeichnung Unter den
Linden bestätigen die gleiche Ästhetik, worin Wirklichkeit und Unwirklichkeit sich die
Waage halten, und die die Berlinischen Geschichten charakterisiert.
74
Die bildlose Zeit Berlins: Hoffmann und die zeitgenössische Stadtmalerei
Im letzten Teil des Kapitels sollen Hoffmanns Berlin-Erzählungen in einem breiteren
kulturellen Kontext untersucht und mit den Berlin Stadtbildern von zeitgenössischen
Malern verglichen werden. Das Interesse der Berliner Malerei an der Darstellung der
preußischen Hauptstadt war in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nicht stark
ausgeprägt, obwohl sie im 18. Jahrhundert über eine lange Tradition verfügt hatte. Neben
den königlichen Aufträgen entwickelte sich auch ein bürgerlicher Markt nach 1756 in
Berlin, der sich für Stadtansichten interessierte (Wellmann 28).
Die Fechhelms und die Rosenbergers waren die berühmtesten Malerfamilien der
Zeit, die sowohl Gesamtansichten als auch Ansichten einzelner Stadtteile malten. Berlin
hatte sich um 1780 so stark vergrößert, dass die Stadtmaler in der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts im Gegensatz zu den früheren, oft fiktiven Überblickdarstellungen und
Luftschau-Perspektiven (z.B. Dismar Daegens Vogelschaubild der Friedrichstadt von
1735) zunehmend Teilansichten lieferten (z.B. Carl Friedrich Fechhelm, Der Platz am
Operhaus und die Straße Unter den Linden, 1756).
Abb. 5-6: Dismar Dägen, Vogelschaubild der Friedrichstadt (um 1735) und Carl Friedrich Fechhelm, Der
Platz am Operhaus und die Straße Unter den Linden (1756)
75
In den früheren Gemälden erschien Berlin ohne Stadttreiben und die Abbildungen
funktionierten als ausgesprochene Architekturbilder, während die späteren Darstellungen
das alltägliche städtische Leben betonten (Wellmann 16, 28). Die Beziehung zwischen
Stadtraum und den Menschen veränderte sich und die bemalten Gestalten wurden
authentischer und raumbezogener. Das heißt, dass die Berliner Stadtmalerei im 18.
Jahrhundert schon eine beachtliche Zahl von Berlin-Repräsentationen ins Leben gerufen
und verschiedene Phasen erfahren hat. Am Ende des 18. Jahrhunderts war jedoch die
malerische Stadtaufnahme Berlins zurückgegangen (Gramlich 95). Die Napoleonischen
Kriege von 1792 bis 1815 unterbrachen fast alle malerische Arbeit an Berliner
Stadtansichten.
Nach 1800, aus der Zeit als Hoffmann Berlin kennen gelernt hat, sind nur einige
gedruckte Stadtansichten Berlins überliefert (Wellmann 28). Die Kunsthistorikerin und
Kuratorin des Berlin Museums, Irmgard Wirth, beschreibt die Kunstausstellungen, die
Hoffmann in Berlin wahrscheinlich gesehen hat. Nach Wirth hat Hoffmann einige frühe
Werken von Architektenmalern gesehen (z.B. 1814 von Johann Erdmann Hummel),
jedoch die berühmten Vedutenmaler, wie Eduard Gaertner und Wilhelm Brücke, ließen
noch auf sich warten (39). Bei seinem ersten Aufenthalt in Berlin hat Hoffmann eine im
Jahre 1798 von der Königlichen Akademie der bildenden Künste und mechanischen
Wissenschaften eröffnete Ausstellung besucht. Nach Wirths Meinung hat Hoffmann in
dieser Ausstellung keine bedeutenden Stadtabbildungen sehen können (35). Jedoch hat er
hier Gemälde von italienischen Landschaften von Philipp Hackert bewundert (Wirth
76
36).65 Landschaftsmalerei und eine ästhetische Diskussion über Landschaftsgemälde sind
auch in eine der Berlinischen Geschichten eingebettet.
Einer der Werber in Die Brautwahl ist der junge Maler Edmund Lehsen, der
Landschaftsstudien malt.66 „An einer einsamen Stelle des Tiergartens“ entwirft Lehsen
eine ganz besondere Zeichnung als Landschaftsstudie (SW 4, 655). Er malt eine „schöne
Baumgruppe nach der Natur,“ bringt jedoch in die Blätter der Bäume „allerlei Gestalten
[...] in buntesten Wechsel“ hinein, „bald Genien, bald seltsame Tiere, bald Jungfrauen,
bald Blumen“ (SW 4, 655). Lehsen erklärt sein künstlerisches Verfahren damit, dass er
„das wahrhaft Poetische, Fantastische in die Landschaft“ tragen will. Sein
Gesprächspartner, der Goldschmidt Leonhard erscheint hier als sein Erzieher und
kommentiert die Intentionen des jungen Malers in der folgenden Weise: „Sie sind eben
jetzt auf dem schönsten Wege, eine großer Narr zu werden“ (SW 4, 658).
Den Rest der Konversation hat Hoffmann aus der ersten Version des Textes
getilgt, jedoch enthält die entfernte Passage eine aufschlussreiche Diskussion über die
Aufgaben des Dichters und des Malers:
[J]eder Maler, sey er Landschafter oder Historikus, muss zugleich ein Dichter
seyn, denn Gemälde sind Gedichte mit dem Pinsel ausgeführt; aber nennen Sie
das Dichten, wenn Bäume mit ihrem Laube, Stamm und ihren Wurzeln zugleich
aussehen sollen, wie Menschen, Thiergestalten, ja wenn selbst Figuren
zusammengestellt sind, nicht nur eine bestimmte Handlung, sondern nur eine
außerhalb des Bildes liegende fantastische Idee ausdrücken? Da kommen wir in
die Allegorie hinein, dem ärmlichsten, unkünstlerischsten Theil der Malerey.
Hüten Sie sich vor den Nebeln und Schwebeln! (SW 4, 1481-82)
65
Vgl. auch dazu den Brief Hoffmanns aus Berlin (An Hippel, 15.10. 1798): „Hackert, der jetzt in Neapel
lebt, hat zu dieser Ausstellung vier ganz vortreffliche Landschaften nach der Natur in Oel geschickt“
(Briefe 1, 140).
66
Der Berliner Maler Wilhelm Hensel (1794-1861) wird als Vorbild für diese Gestalt angesehen. (SW 4,
1480)
77
Die künstlerische Auffassung, die Hoffmann in den Mund von Leonhard legt, macht
deutlich, dass die allegorische Malerei von Hoffmann nicht hochgeschätzt wird.67 Das
Ablehnen eines nicht-mimetischen Programms ist eine Komponente von Hoffmanns
ästhetischen Ansichten. Er warnt vor dem Verlust der Beziehungen zur realen Welt. Wie
in seinen Berlin-Stadtzeichnungen plädiert Leonhard, der als das Sprachrohr Hoffmanns
angesehen werden kann, erneut für eine Balance zwischen den inneren und äußeren
Wirklichkeiten des Künstlers.68
Architekturmalerei erwähnt Hoffmann in seinen Berlin-Geschichten nicht, jedoch
beschäftigt er sich mit dem Genre in der Künstlergeschichte Die Jesuitenkirche in G. Die
Erzählung über das Schicksal des geheimnisvollen Malers Berthold schildert nicht nur
die kreative Entwicklung eines Künstlers, sondern enthält auch mehrere
Kunstauffassungen. Berthold studiert Malerei beim berühmtesten Landschaftsmaler der
Zeit, Philipp Hackert, in Italien. Bald findet er aber Ungenügen in der naturtreuen
Darstellung seines Meisters und lernt, dass er zum „tieferen Sinn der Natur,“ zu den
Bildern in seinem „Innern“ fortschreiten muss (SW 3, 130).69 Bevor aber seine
Lebensgeschichte von dem reisenden Enthusiasten mitgeteilt wird, trifft der Leser den
Maler in einem Kloster, in dem er als Wand- und Architektenmaler tätig ist.
Während einer Nacht besucht der Ich-Erzähler Berthold, der eifrig die
Kirchenwand mit Marmorsäulen bemalt. Der Erzähler bietet seine Hand an und während
der gemeinsamen Arbeit entfaltet sich eine Konversation über die Rangordnung der
67
Mehr dazu siehe Lee 205-18.
Das Ablehnen einer entgegensetzten Einseitigkeit erscheint in Die Jesuitenkirche G. durch ein ähnliches
Beispiel. Das mimetische Programm basiert auf einer „reinen Nachahmung der Natur“ (SW 3, 126), auf
einer Wiedergabe des Gesehenen wie das in der Hackerts Landschaftsmalerei in Die Jesuitenkirche G.
praktiziert wird.
69
„Berthold erlangte große Fertigkeit, die verschiedenen Baum- und Gesträucharten der Natur getreu
darzustellen [...] aber auf ganz eigene Weise schien es ihm [...] ja selbst den Landschaften des Lehrers
etwas fehle“ (SW 3, 127)
68
78
Genres in der Malerei. Die Geschicktheit Bertholds lobend stellt der Erzähler fest, dass
der Maler zu etwas besseren taugt als Architekturmalerei. Die Begründung ist das
Folgende: „Architektur-Malerei blieb immer etwas untergeordnetes; der Historien-Maler,
der Landschafter steht unbedingt höher“ (SW 3, 116). Er lehnt die engen Schranken der
geometrischen Linien ab, da Fantasie sich nur „im freien Fluge“ erheben kann (SW 3,
116).70 Mit diesen Worten tadelt der Erzähler von Bertholds Geschichte
Repräsentationen, die nach naturtreuen Abbildungen streben und mit „mathematischer
Spekulation“ eine rein mimetische Darstellung erzielen.
Der Status der zeitgenössischen Berliner Stadtmalerei, die eigenen Erlebnissen
des Schriftstellers und die obige Textanalyse zeigen, warum Hoffmann in seinen früheren
Berlin-Texten sein künstlerisches Verfahren durch Landschaftsmalerei anstatt durch
malerische Stadtansichten verbildlicht. Wegen der Napoleonischen Kriege begannen die
Maler sich erst spät wieder für Berlin zu interessieren. Da bis 1825 nur wenige Gemälde
Architektur wiedergeben und vorwiegend Zeichner und Stecher das Aussehen Berlins in
zahlreichen Serien und Einzelblättern festhielten, ist es kein Wunder, dass Hoffmann
über diese Darstellungen eine abschätzende Meinung hatte. Kunsthistoriker stimmen
überein, dass die großen Namen unter den Berliner Malern in den Jahren 1814-20 noch
nicht bekannt waren.71
Allerdings wurden die ersten Panoramen Berlins in diesen Jahren eingerichtet, für
die ganz neue darstellungstechnische und wirtschaftliche Probleme zu lösen waren. Das
vorrangige Anliegen der Panoramamalerei war die realitätsnahe Schilderung des
70
Mehr dazu: “Selbst das einzige Fantastischen Eurer Malerei, die sinnentäuschende Perspektive, hängt
von genauer Berechnung ab, und so ist die Wirkung das Erzeugnis, nicht des genialen Gedankens, sondern
nur mathematischer Spekulation” (SW 3, 116).
71
Vgl. dazu Wellmann und Gramlich.
79
bemalten Motivs. Die Familie Gropius, die mit ihren Bühnendekorationen und
illusionistischer Dekorationsmalerei bekannt geworden ist, förderte die Anfertigung von
Panoramen und hat wesentlich zur Wiederentdeckung der Stadt als Bildthema
beigetragen. Die neuen künstlerischen Techniken beeinflussten die Künstler, die nach den
Napoleonischen Kriegen in Berlin Stadtansichten malten, was in dem nächsten Kapitel in
den Repräsentationen des Gendarmenmarktes – Schauplatz von Hoffmanns letzter
Berlin-Erzählung – dargestellt wird.
Schlussfolgerung
Die jüngste Hoffmann-Forschung konzentriert sich auf den letzten Berlinischen Text
Hoffmanns. Hier ist gezeigt worden, dass die bahnbrechende urbane Darstellung Berlins
in Des Vetters Eckfenster schon in mehreren früheren Werken vorbereitet wurde.
Die Analyse der Berlinischen Geschichten macht deutlich, dass das Doppeltalent
Hoffmann im bunten Gewühl der Stadt Berlin sowohl literarisch als auch malerisch
angeregt wurde. Er nahm am zeitgenössischen kulturellen Leben Berlins intensiv teil,
äußerte seine Meinung über aktuelle Aufführungen, städtebauliche Entwicklungen,
Kunstausstellungen und sogar alltägliche Gesprächsthemen, die die Fantasie der
damaligen Berliner bewegten.
Obwohl Hoffmanns Berlinische Geschichten ein vielschichtiges Bild der urbanen
Topographie der preußischen Hauptstadt anbieten, sind sie auf „das neue Berlin“
reduziert und können als Kritik der damaligen aufklärischen Stadtplanung gelesen
werden. Die Friedrichstadt mit ihrem Schachbrettraster und dem streng gewahrten
80
Axialsystem bildet einen auffälligen Kontrast zu den Abenteuern der Protagonisten, die
auf den nächtlichen Straßen Berlins seltsamen Gestalten, Gespenstern und unheimlichen
Ereignissen begegnen. Die Analysen der heterogenen Texte zeugen auch davon, dass die
exakten Straßennamen nur einen scheinbaren Realismus hervorbringen. Der spezifische,
reale Ort Berlin bei Hoffmann funktioniert als Katalysator, um das verborgene und
dämonische Berlin zur Schau bringen zu können. In vielen von den Erzählungen entsteht
ein bipolares Berlin-Bild zwischen Rationalisierung und Dämonie, in dem die
Lebensbereiche der alltäglichen bürgerlichen Zivilisation und die Sphäre des lebendigen
Gefühls im starken Kontrast miteinander stehen. Eine Darstellung, in der der
Schriftsteller zwischen den verschiedenen Domänen, Innenwelt und Außenwelt, Körper
und Geist eine Balance zu erhalten zielt.
81
KAPITEL 2.: Rund um den Gendarmenmarkt: Eine ästhetische und sozialpolitische Sehschule in E.T.A. Hoffmanns Des Vetters Eckfenster (1822)
Einführung
Man denke an den Orpheus, der, als ihm ein großer wüster Bauplatz angewiesen
war, sich weislich an dem schicklichsten Ort niedersetzte und durch die
belebenden Töne seiner Leier den geräumigen Marktplatz um sich her bildete. Die
von kräftig gebietenden, freundlich lockenden Tönen schnell ergriffenen, aus
ihrer massenhaften Ganzheit gerissenen Felssteine mussten, indem sie sich
enthusiastisch herbei bewegten, sich kunst- und handwerksgemäß gestalten, um
sich sodann in rhythmischen Schichten und Wänden gebührend hinzuordnen. Und
so mag sich Straße zu Straßen anfügen! An wohlschützenden Mauern wird’s auch
nicht fehlen. Die Töne verhallen, aber die Harmonie bleibt. Die Bürger einer
solchen Stadt wandeln und weben zwischen ewigen Melodien; der Geist kann
nicht sinken, die Tätigkeit nicht einschlafen. Das Auge übernimmt Funktion,
Gebühr und Pflicht des Ohres, und die Bürger am gemeinsten Tage fühlen sich in
einem ideellen Zustand: Ohne Reflexion, ohne nach dem Ursprung zu tragen,
werden sie des höchsten sittlichen und religiösen Genusses teilhaftig. [...] Der
Bürger dagegen in einer schlecht gebauten Stadt, wo der Zufall mit leidigem
Besen die Häuser zusammenkehrte, lebt unbewusst in der Wüste eines düstern
Zustandes; dem fremden Eintretenden jedoch ist es zu Mute, als wenn er
Dudelsack, Pfeifen und Schellentrommeln hörte und sich bereiten müsste,
Bärentänzen und Affensprüngen beiwohnen zu müssen.
Johann Wolfgang von Goethe (Werk: Maximen und Reflexionen, Nachlaß,
Über Kunst und Kunstgeschichte, Nr. 1133 von 1827)
Goethes Charakterisierung der Baukunst als „erstarrte Musik“ und „verstummte
Tonkunst“ ist einer der meistzitierten Aphorismen des Schriftstellers. Das Bild der
idealen Stadt, die Goethe mit musikalischen semantischen Mitteln beschreibt, ist jedoch
weniger bekannt. In diesem Text stellt Goethe dar, wie der Sänger Orpheus mit der Hilfe
der Musik aus Naturelementen einen idealen urbanen Raum ins Leben ruft. Der Raum
wird einerseits als Marktplatz konnotiert, andererseits als ein Ort, dessen Bewohner sich
in einem geistigen und körperlichen Wohlstand befinden. Die gut gebaute Stadt nach
Goethe hat ein „kunst- und handwerksgemäß“ gestaltetes, gut durchgedachtes Zentrum,
82
das Sichtachsen schafft, in dem Straße zu Straße gereiht ist und die schließlich mit
Mauern geschützt ist. Die ewigen Melodien der stadtschaffenden Musik werden mit einer
hohen Auffassung von Architektur verbunden. Die synästhetische Beschreibung betont
den Primat des Sehens, während die restlichen Sinnesorgane sekundäre Funktionen
bekommen. Der idealen Stadt wird ein Kontrast entgegengesetzt, eine ungeplante, sorglos
entworfene Stadt, in der die Menschen ein unbewusstes Leben führen und zu Reflexionen
unfähig sind.
Die von Goethe betonte Harmonie und die aus der griechischen Mythologie
entnommene Orpheus-Gestalt evozieren die klassizistische Formensprache der
Architektur, die unter anderem zur Zeit der Verfassung der obigen Beschreibung auf dem
Gendarmenmarkt in Berlin zu sehen war. Schinkel, dessen Entwurf des Schauspielhauses
dem Platz seine Würde gab, bediente sich in seiner Planung der synästhetischen
Konzeptionen der deutschen Klassik und Romantik.72 Die früheren Beschreibungen des
Gendarmenmarktes wie zum Beispiel die Charakterisierung des Ortes von Karl Philipp
Moritz aus dem Jahre 1795 in den Reisen eines Deutschen in Italien zeugen davon, dass
dem architektonischen Gesamtbild des Gendarmenmarktes vor dem Fertigstellen des
Schauspielhauses in der Regel nur eine herabschätzende Schilderung zu Teil ward.
Moritz vergleicht den Gendarmenmarkt mit der Piazza del Popolo in Rom in der
folgenden Weise:
Diese Zwillingskuppeln [auf dem Platze del Popolo] machen hier den schönsten
Effekt, den man sich denken kann; von ihnen ist die Idee zu den beiden Türmen
auf dem Gensdarmenmarkte in Berlin genommen, welche dort gar keine Wirkung
tun, weil es ihnen gänzlich an einem Vereinigungspunkte fehlt, der hier durch den
Obelisk, welcher gerade in der Mitte vor den beiden gleichgebauten Kirchen
steht, und durch das Tor, in welches man eintritt, hervorgebracht wird. (2, 435)
72
Die Orpheussage ist mehrfach beim Bildprogramm des Schauspielhauses zu sehen (Behr/Hoffmann 80).
83
Nach Moritz fehlt am Ende des 18. Jahrhunderts noch ein Mittelpunkt auf dem
Gendarmenmarkt, der durch das spätere Theatergebäude eingenommen wird und dessen
Entwurf drei berühmte preußische Architekten, Carl Gotthard Langhans, Friedrich Gilly
und seinen Lehrling Karl Friedrich Schinkel, beschäftigte. Mit der Eröffnung des ersten
Königlichen Nationaltheaters auf dem Platz im Januar 1802 wurde der Gendarmenmarkt
zu einem Zentrum Berlins. Das neue Gebäude, wie sein Name auch zeigt, war eine
Repräsentation der königlichen Familie aber wurde auch zu einem Versammlungsort der
Einwohner Berlins. Der von Jürgen Habermas erforschte Strukturwandel von einer
repräsentativen Öffentlichkeit des Hofes zu einer bürgerlichen Öffentlichkeit fand in der
architektonischen Veränderung des neuen Platzes seinen Ausdruck. Auch in diesem
Sinne kann das Goethesche Bild von der idealen Stadt auf den Gendarmenmarkt und
besonders seine Rolle in den 1820er Jahren übertragen werden, nachdem das
Schinkelsche Theatergebäude fertiggestellt wurde.73
Dem Architekturhistoriker Spiro Kostof zufolge sind Marktplätze, religiöse
Zentren und militärische Sammelpunkte die drei wichtigsten Komponenten, die in der
Entwicklung der Städte die initiative Rolle spielen.74 Die spektakuläre Architektur des
Gendarmenmarktes (mit den zwei Domen, dem Schauspielhaus, Markt und den in der
Nähe angelegten Zimmerreise-Ausstellungen) kann als ein kondensiertes Modell der
modernen Großstadt angesehen werden. Dieser komprimierte Mikrokosmos übte auf die
Erzähltechnik und Thematik von E.T.A. Hoffmanns letzter Erzählung, Des Vetters
Eckfenster (1822), als dessen Hintergrund der Gendarmenmarkt dient, einen markanten
73
Klaus Gerlachs Studie zeigt die Vorgeschichte des Theaters und beurteilt Schinkels Entwurf als eine
Reprise.
74
Andere Stadtdefinitionen, die hier noch benutzt werden können: “a relatively large, dense, permanent
settlement of socially heterogeneous individuals” (L. Wirth, zitiert in Kostof 37), “a point of maximum
concentration for the power and culture of a community” (L. Mumford, zitiert in Kostof 38).
84
Einfluss aus. Einerseits erzeugt der Ort intensive Bildlichkeit, andererseits sind die
Verhaltensweisen der Charaktere auf dem Markt und vor dem Theater Komponenten der
Großstadtmentalität, die in theoretischen Werken von Georg Simmel und anderen
Soziologen und Großstadtforschern über 80 Jahre später beschrieben wurden. Der stark
visuell geprägte erzählerische Gestus und die panoramengleiche Wahrnehmungsweise
erscheinen als die notwendigen Ergebnisse einer Veränderung des Verhältnisses
zwischen den Großstadtbewohnern der damaligen Zeit und ihrem sozialen Umfeld.
Dieses Kapitel ist der Analyse des Gendarmenmarktes als Katalysator einer
dynamischen und intermedialen Großstadtwahrnehmung gewidmet. Dabei wird die
Stadtwahrnehmung in Des Vetters Eckfenster in einem breiten Kontext im Vergleich mit
drei malerischen Repräsentationen des Gendarmenmarktes aus dem Jahre 1822 (von Carl
Georg Adolf Hasenpflug, Carl Georg Enslen und Eduard Gaertner) behandelt.
Abschließend wird der Beitrag Karl Friedrich Schinkels Baukunstphilosophie und seinen
Bühnenbildentwurf aus 1822 mit der literarischen Repräsentation dieses neuen urbanen
Raumes in Hoffmanns letzter Erzählung kontextualisieren. Eine Sonderposition Des
Vetters Eckfenster wird in der folgenden Analyse deutlich, da Berlin als Hintergrund, die
Großstadt und die damit verbundenen neuen Wahrnehmungsformen in keinem anderen
Text Hoffmanns so plastisch beschrieben werden wie hier.
Des Vetters Eckfenster: Quellen, Stoffwahl und Erzählstruktur
In postnapoleonischen Berlin eilt ein junger Mann an einem Sonntag durch das
Getümmel des Marktes und schiebt sich durch Verkäufer und Käufer aus allen Schichten
und Ständen. Plötzlich trifft sein Blick auf ein Eckfenster, in dem eine rote Mütze
85
erkennbar wird und danach auch das Gesicht des sonst sich von der Welt abriegelnden,
gelähmten Vetters im Warschauer Schlafrock, aus der türkischen Sonntagspfeife Tabak
rauchend.75 Kurz entschlossen nutzt der Erzähler die günstige Gelegenheit zu einem
Besuch. Dem am Anfang der Erzählung noch in der Menge Verlorenen, der spontan in
die Höhe steigt, wird der Anblick von oben, aus dem Eckfenster, „in der Tat seltsam und
überraschend“:
Der ganze Markt schien eine einzige, dicht zusammengedrängte Volksmasse, so
dass man glauben musste, ein dazwischengeworfener Apfel könne niemals zur
Erde gelangen. Die verschiedensten Farben glänzten im Sommerschein, und zwar
in ganz kleinen Flecken, auf mich machte den Eindruck eines großen, vom Wind
bewegten, hin- und herwogenden Tulpenbeets... (SW 6, 471)
Dem schwerkranken und an Schreibkrise leidenden Vetter gewährt der Fensterblick auf
das Markttreiben, das am Anfang der Erzählung mit Naturmetaphern beschrieben wird,
einen neuen Zugang zu der äußeren Welt. Das Gesehene fungiert als Trost und Therapie,
die der Besucher, der Ich-Erzähler als Selbstheilung pathologisch findet. Zwischen den
zwei Vettern beginnt eine Konversation und der Rest der Erzählung besteht aus zwölf
von dem kranken Vetter ad hoc entworfenen Geschichten, die den Rädergang der
Phantasie unaufhörlich in Bewegung halten und das Rückgrat des Textes konstituieren.
Neben der Wirklichkeit des vor ihm liegenden Platzes hat Hoffmann als Quelle
eine Erzählung mit dem Titel Scarron am Fenster von Karl Friedrich Kretschmann
benutzt.76 Kretschmanns Erzählung beschreibt den französischen Dichter, der, zum
Krüppel geworden, die Außenwelt aus seinem Fenster betrachtet und schildert. Beide
Schriftsteller erwähnen ihre eigene Dichtung und benutzen dabei eine Metaphorik, die
75
Die Beschreibung der Kleidung und Lebensgewohnheiten des Vetters siehe auch die Berlinische
Geschichte Irrungen (SW 5, 520).
76
Vgl. dazu Dirksens, Oesterles und Stadlers Interpretationen, in denen beide Germanisten auch einen
Vergleich zwischen Kretschmann und Hoffmann anbieten.
86
der Malerei entlehnt ist. Obwohl beide zwölf Personen bzw. Gruppen beschreiben, gibt es
wesentliche Unterschiede in ihrer Stoffwahl. Scarron beobachtet reiche Bürgerleute und
Adelige und schildert sie als „handele es sich bei ihnen um Figuren einer Spielzeuguhr,
die einander in wohlgeordnetem Abstand folgen“ (Stadler 503). Während Scarrons
Figuren ganz und gar der Zeit des ancien régime gehören, wählt Hoffmann größtenteils
Figuren aus den unteren gesellschaftlichen Schichten und beschreibt Marktfrauen, rabiate
Hausfrauen, bürgerliche Frauen, die mit ihren Mägden auf den Markt geschickt werden,
einen Blinden und verschiedene männliche und weibliche Gestalten, die auf dem Markt
entweder als Kunden oder als Händler erscheinen. Im Vergleich zu Kretschmars
Erzählung demokratisiert Hoffmann sowohl thematisch als auch strukturell seine
Perspektive und lässt ein breiteres Segment der damaligen Berliner Gesellschaft
auftreten.
Der Erzähler, der den Marktplatz zuerst nur als ein unstrukturiertes, irritierendes
Gewimmel von Farben – wie ein impressionistisches Gemälde – sieht, beginnt, wie das
Zitat oben demonstriert, einzelne Szenen voneinander differenzieren und das Gesehene
ästhetisch organisieren zu können. Der fast Schwindel erregende Totaleindruck des
Blicks von oben wird im Laufe der gemeinsamen Beobachtung des Marktes durch ein
„Fixieren des Blicks“ abgelöst. Die überwältigende Totalität des Berliner
Gendarmenmarktes ersetzt eine Blickvervielfältigung, die ermöglicht, einzelne, sich im
Gewühl der Menge ihren Weg bahnende Figuren zu verfolgen und genauer unter die
Lupe zu nehmen. Der Gendarmenmarkt, der dem Beobachter die „mannigfachste[n]
Szenerie[n] des bürgerlichen Lebens“ (SW 6, 471) anbietet, generiert eine narrative
Sehschulung, die die Genesis einer modernen Großstadtwahrnehmung evoziert.
87
Eine Sonderposition im Hoffmannschen Oeuvre: Stand der Forschung
E.T.A. Hoffmanns Des Vetters Eckfenster ist seit der ersten ausführlichen Besprechung
durch Georg Ellinger (1894) einer der interpretationsattraktivsten Texte der HoffmannForscher geworden.77 Für den einen Teil der Kritiker stellt Des Vetters Eckfenster die
letzte Vollendung der seit den Fantasiestücken in Callots Manier erprobten Schreibweise
dar – andere beziehen es vorzugsweise auf das sogenannte „serapiontische Prinzip“78 –
während der zweite Teil darin das erste Beispiel des poetischen Realismus sieht.79 Der
gemeinsame Ausgangspunkt fast aller Überlegungen der neueren Forschung zu der
Erzählung findet sich in Walter Benjamins zweitem Baudelaire-Essay, „Der Flaneur,“
der eigentlich für die Verehrung des Textes verantwortlich ist.80 Benjamin stellt darin
Hoffmann als den Anfang der literarischen Großstadtdarstellung und –erfahrung dar, die
ihren Weg über Edgar Allen Poe zu Charles Baudelaire hin nimmt und dort zum
integrativen Bestandteil der Moderne wird.
Auf der Suche nach Momenten der Moderne beschreibt Benjamin zwei
verschiedene Tendenzen. Obwohl nach Benjamin Hoffmann mit der Schreibweise Poes
und Baudelaires verwandt war und auch ihn das Schauspiel der Menge in Berlin
faszinierte, bleibt Hoffmann wegen der sozialen Rückständigkeit Deutschlands in
kleinbürgerlicher Befangenheit. Während Poes Mann der Menge in London als
namenloser Konsument magisch von der Masse angezogen wird und sich in der Menge
befindet, sitzt Hoffmanns Vetter sicher in seiner Dachstube wie in einer Rangloge.
77
Georg Ellinger. E.T.A. Hoffmann. Sein Leben und Werk. Leipzig, 1894.
Siehe Wolfgang Preisendanz (1963), Wulf Segebrecht (1976) und Lothar Pikulik (1979).
79
Siehe dazu Karl Riha 172-181, Lutz Hagestedt 140ff und Rolf Selbmann.
80
Walter Benjamin. Charles Baudelaire. „Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus.“ Gesammelte
Werke. 1, 551ff.
78
88
Benjamin beurteilt diese Positionen in der folgenden Weise: „Im Unterschied der
Beobachtungsposten steckt der Unterschied zwischen Berlin und London“ (1/2, 551).
Nach Benjamin ist der Blick des Mannes in der Menge in London durchdringend, jedoch
gleitet der aus dem Fenster in Berlin geruhsam über das Gewühl hin. (1/2, 548).
Benjamin endet den literarischen Vergleich mit einer bildnerischen Gegenüberstellung:
Auf der einen Seite wie ein Vielerlei kleiner Genrebilder, die insgesamt ein
Album von kolorierten Stichen bilden; auf der anderen Seite ein Umriss, der einen
großen Radierer zu inspirieren im Stande wäre; eine unabsehbare Menge, in
welcher keiner dem andern ganz deutlich und keiner dem andern ganz
durchschaubar ist. (1/2, 551)
Mit dem zitierten Vergleich kontrastiert Benjamin zwei visuelle Kulturen: Einerseits
gerahmte, starre Bilder, die das Gesehene auf eine zugängliche Essenz reduziert
(Hoffmann), andererseits rasche Bilder, die keine eindeutige Interpretation erlauben und
undurchschaubar bleiben (Poe). Benjamin schließt den Vergleich mit einem
literatursoziologischen Urteil ab: „Dem deutschen Kleinbürger sind seine Grenzen eng
gesteckt“ (1/2, 552). Diese Einschränkung and deren Kritik bilden den Ausgangspunkt
von mehreren Analysen des Hoffmann-Textes in jüngster Zeit.81
Im Gegensatz zu Benjamins Verdikt der Biedermeierlichkeit Hoffmanns bzw.
seiner Erzählung wird in jüngster Zeit die Singularität in der deutschen
Literaturgeschichte hervorgehoben, die bei allem Defizit einen eleganten Platz in der
Großstadtliteratur des 19. Jahrhunderts hat.82 Für einige Interpreten markiert das Werk
„zu einem besonders frühen Zeitpunkt [...] eine der wesentlichen Positionen des
deutschen Frührealismus“ (Riha 141). In der neusten Forschungsliteratur sahen
zahlreiche Interpreten in der Erzählung ein Musterbeispiel eines zentralen Themas der
81
Vgl. dazu besonders Brüggemann, Darby, Stadler, Osterle, Neumann, McFarland und Steigerwald.
Vgl. dazu z.B. den Anfangsatz in Selbmanns Aufsatz: “Als letzte vollendete Erzählung Hoffmanns
nimmt Des Vetters Eckfenster mit Recht eine Sonderstellung ein.”
82
89
Literatur der Aufklärung und der Romantik: Der Akt des Sehens. Günter Osterle zeigt die
historische Wichtigkeit der „Vignetten“, die Hoffmann produziert, und nennt sie einen
„kalkulierten Rückgriff auf Sehmuster der Aufklärung“ (103). Jörn Steigerwald analysiert
die Erzählung aus einem kulturell historischen Standpunkt und situiert Hoffmanns Werk
in die Mitte eines Umbruchs in der visuellen Kultur, der während der ersten zwei
Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts stattfand. Trotz der Anerkennung für
Hoffmanns Beteiligung an einer markanten visuellen Änderung schließt sich Steigerwald
Walter Benjamins Verdikt an und verbindet die Erzählung mit den Sehmustern der
Aufklärung.
Eine Auseinandersetzung mit Benjamins Thesen beginnt mit Heinz Brüggemanns
(1985), Silvio Viettas (1992), David Darbys (2003) und McFarlands (2005)
Interpretationen. Trotz Benjamins verurteilender Bewertung von Des Vetters Eckfenster
wird in den letztgenannten Interpretationen der Erzählung die Modernität des urbanen
Schauens anerkannt.83 Darby vergleicht dabei Hoffmanns Erzählung mit Poes The Man of
the Crowd und Robert McFarland zeigt, dass Hoffmanns „prä-modernes“ urbanes
Schauen“ in Des Vetters Eckfenster schon in Das öde Haus existiert (McFarland 103),
während Gerhard Neumann argumentiert, dass selbst der Prozess der Wahrnehmung der
Protagonist des Textes ist, die als ein Resultat der radikalen Schreibhemmung anzusehen
ist. Nach Neumann nimmt Hoffmanns letzter Text eine Schlüsselstelle ein in der
Geschichte der Mimesis, indem der Schriftsteller in der Erzählung die Mimesis-Formel
der Moderne anwendet und vielleicht „zum ersten Mal“ die „modernste Variante des
Repräsentationsparadoxes benutzt (242).
83
Siehe dazu Eichler (1993), Neumann (2005) und McFarland (2005).
90
Einige der Aufsätze verdienen mehr Aufmerksamkeit im Bezug auf das Vorhaben
dieses Kapitels. Linde Katritzky (1987) zeigt welchen Einfluss Hogarths Stiche und deren
Kommentare von Lichtenberg aus 1794 auf Hoffmann ausgeübt haben. Die Kraft der
Erzählung ist nach Katritzky an Lichtenbergs Methoden geschult und deckt sich völlig
mit Lichtenbergs Beschreibungstechnik. Sie benutzt das Gemälde von Hogarth Vier
Tageszeiten, besonders „Der Morgen“ was einen Londoner Gemüsemarkt vorstellt, um zu
zeigen, wie Hogarth im Gewöhnlichen das Ungewöhnliche entdeckt. Wie der
Gendarmenmarkt in Hoffmanns Erzählung erscheinen verschiedene Prachtgebäude (z.B.
St. Pauls Kirche) im Blickfeld bei Hogarth(165). Katritzkys Schlussfolgerung ist, dass
Lichtenbergs und Hogarths Gabe, das Besondere wie das Allgemeine in den
gewöhnlichsten Begebenheiten auch des beschränktesten Alltags zu entdecken, hat
Hoffmann offensichtlich „mit seiner durch Krankheit beengten Welt versöhnt und seine
dichterischen Kräfte neu beflügelt“ (167).
Günter Oesterle hat der letzten Erzählung Hoffmanns drei Aufsätze gewidmet.
Der Aufsatz „’Lass Rom Rom seyn... Singe Berlin!’ Stadtpoesie in Prosa. Ludwig Tieck
– Ludwig Robert – Heinrich Heine“ beschäftigt sich nur partiell mit Hoffmanns
Erzählung. Das Jahr 1822 wird jedoch als „Höhepunkt deutscher Städteliteratur“ genannt,
da neben Hoffmanns Erzählung auch Heines Briefe aus Berlin und Börnes Schilderung
aus Paris aus diesem Jahr entstanden sind. Die drei Texte bewertet Oesterle als Beispiele
eines Darstellungsstandards, der „westeuropäischen Können in nichts nachsteht“ (293).
Der zweite Essay (2004), eine wahrnehmungstheoretische, thematologische und
narratologische Analyse, bestätigt die Sonderstellung des Textes unter den Erzählungen
des 19. Jahrhunderts. Der dritte Aufsatz (1987) von Oesterle analysiert Des Vetters
91
Eckfenster als eine „formal-ästhetische und eine politisch-soziale“ Schule des Sehens
(104). Oesterle entdeckt in der Erzählung eine neuartige ästhetische Einstellung in der
literarischen Mobilisierung eines modernen Bildreservoirs aus Callot, Chodowiecki und
Hogarth. In der kreativen Mobilisierung von diesen Bildern ersetzt Hoffmann nach
Oesterle die Hierarchie des Sichtweisen durch eine Pluralisierung und Relativierung,
indem Hoffmann Techniken von Callots, Hogarth’ und Chodowieckis mischt. Die
vielschichtigen Bezugnahmen auf die obigen Künstler machen eine narratologisch
integrierte Intermedialität im Text offenbar. Oesterles Schlussfolgerung ist, dass die
subjektive, monologische Imagination des einsamen Romantikers zurückgedrängt wird
„gegenüber der geselligen Kommunikation [und] dem kombinatorischen Spiel“ (110).
Ulrich Stadler (1986) und Thomas Eicher (1994) beschäftigen sich mit der
strukturbildenden Qualität des panoramatischen Sehens in der Erzählung. Stadler
verbindet mit dem Begriff des Panoramas eine undemokratische Perspektive des
herrschenden Überblicks (503). Eicher zeigt in seiner Analyse, dass es zwischen dem
Darstellungsmodus des Panoramas und der Erzählung „einen ganzen Korpus von
Berührungspunkten“ gibt (361). Die Schwerpunkte der Parallelisierung liegen bei Eicher
in der Realisierung eines künstlerischen Verhaltens und im Bereich der Rezeption.
Eicher benutzt in seiner Interpretation großflächige Panoramagemälde, jedoch keine
spezifischen Repräsentationen des Berliner Gendarmenmarktes.
Gerhard Vowe (2005) widmet seine Interpretation der Rolle des Marktes in der
Erzählung. Als Ausgangspunkt beschreibt er den Marktplatz als „ein Modell des
öffentlichen Raumes“ (87). Der Gendarmenmarkt als öffentlicher Raum ist nicht nur ein
Marktplatz, sondern ein komplexer Raum. Der Markt wird in der Erzählung als eine
92
gesellschaftlich wie kulturell wichtige Instanz konnotiert, der drei Funktionen
(Koordination, Regulation und Integration) Platz gibt. Hermann Korte analysiert die
Marktmechanismen in der Erzählung und beschreibt dabei die Gründe für die Krise des
Schriftstellers in der sich entfaltender Marktwirtschaft. Im Gegensatz zu Vowe erscheint
der Markt in Kortes Interpretation als eine fremde Macht, der „den einzelnen auf seine
funktionale Größe in einer zirkulierenden Welt des Tausches und der Waren reduziert“
(133).
Jürgen Gunia und Detlef Kremer (2001) besprechen die Erzählung durch das
Mittel der Mauerschau (Teichoskopie) und untersuchen die aus einer „Bühne“ und
„Zuschauerraum“ bestehende theatrale Topographie im Werk. Nach ihrer Analyse
verbindet Hoffmann die aufklärerische Rahmenschau mit einer dynamischen
Mauerschau, „die dem beschleunigten Objekt mit einer Elastizität der Optik begegnet“
(77). Im Weiteren führen die Autoren Hoffmanns Blickexperiment in der Erzählung auf
ältere Modelle zurück und nennen dabei neben den Kupferstichen von Hogarth und
Chodowiecki, die Orbis pictus Tradition (78).
Die obigen Beispiele zeigen, dass der Text in der jüngsten Forschung immer
wieder neuinterpretiert wurde. Die folgende Analyse hat das Ziel, die Erzählung in einem
breiten Kontext zu untersuchen. Dabei ist der Fokus auf dem dargestellten Ort, dem
Gendarmenmarkt sowie auf seinen zeitgenössischen malerischen Repräsentationen aus
dem Entstehungsjahr des Primärtextes. Die Analyse bestätigt die Sonderposition der
Erzählung im Vergleich zu den anderen Berlin-Texten Hoffmanns mit der Hilfe von
zeitgenössischen malerischen Werken von Vedutenmalern und dem Architekten
Schinkel.
93
„Prophete rechts, Prophete links / Das Weltkind in der Mitten.“:84 Der
Gendarmenmarkt als ökonomisches, militärisches, kirchliches und kulturelles
Zentrum
Wenn man nach den Gründen forscht, die zum Ruf des Gendarmenplatzes führten, findet
man sie alle in den frühen Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, insbesondere zwischen
1815 und 1830, konzentriert. Bis Ende des 17. Jahrhunderts gehörte der
Gendarmenmarktplatz im Herzen Berlins zum Vorgelände des berlinerischen
Festungswerkes. 1705 wurde der Französische Dom, 1708 der deutsche Dom gebaut. Um
die zwei Kirchen errichtete der königliche Exerziermeister im Viereck Stallungen und
Wachgebäude für sein Eliteregiment. Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Pferdeställe
abgerissen und die beiden Kirchen erhielten zwei mächtige Kuppeln (Demps 15-42;
Mühr 58-60).
Abbildung 7: Foto vom Gendarmenmarkt (2007)
Für den vor allem nach 1815 gewonnenen Ruf des Platzes sorgten neben dem
Schauspielhaus die zahlreichen Gaststätten und Lokale und die dort lebenden Menschen.
Die Häuser um den Platz herum beherbergten Berliner, die nicht zur städtischen
Unterschicht zählten, aber ebenso wenig reich waren: Handwerkmeister, Staatsbeamte bis
zum mittleren Dienst, Angehörige der Universität und der Akademie, und Schauspieler
(Demps 45). E.T.A. Hoffmann richtete sein Leben während seines letzten BerlinAufenthaltes an diesem Platz ein. Dutzende von Geschichten und Anekdoten berichten
84
Goethe, Eröffnungsprolog zu Iphigenie auf Tauris (die erste Aufführung im Schinkelschen
Schauspielhaus)
94
von seinen tatsächlichen oder angeblichen Eskapaden bei Lutter & Wagner und in
anderen Lokalen am Ort (Safranski 496-503). Seit Sommer 1815 wohnte der
Schriftsteller in einer Wohnung in der Taubenstraße 31, Ecke Charlottenstraße,
gegenüber dem Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, deren Grundriss er realitätstreu
auch im Kunzischen Riss verewigt hat. Für die Wohnverhältnisse in Berlin zu Hoffmanns
Zeiten war die Wohnung in der Taubenstraße ein großzügiges und stattliches Heim.85 Die
Lage der Wohnung des Vetters in seiner letzten Erzählung verweist eindeutig auf den
Gendarmenmarkt:
Dabei liegt aber meines Vetters Logis in dem schönsten Teile der Hauptstadt,
nämlich auf dem große Markte, der von Prachtgebäuden umschlossen ist und in
dessen Mitte das kolossal und genial gedachte Theatergebäude prangt. Es ist ein
Eckhaus, was mein Vetter bewohnt, und aus dem Fenster eines kleinen Kabinetts
übersieht er mit einem Blick das ganze Panorama des grandiosen Platzes. (SW 6,
469)
In den folgenden Segmenten wird der in der Erzählung benutzte Ort, der
Gendarmenmarkt aus mehreren Perspektiven untersucht. Zuerst wird seine Funktion als
Marktplatz analysiert, dann die Ästhetik seine malerische Repräsentationen aus dem
Jahre 1822 mit der Erzähltechnik Hoffmanns verglichen. Abschließend widmet sich
dieses Kapitel der Wichtigkeit des Schauspielhauses und Schinkels Baukunstphilosophie
in Bezug auf Hoffmanns letzter Erzählung.
„...mir entwickelt sich daraus die mannigfachste Szenerie des bürgerlichen Lebens“:
Der Markt in Des Vetters Eckfenster
Der am Sonntag stattfindende Wochenmarkt und besonders Gemüseweiber, die auch in
Des Vetters Eckfenster erwähnt werden, stellen auf dem Kunzischen Riss ein signifikantes
85
Vgl. dazu die Beschreibung des Grundrisses der Wohnung in Georg Wirths Aufsatz.
95
Stück der Zeichnung dar. In diesem Sinne sind die Gemüseweiber im Entstehungsjahr der
Zeichnung (1815) realistische Figuren, erscheinen jedoch retrospektiv gesehen auch als
poetisierte Figuren, wenn man an ihre Charakterisierung in Hoffmanns letzter Erzählung
denkt (1822). Der Markt, von dem sich der Name des späteren Gendarmenmarktes
ableitet, findet seine erste Erwähnung unter dem Namen „Friedrichstädtischer Markt.“86
Eine offizielle Benennung hat nie stattgefunden, schreibt der Stadthistoriker Laurenz
Demps, aus der Entwicklung des Platzgedankens ergibt sich die Schlussfolgerung, dass
eine Namensgebung nicht nötig war (7). Der Platz war immer ein wichtiger Knotenpunkt,
da alle Häuserfronten auf die Straßen zeigten, die sich über den Platz hinweg fortsetzten.
„Friedrichstädtischer Markt“ war eine Ortsbezeichnung in dem Sinne, dass es sich um
den Markt in der Friedrichstadt handelte.87
Der Platz wurde unmittelbar westlich der alten Stadtbefestigung als Markt durch
die Aussparung von drei Baublöcken aus dem schachbrettartigen Gesamtplan ins Leben
gerufen. Nicht nur wegen seiner markanten Rechteckform, sondern auch wegen seiner
Ausmaße unterscheidet er sich wesentlich von mittelalterlichen Marktplätzen
(Behr/Hoffmann 15). Der auf dem mittleren Geviert des überdimensionalen Marktes
unter freiem Himmel stattfindende Wochenmarkt ließ mit seinem Markttreiben den Raum
zu einem lebendigen Organismus werden. Wie gezeigt, wurde der Platz mehrmals
umgebaut bis er sein geschlossenes Bild bekam, jedoch blieb der Markt auch während der
größten Bauarbeiten erhalten (z.B. während der Langhans-Theaterbauarbeiten). Der
große Marktplatz diente der Versorgung der anwohnenden Berliner, die ihn durch Handel
86
Der Gendarmenmarkt war auch als Mittelmarkt, Großer Markt und Neuer Markt bekannt (Demps 16).
96
und Wandel täglich mit pulsierendem Leben voller Erwerb- und Bürgersinn erfüllten
(Demps 25-32).
Mit den ausführlichen Beschreibungen der verschiedenen Kunden und Waren
verewigt Hoffmann die Realien des damaligen Berlins. Im Volksmund hieß der
Gendarmenmarkt auch „Gänsemarkt“, weil auf ihm jeden Mittwoch und Sonnabend in
der Stadt der größte Handel mit Gänsen stattfand (Demps 25). Die Gänse als Ware
erscheinen auch in Hoffmanns Geschichte. Die Vielfältigkeit der Waren und ihrer
Verkäufer und Käufer macht es eindeutig, dass so eine Literarisierung des
Gendarmenmarktes nur durch die scharfen Beobachtungen des hier wohnenden
Schriftstellers möglich ist, der die Marktereignisse und deren Akteuren genau kennt und
sorgfältig befolgt. Die literarische Darstellung des Gendarmenmarktes als Marktplatz ist
aber mehr als eine realistische Beschreibung der Berliner Alltage, da der Markt als einen
wichtigen öffentlichen Ort der Stadt angesehen werden kann, der eine neue
Wahrnehmungsform fördert und der von Soziologen und Stadtforscher mehrfach
beschreiben und interpretiert worden ist.
Der mittelalterliche Marktplatz wurde oft als Geburtsort der Stadt beschrieben
und das Marktverhalten im 20. Jahrhundert mit der Großstadtmentalität verglichen. Nach
dem Soziologen Hans Paul Bahrdts lässt sich Urbanisierung nach dem Modell des
Marktes beschreiben. Im engen Wechselverhältnis einer öffentlichen und privaten Sphäre
bei ihrer gleichzeitigen Polarität bildet sich ein Sozialverhalten aus, für das das Verhalten
auf dem Markt das Modell darstellt (Bahrdt 63-68). Der Markt bei Bahrdt bedeutet eine
„unvollständige Integration,“ Offenheit der sozialen Intentionalität der einzelnen und
Beliebigkeit der Kontaktaufnahme (64). Das Modell des Marktes als Beschreibung des
97
Großstadtlebens bedeutet auch eine Flüchtigkeit und Unvermitteltheit der Begegnungen
und eine nicht weichende Distanz. Diese Konstellation benötigt neue
Kommunikationsformen. Diesen Verhaltensweisen schreibt der Soziologe eine doppelte
Aufgabe und ein „darstellendes Verhalten“ zu: Einerseits zu verhüllen, was der nur
beschränkt kalkulierbaren sozialen Umwelt entzogen werden soll, andererseits ihr all das,
was für sie bestimmt ist, deutlich genug zeigen (Bahrdt 66-67).
Der Marktplatz und Warenaustausch sind auch wichtige Ausgangspunkte in
Georg Simmels bekannter Analyse über Großstadtmentalität. „Die Großstädte sind von
jeher die Sitze der Geldwirtschaft gewesen, weil die Mannigfaltigkeit und
Zusammendrängung des wirtschaftlichen Austausches dem Tauschmittel eine
Wichtigkeit verschafft“ schreibt Simmel in Die Großstädte und das Geistesleben (191).
Komplexität, Zirkulation, Warenaustausch und Geldwirtschaft sind mit dem Markt
verbunden und diese Gedanken, wie Korte in seinem Aufsatz zeigt, erscheinen auch in
Hoffmanns Des Vetters Eckfenster. Der Markt wird bei Hoffmann kein Raum für
Dauerhaftes, sondern ein Ort für das Komplexe. Daneben erscheint der Markt als ein
erotischer Ort, in dem die zwei männlichen Erzähler eine Menge von Frauen aus der
Distanz beobachten können. Wir Oesterle beschreibt, wird der Markt bei Hoffmann zu
einem Ort „für das Erotische, Wandelbare und Flüchtige“ (Oesterle 2004, 260). Der
Markt mit seinen Vernehmungsnormen und bunten Menschenfülle ist also ein Raum, der
als einer der wichtigsten Schauplätze der Geburt der modernen urbanen Wahrnehmung
angesehen werden kann.
Der Markt ist auch bei Hoffmann ein komplexer Ort, der mannigfaltig konnotiert
wird. Diese Sektion der Dissertation beschäftigt sich mit der Art und Weise, wie
98
Hoffmann durch die Poetisierung des Marktes eine neue Wahrnehmung verbildlicht und
seine Sehschule einführt. Der Marktplatz dient nämlich als Anregung zum Dialog über
eine Sehschulung. Die Erzählung fängt mit dem Beginn des Marktes an und endet mit der
Verminderung der Menge und dem Bild des leeren Marktplatzes. Zur Schulung des
Besuchers gehört auch die Aufklärung über das wahre Wesen des Marktes. Vom Markt
hochkommend charakterisiert der Besucher die untere Welt mit den folgenden Worten:
„Jener Markt bietet dir nichts dar als den Anblick eines schrecklichen, sinnverwirrenden
Gewühls des in bedeutungsloser Tätigkeit bewegten Volks“ (SW 6, 471) Die Reaktion
des Vetters widerspricht der Klage seines Verwandten: „Hoho, mein Freund, mir
entwickelt sich daraus die mannigfachste Szenerie des bürgerlichen Lebens, und mein
Geist, ein wackerer Callot oder moderner Chodowiecki, entwirft eine Skizze nach der
andern, deren Umrisse oft keck genug sind“ (SW 6, 471)
Die Aufnahme der Bilder des Marktes erinnert den Vetter an die Arbeitsweise von
typischen Großstadtmalern aus drei verschiedenen Kulturen, wie der französische
Jacques Callot, der deutsch-polnische Daniel Chodowiecki und der englische William
Hogarth.88 Das Gemälde Der Jahrmarkt von Impruneta von Callot hat Hoffmann
besonders fasziniert.89 Der Kunsthistoriker Sadoul schreibt, „vor Impruneta hat noch kein
Künstler eine ähnliche Menschenmenge dargestellt“ (zitiert nach Oesterle, 1989 108)90
88
Oesterle analyiert den Einfluss dieser drei Maler auf Hoffmanns Figurendarstellung und argumentiert,
dass die Vielfalt der Figuren durch eine Mischung der Manieren Callots, Hogarths und Chodowieckis
ermöglicht wird. So wird eine Figur in Callotscher Manier beschrieben und dann alternativ in Hogartscher
satirisch hässlicher Manier oder in humorvoller Chodowieckischer Manier gedeutet (Vgl. dazu Oesterle
1989, 105-110).
89
Die Radierung gilt zurecht als Hauptwerk Callots, da es ihm hier in überzeugender Weise gelang, die
unzähligen präzise beobachteten Einzelfiguren zu einer großen Menge zu vereinigen, welche sich
harmonisch in die lichtdurchflutete italienische Landschaft einfügt. Zusammengehalten durch die
rahmenden Bildmotive von Turm und Baum an den Blatträndern, führen die ausgefeilte Perspektive,
äußerst differenzierte Hell-Dunkel-Abstufungen sowie die virtuose Lichtführung zu einem Werk von
99
Abbildung 8: Jacques Callot: Der Jahrmarkt von Impruneta, nach 1622
Die Darstellung einer Menge in einem kleinen Raum hat auch Hoffmann beschäftigt. In
der Einleitung der Fantasiestücke Callots Manier schreibt Hoffmann in dieser Hinsicht
zu Jacques Callot das Folgende:
Warum kann ich mich an deinen sonderbaren fantastischen Blättern nicht satt
sehen, du kecker Meister! [...] Schaue ich deine überreichen aus den
heterogensten Elementen geschaffenen Kompositionen lange an, so beleben sich
tausend und tausend Figuren, und jede schreitet, oft aus dem tiefsten
Hintergrunde, wo es erst schwer hielt sie nur zu entdecken, kräftig und in den
natürlichsten Farben glänzend hervor. – Kein Meister hat so wie Callot gewusst,
in einem kleinen Raum eine Fülle von Gegenständen zusammenzudrängen, die
ohne den Blick zu verwirren, nebeneinander, ja ineinander heraustreten, so dass
das Einzelne als Einzelnes für sich bestehend, doch dem Ganzen sich anreiht.
(SW 2/1, 17)
beispielloser Intensität, das vorbildhaft wurde für die Veduten- und Volksdarstellung späterer
Generationen.
90
Laut Katalog der Alten Pinakothek in München sind insgesamt 1138 Männer und Frauen, 45 Pferde, 67
Esel und 137 Hunde auf dem Gemälde abgebildet.
100
Die gleichen Prinzipien erscheinen auch in den einzelnen Bildern, die die Vetter aus dem
Fenster den Gendarmenmarkt anschauend beschreiben. Nicht nur die zahlreichen
Gruppierungen von Menschen und einzelne Gestalten, sondern auch Objekte werden in
dieser Weise dargestellt. Die Waren einer Verkäuferin werden zum Beispiel in der
folgenden Weise geschildert:
lass uns noch einen Blick auf die dicke gemütliche Frau mit vor Gesundheit
strotzenden Wangen werfen, die in stoischer Ruhe und Gelassenheit, die Hände
unter die weiße Schürze gesteckt, auf einem Rohrstuhle sitzt und vor sich einen
reichen Kram von hellpolierten Löffeln, Messern und Gabeln, Fayence,
porzellanenen Tellern und Terrinen von verjährter Form, Teetassen,
Kaffeekannen, Strumpfware, und was weiß ich sonst, auf weißen Tüchern
ausgebreitet hat, so dass ihr Vorrat, wahrscheinlich aus kleinen Auktionen
zusammengestümpert, einen wahren Orbis pictus bildet. (SW 6, 475)
Der Katalog der verschiedenen Handelsgegenstände der erfolgreichen Frau konstituiert
ein buntes Bild, das mit Johann Amos Comenius’ Orbis sensualium pictus (Die sichtbare
Welt) verglichen wird. Comenius’ populäres Lehrbuch enthielt doppelseitige Artikel –
links mit je einer mit Nummern versehenen Abbildung, rechts mit zweispaltigen
Erläuterungen in lateinischer und deutscher Sprache – über Gott, die Welt, die Elemente,
Pflanzen und Tiere. Comenius zielte mit seinem Buch nicht nur durch Worte, sondern
durch Bilder über die Welt zu unterrichten. Das berühmte Werk kann zugleich als die
Erfindung des Schulbuchs und als erstes tatsächlich „multimediales“ Unterrichtsmaterial
angesehen werden, das in Hoffmanns Erzählung explizit auch auf die Sehschulung des
Besuchers hinweist.
Die stark visuelle Beschreibung bestätigt, dass der Markt die Hegemonie des
Sehens fördert und eine neue Wahrnehmung verlangt, die erst gelernt werden muss.
Derjenige, der diese Sehschule mit dem Autor unternimmt, kann über den Markt viel
lernen. Der Wochenmarkt am Gendarmenmarkt enthüllt eine neue Heterogenität der
101
Einwohner des postnapoleonischen Berlins und zeigt schon Keime der kommenden
kapitalistischen Marktmechanismen. In einer Szene erscheint das vom Vetter selbst
verfasste Buch in der Zirkulation des Marktes. Der Blumenverkäuferin, die an ihrem
Stand sein Werk liest, ist der Beruf des Dichters so völlig fremd, dass sie glauben könnte,
„der liebe Gott ließe die Bücher wachsen wie die Pilze“ (SW 6, 481) Das aus der
Vergangenheit ins Gedächtnis gerufene Gespräch zwischen dem Vetter und der
Blumenverkäufern reduziert sich danach auf das Geschäftliche. Kleinlaut fragt der Vetter
nach dem Preis des Nelkenstocks und zählt das Geld auf. Transaktionen, Verkauf und
Streite „über das leidige Meum und Tuum“ (SW 6, 493) sind wiederkehrende Motive in
der Erzählung. Die von Simmel und Barhdt ausführlich beschriebenen
Marktmechanismen und Verhaltensmuster kann man schon auf dem von Hoffmann
beschriebenen Wochenmarkt der 1820er Jahre in Berlin entdecken.
Anschließend wird der Markt zum Gleichnis des Lebens im allgemeinen. Die rege
Tätigkeit und das Bedürfnis des Augenblicks hat die Menschen nur für ein paar Stunden
zusammengetrieben. In den letzten Szenen wird alles verödet, die Stimmen verklingen
und die Menschen verlassen den Marktplatz. Der Vetter bleibt alleine und gelähmt
ausgeliefert in seinem Zimmer. Die scharfen Beobachtungen werden von dem
schriftstellerisch nicht begabten Besucher aufs Papier gebracht und der zum Schreiben
unfähige Autor als Opfer der entwickelnden Marktmechanismen und Kapitalismus
dargestellt.
Der Wochenmarkt auf dem Berliner Gendarmenmarktplatz und dessen
Teilnehmer dienen als Katalysator für eine Sehschule in Hoffmanns Erzählung. Der Ort
Markt und die von Hoffmann beschriebenen Marktmechanismen und Marktereignissen
102
liefern dabei Beispiele zu den von den Großstadtforschern im 20. Jahrhundert
theoretisierten urbanen Wahrnehmungsformen.
„Weit, hoch, herrlich der Blick / Rings ins Leben hinein!“91: Der gemalte
Gendarmenmarkt im Jahre 1822 und die panoramatische Erzähltechnik in Des
Vetters Eckfenster
Neben der Vielfältigkeit der dargestellten Transaktionen und Figuren des Sonntagmarktes
trägt die Erzähltechnik Hoffmanns in Des Vetters Eckfenster, als eine stark visuelle
Narrative mit zahlreichen Anspielungen auf verschiedene Maler und malerische
Arbeitstechniken, zur Charakterisierung des Textes als eine der ersten literarischen
Repräsentationen der modernen Großstadtwahrnehmung bei. Im Folgenden werden die
malerischen Ansichten des Gendarmenmarktplatzes zur Zeit der Abfassung der
Erzählung untersucht. Der größte Marktplatz der Friedrichstadt wurde in den ersten
Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts außer auf graphischen Blättern und kleinformatigen
Aquarellen auf den Stadtansichten des biedermeierlichen Berlins nicht festgehalten
(Gramlich 171). Jedoch gibt es mindestens zwei Beispiele um und aus dem Jahre 1822,
dem Entstehungsjahr Des Vetters Eckfenster, die bestätigen, dass die Visualisierung des
Gendarmenmarktes mehrere Maler und Architekten beschäftigte. In dieser Sektion der
Dissertation werden Gemälde und Repräsentationstechniken von Carl Georg Adolf
Hasenpflug und Carl Georg Eslen, die im Entstehungsjahr von Des Vetters Eckfenster
den Gendarmenmarkt ins Bild gesetzt haben, mit der Erzähltechnik Hoffmanns
verglichen.
Carl Georg Adolf Hasenpflug, der zu dieser Zeit im Atelier des
Theaterdekorationsmalers Gropius arbeitete, hat 1822 eine Ansicht des
91
Goethe, An Schwager Kronos (1774)
103
Gendarmenmarktes mit dem Titel Perspektivische Ansicht des neuen Schauspielhauses
und der beiden Thürme auf der Kunstausstellung in Berlin gezeigt (Gramlich 170).
Abbildung 9: Carl Georg Adolf Hasenpflug (1802-58), Perspektivische Ansicht des neuen
Schauspielhauses und der beiden Thürme (um 1822)
Im Gemälde bemühte er sich um eine möglichst umfassende Wiedergabe der großen
Platzanlage und ihrer Bauten. Hasenpflug hat in seiner Ansicht eine städtebauliche
Planung Schinkels verbildlicht, die nie realisiert wurde. Das Gemälde ist also trotz der
präzisen und realistisch scheinenden Darstellung keine exakte Wiedergabe des
bestehenden Zustandes, sondern die bildliche Veranschaulichung der Wirkung eines
vorbedachten Umbaus.92
Die Kunsthistorikerin Sybille Gramlich charakterisiert das Bild als die
Repräsentation einer Übergangphase, die die Berliner Malerei zwischen 1822 und 1825
92
Wie Gramlich zeigt, zeugt das Gemälde einerseits von einer direkten Beziehung zwischen dem Maler
und dem Architekten Schinkel, andererseits darüber, dass die ideale bauliche Situation des Platzes die
Fantasie der damaligen Maler beschäftigt hat (172).
104
erfuhr. Die Farbigkeit des Ölgemäldes, der lang auseinandergezogene Aufbau des Bildes,
der hochgelegene Standort und die Vereinzelung der Staffagefiguren, deren Aktivitäten
jedoch schwer identifizierbar dargestellt sind, bringen das Werk mit den Berliner und
Potsdamer Ansichten des 18. Jahrhunderts in Beziehung (Gramlich 171). Wie die
Gruppen der Figuren wirkt auch die Architektur isoliert im Bild. Die realitätsnahe
Darstellung des Platzes, die zahlreichen Gruppierungen von Menschen und die Absicht
des Malers, ein größtmögliches Segment des Platzes auf die Leinwand zu bringen, was
sich in der Verzerrung der traditionellen Perspektive manifestiert, erzeugen
Repräsentationstechniken, die die späteren Panoramagemälde charakterisieren.
Die zweite Ansicht stammt von Carl Georg Enslen um 1822. Carl Georg Enslen
gehörte zu den berühmtesten Kleinpanoramisten in Berlin. Das von Enslen gemalte Bild
vom Gendarmenmarktplatz aus 1822 ist jedoch ein großflächiges Ölgemälde.
Abbildung 10: Carl Georg Enslen, Blick auf den Gendarmenmarkt (1822)
Auf dem Gemälde zeigt sich das 1821 eröffnete Schauspielhaus in strahlendem Glanz.
Das Schinkelsche Theater ist betont der Mittelpunkt der symmetrischen Platzanlage. Den
städtebaulichen Raum und den öffentlichen vom Theater dominierten Platz begrenzen
105
zum Teil repräsentative Wohnbauten. Die Umgebung und die nebenliegenden Straßen
sind wegen der realistischen Abbildung einfach zu identifizieren.93 Die Westseite des
Platzes bildet eine Häuserzeile an der Charlottenstraße (Behr/Hoffmann 58). Hinter dem
Schauspielhaus kann man auch das Eckfenster von Hoffmanns Berliner Wohnung in der
Taubenstraße entdecken.
Ähnlich dem Gemälde von Hasenflug hat der Maler versucht, eine möglicht breite
Ansicht des Platzes zu veranschaulichen. Diese Darstellungsweise und die zahlreichen
und genau dargestellten Marktszenen mit Verkäufern, Kunden und Waren vor dem
Deutschen Dom evozieren die Detailliertheit der damaligen Panoramen. Die Ästhetik des
Bildes ist dem ersten Beispiel mehrfach ähnlich. Realistische Figuren aus verschiedenen
gesellschaftlichen Schichten, die den Platz erfüllen, der erhobene Stadtpunkt und der lang
ausgezogene Aufbau des Bildes charakterisieren beide Ansichten. Das majestätische
Theater befindet sich in beiden Fällen in der Mitte der Komposition zwischen den zwei
Domen. Beide Ansichten zeugen vom Einfluss, den die zeitgenössische Panoramamalerei
auf die Vedutenansichten ausgeübt (erhöhte und verzerrte Perspektive, Überblick über
die Stadt oder einen Ort, möglichst realitätsnahe Darstellung) hat.
Alle genannten Merkmale sind auch Kennzeichnen der gleichzeitigen PanoramaMalerei, deren vorrangiges Anliegen in der möglichst realitätsnahen Schilderung des
Motivs bestand. Panorama bezieht sich auf ein Genre, das seit dem Beginn des 19.
Jahrhunderts überall in Mode war. Ihre Erfindung reicht ins Jahr 1787 zurück und hat
ihre Wurzeln in der Illusionskunst der barocken Theatermalerei. Der Grundgedanke des
Panoramas ist es, ein so kunstvoll-künstliches Bild zu liefern, dass der Betrachter in ihm
93
Südlich vom Schauspielhaus verläuft die Taubenstraße zur Mauerstraße, and der Nordseite des Theaters
befindet sich die Jägerstraße, dann gleitet der Blick über die Marktgrafenstraße zur Behrenstraße.
106
„nicht die gemalte, sondern die reale Natur zu sehen, zu haben“ glaubt (Oettermann 41).94
Der Erfinder der Panoramen war Robert Barker aus Edinburgh, der 1792 in London sein
erstes Rundgemälde mit einer Darstellung der englischen Flotte gezeigt hatte. Um die
Jahrhundertwende war es auch in Paris und in Berlin soweit. Neben den beliebten
Panoramen mit Darstellungen großer Städte waren nunmehr auch Landschaften, später
besonders Schlachtdarstellungen gefragt. Das beliebteste Sujet von Panoramen war
jedoch die Großstadt: Der Erfinder Barker hatte für seine ersten Rundbilder die Ansichten
von London und Edinburgh gewählt; in Paris folgte man diesem Beispiel mit einer
Darstellung der französischen Hauptstadt und das erste Berliner Panorama bot die
Ansicht Roms von den Ruinen der Kaiservilla aus (Buddemeier 22).95 Nach Oettermann
was das Panorama die erste Kunstform, die auf die optischen Bedürfnisse einer
anonymen Großstadtmesse reagierte. Es war die rapide wachsende städtische
Bevölkerung, die mit ihren Eintrittskarten die Herstellung und Ausführung des
Massenmediums Panorama ermöglichte (45). Das gemalte Panorama ist das Resultat
einer Entwicklung zu einer möglichst detailgetreuen Wirklichkeitsabbildung.
Um die Eigenartigkeit dieser Repräsentationen zu einem bestimmten Zeitpunkt in
einem breiteren Kontext zu akzentuieren, soll eine dritte Ansicht des Gendarmenmarktes,
94
Vgl. dazu: „Der Zweck dieser neuen Art von Mahlerey soll seyn, zu zeigen, wie weit die Kunst die
Blendwerke der Täuschung treiben kann“ (Johann August Eberhard, Handbuch der Ästhetik, Halle, 1807;
zitiert nach Buddemeier 173).
95
Dabei wählten die Maler in allen drei Fällen ihren Standort so, dass hinter der Stadt die umliegende
Landschaft sichtbar wurde und der Zuschauer den Eindruck gewann, die vor ihm liegende Stadt sei in die
Natur eingebettet. Bei der Wahl dieses Sichtpunktes ist zu bedenken, dass im 19. Jahrhundert die
Hauptstädte sprunghaft anwuchsen und Dimensionen annahmen, durch die den Bewohnern der Stadt der
Zugang zur Natur beinahe abhanden kam. Es ist höchst bezeichnend, dass bei dem Versuch, einen
verlorenen Zustand vorzutäuschen, Mittel verwendet wurden, die jener technischen Revolution
entstammten, die für die Veränderung der Städte verantwortlich waren.
107
Der Gendarmenmarkt im Winter von Eduard Gaertner aus dem Jahre 1857, untersucht
werden. Die wesentliche zeitliche Differenz zwischen den obigen zwei Ansichten und
Gaertners Gemälde soll zeigen, wie sich die malerische Darstellung des Platzes während
des 19. Jahrhunderts verändert hat.
Abbildung 11: Eduard Gaertner, Ansicht des Gensd’armen-Marktes hieselbst (1857)
In diesem Gemälde benutzt der Maler keinen erhöhten Standpunkt, so dass der Blick der
Zuschauer auf den Platz begrenzt ist. Die Betonung der linearen Bildelemente, die
Architektur des Platzes und der niedrige Standort des Malers sind entscheidende
Merkmale der späteren Berlin Stadtansichten. Die Lichtführung mit deutlicher
Unterscheidung in Licht- und Schattenzonen setzen jedoch den Akzent auf das
Schauspielhaus: Die zwei Kirchen liegen teilweise im Schatten und das Theater wird
dagegen von der Sonne beschienen. Der deutsche Dom und der um die Kirche
stattfindende Wochenmarkt dominieren das Bildfeld und die Staffagefiguren sind
108
voneinander weniger abgesondert als in den früheren Darstellungen. Sie beleben das
Gemälde bis zum Vordergrund und werden in ihren vielfältigen Beschäftigungen
detailgenau erfasst und ebenso sorgfältig wie die Architektur behandelt und damit zum
gleichberechtigten Teil des künstlerischen Gesamteindrucks.
Der Vergleich soll demonstrieren, dass die ersten zwei Bilder keinen
vollständigen Rundblick, sondern eine optisch-perspektivistisch täuschende
breitmöglichste Schau des Platzes darbieten und in dieser Weise mit den
Repräsentationstechniken der damaligen Panoramen in Verbindung gesetzt werden
können. Neben diesen Gemälden zeigen Schinkels frühe optisch-illusorische
Bühnendekorationen, die Hoffmann in dem gegenüberliegenden Theater gesehen hatte
dass sich die Wahrnehmungswelt der damaligen Berliner wegen der verändernden
Sinneseindrücke in der wachsenden preußischen Hauptstadt wesentlich verwandelt hat.96
Wenn man die Umgebung des Gendarmenmarkte ebenfalls in Betracht zieht, soll
auch die Ausstellung der sog. Enslersche Zimmerreise in diesem Kontext erwähnt
werden. Der Panoramaforscher Stephan Oettermann stellt fest, dass Deutschland in der
Herstellung von Kleinpanoramen, sowohl was die Menge als auch was ihre technische
Perfektion und Qualität angeht, eine führende Rolle spielte. Die bekanntesten
Kleinpanoramisten waren alle aus Berlin wie zum Beispiel Wilhelm Ernst Gropius
(1765-1852), Vater von Carl Wilhelm Gropius, der von 1827 bis 1850 in Berlin mehrere
Dioramen zeigte. Zwischen 1816 und 1865 war die ‚malerische Zimmerreise’ von Enslen
mit Ausnahme von Finnland, den Balkanstaaten und Spanien in jedem Land Europas
96
Karl Friedrich Schinkel malte seit 1806 regelmäßig Panoramen für Gropius, bevor er sich als Architekt
einen Namen machen konnte. Er schuf mehrere Zyklen „perspektivisch-optischer Gemälde,“ die mit
wechselnder Beleuchtung und mit Musik- und Gesanguntermalung mit Landschaften, Stadtansichten und
Architekturphantasien ein begeistertes Publikum fanden.
109
ausgestellt, durchweg mit besten Kritiken (Oettermann 182). Die große Sammlung von
Landschafts- und Stadtansichten muss sehr interessant für das Publikum gewesen sein.
Die sog. Enslenschen Phantasmagorien, wie man diese Zimmerausstellungen nannte,
erscheinen auch in mehreren Berlinischen Geschichten (Sylvesternacht, Fragment aus
dem Leben dreier Freunde).97 Oettermann sagt sogar, dass Des Vetters Eckfenster ihre
literarische Form „ganz von der Präsentation des Enslenschen ‚Zimmerreise’“ geborgt hat
(182).
Abbildung 12: Explanation of The Cosmorama, 29 St. James’s
Oettermanns Forschung zeigt auch, dass die berühmte Zimmerreise zur Zeit der
Abfassung des Textes ganz in der Nähe der Wohnung des Autors am Gendarmenmarkt in
Berlin ausgestellt wurde (182).
Die Doppelbegabung Hoffmann hat frühzeitig erkannt, welches Potential in der
Panoramakunst, besonders in Schinkels Theaterdekorationen steckt, die er selbst als
Bühnenmaler betrieb. Im Theatergebäude auf dem Gendarmenmarkt wurden zur Zeit von
Hoffmanns letztem Berlin-Aufenthalt oft innovative Gemälde zu Theaterdekorationen
97
Vgl. dazu auch Ricarda Schmidt 95.
110
benutzt. Am 16. 8. 1815 denkt Hoffmann in einem Brief an Fouqué sogar über ein
Engagement Schinkels „wegen der UndineDekoration“ nach (Briefe 70). Schinkel hatte
jedoch bis dahin keine Bühnenbilder gemalt (Oettermann 160). Nur durch die Panoramen
bei Gropius konnte Hoffmann von seinen Fähigkeiten wissen, die er zugleich für das
Theater benutzen wollte. Am 3. August 1816 fand letztendlich die Uraufführung der Oper
mit Schinkels Dekorationen statt, am 29. Juli 1817 brannte das Schauspielhaus ab.
Hoffmann hat von seiner Wohnung aus mit grimmigem Humor und selbst nicht
ungefährdet dem Brand zugesehen, bei dem auch alle Dekorationen zur Undine
vernichtet wurden.98 Diese Erfahrungen setzen nicht nur eine Bekanntschaft mit den
Panoramagemälden voraus, sondern auch eine Beschäftigung mit der Technik ihrer
Entstehung.
Die Gemälde, die Bühnenbilder, die Panoramaausstellungen und nicht zuletzt der
im ersten Kapitel diskutierte Kunzische Riss demonstrieren, dass die Umgebung des
Gendarmenmarktes zu Beginn des 19. Jahrhundert in Berlin nicht nur ein höchst
komplexer Stadtraum geworden ist, sondern auch ein Platz, auf dem und in dessen
Umgebung nach einer bildlosen Zeit die Einwohner und Besucher Berlins mit Bildern
und neuen visuellen Reizen bombardiert wurden. Eine zentrale Frage in der Analyse von
Hoffmanns Text ist, wie sich der äußerst komplexe und vielfältige urbane Raum so
erfassen und beschreiben lässt, dass er dem Leser und dem Geschichte abschreibenden
Vetter zugänglich wird. Der Vetter will seinem Besucher etwas Neues beweisen: „Auf
98
Vgl. dazu: „Ich könnte Ihnen erzählen, dass ich bei dem Brande des Theaters von dem ich nur 15 bis 20
Schritt entfernt wohne, in die augenscheinlichste Gefahr geriet da das Dach meiner Wohnung bereits
brannte, noch mehr! – dass der Credit des Staats wankte, da, als die Perückenkammer in Flammen stand
und fünftausend Perücken aufflogen, Unzelmanns Perücke aus dem Dorfbarbier mit einem langen Zopf,
wie ein bedrohliches feuriges Meteor über dem Bankgebäude schwebte – doch Ihnen alles der Zauberer
mündlich erzählen und hinzufügen, dass beide gerettet sind, ich und der Staat” (25. November 1817 an
Adolph Wagner).
111
Vetter! ich will sehen, ob ich dir nicht wenigstens die Primizien der Kunst zu schauen
beibringen kann.“ (SW 6, 472) Das Ziel der Übung ist die Erfahrbarkeit des
Marktgeschehens, die Überwindung des Schwindels und ein deutliches Schauen. Auch
die Berichte, dass „zartnervige Damen“ und „junge Stutzer“ in den ersten Panoramen
seekrank wurden und Schwindel erlebten, sind nach Oettermann zahlreich (13).
Wenn Hoffmann in Des Vetters Eckfenster den besuchenden und den Dialog
abschreibenden Vetter bemerken lässt, dass der gelähmte Schriftsteller von seinem
Fenster aus „mit einem Blick das ganze Panorama des grandiosen Platzes“ übersieht (SW
6, 472), impliziert diese Aussage ein umfassendes Wissen über das neuartige
künstlerische Verfahren. Der Vetter erteilt seinem Besucher eine Lektion in der
panoramengleichen Erfassung der Welt. Die Position des Vetters und seines Besuchers an
einem erhöhten Eckfenster macht die spezifische Struktur und die Thematik der
Erzählung aus. Die Vetter können den ganzen Marktplatz überblicken. Gleichzeitig
verlieren sie mit dem Gewinn an Blickfreiheit die Wahrnehmbarkeit des Geschehens
durch ihre anderen Sinne. In dieser Weise hat das Auge den Primat in der Wahrnehmung,
genau wie im Fall der Panoramenbesucher. In diesem Sinne hat das Auge den Primat in
der Wahrnehmung, die fast ausschließlich auf visuelle Details reduziert ist. Wie aus der
Erzählung zu Tage kommt, ist diese neue Technik kein künstlerischer Selbstzweck,
sondern eine bittere Notwendigkeit. Dieses neue, panoramengleiche Verfahren versetzt
den Vetter in die Lage, eine Krise zu überwinden, die nicht nur persönlicher, sondern
allgemeiner, gesellschaftlicher Natur ist. Schon der Titel der Erzählung zeigt, dass es in
112
der Geschichte weniger um bestimmte Handlungen geht als vielmehr um eine bestimmte
Art der Wahrnehmung.99
Der Vetter leitet seine Belehrung über die „Primizien der Kunst zu schauen“ mit
folgenden Worten ein: „Gut Vetter, das Fixieren des Blicks erzeugt das deutliche
Schauen“ (SW 6, 475). Wie während des gesamten Gesprächs immer wieder deutlich
wird, ist mit dem „Fixieren des Blicks“ das Fixieren von Details gemeint. Das begründet
auch den Gebrauch des Fernglases, das die oben beschriebene Fixierung ermöglicht. Das
Fernglas ermöglicht dem Vetter, die zahlreichen Waren einer Händlerin beschreiben zu
können.100 So enthüllt eine „blutrote, noch dazu ziemlich mannhaft gebaute Faust“ eine
rätselhafte Person (SW 6, 474). Die detaillierte Beschreibung der physischen Details
kommt auch in der zeitgenössischen Popularität von Physiognomielehren zu Tage und
dem Vetter sind diese Theorien bekannt.
Wie die Panoramenmaler lässt der Vetter nicht das kleinste Detail versteckt, damit
seine Hypothesen überzeugend klingen. Wie in der Leinwand der Panoramen gibt es
keine offenkundige hierarchische Ordnung unter den betrachteten Figuren in den
Beschreibungen der Einzelgestalten bzw. Gruppierungen, jeder Figur kommt das gleiche
Interesse zu. Keine Figur dominiert in der Erzählung und es gibt auch keine
wiederkehrenden Gestalten, nur ein scheinbar beliebiges Hin- und Herspringen zwischen
den Menschen. Das mit dieser Technik skizzierte Gesamtbild ist in diesem Sinne eher
polyperspektivisch als zentralperspektivisch organisiert. Wie der Blick des
99
Die Erzählung wurde für die Zeitschrift Der Zuschauer geschrieben. Zur Relevanz dieser Zeitschrift
siehe Schirmer 66.
100
Mehr dazu siehe Stadlers Aufsatz über „Brillen, Lorgnetten, Fernrohren und Kuffischen
Sonnenmikroskopen“ in Hoffmanns Erzählungen.
113
Panoramenbesuchers über die Leinwand springt, so fordert Hoffmann seine Leser zum
beständigen, oft abrupten Wechsel der Perspektive.101
Der Einsatz des Fernglases modifiziert jedoch den ständigen Wechsel der
Perspektive mit der Fixierung einer Szene. Der Blick durch das Fernglas nimmt eine
einzige, gut beobachtbare Szene aus dem Gesamtbild aus und trägt zum detailgenauen
Schauen bei. Die vom Vetter erwähnte „Fixierung des Blickes“ auf ein Detail bedeutet
die Reduktion des komplexen Geschehens auf kleine Ausschnitte. Diese Reduktion des
Geschehens auf ein Detail wirkt aber lähmend für nach einer Übersicht strebenden
Vetter.102 Die durch das Fernrohr beobachteten Details haben eine wichtige Funktion:
Sie setzen die Phantasie in Gang.103 Wie in den früheren Berlinischen Geschichten dienen
die konkreten Beschreibungen als Katalysator zum Erzählen, aber die Geschichten sind in
Des Vetters Eckfenster eher plausibel als fantastisch. Als Beispiel kann die Beschreibung
des Besuchers über zwei alte Marktweiber angegeben werden: „in der Tat ein paar
auffallende Physiognomien! welches dämonische Lächeln - welche Gestikulation mit den
dürren Knochenarmen!“ (SW 6, 474). Diese Abfassungen beschreiben die beiden Figuren
als zwei außerordentliche Charaktere. Der Vetter relativiert jedoch die Beobachtungen
des Besuchers durch realistische Schilderungen: „Die Weiber sitzen beständig
beisammen [...] haben sie sich doch bis heute stets mit feindseligen Blicken angeschielt“
(SW 6, 475). Der erfahrene Vetter wird mit seinen Ergänzungen zum Komponist des
101
Eine ausgezeichnete Analyse dieser Bewegung (sog. „punctum saliens“) in der Erzählung liefert
Gerhard Neumann (233-35).
102
Ulrich Stadler schreibt in diesem Zusammenhang das Folgende: „Der Blick durchs Fernglas lässt das
Ferne nah, das Kleine groß erscheinen; er verzerrt die Proportionen und isoliert vor allem das
Wahrgenommene von seinem Umfeld. Die Zerstörung des gewohnten Zusammenhangs fordert in hohem
Maße die Phantasie des Betrachters heraus, neue Zusammenhänge ins wahrgenommene Bild
hineinzusehen. Die Imagination wird entzündet - gerade durch die „Fixierung des Blicks“ auf ein Detail,
das immer als ein Detail von etwas erkannt sein möchte.“ (507)
103
Oesterle schreibt darüber, dass die „beschreibende Oberflächenwahrnehmung des Besuchers im
Rollenspiel der Gesprächspartner immer wieder ans Phantastische grenzt“ (1987, 14).
114
Blicks seines Besuchers, da er den Marktplatz und seine Teilnehmer schon gut kennt. Der
Zeitausdruck „beständig“ zeigt auch, dass er die Frauen schon auch in der Vergangenheit
beobachtet hat.
Seine Augen kennen auch die Stützpunkte des Marktes:
Indem ich den ganzen Markt überschaue, bemerke ich, daß die Mehlwagen dort,
über die Tücher wie Zelte aufgespannt sind, deshalb einen malerischen Anblick
gewähren, weil sie dem Auge ein Stützpunkt sind, um den sich die bunte Masse
zu deutlichen Gruppen bildet. (SW 6, 490-91)
Diese Funktion entspricht genau der, die bei der Panoramenmalerei der auf der Plattform
sich befindliche Inspekteur zur Aufgabe hat.104 Wie der Vetter hat er durch seine
distanzierte Beobachtungsposition eher das Gesamtbild im Blick. Das erlaubt es ihm, die
Ausführungen der einzelnen Maler (hier die des schreibenden Vetters) zu lenken. Dies tut
auch der Vetter, wenn der Besuchende zu lange Zeit mit der Beschreibung einer Figur
verbringt und er seinen Blick auf eine neue Gestalt lenkt.105 Sowohl bei der Produktion
eines Panoramas als auch beim dichterischen Verfahren des Vetters lässt sich eine
ähnliche Arbeitsteilung erkennen. Jedes Einzelstück muss stimmen, aber es darf niemals
den Rahmen überschreiten.
Auf der Leinwand des vollendeten Panoramas und der Vedutenansicht muss jedes
Detail möglichst realitätstreu abgebildet sein. Die fertige Leinwand soll ein
geschlossenes, den Betrachter komplett umgebendes Ganzes bilden, damit sein Blick nie
auf eine Lücke trifft, die die Illusion zerstören kann. Wenn man diese Regel auf die
Erzählung anwendet, kommt der Unterschied zwischen den zwei Medien zu Tage.
104
Siehe dazu auch Eicher, der in seinem Aufsatz einen ausgezeichneten produktionsästhetischen Vergleich
zwischen der Panoramamalerei und Hoffmanns Primärtextes liefert (367-70).
105
Vgl. dazu: Vetter: „Ehe wir uns von der Theaterwand abwenden, lass uns noch ein Blick auf die dicke
gemütliche Frau mit vor Gesundheit strotzenden Wangen werfen...“ (SW 6, 475) oder Vetter: „Still, still,
Vetter, genug von der Rosenroten! – Betrachte aufmerksam jenen Blinden, dem das leichtsinnige Kind der
Verderbnis Almosen spendete“ (SW 6, 487).
115
Einerseits handelt es sich bei dem Marktplatz um ein Durcheinander, das niemals
stillzustehen scheint. Figuren kommen und gehen und oft verlassen sie den Marktplatz.
Andererseits beschreiben der Vetter und sein Besucher gerade nicht alle Figuren, die sich
auf dem Marktplatz darbieten, so dass es weiße Flecken im Gesamtbild gibt.
Auch wenn der Vetter kein fertiges, allumfassendes Panorama erstellt, so zeigen
doch viele seiner Bemerkungen, dass er ein ähnliches Vorhaben zum Ziel hat. An vielen
Stellen der Erzählung wird deutlich, dass der Vetter bestimmte Figuren und
Gruppierungen schon lange und sorgfältig beobachtet hat.106 Er sieht die eigentlich
unsichtbaren Details, weil er sie schon lange und sorgfältig betrachtet hat. Nur weil er ein
detailliertes Panorama im Kopf hat, kann er die Handelsgegenstände der von der
Theaterwand sitzenden „dicken, gemütlichen Frau“ (SW 6, 475) beschreiben oder die
Gesichtsausdrücke des lesenden Blumenmädchens schildern.107
Ein paar Bemerkungen, die als Rahmen der Erzählung funktionieren, machen
sogar explizit, dass das Ziel des Vetters auch um die Beschreibung eines Gesamtbildes
geht. In den ersten Seiten der Erzählung stellt der Vetter fest, dass sich ihm aus dem
Anblick des Marktplatzes die „mannigfachste Szenerie des bürgerlichen Lebens“
entwickelt (SW 6, 471). Am Ende der Erzählung wird dieses Bestreben noch deutlicher,
besonders im folgenden Satz: „Dieser Markt [...] ist auch jetzt ein treues Abbild des ewig
wechselnden Lebens“ (SW 6, 497) Die Rahmen der Erzählung streben nach einem
allumfassenden Bild, in dem alle Details und alle Figuren des Marktes ihren Platz finden
106
Vgl. dazu: Vetter: „Genug habe ich mir schon über diese exotische Figur den Kopf zerbrochen“ (SW 6,
484).
107
Vgl. dazu: „Sie saß wie in einer dichten Laube von blühenden Geranien und hatte das Buch
aufgeschlagen auf dem Schoße, den Kopf in die Hand gestützt. Der Held mußte gerade in
augenscheinlicher Gefahr oder sonst ein wichtiger Moment der Handlung eingetreten sein; denn höher
glühten des Mädchens Wangen, ihre Lippen bebten, sie schien ihrer Umgebung ganz entrückt“ (SW 6,
480).
116
sollen. Das Gesamtbild, das der Vetter aus dem Gesehenen in einen Text überträgt wird
als eine Darstellung des „ewig wechselnden Lebens“ charakterisiert (SW 6, 497). Mit
diesem Wechsel wird jedoch am Ende der Erzählung einen Stillstand ins Leben gerufen.
Wenn alles beweglich und wandelbar ist, dann passiert eigentlich nichts wirklich, ähnlich
wie auf der starren Panoramenleinwand.
Im Vergleich mit den Stadtgemälden aus dem Jahre 1822 ist es auch augenfällig,
dass Hoffmann den unteren Teil des Gendarmenmarktplatzes, architektonisch die Treppe
und die unteren Türöffnungen des Schauspielhauses, im Fokus hält. Obwohl in beiden
malerischen Repräsentation, sowie in der Erzählung, den Platz aus einer erhöhten
Perspektive angenähert wird, werden die Leute und die Marktereignisse in Hoffmanns
Fall viel detaillierter geschildert -- ähnlich wie man im visuellen Bereich in der späteren
Darstellung des Marktes von Eduard Gaertner aus 1857 beobachten kann. Hoffmann
charakterisiert die Architektur des Platzes als „kolossal“ und „genial gedacht“, jedoch
erwähnt er explizit davon nur ein paar Details, zu deren Schilderung die erhöhte Position
unnötig ist. In den Vedutengemälden spielen im weiteren auch die das Schauspielhaus
umrahmenden Dome eine wichtige Rolle, so dass eklesiastische Architektur mit den
profanen verbunden wird, während sie bei Hoffman gar nicht erwähnt werden.
Die Maltechnik der obigen Repräsentationen des Gendarmenmarktes und
Schinkels und Gropius’ illusionistischer Bühnenbilder und das poetische Verfahren des
Vetters stimmen daher keinesfalls exakt überein. Das ist schon deshalb unmöglich, weil
die Maler und der Vetter sich unterschiedlicher Medien bedienen, die ihren Gegenstand
letztlich immer unterschiedlich abbilden. Der Vetter ist kein Panoramenmaler, und es
ging Hoffmann mit Sicherheit nicht darum, die Anwendbarkeit eines Verfahrens der
117
bildenden Kunst für die Literatur zu prüfen. Die Verknüpfungen sitzen tiefer, sie wurzeln
in dem historischen Moment, in dem sowohl das Panorama, Gropius und Schinkels
Bühnendekorationen als auch die Erzählung entstanden sind. Fasst man es sehr
allgemein, so zeichnet sich die Zeit um die Jahrhundertwende durch eine Flut neuartiger
Signale, Reize und Erfahrungen aus, die von den damaligen Subjekten nicht sofort
verarbeitet werden konnten. Zu diesen sinnverwirrenden neuen Erfahrungen gehören die
Eroberung neuer Sehräume durch die Entdeckung des Horizontes,108 die Veränderungen,
die die Napoleonischen Kriege mit sich brachten und die Herausbildung der modernen
Großstadt.
Diese Veränderungen schufen einen Bedarf nach neuen Wahrnehmungsformen,
nach einer neuen Positionierung des Subjektes zu seiner Umwelt, mit denen es diese
wieder verarbeiten konnte. Die panoramengleiche Wahrnehmungsform, wie sie sich an
der Malerei und in Des Vetters Eckfenster in ihren Grundzügen ablesen lässt, sind
Denkmäler von dieser nicht nur räumlichen, sondern auch psychischen und ästhetischen
Neupositionierung. Ebenso wie das Panorama stellt die Erzählung eine Lektion in dieser
neuen Form der Wahrnehmung dar. Oettermann fasst mit den folgenden Worten treffend
zusammen, wie Rundgemälde und seine Vorläufer (Theaterdekorationen, Stadtbilder mit
verzerrten Perspektiven, Zimmerpanoramen und Dioramen) zur Schule des Blicks
geworden sind:
108
Vgl dazu die folgende Beschreibung: „Horizont, Hoffnung, Kerker, Montgolfiere, Seh-Sucht und SehKrankheit. – In keiner anderen Zeit als dieser konnte das Panorama erfunden werden. [...] Die Entdeckung
des Horizonts, die Befreiung des Blicks und zugleich das diffuse Kerkergefühl der Zeit materialisiert sich
im Panorama vollkommen: scheinbar den freiesten Blick auf die unverstellte Landschaft bietend, umstellt
es den Betrachter vollkommen und viel enger als alle anderen Versuche bildlicher Wiedergabe von
Landschaft vorher. Das Panorama, ein Gemälde ‚sans bornes’, in dem der ‚Augenaufschlag des
Bürgertums’ sich selbst feiert, ist zugleich ein vollkommener Kerker des Blicks“ (Oettermann 18).
118
Im Rundgemälde etabliert sich das Erlebnis des Horizonts als Kunstform; indem
es so an Dauer gewann, wurde das Panorama zur Schule des Blicks, zum
optischen Simulator, in der der extreme Sinneseindruck, das sensationelle, weil
ungewohnte Erlebnis immer wieder und wieder geübt werden konnte, bis es zur
Selbstverständlichkeit und zum alltäglichen Bestandteil menschlichen Sehens
wurde. (19)
Hoffmanns Erzählung leistet so eine ästhetische Sehschule im Medium der Literatur
sowie die zeitgenössischen Gemälde über den Gendarmenmarkt aus dem Entstehungsjahr
Des Vetters Eckfenster.
„Eine Stadt ohne Theater ist wie ein Mensch mit zugedrückten Augen, wie ein Ort
ohne Luftzug, ohne Kurs“: Die Bedeutung des Schinkelschen Theaters in Des
Vetters Eckfenster
Im letzten Segment des Kapitels soll das von Schinkel entworfene Schauspielhaus und
seine Bilder auf Hoffmanns Text übertragen werden. In der Mitte des Kunzischen Risses
dominiert das Langhanssche Theatergebäude, das die Anwesenheit des Spielhauses auf
dem Platz als die wichtigste Attraktion des Gendarmenmarktes konnotiert. Auch die
Bauarbeiten an dem Schinkelschen Theater in den ersten Jahren der 1820er faszinierten
Hoffmann, der in seinem Tagebuch and Briefen immer wieder die neuesten
Sehenswürdigkeiten der Baustelle beschreibt: „Man kann einen ganzen halben Tag und
länger schwelgen, wenn man bloß in den neuen Theaterbau hineingeht ... am Theater
arbeiten die ersten Künstler, und man kann ohne Übertreibung sagen, dass die kleinste
Verzierung ein wahrhaftes Kunstprodukt ist“ schreibt er unter anderem Hippel am 30.
August 1816 an seinen Freund (II, 98).109 Hoffmann hatte eine vielfältige Beziehung zu
beiden Gebäuden (sowohl zu dem Langhansschen, als auch dem Schinkelschen Theater):
109
Vgl. auch dazu: “… die Dekorationen, die aber auch das genialste der Art sind, die ich jemals gesehen”
(II, 98).
119
Seine einzige Oper wurde dort aufgeführt, er sah dem Feuer und der Vernichtung des
ursprünglichen Theaters aus seinem Fenster zu und war am Eröffnungsabend des neuen
Theaters anwesend.
Um 1800 bekommt das Theater eine führende Rolle in der preußischen
Architektur. Obwohl der Entwurf des Nationaltheaters keine öffentliche Aufgabe war und
der König autoritär über die Ausführung des Baues entschied, gab es mehrere
miteinander konkurrierende architektonische Pläne (Gerlach 216, Bergdoll 15). Gillys
Nationaltheaterprojekt von 1800 war einer der ersten modernen Bauentwürfe, der jedoch
nicht verwirklicht wurde. Nach der Vernichtung des Langhansschen Baus war Schinkels
Schauspielhaus in Berlin ein ebenso wichtiges Projekt, das, wie Marianne Thalmann es
beschreibt „auf das kühle Blau und Silber einer Novaliswelt gestimmt“ (21) war. Obwohl
der Theaterplan von Langhans statt Gillys Entwurf in den Jahren 1801-1802 von dem
König realisiert wurde, arbeitete Gilly an seinem Projekt in den nächsten Jahren weiter.
Der Kunsthistoriker Berry Bergdoll charakterisiert Gillys Projekt mit den folgenden
Worten:
His [Gilly’s] studies for the stagehouse and auditorium include numerous views
that transform the perspectival frames of the Frederick the Great monument into
stage sets, creating an architectural experience in the illusory space of the theater,
where a heroic public realm could be projected, anticipating the changes on the
real urban stage where new social and political realities were beginning to
emerge. (Bergdoll 15)
Die Zeichnung des nie gebauten Theaters erbte sein begabtester Student, Karl Friedrich
Schinkel.110 Auf den Spuren von Gilly hatte Schinkel vor, mit dem neuen Theater einen
dramatischen Hintergrund zu den Ritualen und täglichen Aktivitäten des Berliner
bürgerlichen Lebens zu schaffen. Sein Ziel war die traditionelle Rolle des Theaters zu
110
Vgl. dazu Bergdoll 60.
120
verändern und das Gebäude mit den benachbarten Domen in Dialog zu setzen. Nach
Schinkels Auffassung sollte das Theater ein allen Menschen zugänglicher Raum sein,
„wo sich Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit Anstrengung, Kurzweil mit Bildung gattet,
wo keine Kraft der Seele zum Nachteil der andern gespannt, kein Vergnügen auf
Unkosten des Ganzen genossen wird“ (zitiert nach Bergdoll 61). Schinkel wollte mit
seiner Architektur die menschlichen Beziehungen und Charaktere veredeln im
Schillerschen Sinne der „ästhetischen Erziehung des Menschen“ und die
Demokratisierung der Berliner Gesellschaft fördern.
Die Bereitstellung des neugestalteten Platzes für eine öffentliche Nutzung und die
Anziehung großer Menschenmengen wirkten beschleunigend auf die städtebauliche
Entwicklung Berlins. Schon mit dem Erbauen des Langhansschen Theaters entstand auf
dem Gendarmenmarkt vor dem Theater ein öffentlicher Platz und öffentlicher Raum.111
Mit Schinkels Projekt wurde jedoch diese Idee weiterentwickelt, was sich unter anderem
im Inneren des Theaters manifestierte. Der Zuschauerraum war eine Kombination aus
Rang- und Logentheater, bei dem Schinkel ausdrücklich an gutes Hören und Sehen
gedacht hatte und weniger an das übliche Sich-selbst-zur-Schaustellen des Publikums.
Dies wurde auch in den Seltsamen Leiden eines Theaterdirektors von Hoffmann
diskutiert. Die drei Ränge mit großen gemauerten Säulen sollten im Inneren des Theaters
eine bessere Sicht ergeben. Die Logen waren nicht mehr wie in feudalen Zeiten als ganze
von adeligen Familien gemietet, sondern die Plätze darin wurden einzeln vergeben. Karl
Gutzkows Beschreibung des Schauspielhauses reflektiert, wie Schinkels Vorstellungen in
die Praxis realisiert wurden:
111
Vgl. dazu auch Gerlach 211-15.
121
Das Innere dieses Theaters, wiederum nicht ausgehend von der speziellen
Ansicht Schinkels, hat ganz jenen gedruckten Miniatur- und Privatcharakter, den
ein Haus, das früher Nationaltheater hieß, nicht haben sollte. [...] Ein Rang ist
dem andern unsichtbar. Das Parterre und Parkettelogen sehen nichts von den
Rängen. Man weiß an einer Stelle des Hauses nicht, ob es an der andern besetzt
ist. Eine Übersicht des Ganzen ist nur auf dem Proszenium und Podium möglich,
so dass man, um zu wissen ob das Haus besetzt war, die Schauspieler fragen muss
(„Dom, Schauspielhaus“ 14-15).
Die ganze Dekoration stammte bis in die Einzelheiten von Schinkel selbst. Dazu
gehörte auch eine Ansicht des ganzen Platzes, die im Kontrast zu den malerischen
Darstellungen des Gendarmenmarktes von Hasenpflug und Enslen, deren Werke
wahrscheinlich nur wenige zu Sehen bekamen, von einem breiten Berliner Publikum
gesehen wurde. Zu den Zuschauern gehört auch Hoffmann, der am Eröffnungsabend des
Schauspielhauses anwesend war.112 Schinkel hatte den Vorhang zu dem von Goethe
verfassten Eröffnungsprolog selbst entworfen und von Gropius ausführen lassen. Eine
detaillierte Baubeschreibung vom Schauspielhaus und eine Charakterisierung seiner
Architektur veröffentlichte Schinkel im 2. Heft seiner Sammlung Architektonischer
Entwürfe (1821) und im 2. Heft der zweiten Folge (1826). Den Vorhangentwurf
beschreibt der Architekt mit den folgenden Worten:
Der Vorhang bildet einen grünen, mit stark erhabener goldener Stickerei
verzierter Teppich. Die [...] dargestellte Scenen-Verzierung hatte ich für den
schönen Einweihungs-Prolog von Göthe angegeben; sie stellte einen, an zwei
Seiten von Säulenhallen eingeschlossenen hochliegenden Platz dar, dessen
Frontseite über eine Brustwehr fort eine freie Aussicht über Berlin gestattete, aus
dessen Mitte sich das neue Schauspielhaus zwischen den beiden, von Friedrich
dem Grossen gebauten, Kirchthürmen in seiner ganzen Hauptform hervorhob, und
dem Zuschauer auch die äußere Form des eben eingeweihten Gebäudes
vergegenwärtigte. (zitiert nach Behr/Hoffmann 105)
112
Vgl. dazu: Am Sonnabend, dem 26. Mai 1821 fand die Eröffnung des Theaters statt. Eine Berliner
Zeitung berichtete: „Am Tage der Aufführung belagerte schon vier Studenten vor Beginn eine große
Menschenmenge die Eingänge des Schauspielhauses, und als die Pforten endlich sich öffneten, entstand ein
gefährliches Gedränge. Das Parterre füllten, Kopf an Kopf, die patriotische Jugend, vor allem die
Studenten, junge Gelehrte und Künstler, u.a. Heinrich Heine, E.T.A. Hoffmann, der junge Mendelssohn
und das ganze geistige Berlin. Uniformen waren fast gar nicht zu sehen, und auch der Hof, der tags zuvor
eine Olympiaaufführung befohlen, blieb unvertreten“ (zitier nach Behr/Hoffmann, 93-93).
122
Abbildung 13: Bühne des Theaters und Dekoration des Eröffnungsprologs von Karl Friedrich Schinkel.
Als sich bei der Eröffnung des Schauspielhauses der Vorhang hob, erblickte das
Publikum den neuen bürgerlichen Musentempel zwischen den beiden Domen. Schinkel
wollte mit dem Vorhang eine Anleitung zum Genuss der Architektur als schöner Kunst
geben. Wie in einem Spiegel erblickte das Publikum im Bühnenhintergrund noch einmal
den Gendarmenmarkt. Die Zuschauer wurden während des von Goethe für den
Eröffnungsabend geschriebenen Prologs („Verwandte Kunst, sie hat mich übertroffen“)
mit dem neusten öffentlichen Gebäude Berlins, in dem sie gleichzeitig gesessen haben,
und mit ihrer verändernden Beziehung zu der eigenen Heimatstadt konfrontiert.
Der amerikanische Kunsthistoriker Barry Bergdoll analysiert die im Vorhang
benutzte Perspektive in der folgenden Weise: „It could be no coincidence that the
viewpoint was an idealized version of that available from the royal apartments in the
123
upper floor of the Royal Palace. Here in the newly configured theater the perspective
would be enjoyed equally by all, and not simply by the king“ (60). Nach Bergdoll war der
detaillierte und realistische Anblick auf Berlin eine zweifellos bürgerliche
Veranschaulichung der preußischen Hauptstadt, der einen vormals ausschließlich dem
König zugänglichen Standpunkt dem breiten Publikum des Schauspielhauses zur
Verfügung stellte. Wie in den panoramatischen Repräsentationstechniken kann diese
Darstellung des Gendarmenmarktes als eine Demokratisierung des Blickes angesehen
werden, was besonders im Vergleich zur Struktur des barocken Theaters zu Tage kommt:
Das barocke Theater war Hoftheater; es zeichnet sich vor allem durch seine
Fluchten tief in die Bühne gestaffelter Kulissenflügel aus, die auf einen einzigen
Fluchtpunkt hin orientiert waren. Im Augenpunkt dieser strengen
zentralperspektivischen Konstruktion, der auch die ganze Architektur der
Theaterhäuser unterworfen war, befand sich die Fürstenloge; d.h. nur der dort
sitzende Souverän sah das Bühnenbild perspektivisch richtig, für alle andere
Zuschauer verzerrte es sich mehr oder weniger. [...] Alle Augen waren weniger
auf das Bühnengeschehen als auf den Souverän gerichtet; er war der einzige, der
sah. (Oettermann 20)
Wenn es demgemäss in den Studien von Schinkel oder in den städtebaulichen
Diskussionen der Zeit über Hörbarkeit und Sichtbarkeit die Rede ist, geht es in
übertragenem Sinne um eine neue bürgerliche Öffentlichkeit und gesellschaftliche
Veränderungen so wie um ästhetische Fragen.
In wie fern Schinkels Ideale in die Wirklichkeit übergingen oder auch den am
Gendarmenmarkt lebenden Schriftsteller okkupierten, sollen zwei Szenen in Des Vetters
Eckfenster demonstrieren. Die letzten Facetten, die das bunte Bild der verschiedenen
Marktgestalten ergänzen sind Beschreibungen des ganzen Marktes. Die folgende
Schilderung des Marktes ist ein Blick in die politisch-gesellschaftliche Situation der
Berliner Bevölkerung in den Jahren nach 1815:
124
Sonst war der Markt der Tummelplatz des Zanks, der Prügeleien, des Betrugs, des
Diebstahls, und keine honette Frau durfte es wagen, ihren Einkauf selbst besorgen
zu wollen, ohne sich der größten Unbill auszusetzen. Denn nicht allein daß das
Hökervolk gegen sich selbst und alle Welt zu Felde zog, so gingen noch
Menschen ausdrücklich darauf aus, Unruhe zu erregen, um dabei im trüben zu
fischen, wie z. B. das aus allen Ecken und Enden der Welt zusammengeworbene
Gesindel, welches damals in den Regimentern steckte. Sieh, lieber Vetter, wie
jetzt dagegen der Markt das anmutige Bild der Wohlbehaglichkeit und des
sittlichen Friedens darbietet. (SW 6, 495)113
Es ist ein unerwartetes Element im Laufe des Textes, dass die Menge des Platzes, dessen
Architektur mit den Attributen „kolossal“ und „genial gedacht“ kennzeichnet werden, am
Ende der Erzählung wegen seiner neu erworbenen Sittlichkeit und Anständigkeit gelobt
wird. Die Aussage im Preußen der Restauration nach den Karlsbader Beschlüssen ist
durchaus politisch. Hoffmanns Protagonist macht den neuen Ort der bürgerlichen
Öffentlichkeit anschauend einerseits deutlich, dass die Marktbesucher sozial gesehen
heterogener als je geworden sind, andererseits verdeutlicht er durch ein Beispiel, dass das
Volk Konflikte und Streite ohne Polizei lösen kann.114 Hoffmann argumentiert gegen die
polizeistaatlichen Maßnahmen der Restauration und setzt sich für eine Demokratisierung
in der Berliner Gesellschaft ein. In diesem Sinne wird die Sehschulung in Des Vetters
Eckfenster nicht nur eine ästhetische, wie der obige Teil des Kapitels demonstriert hat,
sondern auch eine politisch-soziale Bildung des Lesers in einer ähnlichen Weise, wie das
113
Vgl. auch dazu: „das Volk hat an äußerer Sittlichkeit gewonnen; und wenn du dich einmal an einem
schönen Sommertage gleich nachmittags nach den Zelten bemühst und die Gesellschaften beobachtest,
welche sich nach Moabit einschiffen lassen, so wirst du selbst unter gemeinen Mägden und Tagelöhnern
ein Streben nach einer gewissen Courtoisie bemerken, das ganz ergötzlich ist. Es ist der Masse so
gegangen, wie dem einzelnen, der viel Neues gesehn, viel Ungewöhnliches erfahren, und der mit dem Nil
admirari die Geschmeidigkeit der äußern Sitte gewonnen. Sonst war das Berliner Volk roh und brutal; man
durfte z. B. als Fremder kaum nach einer Straße oder nach einem Hause oder sonst nach etwas fragen, ohne
eine grobe oder verhöhnende Antwort zu erhalten oder durch falschen Bescheid gefoppt zu werden. Der
Berliner Straßenjunge, der den kleinsten Anlaß, einen etwas auffallenden Anzug, einen lächerlichen Unfall,
der jemanden geschah, zu dem abscheulichsten Frevel benutzte, existiert nicht mehr“ (SW 6, 495).
114
Vgl auch dazu: „Also herrscht in der Tat im Volk ein Sinn für die zu erhaltende Ordnung, der nicht
anders als für Alle sehr ersprießlich wirken kann“ (SW 6, 494).
125
Schauspielhaus und seine Dekorationen für eine Demokratisierung des Blickes
plädierten.
Das Theater spielt auch in der ästhetischen Wahrnehmung der Großstadt eine
wichtige Rolle, die Hoffmann in seinen letzten Berlinischen Text mehrfach einbezogen
hat. Marianne Thalmann schreibt in ihrem Buch Die Romantiker entdecken die Stadt,
dass die Romantiker „theaternärrische Epiker“ waren. Der Gedanke, dass der Mensch
„ein Gaukler, ein Spieler, ein Komödiant“ ist, erscheint in mehreren Werken der
Romantiker, in deren Texten auch die Bühnenmetapher oft benutzt wird (Thalmann 19).
Dieselbe Idee, dass die Erscheinung des Menschen selbst problematisch geworden ist und
dass er eine Person ist, die wir sehen und eine dahinter, mit vielen Gesichtern, also ein
Schauspieler, erscheint auch in den theoretischen Schriften der Großstadtsoziologen.115
Unter anderem beschreibt Simmel, dass die äußerlich erkennbare Erscheinungsform des
Verhaltens in der Großstadt weniger ein natürlich hervorwachsender Ausdruck eines
Innern ist, als vielmehr ein „Sich-Geben“, ein „Auftreten, ein Sich-Darstellen“ (vlg. dazu
auch Bahrdt 66-70). Urbanes Sozialverhalten nach Simmel ist kein natürlicher Ausdruck
eines Innern, sondern ein Sich-Darstellen, ein Auftreten wegen der Flüchtigkeit der
Begegnungen:
Wo die quantitative Steigerung von Bedeutung und Energie an ihre Grenze
kommen, greift man zu qualitativer Besonderung, um so, durch Erregung der
115
Wenn man die architektonischen Entwürfe des Schinkelschen Theaters aus dieser Perspektive
untersucht, sieht man, dass Schinkel und sein Bauentwurf mit den Gedanken über „Sich-Darstellen“ und
„Sich-Geben“ ein Spiel treibt. In seinen Notizen über das Projekt schreibt Schinkel das Folgende: „[das
neue Theater soll] zu einem überall vollendeten, außen und innen vollkommen zusammenstimmenden
Kunstwerk [...] erheben“ und das neue Gebäude müsse „ein regelmäßiges ästhetisch geordnetes Ganzes
sein; unerlässlich ist es aber auch, dass der Charakter des Gebäudes sich von außen vollkommen
ausspreche und das Theater durchaus nur für ein Theater gehalten werden kann“ (zitiert nach Forsmann
102). 115 Diese Forderung deckt in dem „Ideal der Zweckmäßigkeit“ in der Baukunst, das Schönheit und
Zweckmäßigkeit miteinander verbindet.
126
Unterschiedsempfindlichkeit, das Bewusstsein des sozialen Kreises irgendwie für
sich zu gewinnen: was dann schließlich zu den tendenziösesten Wunderlichkeiten
verführt, zu den spezifisch großstädtischen Extravaganzen des Apartseins, der
Kaprice, des Pretiösentums, deren Sinn gar nicht mehr in den Inhalten solchen
Benehmens, sondern nur in seiner Form des Andersseins, des Sich-Heraushebens
und dadurch Bemerklichwerdens liegt - für viele Naturen schließlich noch das
einzige Mittel, auf dem Umweg über das Bewusstsein der anderen irgend eine
Selbstschätzung und das Bewusstsein einen Platz auszufüllen, für sich zu retten.
(Simmel 190)
„Die Bewohner der Großstadt sind Schauspieler, die einander gegenseitig betrügen“
schreibt Kleist in einem Brief aus Paris. Die Theatermetapher über die Großstadt erschien
in mehreren Briefen deutscher Schriftsteller im 19. Jahrhundert.116 In Hoffmanns Des
Vetters Eckfenster wird „das kolossal und genial gedachte Theatergebäude“ mit Bedacht
zum Bestandteil der Kulisse gemacht. Vor der Theaterwand werden die Menschen auf
dem Marktplatz zu Akteuren eines unvollkommenen Illusionstheaters. Eine Begrenzung
wird jedoch durch die Bühnenmetapher anschaulich. Einerseits gewährt die Bühne dem
Blick eine relative Freiheit, gaukelt ihm die Varietät der Erscheinungen vor, während sie
ihn gleichzeitig gefangen hält, weil sie den Horizont versperrt. In dieser Weise entsteht
eine mangelhafte Wahrnehmung der Totalität. In drei Textpassagen werde ich die
theatralischen Qualitäten in Hoffmanns Erzählung nach diesem Modell untersuchen.
Erstens, in der Darstellung der drei in der dritten Türöffnung des Theaters stehenden
Frauen, zweitens in den zwei Hypothesen zur über den Markt eilenden „exotische Figur“
und drittens in der Beschreibung des mit seinem Rücken an der Mauer des Theaters
lehnenden blinden Mannes.
116
Vgl. damit auch Hebbels Beschreibung von Paris: „Diesmal war ich nicht produktiv, ich legte mich
vielmehr auf der Terrasse vor der Betkapelle ins Grüne, sah auf Paris mit seinen Kuppeln, Turmspitzen und
Millionen Schornsteinen wie auf ein großes Theater hinab und dachte: Dort fällt vielleicht in jedem
Augenblick jede Szene, die überhaupt im Menschenleben vorkommt, vor, es werden Menschen geboren
und es sterben welche, man küsst sich zum erstenmal, man stößt sich vielleicht den Dolch ins Herz!”
(Hebbel an Elise Lensing, Briefe III. 194).
127
Genau vor der Theaterwand bildet sich eine Gruppe, die nach dem Vetter würdig
wäre „von dem Crayon eines Hogarth’s verewigt zu werden“ (SW 6, 473). Ein paar alte
Frauen sitzen hier auf niedrigen Stühlen und verkaufen bunte Tücher, die „auf den Effekt
für blöde Augen berechnet“ sind (SW 6, 473). Hier wird zum ersten Mal zu dem
Gesehenen eine ganze Geschichte erzählt. Die erzählte Geschichte über einen Streit und
die darauf folgende Versöhnung unter den Weibern klingt sehr plausibel für den
Besucher, der feststellt: „Von allem, was du da herauskombinierst, lieber Vetter, mag
kein Wörtchen wahr sein, aber indem ich die Weiber anschaue, ist mir, Dank sei es deiner
lebendigen Darstellung, alles so plausibel, daß ich daran glauben muß, ich mag wollen
oder nicht“ (SW 6, 475) Vor der Kulisse spielt sich also eine kurze Szene ab. Das mit
visuellen Bezügen beschriebene – die Gruppenkonstellation á la Hogarth – Bild ist jedoch
kein Einfrieren eines temporären Ereignisses sondern eine narrative Struktur des Bildes.
Das Hogarthsche Bild wird zum bewegten Leben, zu einem Akt auf einer Bühne, die die
Vetter sich aus dem als Loge dienenden Fenster anschauen.
Um über den Platz ein Gesamtbild anzubieten, verknüpft der Vetter die einzelnen
Figuren mit verschiedenen Hypothesen oder Rollen. Am offensichtlichsten wird dies im
Fall der „exotischen Figur,“ zu der der Vetter zwei vollständig unterschiedliche
Hypothesen aufstellt, denn, wie er erklärt „die Varietät kann nie bunt genug sein“ (SW 6,
485)117 Die Darstellung von zwei Hypothesen, also die Anwendung einer
„pluralisierenden Perspektive“ wie Gerhard Neumann schreibt (2005, 237), scheint
gänzlich den Regeln der Panoramamalerei zu widersprechen, wo Eindeutigkeit das Ziel
ist. Doch zum einen stimmen beide Hypothesen mit den visuellen Details überein, zum
117
„So habe ich den widrigen zynischen deutschen Zeichenmeister augenblicklich zum gemütlichen
französischen Pastetenbäcker umgeschaffen, und ich glaube, daß sein Äußeres, sein ganzes Wesen recht
gut dazu paßt“ (SW 6, 486).
128
anderen werden sie beide entworfen im Hinblick auf des Vetters Gesamtbild. Das die
Figur zuerst als ein deutscher Zeichenmeister, dann als ein französischer Pastetenbäcker
gedeutet wird, veranschaulicht den historischen Hintergrund der Erzählung, insbesondere
die Napoleonischen Kriege und die mit ihnen einhergehenden Völkervermischungen. In
dieser Weise wird diese Szene eine wichtige Repräsentation von Berlin der 1820er
Jahren, in dessen Straßen man nicht mehr genau wissen kann, wem man vorbeigeht.
Eine ähnliche Rolle wird auch von dem Blinden gespielt, der als Nichtsehender an
die Mauer des Theaters gelehnt „mit emporgerichtetem Haupt in die weite Ferne zu
schauen scheint“ (SW 6, 488) Die Vetter beobachten einen Blinden, der nicht sieht, aber
sein Schauen zeigt. Der Vetter beschreibt das Aussehen des Bettlers seinem Besucher in
der folgenden Weise:
[es] ist doch merkwürdig, daß man die Blindheit, sollten auch die Augen nicht
verschlossen sein, oder sollte auch kein anderer sichtbarer Fehler den Mangel des
Gesichts verraten, dennoch an der emporgerichteten Stellung des Hauptes, die den
Erblindeten eigentümlich, sogleich erkennt; es scheint darin ein fortwährendes
Streben zu liegen, etwas in der Nacht, die den Blinden umschließt, zu erschauen
(SW 6, 488)
Die Thematisierung des Sehens zeigt, wie schon frühere Studien argumentieren, dass die
Protagonisten Hoffmanns letzter Erzählung nicht die Vetter sind, sondern eine sich
verändernde Wahrnehmung. In der Figur des Blinden wird der Akt des Sehens
gleichzeitig anerkannt und betont, aber auch verleugnet. In dem Spiel mit dem Sehenbzw. Nicht-Sehen-Können und die Darstellung des Blinden als Seher und Nicht-Seher
eröffnet sich ein pluraler Raum, dessen Figuren mit den Augen der am Eckfenster
stehenden Vetter nicht mehr eindeutig wahrgenommen werden können.
Die ästhetische und sozial-politische Sehschulung in Des Vetters Eckfenster kann
mit der Entwicklung des Architekturensembles auf dem Gendarmenmarkt in Beziehung
129
gesetzt werden. Die Entdeckung des komplexen Stadtraums und seine Veränderungen im
Moment der Verfassung von Hoffmanns letzter Erzählung zeugen davon, dass bestimmte
soziale, wahrnehmungsästhetischen Phänomenen sowohl in der Architektur und
malerischen Repräsentationen des Platzes, als auch in der literarischen Schilderung des
Ortes anwesend sind.
Des Vetters Eckfenster im Kontext der Berlinischen Geschichten
In welcher Beziehung steht Hoffmanns letzte Berlin-Erzählung mit den im ersten Kapitel
behandelten Texten? Kann die Sonderposition Des Vetters Eckfenster im Kontext mit den
anderen Berlin-Geschichten erneut bestätigt werden? Im Gegensatz zu Des Vetters
Eckfenster, in dem die Realitäten des Gendarmenmarktplatzes dominieren, erscheinen
Berliner Orte in den anderen Erzählungen nur an der Peripherie und sporadisch erwähnt.
Nach Karl Riha, der in seiner Eckfenster-Analyse auch die anderen Berlin-Geschichten
kurz erwähnt, erscheint „die große Stadt“ in den anderen Berlin-Texten nur peripher und
dient nur zur Exposition des Phantastischen. In dieser Weise findet keine richtige
Integration des Großstadtstoffes in die Poetische statt und die geheimnissoll-skurrilen
Elemente dominieren in den Erzählungen:
In ihrem innerem Gewicht und dem Stellenwert nach sind daher die aufgeführten
Berlin-Schilderungen Hoffmanns [Das öde Haus, [Sylvesternacht Gesellschaft im
Keller] und Die drei Freunde LV] den vergleichbaren, ‚Großstadt’-Passagen bei
Nicolai oder Tieck kaum an die Seite zu stellen; sie führen nicht ins Zentrum der
jeweiligen Texte, repräsentieren nicht die zentrale poetische Absicht. Sie bleiben
außerhalb der eigentlichen Erzählung (Riha 135)
Günther Oesterle adressiert kurz diese Frage in seinem ersten Aufsatz über Des
Vetters Eckfenster. Nach seiner Meinung machen genau diese Unterschiede, die nach
130
Riha ihre Aufnahme in die Großstadtliteratur disqualifiziert, die früheren Berlin-Texte
besonders wertvoll: „Denn gerade dadurch, dass dort die äußere Topographie und
Lokalität der Städte nur das empirische Substrat für das Phantastische bilden, wird in
diesen Erzählungen die innere Physiognomie der Großstadt möglich: ihre Anonymität,
ihr Flüchtiges, ihr Unheimliches (also genau das, was Benjamin am ‚Eckfenster’
vermisst)“ (1987, 95). In diesem Zusammenhang positioniert er die Stellung des letzten
Textes in der folgenden Weise: „Wenn Hoffmann vor der Abfassung des ‚Eckfensters’
die moderne Großstadterfahrung darzustellen wusste, kann die spätere Erzählung
schwerlich pauschal, ‚als ein Zeugnis deutscher Verspätung und kleinbürgerliche
Begrenztheit,’ wie Benjamin vermutet hat, gelten“ (Oesterle 1987, 95). Beide
Interpretationen, obwohl mit unterschiedlichen Ergebnissen, argumentieren, dass Des
Vetters Eckfenster im Vergleich mit den anderen Berlin-Texten als ein Sonderstück
erscheint.
Die Analyse der früheren Texte in dieser Dissertation zeigt, dass die einzigartige
Darstellung des urbanen Raumes in Des Vetters Eckfenster sowohl eine Sonderposition
einnimmt, als auch als Kontinuität der Stadtbilder in Hoffmanns Berlinischer/Berliner
Geschichten angesehen werden kann. Konkrete örtliche und zeitliche Beziehungen zu
Berlin, die die erzählte Geschichte im Realen verankern, verbinden die Texte
miteinander. Der Gendarmenmarkt als konkret-realer Ort, auch wenn peripher, erscheint
schon auch in anderen Erzählungen. Wie viele von den anderen Berliner Orte (die Zelte
im Tiergarten und verschiedene Wohnungen in der Friedrichstadt), ist er ein wichtiger
autobiographischer Winkel Berlins.
131
Es gibt auch viele Beispiele für thematische und strukturelle Intertextualität mit
den anderen Erzählungen, auf die zum Beispiel in den Analysen der Texte Die Irrungen.
Fragment aus dem Leben eines Fantasten und Die Geheimnisse. Fortsetzung des
Fragments aus dem Leben eines Fantasten thematisch und in Seltsame Leiden eines
Theaterdirektors strukturell hingewiesen wurde. Eine Intermedialität mit dem Kunzischen
Riss kommt besonders in der panoramengleichen Struktur der Skizze zu Tage aber auch
in der Anwesenheit von konkreten Figuren, wie die Gemüseweiber, die Hoffmann aus
seinem Fenster wahrscheinlich schon lange beobachtet hatte. Es gibt jedoch keine
Referenzen auf frühere Hoffmannsche Gestalten oder fantastische Figuren in der
Erzählung, die im Kunzischen Riss erscheinen. Eher strukturell als poetologisch kann
man den Kunzischen Riss der Erzählung nebeneinander stellen, was auch für die
Beziehung zwischen Fantastik und Wirklichkeit gilt. Wie auf dem Kunzischen Riss ist sie
ausgeglichener, besser balanciert und es gibt keinen schroffen Wechsel zwischen
Wirklichkeit und Fantastik.
Wie die anderen Berlin-Texten kann Des Vetters Eckfenster als poetische
Auseinandersetzung mit der preußischen Hauptstadt und ein literarisches Dokument
angeschaut werden. Die Konzentration der Erzählung auf einen konkreten Ort, der am
Anfang der 1820er Jahren zu einem der wichtigsten Berliner Knotenpunkte und durch
seine verändernde Architektur zu einem wichtigen ökonomischen und politischen
öffentlichen Raum geworden ist, sichert unter anderem der Erzählung eine
Sonderposition im Oeuvre der Berlinischen Geschichten. Die ästhetische und politische
Sehschule, die mit den zeitgenössischen visuellen Repräsentationen des
Gendarmenmarktes korrespondiert, der Markt und das Theater und die damit
132
verbundenen neuen Wahrnehmungsformen unterscheiden die letzte Erzählung von den
früheren Berlin-Texten.
Schlussfolgerung
Vier Jahre nach Hoffmanns Tod schrieb Heinrich Heine: „Jedes Zeitalter, wenn es neue
Ideen bekommt, bekommt auch neue Augen“ (3, 149). Der Vetter, der seinem Besucher
und dem Lesen eine ästhetische, soziale und politische Sehschulung anbietet ist ganz und
gar Städter. Für ihn gibt es keine Landschaft außerhalb der Stadt. Er ist ausschließlich im
Straßengefüge zu Hause. Sein kleines Zimmer, dessen Inneres unbeschrieben bleibt, wird
mit von außen stammenden rasch ablaufenden Bildern erfüllt. Hoffmanns Erzählung
beschreibt ein bestimmtes historisches Moment zu Anfang der zwanziger Jahre des 19.
Jahrhundert in Berlin.
Die stark visuelle Narrative und die panoramatische Wahrnehmungsweise
erscheinen als notwendige Ergebnisse einer Veränderung des Verhältnisses zwischen
dem Großstadtbewohner der damaligen Zeit und seiner sozialen Umwelt. Die Art und
Weise, wie die Ereignisse eines Marktes vor der Kulisse eines Theaters auf einem Ort
von neuer bürgerlichen Öffentlichkeit beschrieben werden, erzeugt eine höchstkomplexe
Erzähltechnik, die die Grundkonstellationen einer entwickelnden urbanen
Wahrnehmungsform darstellen. An dieser neuen Wahrnehmungsform lässt sich sowohl
ein Gewinn als auch ein Verlust an Wirklichkeitserfahrung erkennen. Distanzierung und
der Primat des Sehens erlauben es, ein Geschehen in seiner visuellen Gesamtheit
abzubilden, das aus der Nähe mit seinen vielfältigen Sinnreizen das Subjekt überfordern
133
würde. Zum anderen lässt die Reduktion des Geschehens auf visuelle Eindrücke keine
sicheren und in die Tiefe gehenden Erkenntnisse mehr zu sondern nur noch Hypothesen.
Die distanzierte Beobachterposition, die Aufmerksamkeit auf das äußerliche
Detail, die Unterteilung des Sichtfeldes und der Verzicht auf tiefgreifende Erkenntnis
zugunsten eines harmonischen Gesamtbildes sind die Merkmale einer
Wahrnehmungsform, die in ihrer Betonung des Optischen schon auf die späteren Medien
der Fotografie und des Films vorausweist. An dieser neuen Wahrnehmungsform lässt sich
sowohl ein Gewinn als auch ein Verlust an Wirklichkeitserfahrung ablesen. Die erhöhte
Perspektive erlaubt einen Kontrollgewinn, indem sich ein Geschehen in seiner visuellen
Gesamtheit abzubilden lässt, während das Subjekt unten durch die vielfältigen Sinnreize
überfordert wäre. Gleichzeitig resultiert die Reduktion des Geschehens auf visuelle
Eindrücke in keinen sicheren Erkenntnissen mehr und nur Hypothesen bleiben übrig. Der
Vetter wird nie herausbekommen, ob die merkwürdige Figur ein deutscher
Zeichenmeister oder ein französischer Bäcker ist. Eine klare Identifikation der Gestalt ist
auch nicht sein Ziel.
Zu Beginn der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts geht Hoffmann auf eigene und
originelle Weise vor und bietet dem deutschen Leser eine innovative Art von
atmosphärisch und perspektivisch ausgerichteter Repräsentation an, dessen Komponente
mehrfach mit den Bausteinen des Gendarmenmarktes, der als ein komplexer urbaner
Raum fungiert, verknüpft sind. Die Entdeckung des komplexen Stadtraums und seine
Veränderungen im Moment der Verfassung von Hoffmanns letzter Erzählung zeugen
davon, dass bestimmte soziale, wahrnehmungsästhetische Phänomene sowohl in der
134
Architektur und malerischen Repräsentationen des Platzes als auch in der literarischen
Schilderung des Ortes anwesend waren.
135
KAPITEL 3.: Berlin in den Werken von Eduard Gaertner und Wilhelm Raabes Die
Chronik der Sperlingsgasse: Ein intermedialer Vergleich
Einführung
Eine von den berühmtesten literarischen Straßen in Berlin ist die Sperlingsgasse, die eine
von den ältesten Berliner Gassen ist. Die Gasse war ursprünglich mit dem Namen „Neue
Gasse zur Spree“ als Gang zur Spree angelegt worden, damit die Einwohner Cöllns bei
Feuergefahr schnell zum Wasser gelangen konnten. Der Historiker Herbert Mayer
schreibt das Folgende über die Namensgebung des Ortes: „Im September 1931
vermeldeten die Amtsblätter, dass die Spreestraße am 29. August den heutigen Namen
Sperlingsgasse erhalten hatte. Dies war die vorläufig letzte Umbenennung einer der
ältesten Berliner Straßen, deren Spuren sich bis in das 16. Jahrhundert zurückverfolgen
lassen“ (14). Der neue Name der nicht einmal 100 Meter langen Straße mit ihren 18
Häusern zwischen der Friedrichsgracht und der Brüderstraße war eine Hommage an den
Schriftsteller Wilhelm Raabe, dessen Geburtstag sich 1931 zum hundersten Male jährte.
Dass die Identität dieses Ortes in Alt-Berlin auf ein literarisches Werk
zurückgeführt werden kann, zeigt die Namensgebung eindeutig. Wie der
Gendarmenmarktplatz mit dem Schriftsteller E.T.A. Hoffmann und der Alexanderplatz
mit den Namen von Alfred Döblin verbunden ist, verweist die Taufe der Gasse auf eine
Wechselbeziehung zwischen konkreten Orten und literarisch konstruierten Räumen, die
einen gegenseitigen Einfluss aufeinander ausüben. Das von Raabe verdichtete Stück
Berlin wird in diesem Kapitel mit den Gemälden des biedermeierlichen Malers Eduard
Gaertner (1801-1877) verglichen, dessen Werke wie Raabes Chronik zum gemalten
136
Kanon der Berlin-Repräsentationen des 19. Jahrhunderts gehören. Gaertners Spektrum
reicht von der Prachtstraße Unter den Linden bis zu den von kleinen Leuten bevölkerten
Spreegassen, von den prächtigen Domen auf dem Gendarmenmarkt bis zu verfallenen
gotischen Kirchen. Gaertners Gemälde von Schinkels Neubauten in den öffentlichen
Plätzen und über den Alltag der Berliner in den versteckten Stadtteilen bestimmen
eindrücklich unser Bild von der biedermeierlichen preußischen Hauptstadt.
Anhand repräsentativer Gemälde von Eduard Gaertner und am Beispiel des
Romans Die Chronik der Sperlingsgasse werde ich in diesem Kapitel zeigen, dass die
urbane Wahrnehmungsästhetik, die wir als modern bezeichnen, wie das Verhältnis
wechselseitiger Aneignung zwischen dem wahrnehmenden Subjekt (Autor) und dem
wahrgenommenen Objekt (Stadt), der Bruch mit der herkömmlichen Erzählweise und die
Anwendung innovativer Raumkonstellationen Stadtansichten in der Malerei sowie die
Großstadttexte des 19. Jahrhunderts prägt.118 Da Raabes Erzähler Johannes Wachholder
diese Techniken aus dem Bereich der bildenden Künste ausleiht, gilt es, die intensive
Wechselbeziehung von Literatur und Malerei und die Visualität in Raabes Romanen in
Bezug auf die Großstadtbeschreibung zu untersuchen und mit den Werken des
zeitgenössischen Architekturmalers Eduard Gaertner zu vergleichen. Ein Leitfaden in der
Analyse ist die Polarität zwischen öffentlichen und privaten Räumen in der wachsenden
Großstadt, die im malerischen Oeuvre Gaertners so wie in den Berlin-Bildern von Raabe
zu Tage kommt. Die Gegenüberstellung von Text und Bild soll zeigen, dass die
malerischen und literarischen Repräsentationen von Berlin in der Mitte des 19.
118
Es kann kein allgemeingültiges ästhetisches Inventar aufgestellt werden, da auch moderne
Großstadtdarstellung durch mehrere Phasen ging. Klaus Scherpe beschreibt den transitorischen Charakter
der modernen Großstadtdarstellung und ihre drei wichtigsten Phasen in seinem Artikel “Ausdruck,
Medium, Funktionen.”
137
Jahrhunderts über ein vergleichbares ästhetisches Inventar verfügen. Beide Künstler
verwenden innovative Repräsentationstechniken, um ihre Umgebung darzustellen und in
beiden Fällen besteht ihre Motivation für diese Neuigkeiten an ihrer Absicht, die sich
verändernde Beziehung der Bewohner mit ihrem Lebensort zu definieren und im
Stadtbild auch aktuelle politische Ereignisse und Machtverhältnisse zu verdeutlichen.
Neben den ästhetischen Innovationen in beiden Bereichen machen sowohl Maler als auch
Schriftsteller einen Versuch, die von Georg Simmel beschriebene „subjektive Kultur“ der
Berliner Stadtbewohner in der wachsenden preußischen Residenzstadt zu lokalisieren.119
Obwohl die Gemälde des Architektenmalers Gaertner auf die Romane von Raabe
wohl weder direkten noch indirekten Einfluss geübt haben, kann die
Nebeneinanderstellung ihrer Werke mehrfach begründet werden. Beide bieten einen
Blick auf Berlin in der Mitte des 19. Jahrhunderts, und die Werke beider Künstler können
sowohl inhaltlich als auch strukturell interpretiert als künstlerische Reflexionen urbaner
Wahrnehmung betrachtet werden. Beide benutzen ähnliche Perspektiven und Orte, um
die Stadt darzustellen. Gaertner hat nicht nur einige von den Spreegassen gemalt, die
Raabe in seinem Roman als Titel- und Hauptort wählt, sondern er stellt auch in
berühmten mehrteiligen Gemälden (einer Sonderform der Panoramamalerei) die
preußische Hauptstadt vom Dach der neuerrichteten Friedrichwerderschen Kirche dar,
während Raabes Protagonisten sich mit dem wachsenden Berlin aus einem Fenster oder
aus einer Distanz von den nahen Hügeln blickend auseinandersetzen.
119
Vgl. dazu: „Die tiefsten Probleme des modernen Lebens quellen aus dem Anspruch des Individuums,
die Selbständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft, des geschichtlich
Ererbten, der äußerlichen Kultur und Technik des Lebens zu bewahren...“ (Hervorhebungen von mir,
Simmel Die Grosstädte und das Geistesleben, 187).
138
Das Kapitel beschäftigt sich mit repräsentativen Werken Gaertners, die in der
zweiten Hälfte des Beitrages thematisch und strukturell mit der Großstadtdarstellung
Raabes verglichen werden. Zuerst werden die von Gaertner bevorzugten Orte Berlins
untersucht und analysiert, damit die Interpretation der Chronik von Raabe in einem
breiten historischen, ästhetischen und kulturellen Kontext ausgeführt werden kann. Eine
Intermedialität entsteht zwischen dem Maler Gaertner und dem Schriftsteller Raabe auf
mehreren Ebenen, die anhand der Analyse ihrer Repräsentationstechniken und der
symbolischen Anwendung der öffentlichen und verborgenen Lokalitäten von Berlin
erläutert wird. Raabe mobilisiert ein schon den Berlinern bekanntes und früher
existierendes bildliches Reservoir in seinem Roman, in dem jedoch neben den
intermedialen inhaltlichen und strukturellen Parallelen nach der gescheiterten
Märzrevolution eine Neupositionierung der handelnden Personen stattfindet.
In der Chronik findet sich mehrmals eine Imitation bzw. eine Inszenierung der
biedermeierlichen Berliner Architekturmalerei, zu der auch die Werke Eduard Gaertner
zu zählen sind. Neben den parallelen Erscheinungen gibt es jedoch wesentliche
Unterschiede, die in erster Linie aus der zeitlichen Differenz zwischen den zwei Künstler
stammen: Gaertner stellt die Stadt nach den Befreiungskriegen als Produkt ihrer
Einwohner dar, während Raabe nach der gescheiterten Märzrevolution die bekannten
biedermeierlichen Berlin-Bilder in seinen Momentaufnahmen aus dem sozialen Leben
einer einzigen Gasse mit einer scharfen Zeitkritik der Restauration ausfüllt. Das von
Raabe mobilisierte biedermeierliche Bildreservoir wird um eine scharfe Zeitkritik der
politischen Anpassung im Nachmärz ergänzt.
139
Berlin und Eduard Gaertner
Mit der nach 1830 einsetzenden politischen und wirtschaftlichen Konsolidierung begann
der schnelle Ausbau Berlins. Kein Zufall, dass die Berliner Architekturmalerei aus dieser
Zeit eine große Zahl guter, auf Stadtmotive spezialisierte Maler hervorbrachte, zu denen
auch Eduard Gaertner zählte.120 Die malerische Tätigkeit Gaertners ist mit der deutschen
Hauptstadt, die in den 1830er und 40er Jahren für bildende Künstler einen
Anziehungspunkt bildete, eng verbunden.121 Günstig war diese Zeit für die Berliner
Architekturmaler auch wegen des ausgeprägten Interesses von Friedrich Wilhelm III. an
der bildlichen Wiedergabe der königlichen Schlösser und der regen Bautätigkeit Berlins.
In dieser Blütezeit von Vedutenmalerei gilt Eduard Gaertner als primus inter pares, als
der begabteste und vielseitigste unter den Architektenmalern der Zeit. Die
Kunsthistorikerin Irmgard Wirth schreibt das Folgende über das Gaertnersche Oeuvre:
„Es ist eine Symbiose von realistisch-dokumentarischer Wiedergabe des Gesehenen und
meist hoher künstlerischer Qualität, die in dem Architekturmaler Gaertner auch den
erstrangigen Vedutenmaler erkennen lässt“ (69).
Eduard Gaertner wurde in Berlin geboren, musste aber als fünfjähriges Kind mit
seiner Mutter die Stadt verlassen. In Kassel erhielt der begabte Junge seinen ersten
Unterricht im Zeichnen beim Hofmeister Franz Hubert Müller (Trost 6). 1813 kehrte
Gaertner nach Berlin zurück und begann eine sechsjährige Ausbildung als Porzellanmaler
bei der Königlichen Porzellanmanufaktur. Hier erhielt er nach eigenem Dafürhalten „eine
120
Andere Namen zu nennen sind Johann Heinrich Hintze, Friedrich Wilhelm Klose und Franz Krüeger.
In Gaertners rund 50 Schaffensjahren entstanden 131 und heute bekannte Gemälde; etwa die Hälfte
davon – 65 – sind Berliner Stadtansichten; ungefähr im gleichen Verhältnis bewegt sich der Berlin-Anteil
bei den mehr als 160 Aquarellen (Cosmann 81).
121
140
oberflächliche Lehre der Perspektive“ und die Fähigkeit „Ringe, Bänder und Käntchens“
zu malen.122 Mit dem Eintritt in das Atelier des Berliner Theaterinspektors und
Dekorationsmalers Carl Wilhelm Gropius bewegte sich Gaertners Laufbahn in die
gewünschte Richtung: Bei der Mitarbeit an großen Bühnenprospekten erwarb er
Kenntnisse in der Handhabung großer Formate und in der Architekturdarstellung.
Gaertner begann seine Laufbahn demnach nicht als Schüler der Akademie, sondern wie
Karl Friedrich Schinkel als Dekorationsmaler im Gropiusschen Atelier reichte er seine
Arbeiten zu Akademieausstellungen ein. Zu der Ausstellung 1827 schickte er mehrere
Arbeiten ein, nachdem er eine Reise nach Paris unternommen und zahlreiche
Stadtansichten in Öl und Aquarell von der französischen Hauptstadt gemalt hatte.123
Seine Pariser Gemälde, die über die nüchterne Architektur hinausweisend die
dargestellten Gegenstände zu einer künstlerischen Einheit zusammenschließen, wurden
von der Akademie mit Erstaunen wahrgenommen.124 Nach mehreren Reisen ließ sich
Gaertner als freischaffender Maler 1830 in Berlin nieder und begann sowohl die engen
Straßen der Innenstadt, als auch – vornehmlich in königlichen Aufträgen – die
repräsentativen Gebäude der Stadt wie Schinkels Neue Wache und das Schloss zu
malen.125 Gaertner schuf in unablässiger Tätigkeit eine große Anzahl von Ansichten von
Berliner Straßen, Plätzen und Gebäuden, deren Genauigkeit das Auge noch heute
besticht. Seine Berlin Gemälde sind nicht nur bemerkenswert präzise und realistisch,
sondern sie erfassen auch den unverwechselbaren Charakter Berlins in der Zeit des
Biedermeier und des Vormärz. Gaertner malte eine Reihe von Berliner Stadtbildern,
122
Zitiert nach Franke 412.
Anhand der Gaertner Biographien von Edit Trost und Irmgard Wirth.
124
Die Skizzen und Gemälde aus der Pariser Zeit machen deutlich, dass die Abbildung der französischen
Hauptstadt in Gaertners künstlerischer Ausbildung ein wichtiger Meilenstein war (vgl. dazu Bartmann)
125
Vgl. dazu Gaertner Biografien von Trost (12-20) und Wirth (25-30).
123
141
deren Motive er zu verschiedenen Zeiten wiederholte, wobei er die baulichen
Veränderungen genau beachtete und hinzufügte. Heute ist Gaertners Nachlass mit der
gängigen Wahrnehmung des Berliner Biedermeier streng verbunden und seine Gemälde
erscheinen oft auf Buchdeckeln von literarischen Werken, in denen die biedermeierliche
preußische Hauptstadt eine wesentliche Rolle spielt.126
Zwischen 1830 und 1840 erreichte Gaertner den Zenit seines Schaffens. Gegen
Ende der Regierungszeit Friedrich Wilhelm des III. hatte die Stadt an Pracht und
Schönheit gewonnen. Neben den Monumentalgebäuden aus den friderizianischen Zeiten
waren Schinkels Bauten errichtet worden.127 Das Industriezeitalter hatte begonnen und
der Bau der ersten Eisenbahnlinie zwischen Berlin und Potsdam war in Vorbereitung
(Bauer 262). Verglichen mit Paris oder London war Berlin mit seinen knapp 300.000
Einwohnern ein eher beschaulicher Ort, bot jedoch das ideale Architekturmotiv für
Gaertner. Die Stadt war in ständiger Veränderung, aber immer noch überschaubar. Erst
ab den sechziger Jahren verloren Architekturstücke an Popularität und Gaertner widmete
sich der Landschaftsmalerei. Der Grund für Gaertners Abwendung von der
Architekturmalerei war die Tatsache, dass Berlin mit den technischen Fortschritten,
Industrialisierung und ausgedehnten Wohnvierteln unübersichtlicher geworden war, so
dass die Architekturmalerei, die stets eine Konzentration aufs Einzelne und Zuständige
erfordert, einer neuen Sicht weichen musste. Statt Stadtbilder wurden derzeit
Genredarstellungen und Historienbilder vom Berliner Publikum bevorzugt.128
126
Zum Beispiel: in Klotz’ Buch: Raabe und Gaertner und im 20. Jahrhunderts auf den Buchdeckeln von
Georg Hermanns Romanen (Jettchen Gebert, Henriette Jakoby), aber auch auf dem Buchdeckel von
deBruyns Als Poesie gut (2006).
127
Für eine ausführliche Beschreibung der Bautätigkeit der Zeit siehe Ernst Heinrich „Die städtebauliche
Entwicklung Berlins seit dem Ende des 18. Jahrhunderts“ in Dietrich 201-237.
128
Ein Grund dafür war auch der unterschiedliche Geschmack des neuen Königs Friedrich Wilhelm den IV.
142
Es gibt einen wichtigen zeitlichen Abstand zwischen Gaertner und Raabe. Der
Text fängt an, wo die Bilder aufhören und schildert eine biedermeierliche Stadt, jedoch
auch die Folgen der Industrialisierung. Sogar ein genauer Zeitpunkt für die Trennung
kann aufgestellt werden: die Märzrevolution im Jahre 1848. Eines von den letzten Berlin
Gemälden Gaertners zeigt Barrikaden in der Breiten Straße (Barrikade in der Breiten
Straße, 1848), ganz in der Nähe der Spreegasse, die Märzereignisse spielen auch in
Raabes Roman eine wichtige Rolle und das Datum funktioniert ebenso wie bei Gaertner
als eine Zäsur.
Malerei der Spreegassen: Die Berliner Altstadt in Gaertners Gemälden
Eines von den Pionierwerken über Großstadtwahrnehmung in Literatur ist Volker Klotz’
Buch Die erzählte Stadt (1969), in dem Klotz in seiner Raabe-Analyse „Stadtflucht nach
innen“ ein Gemälde von Gaertner benutzt, um den Hauptort von Raabes Roman zu
veranschaulichen. Das Gemälde heißt Parochialstraße, ehem. Reetzengasse in Berlin und
stammt aus dem Jahre 1831. Keine der von Gaertner gemalten Gassen ist die von Raabe
beschriebene Sperlingsgasse, für die die folgenden Koordinaten vom Erzähler angegeben
werden: „Der Sperlingsgasse ist ein kurzer, enger Durchgang, welcher die Kronenstraße
mit einem Ufer des Flusses verknüpft, der in vielen Armen und Kanälen die große Stadt
durchwindet“ (BA I, 19) Während sich Raabes Sperlingsgasse in Alt-Kölln befindet,
konzentriert sich Gaertner auf die Gassen in Alt-Berlin. In diesem Sinne sind die
gemalten Gassen in Gaertners Gemälden ebenfalls enge Spreegassen, deren Funktion und
Geschichte mit der der Sperlingsgasse übereinstimmen und die zu den bevorzugten
143
Motiven Gaertners am Ende der zwanziger Jahre gehörten. In den folgenden Abschnitten
werden zwei Ansichten von diesen Gassengemälden untersucht, damit diese
Repräsentationen mit der literarischen Darstellung der Sperlingsgasse in der zweiten
Hälfte des Kapitels verglichen werden können.
Gaertners Interesse galt den Straßen in dem heutigen Nikolaiviertel, besonders der
Klosterstraße und der Parochialstraße. Die Architektur in diesem Bereich war
weitgehend von ehrwürdigen barocken Gebäuden aber auch von Neubauten geprägt.
Zwei thematisch ähnliche, jedoch in mehreren Hinsichten unterschiedliche Gemälde von
Gaertner stellen dieses Stadtviertel dar.
Abb. 14-15: Eduard Gaertner, Parochialstraße ehem. Reetzengasse (1831) und
Klosterstraße mit Parochialkirche (1830)
Das erste Bild heißt Klosterstraße mit Parochialkirche (1830) und das zweite ist das
Gemälde Parochialstraße ehem. Reetzengasse (1831), das auch Volker Klotz als
Illustration verwand.129 In beiden Gemälden werden bogenförmige Straßenverläufe mit
129
Volker Klotz nennt Raabes Debütroman „Stadtflucht nach innen,“ da der Ich-Erzähler sich bewusst ins
Bekannte zurückzieht und die Stadt in seiner Dachwohnung sitzend mit einer kontemplativen Haltung
schildert. In seiner textnahen Analyse weigert sich Klotz sogar, Raabes Roman als „Stadtroman“ zu
bezeichnen (192), da der Erzähler nicht die ganze Stadt, sondern nur einen kleinen Teil davon beschreibt
144
vorspringenden Simsen und vertikalen Gliederungselementen dargestellt und als
Hauptmotiv der Bildkomposition benutzt Gaertner einen Kirchenturm. In beiden Fällen
gibt es detailgetreu dargestellte Figuren auf dem Bürgersteig und auf der Fahrbahn.
Zwischen den zwei Ansichten gibt es aber wesentliche Unterschiede. Auf dem
ersten Gemälde dominiert ein Schinkelscher Neubau auf der rechten Seite und erzeugt
damit eine spannende Beziehung zwischen Alt- und Neubauten. Auf der linken Seite
malte Gaertner eine alte Häuserreihe, jedoch wird die Einheitlichkeit dieser Seite mit
Gerüstbalken abgebrochen, die das baldige Ende der Arbeiten an dem Observatorium der
unten liegenden Schule signalisieren (Gaertner 1801-1877, 276). Die Staffage ist auch
bemerkenswert, da Kunsthistoriker unter den dargestellten Figuren mehrere
zeitgenössische Künstler und Maler identifizieren konnten: Rechts vor dem
Erweiterungsbau steht Schinkel zusammen mit dem Begründer des Gewerbeinstituts
Peter Christian Wilhelm Beuth (Gaertner 1801-1877, 276). Links vor seiner Werkstatt
erblickt man den Bildhauer Rauch, dessen Atelier sich in der Nähe befand (ebenda). In
der Mitte des Bildes kann man den Maler Gaertner sehen und hoch auf dem Pferd der
bekannte preußische Hofmaler Franz Krüger. Diese Motivwahl erzeugt eine
Repräsentation der Stadt, in der der Status des Bürgertums akzentuiert wird und die enge
Spreegasse als „ein bürgerlicher öffentlicher Raum“ funktioniert. Eine Szene erscheint
hier auf dem Bild, dessen Staffage zur Veränderung der feudalen Stadt in ein bürgerliches
Zentrum mit ihren architektonischen Entwürfen und Kunstwerken bewusst beitragen
kann. Die berühmten zeitgenössischen Künstler führen hier Gespräche miteinander und
und er die Stadt persönlich nicht aufsucht und entdeckt, sondern sich innerhalb der Stadt in eine Gasse und
innerhalb der Gasse in eine Dachwohnung zurückzieht.
145
dadurch entstehen ein öffentlicher Raum und eine bürgerliche Öffentlichkeit in der engen
Gasse der Berliner Altstadt.
Im Gegensatz zu dem ersten Gemälde stellt die zweite Abbildung einen
pittoresken Altstadtwinkel Berlins dar, in dem die Zeit stillzustehen scheint. Mit dem
Turmhelm von St. Nikolai erinnert die Ansicht der Kronengasse an die ein Jahr zuvor
gemalte Perspektive der Klosterstraße. Aber im Kontrast zu dem dort dargestellten
großzügig dimensionierten Straßenraum scheinen sich die schmalen mehrstöckigen
Häuser zu beiden Seiten der Gasse fast zu berühren. Die Intensität des Raumes, der sich
wieder aus zwei ungleich verkürzten Häuserfluchten entwickelt, hat gegenüber der
Klosterstraße noch zugenommen. Die Staffage ist Biedermeier par excellence und zeigt
die Gemütlichkeit der anonymen, kleinen Leute. Pfeifeschmauchend lehnt ein
Kupferschmied im Türrahmen seines Ladens, „um ihn herum die Erzeugnisse seiner
Kunstfertigkeit“ (278). Auf dem Fahrdamm vor dem Nachbarhaus sägt, hackt und
transportiert man Brennholz. Auf der anderen Straßenseite stillen zwei Männer ihren
Durst. Im Kontrast zu den stadtschaffenden und berühmten Namen des damaligen
Kunstlebens in Berlin erscheinen anonyme Figuren auf diesem Bild und ein Stück AltBerlin. Ähnliche Kulissen werden auch in Raabes Chronik inszeniert, wenn der Erzähler
Johannes Wachholder über „Salatwaschen, Schuhflicken, Strümpfestopfen, Hämmern,
Sägen, Federkritzeln“ aus den Alltagen der engen Gasse benachrichtigt.
Bedeutend sind diese zwei Ansichten von Gaertner für unseren Kontext, da
Raabes Sperlingsgasse auch eine ähnliche Gasse ist, die von Leuten aus verschiedenen
gesellschaftlichen Schichten und Ursprüngen bewohnt wird.130 Während die Figuren in
130
„Jedes Alter, jeder Stand war vertreten, ja sogar die vornehmste Welt überschritt einmal ihre närrischen
Grenzen“ (BA I, 108).
146
den monumentalen Berlinansichten neben der großzügig bemalten Architektur marginal
und Klein erscheinen, werden in den zwei Gassengemälden von Gaertner bekannte und
unbekannte Bewohner Berlins als signifikante, funktionierende und agierende Glieder des
urbanen Organismus geschildert. Gaertner bildete mit diesen Ansichten Bilder eines
bürgerlichen Selbstbewusstseins ab, das auch in Raabes Debütroman thematisiert wird.
Berlin in sechs Stücken gerahmt: Eduard Gaertners Panoramabilder (1834/35)
Neben den engen Gassen malte Gaertner die neuen architektonischen Anlagen des
biedermeierlichen Spree-Athens, das er in seiner Gesamtheit auf einem
Panoramagemälde verewigt hat. Die Kunsthistoriker sind sich einig, dass der Höhepunkt
von Eduard Gaertners Gesamtwerk sein sechsteiliges Berlinpanorama ist.131 1834 begann
Gaertner sein berühmtes Gemälde, das Berlin vom Dach der von Schinkel soeben
errichteten Friedrichswerderschen Kirche darstellt. Die Friedrichswerdersche Kirche war
der erste neogotische Kirchenbau in Berlin, mit dessen Entwurf Schinkel nach einer
Verschmelzung des Mittelalters und der Antiken strebte. Das als Aussichtsplattform
genutzte Dach der Kirche war damals ein beliebtes Ausflugsziel der Berliner. Die
Friedrichswerdersche Kirche war der erste Kirchenentwurf von Schinkel und wurde
gleichzeitig mit dem Bau des Alten Museums realisiert. Der Kunsthistoriker Berry
Bergdoll macht auf die Beziehung zwischen den zwei Projekten aufmerksam, da auch das
Dach des Alten Museums als ein öffentlicher Raum angelegt worden war:
It [die Friedrichswerdersche Kirche] is the most dramatic example of the
reciprocal relationship with which he [Schinkel] sought to foster a new
connection between Berlin’s citizens and their daily environment. Just as the
staircase and roof terrace of the Altes Museum framed views of the larger urban
131
Vgl. Wirth (33), Verwiebe (103), Oettermann (171).
147
order, so Schinkel insisted that the church towers be open to the public. From here
the view was returned to the transfigured Lustgarten. (87)
Wichtig ist es zu erwähnen, dass Gaertner für diesen Blick nicht das Alte Museum,
sondern eine Kirche gewählt hat. In dieser Weise entsteht eine allumfassende Perspektive
aus einem sakralen Standpunkt. Der transformierte Blick auf die Stadt ist jedoch in einem
eigenwilligen Panorama verewigt, da Gaertner kein Rotundengemälde, kein begehbares
öffentliches Bild malte, sondern sich für sechs einzelne Tafeln, also eine zum in
Wohnräumen Aufhängen gedachte Dimension, entschied. Das von Gaertner gemalte
Berlin-Panorama besteht aus zwei Reihen von jeweils drei im Winkel zueinander
angeordneten Bildern, die einen Rundblick über die Dächer Berlins vermitteln. Die
Arbeit wurde zwar vom Hof in Auftrag gegeben, die ungewöhnliche Idee aber soll vom
Künstler selbst stammen (Trost 15). Nach dem Panoramaforscher Stephan Ottomann war
Gaertners Erfindung eine Sonderform innerhalb der Panoramamalerei des 19.
Jahrhunderts (171). Die eigenartige Gestaltung des Gemäldes erzeugt eine Spannung
zwischen öffentlichen und privaten Räumen. Öffentliche Räume der Stadt werden als ein
Innenraum dargestellt und in eine private Stube hineingebracht. Die separaten Teile des
Panoramas funktionieren als gerahmte Einzelbilder, die die Totalität der Repräsentation
in Frage stellen.
Gaertner bediente sich für seine große Aufgabe einer Camera obscura, einer
Zeichenmaschine, die benutzt wurde, wenn größte Genauigkeit in der Perspektive und in
den Proportionen erforderlich war.132 In seinem Nachlass finden sich etliche
132
Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften beschreibt anschaulich den Gebrauch der Camera obscura:
„In dieser Zeit kam Charlotten der Besuch einer Engländers sehr gelegen ... Er beschäftigte sich die größte
Zeit des Tags, die malerischen Aussichten des Parks in einer tragbaren dunklen Kammer aufzufangen und
zu zeichnen, um dadurch sich und anderen von seinen Reisen eine schöne Frucht zu gewinnen. Er hatte
148
Federzeichnungen auf Transparentpapier, die wohl in Zusammenhang mit der Benutzung
einer Camera obscura stehen und nun mit den ausgeführten Bildern verglichen werden
können. Eine aufsehenerregende Sammlung früher Fotografien aus seinem Besitz beweist
zudem das bislang nur vermutete Faktum, dass sich der Maler bei seiner Arbeit mit
diesem zu seiner Zeit neuen Medium durchaus auseinander setzte.133 Da der Zeitgeist die
Anwendung der Camera obscura – als einen die künstlerische Qualität schmälernden
Vorgang – ablehnte,134 vermied Gaertner ihre Erwähnung in seinen Tagebüchern.135 Die
Anwendung der Camera obscura fördert die Entwicklung moderner urbaner
Wahrnehmung, die man auch in Gaertners Berlinpanorama beobachten kann.136 Das
dieses schon seit mehreren Jahren in allen bedeutenden Gegenden getan und sich dadurch die angenehmste
und interessanteste Sammlung verschafft. Ein größeres Portefeuille, das er mit sich führte, zeigte er den
Damen vor und unterhielt sie, teils durch das Bild, teils durch die Auslegung. Sie freuten sich, hier in ihrer
Einsamkeit die Welt so bequem zu durchreisen, Ufer und Häfen, Berge, Seen und Flüsse, Städte und
Kastelle und manches andre Lokal, das in der Geschichte einen Namen hat, vor sich vorbeiziehen zu
sehen“ (430).
133
Ursula Cosmann hat die Fotografiesammlung des Künstlers (ausschließlich Stadtansichten von Berlin)
untersucht und einige der Fotos mit seinen Bildern verglichen. Cosmann zeigt, dass die Fotografie von
Vertretern einer realistischen Kunstanschauung, so auch von Gaertner, hochgeschätzt wurde. Sie stellt aber
auch anhand mehrerer Vergleiche zwischen Gaertners Gemälden und seiner Fotosammlung eindeutig fest,
dass Gaertners Gemälde der Fotografie überlegen ist (87). Für die Gaertner nachfolgende Generation haben
aber Architekturfotografen das Themenfeld der detailgetreuen Wirklichkeitswiedergaben übernommen und
die Malerei hat neue Themen gefunden (95).
134
Vor allem Kunstphilosophen im 19. Jahrhundert wie z.B. August Wilhelm Schlegel fanden die
Verwendung der Camera obscura problematisch: „Das bloße perpectivische Aufnehmen von Gegenden,
aufs Gerathewohl, oder um einen deutlichen Begriff von ihrer Lage zu geben, ist freylich Copisten-Arbeit,
weil nicht in das Gebiet der schönen Kunst gehört. Dabey mag auch der Gebrauch eines mechanischen
Hilfsmittels, der camera obscura, welche Algarotti so empfiehlt, sehr zu Statten kommen; dabey eigentlich
pittoresken Zwecken möchte er bedenklich sein und zu einer kleinlichen Manier hinlenken. Dieß optische
Kunststück unterjocht gleichsam dem Künstler die Landschaft und macht sie zahm, statt daß, wenn sein
Auge unmittelbar mit dem kühnen Wildheit der Natur ringt, er auch die Großheit des Anblicks in sein
verkleinertes Bild übertragen wird...“ (205).
135
Kolta beschreibt in ihrem Buch, dass es üblich war, die Verwendung der Camera obscura zu
verschweigen. Verwiede demonstriert das gleiche Verhalten in den Tagebuchnotizen Gaertners, der
immer wieder einen Euphemismus (z.B. den Ausdruck Bude) statt des Wortes ‚Zeichenmaschine’ oder
‚Camera obscura’ benutzt (Verwiede 107-8).
136
In seinem Buch Aber schickt keinen Poeten nach London! analysiert Heinz Brüggemann die
Beschreibung der Camera obscura in den Journalartikeln von London und Paris und stellt fest, dass die
Wahrnehmungsästhetik, die durch die Camera obscura ins Leben gerufen wurde, auch als Modell der
Großstadtwahrnehmung verstanden werden kann. Im Kapitel „Zauberlaterne und Schmelztiegel“ beschreibt
er eine Krise der ästhetischen Erfahrung, die die Stellung des Autors insofern betrifft, als an die Stelle
seiner individuellen sprachlichen und stilistischen Kompetenz zunehmend die Dingwelt des Alltagslebens
149
durch eine Camera obscura produzierte Bild kann das Allernächste und Bedrängende in
einem verkleinerten Maßstab bewusst machen. Die Konzentration auf einen Teil der
Großstadt entlastet den Künstler von der Überbeanspruchung seiner Sinne und von den
überwältigenden Aspekten der Stadt. Das Resultat ist ein überschaubares Bild, das eine
Distanz ermöglicht und dem Betrachter des Bildes die Illusion von Kontrolle und
Selbstverfügung vermittelt.
Panoramagemälde zeugen in dieser Weise von einem subtilen Eindringen der
technischen und industriellen Revolution in die Bereiche der Kunst. Der
Panoramaforscher Stephan Oettermann schreibt sogar, dass das Panorama nur mit dem
Beginn der Industriellen Revolution und deshalb nur in England erfunden werden konnte,
wo die Industrialisierung am weitesten fortgeschritten war (38). Zur Erreichung
vollkommener Illusion mussten neue Techniken der Malerei, vor allem aber neue
Techniken der Präsentation des Bildes entwickelt werden. Um die Illusion zu steigern,
musste das Bild den Betrachter vollständig umgeben, um ihm den Vergleich mit realer
Natur unmöglich zu machen. Die Mechanisierung der Abbildung mit der Hilfe einer
Camera obscura, die Lösung schwieriger perspektivischer Probleme und der Bau einer
Rotunde, um die größtmögliche Täuschung zu garantieren, deuten auf eine neue
Verbindung zwischen Kunst und Technik hin. Technik erscheint bei Gaertner nicht in
dem Sinne, dass eine industrialisierte Stadt dargestellt wird, sondern durch die
Repräsentationstechnik, die mit der Hilfe der Camera obscura ermöglicht wird.
Das Panorama war aus mehreren Gründen ein Massenmedium. Einerseits ist die
Betrachtung von Panoramen mit kollektiver Wahrnehmung und der Erscheinung von
als organisierende Instanz tritt (21). Eine ähnliche Erfahrung also, die die Maler bei der Verwendung einer
Camera obscura erlebt haben könnten.
150
Massen in den Städten verbunden. Panoramen waren mehrere Tafelbilder, die in den
kreisförmigen Rundgemälden aneinandergereiht waren. Ein solches Bild, das z.B. acht
Einzelperspektiven aneinander reiht kann nicht nur von einer, sondern gleichzeitig von
acht Personen betrachtet werden. Bei einem vollendeten Kreisbogen ist aber die Anzahl
der Augenpunkte unendlich. Diese „Demokratisierung“ der Perspektive ermöglicht, dass
Panoramabilder von bis zu 150 Personen gleichzeitig angesehen werden können
(Oettermann 26). Dieses Phänomen veränderte auch die Ausstellungspraxis. Im
Gegensatz zu in privaten Räumlichkeiten aufbewahrten Bildern waren Panoramen der
zahlenden Öffentlichkeit zugänglich. Dementsprechend kann man eine Veränderung in
den Bildinhalten beobachten: Anstatt von mythologischen und allegorischen
Darstellungen, die nur von einem begrenzten Publikum interpretiert werden konnten,
wurden realistische Stadt- und Landschaftsdarstellungen und real-politische Ereignisse
populär. Die Sonderform von Gaertners Panorama zeigt jedoch, dass seine Absicht kein
richtiges Panorama war, das für ein breites Publikum gemalt worden wäre.
Warum ging aber das Publikum, das seine Hauptstadt kennen lernen wollte,
lieber in die Panoramaausstellungen als auf die Türme von Kirchen? Die Panoramen
hatten den Vorteil, dem Besucher einen privilegierten Standort anzubieten, von dem die
Wirklichkeit völlig ausgeklammert wurde. Im Panorama ist das Gesehene dem Betrachter
ausgeliefert, und er kann es ungestört analysieren. Wenn er von der erhöhten Plattform
herabblickte, konnte der Besucher des Panoramas sich dem Eindruck hingeben, die
dargestellte Wirklichkeit zu kontrollieren. In seinem Buch Framing Attention schreibt
Lutz Koepnick diesen Mechanismus auch Gaertners Berlin-Panorama zu:
Artists and scientists here joined their efforts in order to present the city as a
meaningful unity, a coherent cosmos to be discerned in its spectacular totality by
151
a distant and detached observer. Through it effectively mobilized the viewer and
this participated in the modernization of sight in the early nineteenth century,
Gaertner’s spectacular panorama fortified long familiar viewing habits that Mary
Pratt calls the ‚monarch-of-all-I-survey’ position. […] the ‚monarch-of-all-Isurvey’ gaze fuses the aesthetic experience of panoramic landscapes, as seen from
an elevated point of view, with the act of imperial appropriation. […]Rather than
displace this familiar rhetorical fusion, Gaertner’s panorama reinvented it for the
sake of entertaining his viewers with at once realistic and scientific observations
of contemporary Berlin. (55).
Obwohl Gaertner die Mehrheit von seinen Gemälden im Auftrag „Seiner Majestät“
Friedrich Wilhelm III. anfertigte, wird hier die königliche Residenzstadt eher als eine
„bürgerliche Bildungslandschaft“ statt einer illusionären Schaustellung dargestellt, in der
ästhetischer Genuss, räumliche Ordnung und die Ausübung von Macht die wichtigsten
Komponenten wären. Der Künstler befindet sich auf der gemeinsamen Ebene mit dem
Bildbetrachter und bietet ihm eine an der Wirklichkeit orientierte Darstellungsweise an.
Die „monarch-of-all-I-survey“ Position erscheint in diesem Sinne problematisch, da der
Betrachter des Panoramas nicht mehr sieht als die Berliner, die sich vom Dach der
neuerrichteten Kirche die preußische Hauptstadt angesehen haben. Gaertner verwendet
einen realen den damaligen Einwohnern zugänglichen Standort und eine reale
Perspektive, die jeder Berliner erfahren konnte. Dieses Konzept erscheint nicht nur bei
Gaertner, sondern auch in den Gemälden von anderen zeitgenössischen Vedutenmaler.
Die Kunsthistorikerin Renate Franke charakterisiert die Berlin-Ansichten von Eduard
Gaertner und Franz Krüger in der folgenden Weise: „ihre Bildkonzepte sind nicht auf
Belehrung ‚von oben herab’, sondern auf den Dialog von gleich zu gleich ausgerichtet“
(155). Während der Betrachter des Bildes sich mit dem Maler identifizieren kann, erhält
er auch eine aktive Rolle. Von einem öffentlichen Standpunkt im Zentrum Berlins wird
eine Vista auf die Schauplätze der bürgerlichen Öffentlichkeit dargestellt. In diesem
152
Kontext wird die traditionelle „monarch-of-all-I-survey“ Position mit neuen bürgerlichen
Elementen ergänzt.
Um Gaertners Position in der Entwicklung der Architekturmalerei besser zu
verstehen, sollen die Details des Panoramas untersucht werden. Das Panorama präsentiert
den Rundblick auf die preußische Residenz mit ihren bedeutenden Gebäuden und
Plätzen. Warme, reich nuancierte Farbigkeit entfaltet sich im sommerlichen
Nachmittagslicht, das bereits lange Schatten wirft und die Plastizität der Architektur zur
Geltung bringt.
Abbildung 16: Eduard Gaertner, Ein Panorama von Berlin, von der Werderschen Kirche aus aufgenommen
(1834)
Nach Norden gerichtet, geht der Blick von der Hedwigskirche, Oper und Universität zum
Zeughaus, Museum, Dom und Schloss. Richtung Süden wandert das Auge von der
nahezu vollendeten Bauakademie über Wohngegenden, den Kreuzberg in Hintergrund,
bis hin zum Gendarmenmarkt.137 Die öffentlichen Gebäude und bürgerlichen
Versammlungsorte wie Universität, Oper und das von Schinkel errichtete Alte Museum,
das Schauspielhaus sowie die Bauakademie sind würdig präsentiert, jedoch wird das
137
Da ich nicht zu allen Details der Gemälde Zugang hatte, stammt diese Identifizierung der öffentlichen
Gebäude größtenteils von der Bildbeschreibung der Kunsthistorikerin Birgit Verwiebe.
153
königliche Schloss an den Rand gedrängt. Wie in der Repräsentationstechnik erscheint
ein Bestreben auch in der Thematik des Bildes, Berlin als bürgerliche Stadt darzustellen,
der nach den Befreiungskriegen eine gewisse Demokratisierung stattgefunden hat.
Den größtmöglichen Blickwinkel benutzte Gaertner nicht nur, um das Profil der
Stadt festzuhalten, sondern auch um sie als Lebensort zu zeigen und vom Alltag ihrer
Bewohner zu erzählen. Der detaillierten Beschreibung des Panoramas durch die
Kunsthistorikerin Birgit Verwiebe zufolge schenkt Gaertner seine Aufmerksamkeit auch
den Berliner Einwohnern. Voyeuristisch lässt Gaertner seinen Blick sogar in mehrere
Fenster der naheliegenden Wohnungen fallen. Im Gemälde können unter anderem
Wäsche waschende Frauen, Männer mit Karren, Fässer transportierende Kahnfahrer, ein
Pfeiferaucher am Fenster, eine Bettenklopferin und ein Schornsteinfeger beobachtet
werden (Verwiebe 106). Über Straßen und Plätze bewegen sich Spaziergänger, Reiter,
Kutschen, Lustgarten- und Museumsbesucher. Nicht zuletzt beleben Kinder aber auch
Tiere wie Hunde, Tauben, Schwäne und Pferde das Geschehen. Geschichten werden
erzählt und transitorische Ereignisse als prägnante Momente dargestellt, die die Fantasie
des Betrachters mobilisiert. Gaertners Figurenstaffage erzählt mehrere Geschichten aus
dem Alltag der preußischen Hauptstadt und ihrer Bewohner, die bewusst mehrere
gesellschaftliche Stände repräsentieren. Die anonymen Leute werden jedoch nie kleiner
als diejenige, die bekannte Namen tragen, dargestellt.
Kunsthistoriker haben mehrere der Figuren im Panorama als Gaertners
Zeitgenossen identifiziert. An der Balustrade steht zum Beispiel Karl Friedrich
Schinkel138 und ihm gegenüber Alexander von Humboldt,139 der, an einem Fernrohr
138
Berry Bergdoll schreibt sogar, dass Schinkel Gaertner gebeten hat, einige Teile der Gemälde nach
seinem Geschmack anzufertigen: „Schinkel even asked Gaertner, whose preparatory drawings he reviewed,
154
stehend, in Richtung Friedrichsforum weist (Verwiebe 107). Sein Fernrohr bietet den
Schlüssel zum Verständnis von Gaertners Bildwelt: Das Einzelne kann optisch durchaus
nah herangeholt und für sich betrachtet werden, es bleibt aber immer Teil des urbanen
und sozialen Organismus. In jedem Detail des Gemäldes erschließt sich eine eigene
Bildwelt. Die Alltagsszenen und die repräsentativen öffentlichen Gebäude schließen sich
jedoch im Panorama zu einer künstlerischen Einheit zusammen, die über ein nüchternes
Inventar von Berlin und seinen Bauten und Bewohnern hinausweist und ein
harmonisches, einheitliches Stadtbild entstehen lässt. Ein künstlich erschaffenes Berlin,
das Produkt seiner Bewohner ist, erscheint hier, in dessen Stadtbild die letzten
Bauarbeiten ausgeführt werden.
Gaertner hat die Architekturmalerei zu einer Aussageform gesteigert, die neben
der Topographie auch das Wesen der Stadt sichtbar macht.140 Um eine bildliche Einheit
zu erzielen, hat Gaertner die in Panoramagemälden übliche Technik benutzt und das
Kirchendach und die darauf befindlichen Zuschauer in den Vordergrund des Bildes
gebracht. Obwohl Gaertners Bilder von einer größtmöglichen Exaktheit zeugen und die
Einbeziehung des Vordergrunds ins Gemälde den täuschenden Charakter der
Panoramabilder evozieren, sind sie weder biedermeierliche Stadtveduten, noch
illusionäre Panoramabilder, sondern „urbane Bildungslandschaften,“ in denen die zivilen
to depict a workman still completing one of the church’s brick finials which otherwise would have
obstructed the view of the side elevation of the Altes Museum“ (65).
139
Renzo Dubbine begründet Humboldts Anwesenheit im Gemälde folgendermaßen: „The scientific
descriptions of Humboldt, the great naturalist, had been an inspiration for artists. Putting these two men
[Schinkel und Humboldt] in the panorama was a dual homage to the architect and constructor of a new
artificial landscape and to the scientist and investigator of the physical world. This panorama’s vast but
detailed view was analogous to the total, multilevel vision of von Humboldt’s Kosmos (1845-62), a
complex work on changes in the observation of natural phenomena that documents ways in which
humankind has changed its landscape“ (81).
140
Vgl. dazu Bartmans Analyse, der Gaertners Werk als eine Verbindung aus Elementen der
klassizistischen und der romantischen Schule in ihrer Betonung der Komposition einerseits und des
Kolorits andererseits versteht (Bartmann 65).
155
Umgangsformen einer bürgerlichen Gesellschaft gezeigt und auch praktiziert werden.
Gaertners Werk ist eine Synthese von den zwei Genres, ein Umstand, der Gaertner eine
Sonderposition in der Geschichte der Panoramamalerei sichert.
Die auffälligste Komponente des Panoramabildes ist Gaertners Absicht, neben
dem Interesse der damaligen Berliner sein eigenes Interesse an ihrer Stadt sichtbar zu
machen. Alexander von Humboldt mit seinem Fernrohr und weitere Einzelheiten im Bild
– kleine Szenen, in denen in und aus Fenstern hinein- und hinausgeblickt wird –
offenbaren eine generelle Neugier und visuelle Eroberungslust der Stadtbewohner.141 Als
einen der Besucher des Aussichtdaches hat Gaertner sich selbst dargestellt. Sein eigenes
Sehen reflektierend, weist er sich selbst als Urheber und Gestalter seines Blicks aus, d.h.
er präsentiert sich selbst mit dem deutlichen Selbstbewusstsein des modernen Künstlers.
Hinter ihm lehnt eine Zeichenmappe mit der Aufschrift: „Panorama von Berlin
aufgenommen im Jahre 1834 von E. Gaertner“ (Vorwiebe 106). Das wahrnehmende
Subjekt Gaertner versteht sich selbst als Teil der wahrgenommenen urbanen Landschaft
und findet es wichtig, die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf die Figur des schaffenden
Künstlers zu lenken.
Obwohl die Stadt noch als eine übersehbare und einheitliche urbane Landschaft
erscheint und Gaertner Berlin als eine progressive politische Landschaft malt,
manifestiert im Gemälde eine kaum merkbare Spannung zwischen der AutonomieÄsthetik der bürgerlichen Epoche und dem möglichen Verlust der individuellen
Souveränität in der wachsenden Großstadt. Diese Kontrolle über den urbanen Raum zeigt
sich einerseits in Gaertners Liebe zum Detail, so dass sich Lage und Aussehen der
141
Beispiele dafür: aus einem Wohnhausfenster in Höhe des Schauspielhauses schaut ein Kind einer Frau
zu, aus einem Fenster eines Wohnhauses beobachtet eine Familie mit einem Kleinkind Tauben etc.
(Verwiebe 106-7).
156
einzelnen Straßen noch heute genau nachprüfen lassen. Andere Zeugnisse für diese
Kontrolle sind die zur Orientierung des Betrachters benutzten Titel, die Gaertner unter
das Bild gemalt hat. Alle Bezeichnungen beziehen sich auf Gebäude von Berlin außer der
einer, die mit „Selbstbildnis“ überschrieben ist.
Die Kontrolle erscheint am markantsten in der eigensinnigen Form des
Panoramas, das aus sechs separaten, gerahmten Bildern besteht.142 Die sechs separaten
Bilder können im Vergleich zu den echten Rundgemälden als eine einfacher
„konsumierbare Menge“ verstanden werden. Die Umrahmung gestattet dem Betrachter
eine Sichtweise, sich auf in der Großstadt Vertrautes zu konzentrieren und die Stadt zu
überblicken. Wie die Anwendung der Camera obscura, so ermöglicht die Umrahmung
der einzelnen Bestandteile eine kontemplative Distanz, die die Zuschauer benutzen
können, um sich selbst in das Stadtbild einzuordnen. Die Verwendung des mechanischen
Apparates, die Anwesenheit der Rahmen und die Anwendung der erhöhten Perspektive
erlauben dem Maler, die wachsende Stadt aus der Höhe im Blick – und gleichzeitig unter
Kontrolle – zu halten, um davon soviel wie möglich im Bild festhalten zu können. Die
harmonische Einheit des Bildes vermittelt den Eindruck, dass die Stadt interpretierbar
und überschaubar ist. Gaertner kreiert eine Fiktion des Wissens über den urbanen Raum
und transformiert das Durcheinander der Stadt in ein klar lesbares Bild. Henri Lefevbre
schreibt in dem Essay “Seen from the Window” das Folgende: „the one walking on the
street is immersed into the multiplicity of noises, rumours, rhythms [...] but from the
window noises are distinguishable, fluxes separate themselves, rhythms answer each
142
Nach den meisten Gaertner-Forscher kann die merkwürdige Form dadurch erklärt werden, dass
Gaertners Gemälde nicht für ein massenhaftes, zahlendes Publikum bestimmt wurde, sondern für einen
einzelnen Privatmann berechnet war. Oettermann spekuliert jedoch, dass Gaertner das Panorama anfangs
als richtiges Rundbild geplant hat, dann aber sein ursprüngliches Vorhaben aufgab, weil er für das Projekt
keinen Mäzen gefunden hat (171).
157
other. […] So there is a relative silence in the crowd. […] It’s incredible what one sees
and hears (from the window). Strict harmony“ (220). Die erhöhte Position am Fenster
erzeugt eine paradoxe Situation, wie der Literaturkritiker Heinz Brüggemann beschreibt.
Laut Brüggemann ist der Fensterblick eine Wahrnehmungsform des vereinzelten
Subjekts der großen Städte, „ein Abbruch mit aller lebendigen, aktiven Kommunikation
mit der Außenwelt“ (Das andere Fenster, 13). Durch das Fenster, und auch durch den
Rahmen in Gaertners Gemälde, entsteht eine Distanz, die es ermöglicht, das
Mannigfaltige in einem Bild fixieren zu können.
Es gibt jedoch Zeichen für eine Spannung zwischen Allwissenheit und
Fragmentierung in Gaertners Darstellung. Die separaten Teile brechen mit der
illusorischen absoluten Repräsentation Berlins und implizieren eine Diskontinuität und
Fragmentierung in der Darstellung des urbanen Raumes. Gaertners Bild, obwohl bewusst
Panorama genannt, verzichtet auf die dem Panorama eigene Form und stellt den
Rundblick auf einzelnen Flachbilder dar, was eine ganz andere Art von Rezeption
verlangt. Anstatt dem Zuschauer einen allwissenden Anblick zu versprechen, gewöhnt
Gaertner ihn absichtsvoll oder unabsichtlich daran, dass die Darstellung der Großstadt als
eine zusammenhängende, harmonische Ganzheit nicht mehr möglich ist. Die Hegemonie
des Blicks des Betrachters der Stadt ist, allerdings noch fast unmerklich, schon in Frage
gestellt. Im Gegensatz zu den illusionären Rundgemälden wird man in Gaertners Werk
mit einer Fragmentierung des urbanen Raumes konfrontiert, die auch in der
Repräsentation der Großstadt in den Romanen von Wilhelm Raabe entdeckt werden
kann.
158
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Gaertners Oeuvre aus dem Berliner
Biedermeier eine Varietät von urbanen Szenen darstellt, in denen unterschiedliche
Lokalitäten des sich verändernden sowie des alten Berlins aus verschiedenen
Perspektiven geschildert werden. In allen Fällen entfaltet sich ein harmonisches Bild der
Großstadt, in der die Bewohner eine aktive Rolle spielen und das Stadtbild selbst
verändern und bewirken können. Gaertners Gemälde stellen eine Totalität des
biedermeierlichen Berlins dar und zeugen, wie die Repräsentationen des
Schauspielhauses von einer Demokratisierung der Perspektive aus einer Zeit, in der die
preußische Grosstadt noch über übersichtliche Proportionen verfügte. Mit dem Ausklang
der Berliner Vedutenmalerei fällt die Geburt von Raabes Chronik überein, die bekannte
Berlin-Bilder mit neuen Themen ausfüllt und die von Gaertner und seinen Zeitgenossen
produzierten Wahrnehmungen Berlins in dem ersten Berlin-Roman einerseits übernimmt
und in seinem Text ins Szene setzt, andererseits auch wegen des zeitlichen Abstandes
verwandelt.
159
„Ohne Bekannte und Freunde in der großen Stadt“: Wilhelm Raabe in Berlin
Abbildung 17: Wilhelm Raabe, Tuschzeichnung
Die Tuschzeichnung, vermutlich für die Mutter des Künstlers als Beilage eines nicht
abgeschickten Briefes angefertigt, stellt Raabes Berliner Zimmer im ersten Stock des
Hauses in der Spreegasse Nr. 11 dar.143 Im Zentrum des Bildes sitzt, zwischen zwei
majestätischen Fenstern, der 24jährige Schriftsteller, dessen Erstlingswerk ihm schnell
einen literarischen Ruf eingebracht hat. Wie die Tuschzeichnung zeigt, zählt Wilhelm
Raabe zu den Künstlern, denen nicht nur die Sprache, sondern auch die bildnerische
143
Vgl. dazu die Beschreibungen dieser Zeichnung in Hoppe 21 und Fuld 94.
160
Ausdruckskunst zu Verfügung stand. In der Zeichnung des Zimmers des angehenden
Schriftstellers liegen auf dem schmalen Schreibtisch Manuskriptblätter, auf der
Kommode rechts steht eine kleine Lampe, die Raabe von Umzug zu Umzug immerfort
begleitet hat.144 Hier begann Raabe am 15. November 1854 mit der Abfassung der
Chronik der Sperlingsgasse, nach der die Spreegasse später in Sperlingsgasse umgetauft
wurde.145 Die Zeichnung, eine Art Selbststilisierung als Schriftsteller präsentierend, zeugt
davon, dass das Doppeltalent Raabe sich während seines Berliner Aufenthaltes für die
schriftstellerische Laufbahn entschieden hat. Der Spiegel an der Wand reflektiert auch,
dass Raabes erster Berlin-Aufenthalt eine Selbsterfindung and Selbstkenntnis erzeugt hat.
Wie E.T.A. Hoffmanns Schlafzimmer in seinen Details mit der Beschreibung des
Raumes in der letzten Erzählung Des Vetters Eckfenster übereinstimmt, ist auch Raabes
Erstlingsroman stark autobiographisch geprägt.146 Berlin war offenbar in Raabes Leben
ein wichtiger Meilenstein; die preußische Großstadt diente nicht nur als Hintergrund,
sondern auch als Subjekt für sein literarisches Debüt.
Berlin war damals zwar eine Großstadt, aber mit seinen rund 400 000 Einwohnern
im Jahre 1854 noch vergleichsweise überschaubar und architektonisch vom Klassizismus
geprägt. In rascher Folge erstanden jedoch die ersten großen Eisenbahnlinien, die eine
Grundvoraussetzung für den gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung bildeten. Berlin
war auf dem Weg, sich von der Provinzstadt zur Industrie- und Kulturmetropole zu
verwandeln. Als Raabe 1854 in Berlin eintraf, versuchte er, das Berliner Großstadtleben
144
Vgl. dazu Hoppe 35, Fuld 94-5.
Die berühmte Datumsangabe vom 15. November oder wie in der Raabe-Forschung bekannt
„Federansetzungstag“ stimmt nach Fuld nicht. In einer sorgfältigen und einleuchtenden Analyse von
Raabes Berliner Leseerlebnisse bestätigt Fuld, dass das obige Datum nach Ticks Novelle Der fünfzehnte
November konzipiert worden ist. Vgl. dazu Fuld 88-9.
146
Siehe zum Beispiel das folgende Beschreibung Wachholders: „ein Student der Philosophie in der großen
Haupt- und Universitätsstadt“ (44)
145
161
kennen zu lernen. Er studierte in Berlin das Schöne sowie das Hässliche des
Großstadtlebens. Der junge Raabe ging in öffentliche Bibliotheken, in private
Leihbüchereien, ins Theater, in die Oper und betrachtete die verschiedenen Baustile der
Berliner Häuser, um sich ein Bild von der gesamten Architektur zu machen.147 Er
wanderte stundenlang durch die Straßen Berlins, beobachtete aber nicht nur die
prachtvollen Teile der Stadt, sondern auch die Arbeitersiedlungen in den alten
Vorstadtgemeinden. Hier wurde er zum ersten Mal in seinem Leben mit der Armut des
Volkes konfrontiert, die nicht in seine bürgerliche Vorstellung von der geordneten Welt
passte. In der Stadt der „zusammengedrängten Hunderttausenden“ (BA 2, 477) begegnete
Raabe neben dem prachtvollen bürgerlichen Leben auch Pauperismus in den
Elendsvierteln und den bereits grauenvollen sozialen Zuständen in den dunklen Gassen
der Arbeitervierteln.148
Raabe kam nach Berlin, um sein Universitätsstudium zu absolvieren. Er hörte
Vorlesungen über Geschichte, Literatur und Kunstgeschichte. In Berlin wurde Raabe
auch leidenschaftlicher Buchkonsument: er liest angefangen von Hölderlin zu Balzac,
Longfellow und Edgar Allan Poe, Dickens und Hegel – alles was ihm angeboten wird
(von Studnitz 103-4). Später – eindeutig autobiografisch – beschreibt er sein
Berlinstudium in Theklas Erbschaft in der folgenden Weise:
Ich war ein Student und ich studierte in Berlin die schönen Wissenschaften und
die hässlichen, für das Vergnügen und ums liebe Brot. Ich studierte aber auch das
147
Nach den Briefen und Tagebuchnotizen konnten die Biographen Cecilia von Studnitz und Werner Fuld
die Details von Raabes Berliner Aufenthalt recht genau rekonstruieren. Vgl. dazu Fehse 125-149, Fuld 6799 und Studnitz (97-119).
148
Vgl. dazu Raabes Beschreibung der Armenviertel Berlins: „Eng, steil und dunkel sind in der
Dunkelgasse die Treppen der Häuser, die Wände salpeterglänzend, der Boden feucht und moderig. Feucht
und moderig ist alles hier, und das Geschlecht, welches auf solchem Boden vegetiert, steht meistens in
demselben Verhältnis zu den begünstigteren Schichten der menschlichen Gesellschaft, wir die wunderbare
Pilzwelt, die im Schatten, in der Feuchte unendlich aufschießt und verwest, zu den gepflegteren
Gewächsen in den Gärten“ (GW I, 190).
162
Leben, und in ihm das Schöne und das Hässliche von demselben Blatt; -- o großer
Gott, was studierte ich alles! Es ist mir heute noch ein Mirakel, dass ich nicht mit
einem Riss, einem Sprung im Hirnkasten oder einem darum gelegten eisernen
Bande herumlaufe; die Gehirnerweiterung war zu mächtig. (BA 2, 376)
Vor allem war aber Raabe in der Großstadt mit sich selbst und mit seiner Einsamkeit
konfrontiert. Er mied Bekanntschaften und zog sich in seine Wohnung zurück, wie er in
seinem Tagebuch notiert: „Ohne Bekannte und Freunde in der großen Stadt war ich
vollständig auf mich selbst beschränkt und bildete mir in dem Getümmel eine eigene
Welt“ (BA 2, 66). Nach einem halbjährigen Berliner Aufenthalt entdeckt Raabe, was
genau seine eigene Welt werden wird.
Menschen mit ausgesprochener Doppelbegabung haben es oft nicht leicht, ihre
wahre Berufung zu definieren. Raabe war von frühester Jugend zum Zeichnen und Malen
hingezogen und spielte auch mit dem Gedanken, sich zum Maler ausbilden zu lassen
(Hoppe 18). Seine Mutter ließ ihm zu diesem Zweck bei einem Braunschweiger Grafiker
und Maler Privatunterricht geben. Raabe, der bestrebt war, die Techniken des Zeichnens
und Malens zu erlernen, benutzte seine Schreibfeder sein ganzes Leben hindurch auch
zum Zeichnen. Bleistift, Kohle und Aquarellfarben vervollständigten das Werkzeug, mit
dem Raabe auf Schreibpapier, Notizbuchblättern, Rückseiten von Einladungskarten,
Briefumschlägen, erledigten Rechnungen, Manuskripträndern – auf jedem geeigneten
Stück Papier - zeichnete (Peter 14). In der Berliner Zeit hat sich Raabe nach der
Abfassung der Chronik für das Dichtertum entschieden, obwohl die Zeichenfeder sein
dichterisches Schaffen zeitlebens begleitete. 149
149
Die Raabe-Forscher Hans-Werner Peter und Karl Hoppe beschäftigten sich mit dem zeichnerischen und
malerischen Nachlass Raabes. Beide argumentieren, dass Raabes nahezu unbekanntes zeichnerisches und
malerisches Werk ergänzend und oftmals gleichwertig neben das dichterische Werk gestellt werden kann.
163
In der textnahen Analyse von Raabes Briefen aus der Berliner Zeit bestätigt der
Biografieforscher Werner Fuld, dass Raabe im Schreiben der Chronik seine Identität und
sein Berufsziel gefunden hat (97). Die Niederschrift der Chronik war nach mehreren
Raabe-Forschern eine Flucht in die Kreativität und eine Art Selbsttherapie.150 In Berlin,
frei von familiärem Druck und beruflichen Verpflichtungen, konnte Raabe eine
Selbstdefinition formulieren und, wie die obige Zeichnung darstellt, sich als Schriftsteller
definieren. Obwohl die im Oktober 1856 erschienene Chronik kein finanzieller Erfolg
wurde, wurde sie ein Leseerfolg in Berlin und begründete Raabes schriftstellerischen
Ruf.
Intermedialität zwischen Gaertner und Raabe: Malerei der Spreegassen und Die
Chronik der Sperlingsgasse
Im Gegensatz zu Gaertner vermeidet Raabe die öffentlichen Räume der preußischen
Großstadt und zieht sich in eine enge, versteckte Spreegasse in der Altstadt Berlins
zurück. Sein Protagonist, der alte Chronikschreiber Johannes Wachholder, bevorzugt die
verborgenen Straßen der Großstadt, wie er dem Leser schon am Anfang seiner Chronik
bekannt gibt: Die „krumme[n], dunkle[n] Gassen [sind] Mittelpunkte einer vergangenen
Zeit“ (10). Die Bewohner der alten Stadtteile benehmen sich anders; diese Plätze
verfügen noch über eine benjaminische ‚Aura,’ über eine gegebene räumliche, zeitliche
und sensuellen Eigenartigkeit.151 Im Kontrast zu der vornehmeren, aber auch öderen
150
Vgl. dazu Fuld 81-2, Studnitz 118.
Siehe Walter Benjamins Aurabegriff in „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit“; vgl. auch dazu das folgende Zitat aus der Chronik: „Selbst die Bewohner des älteren
Stadtteiles scheinen noch ein originelles, sonderbareres Völkchen zu sein als die Leute in den modernen
Viertel“ (Chronik 10). Fast alle Sinneseindrücke werden hier benutzt und erwähnt: „Die Dämmerung, die
Nacht produzieren hier wundersamere Beleuchtungen durch Lampenlicht und Mondschein, seltsamere
Töne als anderswo. Das Klirren und Ächzen der verrosteten Wetterfahnen, das Klappen des Windes mit
151
164
Neustadt, auf deren „liniengerade[n], parademäßig[en] aufmarschierte[n] Straßen und
Plätze[n]“ sich ein neues Leben entfaltet, enthält die kleine Straße „die wahre
Geschichte“ (BA I, 15).
Expliziter als E.T.A. Hoffmann kritisiert auch Raabe das aufklärerische
Stadtmodell und die bewusste Stadtplanung, als sein Protagonist sich über die Monotonie
der Friedrichstadt beklagt und eine deutliche Präferenz für die Lokalitäten der Altstadt
ausdrückt:
Ich liebe in großen Städten diese alte Stadtteile [...] ich liebe sie mit ihren
Giebelhäusern und wundersamen Dachtraufen, mit ihren alten Kartaunen und
Feldschlangen, welche man als Prellsteine an die Ecken gesetzt hat. Ich liebe
diesen Mittelpunkt einer vergangenen Zeit, um welchen sich ein neues Leben in
liniengeraden, parademäßig aufmarschierten Straßen und Plätzen angesetzt hat,
und nie kann ich um die Ecke meiner Sperlingsgasse biegen, ohne den alten
Geschützlauf mit der Jahreszahl 1589, der dort lehnt, liebkosend mit der Hand zu
berühren. (BA I, 22)
Die Beschreibung der kleinen Gasse zeugt von einer Intermedialität mit den
Gassengemälden von Gaertner, in denen die Gemütlichkeit eines pittoresken Winkels der
Berliner Altstadt aber auch das Eindringen der Veränderungen nachhaltig sind. Wie in
Gaertners Gassengemälden wird eine Kirche, bei Raabe die in der Nähe stehende
Sophienkirche in Alt-Kölln, als ein wichtiger Beziehungspunkt konnotiert.152 Die
den Dachziegeln, das Weinen der Kinder, das Miauen der Katzen, das Gekeife der Weiber, wo klingt es
passender – man möchte sagen dem angemessener, als hier in diesen engen Gassen, zwischen den hohen
Häusern, wo jeder Winkel, jede Ecke, jeder Vorsprung den Ton auffängt, bricht und verändert
zurückwirft!“ (34); „Hier gibt es noch die alten Patrizierhäuser, -- die Geschlechter selbst sind freilich
meistens lange dahin – welche nach einer Eigentümlichkeit ihrer Bauart oder sonst einem Wahrzeichen
unter irgendwelcher naiven merkwürdigen Benennung im Munde des Volks fortleben.“ (36)
152
Alt-Berlin: „In der alten [Sophienkirche] war’s, wo eine Tafel an der Wand hing, wo die Namen aller
der darauf standen, welche in dem Franzosenkriege aus unserem Viertel gefallen waren, und worunter auch
meine Jungen waren: Ludwig Friedrich Karl Karsten und Wilhelm Johannes Albert Karsten. Die Tafel
hatten wir unserm Kirchenstuhl gerade gegenüber, und des Sonntags schauten wir immer darauf und
dachten an unseren braven Jungen, und mein Alter war stolz auf die Tafel und ich auch, wenn ich auch
genug darüber geweint hatte und noch weinte.“ (BA I, 122) Die Geschichte der Sophienkirche beschreibt
auch impliziter Weise die Ereignisse im Jahre 1848 als eine Zäsur in der deutschen Geschichte.
Beschreibt wie die Kirche abbrennt und die Tafeln vernichtet werden. „Mutter Gottlob, die Tafel ist
verbrannt“ (BA I, 123).
165
Glocken der Kirche mit einer direkten Anspielung auf Schillers berühmtes Gedicht
funktionieren als ein textverknüpfendes Motiv, das das Rückgrat des Romans
konstituiert. Der Turmhelm der Kirche wird mehrmals erwähnt ebenso wie ihre
Geschichte von den napoleonischen Kriegen bis zur Erzählgegenwart.
Nicht nur die bei Raabe wiederkehrende in den Hintergrund gedrückte Ansicht
der Sophienkirche erinnert Raabes Stadtdarstellung an Gaertners Gemälde, sondern auch
die Architektur der Gasse. Wie in dem Gemälde von Gaertner Parochialstraße, ehem.
Reetzengasse (1831) wird auch Raabes Spreegasse mit alten Patrizierhäusern und mit
einem „wahre[n] Reich der Keller- und Dachwohnungen“ eingerichtet. In dieser Weise
entsteht ein intimer Ort, der mit den gegenüber liegenden Wohnungen zusammen einen
vielfältigen, komplexen Erzählraum erzeugt. Die äußere Gasse wird oft als Innenraum
verdichtet und Szenen in den privaten Zimmern von der Gasse beobachtet und
beschrieben. Wie bei Gaertner entsteht im Roman von Raabe ein intensiver Raum, der
mit ähnlichen Figuren, fiktiven jedoch repräsentativen Intellektuellen der Großstadt und
anonymen Leuten bevölkert wird.
Wie die Lage und Architektur der engen Gasse in der Altstadt werden auch die
Bewohner der Gasse im Roman mit ähnlichen semantischen Mitteln geschildert und
zwischen ihnen und den Bevölkerungen der neuen Stadtteile eine analoge Polarität
aufgestellt:
Selbst die Bewohner des älteren Stadtteils scheinen noch ein originelleres,
sonderbares Völkchen zu sein als die Leute der modernen Viertel. Hier neben der
Arbeit und des Ernsts, und der zusammengedrängtere Verkehr reibt die Menschen
in tolleren, ergötzlicheren Szenen aneinander als in den vornehmeren, aber auch
öderen Straßen. (BA I, 25)
166
Raabes Protagonist verdeutlicht durch diese Stelle, dass die soziale Umgebung und die
Bewohner der Altstadt spannendere Konstellationen ins Leben rufen und dem
Schriftsteller einen eindringlicheren Stoff liefern als die modernen Stadteile Berlins.
Diese Intensität erzeugt einen paradigmatischen Sozial- und Geschichtsraum, der im
Kontrast zu den neuen Stadtteilen Berlins „Spiegel und Gegenwelt der Geschichte in
einem“ ist (Göttsche 28). Einerseits ist die Gasse eine Oase und ein vormodernes
Zentrum in der Stadt, andererseits wird sie „eine unschätzbare Bühne des Weltlebens [...]
wo Krieg und Friede, Elend und Glück, Hunger und Überfluss, alle Antinomien des
Daseins sich widerspiegeln“ (BA I, 17). Die Gasse spiegelt pars pro toto die politische
und soziale Realität Berlins in den privaten Geschichten der Gassenbewohner wider.
Die unauffällige Sperlingsgasse, Subjekt und Objekt des Romans, entbehrt jedoch
nicht des Tempos und der Nervosität der neuen Stadtteile. Wachholder wählt sie als
Mittelpunkt seiner Chronik, weil sie „lebendig genug [ist], einen mit nervösem Kopfweh
Behafteten wahnsinnig zu machen und ihn im Irrenhause enden zu lassen“ (BA I, 12).
Diese Beschreibung evoziert Georg Simmels Charakterisierung der Nervosität der
Großstadt, die die psychologische Grundlage der Großstadtmentalität ins Leben ruft.
Diese Schilderungen der Sperlingsgasse erzeugen eine Spannung: Einerseits ist die kleine
Gasse mit der Vergangenheit eng verbunden und funktioniert als eine untergehende
ländliche Idylle im Herzen der wachsenden preußischen Hauptstadt (wie die Stadt in dem
zweiten Gassengemälde von Gaertner), andererseits ist sie eine Abbildung der großen
Stadt (wie Berlin im ersten Gassengemälde von Gaertner), ein Mikrokosmos im
Makrokosmos.
167
In der Chronik der Sperlingsgasse werden die Ereignisse auf zwei Zeitebenen
erzählt. Dirk Göttsche beschreibt die komplexe Zeitstruktur des Romans in der folgenden
Weise:
An die Stelle der pragmatischen Handlungsstruktur eines konventionellen
‚Romans’ (BA I, 75) oder einer streng autobiographischen Erzählfiktion tritt eine
genau komponierte Sequenz von Aufzeichnungen, die sich über die
chronologische ‚Folge’ der erzählten ‚Begebenheiten’ (BA I, 15) hinweg zu
einem ästhetischen Reflexionsraum des Zeitbewusstseins und der
Geschichtserfahrung zusammenschließen. (19)
Die erste Zeitebene ist die Gegenwart, die Reaktionszeit der 50er Jahre in Berlin
und als Erzähler dient der gealterte Gelehrte Johannes Wachholder, der schon dreißig
Jahre in der Sperlingsgasse lebt und seine Beobachtungen und Erinnerungen vom Winter
1854 aufzeichnet. Eine Chronik nennt er sein Werk, in der gegenwartsbezogene
Tagebucheintragungen, traumselige Erinnerungen, ältere Niederschriften, Briefe und
Erzählungen Dritter miteinander verknüpft werden. Zu den charakteristischen Gestalten
gehören intellektuelle Gassenbewohner wie der Karikaturist Strobel und der Journalist
Wimmer, der wegen eines „fatalen politischen Hustens“ aus Berlin ausgewiesen worden
ist (BA I, 119). Weitere Bewohner der Sperlingsgasse sind ein liberaler Lehrer, Roder,
der nach dem Scheitern der Märzrevolution nach Amerika flieht, kleine Handwerker, die
nicht mehr konkurrenzfähig sind und die hübsche Balletttänzerin, deren Kind zu Hause
im Sterben liegt, während sie im Theater auftreten soll. Die Bewohner der Gasse
stammen aus verschiedenen sozialen Schichten und ihre Herkunft und Rolle im Roman
sind auch durch die oben oder unten liegenden Wohnungen beschrieben. Mit dieser
Topographie entsteht die Gasse wie in Gaertners Gemälden als ein bedacht konstituierter
Sozialraum. Das von Wachholder mehrmals erwähnte ständige „Kommen und Gehen“
168
bezieht sich auch auf die gesellschaftliche Mobilität der Gassenbewohner, die durchweg
Beispiele sozialer Verdrängung sind.
Die zweite Zeitebene ist die Vergangenheit, die gemeinsame Kindheit des
Erzählers und seiner Nachbarn im provinziellen Ulfelden und die Vergegenwärtigung der
Liebe zu Marie, die den gemeinsamen Freund, den Maler Ralff geheiratet hat. Ihre
Tochter Elise ist jedoch bei Wachholder aufgewachsen, der nach dem Tod der Eltern die
Pflegschaft übernommen und in ihre Wohnung umgezogen ist. Elise heiratet Gustav
Berg, der auch in der Sperlingsgasse großgeworden ist und am Ende des Romans als
Maler mit Elise in Italien sesshaft wird. Die einander zugewandten Fenster und
Blickaustausche symbolisieren eine Kultur des Miteinanders und der Solidarität. In der
geschlossenen Welt der Sperlingsgasse beschreibt Wachholder das enge Zusammenleben
einer bunten Bevölkerung, die durch die Großstadt miteinander in Kontakt gebracht
worden ist, deren Leben jedoch in den meisten Fällen durch die Großstadt auch zerstört
wird.153
Großstadtfeindlich ist Raabes Roman in dem Sinne, dass der Autor die Großstadt
mit moralischem Verfall, sozialen Problemen und mit einer Zerstörung von idyllischen
Lebensformen und der Zivilisation assoziiert und statt ihrer Gegenwart ihre nicht mehr
existierende Vergangenheit akzentuiert. Im Roman wechseln Jetzt und Einst, und die
Beschreibung der Kindheitsjahre in der Kleinstadt Ulfelden fällt besonders nostalgisch
aus. Raabes Gassengemeinschaft schafft in der Altstadt Berlins eine Oase, in der eine
vergessene Innerlichkeit und Idylle bewahrt werden können, die aber auch als ein Ort
bewusster bürgerlicher Zeitkritik funktioniert. Viele von den Geschichten der Bewohner
153
Für eine Analyse über die soziale Empfindlichkeit Raabes in der Chronik siehe das Raabe Kapitel von
Alfred Whites Buch.
169
enthüllen die Enttäuschung der liberalen Erwartungen durch die Restauration und
reflektieren die Folgen der gescheiterten Revolution von 1848. Dabei kommt in den
Geschichten der Vergangenheit eine Adelskritik zu Tage ebenso wie die Darstellung der
existenziellen Abhängigkeit der Schriftsteller und Lehrer von den politischen
Veränderungen in der Restaurationszeit. Im Gegensatz zu Gaertners Gemälden, in denen
die Stadt als Produkt ihrer Einwohner dargestellt wird und in denen agile und
selbstbewusste Stadtbewohner gezeigt werden, skizziert Raabe seine Intellektuellen in
der Sperlingsgasse als Individuen, deren Freiheitsansprüche nicht erfüllt wurden, die sich
in einer ökonomischen Abhängigkeit befinden und die Opfer der Zensur und der
Ausweisung werden. In diesem Sinne schafft sowie Raabe als auch Gaertner, eine
selbstbewusste, bürgerliche „urbane Bildungslandschaft“, in der auch aktuelle Ereignisse
und Machtverhältnisse der 1850er Jahre thematisiert werden.
„Wie ein Gebäude aus den bunten Steinen eines Kinderbaukastens“: Reflexivität
und intensivierte Visualität in der Erzählform
Die literarische Historiografie über Raabes Chronik hat die großstadtfeindliche
Stadtdarstellung des Romans betont und gezeigt, dass Raabes Berlinroman Baudelaires
modernen Parisschilderungen aus der gleichen Zeit nicht das Wasser reichen kann.154
Obwohl die Erzählform des Romans zur Entwicklung der modernen urbanen
Wahrnehmungsästhetik erheblich beigetragen hat, wird in der Forschung die ‚Modernität’
von Raabes Roman nur selten erwähnt.155 Im folgenden argumentiere ich, dass Raabes
154
Die großstadtfeindlichen Elemente Raabes Erzählung dominieren in den folgenden Analysen: Fairley
(1961), Fries (1980), Klotz (1969), Maatje (1964), Meyer (1953), Scherpe (1989) und Richter (1968).
155
Heinrich Spiero charakterisiert Raabes Roman in der folgenden Weise: „Ein episches Verfahren [das] in
vollem Umfang [...] erst im 20. Jahrhundert Schule gemacht hat“ (29) und Anke Glebert zählt Raabes
170
Roman im Ansatz bereits Elemente der modernen Großstadtprosa enthält, die sich in der
montageartigen Erzählform des Romans, die einen Ort -- die Sperlingsgasse -- zum
Erzähler avancieren lässt, in der Darstellung der Nervosität des Großstadtlebens, in der
Schilderung der Abhängigkeit des kreativen Künstlers von der Stadt zeigt und in einer
erhöhten Visualität manifestiert.
Die Erzählstruktur muss auf den zeitgenössischen Leser wohl fremd gewirkt
haben, wie Wachholders bester Freund, der Chronik-Mitschreiber und
Karikaturenzeichner Strobel es auch bemerkt: „Wie Sie in diesen Blättern Vergangenheit
und Gegenwart, Wahrheit und Dichtung durcheinanderwerfen, das ist denn doch des
Guten zuviel (143).“ Die Erzählform der Chronik erinnere ihn, sagt Strobel, an Albrecht
Dürer, der sich bei einer gewissen Gelegenheit zwar lobend über das Bild eines Malers
aussprach – es stellte eine Jagdszene dar –, aber gestehen musste, dass er nicht wisse,
welches die Hasen und welches die Hunde seien: „Wer darüber nicht konfus wird, der ist
es schon!“ (143).
Für die Erzählform wird von Wachholder immer wieder das titelgebende Genre
Chronik benutzt und in der folgenden Weise definiert:
Eine Chronik aber nenne ich diese Bogen, weil ihr Inhalt, was den
Zusammenhang betrifft, gar sehr jenen alten naiven Aufzeichnungen gleichen
wird, die in bunter Folge die Begebenheiten aus Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft erzählen; die jetzt eine Schlacht mitliefern, jetzt das Erscheinen eines
wundersamen Himmelzeichens beobachten; die bald über den nahen
Weltuntergang predigen, bald wieder sich über ein Stachelschwein, welches die
deutsche Kaiserin im Klostergarten vorführen lässt, wundern und freuen. Und wie
die alten Molche hier und da zwischen den Pergamentblätter ihrer Historien und
Messbücher hübsche, farbige, zierlich ausgeschnittene Heiligenbilder legten, so
will ich ähnliche Blätter einflechten und durch die eintönigen, farblosen
Aufzeichnungen meiner alten Tage frischere, blütenvollere Ranken schlingen.
(BA I, 15)
Chronik in ihrem Buch The Art of Taking a Walk zu den frühesten Beispiele einer „sesshaften Flanerie“
zusammen mit ETA Hoffmanns Des Vetters Eckfenster (18).
171
Diese personalisierte Genrebeschreibung widerspricht jedoch der offiziellen Definition
der Chronik, die die Ereignisse in zeitlich genauer Reihenfolge darstellen sollte. Ziel der
Chronik ist daneben die Geschehnisse in größeren Zeiträumen überschauend darzustellen,
miteinander zu verknüpfen und eine Epochengliederung zu entwickeln. Chroniken
verfolgen die Absicht zu belehren und versuchen, einen Zusammenhang zwischen
christlicher Heilsgeschichte und profaner Weltgeschichte herzustellen.156 Wachholder
alteriert diese Form zu seinen Zwecken und benutzt die Chronik als Medium bürgerlichen
Selbstbewusstseins, als Autobiographie und als eine individualisierte Chronik
gasamtdeutscher Geschichte.
Durch mehrere Erzählungen reicht der berichtete Zeitraum bis zu den
Napoleonischen Kriegen zurück, und in dieser Weise entsteht eine Chronik der deutschen
Geschichte aus der Perspektive der Bewohner in der Sperlingsgasse. In der Beschreibung
der Geschichte der Gasse und der Erinnerungen ihrer Bewohner fragmentiert der Erzähler
Wachholder seine einsame, homogene Welt in ein Kaleidoskop von singulären
Ereignissen. Die herkömmliche Erzählweise löst sich in der Auseinandersetzung mit dem
Sujet Großstadt und der Mannigfaltigkeit ihrer Bewohner auf und kommt eine Narration
zustande, die den extrem fragmentierten Großstadtromanen wie Rilkes Parisroman Die
Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und Döblins Berlin, Alexanderplatz den Weg
bereitet.
Da die umgebende Stadt im Roman kein festes Raumgefüge anbietet, bekommt
der einzige feste Raum, die Sperlingsgasse, markante Konturen. Diese Konstellation
charakterisiert Hermann Meyer prägnant: „Der eigentliche Zement indessen, der die aus
156
Chronik. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 2. 1955–2026.
172
den Fugen gegangenen und auseinanderstrebenden Zeitteile zusammenhält, ist der mit
sich selbst identisch bleibende Raum, der enge Bezirk der Sperlingsgasse“ (105).
Besonders in diesem Detail lässt sich die Modernität von Raabes Roman erkennen. Der
rein räumlich inspirierte Text weist nämlich auf die berühmten Flaneurfiguren der 1920er
Jahre voraus; Franz Hessels, Walter Benjamins und Siegfried Kracauers Berlin-Texte
sind ebenfalls von Berliner Lokalitäten angeregt worden. Ihre Feuilletons und Berliner
Kurzprosa sind fast ausnahmslos mit Berliner topografischen Namen – Pariser Straße,
Kurfürstendamm, Tiergarten, Tempelhof etc. – überschrieben. Alle drei Autoren betonen
eine Passivität des Erzählers, der der Stadt ohne etwas „Bestimmtes vorzuhaben“ zuhören
und zuschauen, und als Empfänger seine Wahrnehmungen in einen Text umwandeln
soll.157
Diese Umsetzung der traditionellen Subjekt-Objekt-Beziehung, in der die Straße
aktiv erzählt und der Chronikschreiber die dort stattfindenden Ereignisse passiv
aufschreibt, ist schon im 19. Jahrhundert vorhanden. Ludwig Börnes Zitat über die Stadt
Paris, „Ein aufgeschlagenes Buch ist Paris zu nennen, durch seine Straßen wandern, heißt
lesen,“ ist besonders in jüngster Zeit in den Interpretationen von Berliner Flaneurtexten
aus den 1920er Jahren immer wieder zitiert worden.158 1929 beschrieb Franz Hessel
Flanieren in einer ähnlichen Weise als „eine Art Lektüre der Straße, wobei
Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Cafeterrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu
lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten
157
Vgl. dazu: „Um richtig zu flanieren, darf man nichts Bestimmtes vorhaben“ (Hessel) oder „Sich in einer
Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich
verirrt, braucht man Schulung. Da müssen Straßennamen zu dem Irrenden so sprechen wie das Knacken
trockener Reiser und kleine Straßen um Stadtinnern ihm die Tageszeiten so deutlich wir eine Bergmulde
widerspiegeln“ („Tiergarten,“ 9).
158
Vgl. dazu Gleber 8-11.
173
eines immer neuen Buches ergeben” („Berlins Boulevard“ 145). Diese Kontinuität
entsteht auch dadurch, dass der Paradeflaneur Franz Hessel in seinen Feuilletons auch
Raabe und die Sperlingsgasse mehrmals erwähnt.159
Das oben dargestellte Verhältnis zwischen dem wahrnehmenden Autor und der
wahrgenommenen Stadt findet man auch in Raabes Chronik. Immer wieder unterstreicht
Wachholder die eigene Passivität bei der Verfassung der Chronik und weist dadurch auf
die Aktivität der Straße hin: „Ich schreibe keinen Roman und kann mich wenig um den
schriftstellerischen Kontrapunkt bekümmern; was mir die Vergangenheit gebracht hat,
was mir die Gegenwart gibt, will ich hier, in hübsche Rahmen gefasst, zusammenheften“
(9-10).160 Die Gasse ist bei Raabe zugleich Veranstalter und Gegenstand der Erzählung.
Obwohl Raabes Erzähler sich ausschließlich von einer einzigen Lokalität anregen lässt,
die er sesshaft aus seinem Zimmer entdeckt, trägt diese neue Raumkonstellation zu einem
Bruch mit der tradierten, herkömmlichen Erzählform bei. 161
Neben der Infragestellung der Autonomie des Erzählers erscheint die Modernität
des Textes in der Akzentuierung der Nervosität der Großstadt und –wenn auch nur
implizit – ihr produktiver Einfluss auf die künstlerische Tätigkeit Wachholders. Wie
159
Die Sperlingsgasse wurde eine der wichtigsten literarischen Lokalitäten in der 1920er Jahren. Franz
Hessel besucht sie auch während seines Stadtrundgangs: “Sieh, da zur Rechten zweigt so ein Gässchen ab,
Spreegasse heißt es und Raabes Sperlingsgasse, und da steht auch das Haus, in dem der Dichter gewohnt
hat…” („Rundfahrt“ 65).
160
Vgl. auch dazu: „Einem Wässerchen will ich diese Chronik vergleichen, einem Wässerchen, welches
sich aus dem Schoss der Erde mühevoll losringt und, anfangs trübe, noch die Spuren seiner dunkler
schmerzvollen Geburtsstätte an sich trägt. Bald aber wird es in das helle Sonnenlicht sprudeln, Blumen
werden sich in ihm spiegeln, Vögelchen werden ihre Schnäbel in ihm netzen. An dieser Stelle werdet ihr es
fast zu verlieren glauben, an jener wird es fröhlich wieder hervorhüpfen. Es wird seine eigene Sprache
reden in wagehalsigen Sprüngen über Felsen, im listigen Suchen und Finden der Auswege, -- Gott bewahre
es nur vor dem Verlaufen im Sande!“ (BA I, 25).
161
Eine radikale Verwechslung von wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt beschreibt
Rilke in dem Pariser Tagebuch von Malte Laurids Brigge: „Noch eine Weile kann ich das alles
aufschreiben und sagen. Aber es wird ein Tag kommen, da meine Hand weit von mir sein wird, und wenn
ich schreiben heißen werde, wird sie Worte schreiben, die ich nicht meine. [...] [d]iesmal werde ich
geschrieben werden. Ich bin der Eindruck, der sich verwandeln wird“ (Rilke, Malte 47).
174
schon in der Einführung dieser Analyse erwähnt, beschreibt Wachholder die
Sperlingsgasse, den Mikrokosmos des Makrokosmos, als einen Ort, der „lebendig genug
[ist], einen mit nervösem Kopfweh Behafteten wahnsinnig zu machen und ihn im
Irrenhause enden zu lassen“ (BA 2, 17). Diese Beschreibung der kleinen Gasse entspricht
der psychologischen Grundlage großstädtischer Individualitäten, die der Soziologe Georg
Simmel um die Jahrhundertwende prägnant aufgezeichnet hat. Nach Simmel erlebt man
in der Großstadt eine „Steigerung des Nervenlebens,“ die aus dem raschen und
ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht. Trotz
Wachholders selbstgewählter Isolation und des Mangels einer direkten Stadterfahrung ist
hinter den Zeilen der Chronik ein Überfluss von Reizen erkennbar. Die Sperlingsgasse,
ein Ort von „ununterbrochene[m] Strom des Gehens und Kommens“ (BA I, 25), fördert
eine Multiplizität von rapiden, mannigfaltigen Reizen, die die tradierte Erzählweise
umformen und Wachholder anregen, beim Verfertigen seiner Chronik neue
Erzähltechniken anzuwenden.
Die Großstadt begünstigt Wachholders Kreativität, dessen Chronik unter anderem
von einem befreienden Gefühl, das man in der Stadt als Künstler erleben kann, zeugt.
Wachholders kreative Tätigkeit ist abhängig von der Stadt, die ihm die Erzählmotivation
und den Erzählstoff liefert. Jedoch hat diese Stadtsucht und die in der Großstadtluft
erlebbare „Freiheit“ auch eine von Simmel am prägnantesten beschriebene Kehrseite, die
in Raabes Chronik ebenso anwesend ist:
Denn die gegenseitige Reserve und Indifferenz, die geistigen Lebensbedingungen
großer Kreise, werden in ihrem Erfolg für die Unabhängigkeit des Individuums
nie stärker gefühlt, als in dem dichtesten Gewühl der Großstadt, weil die
körperliche Nähe und Enge die geistige Distanz erst recht anschaulich macht; es
ist offenbar nur der Revers dieser Freiheit, wenn man sich unter Umständen
nirgends so einsam und verlassen fühlt, als eben in dem großstädtischen Gewühl;
175
denn hier wie sonst ist es keineswegs notwendig, dass die Freiheit des Menschen
sich in seinem Gefühlsleben als Wohlbefinden spiegele. (Hervorhebungen von
mir, Simmel 199)
Simmels Argument zeigt sachlich und gnadenlos, dass einem die Großstadt gewisse
Unabhängigkeit sichert und künstlerischen Innovationen Raum gibt, jedoch bringt dieser
Zustand nicht unbedingt ein emotionelles Wohlbefinden mit sich. Wilhelm Raabe, dessen
Braunschweiger Skizze Einer aus der Menge (1858) als Antwort auf Edgar Allan Poes
Man of the Crowd keineswegs die rauschhafte und verführerische Masse literarisch
beschreibt, sondern in der verfallenen Großstadt nach Perlen und Kostbarkeiten sucht,
macht auch in seiner Chronik einen resignierten Versuch, die bedrohte Einzigartigkeit
und die emotionelle Stabilität des Individuums zu retten.162 Die Anwendung von
modernen Erzähltechniken ist bei Raabe, wie in diesem Beispiel, oft mit traditionellen
Inhalten ausgefüllt.
Die Spannung zwischen tradierter Erzählung und moderner
Großstadtwahrnehmung in Raabes Erstlingswerk erzeugt eine erhöhte Visualität und eine
intensivierte Wechselbeziehung zwischen Literatur und bildender Kunst. Visualität und
Modernität stehen in einem engen Zusammenhang miteinander.163 Die Hegemonie des
Sehens wurde mit dem Diskurs des Urbanismus in der Moderne zum einen durch die von
Georg Simmel analysierte Dominanz der Aktivität des Auges über die des Gehörs in die
öffentliche Interaktion aufgenommen. Die Überlegenheit des Sehens erscheint auch bei
Raabe, der seine Arbeitsweise in der folgenden Weise beschrieben hat: „Der Begriff war
162
In der Chronik schreit Wachholder: „Ich bin allein! – Allein.“ (BA I, 28)
Heinz Brüggemann analysiert die Diskussionen und kulturwissenschaftlichen Analysen in der
Einführung seines Buches, Architekturen des Augenblicks, und stellt fest, dass das Modell, in dem der
Sinnesdiskurs in der Moderne durch eine Hegemonie des Sehens bestimmt ist, gestützt vor allem auf
Heideggers Deutung des cartesianischen Perspektivismus als dem herrschenden visuellen Konzept
neuzeitlicher Subjektivität (Die Zeit des Weltbildes, 1938), sich seitdem immer mehr zu einer Konvention
verfestigt hat (12-3).
163
176
mir gar nichts, ich nahm alles aus der Anschauung“ (Zitiert nach Peter, 10).164 In der
Chronik hat Raabe die Eigenart des zeichnerischen Gestaltungswillens von sich selbst auf
den Erzähler übertragen. Wachholders Ziel ist es, die eintönigen, farblosen
Aufzeichnungen der Chronik durch bunte Bilder aufzulockern und das in der
Sperlingsgasse Geschehene bildhaft-anschaulich zu Papier zu bringen. Um dieses Ziel zu
erreichen, soll der Erzähler nach Raabe nicht mehr als Schriftsteller, sondern als Maler
tätig sein. Wachholder, der mehrfach über seine kreative Tätigkeit reflektiert, sagt
explizite, dass er keinen traditionellen Roman schreibt: „ Ich male Bilder und bringe
keine Handlung“ (BA I, 73). Im Folgenden analysiere ich die Spannung zwischen
tradierter und moderner Stadtwahrnehmung in der Visualität des Romans, während die
Arbeitstechniken des Schriftstellers mit denen des Malers verglichen und im oben
erwähnten Kontext auch die Anwendung der erhöhten Perspektive – der Fensterblick und
die Vogelschau – untersucht werden.
Im „Traum- und Bilderbuch der Sperlingsgasse“ (BA I, 13) gibt es mehrere
Referenzen auf die Arbeitstechnik des Malers und Schriftstellers. Raabe, der selbst gerne
Skizzen anfertigte, völkerte die Sperlingsgasse mit mehreren Künstlern: Die wichtigsten
Bekanntschaften Wachholders sind seine Künstlernachbarn, der Maler Ralff und der
Karikaturist Strobel. Die Arbeitsweise des Malers, der einen flüchtigen, aber prägnanten
Moment auf seinem Papier festhält, erweist sich als besonders hilfreich, wenn
164
Raabe, der Vorlesungen über Kunsttheorie in Berlin belegte, war wohl auch mit den Gedanken von
Arthur Schopenhauer vertraut, der in seinem berühmten Buch Welt als Wille und Vorstellung die
Anschauung als die wichtigsten Quelle aller produktiven Tätigkeit bezeichnete: „Die Anschauung ist es,
welcher zunächst das eigentliche und wahre Wesen der Dinge, wenn auch noch bedingterweise, sich
aufschließt und offenbart. Alle Begriffe, alles Gedachte, sind ja nur Abstraktionen... eine anschauliche
Auffassung ist allemal der Zeugungsprozess gewesen, in welchem jedes echte Kunstwerk, jeder
unsterbliche Gedanke den Lebensfunken erhielt. Alles Urdenken geschieht in Bildern“ (II. Teil, 3 Buch, 31
Kapitel). Der Protagonist des Romans Die Leute aus dem Walde liest auch Schopenhauers Welt als Wille
und Vorstellung während seiner Ausbildung in der Stadt (BA 5, 162).
177
Wachholder die Vollständigkeit eines Ereignisses oder die Menge in der kleinen Gasse
aufs Papier zu bringen versucht.165 Wachholder arbeitet mit dem Karikaturenzeichner
Strobel zusammen, Strobel verfasst mehrere Seiten der Chronik und beide suchen nach
Bildern, die sie im Text bzw. im Bild bannen möchten. Eine Verbindung ihres
Arbeitsverfahrens tritt mehrmals im Roman auf. Strobel beobachtet zum Beispiel eine
attraktive, mit ihrem Kind spielende Frau von seinem Fenster aus und bemerkt dabei:
„Das Bild da drüben gehört hinein [in die Chronik], wie es in meine Skizzenmappe
gehört“ (BA I, 36).166 Dieses Wechselspiel zwischen den beiden Gattungen trägt
zweifellos zur innovativen Struktur des Romans bei. Anstatt einer linearen Erzählung,
mit Lessings Terminus „Nacheinander von Handlungen,“ entsteht ein „Nebeneinander“
von Bildern in Raabes Chronik (Lessing 114). Nach Lessings Theorie kann Dichtung
zeitliche Abfolgen darstellen und die bildende Kunst nur einen einzelnen Augenblick,
„einen prägnanten Moment,“ wie zum Beispiel das obige Bild von der hinter dem
Fensterrahmen mit ihrem Kind spielenden Frau.167
Raabes Erzähltechnik unterstützt eine gewisse Grenzüberschreitung zwischen
Malerei und Dichtung, während er ‚Bilder’ aus der Sperlingsgasse nebeneinander reiht
und über seine Schreibtechnik in der folgenden Weise reflektiert:
165
Dieses Phänomen erscheint auch in Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in dem
besonders die Beschreibungen von öffentlichen Plätzen, die wegen ihrer Vollzähligkeit schwer zu
beschreiben sind, höchstvisuell sind und von Cézannes Einfluss auf Rilkes zeugen (Tráser-Vas, 105).
166
Vgl. dazu auch die folgende Beschreibung Strobels über seine eigene Arbeitstechnik: „Und die seitwärts
abführenden Holzwege? [...] Laufen alle der großen Straße wieder zu, nachdem sie an irgendeiner schönen,
merkwürdigen, lehrreichen Stelle vorübergeführt haben. Ich, der Fußwanderer, habe nie so viel
Erfahrungen für den Geist, so viel Skizzen für meine Mappe hineingebracht, als wenn ich mich verirrt
hatte.“ (BA I, 76)
167
Karl Gutzkow ist der Erfinder des Romans des Nebeneinander (eine Theorie, die er in seinem
monumentalen Roman Die Ritter vom Geiste in die Praxis übertragen hat), dessen Komposition Lessings
Beschreibung der bildenden Künste evoziert. Gutzkow beschreibt die Aufgabe des modernen Schriftstellers
in Ritter vom Geiste mit den folgenden Worten: „er [der Schriftsteller] sieht aus der Perspektive des in
Lüften schwebenden Adlers herab. Da ist ein endloser Teppich ausgebreitet, eine Weltanschauung, neu,
eigentümlich, leider polemisch. Thron und Hütte, Markt und Wald sind zusammengedrückt.“
178
Ein Bild nach dem andern zieht wie in einer Laterna magica an mir vorbei,
verschwindend, wenn ich mich bestrebe, es fest zu halten. O, es ist wahrlich nicht
das, was mich am meisten fesselt und hinreißt, was ich auf das Papier festbannen
kann; ein ganz anderer Maler müsste ich sein, um das zu vermögen. (BA I, 19)
In dieser Charakterisierung der eigenen Narration wird die Anwendung einer
Bilderkette beschrieben, die schon auf eine Form energetischer Stadtwahrnehmung weist.
Die Metapher der Laterna Magica evoziert die Mechanisierung des Blickes und ein
Streben nach realistischen Beschreibungen von genau beobachteten Szenen. Die Laterna
Magica, auch Zauberlaterne genannt, ist eine Projektionsvorrichtung, die nach dem
umgekehrten optischen Prinzip der Camera obscura funktioniert: Es handelt sich um
einen Kasten mit einer Öffnung, in dem sich eine Lichtquelle befindet. Wachholders
Blick aus seinem Fenster ist in einer ähnlichen Weise eine Öffnung auf die äußere Welt
und in einem ästhetischen Sinn eine Bereitschaft für die Anwendung neuer
Repräsentationstechniken.
Der Erzähler gibt zu, dass er sich anstrengen muss, die schnell vorüberziehenden
Bilder in seiner Chronik festhalten zu können. Wachholders Erklärung ist ein Ausdruck
einer Krise in der ästhetischen Erfahrung der Großstadt, und sein Zweifel an der
poetischen Souveränität in der Organisation des Materials. Jedoch sind die hier
erwähnten Bilder Facetten aus der Vergangenheit und nicht Szenen aus dem
zeitgenössischen Alltag der Großstadt. Wachholder muss also nicht mit einem sensuellen
Überfluss zurecht kommen, sondern mit seiner eigenen Geschichte und Vergangenheit.
Der Ich-Erzähler fügt aber hinzu, dass er sich nicht für diese Bilder interessiert und, dass
er „ein ganz anderer Maler“ sein sollte, diese vorbeifliehenden Facetten der
Vergangenheit in seiner Chronik festhalten zu können. In der schriftstellerischen
179
Selbstreflexion entsteht eine Definition der eigenen Schreib- bzw. Maltechnik. Der
Erzähler Wachholder hat vor, Bilder der Vergangenheit und der Gegenwart „in hübschen
Rahmen“ in einer neuen Art und Weise festzuhalten. In einer Oase in der Mitte des
wachsenden Berlins formuliert Raabes Erzähler eine neue künstlerische Technik von in
Rahmen gezwungenen Momentaufnahmen, die aus einem Dachstubenfenster skizziert
werden.
„In hübsche Rahmen gefasst“: Der Blick aus der Höhe bei Gaertner und Raabe
Wachholders Position im obersten Stock der Gasse wird mehrmals, wie die
Dachwohnung des Vetters bei E.T.A. Hoffmann, als der idealste Platz charakterisiert, um
die Ereignisse der Stadt zu beobachten. Der Alte behauptet, dass „ein angehender Dichter
oder Maler [...]nirgends anders wohnen dürfte als hier“ (11). Der greise Chronist betreibt
ein „Fensterstudium“ und das Fenster wird die wichtigste Verbindung zur Welt draußen.
Der Blick aus dem Fenster, wie in der Malerei der Spätromantik und des Biedermeier,
verkleinert die äußere Welt und zähmt die unüberschaubar gewordene Umgebung.
Wachholder erlebt die Stadt gerahmt, durch das Fenster, das als Filter – mit Simmels
Terminologie als Stimulusschild – dient, um die äußere Welt zu bändigen. Dem Leser
eröffnet sich also kein Panorama der Stadt, sondern nur ein verkleinertes und gleichzeitig
idealisiertes Stück davon. Mit dem Fensterblick verwendet Raabe ein weiteres bekanntes
180
und beliebtes Motiv der zeitgenossischen Malerei und bietet dadurch seinen Lesern eine
familiäre Perspektive an.168
Raabes Anwendung des Fensterblicks enthält aber eine Spannung zwischen
tradierter Erzählform und moderner urbaner Stadtwahrnehmung insofern, als sie
einerseits als eine moderne, fragmentierte Wahrnehmungsform des vereinzelten Subjekts
der Großstadt angesehen werden kann und andererseits als eine melancholische
Erfahrung und ein Rückzug auf das Selbst interpretiert werden kann. Das Fenster
erscheint als ein paradoxes Medium, durch das die Mannigfaltigkeit der Sperlingsgasse
beschreibbar und erfassbar wird. Zum einen fungiert es als eine Laterna Magica, vor
deren Öffnung die äußere Welt verschiedene Bilder einschiebt und vorüberziehen lässt,
zum anderen etabliert es feste Rahmen und eine kontemplative Distanz, durch die das
Mannigfaltige fixiert werden kann. Das bedeutet, dass der Fensterblick eine dynamische
Wahrnehmung der Großstadt fördert, während er gleichzeitig die unberechenbaren Reize
der Außenwelt entschärft. Das Fenster mit seinen Rahmen bedeutet dem Erzähler
zweierlei: es lässt ihn teilhaben während es ihn zur gleichen Zeit auch isoliert.
Wachholder schildert von seinem durchaus privaten Standpunkt aus den privaten
Alltag und die ihm vertraute Vergangenheit seiner Nachbarn. In der ihm gegenüber
liegenden Wohnung Nr. 11 hat er sogar selbst gewohnt, bevor er hinüber ins Haus Nr. 7
umgesiedelt ist. Der Chronik-Mitschreiber Strobel zieht in Wohnung Nr. 11 wodurch
Wachholder seine Verbindung zum alten Wohnort bewahrt. Während er die Chronik
verfasst, pflegt Wachholder einen lebhaften Blickkontakt mit seiner alten Wohnung. Von
Wohnung zu Wohnung spazierend gewinnt er nicht nur Einblick in die intimen
168
Deutsche Maler, die unter anderem bekannte Fensterblicke bemalt haben: CD Friedrich: „Das Fenster“,
„Im Atelierfenster“; Louise Henry: „Mädchen am Fenster“; Moritz von Schwind: „Morgensonne“; Otto
Scholderer: „Geiger“; Karl Spitzweg: „Der abgefangene Liebesbrief“, „Blumenfenster.“
181
Alltagsszenen der Gassenbewohner, sondern auch in sein eigenes Leben. Wie Gaertner
sich selbst in seine Gemälde einmalt, erscheint auch der Ich-Erzähler als wichtiger
Protagonist im Roman. Wachholder wird jedoch nicht als selbstbewusster, freier
Schriftsteller dargestellt, sonder als ein Intellektueller auf der Straße, deren künstlerische
Tätigkeiten von den politischen Entscheidungen beschränkt werden. Die einzelnen
Genreszenen, die er aus seinem Fenster beobachtet, werden benutzt, Wachholders
Meinung über aktuelle politische Entscheidungen in einer verborgenen Weise an die
Öffentlichkeit zu bringen.
In diesem Sinne öffnet Raabes Protagonist das Fenster und wendet sich nicht nur
der Gasse, sondern auch den aktuellen Ereignissen der Nachmärzzeit zu. Seine
Entscheidung für die Limitation des Stoffes begründet er mit den folgenden Worten:
Was kann ein Chronikerschreiber bei so bewandten Umständen Besseres tun, als
sein Haus einzig und allein zum Gegenstand seiner Aufzeichnungen zu machen
und die große Welt draußen, die allgemeine Gassengeschichte, gehen zu lassen,
wie sie will? [...] Die Geschichte eines Hauses ist die Geschichte seiner
Bewohner, die Geschichte seiner Bewohner ist die Geschichte der Zeit, in welcher
sie lebten und leben... (Hervorhebung von mir, 92)
Die so „bewandte[n] Umstände“ beziehen sich auf die Zensur und die fatalen Folgen des
„politischen Hustens“, das der Gassenbewohner und liberale Journalist Wimmer begeht,
und weswegen er aus der Stadt ausgewiesen wird. Die Beschränkung des Erzählstoffes
und Erzählraumes sowie die Fensterrahmen selbst können also als geschickt gewählte
Öffnungen verstanden werden, die resignierend die politische Entmündigung des
Bürgertums thematisieren. Im Folgenden sollen drei Textstellen diese Technik
demonstrieren, in denen die Beschreibung bestimmter Stadtteile eine wichtige Rolle
spielt.
182
Eine städtische Ansicht eröffnet sich für Wachholder, als er sich die Ereignisse
eines Sonntagausfluges in einem Wald am Stadtrand in Erinnerung ruft. Ein
allumfassender, wenn auch unscharfer, nebliger Überblick über die große Stadt wird nur
vom Wald aus gewährt. Beim Ausflug erscheint die Stadt in der Ferne:
Wenn wir zurückblicken, liegt die große Stadt noch verhüllt in dem silbergrauen
Duftschleier, den sie selbst sich webt und den sie, wie Penelope den ihrigen, nur
zertrennt, um ihn von neuem zu knüpfen. Wie eingewebte Goldsterne blitzen die
Kreuze der Türme – die Zeichen des Leids – darauf. (BA I, 79)
Berlin ist in Nebel verhüllt und verfügt über keine festen Konturen. Wachholder sucht
nach einer erhöhten Perspektive und identifiziert sich mit den Türmen der Stadt und
deren symbolischer Bedeutung, jedoch kann er den stadtumgebenden Schleier nicht
durchbrechen. Die Aussparung der Namen von spezifischen Lokalitäten impliziert eine
Unvertrautheit mit der Großstadt. Wachholder, der dreißig Jahre seines Lebens in Berlin
verbracht hat, scheut sich, seine Kenntnis der preußischen Hauptstadt preiszugeben und
die soziale Realität der Großstadt außerhalb der Sperlingsgasse auszusprechen.
Jedoch gibt es Anspielungen an bekannte öffentliche Plätze in Berlin, die
andeuten, dass sich Wachholder in Berlin sehr wohl auskennt. Das Sprachrohr dafür ist
aber der aus Berlin ausgewiesene Journalist Wimmer, der das gleiche Stadtbild in der
folgenden Weise schildert:
Ha, da liegt sie – die Undankbare, in welcher ich meine Nächte durchwachte und
meine Tage verschlief – Sänger und Sängerinnen, Schauspieler und
Schauspielerinnen, Ballettänzer und Ballettänzerinnen lobte oder herunterriss – in
welcher ich so manchen Leitartikel schrieb“ [...] „Nest! – Brüste Dich mit Deinen
Gardeleutnants, Deiner famosen Musenbude, die ich dort über die Dächer
zwischen dem Pfeffer und Salzfasse regen sehe; ich verachte Dich, ein deutscher
Zeichnungsschreiber!“ [...] Kehren wir dem Nest den Rücken zu! (BA I, 79)
183
Das sich zwischen dem „Pfeffer und Salzfasse“ befindende, als „Musenbude“
bezeichnete Gebäude ist Schinkels Schauspielhaus auf dem Gendarmenmarkt, das in den
früheren Abbildungen als wichtiger Ort der bürgerlichen Öffentlichkeit dargestellt wurde.
Die Erwartungen auf eine Demokratisierung wurden aber nicht erfüllt, was in der obigen
Aussage Wimmers zu Tage kommt, der resigniert und enttäuscht über seine
journalistische Tätigkeit berichtet.169 Berlin wird als „Nest“ bezeichnet, was mit den
ironischen Stadtbeschreibungen von Heine überein klingt, der die preußische
Residenzstadt in seinen Briefen aus Berlin einen „Krähwinkel“ genannt hat.170
Außer dem Sonntagausflug in den Wald übernimmt Wachholder mehrere
Spaziergänge in der Stadt und beschreibt dabei Marktplätze, den Prachtboulevard Unter
den Linden und auch einen Ausflug im Lustgarten.171 Der kürzeste Ausflug findet
während der Nacht mit einer Nachbarin Helene Berg statt. Sie ist die Tochter des Grafen
Seeburg, der Vater des Freundes Franz Ralff, der Wachholders Nachbarn war. Mit der
Figur des Grafen erscheint im Roman eine Adelskritik, die durch paradigmatische Motive
der adeligen Verführung aus dem 18. Jahrhundert in den Text eingebaut wird.172 Helene
169
Vgl. dazu besonders die Beschreibungen des Theaters als „Schreiers Hunde- und Affenkomödie,“ „eine
buntgeschmückte Bude.“ Das Theater hat dabei das Ziel, „die ästhetische Ausbildung des Hundes zu
erfrischen. [...] „Affen und Äffinnen, Hunde und Hündinnen machten ihre Kunststücke, und die Bretter
bedeuteten hier eine Welt, und Affe und Äffin, Hund und Hündin betrugen sich wie Menschen“ (BA I,
128).
170
Heine schreibt folgendermaßen über Berlin: „Ich habe es längst gewusst, dass eine Stadt wie ein junges
Mädchen ist, und ihr holdes Angesicht gern wiedersieht im Spiegel fremder Korrespondenz. Aber nie hätte
ich gedacht, dass Berlin bei einem solchen Bespiegeln sich wie ein altes Weib, wie eine ächte Klatschlise ,
gebehrden würde. Ich machte bei dieser Gelegenheit die Bemerkung: Berlin ist ein großes Krähwinkel.“
(124)
171
Wachholder verlässt seine Wohnung acht mal während der Verfassung der Chronik. Die Exkursionen
führen entweder in den Friedhof, zu Maries Grab oder in den Wald außer der Stadt. Innerhalb von Berlin
besucht er einen Weihnachtsmarkt und kurz Wimmers Redaktion. Wachholders Spaziergänge finden in der
Nacht statt, wenn er sich mit der gewöhnlichen Menge der Stadt nicht auseinandersetzen soll.
172
Franz’ Mutter Louise wird von dem Grafen verführt und der aus der Beziehung stammende Sohn, Franz
Ralff, Wachholders Kindheitsfreund, von dem Onkel Burchhard in einem Wald erzogen. In der Geschichte
erscheint das schon aus dem 18. Jahrhundert bekannte Schema über die unstandesgemäße Liebe und
Verfehlung der Adeligen gegen die bürgerliche Moral. Mehr dazu siehe Göttsche 33.
184
Berg zieht in die Sperlingsgasse und Wachholder wird bei einem Besuch auf einen Ring
mit dem Wappen der Grafen Seeburg, das eine Schlange (Zeichen der Verführung)
darstellt, aufmerksam. Nachdem Helene Berg über das Umherirren des Grafen und sein
unglückliches Leben erzählt, machen sich die Frau und Wachholder in der Nacht auf dem
Weg:
Noch an demselben Abend trug ich [den Ring] auf die Königsbrücke, und warf
ihn weithin in den Storm, nachdem ich ihn in zwei Stücke zerbrochen hatte.
Helene lehnte neben mir am Geländer, und schweigend gingen wir zurück in die
Sperlingsgasse zu unsern Kindern. (BA I, 105)
Durch die glückliche Liebe der Kinder, Elise Ralff, die nach dem Tod der Eltern von
Wachholder erzogen wird und Gustav, Helene Bergs Sohn, werden die Konflikte der
früheren Generationen versöhnt. Symbolisch wird der Familienring von der
Königsbrücke in die Spree geworfen und durch den ausgewählten Ort und die komplexe
Geschichte der Grafenfamilie eine durchdachte Zeitkritik über die Enttäuschungen der
bürgerlichen Hoffnungen auf ein konstitutionelles Deutschland verdeutlicht.
Die königliche Familie und die Adligen erscheinen in einer weiteren Geschichte,
in der über den Tod des Sohnes der Balletttänzerin erzählt wird. Obwohl sich
Wachholder während des tragischen Ereignisses die ganze Zeit in der engen Dachstube
der kleinen Familie befindet, unternimmt er eine fiktive Reise durch die Stadt. In einer
Vision beschreibt er die parallelen Begebenheiten in dem Unter den Linden liegenden
Operhaus:
Der König, die Königin und das Publikum haben sich erhoben; -- der schwere
goldbesternte Vorhang rollt langsam nieder. [...] die arme Choristin ist halb
bewusstlos an einer Kulisse zu Boden gesunken [...] mit dem herzerreißenden
Schrei: ‚mein Kind! mein Kind! [...] Wir in dem kleinen Dachstübchen haben das
nicht gesehen, nicht gehört, aber jeder kürzer werdende Atemzug des sterbenden
185
Kindes sagte uns, was dort in dem lichterglänzenden, musikerfüllten Gebäude am
andern Ende der großen Stadt geschehe. (BA I, 125)
So wie Elises Medizin „wie die oktroyierte Verfassung“ schmeckt, stellt die obige Szene
eine Zeitkritik dar, an der Aussichtslosigkeit der unteren gesellschaftlichen Schichten und
der mitleidlosen Großstadt. Im Gegensatz zu Gaertners Panoramagemälde, in denen die
öffentlichen Plätze Berlins gefeiert werden, benutzt Raabe die gleichen Orte, um ein
Urteil über die Verhältnisse der Nachmärzzeit zu äußern. Der Schriftsteller artikuliert
eine Skepsis gegenüber den in Berlin stattfindenden Ereignissen und zeigt, dass der Preis
des Fortschritts nicht die Zerstörung individueller Leben sein darf.
Ein allumfassender Blick wird in Bezug auf Berlin nie benutzt. Eine richtige
Vogelperspektive wird in der Chronik für einen ganz bestimmten Zweck reserviert,
nämlich um - statt Berlin - den bekannten Herkunftsort, das provinzielle Ulfelden zu
beschreiben:
Was ist das für eine kleine Stadt zwischen den grünen buchenbewachsenen
Bergen? Die roten Dächer schimmern in der Abendsonne; da und dort laufen die
Kornfelder an den Berghalden hinauf; aus einem Tal kommt rauschend und
plätschernd ein klarer Bach, der mitten durch die Stadt hüpft, einen kleinen Teich
bildet, bedeckt am Rande mit Binsen und gelben Wasserlilien, und in einem
anderen Tal verschwindet. Ich kenne das alles, ich kann die Bewohner der
meisten Häuser mit Namen nennen; ich weiß, wie es klingen wird, wenn man in
dem spitzen, schiefergedeckten Turm jener hübschen alten Kirche anfangen wird
zu läuten. ... Und das ist Ulfelden, die Stadt meiner Kindheit, -- das ist meine
Vaterstadt! (BA I, 19-20)
Die Erhaltung der Vogelperspektive für die Beschreibung der naturverbundenen,
organischen Kleinstadt zeigt deutlich, dass Wachholder nur über diesen provinziellen Ort
volle Kontrolle hat. Die Großstadt dagegen erscheint als eine unlenkbare Macht, der man
sich nur durch den verhübschten Fensterblick annähern kann. Jedoch bedeutet die obige
Beschreibung nicht, dass Raabes Roman mit einem binären Darstellungsschema –
186
‚Wunschbild Land und Schreckbild Stadt’ – charakterisiert werden kann. Durch die
harsche Adelskritik wird auch die ländliche Idylle der Provinz in Frage gestellt.
Ein letzter umfassender Blick aus der Höhe wird von der von Wachholder
erzogenen Tochter Elise Berg beschrieben. Während eines Ausfluges durch Unter den
Linden in die Richtung Lustgarten erzählt Elise „an dem Becken des lustig im
Mondschein sprudelnden Springbrunnens“ über einen seltsamen Traum und ein
wunderbares Märchen.173 Im Traum wird sie am Fenster sitzend auf kleine „zauberische
Wesen“ aufmerksam und ihnen folgend schwebt sie langsam zum Fenster:
Ich hatte durchaus keine Frucht, trotzdem dass es da draußen wie eine verzauberte
Welt war. – Die ganze Gasse war ein Gewirr von Tönen und Licht [...] Dabei
hatte ich nicht die Fähigkeit verloren, die gröbere, gewöhnliche Welt zu schauen
und zu vernehmen; ich kannte und belauschte die Leute in den Haustüren, die
Kinderköpfe in den Fenstern, die schlafenden Sperlinge und Schwalben in ihren
Nestern; es war wunderhübsch! (BA I, 156)
Während ihres Gassenfluges beschreibt Elise in die Fenster einblickend verschiedene
Szenen: Das kranke Kind der armen Frau Nudhart, den alten Marquart im Keller und
„das Strickzeug in den Händen“ haltend die Frau Hofrätin Zehrbein. Elise schildert eine
Kette von biedermeierlichen gemütlichen Genrebildern aus der Sperlingsgasse in der
Mitte Berlins sitzend. Im Kontrast zu Wachholder ist ihre spielerische Schilderung einer
Idylle im Herzen der Stadt.
173
Vgl. dazu Elises„Mondscheinfahrt“: „Die scharfen Schatten auf dem Pflaster und an den Häuserwänden,
das Glitzern der Fensterscheiben, die ziehenden, beleuchteten Wolken am dunkeln Nachthimmel, die
flüsternden Gruppen in den Haustüren und an den Straßenecken, alles wird nun zu einem Bild für Gustav,
zu einem Märchen für Elise. Da beleben sich die Straßen, Gassen und Plätze mit den wundersamen
Gestalten; auf den Ecksteinen lauern, zusammengekauert, grimmbärtige Kobolde; aus den dunkeln
Torwegen der alten Patrizierhäuser treten seltsame Gesellen mit nickenden Federn und weiten Mänteln und
schöne Damen besteigen weiße Zelter, in die Nacht davon reitend; Söldner im Harnisch, die Partisanen auf
den Schultern, ziehen über den Markt; Prozessionen vermummter Mönche winden sich langsam aus dem
Domportal aus alles liegt morgen, in den hübschesten Skizzen festgebannt, auf Elisens Nähtischchen, oder
treibt sich auf dem Fußboden umher“ (BA I, 157).
187
Die verschiedenen auf Berlin angewandten Perspektiven bieten in Raabes Roman
eine Vielfalt von Lebenserfahrungen dar. Die aus dem Reservoir der biedermeierlichen
Stadtgemälde mobilisierten Szenen erfüllt Raabe mit genau komponierten Einbindungen
und subtiler Zeitkritik. Statt der selbstbewussten Bürger der postnapoleonischen Zeit, die
in den Gemälden von Gaertner erscheinen, schildert Raabe Berlin als einen Ort der
verfehlten Erwartungen und gescheiterter Hoffnung nationaler Erneuerung.
Schlussfolgerung
Eine wachsende Großstadt umgibt die Sperlingsgasse, jedoch erfährt der Leser nur
zwischen den Zeilen, dass diese Stadt Berlin ist. Im Verlauf der Erzählung werden
Berlins Lokalitäten nur hier und da erwähnt, aber nie im Detail beschrieben.174 Die
„große Stadt“ bleibt im Roman, dessen Titel paradoxerweise den Namen eines sehr
spezifischen Ortes der Berliner Altstadt trägt, namenlos.175 Im starken Kontrast zu den
unscharfen Silhouetten der Großstadt treten die Räumlichkeiten der Sperlingsgasse,
Wohnungen, Zimmer und Fenster in den Vordergrund und werden in genausten Details
beschrieben. Diese räumliche Organisierung und die anscheinend formlose, mosaikartige
Erzählung ist jedoch ein streng durchkomponiertes Werk.176 In der Komposition werden
174
Raabe erwähnt in seinem Roman Berlin fast nie explizit: „Ein Student in der Philosophie in der großen
Haupt- und Universitätsstadt“ (BA I, 15); „wenn die Fensterscheiben nicht so gefroren wären, könntet ihr
den Turm der neuen Sophienkirche sehen, die gebaut wurde, nachdem die alte abgebrannt ist“ (102).
Sporadisch werden einige Berliner Lokalitäten genannt, aber nie richtig beschrieben: Johanniskirchhof,
Sophienkirche, Butter und Wagener am Gänsemarkt, Wassertor, Grüner Tor (216), Fontainenplatz,
Goldfische füttern (248), Gustav: Schnollys Konditorei, Gemüsemarkt, bal champêtre in Wasserhof („Der
Weg dahin ist gar nicht schön“ Faust über den Wasserhof).
175
Die Bezeichnung “die große Stadt” bezieht sich bei Raabe konsequent, auch in seinen späteren
Romanen, auf die Stadt Berlin. Vgl. dazu Fuld 67, Klotz 168.
176
Vgl. dazu die Werke von Brand, Maatje und Göttsche, die Raabes Chronik als eine Sammlung von
Widerspieglungen und als rigide durchstrukturierte Doppelform lesen.
188
bekannte Bilder der Berliner Vedutenmalerei benutzt und mit tagespolitischen Inhalten
ergänzt und neu geschrieben.
Raabe beschreibt keineswegs die verführerische Masse in der Großstadt, sondern
sucht nach einer verlorenen Welt und kritisiert die bestehenden Verhältnisse durch die
Lebensgeschichten der Bewohner der verborgenen Straßen. Wachholder, wie viele
andere Raabe Protagonisten, schützt sein eigenes Territorium. Diese scheinbar ländliche
Idylle funktioniert jedoch als eine harsche, umfassende Zeitkritik, in der auch die
öffentlichen Plätze der Stadt eine wichtige, oft symbolische Rolle spielen. Berlin
funktioniert als ein ständig präsenter Reiz des Fremden, dem Wachholder nicht
widerstehen kann. Seine kreative Tätigkeit ist völlig abhängig vom urbanen Raum, was
eine Spannung ins Leben ruft: Einerseits ist die Stadt eine drohende, fremde, mitleidslose
Macht, anderseits erlebt Wachholder sie als einen befreienden Raum, in dem er
künstlerisch und literarisch kreativ inspiriert wird und schriftstellerisch experimentieren
kann.177 Zu diesem Experimentieren gehört zweifellos sein Versuch, im Roman eine
erhöhte Beziehung zwischen Malerei und Literatur ins Leben zu rufen und so einen Text
zu produzieren, dessen Visualität und frühe Montagetechnik zur radikalen Umwandlung
der herkömmlichen Erzählweise in den kanonisierten Großstadttexten des 20.
Jahrhunderts erheblich beigetragen hat. Das Erbe des Biedermeier weiterführend
verwendet Raabe ein komplexes, selbstreflexives Darstellungsverfahren in den Blättern
seiner Chronik, die eine würdige Position im Kanon der Berlin-Texte des 19.
Jahrhunderts verdient.
177
Die Chronik ist unter anderem ein literarisches Experiment, in dessen Verfassung der Leser, der
regelmäßig angeredet wird, mehrmals einbezogen wird.
189
KAPITEL 4.: Berlin-Topographien in ausgewählten Werken Wilhelm Raabes
Einführung
„Die Geschichten, die ich selber erlebe, sind mir ein sehr schätzbares Material zur
Weiterbildung und Vervollkommnung meiner Individualität [...] Ich lernte von
den Pflastersteinen in der Gasse und den Wänden meines Zimmers, und von den
letzteren, sowie von der Decke und dem Fußboden fast noch mehr als von den
ersteren, denn sie waren sehr dünn und pflanzten die Schallwellen eher fort, als
dass sie dieselben aufhielten.“ (Theklas Erbschaft)
Autobiographische Geschichten in Berlin sind in dem Raabeschen Oeuvre von
besonderer Bedeutung. Die obigen räumlichen Beschreibungen, die Pflastersteine der
Gassen und die Zimmerwände, können mit Raabes erstem und bedeutendestem Berlin
Aufenthalt sowie mit seinem Debütroman verbunden werden. Im Gegensatz zur
Fensterblick und zu Wachholders erhöhter Perspektive in der Chronik bekommen die
untere Welt der Stadt, „der Fußboden“ und der in der Großstadt Geschichten sammelnde
Erzähler eine wichtige Rolle in mehreren nachkommenden Romanen von Raabe. In
einem späten Text, der unter dem an Edgar Allan Poes The Man of the Crowd
anspielenden Titel „Einer aus der Menge“ veröffentlicht wurde, charakterisiert Raabe die
in der Stadt Geschichten sammelnden Erzähler als „Lumpensammler“ und
„Kehrichtdurchschauer“ (BA II, 45). Der Protagonist erscheint auf den Pflastersteinen
von Berliner Gassen sowie in intimen inneren Räumen und sucht nach einer
Geborgenheit im Treiben der Welt und nach Schätzen und Perlen der Vergangenheit. Die
Suche nach Sicherheit und die Wichtigkeit der intimen inneren Räume erscheinen auch in
Raabes Zeichnungen. In jeder Stadt, in der Raabe eine längere Zeit verbracht hat, Berlin,
190
Braunschweig und Stuttgart, verewigte das Doppeltalent sein Arbeitszimmer in einer
Zeichnung.
Abbildung 18: Wilhelm Raabes Zimmerzeichnungen aus Berlin und Stuttgart
In den Federzeichnungen erscheinen jedoch nur Interieurs und nie die äußere
Wirklichkeit der entsprechenden Städte.
In dem vierten Kapitel der Dissertation werden ausgewählte Werke vom
Raabeschen Oeuvre mit den zeitgenössischen malerischen Repräsentationen Berlins
verglichen, um die ästhetischen und thematischen Ähnlichkeiten und Unterschiede
herauszuarbeiten. Drei Romane mit drei verschiedenen Themenkreisen und
Erzähltechniken stehen im Zentrum des Kapitels: Altstadtromantik und
Großstadtinteresse in Ein Frühling (1857), die Darstellung der Industrialisierung und die
Anwendung der Vogelperspektive in Die Leute aus dem Walde, Ihre Wege, Sterne und
Schicksale (1863) und die Schilderung der Berliner Vorstädte sowie der Universität in
Die Akten des Vogelsanges (1895) und in malerischen Repräsentationen. Die drei
Romane sind drei verschiedene Annäherungen, um die Komplexität Berlins darzustellen
und können auch dazu benutzt werden, die künstlerische Entwicklung Raabes in Bezug
191
auf seine Berlin-Repräsentationen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu
analysieren.
In dem ersten Roman, Ein Frühling, werde ich Raabes Vorliebe für die Vorstädte,
den Übergang von der Altstadt zu dem Stadtrand diskutieren und sein Text mit der
biedermeierlichen Vedutenmalerei und mit Werken der zeitgenössischen Berlinischen
Malerei vergleichen. Ein Frühling hat noch mehrere Elemente aus der Chronik, jedoch
weist der Text schon auf Raabes Spätinteresse in Bezug auf Berlin voraus. Den zweiten
Text, Die Leute aus dem Walde, benutze ich, um Raabes Anwendung der erhöhten
Perspektive (Turmblick und Vogelschau) im Kontext der zeitgenössischen Literatur, und
Malerei zu analysieren. Dabei werden Werke aus dem ganzen 19. Jahrhundert benutzt
und Raabes Einzigartigkeit in dieser Repräsentationsform erklärt. Das letzte Segment
dieses Kapitels widmet sich einem Universitätsroman und vergleicht dabei Raabes
Thematisierung der Berliner Nachbarschaften mit einem Gemälde von Adolph Menzel
und die Darstellung der Berliner Universität mit Eduard Gaertners berühmten
Universitätslithographie. Die drei Romane wurden mit dem Ziel ausgewählt, um die
Vielfältigkeit von Raabes Berlin-Darstellungen zur Schau zu bringen und chronologisch
drei verschiedene Repräsentationsphasen zu analysieren. Trotz der verschiedenen
Themen und Topographien wird Berlin jedoch in allen drei Texten oft mit den gleichen
semantischen und erzähltechnischen Mitteln charakterisiert, was ermöglicht, die
wichtigsten Komponenten von Raabes „Berlinischen Geschichten“ zu definieren.
In den Analysen werden einerseits Gemälde von Adolph Menzel aber auch von
der Biedermeierzeit in Betracht gezogen. Es werden auch nicht-fiktive Berlin Texte von
Julius von Rodenberg und Friedrich Sass benutzt, die als Berliner Chronisten über die
192
Folgen der Industrialisierung, Gasbeleuchtung, Wasserversorgung, Linienverkehr aber
auch von den Entwicklungen wie Verarmung, Verelendung, Verwahrlosung und
Prostitution berichtet haben. Ziel ist in den kulturwissenschaftlichen Interpretationen von
literarischen Texten einen breiten Kontext in Betracht zu ziehen und die Ähnlichkeiten
und Unterschiede zwischen den gemalten und verdichteten Stadtrepräsentationen
herauszuarbeiten und eine partielle Typologisierung von den Berlin-Bildern Raabes
aufzustellen. Raabes Berlin-Bilder sind mehr als Repräsentationen einer unbekannten
Stadt aus der Ferne, die im Nebel verhüllt und durch einen Schleier angeschaut wird,
sondern es sind komplexe Darstellungen von zahlreichen zeitgenössischen Problemen
über Großstadtentwicklung und Modernisierung sowie bewusste Einschreibungsversuche
in den schon existierenden literarischen und malerischen Kanon von BerlinRepräsentationen des 19. Jahrhunderts.
„Ich bin unendlich froh, dass ich den Berliner Schwindel los bin!“: Berlin und
Raabe nach der Chronik
Obwohl Raabe nach dem Erfolg der Chronik nie wieder eine längere Zeit in Berlin
verbracht hat, hat die Stadt auch auf seine späteren Werke einen prägnanten Einfluss
ausgeübt. Berlin erscheint in zahlreichen Texten; der Germanist Albert Lorenz zählt „fast
zwanzig Werke,“ in denen die Hauptstadt ganz oder teilweise thematisiert wird (40). In
diesen Texten kommt es zu Tage, dass Raabe die Realitäten der Hauptstadt in den
späteren Jahren seines Lebens nur indirekt kannte, da in den späteren Texten seine
Jugenderinnerungen dominieren. Raabes Berlin-Erfahrung ist stark ambivalent geblieben:
Trotz aller haftenden Eindrücke und nachhaltenden Erinnerungen, die Raabe mit seinen
193
Studienjahren in Berlin verband und die auch in seine Romane einen Weg gefunden
haben, hat Raabe die Stadt nach dem Universitätsstudium vermieden. In der jüngsten Zeit
haben mehrere Raabe Biographen nach den Gründen dieser Vermeidung gefragt und
spekuliert, warum Raabe nie wieder in Berlin sesshaft werden wollte.
„In Berlin nicht zu ermitteln“ ist der Titel von Horst Denklers Beschreibung von
Raabes Beziehung zu Berlin nach dem Erfolg der Chronik. Diese Analyse beginnt mit
einer Geschichte, die die Ambivalenz in Raabes Beziehung zu Berlin klar macht. Berliner
Postbeamte haben nämlich einen falsch adressierten Brief an den Schriftsteller nach
Braunschweig weitergesandt, was zeigt, dass Raabes Wohnsitz zu seiner Zeit auch in
Berlin vermutet werden konnte. Die Geschichte macht aber auch klar, dass die Berliner
Postbeamten besser gewusst haben als ihre Kollegen in der Provinz, die den Brief nicht
zustellen konnten, wo der berühmte Schriftsteller lebt. Nach Horst Denkler hatte Raabe
mehrere Gründe, Berlin nicht sehen und besuchen zu wollen: Er wollte Vieles verdrängen
und er nahm an viele Sachen (Literaturbetrieb, Erfahrungsbereiche des Intimlebens)
Anstoß.
Raabe erlebte in Berlin eine Auflösung der alten Sittlichkeitsbegriffe, wobei, wie
Friedrich Sass es beschrieb „parisische Lebenselemente sich geltend machen“ (Sass
27).178 Nach seinen Biographen soll der junge Schriftsteller in der Leipziger Straße
Tanzunterricht genommen und dafür seine Schiller-Ausgabe versetzt haben.179 Raabe
besuchte auch gern das Theater und die Figuren des Theaterlebens, besonders
Balletttänzerinnen, erscheinen in mehreren Berlin-Texten. Faszination wie Anstoß sind
mit diesen Figuren und Erlebnissen verbunden, was eine Komponente der oben
178
179
Vgl. auch dazu Glassbrenners Beschreibung Berlins als „modernes Babylon“ (Glassbrenner I, 46).
Vgl. dazu Fritz Hartmann 27.
194
erwähnten Ambivalenz konstituiert.180 Als Beispiele sind die arme Balletttänzerin in der
Chronik und die Sängerin Alida in Ein Frühling zu nennen, die beide liebenswürdige,
jedoch mit Distanz beschriebene Figuren sind.
Zweitens hatte der Schriftsteller Probleme an der Universität und auch zu dem
‚gelehrten Berlin’ eine zwiespältige Beziehung aufgebaut. Strenge Hochschulordnung
und repressive Innenpolitik waren nämlich mit der Berliner Universität in der Schul- und
Bildungspolitik der Restauration verbunden. Horst Denkler zeigt in seinem Artikel
Spuren der Selbstbefreiung Raabes von den Uniprofessoren, indem der Student Wörter
wie „Autodidactik“, „Kunstfleiß“ und „selbstschöpferische Freiheit“ notiert.181 Einerseits
war die Berliner Universität dem wissensdurstigen Studenten Orientierungshilfe, jedoch
distanzierte sich Raabe selbst bald vor der „Kunst und Litteratur-Stadt“ Berlin.182 Durch
seine Universitätsstudien in Berlin wurde für Raabe die preußische Hauptstadt vor allem
zum Bildungserlebnis und erscheint auch in seinen Romanen immer wieder als
Universitätsstadt. Das Thema zeigt sich am markantsten im Roman Die Akten des
Vogelsangs und wird auch in diesem Kapitel untersucht.
Wichtig ist zu erwähnen, dass Raabe Berlin nach 1857 nie wieder besucht hat. Es
sei ihm nicht möglich, wie er schreibt, „einen Platz wieder zu betreten,“ von dem er 1857
„mit der festen Überzeugung weggegangen“ sei, „dort nie in weiten Kreisen wieder einen
Widerhall zu finden“ (zitiert nach Goldammer 58). Raabe wollte sich jedoch mit Berlin
aus der Distanz, als Schriftsteller der Provinz literarisch auseinandersetzen und seine
180
Sängerinnen und Balletttänzerinnen erscheinen in den ersten zwei Berlin-Romanen (Die Chronik, Ein
Frühling).
181
Raabe „begann er sich bereits aus der politisch geknebelten und wissenschaftlich verknöcherten
Universität herauszutasten“ (Goldhammer 50)
182
Horst Denkler zeigt auch, was Raabe in sein Tagebuch während eines Berlin-Aufenthaltes eingetragen
hat: „Imaginationen. Ich imaginiere. Ich imaginiere mich in mich hinein.“ (Tagebucheintrag
Oktober/November 1857).
195
Stadtfantasien enthüllen Angst und Faszination gleichzeitig. Nach Volker Klotz und
Charlotte Jolles bleibt Berlin - wie in der Chronik - auch in den späten Berlin-Romanen
anonym (Jolles 55, Klotz 76).183 Das kommt einerseits in einer Namenlosigkeit (Berlin
wird „die Millionenstadt“, „die Allerweltstadt“ etc.), anderseits in der Anwendung von
fiktiven Straßen zu Tage.
Die im ersten Berlin-Roman erfolgreich angewandte Topographie, die eine enge
Straße als den Hauptort wählt, erscheint auch in den späteren Berlin-Romanen. Es gibt
eine gute Zahl von Berliner Straßen in den späteren Berlin-Romanen: die Dunkelgasse in
Ein Frühling, die Musikantengasse in Die Leute aus dem Walde, die Grinsegasse in Der
Hungerpastor, die Schulzenstraße Im alten Eisen. Im Gegensatz zu der Spreegasse
befinden sich jedoch diese Gassen nicht mehr im Zentrum der Stadt, sondern in
ärmlichen Viertel der wachsenden Stadt. In diesem Sinne gibt es eine Verschiebung in
der Anwendung des Gassentopos in den der Chronik nachfolgenden Werken. Berlin aus
der Ferne betrachtend literarisiert Raabe nicht nur viele zeitgenössische Probleme, wie
die sozialen und ökonomischen Folgen der Industrialisierung, sondern er webt in den
Texten auch seine Jugenderinnerungen ein mit reichen Referenzen auf die
biedermeierliche Vedutenmalerei sowie auf die zeitgenössischen Tendenzen in den
malerischen Repräsentationen Berlins. Viele von den Stadtbeschreibungen findet man
auch in den zeitgenössischen Stadtgemälden Berlins, die nach der Revolution sowohl
thematisch, als auch ästhetisch veränderten.
183
Eine oft zitierte Technik Raabes, die Stadt anonym darzustellen, sind Beschreibungen in denen Berlin
im Nebel oder hinter einem Schleier dargestellt wird. Ein solches Bild wurde im dritten Kapitel behandelt,
jedoch erscheint auch im zweiten Berlin-Roman (Ein Frühling) von Raabe. Dieses Mal erscheint die Mitte
der Stadt im Nebel verhüllt: „Der Graf Richard Hagenheim stand am Fenster des Vaterhauses, die Arme
über der Brust gekreuzt, hinausschauend in das weiße Meer des Morgennebels, der den weiten Opernplatz
fast ganz verhüllte. Die gegenüberliegende Häuserreihe war dem Auge vollständig entzogen, gespensterhaft
schaute das Operhaus selbst durch den Schleier, welcher es verdeckte, und nur der eherne Apollo, der auf
der Giebelspitze sein Viergespann lenkt, trat klarer in der reinern, höhern Luft hervor“ (BA I, 406).
196
Exkursus: Berliner Stadtmalerei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Um die Gemäldewahl in den nächsten Textanalysen zu begründen, soll zuerst ein kurzer
Exkursus in die Geschichte der Berliner Stadtmalerei in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts gemacht werden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielte das
Thema Stadtansichten bis in die achtziger Jahre in der deutschen Malerei eher eine
untergeordnete Rolle. Die Berliner Malerei, wie das dritte Kapitel in Bezug auf Gaertner
und seine Zeitgenossen zeigt, hatte in der Biedermeierzeit auf dem Gebiet der
Stadtdarstellung wichtige Leistungen erbracht, jedoch verlor sie in den Jahren nach der
1948er Revolution zunehmend an Bedeutung. Das heißt, dass es in Raabes Schaffenszeit
eine geringere Zahl von bedeutenden Stadtgemälden gab als in der vorrevolutionären
Zeit. Nach 1871 vermochte die Hauptstadtfunktion keinerlei Impulse für eine
Weiterentwicklung der Malerei zu geben. Erst durch den Einfluss der französischen
Malerei, besonders des Impressionismus, erhielt die Berliner Kunst, die zu diesem
Zeitpunkt weit hinter München stand, entscheidende Anregungen (Bothe 173). Erst um
1900 war Berlin wieder zur führenden deutschen Kulturmetropole aufgestiegen.
Eine Ausnahme innerhalb des Niedergangs der Berliner Kunst bildete Adolph
Menzel (1815-1905), der bereits in den vierziger Jahren die Stadt als Bildthema entdeckte
und stilistisch einen völlig neuen Weg einschlug. Sein Bruch mit der Tradition erscheint
in ästhetischen und thematischen Bereichen, wie in der Anwendung einer vorimpressionistischen Malweise und in der Entdeckung des unmittelbaren Lebensbereiches
und in der Darstellung von Elend und Armut.
197
Die Entdeckung der Berliner
Gegenwart manifestiert sich in
einer Vielfalt von Themen und in
Bezug auf Raabes Berlin-Texten
sind Menzels Repräsentationen der
ausdehnenden Stadt und die Folgen
der regen Bautätigkeit von
besonderer Bedeutung. Wichtig ist
hier zu erwähnen, dass, nach dem
Kunsthistoriker Karl Arndt, kein
anderer als Adolph Menzel den
größten künstlerischen Einfluss auf
den zeichnenden Raabe geübt hat
(133), besonders mit seinen
Abbildung 19:
Adolph Menzel, Maurer auf dem Bau (1875)
Buchillustrationen.
Arndt vergleicht mehrere Skizzen Raabes mit Menzels Buchillustrationen und kommt zur
Schlussfolgerung, dass Menzel in Raabes Formensprache sowie im thematischen Bereich
eines der wichtigsten Vorbilder war (135). Diese Beziehung wird in der Analyse der
malerischen Darstellung der berlinischen Vorstädte bei Menzel und Raabe in dem letzten
Teil dieses Kapitels demonstriert. Beide, Maler wie Schriftsteller, zeigen besonderes
Interesse für die Thematisierung des Stadtrandes während der zunehmenden
Urbanisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
198
Neben der Darstellung von Stadtbauten, Industrialisierung und den Folgen des
Wachstums, was besonders bei Menzel eine wichtige Rolle bekommt, haben Maler in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das alte Zentrum Berlins für eine kurze Zeit
wiederentdeckt (Bothe 180). Nach den Befreiungskriegen war die Darstellung
mittelalterlicher Bauten zum bestimmenden Thema der Architekturmalerei geworden,
wie Werke der Vedutenmalerei aus dieser Zeit demonstrieren. Die Gemälde in der
zweiten Hälfte des Jahrhunderts konzentrierten sich nicht mehr auf die neuen Stadtteile
und funktionierten als eine Kritik der biedermeierlichen Veduten- und
Architekturmalerei. Die Kritik an der Architekturmalerei verschärfte sich nach 1860, als
sich die stimmungsvolle und auf oberflächliche Beleuchtungseffekte zielende Darstellung
von Bauten immer stärker auf die Wiederholung konzentrierte. Die nüchterne
Wiedergabe von Straßen und Plätzen einer regelmäßig gebauten Stadt wurde zum Opfer
der Kunstkritik und war nicht mehr der Gegenstand malerischen Interesses. Gleichzeitig
wurde das Aufkommen der Fotographie als Konkurrenz angesehen und hat auch den
Geschmack der Kunstkunden verändert.
Im Gegensatz zu den Vedutenmalern, deren Gemälde die neusten Einrichtungen
Berlins thematisierten, haben Maler in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Altstadt
entdeckt. Ihr Interesse galt aber nicht nur den mittelalterlichen Kirchen (wie in den
Zeichnungen von Friedrich Gilly und Karl Friedrich Schinkel), sondern der historischen
Stadtgestalt als Gesamtorganismus vom Mittelalter bis weit ins 19. Jahrhundert, sofern er
als gebauter Lebensraum gefährdet war. Viele Gebäude wurden kurz von ihren
Abbrüchen (z.B. Berliner Rathaus) gemalt. Der Kunsthistoriker Rolf Bothe
charakterisiert diese Tendenz mit den folgenden Worten: „Die Maler wurden zu
199
Bewahrern der Geschichte und nur bedingt zu Chronisten ihrer Zeit“ (182). Dabei gab es
aber keine kritische oder anklagende Darstellungen über die Zerstörung der alten
Stadtteile, sondern eine objektive Schilderung der aktuellen Bauverhältnisse und
Veränderungen. In diesem Sinne arbeiteten die Maler als Chronisten, die die
zeitgenössischen Umgestaltungen in ihren Darstellungen nüchtern zur Kenntnis
genommen haben. Die folgenden Bilder sind Beispiele für diese Annäherungen:
Abbildung 20: Georg Schöbel, Mühlendamm und Fischerbrücke (1890)
200
Abbildung 21: Rudolf Dammeier, Die Spree längs der Stralauer Straße (1882)
In der bildenden Kunst blieb die kritische Auseinandersetzung mit der Stadt vorrangig
auf die Gebrauchsgraphik beschränkt. Aus den 80er Jahren gibt es einige Graphiken von
Max Klinger, die sich mit den sozialen Problemen und dem Pauperismus in den
Vorstädten und Berliner Hinterhäusern auseinandersetzen.
Mordszenen, Familiengewalt, Armut und
Kriminalität sind die wichtigsten Themen in
diesen graphischen Darstellungen. Außer diesen
graphischen Repräsentationen gab es im neuen
Deutschen Reich vorrangig Gemälde, die, wie
schon oben gezeigt, im Gegensatz zu den
technischen und industriellen Entwicklungen
eine städtische Vergangenheit betonten.
Abbildung 22: Max Klinger, Ein Mord ist
geschehen (aus dem Opus „Dramen“, 1882)
201
Der Exkursus in die Geschichte der Berliner Stadtmalerei in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts weist wesentlich zwei Richtungen auf. Einerseits gibt es ein
allgemeines Interesse für die alte, vergangene Zeit, die man in Gemälden, die die Altstadt
darstellen, entdecken kann. Andererseits gibt es auch Beispiele, die die aktuellen
architektonischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen repräsentieren. Dass die
Doppelbegabung Raabe in seinen späteren Berlin-Werken oft besonders diese zwei
Strategien anwendet, rechtfertigt die Nebeneinanderstellung von Gemälden mit den
literarischen Texten. Neben den zeitgenössischen malerischen Tendenzen mobilisiert
Raabe auch Abbildungen Berlins, die aus der Biedermeierzeit stammen. Die bekannten
Bilder werden jedoch mit neuen Inhalten aktualisiert, wie es schon im Fall der Chronik
analysiert wurde.
Ein Frühling: Zwischen Altstadtromantik und Großstadtinteresse (1857)
Den zweiten Roman Raabes, den er nach der Fertigstellung der Chronik 1857 verfasst
hat, nennt der Erzähler – den Chronisten Johannes Wachholder evozierend – ein buntes
„Frühlings-Bilderbuch“ (BA I, 285). Der Text war von Ende Juni bis Anfang August in
der Deutschen Reichszeitung abgedruckt worden, die in dem Braunschweiger Verlag
Friedrich Vieweg & Sohn erschien. Der Schauplatz ist immer noch Berlin, jedoch
verändert sich die urbane Topographie der preußischen Hauptstadt und während einige
ästhetische Merkmale mit der Chronik verbunden werden können, weisen andere schon
auf die Rolle, die Berlin in den Spätwerken prägt, hin. Die Gestalten in diesem Roman
leben wie diejenigen in der Chronik in kleinen Berliner Gassen.
202
Die Enge der zentralen Gasse, wie in der Chronik, treibt ganz verschiedene Leute
zusammen und funktioniert als ein zusammengedrängter Raum und eine schroffe
Abbildung der sozialen Diversität der Großstadt:
Eng, steil und dunkel sind in der Dunkelgasse die Treppen der Häuser, die Wände
salpeterglänzend, der Boden feucht und moderig [...]. Bleich und abgemagert sind
die Gesichter der meisten Bewohner in der Dunkelgasse; Haufen schmutziger,
zerlumpter Kinder – Pilzgeschlecht! – kauern auf den Treppenstufen der Häuser...
Eine Runzel auf dem Gesichte der großen Stadt ist die Dunkelgasse. (BA I, 190)
Wie aber schon das obige Zitat und die Namen der Gassen, die in diesem Text bewohnt
werden, die Dunkelgasse und die Blutgasse, implizieren, bekommen die Realitäten der
Großstadt in diesem Roman viel dunklere Farben als in der Chronik. Die zitierte
Beschreibung der Dunkelgasse steht mit der Sperlingsgasse in einem starken Kontrast, da
sie nicht mehr als Oase funktioniert, sondern als eine komplexe Abbildung der sozialen
und ökonomischen Realitäten der modernisierenden preußischen Hauptstadt.184
Diese ästhetische Wendung in der Darstellung Berlins ist auch das Resultat von
Raabes poetischer Entwicklung, der nach dem Erscheinen der Chronik in ein Heft die
folgende ästhetische Reflexion eingetragen hat: „Niemals eine bloß ins Kleine malende
Schilderung, sondern stets durchwoben mit lebenden Bildern. – Leben! Leben! Leben! –
Plastik!“ (BA I, 475). Im Gegensatz zu der Chronik, deren Beschreibung in der
Sekundärliteratur als eine Kette von „genrehaften Szenen“ immer wieder betont wurde,
wollte sich Raabe nach seiner Aussage in den nächsten Werken von dieser Bezeichnung
befreien und statt biedermeierlichen Genreszenen plastische und lebendige Bilder
verdichten.185 Diese poetische Verwandlung wird in diesem Segment des Kapitels in der
184
Pauperismus und Elend erscheint auch in der Sperlingsgasse, jedoch dominieren diese Bilder mehr in
dem zweiten Roman.
185
Einige Figuren aus der Chronik erscheinen in diesem Werk. Die arme Tänzerin lebt in der Gestalt
Angela weiter und der Karikaturenzeichner Strobel, sein Grabdenkmal, wird auch besucht: „Ulrich Georg
203
topographischen Darstellung (und Neuschreibung) Berlins durch eine räumliche und
intermediale Analyse herausgearbeitet. Wie viele der zeitgenössischen Berlin-Gemälde
aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kann der zweite Berlin-Roman Raabes als
eine Mischung von Altstadtromantik und Großstadtrealitäten charakterisiert werden, in
dem auch bekannte Bilder der biedermeierlichen Malerei mit neuen Inhalten ausgefüllt
werden.
Diese Mischung erscheint auch in der Suche nach dem titelgebenden Frühling in
der Großstadt: „Wo ist der Frühling? [...] in der großen Stadt, wo Fesseln und
Gefängnisse, Krankenbetten und Särge, alles Böse und Traurige, welches der Menschheit
anklebt, am meisten zu finden ist, müssen wir ihn suchen!“ (BA I, 370). Die Stadt wird
schon in den ersten Seiten des Romans mit Tod, Elend und Armut in Verbindung
gebracht, jedoch hofft der Erzähler, dass er, wie andere „Suchende“ in Raabes BerlinTexten, in der Mitte des Elends Schönheit und Idylle schaffen kann. Diese Ideale werden
durch die Protagonistin Klärchen Aldeck zum Ausdruck gebracht. Klärchen wird auf
dem Lande, in einem Kloster groß und träumt sich „unter Vögelzwitscher, Orgel- und
Glockenton und dem Gesang der Domgemeinde [...] ins Selbstbewusstsein hinein“ (BA I,
182). Nach der kurzen Beschreibung der ländlichen Kindheit erscheint die
großgewordene Klärchen jedoch selbstbewusst und wie eine eingeborene Berlinerin im
Herzen der preußischen Hauptstadt und ihre Anpassungsfähigkeit und selbstsichere
Bewegung in der Stadt findet der Erzähler faszinierend.186 Der Erzähler folgt Klärchen in
Strobel! [...] Ein Maler Tochter! Einer von jenen Einsamen, die von denen welche den Namen Gottes stets
im Munde führen und denen doch die Welt leer ist von Gott, nie begriffen werden! In Neapel lernte ich ihn
kennen, ehe ich nach Rom kam [...] Ruhe sanft, Ulrich Strobel!“ (400). Obermeier: „Soll ein vertaufter
Gesell gewesen sein, dieser Strobel!“ (BA I, 401)
186
Vgl. auch dazu: „Was suchst du hier in der hässlichen, schmutzigen Stadt?“ (BA I, 179)
204
der Stadt und bezeichnet sie als „ein Kind der Gassen“ und ihre Geschichte als „ein
Gassenmärchen“ (BA I, 185).
Der anonyme Biograph Klärchens reflektiert oftmals über seine Erzählstrategie
und enthüllt dabei seine fehlenden Kenntnisse über die Topographie Berlins: „Jetzt aber
müssen wir unserm Klärchen folgen. Drei Stufen für eine nehmend, springt sie die
Treppe hinab und ohne Furcht hinein in den Regennebel der Straße“ (BA I, 189) [...] „Ich
bin vollständig zu Ende mit meiner Ortskenntnis. Willst du deinen Biographen Hals und
Beine brechen lassen?“ (BA I, 201). Es gibt jedoch auch Stellen, die von der
Allwissenheit des Erzählers zeugen, der sich in der Mitte der Stadt sowie am Stadtrand
gut auskennt.187 Klärchen, auch „Caritas der Gasse“ genannt, verkehrt ohne
Schwierigkeiten zwischen den alten und neuen Stadtteilen, zwischen armen und reichen
Haushalten und erscheint „in dumpfen Kellerhöhlen“ sowie „in windigen Dachstuben“
(BA I, 190). Mit dieser Strategie schafft der Erzähler einen vielfältigen urbanen Raum, in
dem die bei Raabe schon in der Chronik angewandten engen Gassen nur eine partielle
Rolle bekommen.
Neben fiktiven Gassennamen, den „dunklen Gangen, welchen nur der hier genau
Bekannte ohne Gefahr für Hals und Beine beschreiten [können]“ (BA I, 187), wie die
Dunkelgasse und die Blutgasse, erscheinen auch viele reale Orte in Berlin. Einige
Adressen von diesen öffentlichen Berliner Orten werden präzis angegeben: Hörsäle der
Universität, das renommierte Putzgeschäft der Madam Mecker in der Königsstraße, die
Firma Hack und Kompanie: Mineral- und Drogeriehandlung in der Innenstadt,
Rauchzimmer von einer Konditorei und die Geschäftsgewölbe des alten Kleiderhändlers
187
Vgl. dazu zum Beispiel die folgende Aussage des Erzählers: „Schon einmal haben wir in einer Nacht –
der Walpurgisnacht – die große Stadt durchwandert, die Gestalten unseres Frühlingsbilderbuchs
aufzusuchen. Dasselbe müssen wir jetzt tun“ (BA I, 302).
205
Jakob Rosenstein (BA I, 357), um nur einige zu nennen. Die Mischung von realen und
fiktiven Ortsangaben und Berliner Adressen hat eine doppelte Wirkung. Einerseits spricht
der Text Leser an, denen die Topographie Berlins bekannt ist, andererseits wird die Stadt
im Roman poetisiert und Orte als Metapher benutzt. Dem letzteren Ziel dient auch die
Strategie, Gestalten durch ihre Berliner Adressen zu charakterisieren: z.B. Alida, die
weltberühmte Sängerin wohnt in der Mitte der Stadt in der Ritterstraße Nr. 16. und das
vielgeprüfte und verarmte Geschwisterpaar Georg und Eugenie am Stadtrand in der
Blutstraße Nr. 6., in einem Haus, das auch als „Zur scharfen Ecke“ bekannt ist und durch
eine blutige Geschichte belastet ist.
In der Darstellung von öffentlichen Plätzen der Hauptstadt, wie die Umgebung
des Opernplatzes und Orte Unter den Linden, benutzt Raabe oft aus der
biedermeierlichen Vedutenmalerei bekannte Bilder. Das folgende Zitat schildert die
Umgebung der Oper, die aus dem Fenster eines Unter den Linden liegenden Hauses
beschrieben wird: „Der Alte stand auf und schlug den Fenstervorhang etwas zurück; noch
glühte die Quadriga auf der Giebelspitze des Opernhauses im letzten, roten Stahl der
Abendsonne“ (BA I, 330). Ein aus den Gemälden der biedermeierlichen Architekturmaler
bekannter Ort, das Opernhaus, wird durch die von den Vedutenmalern bevorzugten
Lichteffekte, wie der abendlichen Wärme, charakterisiert. Raabe mobilisiert jedoch auch
die zeitgenössischen Techniken in der Charakterisierung der wachsenden Hauptstadt,
wenn er neben der Evozierung der Vedutenmalerei das Großstadtinteresse sowie die
Altstadtromantik der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schaffenden Berliner
Maler teilt.
206
In Ein Frühling stellt Raabe durch die urbane Topographie sowie durch die
Figurenkonstellation ein Panorama aller Schichten der hauptstädtischen Gesellschaft dar
und bezieht auch die Welt außerhalb der Stadt in den Roman ein.
Neben der Hauptdarstellerin, dem Waisenkind Klärchen Aldeck, lernt der Leser
Intellektuelle (der Naturforscher Privatdozent Dr. Justus Obermeier, Doktor Hagen,
Antiquar Seibold und der Student Georg Leiding), Künstler (Sängerin Alida aka Lida
Mayer) und kleinbürgerliche Geschäftsführer und Mädchen des damaligen Berlins (z.B.
Louis Schollenberger und Ruth Rosenstein) kennen. Durch die reichen und armen, auf
verschiedenen Stufen der sozialen Leiter stehenden Figuren ergibt sich ein komplexes
Stadtbild, in dem enge Dachstuben der Armut ebenso viel Raum bekommen wie die
reichen, geräumigen Häuser in der Prachtstraße Unter den Linden.188
Die Dichotomie zwischen Armut und Reichtum charakterisiert die Dunkelgasse
besonders, wie das folgende Zitat zeigt: „Eine Runzel auf dem Gesichte der großen Stadt
ist die Dunkelgasse! [in der] die Gegensätze pikant sind, weil Lumpen malerisch sein
können“ (BA I, 190). Die Ungleichheiten existieren jedoch noch ziemlich harmonisch
nebeneinander und dabei funktioniert Klärchen,189 die „Caritas der Gassen“, als eine
Verknüpfungsfigur, die mit allen gesellschaftlichen Schichten in Verbindung steht und
deren Charakter eine einzelartige Hilfsbereitschaft in der großen Stadt verkörpert.190
188
Vgl. dazu: „Die Fenster der Dachstube, zu welcher Klärchen hinaufsteigt, sind mit armseligen,
zerrissenen Vorhängen verhüllt.“ (BA I, 191) und „In der glänzenden, meistenteils von der vornehmen
Welt bewohnten Königsstraße befindet sich das elegante Magazin der großen Modistin Madam Adelaide
Mecker, née Bollenberg“ (BA I, 346).
189
Soziale Status von Klärchen: „Als eine zu Hause Arbeitende steht Klärchen gewissermaßen zwei und
einen halben Zoll höher in der menschlichen Gesellschaft als diese eingesperrten Vögelchen der Madam
Mecker“ (BA I, 253).
190
Im Gegensatz zu Mitleid und Hilfsbereitschaft in den Nachbarschaften vgl. das folgende Zitat im
Spätwerk, Im alten Eisen: „In der ganzen, großen Stadt Berlin hatte niemand von denen, die helfen
konnten, -- auch keine Frau – eine Ahnung davon, was sich nebenan ereignen sollte, der Zeit nach
gerechnet von diesem Sonntagmorgen bis zum Morgen des nächsten Mittwochs. Nebenan, das ist wohl ein
207
Eine weitere Dichotomie in der urbanen Topographie erscheint in der Darstellung
von Kultur und Natur. Je mehr Schornsteine und Fabriknamen erscheinen in den der
Chronik folgenden Berlin-Texten, desto schwerer wird es den Großstadtbewohnern, die
Natur zu finden. In den späteren Texten besteigen die Protagonisten hohe Türme, um
grüne Flecken in der Stadt lokalisieren zu können. Diese Technik, um die Folgen der
Urbanisierung darzustellen, erscheint schon im zweiten Roman Raabes, dessen Erzähler
in der Mitte der Stadt immer wieder nach dem Frühling sucht:
Wir sind in einem kleinen Stübchen, ziemlich nahe dem Dache, in einem der
hohen, finsterblickenden Häuser der Dunkelgasse [...] Ein einziges, aber ziemlich
breites, tief in die Wand eingelassenes Fenster erhellt den Raum, zeigt über den
gegenüberliegenden Dächern und Schornsteinen ein lustiges Stück blauen
Himmels zwischen den ziehenden Wolken des letzten Aprils und erlaubt einen
mutwilligen Sonnenschein“ (BA I, 177)
Nicht nur Bäume und Natur, sondern auch Sonnenschein und Licht sind im Raabeschen
Berlin schwer zu finden. Viele von den Ereignissen finden in der Nacht statt und auch der
Name der Dunkelgasse enthüllt Raabes Vorliebe für Schatten, Konturen und Düsterkeit.
Die obigen Dichotomien werden durch Hoffmannschen Erzählstrategien verstärkt
und dadurch entsteht ein Berlin-Text, der mehrere Referenzen auf Hoffmanns bekannte
„Berlinische Geschichten“ enthält.191 Wie Julius Rodenberg benutzt auch Raabe ein von
Hoffmann erfundenes Inventar, um die Komplexität Berlins zu veranschaulichen, eine
ästhetische Tradition weiterzuführen und sich in den Berlin-Kanon einzuschreiben.
Bestimmte Gebäude, wie ein seltsames Haus am Opernplatz Unter den Linden, „das öde
Haus“ genannt oder der Rote Turm, sowie Geister und Gespenster in Berlin sorgen für
etwas enges Begriff für eine so weitläufige Stadt wie die Stadt Berlin; aber alle diejenigen, die nachher
zuerst in den Zeitungen [...] von dem Vorgefallenen zu lesen bekamen, hatten doch sämtlich das Gefühl,
dass die Geschichte dicht neben ihnen selbst an passiert sein.“ (BA XVI, 341) Charlotte Jolles schreibt über
die „Verlorenheit der Toten“ (64), Anonymität, Verlassenheit und Tod in der Stadt in Raabes Werken.
191
Für eine Analyse über den Einfluss, Hoffmann auf Raabe in anderen Werken ausgeübt hat, siehe
Schultz’ Aufsatz.
208
die Hoffmannsche Atmosphäre. Wenn Georg Leiding zum Beispiel in der Nacht zum
Operplatz eilt, wird die Stadt in der folgenden Weise geschildert:
Was er [Georg] in dieser Nacht denken konnte, hatte sich plötzlich in Wesen und
Fleisch und Blut verwandelt, in heimtückische Kobolde, böse Quälgeister, die ihn
grinsend umtanzten und die zu fangen er im wilden Lauf durch die Straße eilte.
[...] Die Quälgeister, die bösen Gedanken, kletterten an den Mauern herauf, sie
klammerten sich an die Karyatiden. (BA I, 343)
Karyatiden, Mauern und die realen Bausteine der Stadt werden mit Kobolden und
Geistern belebt, wodurch es klar wird, dass Raabe in der literarischen Repräsentation der
Stadt neben seinen persönlichen Beobachtungen und Kenntnissen über die aktuellen
Entwicklungen Berlins, schon früher existierende literarische Traditionen aufnimmt. In
dieser Weise entsteht eine Wechselbeziehung zwischen der physischen Umgebung
Berlins und der literarischen Repräsentationen der preußischen Hauptstadt: nicht nur die
Stadt fördert die literarische Fantasie, sondern literarisierte Stadtbilder schaffen
Erwartungen für die Leser von Berlin-Texten und bauen eine fiktive Stadt auf.
Die Beschreibung des Palais des einstigen Ministers von Hagenheim am
Opernplatz im 15. Kapitel, mit dem Titel „Das öde Haus“ überschrieben, greift am
anschaulichsten auf Hoffmann zurück:
Weil mir das Haus öfters aufgefallen ist; bei Tage durch seine wunderbare, fast
lächerliche Rokokobauart und des Abends oder bei Nacht durch jenen Schatten
dort an den Fenstern. [...] Am Tage mag das Palais des alten Ministers wohl
auffallen durch die potenzierteste Ausbildung des Rokokostils, aber jetzt, im
Dunkel der Nacht, wo der Schein der Laternen nur hier und da die
hervorragendsten Schnörkel der Säulen und Karyatiden trifft, hat es bei seiner
imposanten Front etwas unheimlich Finsteres. (BA I, 226-27)192
192
Vgl. dazu das folgende Zitat: „Das Zimmer war öde und unbehaglich, die wenigen Gerätschaften
verschwanden fast ganz darin; einige Stühle, ein Tisch bedeckt mit Buchern, chirurgischen und
physikalischen Instrumenten, bildeten die ganze Ausstattung“ (BA I, 353).
209
Der Erzähler, der wie schon früher gezeigt, über seine Erzähltechnik oft laut Gedanken
ausspricht, reflektiert über diese Beschreibung mit den folgenden Worten: „der Dämon,
den wir heraufbeschworen haben, damit er die bunten Bilder in die Zauberlaterne dieses
Kapitels schiebe“ (BA I, 227). Die Intertextualität mit Hoffmann, die Anspielungen auf
den „Vater des Berlinischen Romans“ und die Anwendung der in der deutschen Literatur
schon existierenden Topographie machen den Roman einen Berliner Großstadttext.
Außer den Hoffmann-Anspielungen erscheinen auch viele neue Elemente in der
Darstellung Berlins, besondern in der Schilderung der alten Stadtteile. Wie viele der
zeitgenössischen Maler widmet sich auch Raabe der Altstadt und versucht Bilder der
Vergangenheit wieder ins Leben zu rufen und die Aufmerksamkeit seiner Leser auf das
Wachstum der Stadt und die Veränderungen im Stadtbild zu lenken. In dem folgenden
Absatz versucht der Erzähler, das Aussehen der nicht mehr existierenden Stadtmauer zu
rekonstruieren:
Auf dem Plane der Stadt könnt ihr noch an den zickzacklaufenden letzten
Häuserreihen der Altstadt die einstige Grenze des Weichbildes und den Zug ihrer
jetzt verschwundenen Mauern und Bollwerke deutlich erkennen. Jenes alte
Gemäuer, der Rote Turm, ist noch eins der vielen niedergerissenen Stadttore. ’s
ist ein prächtiges Stück Mittelalter, dieser alte Torturm, und eben seiner seltsamen
Bauart verdankt er seine Erhaltung, während alle seine früheren Genossen nur
noch in den rohen Holzschnitten einiger Stadtchroniken fortleben. Am Ende der
Blutgasse bildet er einen finstern Torweg, und von ihm aus lief sonst nach beiden
Seiten hin die Stadtmauer weiter fort. (BA I, 201)
Neben der akkuraten Beschreibung der heutigen und einstigen Bauverhältnisse bemerkt
der Erzähler, dass die alte Stadt nur in Holzschnitten in alten Stadtchroniken aufbewahrt
worden ist. Diese Strategie sowie die Suche nach der Geschichte von einzelnen
210
Gebäuden193 ergänzt die verdichtete Stadt mit dokumentarischen Quellen und arbeitet
bewusst, wie die zeitgenössischen Maler, als Chronist. Gleichzeitig verweist die
spezifische, private Geschichte der Blutgasse pars pro toto auf die öffentliche Geschichte
Deutschlands. Diese Strategie erscheint auch in der Chronik, wenn Johannes Wachholder
durch das Abschreiben der Geschichte der Sophienkirche oder durch das „Märchen“
einer alten Frau eine knappe Chronik der napoleonischen Kriege und der nachfolgenden
Jahre verewigt. Das Ineinanderweben von Fiktion und Dokumentation charakterisiert
auch die Berlin-Topographie der nachkommenden Romane.
Die Analyse der urbanen Topographie von Raabes zweitem Berlin-Roman in
einem breiten Kontext zeigt, dass sich der Schriftsteller in den früheren und
zeitgenössischen malerischen und literarischen Repräsentationen der preußischen
Hauptstadt gut auskennt und sie in seinem Berlin Text erfolgreich und vielfältig
mobilisiert. Raabes Berlin evoziert das Erbe des Biedermeiers sowie das von Hoffmanns
dämonischem Berlin, jedoch setzt es sich auch mit den derzeitigen Entwicklungen der
Stadt auseinander. Durch die literarische Anwendung und Komplizierung der
literarischen und malerischen Repräsentationen von dem zeitgenössischen und dem
vergangenen Berlin wird Raabes Ein Frühling ein wahrhaft intermediales Produkt des 19.
Jahrhunderts.
193
Zur scharfen Ecke: „Renovatum anno Domini MDIX. ist auf einem in die Mauer eingelassenen Stein
des Hauses Numero sechs zu lesen. In jener wilden Nacht, nach welcher man die Gasse umtaufte und ihr
den Namen gab, den sie heute noch führt, hatte sich ein verzweifelnder Haufen der Angreifer in dieses
Gebäude geworfen. Es entstand ein schrecklicher Kampf“ (BA I, 272).
211
„Sieh nach den Sternen, gib acht auf die Straßen“: Die Anwendung der
Vogelperspektive in Die Leute aus dem Walde, ihre Sterne, Wege und Schicksale
(1863)
Die Darstellung von Städten aus einer Vogelperspektive war immer ein mit Vorliebe
benutztes Motiv der Stadtmalerei. Die Vogelperspektive oder Luftschau bedeutet eine
kartenverwandte Darstellung, die dem Blick auf eine Landschaft aus einer größeren Höhe
entspricht und als eine schräge Geländedarstellung charakterisiert werden kann. Die
hohen Standpunkte, von denen Städte in Holzschnitten und Gemälden verewigt wurden,
waren aber oft fiktiv, da dem Maler kein entsprechender Stadtpunkt zur Verfügung stand.
Die Darstellungen aus fiktiven Standpunkten sind wichtige Leistungen und zeigen
einerseits frühe städtebauliche Zusammenhänge (Wellmann 19), andererseits sind sie
Zeichen des Strebens danach, den eigenen Wohnort übersehen zu können. Die in erster
Linie aus der Malerei bekannte Vogelperspektive aus fiktiven und realen Stadtpunkten
wurde auch in der Stadtliteratur im 19. Jahrhundert mit Vorliebe benutzt. Dieses Segment
des Kapitels untersucht zunächst ihre Anwendung in einer Zahl von literarischen
Primärtexten und theoretischen Ansätzen, um ihre Komplexität zu verstehen und die
Analyse dieser Perspektive in Raabes Berlin-Roman Die Leute aus dem Walde, Ihre
Wege, Sterne und Schicksale vorzubereiten.
Als Ausgangspunkt sollen die frühesten gemalten Gesamtansichten Berlins aus
dieser Perspektive erwähnt werden. Die ersten Vogelperspektive anwendenden
Stadtansichten stammen aus dem 17. und 18. Jahrhundert und die meisten LuftschauAnsichten Berlins aus dieser Zeit zeigen Bauvorhaben und hängen mit der
kartographischen Landaufnahme zusammen (Wellmann 19). Die Beispiele von Johann
212
Friedrich Fechhelm (Der Tempelhofer Berg mit Blick auf Berlin, 1781) und von Johann
Georg Rosenberg (Berlin von den Rollbergen zu sehen, 1786) sind zwei repräsentative
Gemälden aus dieser Epoche. Beide stellen eine geordnete Landschaft dar und schildern
weniger die Stadt. Die Wegesysteme in die Stadt werden detailliert gemalt und in der
Stadt nur die Türme von bestimmten Kirchen (z.B. der deutsche und französische Dom
bei Rosenberg) und das Schloss (bei Fechhelm) machen Berlin identifizierbar. Beide
Gemälde zeigen Berlin als die preußische Metropole zur Zeit ihrer Blüte und sind
Produkte von der Landschaftsmalerei sowie der sich etablierenden Stadtmalerei.
Abbildung 23: Johann Georg Rosenberg, Berlin von den Rollbergen zu sehen (1786)
213
Abbildung 24: Johann Georg Rosenberg, Ansicht Berlins mit dem Halleschen Tor, aufgenommen am
Tempelhofer Berg (um 1785)
Eine sehr ähnliche Stadtansicht benutzt Raabe in dem Roman Der Hungerpastor
(1864).194 Das 15. Kapitel des Romans beschreibt eine Szene über das Ankommen von
Hans Unwirrsch in der Stadt. Während der Einfahrt in die Stadt wird Berlin vom
Kreuzberg gesehen, wie wir es nur noch von den obigen Gemälden kennen, auf denen die
Stadt einen fast gemütlichen Eindruck macht. Dem Erzähler kommt aber die Stadt gar
nicht als eine harmonische Einheit vor und Hans beschreibt sie in der folgenden Weise:
Mit Stauen und Schrecken starrte Hans auf den feurigen Schein vor ihm und
horchte auf das dumpfe Rollen und Summen, welches aus einer unendlichen Tiefe
dicht zu seinen Füssen zu kommen schien. „Das ist die Stadt“ sagte der Leutnant
Goetz. „In einer halben Stunde sind wir an den Barrieren und in einer Stunde im
Grünen Baum bei den Neuntötern. (BA VI, 201)
Das Grüne als Schutz und Natur (auch durch den Namen der Unterkunft „Der Grüne
Baum“) wird mit der fremden Stadtlandschaft, mit „ungemütlichen“ neuen Häusern, die
194
Diese Sicht auf Berlin war in der Malerei sowie in der Literatur ziemlich beliebt. In einem Kurzessay
vergleicht Alexander Koŝenina zum Beispiel Fechhelms Ölgemälde mit einem Gedicht von Moritz, da
beide das „aufgeklärte“ Berlin vom Tempelhofer Berg beschreiben.
214
„zwischen Pfahlgerüsten und unvollendeten Mauern oder auf kahlen Flecken“ stehen
(BA VI, 203), kontrastiert. Natur und Kultur, Landschaft und die Stadt stehen in einem
starken Kontrast miteinander. Der Spaziergang in der Stadt und die in den Straßen
gesehenen Masse evozieren Hans Unwirrsch’ Schulzeitlektüre über die blutigen Kämpfe
in römischen Arenen. Es wird ihm schwindlig und er bedarf der Hilfe seines Führers:
Das ist, wie das Meer sein muss [...] und ich stehe am Rande wie ein Knabe, der
das Schwimmen lernen soll. Es treibt mich mit unwiderstehlicher Gewalt hinab,
und doch fürchte ich mich. (BA VI, 202)
Hans Unwirrsch und Leutnant Goetz gehen in die Stadt durch die Randbebauung,
schreiten durch das militärisch bewachte nachts geschlossene Südtor (vermutlich das
Hallesche), und Hans „gafft“ auf den Platz – den Belle-Alliance-Platz – und „starrt“ auf
die lichterfüllten Straßen, die von dem Platz ausstrahlen. Der Ausgangspunkt
korrespondiert mit den frühesten malerischen Darstellungen Berlins, jedoch der
Spaziergang in der Stadt enthüllt die Komplexität der wachsenden Stadt. Die Anwendung
des erhöhten Standpunkts erlaubt die detaillierte Beschreibung der Begegnung mit der
Stadt aus der Perspektive des Landbewohners und zeigt, wie sich die
Wahrnehmungsformen in der Stadt verändert haben und welchen elementaren Einfluss
sie auf den aus der Provinz Ankommenden ausüben können.
Raabe schickt seine Protagonisten auch in früheren Texten gerne auf hohe Türme
und lässt die die Stadt durch die hier erlangte Vogelperspektive beobachten. Die erhöhte
Perspektive in den frühen Berlin-Texten bedeutet die Auseinandersetzung mit der Stadt
durch Fensterrahmen und aus Dachstuben während der Turmblick später erscheint. In Ein
Frühling wird zum Beispiel der Turmblick nur kurz am Anfang kurz als eine
215
katastrophale Erfahrung dargestellt, wenn der Leser mit Klärchen auf einen Turm
hochgeführt wird:
Bis auf die erste Galerie des Turmes gelangte sie ebenfalls und schaute von da
zitternd und staunend über das Häusermeer der Stadt und die Ameisenmenschen
hinweg in die blaue Ferne. Wovon hängt doch oft die Bildung unseres ganzen
Charakters ab! Von dem Augenblicke an liebte Klärchen Aldeck nichts so sehr als
enge Winkel, niedrige Zimmer, Zusammenhuschen – kurz die Welt der Nähe, des
Kleinen.[...] nichts konnte sie in ihrem ferneren Leben dazu bringen, jemals
wieder einen Turm zu besteigen. (BA I, 182-83)
Die Anwendung der Turmperspektive in Ein Frühling hat zweierlei Funktion: Einerseits
ist sie mit Angst verbunden, andererseits hilft sie Klärchen einen Überblick zu
bekommen und Regeln zu gestalten, die in ihrem restlichen Leben von großer
Wichtigkeit werden. Diese Angst vor der Höhe verschwindet in den späteren Texten und
wird im Roman Die Leute aus dem Walde mit der größten Vorliebe benutzt.195 Um die
Anwendung des Turmblickes und der Vogelperspektive in der nachfolgenden
Textanalyse des Roman Die Leute aus dem Walde in einem breiten Kontext erfassen zu
können, werden zuerst einige Primärtexte und theoretische Modelle der erhöhten
Perspektive in literarischen Werken des 19. Jahrhunderts (von Adalbert Stifter, Heinrich
von Kleist und Victor Hugo) und in theoretischen Texten des 20. Jahrhunderts (von Henri
Lefevbre und Michel de Certeau) untersucht.
Adalbert Stifters Vorrede unter dem Titel „Aussicht und Betrachtungen von der
Spitze des St. Stephanthurmes“ zu seiner 1844 erschienenen Essaysammlung Wien und
die Wiener in Bildern aus dem Leben ist eine der berühmtesten deutschsprachigen
literarischen Anwendungen der Vogelperspektive im 19. Jahrhunderts. Von oben
195
„Halt, da malt sich ein hohes, turmartiges Gebäude schwärzer gegen den dunkeln Nachthimmel ab –
gottlob, jetzt weiß ich wenigstens wieder, wo wir sind. Das ist der Rote Turm. Wir befinden uns in der
Blutgasse.“ (BA I, 201)
216
organisiert Stifter -- Ameisenmenschen, Käferpferde und Nussschalenkutschen
beobachtend --, das Panorama der Stadt und sucht den breitesten Winkel, um möglichst
viele Phänomene des wachsenden Wiens - Wetter, Verkehrswege, öffentliche Räume und
private Interieurs - gleichzeitig beschreiben zu können. Von der Spitze des Turmes
schildert der für seine Landschaftsbeschreibungen bekannte Stifter Wien in einer
distanzierten, mitleidlosen Weise in raschem Wechsel von Bildern aus verschiedenen
Bereichen. Stifter benutzt eine höchst visuelle Sprache, wenn er über seine Motivation für
die Essaysammlung schreibt:
In ernsten und heiteren Bildern [solle er] wie ein Kaleidoskop Szenen der
Hauptstadt vorbeiführen, so dass sich dem Leser nach und nach ein Bild des
Lebens und Treibens dieser Residenz zusammenmale, welches dem, der es nie
gesehen, eine Vorstellung gibt, dem aber der hier gewesen oder noch ist, eine
ergötzliche Erinnerung ist. (zitiert nach Lieselotte Hoffmann 163)
Das Zitat zeigt, dass die rein visuelle Wahrnehmung eine größere Rolle in den
literarischen Auseinandersetzungen mit der Stadt bekommt. Stifters Ziel ist es, seinen
Lesern eine Sammlung von Bildern zu vermitteln, die eine konzentrierte, stilisierte
Überschau des komplex gewordenen urbanen Milieus ermöglicht. Stifters Position über
der Stadt lässt eine kontemplative Distanz zu, mit deren Hilfe er das Bewegende und von
unten Unüberschaubare in der Stadt als bedeutende Einzelheiten in Bildern fixieren
kann.196
Stifter reflektiert über den Wahrnehmungsakt auf der Spitze des Turmes in der
folgenden Weise: „In der That, von dieser Höhe der Vogelperspective angesehen, hat
selbst für den Eingeborenen seine Stadt etwas Fremdes und Abentheuerliches, sodass er
196
Das Nebeneinanderreihen von verschiedenen Bildern weist schon auf eine Form energetischer
Stadtwahrnehmung voraus, die man in erster Linie mit den Schriftstellern Zola, Döblin oder Dickens
assoziiert.
217
sich für den Augenblick nicht zu finden weiß“ (211). Der Standort bietet einen Reichtum
von Perspektiven an: der fremde Blick auf die vertraute Stadt wird durch einen
Fernrohrblick, durch Fern- und Näherrücken gesteigert. Besonders der Mangel an
akustischen Wahrnehmungen ermöglicht ihm eine eigene Imaginationssphäre, in der sich
die vertraute Stadt in unvertrauten Bildern präsentiert.197 Gleichzeitig hat er auf der
Spitze seiner ‚Pappel,’ wie er den berühmten Turm nennt, eine größere visuelle Kontrolle
über die Stadt als unten in den Straßen, wo „der Wanderer ganz und gar in die Irre [geht]“
(Stifter 212).
Ein anderes früheres Beispiel für die Anwendung der Vogelperspektive über den
urbanen Raum stammt von Kleist, der die Übersicht über die Stadt Dresden in der
folgenden Weise beschreibt: „Ich blicke von dem hohen Ufer herab über das herrliche
Elbtal, es lag da wie ein Gemälde von Claude Lorrain unter meinen Füssen – es schien
mir wie eine Landschaft auf einen Teppich gestickt, grüne Fluren, Dörfer, ein breiter
Storm, der sich schnell wendet, Dresden zu küssen.“198 Das Zitat von Kleist weist auf
eine erhöhte Intensität zwischen bildender Kunst und Literatur in Stadtbeschreibungen
hin. Am Elbeufer stehend verwendet Kleist eine Perspektive, die die ästhetische
Aneignung der Stadt ermöglicht. In einem statischen Bild, das sogar implizit über einen
Rahmen verfügt, fixiert Kleist das von oben gesehene Dresden. Die noch
naturverbundene und organische Stadt erscheint als Abbild, das handhabbar und
verfügbar dargestellt wird. Kleists Beschreibung von Dresden vermittelt jedoch eine
frühe und problemlose Beziehung des Autors mit dem wahrgenommenen Objekt.
197
Interessant ist hier Simmels Essay über die „Sociology of the Senses“, in dem er die Beziehung des
Sehens und des Hörens in der folgenden Weise charakterisiert: „the person who sees without hearing is
generally much more confused, helpless and disturbed than one who hears without being able to see“ (114).
198
An Wilhelmine v. Zenge, den 4. Mai 1801.
218
Stifters Text und Kleists Brief sind nur zwei Beispiele für zahlreiche Versuche,
sich an die verwirrende, unüberschaubar gewordene Stadt im 19. Jahrhundert aus der
erhöhten Perspektive anzunähern.199 Auch die Großstadtromane von Victor Hugo und
Honoré de Balzac zeugen davon, dass die Wiedergabe der zunehmenden Vielfalt und
Widersprüche der wachsenden Städte von den Schriftstellern eine neue optische
Einstellung und ein Streben nach modifizierten Mitteln der Darstellung verlangt. Die
bekannteste französische Vogelperspektive stammt von Victor Hugo, der Paris aus dem
Turm von Notre-Dames in seinem berühmten Roman Der Glöckner von Notre-Dame
beschreibt.
The spectator, on arriving breathless at that peak, was dazzled by the chaos of
roofs, chimneys, streets, bridges, belfries, towers, and steeples. All burst at once
upon eye […] The eye was long bewildered by this labyrinth of heights and
depths where everything originated from art, from the humblest dwelling, with its
painted and carved wooden surface, low doorway, and overwhelming stories, to
the royal Louvre, which then had a colonnade of towers. But when the eye began
to reduce this tumult of edifices to some kind of order…“ (Hervorhebungen von
mir, Hugo 109)
Obwohl der Erzähler verwirrt zu sein scheint als er zum ersten Mal das wachsende Paris
aus der Höhe anblickt, gibt er danach eine organisierte, detaillierte
Panoramabeschreibung der Stadt und ihrer Baugeschichte. Wenngleich Paris keine
homogene Stadt mehr ist, wie sie es im Mittelalter war, ist sie aus dieser Höhe immer
noch überschaubar. Hugo beschreibt die Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Pariser
Bau- und Stadtentwicklung und preist die Totalität der urbanen Wahrnehmung, wenn das
visuelle Erlebnis mit den lauten Glocken von Paris ergänzt wird. Die stark organisierte
199
Christopher Prendergast analysiert mehrere die Vogelschau anwendende Paris-Romane aus dem 19.
Jahrhundert, im Kapitel „The High View: Three Cityscapes“ seines Buches Paris in the Nineteenth
Century.
219
Stadtbeschreibung und die berühmte Hugo’schen Historiographie von Paris sind nur von
oben, vom damaligen höchsten Standpunkt, vom Kirchturm von Notre-Dame, möglich.
Obwohl die literarische Anwendung der Vogelperspektive in Texten des 19.
Jahrhunderts schon mehrmals erscheint, stammen die bekanntesten theoretischen Ansätze
in Bezug auf diese Repräsentation aus dem 20. Jahrhundert. Eine scheinbar absolute
Kontrolle der hohen Perspektive beschreibt der Kulturtheoretiker Michel de Certeau in
den späten 70er Jahren in seinem Essay Walking in the City. Wie er feststellt, kann der
Betrachter nur von oben, in seinem Beispiel aus dem 107. Stock des World Trade Centers
hinaus, die Stadt als lesbares Textgewebe beobachten: „His altitude transforms him into a
voyeur. It places him at a distance. It changes an enchanting world into a text“ (102). Von
diesem Aussichtspunkt zeigt sich die Metropolis als ein im Ganzen fassbares Bild, im
Gegensatz zu dem Chaos und Durcheinander der unteren Stadt, durch die man sich auf
der Straße bewegt. De Certeau preist die Höhe, da sie die Entstehung eines lesbaren
Textes fördert, aber er kritisiert diese Perspektive auch, weil sich die Überschaubarkeit
der Stadt aus einer Vogelschau oft als täuschend erweist und die Realität der unteren
Welt der Straßen ausklammert.200
Ein weiteres Beispiel für die Theoretisierung der erhöhten Perspektive, jedoch in
diesem Fall das Fenster als Beispiel benutzt, ist der Essay “Seen from the Window” von
Henri Lefevbre, in dem er schreibt:
The one walking on the street is immersed into the multiplicity of noises,
rumours, rhythms [...] but from the window noises are distinguishable, fluxes
separate themselves, rhythms answer each other. […] So there is a relative silence
200
Auf dieses Problem weist zum Beispiel der Germanist Lutz Koepnick in seinem Artikel über die Kritik
von Sir Norman Fosters Reichstagkuppel hin: „today’s visitor’s experience [while walking in the cupola of
the German parliament] is not an ocular destabilization anymore but the commanding standpoint of the premodern traveler resting on a mountain top and beholding urban topographies“ (314).
220
in the crowd. […] It’s incredible what one sees and hears (from the window).
Strict harmony. (220)
Die erhöhte Position am Fenster erzeugt eine paradoxe Situation, wie der Literaturkritiker
Heinz Brüggemann in den 1980er Jahren in mehreren Büchern beschreibt. Laut
Brüggemann ist der Fensterblick eine Wahrnehmungsform des vereinzelten Subjekts der
großen Städte, „ein Abbruch mit aller lebendigen, aktiven Kommunikation mit der
Außenwelt“ (Das andere Fenster, 13). Durch das Fenster entsteht eine Distanz, die es
ermöglicht, das Mannigfaltige in einem Bild fixieren zu können. Im Gegensatz zum
Fensterblick, steigert der Turmblick dieses Paradox weiter.
Den zeitlichen und kulturgeschichtlichen Abstand zwischen den obigen
Beispielen außer Acht lassend, kann festgestellt werden, dass das urbane Milieu ein
spezifisches Wahrnehmungsvermögen produziert und dabei die erhöhte Perspektive sich
als ein ambivalentes Phänomen erweist. Einerseits manifestiert sich in diesem
Schauwinkel ein Wunsch nach Kontrolle über einen unübersichtlich gewordenen Raum,
andererseits impliziert der gleiche Wunsch einen Verlust an der Erfahrbarkeit der
direktern Umgebung. Die Anwendung der erhöhten Perspektive erhellt auch die
Instabilität und die Grenzen der literarischen und malerischen Repräsentatierbarkeit der
Großstadt. Da Raabe den in seinen früheren Berlin-Werken benutzten Fensterblick im
Roman Die Leute aus dem Walde vermehrend mit dem Turmblick ersetzt, soll die
Analyse der Anwendung der Turmperspektive dabei helfen, den Wunsch des Subjekts
nach Kontrolle seiner komplexer gewordenen Umgebung sowie die ästhetischen
Aneignungen des wachsenden Berlins zu untersuchen.
221
Die Leute aus dem Walde ist ein Produkt aus Raabes Wolfenbütteler Zeit und
wurde zwischen Oktober 1861 und November 1862 geschaffen und im Jahre 1864
veröffentlicht. Wie in der Chonik, stehen die breiten Straßen zu den verborgenen Gassen
in der Altstadt auch in diesem Text in einem scharfen Kontrast, und auch den Hauptort,
die Musikantengasse haben wir in der Nähe der Spreegasse zu suchen. Die
Musikantengasse hat alte Gebäude, deren Schönheit nur dem aufmerksamen und
sensiblen Beobachter auffallen, wie es in der folgenden Beschreibung eines dort zu
findenden Hauses zu Tage kommt:
Es war eigentlich ein altes Gebäude voll wunderlicher Baumeisterlaunen längst
verlorengegangener Architekturwissenschaft. Aber über seine Vorderseite hatte
die Zeit, die ebenso eine Zunge hat, wie sie Zähne besitzt, weggeleckt und alles
schön modern gestrichen, bis an das Dach hinan. Ähnlich war es allen andern
Gebäuden der Musikantengasse ergangen; aber darum blieb die Gasse
nichtsdestoweniger alt, und die Häuser blieben auch alt, und aus den Fenstern der
Hinterseiten sah man in die tollste Welt von schwarzen Höfen, Giebeln,
Brandmauern und Schornsteinen... (BA V, 50)
Raabes Vorliebe für die Altstadt ist also auch in diesem Roman präsent, in dem die enge
Musikantengasse ähnlich wie in der Sperlingsgasse von einer bunten Bevölkerung
bewohnt wird. Berliner Lokalitäten, die in diesem Roman spezifisch erwähnt werden:
Ulex’ Giebel im Nikolaikloster, die Musikantengasse und die Schulstraße in der Altstadt.
Die Kronenstraße, in der die Familie Wienand wohnt befindet sich südlich von der
Altstadt. Alle Szenen im Roman, genau wie in der Chronik, spielen sich in Berlins
Altstadt ab. Öffentliche Räume erscheinen im Roman kaum, nur die Polizeistation und
der Hamburger Bahnhof werden erwähnt.
222
Im Gegensatz zu den alten Stadtteilen werden die modernen Viertel Berlins nur
karg beschrieben und mit negativen Attributen charakterisiert, wie zum Beispiel das Haus
des Bankiers Wienand, dessen Beschreibung der Erzähler sogar explizit verweigert:
In einer ruhigen, breiten Straße [...] ein ganz modernes Hause, welches sich durch
nichts von seinen Nachbarn, welche ebenfalls groß, stattlich und modern waren,
auszeichnete. Je weniger charakteristisch ein Gegenstand ist, desto schwerer ist er
zu beschreiben; wir beschreiben deshalb das Haus des Bankiers nicht.
(BA V, 62-3)201
Das im Gegensatz zu der mehrseitigen, detaillierten Beschreibung der Musikantengasse
lakonische Zitat zeigt, dass Raabe auch in diesem Roman die „wahre Stadt“ in den
kleinen Gassen von Berlin findet. Jedoch ist der Erfahrungshorizont des jungen
Protagonisten Robert Wolf viel breiter als der des alten Johannes Wachholders and der
von Klärchen Aldeck.
Der Roman ist eine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Problematik des
Lebens überhaupt und eine dichterische Beantwortung der Frage über das Verhältnis des
Menschen zur Welt seines Zeitalters dargestellt an der Entwicklung eines Knaben zum
Mann. Der ursprüngliche Titel des Bildungsromans war Der Sternseher und der Roman
war nach Meinung der Kritiker viel zu sehr an Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre
angelehnt.202 Im Mittelpunkt steht der junge Robert Wolf, der wie Parzival oder
Grimmelshausens Simplicissimus sein Leben weit von der Zivilisation in einem Wald
beginnt und durch eine Reise, in diesem Fall in die Großstadt und nach Amerika erzogen
wird. Eine Gruppe von Menschen führen ihn in Berlin sowie in Amerika herum, von
201
Raabe beschreibt Häuser in genausten Details mit dem Zweck ihre Bewohner zu charakterisieren.
Solche Beispiele im Roman sind die Schilderung des Hauses von der Baronin von Poppen und seines
Sohnes Leon von Poppen (178) und die Beschreibung des Eckhauses von Juliane Poppen (258).
202
Pongs stellt in Der Leute aus dem Walde eine Reihe von Parallelen zu Goethes Wilhelm Meister. Mehr
dazu siehe auch im Anhang der Kritischen Ausgabe des Textes, BA V, 435-6.
223
denen viele wie Robert aus dem Winzelwald stammen.203 Die alte Generation wird durch
den Polizeischreiber Fritz Fiebiger, den Astronom Heinrich Ulex und das Freifräulein
Juliane von Poppen repräsentiert, während die junge Generation in den Gestalten von
Friedrich Wolf, Roberts Bruder, und Eva Dornblut, Friedrichs Geliebter, auftritt. Der
Autor hat diesen in der Raabe-Forschung eher vernachlässigten Roman später mit den
folgenden Worten charakterisiert:
Das Buch ist noch ein recht jugendliches Produkt nach der alten Aquarellmanier,
welche die Figuren erst mit schwarzer Tusche umriss und sie dann mit bunten
Farben ausmalte. So scharf grenzen sich die Charaktere im Leben nicht ab und
sollen es also auch in der Kunst nicht. (zitiert nach Oppermann 55)
Eine von diesen nach Raabe unscharf dargestellten Figuren ist der achtzehnjährige
Robert, der „durch die Liebe“ nach Berlin kommt, um seine Geliebte Eva Dornblut zu
finden.204 Wie Döblins Franz Biberkopf lernt der Leser Robert Wolf in den ersten Seiten
des 400seitigen Romans in einem Berliner Gefängnis kennen, da er gleich nach seiner
Ankunft in der großen Stadt wegen Hausfriedensbruchs eingesperrt wird, nachdem er
versucht hatte, das geliebte Mädchen aufzusuchen. Der Protokollführer Fiebiger, der
familienlose Landsmann von Robert Wolf entscheidet sich nach dem Verhör des Jungen,
ihn in seiner Wohnung aufzunehmen und zu einem anständigen Mann zu erziehen.
Roberts tragische Kindheitsgeschichte berührt ihn während der Aufnahme des Protokolls
tief und er möchte „die Seele des Knaben retten“ (BA V, 35).
Auf dem Weg zu Fiebigers Wohnung in der Musikantengasse begegnet Robert
Wolf auf einmal, genau wie Wilhelm Meister seiner Natalie, während eines Unfalles, in
203
Im Anhang der KA des Textes wird der Winzelwald mit seinen Dörfern als eine Landschaft in der Nähe
des Harzes zu erkennen (437). Raabe hat solche Dörfer auch malerisch aufs Papier gebracht (siehe dazu
Beispiele bei Arndt).
204
Ein Reiz, der die Stadt auf das Leben der Leute aus dem Winzelwald ausübt, erscheint mehrfach im
Roman. Robert Wolf verlässt den Wald wegen seiner Liebe zu Eva; Ulex und Fiebiger beschreiben eine
Anziehungskraft der Großstadt: “ein dunkler Trieb zog sie der Hauptstadt zu” (BA V, 81).
224
dem er sein Bewusstsein verliert, der richtigen Frau, der jungen, eleganten Dame, Helene
Wienand. Die ältere Generation aus dem Wald, der Astronom Heinrich Ulex im
Observatorium, Fritz Fiebiger in der Musikantengasse und „die närrische Jungfer“
Juliane von Poppen, Helenas Erzieherin, kümmern sich alle um Roberts Ausbildung, der
wie Wilhelm Meister, den ärztlichen Beruf wählt.205 Die wichtigste Lehre aber, die die
drei Alten Robert Wolf beibringen, ist eine Synthese ihrer drei verschiedenen
Lebensphilosophien. Fiebiger, der Gassenphilosoph, ergänzt nämlich das von Ulex
formulierte Axiom „Sieh nach den Sternen,“ mit seiner Lebensregel „gib acht auf die
Gassen“ (BA V, 155).206 Diese Lehre wird durch die urbane Metapher sowie durch die
Anwendung der Luftschauperspektive anschaulich gemacht.
Bevor der Protagonist die Stadt aus der Höhe eines Turmes betrachtet, wird
Berlin, wie in den vorigen Berlin-Werken, auch in Die Leute aus dem Walde durch das
Fenster geschildert. Während der ersten Nacht in der Musikantengasse träumt Robert
Wachholder vom Heimatdorf und der Natur im Winzelwald. Im Dämmerlicht setzt er
sich danach am Fenster mit der großen Stadt auseinander:
Robert Wolf rieb die Augen und warf einen Blick auf die grauen Brandmauern
vor seinem Fenster, auf die schmutzigen, regennassen oder beschneiten Dächer,
die qualmenden Schornsteine und Kaminröhren, welche den Dunst vermehrten
und sich in ihm, in der Ferne, schattenhaft verloren. Der Qualm der Steinkohlen,
der verschiedenartigen Gase füllte die Brust des Knaben, wenn er das verquollene
Fenster mit Mühe geöffnet hatte. Und unter dem grauen Schleier rauschte und
knarrte, pochte und kreischte und rollte das große Leben der Stadt, so fremd, so
205
Die drei Alten halten auch in der Stadt zusammen. Ihr Leben in der Stadt scheint von ihrem früheren
Leben im Wald nicht viel unterschiedlicher zu sein: “In der großen Stadt kann man sich verstecken wie in
dem Winzelwalde; jede hat ihren Schatten, ihre geheimnisvolle Lust und Schauer wie dieser. Wie in dem
Winzelwalde fanden sich die drei frühern Genossen zusammen” (BA V, 86).
206
Vgl. dazu: “In den Gassen wusste der Sternseher nicht so gut Bescheid, wie der Polizeischreiber; er
führte andere Register als dieser” (BA V, 158); „Wie in dem Winzelwalde fanden sich die frei frühern
Genossen zusammen. Sie waren im Leben arg hin und her geworfen worden; sie suchten nunmehr die
Einsamkeit und die Stille. Sie hatten alle viel gelernt; aber jeder sah die Welt auf seine Weise an; am
kindlichsten war der Idealist Heinrich Ulex geblieben, am nüchternsten war Juliane von Poppen geworden;
der Humorist Fritz Fiebiger bildete das verbindliche Mittelglied“ (BA V, 86).
225
beängstigend, so erdrückend, dass Robert unwillkürlich nach der Kehle griff,
gleich einem Erstickenden. Nur richtete sich aber sein Blick auf einen von den
vielen Giebeln, und von dorther kam ihm der Trost, der erste Anhalt in dieser
schwindelregenden, fremden Welt. In jenem Giebel schlief Ulex, der Sternseher,
seinen langen Morgenschlaf nach ernst durchgewanderter Nacht. (BA V, 153)
Durch die Fensterrahmen empfindet Robert die optischen und akustischen Qualitäten der
Großstadt, die ihn völlig überwältigen. Die Multipliziät von Reizen der Stadt manifestiert
sich in einem unkontrollierbaren Gewirr von Sinneseindrücken. Roberts Blick entdeckt
die grauen Brandmauern, die fensterlosen, abweisenden Rückseiten der Häuser, die
keinerlei menschliche Spuren von ihren Bewohner aufweisen. Sein Blick trifft auf Dächer
und ein Durcheinander von Schornsteinen, deren Silhouetten sich in der Ferne verlieren.
Vorher nie gehörte Geräusche echoen in seinen Ohren, deren Quellen sich nicht
lokalisieren lassen. Im Gegensatz zu Johannes Wachholder in der Chronik, den sein
Zimmer und Fenster vor dem Chaos der Stadt schützt, fühlt sich der Junge von der Stadt
bedroht, die ihn durch ihre Sinnesreize fast erstickt. Die Fensterrahmen eröffnen Robert
ein abstoßendes Bild von Berlin, dessen Eindrücke beängstigend sind.207 Berlin wird zur
Vision einer Großstadt, die es, als Raabe dort weilte, noch gar nicht war, und als Vision
war sie schreckensregend für denjenigen, der die Stadt zum ersten Male betrat.
207
Ähnliche semantische Mittel benutzt Kleist in einem am 18. Juli 1801 an Caroline von Schlieben
verfassten Brief, in dem er Paris aus seinem Fenster beschreibt: “Wenn ich das Fenster öffne, so sehe ich
nichts, als die blasse, matte, fade Stadt, mit ihren hohen, grauen Schieferdächern und ihren ungestalteten
Schornsteinen, ein wenig von den Thuillerieen, und lauter Menschen, die man vergisst, wenn sie um die
Ecke sind. Noch kenne ich wenige von ihnen, ich liebe noch keinen, und weiß nicht, ob ich einen lieben
werde. Denn in den Hauptstädten sind die Menschen zu gewitzigt, um offen, zu zierlich, um wahr zu sein.
Schauspieler sind sie, die einander wechselseitig betrügen und dabei thun, als ob sie es nicht merkten. Man
geht kalt an einander vorüber; man windet sich in den Straßen durch einen Haufen von Menschen, denen
nichts gleichgültiger ist, als ihres Gleichen; ehe man eine Erscheinung erfasst hat, ist sie schon von zehn
anderen verdrängt; dabei knüpft man sich an keinen, keiner knüpft sich an uns; man grüßt einander höflich,
aber das Herz ist hier so unbrauchbar, wir eine Lunge unter der luftleeren Campane, und wenn ihm einmal
ein Gefühl entschlüpft, so verhallt es, wie ein Flötenton im Orkan” (69).
226
Robert macht keinen Versuch, mit dem überwältigenden Bild zurechtzukommen
und sich vor dem Gesamtbild durch eine Fokussierung auf seine Einzelheiten zu retten.
Die Stadt erscheint als ein unerklärliches Phänomen, das nur Unheil verbreiten kann.
Robert ist nicht im Geringsten von ihr fasziniert und sein Blick sucht nur nach ‚Rettung.’
Diese kommt in einem freundlichen, unerklärbar vertrauten Element des Bildes: Den
Giebeln in der Ferne. Nicht mehr das Fenster dient zum Schutz des Protagonisten,
sondern eine höhere Perspektive. Der Blickwechsel von den erschreckenden Teilen der
Stadt auf die Giebel in der Ferne steht auch für eine Loslösung von einem kollektiven
Dasein zum Individuellen. Die Türme symbolisieren eine Miniaturwelt und entziehen
sich dem dumpfen Treiben unten – ganz genau wie Certeau dieses Phänomen beschreibt
– und bieten den Blick von oben hinab. Der Junge sucht letztendlich einen einzigen Turm
aus, in dem der Astronom und Landsmann Ulex wohnt. Ulex lebt in diesem Turm, den er
nur abends oder morgens verlässt, um sich der bedrohlichen Stadtebene zu entziehen.208
Seine Tätigkeit als Astronom fordert ein waches Leben, so arbeitet er, wenn das Leben in
der Stadt ruht.
Roberts Fensterblick, obwohl der Junge im Gegensatz zu Wachholder die
überwältigende Realität aus der Stadt in sein Zimmer hereinkommen lässt, kann mit
Wachholders Technik verglichen werden. Der Junge sucht nach einem stabilen
Standpunkt, den er nicht in einer kleinen Straße, sondern in der Ferne in einem Turm
findet. Den Kontrollverlust erlebt Robert Wolf nicht als ein kreatives Ereignis, sondern
als eine lähmende Überwältigung durch die Großstadt, mit der er sich nicht
208
Oben in seinem Turm beobachtet Ulex die Stadt unten. Am glücklichsten ist er, wenn die Stadt
unerkennbar wird und er seine Phantasie einen freien Lauf lassen kann: „Den wallenden Nebel schätzte er
auch mehr als andere weniger phantasiebegabten Menschen. Er konnte Bilder darin aufbauen, Gestalten
darin hervorzaubern, er konnte ihn formen wie der Bildhauer den Ton, er konnte darauf zeichnen wir der
Maler auf der grauen Leinwand“ (BA V, 243).
227
auseinandersetzen kann. Ulex’ Lehre verspricht ihm die Lösung und eine völlige
Kontrolle: „Sieh nach den Sternen [...] Da droben ist alles Harmonie und Ordnung; nach
ewigen Gesetzen wandelt jedes Glied der großen, glänzenden Gemeinschaft; selbst die
regellosesten unten ihnen, die Kometen ziehen ihren vorgeschriebenen Weg. Welch ein
Kontrast gegen das Getümmel hier unten!“ (V, 159).209 Dass das Fenster nicht mehr das
entsprechende Medium ist, den Jungen vor dem Gewirr der Stadt zu schützen, zeigt, wie
schnell Berlin sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt hat.
Die Stadt erscheint als eine große Maschine und ein zerstörerisches Labyrinth;
der Beobachter erlebt das Gesehene als eine geistige Überforderung, die einem den
Orientierungssinn nimmt. Robert Wolf sucht in einem fernliegenden Turm nach einer
optischen und seelischen Rettung, um die Überwältigung durch die Großstadt zu
verdrängen. Robert Wolf findet die anorganischen Einzelheiten der Stadt210
beängstigend und sucht nach organischen Flecken in der Stadt, die ihm mit seinem
Heimatort, mit dem ländlichen Poppenhagen und Winzelwald verbinden und eine
emotionale Stabilität und sowie ein Gefühl der Kontrolle vermitteln können.
209
Um Raabes Die Leute aus dem Walde in der literarischen Stadtwahrnehmungsgeschichte präziser
positionieren zu können, konnte der Fensterblick des in der Stadt ankommenden Jungen im folgenden mit
Siegfried Kracauers Kurzprosa „Der Blick aus dem Fenster“ verglichen werden. In der Form des
Stadtfeuilletons beschreibt Kracauer das von seinem Fenster Gesehene in der folgenden Weise:
Von meinem Fenster verdichtet sich die Stadt zu einem Bild, das herrlich wie ein Naturspiel ist. Doch ehe
ich mich ihm zuwende, muss ich des Standortes gedenken, von dem aus es sich erschließt. Es befindet sich
hoch über einer unregelmäßigen Platzanlage, der eine wunderbare Fähigkeit eignet. Sie kann sich
unsichtbar machen, sie hat eine Tarnkappe auf. Mitten in einem großstädtischen Wohnviertel gelegen und
Treffpunkt mehrerer breiten Straßen entzieht sich der kleine Platz so sehr der öffentlichen Aufmerksamkeit,
dass kaum jemand auch nur seinen Namen kennt. [...] Ein Schwarm von glänzenden Parallelen, der tief
genug unter dem Fenster liegt, um seiner ganzen Ausdehnung nach übersehen werden zu können. Mit ihren
vielen Signalmasten und Schuppen macht die Fläche beinahe den Eindruck eines mechanischen Modells,
das ein Knabe, der irgendwo unsichtbar kniet, zum Experimentieren benutzt. (50-51).
210
Klaus Scherpe beschreibt diese Ästhetik als ein „anorganisches Muster der Stadtbeschreibung“ und als
„Fiktion der Bedingtheit und Vermitteltheit“(Ausdruck, 150). Kracauers Text zeugt nämlich von einer
Aufmerksamkeit für das räumliche Arrangement von Linien und Flächen und von einem Reiz für die
‚kalten’ Strukturen der Stadt. Der reale Stadtplan und die technische Stadt verwandeln sich in Kracauers
Texten in einen imaginären Raum, der den Überlastungsdruck der Großstadt als ein kindliches Spiel und
Experiment mit geometrischen Formen beschreibt
228
Wenige Seiten später erlebt Robert die Stadt noch einmal durch das Fenster,
dieses Mal aus Ulex’ Wohnung im Nikolaiklostergiebel:
Der Jüngling am Fenster des Klostergiebels sah es stehen, achtete jedoch anfangs
weniger auf das niedliche Kind als auf das grüne Gebüsch und die Baumwipfel,
an welchen die Blüten sich öffneten. Jeden Fortschritt der Vegetation auf diesem
winzigen Punkt inmitten der grauen Einöde beobachtete er, sozusagen gierigen
Auges. Es lag ein Trost darin, eine Art Bürgschaft dafür, dass die Welt doch noch
nicht ganz zu Mauerwerk, Schornsteinen und Feuermessenqualm geworden sei.
(Hervorhebung von mir, V, 163)211
Das Zitat bestätigt Roberts Flucht vor den realen Verhältnissen der Großstadt und seine
Sehnsucht nach idyllischen Orten in der Mitte der Stadt. Er sucht in der urbanen
Topografie Orte, in denen sich Grün gegen das vorherrschende Grau, Natur gegen
Zivilisation und das Einzelne gegen das Kollektiv der Großstadt und ihrer Bewohner
durchsetzt. An der Spitze von Ulex’ Giebel bietet sich ihm wieder ein Überblick über die
Stadt, in dem er verlässliche und übersichtliche Punkte finden kann. Hier kann Robert als
ein autonomes, menschliches Individuum funktionieren, im Gegensatz zum Treiben
unten, zu den Regungen der Großstadt, deren Gesetze ihm verborgen bleiben. 212 Im
Kontrast zu dem Certeausches Modell sucht Robert Wolf nicht nach einem im Ganzen
fassbaren Bild der Stadt, sondern nach Winkeln Berlins, die seinen Augen einen festen
Standpunkt anbieten und seine Identität, die in erster Linie durch den Herkunftsort
konstituiert ist, bestätigen.
211
Vgl. dazu auch “Wie schon gesagt, der Jüngling [Robert Wolf] hatte ein gutes Auge aus dem Walde in
die Stadt gebracht, und es entging ihm keine Einzelheit des grünen von der Sonne beschienenen
Fleckchens” (BA V, 162).
212
Robert Wolf fühlt sich in Berlin in den ersten Tagen seines Aufenthaltes fast ohnmächtig: “Anfangs
hatte Robert sich vor den Gassen, vor dem Gewimmel der großen Stadt sehr gescheut, fast gefürchtet, und
der einzige Weg, welchen er allein ging, war der zum Giebel des Nikolaiklosters gewesen. In das Gewühl
der Stadt hatte er sich nur an der Seite des Polizeischreibers gewagt, und stets war er bedrückt und verwirrt
daraus heimgekehrt. Er schien auf keine Weise sich darin zurechtfinden zu können; die Häuser und Mauern
wollten ihm auf den Kopf fallen, die Tausende aber Tausende von Gesichtern waren ihm unheimlich;
überall vermutete er lauernde Feinde, Spott und höhnisches Lachen” (BA V, 166).
229
Die Suche nach Orientierungspunkten erscheint auch in nicht-fiktiven Berlin
Beschreibungen der Zeit. Julius von Rodenberg hat einen Text mit dem Titel „Die letzte
Pappel“ in Bilder aus dem Berliner Leben im Jahre 1875 veröffentlicht. Wie der
Protagonist Raabes sucht er nach grünen Flecken der sich verändernden Stadt, nach
Pappeln, die zur Zeit Friedrichs des Grossen gepflanzt waren:
Als ich zuerst in diese Gegend der Stadt kam, vor vierzehn oder fünfzehn Jahren,
da waren mehr Pappeln hier; in der Tat mehr Pappeln als Häuser. Das Haus in
dem ich jetzt wohne, war noch nicht, und alle anderen Straßen und sie her waren
noch nicht. Gärten waren da, mit kleinen, niedrigen, einstöckigen Häuschen und
gemütlichen Leuten darin... (Rodenberg 6)213
Die Pappeln wurden aber gefällt und die letzte wird mit diesem Text betrauert. Das
Verschwinden der Natur geht mit der Erweiterung der Stadt zusammen, wie Rodenberg
schreibt, „der Zusammenhang stellte sich bald heraus: es war auf ein neues Stadtviertel
und eine vollkommene Vernichtung der ländlichen Allee abgesehen“ (14). Riesengrosse
Gebäude und neue Straßen mit bisher noch nicht gesehenen Namen erscheinen in der
Nachbarschaft, deren letzte Pappel „aus dem steinernen Umfange von Berlin“ mit kleinen
Gärten und alten Restaurationen hinausgetrieben wird (16). Auch Raabes Robert Wolf
setzt sich mit den ökologischen Folgen der Urbanisierung aus der Höhe auseinander.
Die Vollendung von Roberts Erziehung bedeutet eine Versöhnung der zwei schon
erwähnten Perspektiven, „Sieh nach den Sternen, gib acht auf die Gassen,“ die ihm seine
Landsmänner beibringen. Nach der Vollendung seiner Ausbildung hat der Junge aus dem
Walde keine Angst vor der Großstadt mehr: „Robert Wolf wagte es, auf eigene Faust die
Gassen zu durchstreifen; die Scheu, die Angst vor den Menschen verlor sich“ (BA V,
166). Jedoch findet der Leser Robert Wolf nur selten auf den Straßen Berlins und die
213
In dem schon erwähnten Wien Beschreibung Stifters nennt der Autor den Stephansdom mehrmals als
„seine Pappel.“
230
Anwesenheit Berlins ist in diesem Roman noch begrenzter als in der Chronik. Die Stadt
hat eine wichtige Rolle, insofern sie mit ihrer Komplexität zur Ausbildung Roberts etwas
beitragen kann. Sobald Robert lernt, in seinem Leben zwischen dem Materialismus der
Gassen und dem Idealismus der Sterne eine aurea mediocritas zu finden, ist er auch dazu
bereit, ganz genau wie der Verfasser des Romans, die Stadt hinter sich zu lassen. Mit
seiner Gattin Helena Wienand zieht er nach Poppenhagen zurück, um ein neues Leben zu
beginnen. Roberts Geschichte endet topographisch, wo sie angefangen hat.
Obwohl Raabes Bildungsroman die Großstadt zum Hauptschauplatz der
Handlung wählt, erfüllt er seinen Roman – wie Wachholder seine Chronik -- mit einem
tradierten Erzählstoff, der sich auch in der Anwendung von verschiedenen Perspektiven,
wie dem Fensterblick und der Vogelschau, offenbart. Berlin fungiert als eine Metapher;
das Wort „Wald“ im Titel bezieht sich auf die Stadt wie auf das Land.214 Die Großstadt
mit ihren Massen und der Multiplizität von Reizen zwingt den Protagonisten, seine
eigene Position zu definieren. Anstatt Robert zu einem Stadtbewohner avancieren zu
lassen, entscheidet der Erzähler, das Leben des Jungen für ein und allemal mit dem
provinziellen Deutschland zu verbinden. Dieser Akt ist die wahre ‚Rettung der Seele’ von
Robert, die der Polizeischreiber Fritz Fiebiger am Anfang des Romans antizipiert hat, und
die Raabe mit den folgenden Worten begründet:
In unserer Zeit, wo die bewegende Kraft in die Massen zurückfällt, wo selbst die
Größten nur das wollen dürfen, was die Allgemeinheit will, in dieser Zeit steht
der einzelne, der stets mit aller Kraft das Edle und Gute gewollt hat, freier
Verantwortlichkeit für andere da als in irgendeiner Epoche. Geschlechter, Stände
mögen im Lachen der Menge zugrunde gehen; der tadellose, fleckenreine Schild
des einzelnen wird um so heller glänzen. (BA V, 410)
214
Fries beschreibt diese Äquivalenz treffend: „The forest which surrounded these characters in
Poppenhagen has changed its material structure and has become a forest of buildings. The title applies to
Poppenhagen and to Berlin“ (36).
231
Die Anwendung der Vogelperspektive erfüllt mehrere Funktionen in diesem
Roman: Die erhöhte Perspektive wird als Erziehungsmittel benutzt und sie bezieht sich
auf die Wichtigkeit des Individuums und der Stabilität der einzelnen Grenzen. Die
Mobilisierung eines tradierten Motivs in der Malerei in der Beschreibung der sich
ausdehnenden Stadt betont auch die Veränderungen im Stadtbild. Berlin bekommt im
Vergleich zu der Chronik eine enorme Größe und Komplexität, mit der man sich aus dem
Fenster nicht mehr auseinandersetzen kann. Berlin wird drohend fremd, beängstigend und
erdrückend in den Erfahrungen von Robert Wolf, der nach der Versöhnung mit den
Realitäten der Großstadt den Heimatort als zu Hause wählt (wie Raabe es auch getan
hat!). Die Anwendung der Turmperspektive als einziges Mittel, die Stadt aus einem
geschützten Punkt kennen zu lernen, impliziert die Sehnsucht nach Kontrolle über die
unüberschaubar gewordene Stadt, die man unten in den Straßen nicht mehr verstehen
kann. Der distanzierte, erhöhte Blick ermöglicht dabei aber auch eine nüchterne
Beschreibung der ökologischen Folgen der Industrialisierung, die die grünen Flecken in
der Stadt nach und nach abschafft.
232
Verlorene Nachbarschaft und Hommage an der Berliner Universität: Die Akten des
Vogelsangs (1895)
Die Berlinische Topographie in Raabes Die Akten des Vogelsangs führt den Leser wieder
nach Berlin, jedoch konzentriert sich der Roman auf zwei verschiedene Stadtteile: Auf
die Transformation der alten am Stadtrand liegenden, von Hecken umgebenen
Nachbarschaften und auf die Umgebung der Berliner Universität.215 In der folgenden
Analyse werden diese zwei Orte mit Gemälden der Berliner Stadtmalerei verglichen. Es
gibt spannende Überlappungen zwischen dem Text und den Gemälden von Berlin, was
zeigt, dass diese Orte immer wieder mit symbolischen Inhalten aufgeladen werden und
im 19. Jahrhundert sowohl in der Malerei als auch in der Literatur eine wichtige Rolle
spielen.
Umweltveränderung und Industrialisierung beschäftigten Raabe in mehreren
Romanen aber in Bezug auf Berlin erscheint dieses Interesse in der Darstellung von
Ortschaften, deren Gesicht und Struktur sich durch Bauten der Gründerjahre wesentlich
verändern. In dem Roman Die Akten des Vogelsangs erscheint so eine Ortschaft in dem
Titel. Der Chronist Karl Krumhardt erzählt von der alten Nachbarschaft, die Vorstadt
genannt Vogelsang, in der er großgeworden ist, bevor diese mit der grünen Hecke, dem
Symbol der Nachbarschaft, verloren ging. Wie in der Chronik, Ein Frühling und Die
Leute aus dem Walde wird auch in diesem Roman eine geteilte Kindheitsgeschichte
erzählt. Der Erzähler ist Karl Krumhardt, der seinen Kindern in ein Tagebuch über seine
215
Auch Adam Asche und Eberhard Pfister in Pfisters Mühle studieren in Berlin. In Villa Schönow ist die
Figur des Universitätsprofessors Kiebitz von der Friedrich-Wilhelm-Universität zu erwähnen, der in seiner
Wohnung in der Mittelstraße in unmittelbarer Nähe der Universität eine große Bibliothek besitzt. Die
Ansiedlung von gelehrten Figuren in der Umgebung der Universität mit genauer Straßenbezeichnung zeugt
vom Eindruck, den Berlin auf den Studenten Raabe gemacht hat.
233
Kindheitsfreunde, Velten Andres und Helen Trotzendorff, aber auch über die ganze
Nachbarschaft, in der sie zusammen aufwuchsen, seine Erinnerungen einträgt.
Die Nachbarkinder im Vogelsang, Karl Krumhardt und Velten Andres werden im
Roman als Gegenpole benutzt. Als Sprachrohr wird Karl Krumhardt gewählt, der „als ein
wohlgeratener Sohn, als ein älterer, verständiger Mann, als wohlgestellter Familienvater,
als ‚angesehener,’ höher Staatsbeamter“ (BA XIX, 244) die Kindheitserinnerungen ins
Gedächtnis ruft. Im Gegensatz zu Krumhardt stirbt Andres alleine ohne Familie,
„eigentumlos, besitzesmüde“ (BA XIX, 286) und „ist in seinem kurzen Leben alles
gewesen: Gelehrter, Kaufmann, Luftschiffer, Soldat, Schiffsmann, Zeitungsschreiber –
aber gebracht hat er es nach bürgerlichen Begriffen zu nichts“ (BA XIX, 318).
Die ersten Seiten über die Vergangenheit beschreiben ein „Zauber der
Nachbarschaft,“ eine Idylle, die nicht mehr existiert (BA XIX, 327). In diesem Roman
wird die Vernichtung der alten Vorstädte am explizitesten geschildert: „Aus Büschen
werden Bäume, aus Bäumen Hausmauern, aus Grün Grau. Aus obststehlenden (freilich
meistens dazu verführten) Schuljungen werden die besten Verwaltungsbeamten und
Regierungsräte, sowie die schärfsten Staatsanwälte“ (BA XIX, 328). Das Zitat beschreibt
die Veränderungen in kargen Worten, jedoch ist die Schilderung der Veränderungen nicht
immer ohne Nostalgie:
Die Nachbarschaft! Ein Wort, das leider Gott immer wieder mehr Menschen zu
einem Begriff wird, in den sie sich nur mühsam und mit Aufbietung von
Nachdenken und Überdenken von allerlei behaglicher Lektüre hineinzufinden
wissen. Unsereinem, der noch eine Nachbarschaft hatte, geht immer ein Schauder
über, wenn er hört oder liest, dass wieder eine Stadt im deutschen Volk das erste
Hunderttausend ihrer Einwohnerzahl überschritten habe, somit eine Großstadt und
aller Ehren und Vorzüge einer solcher teilhaftig geworden sei, um das
Nachbarschaftsgefühl dafür hinzugeben (BA XIX, 218)216
216
„Mit den Gärten sind heutzutage zwar auch die Vögel im Vogelsang ausgerottet; aber in den Wäldern
jenseits des Osterberges singen auch heute noch, aus Überlieferung“ (BA XIX, 222).
234
Der Nachbarschaft wird die wachsende Metropole, Industrialisierung, Stadterweiterung,
„Fabriken, Mietshäuser, Tanzlokale“ gegenübergestellt. Aus dem Roman erfährt der
Leser, dass an der Stelle der im Rückblick idyllischen Gartenvorstadt in der
Erzählgegenwart ein Naherholungsgebiet und ein Kurpark „Asyl für Nervenkranke“
liegen. Der Roman wird nach der etwas pessimistischen Darstellung der Zerstörung zur
unsentimentalen Chronik eines Unterganges der Idylle und zur Schilderung der Ende
einer sozialen Kultur „nachbarschaftlichen Zusammenwohnens und Anteilnahmens“ (BA
XIX, 218).217
Vororte und alte Nachbarschaften, die wegen der regen Urbanisierung aus der
Landkarte verschwinden, sind auch Gegenstände von Adolph Menzels Werken. Den
Wandel Berlins von der gemütlichen Provinz zur Großstadt hat Menzel in zahlreichen
Gemälden und Zeichnungen festgehalten. Das Gemälde Der Blick auf Hinterhäuser
(1847) zeigt einen Blick aus dem Fenster des Malers (Achenbach 101). Der Blick richtet
sich über eine Gartenlandschaft in die Richtung der Innenstadt. Am Horizont kann man
die Kuppel des Berliner Schlosses und die Turmspitzen von der Marien-, Nikolai- und
Luisenstädtischer Kirchen „als Garanten der Beständigkeit“ entdecken (Achenbach 101).
Die von dem Maler verewigte Mischung von alten und neuen, hohen and kleinen Häusern
bildet einen starken Kontrast und zeigt, wie Raabe in seinen Romanen, wie sich die die
Stadt umgebende Landschaft in der Folge der Industrialisierung und Stadterweiterung
verändert.
217
„Bauschutt, Fabrikaschenwege, Kanalisationsarbeiten und dergleichen gab es auch noch nicht zu unserer
Zeit in der Vogelstadt, genannt „Zum Vogelsang. Die Vögel hatten dort wirklich noch nicht ihre Baupläne
dem Stadtbauamt zur Begutachtung vorzulegen.“ (BA XIX, 219).
235
Abbildung 25: Adolph Menzel, Der Blick auf Hinterhäuser (1847)
In der Thematisierung dieses Motivs gibt es wichtige intermediale Wirkungen
zwischen Literatur und Malerei. Raabe als Schriftsteller reflektiert detailliert über die
Motivationen, Möglichkeiten und Hindernisse der Nachbarschaftsbewohner, die ihre
Wohnorte verlassen. Die drei Charaktere des Romans symbolisieren die Veränderung des
Sozialraums und zeigen drei verschiedene Reaktionen auf die Veränderungen. Als Grund
zum Untergang bezeichnet Raabe nicht eine gnadenlose Urbanisierung, sondern zeigt,
dass die Voraussetzungen dafür schon im Inneren der idyllischen und als eine
zusammengehörende Familie funktionierenden Nachbarschaft existierten. Wie Dirk
Göttsche es treffend formuliert, kommt die Aufstiegsmentalität „früher als die
Konservenfabrik“ (91). Die Entwurzelung der Einwohner und der Zusammenbruch der
alten Lebensformen sind nicht nur als Folgen der äußeren Veränderungen außerhalb der
Nachbarschaft, sondern auch Fortsetzungen der Veränderung der bürgerlichen Mentalität
236
innerhalb der Gemeinschaft, wie der Erzähler es dem Leser nüchtern zur Kenntnis bringt,
während seine Eltern über den Verkauf ihres Hauses entscheiden:
Wahrhaftig, ich bin es nicht gewesen, der die zwei treuen, wacheren Seelen [die
Eltern] mit ihren Wurzeln aus dem Boden hob und sie so in ihren greisen Tagen
in ein fremdes Erdreich versetzte! Ihre liebe menschliche Torheit war’s, die da
Pflicht, Pflichten, Vorzug, Gewinn, Ehre, Lob, Ruhm und Glück sah, wo die
übrigen Millionen unserer Brüder und Schwestern im Erdenleben – ebendasselbe
sahen. (Hervorhebungen von mir, BA XIX, 322)
Wie die Eltern ziehen sich auch die Vertreter der zweiten Generation aus der
Nachbarschaft aus: Helene kehrt in die Vereinigten Staaten zurück, Velten Andres
studiert in Berlin und Karl Krumhardt, der Familientradition folgend, in Göttingen.
Raabes Erzähler, Karl Krumhardt, wird in der Schilderung dieser bedeutungsvollen
Entscheidung nicht sentimental und geht als ein Chronist um, der die Veränderungen, wie
die zeitgenössischen Maler die sich verändernde Berliner Altstadt, nüchtern registriert.
Raabe zeigt durch die städtebaulichen Veränderungen gnadenlos, welchen Preis man für
den bürgerlichen Aufstieg und für die soziale Mobilität bezahlen muss.
Neben den verschwindenden Vorstädten bekommen bestimmte zentrale Orte, die
mit der Berliner Universität verbunden sind, eine wichtige Rolle in der zweiten Hälfte des
Romans. Einerseits werden die Unterschiede zwischen dem Universitätsstudium in
Göttingen und Berlin thematisiert.218 Die Entscheidung war auch eine persönliche
Entscheidung von Raabe: Die Wahl zwischen der preußischen Hauptstadt mit ihrer
nationalpatriotischen und revolutionären Tradition als Studienort und Göttingen, wo sich
Raabes Vater und Bruder für die juristische Beamtenlaufbahn im Herzogtum
218
Berlin ist in den späteren Raabe Texten eine Stadt der Gelehrten. Das Gelehrtendasein bietet Zuflucht
und Befriedigung in der Anonymität Berlins. Gelehrten, die in Berlin studierten erscheinen in mehreren
Romanen Raabes. Die haben auch die Funktion, in der sich wachsenden Stadt ein ruhiges Einzelleben zu
führen. „Doktor in Berlin“, „Berliner Doktor“ gibt es in vielen Texten: Ein Frühling zB. Der
Naturwissenschaftler in Pfisters Mühle: „meine vier Wände in Berlin, die Bücher an den Wänden und der
Blick durchs Fenster in die bunte lärmende Gasse“ (BA XIV, 263).
237
Braunschweig ausbilden ließen. Dementsprechend wird Karl Krumhardt zum Studiosus
juris in Göttingen und Andres Velten zum Studiosus Philosophiae an der Berliner
Friedrich-Wilhelms-Universität. Krumhardt besucht seinen Kindheitsfreund während des
Studiums in der mit Bedacht konstruierten Studentenstube Veltens in der Dorothenstraße,
die als eine Nachbarschaft von Zugezogenen und Außenseiter in der Mitte der
„Millionenstadt“ (BA XIX, 280) fungiert.
Die beiden Jugendfreunde besuchen die alte aus Jena stammende Frau
Fechtmeister Feucht, bei der Velten Andres untergebracht ist und deren
Hinterhofwohnung mit ihren Erinnerungstücken die emanzipatorische Studentenschaft
ins Leben ruft:
In ganz Deutschland gab es kein Witwenstübchen, das diesem glich. Mitten in
diesem Berlin diese ganze deutsche Jugend, soweit sie sich in Jena und auf ihren
Verbindungsbildern zusammengefunden hatte! Alle Wände damit bedeckt; -dazwischen, wo nur ein Räumchen, alles voll von Schattenrissen mit allen
Couleuren an Mütze und Band. Waffentrophäen statt des Spiegels, Schläger und
Stulpen und was sonst noch dazu gehört, wo nur noch was Äugzuhängen war.
Keine Ritterdame des romantischen Mittelalters hatte je zu der Ausstattung ihres
Ahnensaales und ihrer Kemenate so gepasst wie die Frau Fechtmeisterin Feucht
zu dem Schmuck und der Zierde ihres Altweiberstübchens, wie gesagt: mitten in
diesem Berlin! (BA XIX, 281)
Nicht die Aktualitäten der Berliner Universität werden in Raabes Roman dargestellt,
sondern ein Stück von deren Vergangenheit betont. Das gelehrte Berlin wird nie als ein
öffentlicher Ort geschildert, sondern kommt in privaten Zimmern und seltsamen
Interieurs zu Tage. Die kleine Stube der Frau Fechtmeister Feucht funktioniert, wie in
anderen Romanen einzelne Häuser (das seltsame Haus in der Blutgasse in Ein Frühling)
oder bestimmte Kirchen (die Sophienkirche in der Chronik) als eine Metapher der
gesamtdeutschen Geschichte aber auch als eine Kritik der Berliner Universität und
238
Gelehrten. Die Kritik der Berliner Universität, die die ursprünglichen Ziele der
emanzipatorischen Studentenschaft nach Raabe nicht in Erfüllung gebracht hat, wird im
Folgenden Eduard Gaertners Lithographie Portal der Universität zu Berlin (1932)
gegenüber gestellt.
Abbildung 26: Eduard Gaertner, Lithographie Portal der Universität zu Berlin (1832)
Die im Königlichen Lithographischen Institut gedruckte Lithographie Gaertners offenbart
einen ungewöhnlichen Blick auf die Hauptfront des Opernhauses zwischen zwei
massiven Schilderhäusern hindurch. Die beiden denkmalartigen, die Oper optisch
239
rahmenden Bauten sind Bestandteile eines Zauns, der den Ehrenhof des ehemaligen
Prinz-Heinrich-Palais abschließt (Bartmann, 301). Die Darstellungsweise ist ganz
eigenartig, da Gaertner sich dem Thema auf unabhängige und originelle Weise nähert.
Zwei Gruppen diskutierender Studenten hat der Maler zwischen die beiden
portalbildenden Schilderhäusern gestellt. Ihre Kleidung, wie z.B. Schirmmützen und
hohe Stiefel, macht sie als Burschenschaftler kenntlich. Zwischen beiden Gruppen
besteht eine Distanz, die durch das halbseitig geschlossene Torgitter noch betont wird.
Ein in der Türöffnung stehender Student tritt als Vermittler auf. Er trägt unter seinen
verschränkten Armen zwei Schläger, degenartige studentische Waffen. Die Szene
erschließt sich somit als eine Vorbereitung für ein Duell.219 In diesem Sinne entsteht vor
dem Berliner Publikum eine weitverbreitete Vorstellung des studentischen
Lebenswandels.
Die von den Burschenschaftlern ausgefochtenen Duelle und ihr Auftreten in den
nächtlichen Straßen mögen in der biedermeierlichen Geordnetheit in der noch jungen
Universitätsstadt Berlin befremdlich gewirkt haben, boten aber genug Anlass für
genrehaften Darstellungen (Bartmann, 302). So ist Gaertners Darstellung weniger ein
Sinnbild auf sich im Schutze der Nacht treffende, von Reaktion und
Demagogenverfolgung bedrohte, politisch engagierte Studenten, sondern eher ein
illustratives und genrehaftes Motiv. Bartmann schreibt auch, dass es wegen des
Druckortes auch schwer vorstellbar ist, dass das Bild antihöfische oder revolutionäre
Gesinnung propagieren sollte, jedoch macht die nächtliche Atmosphäre die Abbildung in
diesem Sinne schon ambivalent (303).
219
Die Beschreibung der „Handlung“ des Bildes habe ich von dem Kunsthistoriker Bartmann übernommen.
240
Wilhelm Raabe benutzt ein ähnliches Topos in Die Akten des Vogelsangs, in dem
die als Museum fungierende Stube das Scheitern der Studentenbewegungen enthüllt. Im
Gegensatz zu Gaertner stellt Raabe die Berliner Universität nicht als einen öffentlichen
Ort dar, sondern präsentiert ihr wahres Wesen durch ein vorsätzlich dekoriertes Interieur.
Die Ereignisse in Gaertners Lithographie finden jedoch, wie die Begegnung der Frau
Fechtmeister Feucht bei Raabe, während der Nacht statt. Raabe greift auf das malerische
Erbe des Biedermeiers zurück und formuliert seine Kritik über die Bildungspolitik durch
ein Interieur, ein Stillbild, das den Leser auf die revolutionären Studentenbewegungen
der jüngsten Vergangenheit erinnert.
Der Spätroman Die Akten des Vogelsangs behandelt zwei völlig unterschiedliche
Berlin-Topographien in einem Text. Verknüpfungsfiguren sind die Repräsentanten der
zweiten Generation, deren Eltern als erste in die Stadt umziehen. In beiden Fällen äußert
der Erzähler eine nüchterne, distanzierte Kritik über die gesellschaftlichen, ökologischen
und bildungspolitischen Veränderungen, die im derzeitigen Berlin stattfinden. In der
dargestellten urbanen Topographie findet man mehrfache thematischen und ästhetische
Entsprechungen mit der zeitgenössischen aber auch mit der biedermeierlichen
Stadtmalerei.
Schlussfolgerung
Drei ausgewählte Romane standen im Fokus des vierten Kapitels, die alle in Berlin
stattfinden und als repräsentative Werke von Raabes Berlin-Texten aus drei
verschiedenen Zeitpunkten angesehen werden können. Ein traditioneller Topos der
241
literarischen Stadtbeschreibung erscheint in den ersten zwei Romanen, der Besuch des
Provinzlers in der Stadt, der auf all die Reize, die ihn in der Stadt erwarten, nicht
vorbereitet ist. In dem dritten Roman sind die Protagonisten geborene Berliner, jedoch
gibt es eine topographische Spaltung im Roman zwischen den verschwindenden alten
Nachbarschaften und der modernisierenden Großstadt. Einige von den Gestalten kommen
in Berlin entgültig zu Hause an (Klärchen Aldeck oder Karl Krumhardt),220 andere (wie
Robert Wolf) treffen die Entscheidung, auf das Land zu ziehen und die Stadt zu
verlassen. Berlin wird in allen drei Romanen ohne Namen dargestellt, jedoch wird es in
allen drei Fällen klar, dass das Geschehene in der deutschen Hauptstadt spielt.
Obwohl die drei Romane drei verschiedene Themen behandeln, gibt es viele
Ähnlichkeiten, die die Charakteristik der Raabeschen Berlin Romane ausmachen. In allen
drei Texten geht es um eine geschlossene Gruppe von Figuren, die zusammen, in der
Provinz oder in einer ländlichen Vorstadt, großgeworden sind. Durch diese
Lebensgeschichten entsteht eine Polarität zwischen der Kleinstadt und der Grosstadt
sowie zwischen der verschwindenden Altstadt, den ländlichen Vorstädten und modernen
Stadtteilen innerhalb von Berlin. Die Suche nach Sicherheit und die Wichtigkeit der
intimen inneren Räume erscheinen in allen drei Texten und Raabe bietet seinen
Protagonisten eine Zahl von Möglichkeiten an (z.B. auf dem Lande sesshaft zu werden
oder in der Mitte der Stadt eine Oase finden zu können).
220
Eberhard Pfister und seine Ehefrau Emmy in Pfisters Mühle ziehen sich nach Berlin um. Die junge Frau
bringt den heimatlichen „wundervollen Efeu“ auf ihren Berliner Balkon mit, ein Motiv, das auch in der
Chronik erscheint. Sie fühlen sich wohl in der Großstadt, in der sie in einer modernen Mietswohnung
sesshaft werden: „Wir waren auch in Berlin viel eher, als wir es dachten. Und obgleich es heute nicht mehr
die Kirchtürme der Städte sind, sondern die Fabrikschornsteine, die zuerst am Horizont auftauchen, so
hindert das einen auch heute noch nicht, gesund, gesegnet und – soviel es dem Menschen auf dieser Erde
möglich ist, zufrieden mit seinem Schicksale, ergeben in den Willen der Götter, nach Hause zu kommen.
Dichter drängte sich mein junges Weib an mich heran und flüsterte: ‚Ich freue mich so sehr auf unsere
eigenen vier Wände, und ich will es dir auch so behaglich machen, dass du denken sollst, das Beste habest
du doch mitgebracht nach Berlin von Pfisters Mühle.“
242
Obwohl Raabe nach der Niederschreibung und dem Erfolg der Chronik nie
wieder in Berlin sesshaft geworden ist und auch in seinen Spätwerken seine
Jugenderlebnisse dominieren, beschäftigt er sich mit einer beachtlichen Zahl von
zeitgenössischen Problemen, die als Folge der raschen Urbanisation und
Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Berlin auftraten. Wie die
zeitgenössischen malerischen Repräsentationen Berlins setzt sich auch Raabe mit den
städtebaulichen Veränderungen auseinander und sucht nach den Motiven und Folgen der
rapiden Transformation. Seine Werke lehnen den Fortschritt und die Modernisierung nie
ab, jedoch zeigen sie den Lesern sachlich und distanziert, was für eine Wirkung der
Wandel der traditionellen Lebensverhältnisse auf das Leben des Einzelnen ausüben kann
und welche Entscheidungen zu bestimmten Veränderungen führen können.
Trotz der verschiedenen Themen und Topographien wird Berlin in den drei
Texten oft mit den gleichen semantischen und erzähltechnischen Mitteln charakterisiert.
Die Doppelbegabung Raabe korrespondiert dabei mit Themen der zeitgenössischen
Malerei aber mobilisiert auch Abbildungen aus der Biedermeierzeit. In dieser Weise
entstehen komplexe Darstellungen von zahlreichen Problemen und Paradoxien über
Großstadtentwicklung und Modernisierung. Mit der Anwendung von schon existierenden
literarischen und malerischen Vorbildern macht Raabe bewusste und erfolgreiche
Einschreibungsversuche in den schon existierenden literarischen und malerischen Kanon
von Berlin-Repräsentationen des 19. Jahrhunderts.
243
SCHLUSSWORT
Zwei in dieser Dissertation behandelte Texte sind heute die bekanntesten Darstellungen
der Berlin-Literatur des 19. Jahrhunderts: E.T.A. Hoffmanns letzte Erzählung Des Vetters
Eckfenster und Wilhelm Raabes Debütroman Die Chronik der Sperlingsgasse. Seit der
Entstehung dieser Werke suchen Spaziergänger in Berlin immer wieder nach den Spuren
der beiden Schriftsteller, wenn sie die Spreegasse oder die Umgebung des
Gendarmenmarktes besuchen. Beide Werke haben im Kanon der Berlin-Texte einen
festen Platz, da beide Autoren Beobachtungsprozesse und Modelle zur Stadtbeschreibung
ins Leben riefen, die nicht nur Schriftsteller der nachfolgenden Berlin-Texte, sondern
auch Kritiker und Journalisten der späteren Jahrzehnte mit Vorliebe benutzten.
Des Vetters Eckfenster und Die Chronik der Sperlingsgasse verfügen über
mehrere Berührungspunkte, die in den früheren Texten von Hoffmann bzw. in den
späteren Texten von Raabe nicht mehr vorkommen. In beiden Prosatexten dienen
konkrete Berliner Orte und autobiographische Erlebnisse zur Förderung der Fantasie, und
beide Texte bieten präzise Einsichten in die soziale Welt des Berlins der 1820er und
1850er Jahre. In beiden Fällen spielen das Bestreben nach einem Verständnis der
Veränderungen in der Stadt, die Einbildungskraft des schöpferischen Beobachters und die
Entzifferung der beobachteten Figuren eine wichtige Rolle in der Konstruktion der
literarischen Texte.
Beide Autoren beschreiben eine Masse, aber diese Beschreibungen weisen auch
wesentliche Unterschiede auf. Obwohl die Masse in beiden Texten aus einer Distanz
244
beobachtet und beschrieben wird, sind die Schilderungen der beobachteten Szenen bei
Hoffmann mit Humor und Fantasie gefärbt, werden sie bei Raabe mit einer
wissenschaftlichen und nüchternen Stimme charakterisiert. Raabe greift jedoch auf das
literarische Erbe von Hoffmann mehrmals zurück und schreibt sich in eine Tradition ein,
wie im dritten und vierten Kapitel an mehreren Beispielen demonstriert wurde.
Den auffälligsten Berührungspunkt zwischen den zwei Texten bilden die vom
Leben abgewandten Erzähler, die in der Abschreibung ihrer Beobachtungen das Fenster
als Hilfe benutzen. Diese Position konnotiert in beiden Fällen eine ambivalente Haltung.
Einerseits enthüllt sie die Vereinsamung und die Isolation des Erzählers in der Stadt,
anderseits zeugt sie von einer Faszination, da das vom Fenster aus erlebte und
beobachtete Stadtleben zum Anlass des literarischen Schaffens wird. Die
Auseinandersetzung mit der Stadt wird dementsprechend auch ambivalent: die Stadt als
Darstellungsobjekt fördert die literarische Tätigkeit, gleichzeitig stellt sie die Autorität
des Erzählers über den Erzählstoff in Frage. In beiden Werken gibt es nämlich mehrere
Erzähler. In Des Vetters Eckfenster schreibt der Besucher den Text auf und bleibt der als
Schriftsteller dargestellte Vetter ausgeliefert und gelähmt im Hintergrund. In der Chronik
ist der Nachbar-Karikaturist Strobel der Verfasser einiger Seiten und der Erzähler
Wachholder thematisiert mehrmals die sich verändernde Rolle des Schriftstellers im
zeitgenössischen Berlin. Diese innovativen Erzähltechniken bilden einen Bruch in der
herkömmlichen Erzählweise. Beide Texte können als Experimente mit der Wahrnehmung
in der Großstadt charakterisiert werden, indem Themen wie Sichtbares und Unsichtbares,
Natur und Kultur, Privates und Öffentliches mehrmals thematisiert werden.
245
In der Entwicklung von neuen Techniken, um die veränderten Realitäten der
Großstadt effektiv beschreiben zu können, kann man in beiden Fällen über ‚eine
Kreativität wider Willen’ sprechen. Beide Schriftsteller entwickeln etwas Neues, aber
beide Erzählerfiguren erscheinen auch als resignierte Gestalten inmitten der wachsenden
Stadt. In dieser Weise wird die Großstadt gleichzeitig zum Objekt von Sehnsucht und
Furcht. Beide Texte literarisieren eine neue Wahrnehmung aus der Perspektive eines
Außenseiters, der als Provinzler nach Berlin kommt und sich mit den Realitäten einer
neuen Umgebung auseinandersetzen soll. Diese Auseinandersetzung findet auf mehreren
Ebenen statt: Hinweise auf die aktuelle politische Geschichte und auf die Stadtgeschichte
Berlins sowie Anspielungen auf die gesamtdeutsche Geschichte erscheinen in beiden
Werken.
Die neuen objektiven Realitäten der Großstadt üben einen markanten Einfluss auf
die ästhetische Gestaltung der Texte aus, die neben der innovativen Erzähltechnik in
beiden Texten in einer erhöhten Visualität zu Tage kommt. Beide Prosatexte sind
intermediale Produkte des 19. Jahrhunderts, indem man mehrfache Experimente mit der
Wahrnehmung der Welt mittels der konkurrierenden Kunst der Malerei entdecken kann.
Beide Autoren bezeichnen sich als Maler und beschreiben kurze Szenen und Bilder, in
ihren Texten. Die intensivierte Visualität zeigt, dass wie sich die Wahrnehmung der
Stadtbewohner im rasch verändernden und zur Großstadt wachsenden Berlin des 19.
Jahrhunderts veränderte.
Diese Texte sind jedoch nicht die einzigen literarischen Auseinandersetzungen
mit der preußischen Hauptstadt, da beide Autoren eine Menge andere Berlin-Texte
verfassten. Die früheren Berlin-Texte Hoffmanns zeigen, dass die rational erfassbare
246
Welt zugleich eine Kehrseite besitzt, die in der Literatur einfacher darzustellen ist als in
anderen Bereichen. Im Gegensatz dazu bieten Raabes Texte dem Leser distanzierte,
nüchterne Beschreibungen des wachsenden Berlins und seiner ökologischen,
gesellschaftlichen und städtebaulichen Probleme. Die zwei bekanntesten Texte haben
jedoch diese früheren bzw. späteren Werke in den Hintergrund gedrängt und dominieren,
wenn man Hoffmanns bzw. Raabes literarisches Berlin charakterisiert. Die
Beschreibungen des Gendarmenmarktes und die Bilder der Sperlingsgasse werden in
beiden Fällen als die bestgelungensten Repräsentationsformen angesehen.
Die weniger bekannten Berlin-Texte der beiden Autoren zeigen jedoch, dass
Berlin im ganzen Oeuvre eine wichtige Rolle spielt und die bekanntesten Beispiele
mehrere Vorgänger bzw. Kontinuitäten haben. Wenn man diese Korpora von Texten statt
der einzelnen Werke in Betracht zieht, werden die Berlin-Bilder von Hoffmann und
Raabe viel differenzierter. Während Hoffmanns Protagonisten in den früheren BerlinTexten als Außenseiter beschrieben werden, kommt der letzte Erzähler in Berlin an. Statt
der früheren mobilen Gestalten benutzt Hoffmann eine sesshafte Figur, welche die Stadt
von seinem Fenster aus sehr gut kennt. Im Gegensatz zu Hoffmann beginnt Raabe mit
einer ähnlichen Position, jedoch entfernt sich sein Blick von der Stadt und bevorzugt in
den späteren Texten eine viel distanziertere Position, die unter anderen durch die
Anwendung des Turmblickes sichtbar wird. Raabe beobachtet Berlin aus einer Distanz
und er beschreibt in einem nüchternen Ton, was die Vor- und Nachteile der
Urbanisierung sind. Hoffmann beendet seine Berlin-Texte im damaligen Zentrum, so
dass er selbst zum Teil der Stadt wird, zu einer der Legenden Berlins.
247
Bekannte und weniger bekannte Stadttexte von Hoffmann und Raabe zeigen, dass
die Wahrnehmungsveränderung und die Veränderungen im Zivilisationsprozess im
sozialen Raum der Stadt eng ineinander greifen. Diese Dissertation zeigt, dass die
poetischen Auseinandersetzungen von Hoffmann und Raabe in Form von Prosa mit
anderen wissenschaftlichen, politischen und ökonomischen Texten der Kultur, in der sie
entstehen, in enger Beziehung stehen. Die kulturwissenschaftliche Analyse der
literarischen Primärtexte in einem breiteren Kontext, mit der Hilfe von nicht-fiktiven,
außerliterarischen Texten, Berlin-Ansichten und architektonische Konzepten, hat die
Kapazität, die Komplexität der Primärtexte tiefer darzustellen.
Die Berlin-Texte der beiden Autoren sind nicht nur poetische Abbildungen der
Veränderungen, die das mittelalterliche Cölln/Berlin in eine moderne und signifikante
europäische Stadt verwandelten, sondern auch aktive Agenzien der von der Stadt
geformten Bilder. Die Prosatexte, Gemälde, Fotografien, und später der Film, schaffen
nämlich solche Repräsentationsformen, die neben den nicht-fiktiven Quellen als wichtige
Referenzen fungieren können. Die objektive Wahrnehmung wird oft zu einer Illusion und
in diesem Fall kann die künstlerische Darstellung der Stadt das von der Stadtgeschichte
bekannte Berlin modifizieren und einige von Historikern und Stadtforschern bislang nicht
gefüllte Lücken ergänzen. Die Stadtbilder Hoffmanns und Raabes sind deshalb nicht nur
poetische Abbilder von bestimmten Orten des damaligen Berlins, sondern wie
Architekten formen sie ein Berlin, das eigentlich nur eine unsichtbare, imaginäre Stadt
ist.
248
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