Ist das nicht die frühere Höhere-Töchter-Schule? - Conrad

Transcription

Ist das nicht die frühere Höhere-Töchter-Schule? - Conrad
Conrad-von-SoestGymnasium
„Ist das nicht die frühere
Höhere-Töchter-Schule?“
Lese- und
Bilderbuch zur
125-jährigen
Geschichte
unserer Schule
Lese- und Bilderbuch
zur 125-jährigen Geschichte
unserer Schule
„Ist das nicht die frühere
Höhere-Töchter-Schule?“
Lese- und Bilderbuch
zur 125-jährigen Geschichte
unserer Schule
„Ist das nicht die frühere
Höhere-Töchter-Schule?“
Conrad-von-Soest-Gymnasium
125 Jahre Kühlschrank? War da nicht noch ’was? Gibt’s da
nicht einen weiteren, etwas würdigeren Anlass zu feiern?
Richtig: Unsere Schule hat’s ebenfalls auf eineinviertel
Jahrhundert gebracht! Tusch!
Im Jahre 1876 wurde die private Mädchenschule von der
Stadt Soest übernommen – und neben den diversen Jubiläumsfeierlichkeiten aus Anlass dieses runden Geburtstages
soll in diesem kleinen Buch die sehr wechselvolle Geschichte unserer Schule mit den vielen Namen nachgezeichnet
werden.
Und statt Ihnen darüber hinaus eine Selbstdarstellung all
dessen vorzulegen, was unser Haus zu bieten hat, haben wir
uns gedacht: Sollen doch mal einige von denen, die vor längerer und vor kürzerer Zeit hier ein und aus gegangen sind,
zu Papier bringen, woran sie sich erinnern und was aus ihnen geworden ist. So kamen viele schöne Texte zusammen.
Etliche Ehemalige haben auch ihre alten Fotoalben hervorgekramt ... Zusammen mit den vielen Dokumenten und Fotos, die uns zur Verfügung gestellt wurden, ist auf diese
Weise ein – so hoffen wir jedenfalls – spannendes Bilder- und
Lesebuch entstanden.
Herausgeber
Redaktion
Realisation
Conrad-von-Soest-Gymnasium, Soest
Werner Braukmann
Medienverlag Mues+Schrewe, Warstein
© Conrad-von-Soest-Gymnasium
Soest / Westfalen, September 2001
Inhalt
Geleitwort
... wirklich schon so alt?
Hans Jürgen Wiesmann
7
Einstimmung
Die Schule nach 13 Uhr · Foto-Impressionen
Foto-AG
8
Schulgeschichte
Ein Puddingabitur wurde stets abgelehnt
Was hat unsere Schule mit Conrad von Soest zu tun?
Jochen Grade
Jochen Grade
Von Schnürleibchen,
Schulspeisung
und einer
Starkarriere
Über die allmähliche Lockerung des Schnürleibchens
Leise, wie Mäuslein, am Direktorzimmer vorbei
Unterricht zwischen Bombenalarm und Ernteeinsatz
Maria, in Wolldecken gewickelt
Welch ein Schatz, das neue Lehrbuch!
Heut‘ ist die braune Suppe dran
Blechnapf und Löffel in der Schultasche
Das Geheimnis überzähliger Vokabeln, blauer Flecken ...
Krauser Sinn nur vereint sich mit lockengetürmter Frisura
Karneval? Keine Zeit – denn das Abi ist nicht weit!
Nebenbei lernte ich melken
„Ein deutsches Mädchen schminkt sich nicht!“
Vorteile des Tischläuferstrickens
Drei Berufe in vierzehn Jahren
Wie ich einmal eine peinliche Rede gehalten habe
Auf Umwegen zurück nach Soest
7° nördliche Breite, ganz schön nah am Äquator
Wie Reich-Ranicki mal zwei Damen auf die Knie zwang
Schon am Convos wurde Geschichte ausgegraben
Aus „Soest, bei Dortmund“
Auf der Bühne fühlte ich mich wohl
In der Einsamkeit missglückten Soloturnens
Der Probe-Schläfer vom Potsdamer Platz
Zu viel Kaffee
Mir fällt zuerst der Kiosk ein ...
Alles Gute – dein Jüngster!
Keine Zeit, irgendwas zu schreiben
Ilse Maas
Abiturientia 1934
Hildegard Awater
Gonda Schädler
Elfriede Bohs
Lotte Kipp
Hildegard Schmidt
Monika Bunte
Elisabeth Wolke
Ina Prössdorf
Marie-Luise Tolle
Gundel Rohe
Christoph Keß
Sigrun Nickel
Matthias Kamann
Susan Hegemann
Barbara Müller
Heike Droste
Markus Sanke
Christian Buxot
Anette Fessler
Gesa Rünker
Werner Braukmann
Christian Mühlhaus
Thorsten Hellmich
Claus Bröskamp
Anna Blazejewska
66
68
70
72
74
76
77
80
83
84
85
87
89
91
94
96
97
99
101
104
106
107
110
112
114
116
118
Diplomaten in
Gummistiefeln
Das Pferd in der Vitrine
Aktivitäten und Auszeichnungen
Vorbild für Ausgleich, Verständigung und Frieden
Das Convos zapft die Sonne an
Hanno Leifert
120
122
126
127
„... und hier sind die Mäuse drin!“
Vernartischer Christ kittneppt Kandidandidaten im Kaffee
Klasse 5 c /6 c
Kellerratten und
Stilblüten
Ernst F. Schröder
15
61
129
133
… wirklich schon so alt?
Einige Gedanken zum 125-jährigen Jubiläum des Conrad-von-Soest-Gymnasiums
Nicht selten ruft die Feststellung, das Conrad-vonSoest-Gymnasium feiere
im September 2001 sein
125-jähriges Schuljubiläum, ein ungläubiges Staunen und zweifelndes Nachdenken hervor, das nicht
selten in der Frage mündet,
ob die Schule denn nun
wirklich schon so alt sei.
Die Geschichte unserer Schule ist eng verbunden
mit der höheren Mädchenbildung in der Stadt Soest
und ist somit ein Spiegel der höheren Bildung im
Allgemeinen in den zurückliegenden 125 Jahren. Sie
geht zurück auf die Gründung der „Städtischen höheren Mädchenschule“ im Jahr 1876, die in einem
Statut durch den Magistrat der Stadt Soest im Sommer 1876 festgelegt und somit erstmalig erwähnt
wurde. In dieser Ursatzung findet man nicht nur
Aussagen zu den Unterrichtsgegenständen, Zeugnissen, dem Prüfungsverfahren sowie zur Schuleinrichtung, der Zusammensetzung des Kollegiums
und zu dem zu zahlenden Schulgeld, sondern auch
im § 1 zum „Zweck der Schule“: „Die höhere Mädchenschule soll ihren Zöglingen dasjenige Maß allgemeiner Bildung gewähren, welches den gebildeten Lebenskreisen eigen ist.“
Ich glaube, dass unter dieser weitgefassten „Präambel“ die Bildungsziele und Bildungsinhalte aller
jeweiligen Zeitepochen subsumierbar waren und
blieben, so dass die Schule stets überlebt hat.
Über die Wurzeln und die Vergangenheit der
Schule wird an anderer Stelle dieser kleinen Festschrift treffend berichtet, über die städtische höhere
Mädchenschule, das Lyzeum, das Oberlyzeum, das
neusprachliche Mädchengymnasium mit Gymnasium für Frauenbildung bis zum koedukativen Gymnasium, das seit genau 25 Jahren den Namen des
mittelalterlichen westfälischen Malers Conrad von
Soest trägt und seit 1976 in einem modernen Schulzentrum am Paradieser Weg beheimatet ist.
Somit besteht nicht nur Anlass, das 125-jährige
Gründungsjubiläum zu feiern, sondern gleichzeitig
das 25-jährige der Namensgebung und dasjenige des
Schulgebäudes.
Die Festtage sollten darüber hinaus insbesondere Möglichkeiten bieten, in die Schulvergangenheit
zu schauen, Momente des gegenwärtigen Schullebens darzustellen und zukünftige Schulentwicklungen anzudenken. Sie sollten ferner vor allem ein Fest
der gesamten Schulgemeinde sein, zu dem sich Ehemalige treffen und dies vielleicht nach langer Zeit
bzw. erstmalig; Schülerinnen und Schüler, Eltern
und Lehrerinnen und Lehrer werden gemeinsam
feiern mit Vertretern unserer ausländischen Partnerschulen aus Frankreich, Schweden, Wales, Polen,
Holland und Ungarn und Freunden des Conradvon-Soest-Gymnasiums. – Und sicherlich wird dann
sehr häufig das „Weißt du noch damals?“ zu hören
sein, wenn in Erinnerungen geschwelgt und an gemeinsame, vergangene Unternehmungen gedacht
wird.
Vielleicht wird auch die Lektüre dieser Festschrift
dazu beitragen, den Kontakt zur „alten Penne“ zu reaktivieren und zu festigen, zumal die bewegte Geschichte unserer Schule auch gerade ein Zeichen ist
für deren Lebendigkeit über nunmehr 125 Jahre.
Dies jedenfalls ist der Wunsch all derer, die zum Gelingen der Jubiläumsfeierlichkeiten beigetragen haben und denen schon jetzt ein herzliches Dankeschön gebührt.
Soest, den 4. Juli 2001
Hans Jürgen Wiesmann
Oberstudiendirektor,
Schulleiter Conrad-von-Soest-Gymnasium
7
Einstimmung
Die Schule nach 13 Uhr
Impressionen der Foto-Arbeitsgemeinschaft
Kuhle
Stimmung
Nachsitzer?
Turnhalle Westseite
9
10
… noch 55 Schritte!
Fest-Netz
Ein Wal auf dem Trockenen
Rad-los
Beton-betont
11
Netzwerk im Lehrerzimmer
Tagschattengewächse
Auf und ab
Hängende Zirkel
12
Warmes Plätzchen für
die Pause (Schulstraße)
13
Überblick über die Geschichte einer vorwiegend weiblichen Lehranstalt
Die Schule mit den
vielen Namen
Eine wechselvolle Geschichte hat diese Schule erlebt, von der ersten Gründung
einer privaten Töchterschule 1819 an bis heute. Die Namen änderten sich, die
Träger wechselten, man zog um ... Seit 1876 – vor genau 125 Jahren – ist die
Mädchenschule eine Schule der Stadt Soest, in der NS-Zeit wurde das Hildegard-Lyzeum „übernommen“, 1976 – also vor genau 25 Jahren – wurde unter
dem neuen Namen Conrad-von-Soest-Gymnasium der Neubau am Rande der
Stadt bezogen.
Jochen Grade hat sich an die Arbeit begeben, diese verwickelte Geschichte vor
dem Hintergrund des allgemein-gesellschaftlichen Wandels nachzuzeichnen. In
einem zweiten Text beantwortet er die Frage, wieso unsere Schule denn nach
dem Dortmunder Künstler Conrad von Soest benannt wurde.
Ein Puddingabitur wurde stets abgelehnt
173 Jahre Schulgeschichte, von der privaten Mädchenschule zum
Conrad-von Soest-Gymnasium, im Überblick – Von Jochen Grade
For the times they are a-changing
Bob Dylan 1963
Der folgende Aufsatz soll keine wissenschaftliche Schulgeschichte sein. Hätte ich die schreiben wollen, hätte vieles noch erforscht, Berge
von Akten hätten durchgearbeitet werden müssen – ich hätte mir ein Sabbatjahr nehmen müssen. Ich konnte also auf Anmerkungen verzichten; so wird der Text lesbarer.
Ich habe aus der Lehrerperspektive geschrieben. Im Mittelpunkt steht die Darstellung des
Wandels der Schule, vor allem ihrer Bildungskonzepte und Organisationsstruktur. Wo es zum
besseren Verständnis der Schulgeschichte notwendig war, bin ich auch auf die Allgemeingeschichte, die Bildungsgeschichte und die Geschichte der Stadt Soest eingegangen. Auf das
Dauerhafte bin ich nicht und auf Lehrer, Schüler
und Eltern, die ja eigentlich Schule ausmachen,
bin ich nur am Rande eingegangen. Will man
über die etwas erfahren, muss man die weiteren
Beiträge in unserer Jubiläumsschrift lesen, was
man auch deshalb tun sollte, weil erst durch die
Ergänzung meines Aufsatzes durch die Einzelbeiträge ein komplexeres Bild von der Geschichte unserer Schule entstehen kann.
War eine Schulgeschichte notwendig, wo es
doch schon Beiträge dazu aus der Vergangenheit gibt? Unbedingt! Und zwar nicht nur deshalb, weil meine Arbeit die Schulgeschichte bis
in die jüngste Zeit darstellt, also etwas ergänzt,
was die zeitlich früheren Beiträge nicht enthalten
können. Sie zu schreiben war vor allem deshalb
notwendig, weil es die Aufgabe jeder neuen Generation ist, sich durch Auswahl, Gewichtung
und Formulierungen ein eigenes Bild von den
Lebensräumen der Vergangenheit zu machen.
■ Daten
Und nun ein Überblick für eilige Leser, die über das Vorwort nicht hinauskommen,
oder die, die vorab eine Orientierung brauchen:
1828
Gründung der privaten Töchterschule
1876
Übergang in die Trägerschaft der Stadt als Städtische höhere Mädchenschule
1927
Ausbau zum Oberlyzeum mit Abiturabschluss
1930
Ablegung des ersten Abiturs
1937
Ablegung des letzten „wissenschaftlichen Abiturs“ vor dem Zweiten Weltkrieg
1938
Eingliederung des privaten katholischen Hildegard-Lyzeums
1946
Wiedereröffnung als Oberschule für Mädchen neusprachlicher Form
1972
Ende des Mädchengymnasiums durch Einführung der Koedukation
1973/1974
Einführung der reformierten Oberstufe und damit Enttypisierung des Gymnasiums
1976
Umzug in das Schulzentrum am Paradieser Weg 92
1980/1981
Einführung der Blindenintegration
15
1 Die Gründungsväter
Die private Mädchenschule (1828 – 1876)
Den Anfang machten die Hausväter, ein Verein Soester Honoratioren. Nachdem 1821 – nach nur knapp
zweijährigem Bestehen – das 1819 eingerichtete
Töchterinstitut wegen des geringen Lehr- und Lernerfolgs, wohl aufgrund schlechter materieller Ausstattung, geschlossen worden war, gründeten sie
1828 eine neue private Mädchenschule.
Eigentlich war in Soest ja Abbruchzeit. In den
zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts rückte man
dem mittelalterlichen Stadtbild auf den Leib. Abgebrochen wurden, bis auf das Osthofentor, alle Stadttore, die Kirche des Dominikanerklosters an der
Brüderstraße sowie die Georgenkirche am Markt,
um nur einige der wichtigsten Gebäude zu nennen.
Auch das Renaissance-Gebäude des Archigymnasiums wurde 1821 abgebrochen. Zudem hatte Soest ja
längst seine Bedeutung und Wirtschaftskraft, die es
im Mittelalter und bis in die frühe Neuzeit besessen
hatte, verloren.
Aber das Schulwesen in Soest erlebte seit Anfang
des Jahrhunderts einen Aufschwung. 1806 war das
Lehrerseminar von Wesel nach Soest gekommen.
1824 beteiligte sich die Stadt Soest, trotz geringer Finanzkraft, durch die Übernahme der Schulpflege für
die drei Pfarrschulen, die mit neuen Gebäuden quasi in die Trägerschaft der Stadt übergingen, an der
Reform des Schulwesens. Und dann also wurde –
Ferdinand Freiligrath arbeitete und dichtete schon
drei Jahre in der Stadt – 1828 das private Mädcheninstitut gegründet, der Vorläufer des späteren städtischen Mädchengymnasiums.
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Die Hausväter dürften wohl kaum beabsichtigt
haben, durch eine höhere Allgemeinbildung, die diese neue Schule vermitteln sollte, aus ihren Töchtern
solch gebildete und emanzipierte Frauen wie die
Berliner Salonlöwin Rahel Varnhagen oder die Dichtermuse Bettina von Arnim zu machen. Wenn man
sich in westfälischen und doch preußisch gesinnten
Soester Honoratiorenkreisen in Bildungsfragen an
Berlinerinnen orientierte, dann eher an der früh verstorbenen und vergötterten Königin Luise, die,
wenngleich selbst wenig gebildet, die Intensivierung
der Mädchenbildung stark beeinflusst hat und deren
Vorstellungen von der 1811 gegründeten Luisenstiftung weiter popularisiert wurden.
Den Ausschlag für die Einrichtung einer neuen
Schule nur für Mädchen gaben wohl praktische
Gründe. Die Elementarschulen waren überfüllt und
ihr Niveau freilich war eher mäßig. Andererseits war
Geld vorhanden, um die neue Schule zu gründen
und zu unterhalten. Die Schule war zudem exklusiv,
grenzte die „höheren Töchter“ des Besitz- und Bildungsbürgertums von dem Mädchen aus dem Volke ab und versprach eine standesgemäße Erziehung.
Dazu gehörte vor allem eine Grundbildung, die es
den späteren Ehefrauen ermöglichen sollte, das Haus
bei gesellschaftlichen Anlässen angemessen und erfolgreich zu repräsentieren.
Aber nicht ein hoher Anspruch an Schule aus familiärer Bildungstradition allein oder Standesdünkel erklären das Engagement der Hausväter. Es ist
nicht zu verstehen ohne Berücksichtigung der Aufklärung, der Emanzipationsbestrebungen und Bildungsdebatten der Französischen Revolution, und
vor allem nicht ohne die Wirkung der Preußischen
Reformen, deren nicht unwichtiger Teil, die Hum-
boldtsche Bildungsreform, einen Nachklang in den
Debatten bis nach 1819 fand. Der Zeitgeist war es also auch, der Bildung – auch für Mädchen – auf die
Tagesordnung gesetzt hatte.
37 Schülerinnen wurden von zunächst einem
Lehrer in zwei Klassen unterrichtet, die eine vormittags, die andere nachmittags. Die erste Klasse wurde
von Schülerinnen im Alter von sieben bis zehn, die
zweite Klasse von Schülerinnen im Alter von elf bis
vierzehn Jahren besucht. Die Fachaufsicht wurde
vom Seminarinspektor Ehrlich ausgeübt. Auf dem
Lehrplan standen: Lesen, Schreiben, Rechnen, deutscher Aufsatz, biblische Geschichte, Gesang und für
die höhere Klasse Geographie und Zeichnen.
Die Schule kam an. Die Schülerzahl stieg, sodass
1832 an der Ecke Kolk- und Thomästraße ein neues
Schulgebäude mit zwei Klassen eingerichtet werden
konnte. Da der Andrang noch zunahm, wurde 1856
eine dritte Klasse gebildet und man stellte eine weitere Lehrerin ein, die Deutsch, eine Fremdsprache
und Handarbeit unterrichtete. 1863 bekam die
Schule einen anderen Namen. Sie nannte sich nun
„Mittelschule für Töchter“ und – nomen est omen –
der Name schon sollte deutlich machen, dass sie die
in Soest fehlende öffentliche Mittelschule für Mädchen ersetzen sollte. Und der um die Fächer deutsche
Sprache, Geschichte, Geographie, Naturkunde und
Fremdsprachen (Englisch und Französisch) er-
Die III. Klasse der Soester Töchterschule 1892
weiterte Lehrplan ließ erkennen, dass das Niveau der
Schule deutlich über dem der Elementarschulen liegen sollte.
1864 wurde die Schule durch eine königliche Kabinettsordre zur juristischen Person, wodurch die
staatliche Anerkennung erfolgt war. Dann geriet die
Schule in eine Krise. Offensichtlich genügte die Qualität des Unterrichts einer Anzahl von Eltern nicht
mehr, sodass sie ihre Töchter auf einer anderen Privatschule anmeldeten. 1870 besuchten 71 Schülerinnen die Schule. Sie wurden nun von einem Rektor, einer Lehrerin und einer sog. Industrielehrerin
für das Fach Handarbeiten unterrichtet.
Soester Töchterschule. Eine Klasse der höheren Mädchenschule (Lyzeum am Hohen Weg),
wahrscheinlich mit dem Direktor Junker um 1900.
17
2 Der lange Weg zum Abitur
und als Selbstständige, die nur durch bessere Qualifikationen auszuüben waren.
Wie gewaltig der Wandel auch in Soest war – soDie städtische Höhere Mädchenschule
dass man am Ende dieser Epoche der Stadtgeschich(1876 – 1930)
te von einem neuen, modernen Soest sprechen kann
Ostern 1876 nahm die nun städtische Höhere Mäd- – verdeutlicht eine bloße Aufzählung der vielen Verchenschule den Unterrichtsbetrieb auf, nachdem der änderungen im ökonomischen Bereich, im Bereich
Verein der Privatmädchenschule das Schulgebäude der kommunalen Infrastruktur und im Schulwesen.
und sein Vermögen der Stadt überlassen hatte. Nur ■ 1850 wurde die Eisenbahnstrecke Soest- Paderborn
so konnte die materielle Ausstattung der Schule ge- eröffnet, 1855 die Strecke Soest-Unna-Dortmund.
sichert, ihre Qualität gehoben und der Krise begeg- 1868 wurde der Bahnhof erheblich erweitert und dafür ein Teil des Brüder-Walburgerwalls abgetranet werden.
gen.1898 nahm die Ruhr-Lippe-Kleinbahn den regionalen Eisenbahnbetrieb auf. Das ermöglichte vieÜberall nur Wandel – die Entstehung
len Schülerinnen und Schülern aus den umliegendes modernen Soest
den Orten bequemer als vorher die weiterführenden
Die Stadt bekundete durch die Übernahme der Trä- Schulen der Kreisstadt Soest zu besuchen.
gerschaft ihr Interesse daran, dass auch in Soest eine ■ Schon 1864 wurde Soest an das Telegrafennetz
qualitätvolle Mädchenbildung erhalten blieb, wo- nach Dortmund angeschlossen, die Stadt also in ein
möglich sogar verbessert wurde. Sie reagierte auf den Kommunikationsnetz eingebunden, das für viele ihraschen ökonomischen und sozialen Strukturwan- rer Bewohner nun die Welt jenseits der Wälle aufdel in Deutschland, der bewirkte, dass sich die Rolle schloss.
der Frau in der Gesellschaft, im öffentlichen Leben ■ Durch neu angesiedelte oder gegründete Betriebe,
und der Berufstätigkeit, veränderte. Die Frauenar- wie dem Walzwerk Gabriel und Bergenthal 1860, der
beit nahm quantitativ zu, und vor allem nach der Maschinenfabrik Ruthemeyer 1868, der ZuckerfaJahrhundertwende entstanden neue Berufe für Frau- brik 1883, der Nietenfabrik Sternberg im selben Jahr,
en im Dienstleistungsbereich, im öffentlichen Dienst der Feldmannschen Automobil-Gesellschaft 1906,
der Glühlampenfabrik Merkur 1908
und der Akkumulatorenfabrik Hagen
1910 wurde in 50 Jahren aus einer Akkerbürgerstadt eine Kommune des Industriezeitalters.
■ Im selben Zeitraum entwickelte sich
eine neue städtische Infrastruktur:
1857 wurde das Marienhospital gegründet, 1908 zog das städtische Krankenhaus in den Neubau am Steingraben. 1863 wurde in der Lavauengasse
das Gaswerk errichtet, 1881 ging der
Schlachthof am Ulrichertor in Betrieb,
1888 wurde das neue Postgebäude am
Petrikirchhof eingeweiht, 1891 war die
Altstadt an ein Wasserleitungsnetz angeschlossen worden, 1899 waren Kanalisation und das Klärwerk fertig und
das Elektrizitätswerk wurde in Betrieb
genommen.
■ Es veränderte sich nicht nur das
Stadtbild – das tägliche Leben, ob im
Lehrerin Agnes Schlett (spätere Frau von Dr. Hubertus Schwartz)
Beruf oder in der Freizeit vieler Menmit Schülerinnen des Lyzeums am Hohen Weg um 1910.
18
19
20
Schülerinnen der höheren Mädchenschule (Lyzeum am Hohen Weg) Ostern 1917 mit Pastor Seidenstücker
und ihrer Lehrerin (2. v.r.) vor der Petri-Kirche. Die meisten Mädchen tragen Schülermützen.
schen wandelte sich. Neue Berufe, auch für Frauen,
entstanden.
■ Im Schulbereich war es ebenfalls zu weitreichenden
Veränderungen gekommen – zur Ausweitung und
Differenzierung des Schulwesens. 1855 gründete sich
ohne Beteiligung der Stadt eine evangelische Schulgemeinde; 1869 nahm die Rektoratsschule ihren
Unterricht auf, der Vorläufer der späteren Realschule. 1874 wurde sie mit der katholischen Rektoratsschule zusammengelegt. 1879 wurde ein neues Lehrerseminargebäude vor dem Grandwegertor gebaut,
seit 1928 das Gebäude des Archigymnasiums. 1891
wurde die Landwirtschaftsschule als Winterschule
gegründet, 1900 wurde das Archigymnasium staatlich. 1900 wurde die Thomäschule gebaut und 1908
wurden die Volksschulen städtisch.
Auch in Soest zeigte sich also, dass – nach Thomas Nipperdey – im Laufe des 19. Jahrhunderts die
Gesellschaft zur Schulgesellschaft geworden war, ja,
ganz allmählich verschulte die Gesellschaft.
Emanzen
Dass die berufliche und rechtliche Besserstellung der
Frau sowie Fragen der Frauenbildung und die Mädchenschulreform zu Themen der öffentlichen Debatten wurden, ging auch auf das Wirken der Frauenvereine zurück. Ende des 19. Jahrhunderts gab es
in Deutschland etwa 850 Vereine mit rund 1 Mio.
Mitglieder, die sich für die Rechte der Frauen einsetzten. Eine wichtige Rolle in der Debatte um die
Mädchenbildung spielte der 1865 gegründete bürgerliche Allgemeine Deutsche Frauenverein – und in
seinen Reihen die Pädagogin und Frauenrechtlerin
Helene Lange. Sie wurde 1902 erste Vorsitzende des
Vereins und gewann die Unterstützung der Kaiserin
Auguste Viktoria. Der Verein forderte u. a. eine Verbesserung der weiterführenden Bildung für alle
weiblichen Volksschulabgänger und die Reform der
höheren Mädchenschule, vor allem ihre qualitative
Gleichstellung mit den Jungenschulen. Auch Mädchenschulen sollten zum Abitur führen. Ebenso sollte es qualifizierten Frauen möglich sein, ohne Beschränkungen alle naturwissenschaftlichen, technischen und humanistischen Bildungsstätten zu besuchen. Es war auch Helene Lange, die 1889 „Realkurse“, Angleichungskurse für Mädchen, einrichtete, aus
denen 1893 Gymnasialkurse wurden. Sie ermöglichten es jungen Frauen, sich auf das Abitur vorzubereiten, das sie als Externe an einem Jungengymnasium ablegen mussten. Am 29. März 1896 legten
sechs Frauen in einem geschlossenen Klassenverband das erste deutsche Frauenabitur ab. Erst danach kam es – zögerlich – zur Einrichtung von Mädchengymnasien.
Frauen konnten sich in Vorbereitungskursen für
das Lehramt an höheren Schulen qualifizieren und
wurden in den 90er Jahren als Gasthörerinnen an
21
Kollegium des Lyzeums, ca. 1930
den Universitäten zugelassen. 1903 konnten sie in
Preußen ihr Staatsexamen für das Lehramt ablegen,
allerdings wurden erst 1909 Frauen uneingeschränkt
zum Studium an preußischen Universitäten zugelassen, am frühesten – in Deutschland – 1900 in
Baden.
Die Reform der Mädchenbildung wurde auch
von den Mädchenschulen selbst vorangetrieben.
1872 kam es im Weimar zu einer Versammlung der
Mädchenschulpädagogen – 54 der 164 zusammengekommenen Lehrkräfte waren Frauen. Der Verein
für das höhere Mädchenschulwesen wurde gegründet.
Auch er forderte unter Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Besonderheiten eine Gleichstellung der höheren Mädchenschulen in Organisation, Ausstattung und Lehrplan mit den Jungengymnasien.
Ein neuer Schulbau und die staatliche
Anerkennung als Höhere Mädchenschule
(1878-1898)
Die Entwicklung einer qualitativen Verbesserung der
Mädchenschulbildung seit den 70er Jahren des 19.
Jh. spiegelt sich auch in der Geschichte unserer Schule wider. Zunächst mussten die räumlichen Bedingungen verbessert werden. Das alte Schulhaus an der
Thomästraße reichte für die wachsende Schülerinnenzahl nicht mehr aus, deshalb errichtete die Stadt
Soest am Hohen Weg ein größeres und moderneres
Schulgebäude.
Dort wurde seit dem 27. September 1879 unterrichtet. Um die Qualität des Unterrichts zu erhöhen,
22
wurde eine zweite wissenschaftliche Lehrerin eingestellt. Zur innovativen Schule, wie man heute sagt,
wurde unsere Schule, als am 1. Dezember 1879 Elisabeth Altmann als technische Lehrerin eingestellt
wurde. Sie reformierte nicht nur den Handarbeitsunterricht an der Höheren Mädchenschule, sodass
er zum vollwertigen Fach wurde. Durch ihre zahlreichen Publikationen zur Didaktik und Methodik des
Faches, z. T. veröffentlicht in der von ihr herausgegebenen Zeitschrift Die Technische Lehrerin, leistete sie
Wesentliches zur Reform des Handarbeitsunterrichtes in ganz Deutschland. Das brachte ihr nicht nur
überregionale Anerkennung ein, sondern auch eine
Verehrung bis in die 60er Jahre des 20. Jh. Durch ihr
Engagement als erste Vorsitzende des von ihr am 16.
September 1895 mitgegründeten Vereins preußischer
technischer Lehrerinnen setzte sie sich nicht nur für
die Interessen ihres Faches ein. Da der Verein auch
Mitglied des 1890 von Helene Lange mitgegründeten und geleiteten Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins (ADLV) war – er war 1897 mit 10 000
Lehrerinnen aller Schulformen die größte nationale
Berufsorganisation von Frauen –, arbeitete sie ganz
allgemein für die Interessenvertretung fortschrittlicher Lehrerinnen. Auch auf ihr Betreiben wurde
1897 durch die Einrichtung von Seminaren für
Hauswirtschaftslehrerinnen die Ausbildung der
technischen Lehrerinnen erweitert. Und als eine der
ersten staatlich examinierten Turnlehrerinnen reformierte sie auch das Mädchenturnen an der Höheren Mädchenschule.
Weitere Reformen
Die Entwicklung unserer Schule wurde nun auch
zunehmend durch Erlasse des preußischen Unterrichtsministeriums beeinflusst. Sie sollten den schulspezifischen Fächerkanon und Bildungsgang sowie
die Schulstrukturen vereinheitlichen und dadurch
Qualitätsmaßstäbe für die Mädchenschulen schaffen. Diese mussten erfüllt werden, wenn eine Schule
staatlich anerkannt werden wollte.
So legte der mit dem Erlass vom 31. August 1894
veröffentliche Normallehrplan für die höheren Mädchenschulen in Preußen u. a. den Stellenplan für die
Lehrkörper, die Zahl der Unterrichtsstunden sowie
den Lehrstoff fest. Eine Angleichung an das Anforderungsniveau vergleichbarerer Jungenschulen sollte durch die stärkere Gewichtung von Mathematik
und Naturwissenschaften erreicht werden.
Nachdem eine Revision durch die Schulaufsicht,
sie lag noch beim Kreis, zu dem Ergebnis gekommen
war, dass die Schule den Kriterien des Erlasses entspräche, stellte die Stadt Soest an die königliche Regierung den Antrag, die städtische höhere Mädchenschule staatlich anzuerkennen. Die Anerkennung zögerte sich aber noch mehr als drei Jahre hinaus, weil der Stellenplan der Schule mit den Vorschriften nicht übereinstimmte. Es fehlten zwei Planstellen für Oberlehrer. Die Stadt Soest wollte sie zunächst auch wegen der überwiegend von ihr aufzubringenden zusätzlichen Gehaltskosten nicht einrichten. Dann verhinderten Versuche der Oberbehörde, die Zusammensetzung des Schulvorstandes
zu verändern, eine schnelle Lösung. Erst nachdem
die Stadt eine weitere Oberlehrerstelle eingerichtet
und eine direkte Eingabe an das Unterrichtsministerium gemacht hatte, wurde am 28. November 1898
die staatliche Anerkennung als höhere Mädchenschule ausgesprochen. Ihr Leiter führte nun den Titel Direktor.
Da unsere Schule nicht über eine eigene Unterstufe, sie entsprach der heutigen Primarstufe, verfügte, nach heutigen Maßstäben also eine reine Sekundarstufe I-Schule war, erwies es sich als notwendig, 1904 eine siebente Klasse, vergleichbar der heu-
tigen 11, einzurichten. Dies geschah, um eine Überlastung der Lehrer zu vermeiden, den Stoff besser
verteilen zu können und eine Anerkennung der
Zeugnisse durch andere Schulen und Schultypen zu
erreichen. Am 22. Juni 1906 erfolgte darauf die Anerkennung als siebenklassige höhere Mädchenschule. In dieser Organisationsform bestand die Schule
bis 1924.
Der Erlass vom 16. August 1908 führte die Reform des höheren Mädchenschulwesens fort. Beabsichtigt war eine weitere Aufwertung der Frauenbildung, sodass sie der Männerbildung gleichwertig
wurde, und eine Festlegung der Schulstruktur und
darüber eine Regelung des Zugangs von Frauen zum
Studium.
Vier Schultypen wurden festgelegt:
■ das zehnjährige Lyzeum ohne Abiturabschluss,
■ die ein- bis zweijährige Frauenschule, die nach Abschluss des Lyzeums besucht werden konnte – auch
ohne Abiturabschluss,
■ die sechsklassige Studienanstalt, die man nach der
siebten Klasse des Lyzeums besuchen konnte (sie
führte zur Hochschulreife),
■ schließlich gab es noch Lehrerinnenseminare,
Oberlyzeum genannt; auch ihr Besuch ermöglichte
die Aufnahme eines Studiums.
Schülerinnen unserer Schule konnten
damals also noch kein Abitur machen.
Da unsere Schule aus den sieben
Oberklassen einer zehnjährigen Mädchenschule bestand, entsprach sie
weitgehend den Bestimmungen des
Erlasses. Nachdem auch seinen Anforderungen an den Stellenplan durch die
Einstellung eines weiteren Lehrers mit
Universitätsexamen entsprochen worden war, erfolgte, rückwirkend für den
1. Mai 1909, am 15. Oktober 1909 die
erneute staatliche Anerkennung als
höhere Lehranstalt. Damit wurde es
den Schülerinnen unserer Schule ermöglicht, nach dem Besuch weiterführender Bildungsanstalten ein Studium aufzunehmen. Die Aufwertung
der Schule wurde auch daran sichtbar,
dass sie seit dem 1. November 1909 der
Schulaufsicht des Provinzial-Schulkollegiums in Münster unterstand.
Das Schulgebäude am Hohen Weg
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Schülerinnen 1950 mit Klassenlehrer Stender
Gruppenbild mit Damen (1949, 10. Klasse)
„Dauerlutscher
– kolossal – / sorgen gut
für die Moral! / Denn
sonst streckten wir, o
Graus, / allen unsere
Zungen ‘raus ...“
Wandertag von der
Sorpe nach Balve
(10. Klasse) 1950
Wandertag nach Büren (1949)
Wandertag vor 50 Jahren – Obersekundanerinnen gehen am 24. April in die Möhne
24
In den Wellen vor Norderney (Obertertia – 1951)
Klassenfahrt 1951
Abiturientinnen von 1934 zu Besuch
auf dem Fest zum Schuljubiläum 1951
(unter dem hohen „Paradiesvogel“)
Letzte Schulstunden vorm Abi 1953
25
Große Klasse: die Quarta 1927/28 am Hohen Weg
Erweiterung der Schule und ein
neuer Schulname (1911)
Die wachsende Zahl der Schülerinnen und die Anforderungen eines erweiterten Unterrichts führten
zu akuter Raumnot, sodass 1910 eine Klasse zeitweilig sogar in einer Kneipe unterrichtet werden musste. Daher entschloss sich die Stadt Soest zum Ausbau
der Schule. Baubeginn war am ersten Juli 1910. Man
wollte die unterrichtsfreie Zeit in den Sommerferien
ausnutzen und möglichst schnell fertig werden. Der
Umbau verzögerte sich allerdings. Die Sommerferien mussten verlängert werden und dann fiel, weil
das Schulgebäude nach Wiederbeginn des Unterrichts im September nur eingeschränkt zu nutzen
war, auch noch Unterricht aus. Manche Schülerin
wird’s gefreut haben.
Mitte Januar war man dann mit dem Umbau fertig. Das Kollegium hatte sich für die innere Ausschmückung der Schule engagiert. Durch Schulaufführungen brachte es genug Geld zusammen, um
für 300 Mk. Bilder zu kaufen. Zusätzlich stellte es
noch 600 Mk für die Anschaffung eines Harmoniums zur Verfügung.
26
Durch den Ausbau wurde die Einrichtung auf
den neuesten Stand der Schultechnik gebracht und
die Zahl der Fachräume durch einen Zeichensaal sowie einen Physik- und einen Chemieraum erhöht,
was die Unterrichtsbedingungen erheblich verbesserte. Weil das Schulgebäude nun den ministeriellen
Bestimmungen über das Raumangebot höherer
Mädchenschulen entsprach, konnte sich die Schule
nach einem Erlass vom 18. Dezember 1911 Lyzeum
nennen. Sie war jetzt also einer zehnklassigen höheren Mädchenschule gleichgestellt.
Kriegsanstrengungen an der
Heimatfront – das städtische Lyzeum im
Ersten Weltkrieg (1914 – 1918)
Der Erste Weltkrieg brachte auch nach Soest Einschränkungen, Mangel und Not, erinnert sei hier
nur an den Steckrübenwinter 1916/17. Viele Soester
Familien verloren Väter, Brüder oder Söhne durch
den Tod in den Schützengräben im Westen oder
Osten. Aber es gab keinen Bombenkrieg wie ab 1940,
als die ersten Bomben auf Soest fielen. Es kam zu
keinen Zerstörungen, das Alltagsleben verlief relativ
„normal“, und auch der Schulbetrieb unterschied
sich kaum von dem der Friedenszeit.
Lehrerschaft und Schülerinnen waren eingebunden in die große nationale Solidarität, die sich in den
großen Spenden- und Sammelaktionen zeigte. Auch
in Soest zeichneten die Erwachsenen Kriegsanleihen,
sammelten Bekleidung oder schickten sogenannte
Liebesgabenpakete an die Front. Soester Frauen aus
allen sozialen Schichten, die im Vaterländischen
Frauenverein organisiert waren, verpflegten in der
Sanitätsstation auf dem Soester Bahnhof durchfahrende Truppen oder versorgten Verwundete, auch
die aus Feindstaaten.
Schülerinnen des Lyzeums, angeleitet auch durch
die Lehrerschaft, beteiligten sich an dem nationalen
Solidaritätswerk, indem sie ebenfalls Kriegsanleihen
zeichneten, Wertstoffe wie Bucheckern für die Herstellung von Öl, Altmetalle, andere Rohmaterialien
und Heilkräuter für die Herstellung von Medizinen
sammelten oder Bücher für die Ausstattung von
Truppenbüchereien und Pakete an die Fronttruppen
schickten. Ab 1917 sammelten Schülerinnen aus der
Börde Gemüse und brachten es zur Soester Gemüsestelle – auch Kriegsgräber auf dem Osthofenfriedhof wurden geschmückt.
Endlich eine Vollanstalt - der Weg zum
Oberlyzeum (1918 – 1930)
Ende 1918 wurde die seit 1810 gültige preußische
Gesindeordnung abgeschafft. Sie hatte es Dienstherren und -herrinnen gestattet, widerspenstige
Dienstboten zu züchtigen. Es kam das Frauenwahlrecht. Am 17. Dezember 1918 luden die Soester
Frauenvereine zu einer öffentlichen Frauenversammlung in den Adlersaal ein. Frau Dr. FischerEckert aus Hagen hielt einen Vortrag mit dem Thema Die Pflichten der Frau als Bürgerin im neuen
Deutschland. Frauen aus Soest wollten ihre Pflichten
und Rechte kennen lernen, um sich politisch engagieren zu können. Am 23. Februar 1919 wurden
Frauen zum ersten Mal in die Soester Stadtverordnetenversammlung gewählt. Es kamen dann – natürlich auch nach Soest – der Bubikopf, kniekurze
Kleider und freie Rücken, der Jazz, der Charleston,
das Kino. Und Frauen rauchten in der Öffentlichkeit.
Dass sich die Situation der Frau in Deutschland
mit den Entscheidungen von 1918 nicht nur im politischen Bereich verändert hatte, dass mehr Frauen
als früher begannen, auch ohne Begleitung oder An-
leitung von Männern eine eigenständige Rolle in der
Öffentlichkeit zu spielen, war nicht nur Folge des
langfristigen Kultur-, Mentalitäts- und Wertewandels seit etwa 1800.
Der Ausbruch aus dem Ghetto des fraulichen
Aufgabenbereichs Kinder, Küche, Kirche, die Aufweichnung der Rolle des Nur-Gattin-Mutter-Hausfrau-Seins ergab sich auch aus der durch die Anforderungen des Ersten Weltkriegs mit bewirkten millionenfach gesteigerten Berufstätigkeit von Frauen –
und das nicht nur als einfache Rüstungsarbeiterin.
Waren Vater oder Mann weit weg von zu Hause an
der Front – und das manchmal für lange Zeit –,
mussten die Frauen sich und ihre Familie nun auch
nach außen in der Öffentlichkeit vertreten und trugen als Alleinerziehende große Verantwortung für
die Kinder, was auch die innerfamiliäre Autorität
steigerte. Dadurch wuchs das Selbstbewusstsein vieler Frauen. Aber auch viele Männer anerkannten,
dass noch bestehende Benachteiligungen aufzulösen
waren, und sie setzten diese Vorstellung auch politisch um.
Ein Schritt der Gleichstellung im Bildungsbereich
erfolgte durch die Richtlinien des preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 21. März 1923. Sie stellten die Mädchenund Jungenbildung gleich. Auch die geschlechtsspezifisch festgelegten Quoten für die Lehrkörper wurden aufgehoben.
Wichtig für die Geschichte unserer Schule war die
Neugliederung des Schulwesens. Alle Kinder mussten zunächst die organisatorisch selbstständige, nun
vierklassige Grundschule besuchen. Mit einem Qualifikationsvermerk konnten sie nach der vierten
Klasse höhere Schulen besuchen. Die Klassenbezeichnungen der höheren Mädchenschulen waren
identisch mit denen der Jungenschulen. Wenn sie eine Oberstufe hatten – Sexta bis Oberprima. Bedarf
zur Neuordnung unserer Schule bestand deshalb,
weil einmal die 1908 festgeschriebene zehnjährige
Schulzeit an Mädchenschulen um ein Jahr verkürzt
und damit dem neunjährigen Lehrgang am Jungengymnasium gleichgestellt wurde. Der Abschluss am
Lyzeum wurde auch dadurch abgewertet, dass am
Ende der Untersekunda (Klasse 10) kein Schlusszeugnis mehr ausgestellt wurde. Das Zeugnis erhielt
nur noch den Vermerk Reife für Obersekunda. An
unserer Schule konnten Schülerinnen also weiterhin
keine Abiturprüfung ablegen (wie auch an keiner anderen Schule in Soest). Hatten sie das vor, mussten
27
Die Untertertia von 1931/32 mit Klassenlehrerin Maria Fromme
sie auf die Oberlyzeen der Nachbarstädte, Hamm,
Werl oder Lippstadt, überwechseln. Die Unzufriedenheit von Schülerinnen und Eltern damit sowie
generelle Forderungen nach einer qualitativ besseren
Mädchenbildung veranlassten Schulleitung und Kollegium dazu, mit Unterstützung der Elternschaft den
Ausbau der Schule zur Vollanstalt voranzutreiben.
Eine schnelle Realisierung dieses Vorhabens
scheiterte zunächst am Widerstand der Stadtverordnetenversammlung, die die hohen Kosten der Einrichtung eines Oberlyzeums abschreckte. Um die
Öffentlichkeit über das Problem zu informieren und
über die Mobilisierung der Soester Bürgerschaft
Druck auf die Politiker auszuüben, veranstaltete das
Lyzeum ab Oktober 1925 eine Vortragsreihe über
Mädchenbildung, die, auch durch die Berichterstattung der Presse, ein reges Echo auslöste. So berichtete der Soester Anzeiger am 18. Juni 1926 über eine
Kundgebung des Hausfrauenbundes und des Elternbeirates des Lyzeums im Blauen Saal. Oberstudienrätin Elisabeth Lange aus Bielefeld hielt vor über
500 Zuhörern einen Vortrag zum Thema: Ausbildung unserer Töchter. In einer dichten Argumenta28
tionskette arbeitete sie die Notwendigkeit einer vertieften Mädchenbildung heraus. Eine ihrer zentralen
Forderungen, die das neue Rollenverständnis der
Frauen verdeutlicht, lautete: Die Frau braucht sie (die
Mädchenbildung) als Glied unseres Wirtschaftslebens,
als dienendes Glied im öffentlichen Leben und als Trägerin der Familie. Eine lebhafte Diskussion, in der
auch Frauen wichtige Beiträge lieferten, schloss sich
dem Vortrag an. Die Versammelten verfassten eine
Resolution, in der sie die städtischen Körperschaften
aufforderten, baldmöglichst das Lyzeum zum Oberlyzeum oder zur Frauenschule auszubauen. Nachdem die Eltern sich bereit erklärt hatten, durch ein
erhöhtes Schulgeld einen Teil der aufzubringenden
Kosten mitzutragen, beschloss die Stadtverordnetenversammlung am 27. November 1926 den Ausbau des Lyzeums, das ab Ostern 1927 Vollanstalt war.
Die Schule nannte sich nun Oberlyzeum reformgymnasialer Richtung.
Das erweiterte Bildungsangebot erhöhte die Attraktivität der Schule, die Zahl der Schülerinnen
stieg. 1930 wurden 307 Schülerinnen in 11 Klassen
von 16 hauptamtlichen Lehrkräften unterrichtet.
3 Politisierung – Chaos – Normalität
Die Schule von 1933 bis 1945
Wie stellt man sich die Geschichte einer Schule in
den Jahren von 1933 bis 1945 vor? Sicher zumeist als
einen ständigen Ausnahmezustand – ganz abgesehen von allen politisch-moralischen Aspekten. Aber,
was unsere Schule angeht, ist selbst in der zweiten
Kriegsphase, ab 1942 also, Schulalltag festzustellen
und viel Normalität. Gewöhnliche Sachzwänge wie
Schülerabwanderungen oder Raumprobleme am
Hohen Weg veranlassten Schulleitung und Kollegium nach praktischen Lösungen zu suchen. Aber
natürlich wirkte sich der Nationalsozialismus – seine Ideologie, sein Frauenbild, seine Pädagogik –
auch als Politisierung des Schullebens aus.
Puddingabitur im zwangsverkauften
Haus der Schwestern der christlichen Liebe
(1933 bis 1939)
Noch 1932 war dem Oberlyzeum wegen seiner
fachlichen und erzieherischen Leistungen auf Betreiben des Schulkollegiums in Münster ein Anstaltsseminar, also eine Ausbildungseinrichtung für
Lehrer, angegliedert worden. 1935 wurde aus dem
Oberlyzeum ein Lyzeum mit dreijähriger Frauenschule. Die Oberstufe bekam dadurch ein neues Profil. Schwerpunktfächer wurden nun die sogenannten
Fächer des Frauenschaffens, also Hauswirtschaft,
Handarbeit, Pflege, Beschäftigungslehre und Dienst,
wodurch der Bildungsgang wieder eine geschlechtsspezifische Ausrichtung bekam. Dies – mit der 1937
für die höheren Schulen um ein Jahr verkürzten
Schulzeit – führte zur Reduzierung des Unterrichts
in den sogenannten wissenschaftlichen Fächern: in
den Fremdsprachen und Naturwissenschaften. Der
naturwissenschaftliche Schwerpunkt für die Oberstufe von Mädchenschulen wurde abgeschafft. Paul
Ferchland, bis 1945 Direktor der Schule, gibt für die
erneute Reform zunächst praktische Gründe an. Die
Schülerzahlen gingen zurück. Eltern hätten die
Schule für zu schwer gehalten. Abschreckend habe
sich auch das wegen der wissenschaftlichen Ausrichtung der Schule erhöhte Oberstufenschulgeld ausgewirkt. Zudem habe die Konkurrenz der Frauenschulen in den Nachbarstädten Soester Schülerinnen
dorthin gezogen und zum Ausbleiben auswärtiger
Schülerinnen geführt. Die Reform sollte also die At-
traktivität der Schule erhöhen und den Abwärtstrend der Schülerzahlen stoppen, was nicht unwichtig war, weil die Schulen sich z. T. aus dem Schulgeld
finanzierten.
Diese Veränderung der fachlichen Schwerpunkte
scheint aber auch von Vorstellungen der NS-Pädagogik beeinflusst worden zu sein, vor allem von ihren ideologisch fundierten klaren Vorstellungen über
die Funktion der Frau als Mutter und „Wahrerin der
Rasse“.
Diese „Mutterideologie“ war allerdings kein singulär deutsches oder gar exklusives Nazi-Phänomen.
Ob in Belgien, Frankreich, Großbritannien oder Italien – überall wurden Mädchen und junge Frauen in
den Schulen, gefördert durch den Staat, in Kleinkinderversorgung und Hauswirtschaft unterrichtet, um
ihnen „das Handwerk, die Kunst und den Beruf einer guten Mutter beizubringen“. Das erklärt sich vor
allem als Reaktion auf die hohen Bevölkerungsverluste durch den Ersten Weltkrieg.
Andererseits belegt das neue, im Vergleich zu den
vorangegangenen Reformen in der Frauenbildung
und konkret den Unterrichtsinhalten restaurative
Profil die Wirkungsmacht traditioneller und in der
Bevölkerung breit akzeptierter Vorstellungen über
die Rolle und Aufgabe der Frauen, die z. B. in den öffentlichen Diskussionen der Elternschaft anlässlich
der Umgestaltung unserer Schule zum Oberlyzeum
1925/26 vorgebracht wurden.
Auf der Fahrt nach Juist: Frl. Frahne 1937
mit Sextanerinnen
29
1937 wurde die Schule zur Oberschule für Mädchen hauswirtschaftlicher Form mit einem sprachlichen
und hauswirtschaftlichen Zweig in der
Oberstufe. Im selben Jahr wurde das
letzte „wissenschaftliche“ Abitur abgelegt.
1938 waren die Schülerzahlen auf
einem Tiefpunkt, auch weil viele Eltern sich nicht mit dem Puddingabitur,
das viele Berufswege für Mädchen verschloss, anfreunden konnten. Die
Schülerzahlen stiegen in den folgenden Jahren allmählich wieder an, vor
allem auch deshalb, weil die Schülerinnen des katholischen Hildegardlyzeums auf die öffentliche, städtische
Oberschule wechseln mussten.
Eine katholische höhere Mädchenschule hatte es seit 1867 in Soest gegeben. Sie war im Zusammenhang mit
dem Kulturkampf 1873 geschlossen
und 1895 als Höhere Mädchenschule
St. Hildegard wieder eröffnet worden.
Da deren Gesamtschülerzahl recht
hoch war – von 1923 bis 1927 besuchten mehr als 200 Schülerinnen jährlich
die Schule, sie wurden von zehn
hauptamtlichen Lehrkräften unterrichtet –, entschloss sich die Kongregation der Schwestern der christlichen Liebe als Schulträger zu einem Neubau
am Paradieser Weg, der 1928 eingeweiht wurde. Der Neubau war ein
großzügiges und modernes Gebäude
mit verschiedenen Fachräumen für die
Fächer des Frauenschaffens.
Als im Zuge der Machtkonsolidierung auch im Schulwesen die Nationalsozialisten die Privatschulen schlossen, war auch das Schicksal des Hildegardlyzeums besiegelt. Zunächst wurde die Schülerzahl durch Zwangsmaßnahmen abgesenkt. Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes – eine
besonders bildungsbeflissene Gruppe
– durften ihre Töchter nun auch nicht
mehr auf diese Privatschule schicken.
Dem Hildegardlyzeum wurde verboten, neue Sextanerinnen aufzuneh30
„Prinzessin Etepetete“ wird aufgeführt (1948); v. l.: Regina
Kloppenburg, Lucia Graefenstein, Monika Reinert, Gisela Deus,
Ursula Kammertöns, Hiltraud Ludewig, Hannelore Spiegler, Ulrike
Treeck, Sonja Buttgereit, Christel Böhmer, Felicitas Oleschinski
Dr. Ferchland, bis
1945 Direktor der Schule
(ein Bild von 1948)
Im Hochsitz:
Lehrerin Mönninghoff (1949)
Ausflug nach Tecklenburg (Obersekunda 1949)
men. Das Schulgeldaufkommen ging
zurück, sodass der Schule die Existenzgrundlage entzogen war. In dieser Zwangslage mussten die Schwestern die Schule am Paradieser Weg,
Grundstück, Gebäude und Einrichtung, für 375000 Mk weit unter Wert
verkaufen. (Eine Rückgabeforderung
wurde von der Stadt Soest 1950 abgewiesen. Ein abschließender Vergleich mit der Schwesternkongregation verpflichtete die Stadt zu AusAußerunterrichtlicher Einsatz
gleichszahlungen.)
Nach einem Umbau konnte die
Oberschule für Mädchen am 24. April 1939 im GeVor allem in den späten Kriegsjahren wurden den
bäude am Paradieser Weg mit dem Unterricht be- Schülerinnen von besonders linientreuen Lehreringinnen.
nen und Lehrern der deutsche Gruß abgenötigt. In
Durch den Umzug in das moderne Schulgebäu- einem Fall protestierte eine Gruppe von Schülerinde löste sich ein weiteres gravierendes Problem der nen dagegen, indem sie in Reihe hintereinander, mit
Schule am Hohen Weg, der Raummangel. Durch die Abstand und grinsend, an der Lehrerin vorbeimarUmstrukturierung war der Bedarf an Fachräumen schierten und sie dadurch zwangen, den Arm sehr
dort für den frauenfachlichen Unterricht gestiegen. lange erhoben zu halten. Eine Geschichtslehrerin
Ein weiterer Umbau des Schulgebäudes am Hohen vermittelte im Geschichtsunterricht das nationalsoWeg war nicht möglich – ein Neubau nicht zu fi- zialistische Geschichtsbild und ließ die Klassen zu
nanzieren. Der Fachunterricht musste deshalb in an- Beginn des Unterrichts stramm stehen und Naziliederen Schulen und Einrichtungen erteilt werden. Die der singen. Eine andere, Fräulein Frahne, Tochter
Hauswirtschaft in der neuen Patroklischule (später von Pastor Frahne, ließ die Schülerinnen zu Beginn
Hans-Schemm-Schule), der Werkunterricht in der ihres Geschichtsunterrichts religiöse Lieder singen,
Taubstummenanstalt, die Kinderbetreuung und - meist Großer Gott, wir loben dich, weil das Lied sopflege als sozialer Arbeitsdienst im St. Thomä-Kin- wohl den evangelischen wie den katholischen Schüdergarten, im evangelischen Versorgungshaus und lerinnen bekannt war. In den Geographiebüchern
im städtischen Krankenhaus. Durch den Umzug in wurden die geopolitischen Vorstellungen des Natiodas neue Schulgebäude wurden die mit dem Provi- nalsozialismus dargestellt. Der Erdkundelehrer Dr.
sorium verbundenen organisatorischen Probleme Wissemann hielt zum kritischen Lesen der Bücher
gelöst und die alten Unbequemlichkeiten für Schü- an. Weil durch die Verkürzung der Schulzeit der
ler und Lehrkräfte fanden ein Ende. Es wurde leich- Fremdsprachenunterricht reduziert werden musste,
ter, besseren Unterricht zu halten.
bot Frau Dr. Wolke freiwillige nachmittägliche
Die Zahl der Schülerinnen stieg. 1940/41 waren Sprachenarbeitsgemeinschaften an. Eine weltanes bereits wieder 285. 1944/45 691. Dieser rapide An- schauliche Schulung im Lager Altastenberg wurde
stieg erklärt sich sowohl durch die Schließung der durch ein von einer Schülerin getragenes nachmitletzten Privatschulen, so der Schulen der Ursulinen tägliches Shakespeare-Programm im Wald ergänzt.
in Werl 1942, und vor allem durch die Evakuierung Als Abituraufgaben wurden im Fach Deutsch typivon Kindern und Jugendlichen aus den bombenge- sche Nazithemen gestellt. Es gab aber auch andere,
fährdeten Großstädten des Ruhrgebiets nach Soest. traditionelle.
Diese wenigen Beispiele zeigen, dass es neben Linientreue auch den stillen Protest durch WidersetzEine normale Schule in der Nazizeit
lichkeit gab. Und natürlich gab es die Normalität des
Bestimmten die NS-Ideologie und NS-Rituale nun Schulalltags, des Verhaltens der Lehrkräfte wie der
den Schulalltag und den Geist der Schule? Ja und Schülerinnen. Es gab gute, mittelmäßige und
schlechte Lehrerinnen und Lehrer sowie Schülerinnein.
31
nen. Liest man Erinnerungen von Schülerinnen aus
den Jahren 1939 bis 1945, so hat man manchmal den
Eindruck, dass einige der Lehrerinnen und Lehrer –
wegen ihrer Kauzigkeit und Originalität – direkt
dem Film Die Feuerzangenbowle entsprungen sein
könnten.
Und das Schülerinnenverhalten? Ebenfalls normal – selbst in Kriegszeiten. Auch nach einer langen
Kleinbahnfahrt von Soest auf die Haar und nach der
Erledigung häuslicher Pflichten wurde intensiv gelernt. Aber die jungen Damen hatten auch andere
Interessen, und das kommt zumeist erst im Nachhinein, in sentimentalen Erinnerungen bei Wiedersehensfeiern heraus ...
Obwohl natürlich streng verboten, wurde von
Schülerinnen im Dachgeschoss – in der früheren
Klausur der Nonnen – geraucht. Die Raucherinnen,
von Mitschülerinnen zunächst eingesperrt, hatten
Mühe, pünktlich zum Unterricht ihren Klassenraum
zu erreichen. Die Schule wurde auch geschwänzt.
Man nützte dabei den Umstand aus, dass durch
Bombenangriffe oder Tiefflieger-Beschuss Züge ausfielen oder zu spät kamen. Flog das Schwänzen auf,
wurden die Schülerinnen von der Schulleitung zur
Rechenschaft gezogen. Während der Tanzstundenzeit – in Untertertia – waren Jungen wichtiger als
Unterricht. Und auch im Krieg setzten sich einige
junge Damen mittags in die Eisdiele am Markt –
später geben sie zu, sich dort nicht „comme il faut“
benommen zu haben. Mädchen!
Erst Beeinträchtigung – dann Chaos
(1939 bis 1945)
Die andere Facette der Kriegsjahre waren die mannigfachen Beeinträchtigungen von Schulalltag und
Schulroutine, die der Zweite Weltkrieg mit zunehmender Dauer mit sich brachte – und schließlich das
Chaos 1945. Folge war ein Ende des Schulbetriebs
im März.
Beeinträchtigungen gab es infolge der zeitweiligen, phasenweisen Nutzung des Schulgebäudes
durch die Wehrmacht. Ab dem 10. September 1939
zog die Schule insgesamt siebenmal aus dem Gebäude am Paradieser Weg ein und aus. Meist ging es
ins Archigymnasium, wo der Unterricht in Wechselschicht erteilt wurde. Das brachte neben Belastungen, vor allem für die Fahrschülerinnen, auch den
Vorteil mit sich, dass man mittels der in den Bänken
eingelassenen Tintenfässer den nachfolgenden Jun32
genklassen Nachrichten zuschicken konnte. Das
wurde entdeckt – und von den Lehrern geahndet.
Wegen der immer dauerhafteren Gefährdung
durch Luftangriffe und nach den großen Zerstörungen durch den massiven Bombenangriff am 5. Dezember 1944, als etwa 1000 Häuser in Soest zerstört
und 220 Menschen getötet wurden und die Stadt
vier Tage lang brannte, konnte der Unterricht seit
Frühjahr 1945 nur noch gruppenweise und verteilt
auf verschiedene Räumlichkeiten abgehalten werden, u. a. die Jugendherberge in Völlinghausen, das
Pfarrhaus von Ostönnen, eine Scheune in Deiringsen und eine Wohnung in der Pagenstraße. Er endete dann kurz vor der Einschließung der Stadt durch
die Amerikaner am 4. April 1945. Am 31. März waren die Schülerinnen der Abschlussklassen mit einem Notabitur entlassen worden.
Beeinträchtigt wurde der Schulunterricht auch
dadurch, dass Klassen zusammengelegt werden
mussten, da sich das Kollegium durch die Einberufung von Lehrern zur Wehrmacht verkleinert hatte.
Bei Tagangriffen unterbrach die Flucht in die Keller
den schulischen Ablauf. Nach Nachtangriffen trafen
die Schülerinnen übermüdet zur ersten Stunde ein.
Schwer hatten es die Fahrschülerinnen. Wegen
der Energieknappheit waren die Züge, mit denen sie
zur Schule kommen mussten, häufig unbeleuchtet
und ungeheizt, oder sie kamen mit Verspätung, weil
Bahnanlagen oder Züge zerstört worden waren. Immer mehr wurde ihr Leben durch Tieffliegerangriffe gefährdet.
Neben der Schule hatten die älteren Schülerinnen
Ernteeinsätze auf Bauernhöfen oder Akkordarbeit in
Soester Fabriken, z. B. in der Glühlampenfabrik
Merkur, – oft über mehrere Wochen – zu leisten.
Nach der Zerstörung der Möhnetalsperre am 17.
Mai 1943 wurden die älteren Schülerinnen zu Aufräum- und Bergungsarbeiten nach Niederense geschickt, wo sie aus schlammbedeckten Häusern
Brauchbares wie Werkzeuge oder Geschirr herausholen und säubern mussten. Und dann war ja auch
immer noch für die Schule zu lernen!
Bei der Beschießung von Soest durch die US-Army ab dem 4. April ’45 wurden das Dachgeschoss,
die Aula und die Nordseite der Schule getroffen und
durch Granaten beschädigt. Nach der Einnahme von
Soest durch die Amerikaner am 6. April wurde die
Schule von 1500 freigelassenen italienischen Kriegsgefangenen geplündert, dabei wurde die Inneneinrichtung zum Teil zerstört.
Openair: ein Schulkonzert in den frühen 50er Jahren
Klassenausflug der Quinta zum Felsenmeer 1953
Turnlehrerin Rösch 1954
Schlussball 1952 (mit Tanzlehrerpaar Kipp sowie Helga Baus, Morten Douglas, Ute Meyer, Dierk Mentz,
Renate Wolf, Erhard Todzey, Klaus Wickert, Margret Enste, Jost Bollmann, Rita Korf, Paul Pichel,
Edith Müller, Achim Schmidt, Christel Böhmer, Hannelore Gudenoge, Jürgen Schmidt, Ortrud Hilse,
Inge Hoedt, Archibalt Douglas, Inge Peters, Klaus Ellringmann, Margret Tillmanns, Ulrich Kirchhoff)
33
Weibliche Übermacht:
das Lehrerkollegium 1953
(Mitte Frau Dr. Wolke)
Vorn, v. l.: Abel, Ferchland,
Wolke, Langenohl, Heisig
Mitte, v. l.: Stender, H’Loch,
Giese, Kogelheide, Meyer,
Stadtfeld, Peters, Blömker,
Schmidt, Sudholt, Fuchs,
Gräfenstein
Hinten, v. l.: Wulf, ?, Richter
geb. Prange, Hasenjäger geb.
Rheinländer, ?, Trockels, Weisheit, Breul
Untertertia 1955
Abitur 1959
Im Schulgarten: die Obertertia b 1953
Vordere Reihe (v. l.): Britta von Klot-Trautvetter (von Nolcken), Ingrid König
(Ebeling), Barbara Kückelhaus (Vogel),
Bärbel Filusch (Shore), Margot Heinemann (Coester), Helmi Heer (Lottmann)
Mittlere Reihe (v. l.): Ilse-Lore Gunkel
(Mehrdorf), Adelinde Cordes, Mathilde
Kleineheer, Mechthild Tölle (Rieke),
Hildegard Hagmann (Winter), Sigrid
Hallmann (Mayer), Heidi Schulte-Noelle
(Boensmann), Ingrid Bals, Gisela Steinhoff (Gerling)
Hintere Reihe (v. l.): Karin Möhring
(Le Gallou), Marlies Altehöfer (ArendtHeidbrink), Ilse-Iris Kobusch (Meyer zu
Westerhausen), Annegret Plange
(Frederking), Ingeborg Jesse (Schlecht),
Eleonore Sauder (Alloncius), Christa-Rose
Schäfer (Schiller)
34
4 Von der Mangelschule zum
Mädchenparadies
Die Schule in der Wiederaufbauphase
(1946 bis Ende der 60er Jahre)
Die „Stunde 0“ unserer Schule zog sich hin. Erst am
25. Februar 1946 wurde mit Genehmigung der Behörden der Besatzungsmacht wieder Unterricht an
der Oberschule für Mädchen – neusprachlicher Form
erteilt. In der Zwischenzeit hatten Schülerinnen und
einige Lehrkräfte in der Landwirtschaft oder auf
städtischen Ämtern gearbeitet. Einige der älteren
Schülerinnen hatten auch eine Lehre angefangen.
Schule in der Zusammenbruchsgesellschaft (1946-1951)
546 Schülerinnen besuchten jetzt die Schule
– eine im Vergleich mit der Vorkriegszeit ungeheure
Zunahme. Es waren z. T. die Töchter von Ausgebombten oder aus dem Ruhrgebiet Evakuierten, die
noch nicht in ihre Heimatstädte zurückkehren
konnten, und die Töchter von Flüchtlingen oder
Vertriebenen, die diesen starken Anstieg der Schülerzahlen bewirkten. Ostern 1946 waren 14,4 % der
Schülerinnen Flüchtlings- oder Vertriebenenkinder.
Genau die Hälfte der Schülerinnen kam nicht aus
Soest. Aber die Stadt war ja 1946 auch, innerhalb weniger Wochen, durch den Zuzug oder die Zuweisung
von Flüchtlingen oder Vertriebenen um mehr als
5000 Einwohner gewachsen! Das größte Kontingent
davon stellten die Schlesier.
Die „Stunde 0“ zog sich hin
Schul-Sommerfest 1947 (9. Klasse)
Der allgemeine Mangel, die Not der unmittelbaren Nachkriegszeit prägten auch das Schulleben. Es
fehlten Fach- und Unterrichtsräume – und nicht nur
wegen der vielen Schülerinnen oder der Beschädigungen durch den Artilleriebeschuss von Anfang
April ’45. Klassenräume wurden von städtischen Beamten, Lehrerinnen und später auch von einigen wenigen Schülerinnen als Wohnräume benutzt. Die Patrokligemeinde hielt in Aula und Turnhalle ihre Gottesdienste und Andachten ab – der Dom lag ja in
Trümmern.
Die Räume konnten teilweise nicht oder nur ungenügend beheizt werden, sodass in der kalten Jahreszeit auch schon mal ein Toaster ein wenig Wärme
spenden musste. Das Essen war knapp – Schulspeisungen, oft Erbsen- oder Schokoladensuppen, halfen den Hunger zu stillen. Es herrschte Mangel an
Schreibpapier und Schreibzeug. Schulbücher gab es
kaum. Die meisten Unterrichtswerke waren wegen ihres nazistischen
Inhalts verboten.
Zeichenunterricht – nennen wir
ihn Kunst – wurde nicht erteilt. Für
alle Klassen gab es nur 12 Stunden
Musikunterricht. Und auch der
übrige Fachunterricht musste verkürzt werden – auch deshalb, weil
einige Lehrerinnen und Lehrer
wegen laufender Entnazifizierungsverfahren nicht mehr – oder noch
nicht zur Verfügung standen.
Von besonderer Bedeutung war
der Neuanfang für die älteren
Schülerinnen, die gegen Ende des
Krieges mit einem Notabitur ent35
Abiturientinnen 1958
Obere Reihe v. l.:
Karin Druckrey,
Ursula Wenner,
Elisabeth Freytag,
Helga Fietz,
Anneke von Hinten,
Eleba Kuske
Mittlere Reihe v. l.:
Elisabeth Heine,
Christel Lohmann,
Gabriele Schreiber,
Erika Horstmann,
Sieglinde Fischer
Untere Reihe v. l.:
Gisela Stüer,
Magdalene Grafe,
Carola Eichenbusch,
Brigitte Drolshagen,
Ellen Raffloer
Nach dem Turnunterricht 1960/61
Spannung vor der Abiprüfung (1961)
Die Damen von der Milchbar (Unterprima – 1959)
Privatbeschäftigung kurz vor dem Abitur 1961
36
Feierlicher Abschluss (1961)
Abiturientinnen nach der Entlassfeier 1961
Abiturientia 1961
Abiturfeier (1961)
Zita Bruski
(Schulleiterin von 1961-1974)
37
lassen worden waren. Für sie begann nun ein Förderkurs, der sie in neun Monaten zum Vollabitur
führen sollte. Sie, die z. T. eine Lehre begonnen hatten oder durch die Ableistung des Arbeitsdienstes in
den Wirren der letzten beiden Kriegsjahre in weit
entfernte Gebiete Deutschlands verschlagen worden
waren, mussten jetzt im stark zerstörten Soest auf die
Schulbank zurückkehren – für manche ein nicht einfacher Rollentausch. Ende Oktober ’46 bestanden sie
mit Erfolg das erste Nachkriegsabitur.
Bis die Schule völlig wiederhergestellt war, vergingen noch weitere fünf Jahre. Ab Ostern 1951 wurden 557 Schülerinnen, verteilt auf 17 Klassen, von 25
haupt- und drei nebenamtlichen Lehrkräften unterrichtet.
Umzug beim Sommerfest 1948
Kaffeetrinken mit Eltern beim Sommerfest 1948
38
Kein Stillstand – es boomt! (Von den 50ern
bis zum Ende der 60er Jahre)
Nach dem Krieg wurde Soest größer. Die Bevölkerungszahl wuchs. Allein durch die Eingemeindung
von 18 Umlandgemeinden durch die kommunale
Gebietsreform 1969 stieg die Zahl der Einwohner
von gut 35 auf über 40 Tausend. Das Stadtbild veränderte sich. Neue Siedlungen, vor allem im Süden
und Westen der Stadt, entstanden. Die größte davon
war die im Südosten der Stadt errichtete Schlesiersiedlung mit 624 Wohnungen für 1600 Menschen –
1951 in nur wenigen Monaten gebaut. Die Stadt
dehnt sich seitdem weit in die ehemalige Feldflur
aus. Neue Betriebe siedelten sich an. Der Kleinbahnverkehr wurde eingestellt und durch
Buslinien ersetzt. Schließlich kam
1972 die Autobahn.
Auch das Mädchengymnasium
am Paradieser Weg wurde größer. Es
hatte den Babyboom der Nachkriegszeit zu „verkraften“ und versuchte dies durch Um- und Ausbau
zu erreichen. 1958 kam ein Neubau
mit sechs Klassenräumen und einem
kleinen Bibliotheksraum hinzu und
der Sportplatz hinter dem Schulgebäude wurde ausgebaut. Ende 1968
richtete man im Altbau einen Musikraum sowie zwei Handarbeitsräume
neu ein. Neue Klassenräume für die
Oberstufe entstanden im ausgebauten Dachgeschoss. Zwei weitere Klassenräume gewann man durch den
Aufbau eines hinter dem Hauptgebäude liegenden Pavillons. Seit Januar 1969 konnte die neuerrichtete große Turn- und Gymnastikhalle benutzt werden. 1967 hatte man die alte Aula und die Turnhalle abgebrochen. Seit dem 4. Dezember 1969
standen in einem neuerrichteten
Trakt Fachräume für Naturwissenschaften, Kunsterziehung, Hauswirtschaft sowie ein Fotolabor zur Verfügung. 1970 stellte sich dann heraus,
dass durch Um- oder Ausbau kein
weiterer Platz mehr zu schaffen war
– das weiter wachsende Gymnasium
benötigte ein neues Schulgebäude!
Behütet: Frl. Potthoff bei
der Abifeier 1961
Versunken: Dr. Eduard Blattgerste
Ohne Verkleidung: Kunstpädagoge Heisig
Tanz am Rosenmontag: Junglehrer Tipp (1959)
Olympiareif: Inge Knaak (1961)
39
Die Schule am Paradieser Weg 1948 (Hinteransicht)
Der Neubau eines Schulzentrums am Paradieser
Weg 92 wurde beschlossen.
Der Ausbau der Schule seit den 50ern sollte auch
die räumlichen Voraussetzungen für einen guten
Unterricht schaffen. Vor allem die Bedingungen für
die Hauswirtschaft, die sog. Nadelarbeiten, für den
Musik-, Kunst-, Sport- und Gymnastikunterricht
sollten verbessert werden. Diese Fächer waren wegen
der bestehenden Frauenschulklassen von Klasse 8 bis
11 von großer Bedeutung für die Schule. 1969 wurde der Frauenschulzweig auf die gesamte Oberstufe
ausgeweitet, die deshalb nun vierzügig wurde. Neben der allgemeinen Hochschulreife konnten die
Schülerinnen nun auch eine fachgebundene Hoch-
Landschulheimaufenthalt der Quarta
(Sommerferien 1954)
40
schulreife erwerben. Diese doppelte Qualifizierungsmöglichkeit schlug sich auch im Schulnamen
nieder. Er war der längste in der hundertfünfundzwanzigjährigen Geschichte der Schule und lautete
Städtisches neusprachliches Mädchen-Gymnasium
und Gymnasium für Frauenbildung zur Erlangung einer fachgebundenen Hochschulreife. Beklagt sich da
etwa noch jemand über den Namen Conrad-vonSoest-Gymnasium? Viele Haupt- und Realschülerinnen nutzten durch Überwechseln auf das MädchenGymnasium die Chancen der doppelten Qualifizierungsmöglichkeit.
Und daneben natürlich immer Schulalltag,
Unterricht, Wandertage und Reisen. Seit dem Mauerbau fuhren Abschlussklassen vermehrt durch die
Zone nach West-Berlin. Man besuchte auch Ost-Berlin und die Ost-Berliner und nahm auch Kontakt zu
Vertretern des Zonenregimes auf. Es gab Sportfeste
und Schulfeste – ein großes, 1959, wurde von einer
Lokalzeitung im Mädchenparadies angesiedelt.
Die Schülerinnen wurden nicht nur unterrichtet,
sondern auch intensiv erzogen. Zum Beispiel
wünschten Eltern Anfang der 60er Jahre, dass die
Schule die Schülerinnen in Kleidung und Frisur zur
Einfachheit anhalten sollte. Gab es damals schon
„Markenklamotten“? Für die Schülerbücherei sollten gute Bücher angeschafft werden, Schmutz und
Schund war zu bekämpfen. Unterprimanerinnen,
die, 1968 auf den Soester Wällen spazierend, zunächst mutterseelenallein an einem Eishörnchen
schleckten, wurden von ihrer zufällig dort vorbeikommenden Direktorin auf ihr undamenhaftes Verhalten hingewiesen. Wenn junge Damen Eis essen
wollten, hätten sie ins Café zu gehen und Eis zu löffeln. Sie hätten der Öffentlichkeit nicht ihre Zungen
zu zeigen.
Und wie immer und in allen Schulen wurde auch
im „Mädchenparadies“ gelernt und gelitten. Schülerinnen litten an ihren Lehrerinnen und Lehrern.
(Der Philosoph Adorno hat mal zugespitzt formuliert, in jedem Lehrer – und jeder Lehrerin – erscheine auch immer ein wenig die Gestalt des Henkers.)
Und natürlich litten die Lehrerinnen und Lehrer
auch an ihren Schülerinnen – die einen mehr, die anderen weniger. Und Lehrerinnen und Lehrer litten
auch aneinander …
Lehrerin Potthoff (1959/60)
Lehrer Wagener (1961)
Lehrer Wulf (1961)
Lehrer und frühere Schülerinnen bei einem Wiedersehenstreffen Ende der 60er Jahre (Frau Dr. Wolke r.)
41
5 Wind of Change
Vom Ende des Mädchengymnasiums
zu den Anfangsjahren des
Conrad-von-Soest-Gymnasiums
Die Enttypisierung der Gymnasien und Oberschulen sowie die Einführung der reformierten gymnasialen Oberstufe 1972 haben auch unsere Schule „revolutioniert“. Diese Reform des Schulwesens war wie
jede seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts Spiegel aber auch gestaltende Kraft eines nationalen
Wandlungsprozesses; diesmal war sie Teil eines internationalen, westlichen Modernisierungsschubs zur
Entfaltung der postindustriellen Dienstleistungsund Konsumgesellschaft.
Die Bildungsreform seit den späten
60er Jahren ganz allgemein – und an
unserer Schule
Die durch eine Reihe von inneren Reformen von der
Großen Koalition seit 1966 und vor allem von der
sozialliberalen Koalition seit 1969 vorangetriebene
Liberalisierung und Demokratisierung der Bundesrepublik, manche sagen auch Verwestlichung, ging
auf eine Anzahl politischer, ökonomischer, sozialer,
kultureller und mentaler Entwicklungen seit den
späten 50ern zurück.
Mit dem Ende der Wiederaufbauphase und der
aus heutiger Sicht leichten Rezession 1965/66, mit
100 000 Arbeitslosen, wurde der Glaube an die Permanenz des Wirtschaftswunders und an die unbegrenzte Leistungsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft erschüttert.
Der Beginn der Entspannungspolitik nahm den
Druck und löste manche Konformitätszwänge auf,
denen die bundesrepublikanische Gesellschaft
durch den Ost-West-Konflikt und mit der Zonengrenze oder der Staatsgrenze West – mal eben kurz
hinter Kassel – unterworfen war.
Die zunächst aus England und den USA importierte Pop-Kultur entwickelte sich zu einer MassenJugendkultur, die sich in Mode, Rock- und Haarlänge, in Musik, Lebensstil und Lebensgefühl gegen die
Welt der Erwachsenen richtete. Aus ihr entwickelte
sich dann die Protest- und Alternativkultur.
Ansichten, Geschmack und Mentalitäten wurden
geprägt durch die Medien, die jetzt wirklich zu Massenmedien wurden. Radiosender wie AFN, BFN und
42
Radio Luxemburg, als Adept, beeinflussten die Musiktrends, Fernsehmagazine wie Panorama das politische Bewusstsein. Linksliberale Publikationen wie
Der Spiegel, Die Zeit, der Stern, später auch Pardon
oder Konkret stellten einen einflussreichen und wesentlichen Teil einer überregionalen kritischen Öffentlichkeit dar, die dann in den Kampagnen gegen
die Notstandsgesetze der Außerparlamentarischen
Opposition (APO) und dem Studentenprotest zu politischen Bewegungen wurde. Und Bravo war nicht
nur für den Starschnitt da, sondern auch Aufklärungspostille.
Das Auto machte die Gesellschaft mobil. Dazu
kam eine technizistisch geprägte Reformeuphorie,
die an die rationale Planbarkeit von Wirtschaft und
sozialen Prozessen glaubte. Die konzertierte Aktion
der Minister Strauß und Schiller war ein Versuch,
mit interventionsstaatlichen Mitteln die Wirtschaft
zu steuern. Atomkraftwerke, vor allem der Schnelle
Brüter, sollten das Energieproblem endgültig beseitigen. Die Mobilität, die Autogesellschaft wurden
durch Forcieren des Autobahnbaus gefördert.
Die Innenstädte wurden modernisiert. Funktionale Betonbauten galten als schön. Der Soester
Innenstadt wurde der Kaufhof-Komplex (später Kerber und heute Saturn) und der Sparkassenbau beschert.
Manche Historiker nennen das alles, sicher etwas
hochtrabend, „die zweite Gründung der Bundesrepublik“.
Die Bildungsreform: Hauptsächlich zwei Positionen
bestimmten seit Mitte der 60er Jahre die bildungsreformerische Diskussion, die auch die Einführung der
reformierten Oberstufe vorbereitete und mitgestaltete.
Die Schule als Institution sollte – wie die Gesellschaft – demokratischer werden. Das Schulwesen
sollte so umgestaltet werden, dass allen gesellschaftlichen Schichten, vor allem den bis dahin bildungsfernen, der Erwerb höherer Bildungsabschlüsse ermöglicht oder erleichtert wurde. So sollte aus der
nur formalen Chancengleichheit, wie sie sich aus
dem Grundrecht auf Bildung ergibt, durch eine aktive Bildungspolitik eine faktische Chancengleichheit werden. Auch sollten Schüler und Eltern in der
Schule mehr Gestaltungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten bekommen.
Eine andere Position entwickelte sich aus dem sogenannten Sputnikschock des Jahres 1957. Befürch-
Sportliche Darbietungen, einstudiert von
Inge Knaack beim Schulfest 1972
tungen, durch die Rückständigkeit des Bildungswesens, besonders im Bereich der höheren Schulen,
messbar an den im internationalen Vergleich geringen Abiturientenzahlen, könne die Wirtschaft der
Bundesrepublik sowohl im Systemkonflikt mit der
Sowjetunion, deren Bildungssystem man damals
sehr hoch einschätzte, wie auch in Konkurrenz mit
der westlichen Führungsmacht USA ins Hintertreffen geraten, waren das Hauptargument dafür, Bildungsreform vor allem als Steigerung des Outputs
an Abiturientenzahlen zu verstehen und alle noch
brachliegenden Begabtenreserven, worunter man
vor allem das „katholische Mädchen“ vom Lande
verstand, auszuschöpfen. Großen Einfluss auf die
Debatte hatte Georg Pichts Artikelserie in der Zeitschrift Christ und Welt, die im Februar 1964 veröffentlicht wurde. Beispielhaft für den Zeitgeist
schwankt Pichts Analyse zwischen Menetekel und
euphorischer Überschätzung der Gestaltungskraft
von Politik. Wegen ihrer Wichtigkeit sollen einige
Sätze Pichts – ausnahmsweise – zitiert werden.
Jedes Volk hat das Bildungswesen, das es verdient.
Noch ist es möglich, zu verhindern, dass die Bildungskatastrophe in ihrer vollen Gewalt über uns hereinbricht. Deutschland kann als Kulturstaat noch erhalten bleiben. Dazu bedarf es aber einer entscheidenden
Wendung. Das Volk muss bereit sein, die Versäumnisse
der letzten Jahrzehnte durch finanzielle Opfer zu bezahlen. Die Regierungen und Parlamente aber müssen
jetzt handeln. Tun sie es nicht, so steht schon heute fest,
wer für den dritten großen Zusammenbruch der deutschen Geschichte in diesem Jahrhundert verantwortlich ist. (Georg Picht: Die Deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation. Olten u.a.
1964, S. 87)
Druck machten auch die Universitäten, die eine
bessere Ausbildung für die vielen Studienrichtungen
forderten, die im traditionellen Fächerkanon der
Schulen nicht vorhanden waren. Für eine Neubestimmung des Fächerangebots in der Oberstufe
schien auch zu sprechen, dass es der Schule angesichts der Differenzierung von Wissenschaften und
Gesellschaft nicht mehr möglich erschien, so etwas
wie Allgemeinbildung zu vermitteln.
Die praktische Seite der Reform bestand darin,
dass seit Anfang der 70er Jahre die finanziellen Aufwendungen für den Bildungsbereich stark anstiegen.
Es wurden neue Schulen gebaut, viele neue Lehrerinnen und Lehrer eingestellt und die Einrichtung
der Schulen verbessert, z.B. durch Sprachlabors – die
dann allerdings wenig benutzt wurden. In manchen
Ländern, so in NRW, wurden neue Schulformen, etwa die Gesamtschule, die man als den geeigneten
Schultyp für die komplette Umsetzung sowohl der
fachlichen wie der sozialen und politischen Ziele der
Reform ansah, massiv gefördert.
Angestoßen durch den Strukturplan des Deutschen Bildungsrates 1970 wurde dann durch die Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz von 1972
die Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe beschlossen. Die Fächerwahl nach Aufgabenfeldern
wurde eingeführt. Daraus ergab sich das Kurssystem.
Der Unterricht wurde in Halbjahreskursen organisiert. Die Spezialisierung sollte den Wissensstand der
Schüler erhöhen und die Qualität des Unterrichts
sollte durch Didaktisierung und innovative Lehrmethoden sowie den Einsatz moderner Medien verbessert werden. Die Zahl der Abiturienten wollte
man auch dadurch steigern, dass das Überwechseln
von Haupt- oder Realschule auf die gymnasiale
Oberstufe nach Erwerb entsprechender Qualifikationen erleichtert wurde. Die Wahlmöglichkeiten
stellten zudem ein kleines Stück Selbstbestimmung
der Schüler her. Weitere Mitwirkungsmöglichkeiten
für Schüler und Eltern in der Schule wurden durch
nachfolgende Gesetze eingeführt.
43
99 Luftballons: Schulfest 1972
Die Einführung der gymnasialen Oberstufe am Gymnasium am Paradieser Weg: Die Diskussion über die
reformierte Oberstufe begann im Mädchengymnasium im Jahre 1971. Schülerinnen und Lehrkräften
waren Exemplare einer Informationsschrift des Kultusministeriums über die Reform ausgehändigt worden und auf der Konferenz vom 27. September 1971
referierte der junge Kollege Hans-Martin Römling
mit Hilfe einer Strukturskizze über die praktisch-organisatorische Seite der Reform. Berichtet wurde
auch über die Vorstellungen eines Reformausschusses von Lehrerinnen und Lehrern aller drei Soester
Gymnasien, der ein eigenes Strukturmodell für die
Oberstufenreform entwickelt hatte, was aber aus
rechtlichen Gründen nicht berücksichtigt werden
konnte.
Einen Monat später kam es dann zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Reform – mit ihren Grundprinzipien und Intentionen. Man kritisierte ungeklärte Begriffsinhalte in der Darstellung
der Reform. Fragen nach der Abstützung des Pflichtbereichs wurden gestellt. Dahinter verbargen sich
Sorgen über die Atomisierung des Bildungswesens,
44
wenn nicht Grundwissensstoff gelehrt und gelernt
würde. Sorgen klangen an, dass es zu einer Stufenschule und damit zu einer Zerstörung des organischen Zusammenhangs von gymnasialer Unter-,
Mittel- und Oberstufe kommen könne sowie zu einer Spaltung des Kollegiums durch die Herausbildung von Stufenlehrern. Kritisiert wurde der Ansatz
von Herwig Blankertz, der Pädagogik als kritische
Theorie in emanzipatorischer Absicht verstand. Und
dann wurde auch danach gefragt, ob die Oberstufenreform statt schulischen nicht dominant politische Ziele verfolge. Dennoch stimmte das Kollegium
bei nur einer Gegenstimme für die Oberstufenreform. Allerdings nur unter der Bedingung, dass die
Oberstufe nicht von den übrigen Stufen abgetrennt
würde. Dagegen waren 25 Kolleginnen und Kollegen, neun enthielten sich.
Am 24. Mai 1972 wurde eine frühe Reform der
Oberstufe abgelehnt. Mit Mehrheit beschloss man
aber die Einführung der Differenzierung ab der
Obertertia (Klasse 9). Da 1974 ein Wechsel in der
Schulleitung bevorstand und OStD’ Zita Bruski die
Reform noch unter ihrem Direktorat durchgeführt
wissen wollte, wählte man für die Einführung der reformierten Oberstufe am Gymnasium am Paradieser
Weg, so hieß unsere Schule seit 1972, dann doch den
frühestmöglichen Zeitpunkt, den Beginn des Schuljahres 1973/74. Auf der Konferenz vom 6. Februar
1973 wurde die Einführung der reformierten Oberstufe für die Klasse 11 zum Schuljahr 73/74 beschlossen. Das verursachte einen hohen Zeitdruck
und zwang zu Improvisationen.
Zwar waren gegen Ende des Schuljahres 72/73 an
die Untersekundanerinnen Wahlzettel ausgegeben
worden, die Schülerinnen hatten sie auch ausgefüllt,
aber es gab noch keine klare Organisationsstruktur
zur schulischen Umsetzung der Reform – man
musste erst Erfahrungen machen. Die Probleme
wurden bei der Erstellung des Stundenplanes in den
Sommerferien deutlich. Die Klassenlehrer hatten die
Wahlbögen nur teilweise ausgewertet. Das musste
zuerst nachgeholt werden. Die Zuordnung zu den
Pflichtkursen war weniger schwierig als die Einrichtung der Wahlkurse. Das ergab sich daraus, dass die
Schülerinnen manchmal recht einseitig gewählt hatten, sodass gar nicht genügend Fachräume und
Lehrkräfte zur Verfügung gestanden hätten, wäre
man ihren Wünschen gefolgt. Also mussten neue
Zuordnungen vorgenommen werden, die von den
Schülerwünschen abwichen.
Am ersten Schultag nach den Sommerferien wurden die Schülerinnen der Jahrgangsstufe 11 zusammengeholt und ihnen wurde, oft zu ihrem Ärgernis, mitgeteilt, in welche Kurse sie zu gehen hätten. So weit es möglich war, wurden ihnen zu Beginn
des Schuljahres weitere Umwahlen gestattet. Innerhalb weniger Wochen bildete sich dann eine Organisationsstruktur und ein Verfahren zur Abwicklung
der zukünftigen Kurswahlen heraus. Am 1. Oktober
1973 wurde dann ein Oberstufenteam gebildet. Hildegard Schmidt wurde Oberstufenkoordinatorin,
Ralf Luley, Helmut Raupach und Hans-Martin
Römling wurden Beratungslehrer für jeweils eine
Jahrgangsstufe der Sekundarstufe II, wie man jetzt
die Oberstufe nannte. Vor Weihnachten 1973 wurden die Kurswahlen für die Leistungskurse vorgenommen, danach die für die Grundkurse. Und so
verfährt man im Wesentlichen noch heute. Durch
diesen Lernprozess kam man allmählich aus dem
„Chaos“ in das ruhigere Fahrwasser der Routine.
Immer neue Runderlasse zur „Reform der Reform“ beschäftigten das Kollegium in den folgenden
Jahren. Die Tendenz ging dahin, die Wahlfreiheit
durch Pflichtbindungen einzuschränken und das
Abitur wieder „schwerer“ zu machen. Skeptisch
gegenüber der Reform war vor allem die Fachschaft
Französisch eingestellt, die durch die Bestimmungen
zur Sprachenwahl, ursprünglich wollte man sich in
NRW mit dem Belegen einer Fremdsprache bis zum
Abitur zufrieden geben, einen Bedeutungsverlust ihre Faches durch mangelndes Interesse für das Französische befürchtete. Und so ist es dann ja auch gekommen.
Und die Schülerinnen? Sie standen der Reformierung der Oberstufe zunächst skeptisch gegenüber. Im April ‘72 war an die Schülerinnen der
Untersekunda (Klasse 10) ein Fragebogen ausgegeben worden, um zu ermitteln, welche Meinung sie
zu einer frühen Einführung der reformierten Oberstufe vertraten. 38 Schülerinnen sprachen sich dafür,
37 dagegen aus. Auf der Gesamtkonferenz vom 24.
Mai ’72 sprach sich die Schülersprecherin gegen eine Reform der Oberstufe aus. Nachdem die Entscheidung aber einmal gefallen war, hegten die Schülerinnen große Erwartungen an die reformierte
Oberstufe, die ihnen wie eine Art Collegesystem vorkam. Vor allem die Wahlmöglichkeit wurde als Fortschritt und große Chance angesehen, was sich daran
zeigte, dass eine größere Anzahl von ihnen die Wahl
von Zusatzkursen voll ausschöpfte.
Teilweise wurden drei Naturwissenschaften gewählt oder Kunst und Musik. Die Enttäuschung war
daher groß, als wegen Lehrer- und Raummangels
viele Wünsche nicht berücksichtigt werden konnten.
Rudolf Ludwig auf Wangerooge (Westturm)
45
Für 29 Klassen standen damals jeweils eine Lehrkraft
für Biologie und Chemie zur Verfügung. Außerdem
gab es nur einen Biologie- und einen Chemieraum,
der gleichzeitig auch Physikraum war. Die Schüler
hatten vor den ersten Kurswahlen auch in Erfahrung
gebracht, welche Lehrerinnen und Lehrer die Kurse
übernehmen sollten, und hatten eine „Personalwahl“
getroffen, ein weiterer Grund, warum Umverteilungen vorgenommen werden mussten.
Einen weiteren Schritt der Demokratisierung bewirkte das Mitwirkungsgesetz des Landes NRW vom
13. Dezember 1977. Es ermöglichte u. a. Eltern und
Schülern als Mitglieder von Fachkonferenzen über
Unterrichtsinhalte oder die Einführung von neuen
Schulbüchern mit zu beraten und über fachliche Angelegenheiten, wenn auch mit einigen Einschränkungen, abzustimmen. Seit dem Schuljahr 78/79
wurde auf den Fachkonferenzen unserer Schule nach
diesem Modus verfahren.
Schon bald tagte die erste Schulkonferenz, das
Schulparlament mit Eltern- und Schülervertretern
und Vertretern der Lehrer. In zwei wichtigen Angelegenheiten, bei der Einführung der Fünftagewoche
und bei der Einführung des Betriebspraktikums, hat
sie übrigens ein Mehrheitsvotum der Lehrerkonferenz ignoriert und anders entschieden. Bereits im
„alten“ Mädchengymnasium nahmen zeitweilig bis
zu fünf Schülervertreterinnen, die Schulsprecherin,
ihre Stellvertreterin und drei weitere Schülerinnen
mit Rede- und Antragsrecht, hauptsächlich in SVAngelegenheiten, regelmäßig an den Lehrerkonferenzen teil, um ihre Vorstellungen darzulegen. Das
ging so weit, dass sie den Antrag auch auf regelmäßige Teilnahme an den Zeugniskonferenzen und eine offizielle Anfrage zur Objektivität von Zeugnisnoten stellten. Um keine unangenehmen Überraschungen erleben zu müssen, beschloss die Lehrerkonferenz, dass die Anträge der Schülerinnen vier
Tage vor der Konferenz im Lehrerzimmer auszuhängen waren. Am 14. Oktober 1970 sprachen sich
37 von 40 Lehrkräften unserer Schule für ein Schülerstimmrecht auf Lehrerkonferenzen aus, wie es die
Kultusministerkonferenz empfohlen hatte. Und
mehrere Jahre waren Schülersprechtage am Mädchengymnasium eine Selbstverständlichkeit.
68 kam über die Raucherecke: Der künftige Wandel
im Großen kündigte sich im Schulalltag durch kleinere Veränderungen an – oder wurde durch solche
nachgeholt. Der Wandel von Normen und Werten
stellte sich als Liberalisierungsprozess dar. Ging es
Ende der 60er Jahre in den größeren Universitätsstädten um die Hochschulreform, den VietnamKrieg und die Notstandsgesetze, kam ’68 über die
Lehrerkollegium 1976 (Teilaufnahme mit Schulleiter Busmann)
46
Raucherecke im Soester Mädchengymnasium an.
Mitte der 60er Jahre fuhr man weiter nach Berlin,
aber auch nach England, Paris oder Holland – mit
dem Schiff –, zur Völkerverständigung, wie es damals hieß. Nennen wir es heute einen Lehrgang in
Europaerfahrung.
Hatte die Fachkonferenz Geschichte an unserer
Schule noch am 11. Mai 1964 die Probleme einer
gründlichen Quellenarbeit erörtert, wehte 1974
dann ein anderer Geist: Am 10. November diskutierte die Fachkonferenz Deutsch einen Aufsatz über
Literatursoziologie, in dem die gesellschaftlich-politische Aufgabe des Literaturunterrichtes eingefordert
wurde. Die Novelle Katz und Maus von Günter
Grass, durchaus nicht frei von „pikantem Schweinkram“, sollte in der Unterprima gelesen werden. Und
den Mitgliedern der Fachkonferenz wurde ein Abituraufsatz anonym zur Begutachtung vorgelegt. So
etwas Ähnliches wie Parallelarbeiten gab es damals
also auch schon.
Am 30.Mai ’68 diskutierte die Lehrerkonferenz
das Problem einer Klassenparty, die für Obertertianerinnen, also Schülerinnen der Klassen 9, in einem
Klassenraum des Pavillons abgehalten worden war,
um die Schülerinnen von den Barbetrieben (=Diskos) fern zu halten. Als großes Problem stellte sich
nach einem Bericht der Klassenlehrerin, Frau Blöm-
ker, die fehlende bzw. mangelnde Kontrolle über die
eingeladenen Herren dar. Am 7. März 69 kam es auf
Antrag der SV zu einer lebhaften Diskussion über
den Wunsch der Schülerinnen, ihnen eine Raucherecke einzurichten und dort das Rauchen zu erlauben. Das wurde wenig später realisiert. Auf derselben Konferenz wurde auch der Erlass erläutert,
der vorschrieb, sensible Personalangaben – heute
Schülerdaten – nicht in das Klassenbuch, sondern in
ein Beiheft einzutragen. Heftige Diskussionen gab es
in der Lehrerkonferenz vom 11. September 1969
über die in den Klassenzimmern der UII (Klasse 10)
bis OI (Jahrgangsstufe 13) für den Gebrauch im
Unterricht aufgestellten, von den Schülerinnen aber
zweckentfremdeten Plattenspielern. Die Schülerinnen blieben in den Pausen lieber in den Klassenzimmern, um Musik zu hören, und zwar in voller Lautstärke, aber nicht das Forellenquintett, es heißt, es sei
vor allem das „Stöhn-Chanson“ Je t´aime – moi non
plus von Serge Gainsbourg und Jane Birkin gewesen.
Probleme durch laute Musik gab es auch bei verzögertem Unterrichtsbeginn oder in Freistunden – der
Unterricht in den Nachbarklassen wurde erheblich
gestört. Das Kollegium beschloss daraufhin, dass
Plattenspieler nur noch im Beisein der Fachlehrer
benutzt werden durften, in den Oberstufenklassen
auch in Freistunden – aber nur in Zimmerlautstär-
Lehrerkollegium 1976 (Teilaufnahme)
47
ke. Das Mitbringen eigener Geräte, auch von Radios
oder Tonbandgeräten, wurde untersagt. And the beat
goes on: In derselben Konferenz wurde das Kollegium auf das Datum der Aufführung des Musicals
Hair in Düsseldorf hingewiesen (22. September
1969). Allerdings brauchte über lange Haare an einem Mädchengymnasium nicht gestritten werden.
Dass in der Schülerzeitung Sexualaufklärung nicht
am Beispiel des Weizenfeldes, über das der Wind
geht, betrieben wurde, war ein Skandal, aber erst mal
konnte sie gelesen werden.
Die Schülerinnen demonstrierten auch für eine
bessere Schule. Am 28. Januar 1971 kam es auf dem
Soester Marktplatz zu einer Protestversammlung der
Schüler und Schülerinnen des Bezirks gegen die Bildungsmisere. Daran nahmen auch Schülerinnen un-
sere Schule teil. Eine Lehrerkonferenz am 26. Januar
1970 hatte beschlossen, dass die Schulleiterin ihnen
dafür unterrichtsfrei geben sollte, was auch geschah.
Nach der Kundgebung wurde mit Passanten diskutiert, am Abend gab es eine Diskussion mit Vertretern von Parteien und Verbänden. Das Kollegium
schloss sich auch mit Mehrheit einem Protestschreiben u. a. gegen die Bildungsmisere an, das vom Kollegium des Archigymnasiums verfasst worden war.
Es wurde der Presse übergeben. Dass dann, vor allem
in manchen Abschlussreden von Abiturientinnen
und Abiturienten, auch Kritik am Schulsystem und
an der Schule sowie Lehrer/innen-Schelte geübt
wurde, hatte nicht nur individuelle, konkrete und
objektiv berechtigte Gründe, sondern war auch dem
Zeitgeist geschuldet. Damals war nichts unpolitisch,
auch nicht die Liebe – nicht Affirmation, sondern
konstruktive Kritik war angesagt.
Das Ende des Mädchengymnasiums
(1972-1976)
Schulleiter Helmut Busmann auf Wangerooge (1976)
48
Hinter dem neuen Namen Gymnasium am Paradieser Weg verbarg sich auch, dass 1972 die Koedukation eingeführt worden war. Es gab also kein Mädchengymnasium mehr. Das lag damals in der Luft.
Spätestens seit der Wende zum 20. Jh. waren durch
den sozialen Wandel und auch durch die Lebensreform und die Jugendbewegung die Vorstellung von
einer Schule als Schonraum für Mädchen – notwendig wegen der anthropologisch bedingten unterschiedlichen Begabung von Mädchen und deren
Phasenverschiebung in der körperlich-geistig-seelischen Entwicklung – in die Kritik geraten und durch
die Macht der historisch-gesellschaftlichen Entwicklungen immer fragwürdiger geworden. Immer stärker wurde die Sinnhaftigkeit der starren Geschlechtertrennung im höheren Schulwesen in Frage gestellt.
Dass aus dem Mädchengymnasium ein „normales Gymnasium“ wurde, hatte auch banalere Gründe. Da die Soester Jungengymnasien in der Einführung der Koedukation vorgeprescht waren, musste
man nachziehen, wollte man die Schülerzahlen halten. Den eigentlichen Anstoß dazu, auch Jungen aufzunehmen, gab ein Elternpaar mit einem Sohn, der
an Diabetes litt. Sie wohnten in der Nähe der Schule. Ihr Sohn sollte auf ein Gymnasium gehen. Um
ihm bei krankheitsbedingten Vorfällen besser helfen
zu können, stellten sie den Antrag auf Aufnahme in
Lehrerkollegium 1978
das „Noch-Mädchengymnasium“. Dem wurde stattgegeben. Seit dem Schuljahr 1971/72 besuchte
Christoph Keß als erster männlicher Schüler das
Gymnasium.
Wenig später, im nächsten Schuljahr, wechselten
dann ältere Schüler, die an den Jungengymnasien so
ihre Probleme hatten, auf unsere Schule über. Es waren allerdings zunächst noch „Exoten“.
Im Schuljahr 72/73 besuchten 757 Schülerinnen
und neun Schüler unsere Schule, im Schuljahr 74/75
waren es 848 Schülerinnen und 57 Schüler. Nun waren die Zeiten vorbei, als Jungen das Schulgelände,
etwa wenn sie Partys im Schulpavillon besuchen
wollten, nur durch den Haupteingang betreten durften. Jetzt kamen sie über den Sportplatz oder von der
Seite.
Ein neuer Name und ein neues Schulhaus
Da die Erweiterungsmöglichkeiten des alten Schulgebäudes ausgeschöpft waren und die Schülerzahlen
weiter anstiegen, war 1970 ein Schulzentrum als
Neubau auch für unsere Schule beschlossen worden.
Am 7. Juni ’71 wurde deshalb ein landesweiter
Architektenwettbewerb gestartet. Den Auftrag bekam das Soester Architektenbüro Groth. Am 18. Februar ’74 wurde der Bau begonnen. Im Herbst 1976
war er fertiggestellt, sodass die Schule am 24. und 25.
Oktober zum Paradieser Weg 92 umziehen konnte.
Am 9. Dezember wurde das Bauwerk durch einen
Festakt feierlich übergeben. Der Festredner, der Erziehungswissenschaftler Professor Geissler aus Bonn,
sprach über Bildung in unserer Zeit. Ehrengast der
Veranstaltung war der Soester Maler Hans Kaiser,
1976 Träger des Conrad-von-Soest-Preises des Landschaftsverbandes. Der Öffentlichkeit stellte sich die
Schule am 11. Dezember ’76 mit einem gut besuchten Tag der „Offenen Tür“ vor.
Im Frühjahr 1977 begann der Bau der Außensportanlage. Mit einem Sportfest am 12. September
1979 wurde der Unterricht dort aufgenommen.
Den neuen Namen, den man dem Gymnasium
schon am 20. April 1976 gegeben hatte und der in
den Neubau mit umgezogen war, hatte man mit Bedacht ausgewählt. Der der Schule 1972 gegebene Name Gymnasium am Paradieser Weg wurde allgemein
als wenig aussagestark und provisorisch empfunden,
da er einfach nur vom Namen der Straße, an der die
Schule lag, abgeleitet war. Auch um den Anspruch
der Gleichwertigkeit mit den anderen Soester Gymnasien zu dokumentieren, bot sich der Name des
spätmittelalterlichen Malers an. Die Namengebung
würde man heute auch als die Chiffre eines Schulprogramms bezeichnen. Conrad von Soest hat als
Maler der Übergangszeit vom Mittelalter zur Renaissance Neues geschaffen. Das passt zu einer Schule, die Neues schaffen wollte und will. Er selbst war
kein Provinzler, seine Kunst und ihre Einflüsse ver49
Eine Jury beim Lehrerausflug: Ulla Gutsche, Judith Tornau-Opitz, Herbert Menke
breiteten sich schnell über den deutschen Hanseraum hinaus. Auch das passt zu einer Schule mit vielen internationalen Kontakten. Bei der Auswahl des
Namens war man zudem an einen Ratsbeschluss gebunden, der einen Schulnamen mit Bezug zur Stadt
vorschrieb. Das Kollegium begeisterte sich schnell
für den, vom damaligen Schulleiter OStD Helmut
Busmann vorgeschlagenen Namen und der Rat beschloss ihn mit klarer Mehrheit. Das Kollegium wurde am 12. Juni 1976 durch einen Vortrag mit dem Titel Wer war Conrad von Soest? – gehalten von Professor Pieper aus Münster – mit dem Maler und seinen
Werken vertraut gemacht. Am 2. März 1977 wurde
ein Kollegiumsausflug nach Bad Wildungen zur Betrachtung des Wildunger Altars unternommen. Und
am 21. März 1977 berief der Schulleiter eine Gesamtkonferenz in das Gemeindehaus der Dortmunder Reinoldusgemeinde ein, dabei ging es vor allem
um eine Begegnung mit den Dortmunder Altären
Conrads.
Das Schulgebäude selbst atmet den Geist der 70er
Jahre. Der Neubau kam nicht nur deshalb zustande,
weil es damals für die Errichtung von Schulzentren
großzügige Landeszuschüsse gab. Selbst wenn eine
Hauptschule und ein Gymnasium als selbstständige
Einheiten in das neue Schulgebäude einzogen, so
kann doch vermutet werden, dass im Hintergrund
durchaus Überlegungen zu einer additiven Form der
Gesamtschule eine Rolle gespielt haben, die irgendwann einmal aus den beiden Schulen entstehen
könnte. Auf jeden Fall hoffte man, optimistisch wie
man damals war, auf ein gemeinsames Voneinander50
Lernen und auf weitere Synergieffekte im pädagogischen und organisatorischen Bereich.
Dem Schulgebäude fehlte und fehlt die Heimeligkeit so manch anderer Soester Schule. Aber im
Vergleich zum alten Gebäude bietet es durch die hellen Klassenräume, die modern ausgestatteten Fachräume und durch die großzügigen Sporthallen und
Außensportanlagen noch heute gute räumliche Voraussetzungen für den Unterricht. Eine Besonderheit
stellt, von der Größe und der Ausstattung her gesehen, die Aula dar. Zunächst war für die Schule nur eine kleine Lösung vorgesehen. Da der Stadt Soest damals in der „stadthallenlosen“ Zeit aber eine geeignete repräsentative Räumlichkeit für größere Veranstaltungen fehlte, konnte auf Initiative von OStD
Busmann eine größere Aula für das Schulzentrum
gebaut werden.
Kurz – man muss den funktionalen Bau nicht lieben, aber schätzen kann man ihn. Noch heute erfüllt
er in besonderer Weise seinen Zweck.
Die Konkurrenz wird härter
– Einführung der Blindenintegration
Am 21. Juni 1977 wurde die erste Abiturientia im
neuen Haus entlassen. Da die Schule einen guten Ruf
hatte, auch im Soester Umland, stiegen die Schülerzahlen weiter an. Einen Anmeldungsboom gab es im
Schuljahr 1980/81. Es mussten sechs Eingangsklassen eingerichtet werden.
Nur vier Jahre später, im Schuljahr 84/85, gab es
mit nur 75 Anmeldungen einen dramatischen Ein-
bruch bei den Schülerzahlen. Lediglich drei Eingangsklassen konnten eingerichtet werden. Hauptursache dafür war das Vorhaben, in Soest eine Gesamtschule einzurichten. Die Debatte darüber in der
Öffentlichkeit, vor allem in den Lokalteilen der örtlichen Presse, intensivierte sich seit dem Spätsommer
1984. Es hieß, dass das Schulzentrum als geeigneter
Bau für die zukünftige Gesamtschule durchaus in
Frage käme. Ebenfalls wurde öffentlich über die Umverteilung von Schülerinnen und Schülern des Conrad-von-Soest-Gymnasiums an andere Soester
Schulen spekuliert. Die Existenz der Schule schien
auf dem Spiel zu stehen.
Um der Gefahr des weiteren Schülerschwundes
und der langsamen Abwicklung der Schule zu begegnen, vor allem aber auch aus prinzipieller Skepsis diesem für Soest neuen Schultyp, seinen pädagogischen Grundprinzipien und seiner speziellen Organisationsform gegenüber, engagierten sich viele
Kolleginnen und Kollegen, ebenso viele Eltern, in einer Aktionsgemeinschaft gegen eine Gesamtschule in
Soest.
Durch Informationsveranstaltungen, Leserbriefe
und andere Formen der Öffentlichkeitsarbeit wurde
versucht, die Öffentlichkeit über die Schwächen des
Schulkonzeptes aufzuklären. Neben anderem waren
diese Bemühungen zunächst erfolgreich. In einer
Umfrage im August ’85 wünschten nur 20 % der befragten Eltern der Grundschulkinder für Soest eine
Gesamtschule. – Sie wurde 1989 mit einer Stimme
Mehrheit durch einen Ratsbeschluss eingeführt.
Als Ergebnis der zunächst erfolgreichen Blockade der Gesamtschule stiegen die Schülerzahlen wieder langsam an. Im Schuljahr 86/87 wollten 84 Schüler ihre gymnasiale Laufbahn an unserer Schule beginnen.
Die Planungssicherheit für unsere Schule vergrößerte sich, als durch den ersten Schulentwicklungsplan 1986-92 Richtzahlen für die „Zügigkeit“ der
Schulen festgelegt wurden. Unsere Schule sollte vierzügig sein. Als Konsequenz daraus ergab sich, dass
bei zu geringen Anmeldungszahlen die anderen
Soester Gymnasien, sollten dort die Anmeldungszahlen über dem Soll liegen, Schüler an uns abgeben
müssen, was natürlich auch umgekehrt gilt. Dieses
Verfahren wurde vom Schulausschuss der Stadt
Soest legitimiert und wird seit dem Schuljahr
1993/94 durchgeführt.
Eine weitere wichtige Entwicklung unserer Schule in dieser Zeit – in den Jahren 1976 bis 1988 – stell-
te die Blindenintegration dar. Sie zählt auch zu den
bedeutsamen Leistungen im pädagogisch-fachlichen
Aufgabenfeld. Noch ohne ein Konzept entwickelt zu
haben, nahm man 1976 Sabine di Benedetto als erste blinde Schülerin an unserer Schule auf. Im Schuljahr 1980/81 fasste man den Beschluss, einen Schulversuch zu starten und erstellte ein pädagogisches
Konzept, nach dem die Integration durchgeführt
werden konnte.
Die Eltern der blinden Schülerinnen und Schüler
sollten dadurch weitgehend von der schulischen Arbeit entlastet werden, dass Lehrkräfte unserer Schule für die Erstellung von Punktschrifttexten und taktilen Abbildungen sorgten und sich in die Blindenpädagogik einarbeiteten. Erleichtert wurde die Herstellung von Medien durch die damals gerade aufkommende Datenverarbeitung. Durch sie war es relativ leicht möglich, auch ohne Kenntnis der BrailleSchrift Normalschrift in Blindenschrift umzuformen. Unterstützt wurden wir in der Einarbeitungsphase von Professor Hugo Schauerte von der Universität Dortmund, der in unserer Schule ein zweisemestriges Seminar in Blindenpädagogik abhielt.
Die erlernten wir durch „learning by doing“. Notwendig und hilfreich war auch die Mitarbeit von
Lehrern der Westfälischen Schule für Blinde in Soest.
Zum Schuljahr 1981/82 übernahmen wir von der
Blindenschule sechs sehgeschädigte Schülerinnen
und Schüler in die Sexta. Mit geringen Mitteln, aber
großem Einsatz der Kolleginnen und Kollegen, die
mit deutlicher Mehrheit diesem Projekt auf einer
Lehrerkonferenz zugestimmt hatten, wurden in der
Erprobungsstufe die ersten Erfahrungen gesammelt.
Schon im folgenden Schuljahr wurden neue sehgeschädigte Schüler aufgenommen. Als von dem
Blindenintegration: Annika Flaake und
Andreas Vollmer vor ihren Laptops
51
Konzentriert: Katja Voswinkel, Stefanie Bessert
Schulversuch auch die Presse und das Fernsehen berichteten, kamen weitere Schüler hinzu, deren Eltern
z. T. für die Beschulung ihrer Kinder nach Soest umzogen. Der Höchststand an sehgeschädigten Schülern am Conrad-von-Soest-Gymnasium lag bei 19
Blinden und Sehbehinderten, die über alle Jahrgangsstufen sowie Grund- und Leistungskurse verteilt waren. Auch schwierige Fächer wie Sport, den
man ursprünglich aus der Integration ausklammern
wollte, wurden mit aufgenommen. Höhepunkt dabei war der Erwerb des Segelscheins durch einige
blinde Schüler am 14. Oktober 1986.
Aus dem ersten Schulversuch wurden zwei aufeinanderfolgende Modellversuche der Bund-Länder-Kommission, die auch die Anstellung von
Punktschriftschreibern und eines Medienassistenten
erlaubten sowie die Anschaffung moderner Computerausrüstung mit Scannern und leistungsfähigen
Punktschriftdruckern ermöglichten.
Nachdem 1988 die Beteiligung des Bundes am
Schulversuch beendet worden war, richtete das
nordrhein-westfälische Kultusministerium an unserer Schule ein Förderzentrum zur Integration blinder und hochgradig sehbehinderter Schüler ein, kurz
FIBS genannt, das dem Landesinstitut für Schule
und Weiterbildung Soest unterstellt wurde.
Seit geraumer Zeit unterstützt diese Einrichtung
alle blinden Schülerinnen und Schüler, die in NRW
52
eine Regelschule – egal welchen
Typs – besuchen. Außer der Beratung von Eltern, Schülern, Lehrern
und Schulverwaltungsämtern obliegt dem FIBS die Umsetzung aller
für den Unterricht von Blinden
oder Sehgeschädigten erforderlichen Texte und Medien. Diese Arbeit wird nicht allein von den Medienassistenten geleistet, sondern
auch immer noch von einer Anzahl
von Lehrerinnen und Lehrern unserer Schule, die eine gewisse einschlägige Kompetenz erworben haben. Momentan sind dem FIBS ca.
35 Schulen angeschlossen, die z. T.
in den äußersten Regionen unseres
Bundeslandes liegen. Bis zum jeweiligen Schulabschluss ist eine
Menge an Unterrichtsmaterial für
die Schüler zu erstellen und abzuliefern.
Unter unseren ehemaligen Schülerinnen und
Schülern, die mittlerweile ihr Studium abgeschlossen haben, finden sich Journalisten, Juristen, Informatiker und Therapeuten.
Zwar konnten nicht alle ursprünglichen Vorstellungen realisiert werden – die Anzahl der blinden
Schüler an unserer Schule ging, nachdem immer
mehr Schulen den integrativen Unterricht von Blinden und Sehgeschädigten aufgenommen hatten, zurück –, gleichwohl wird die Blindenintegration auch
in Zukunft immer ein wichtiges Feld der fachlichpädagogischen Arbeit an unserer Schule sein.
Ludger Willenbrink, Michael Möllenhof
6 Von heute in die Zukunft
Schulentwicklung als pädagogische
Modernisierung
Welche wichtigen Entwicklungstendenzen charakterisieren die vorläufig letzte Epoche der Geschichte
unserer Schule?
Auch heute versucht unsere Schule ihre pädagogische Modernisierung aktiv zu gestalten. Sie reagiert
einerseits, wie während ihrer gesamten 125-jährigen
Geschichte, auf gesellschaftliche Entwicklungen und
Anforderungen und vollzieht vorgegebene und vorgeschriebene Lösungswege nach. Andererseits entwickelt sie auch heute charakteristische Lösungen,
die – in dieser Form – nicht häufig zu finden sind.
jektunterrichts wenig erfolgreich und daher nicht
zukunftsfähig war. Nach einer Experimentierphase
schälte sich folgender organisatorischer Rahmen für
den Projektunterricht heraus: Obligatorische Projekttage werden zu Beginn der Jahrgangsstufe 11/1
als eine Form des Oberstufenunterrichts durchgeführt. In den anderen Jahrgangsstufen erfolgt er
meist als Fachunterricht an geeigneten Unterrichtsstoffen und ergänzt die traditionellen Formen des
Unterrichts.
Der Projektunterricht stellt für uns einerseits einen Versuch dar, gesellschaftliche Anforderungen an
die Fähigkeiten unsere Schüler zu erfüllen. Gemeint
sind damit etwa der Erwerb von Schlüsselqualifikationen wie Teamfähigkeit, problemlösendes Denken,
größere Selbstständigkeit im Lernprozess und die
Übernahme größerer Verantwortung für sein Gelingen. Andererseits soll der Projektunterricht das zentrale Ziel einer emanzipatorischen Pädagogik, die Erziehung zur Mündigkeit, mit verwirklichen helfen.
Praktisches handlungsbezogenes Lernen
und Engagement für das Gemeinwesen
Kreuz, Windrad oder unbeschrankter Bahnübergang? Josef Pieper während einer Projektwoche
Projektunterricht
Zur pädagogischen Modernisierung gehört die Ausweitung des Projektunterrichts. Der Start in diese
Form des Unterrichts erfolgte, auch wenn es schon
Vorläufer gab, mit der ersten Projektwoche vom 1.
bis 5. Juli 1983. Projektgruppen aus allen Jahrgangsstufen beschäftigten sich mit dem Thema Soest – unser Lebensraum. Eine zweite, darauf folgende Gesamt-Projektwoche zeigte, dass wegen des großen
organisatorischen Aufwandes diese Form des Pro-
Auf welchen Feldern spielt sich die pädagogische
Modernisierung an unserer Schule noch ab?
Als Konsequenz verschiedener lerntheoretischer
Ansätze ergibt sich die Forderung an die Schule, das
Lernen an konkreten und realen Problemen anzubinden, sich dazu stärker als bisher ihrem gesellschaftlichen Umfeld zu öffnen und die Selbstständigkeit der Schüler im Lernprozess zu fördern. Es gilt
aus dem Verstehen heraus zu handeln und durch
praktische Arbeit an der positiven Gestaltung des
Gemeinwesens, sei es die Schule, sei es die Kommune und Heimatstadt, mitzuwirken. Besonders erfolgreich auf diesem Feld waren die Biologie- und
Energiespar-AG.
Vom Schulteich zum Konzept Biotopverbund SoestWest: Nachdem die Biologie-AG 1984 gegründet
worden war, ging es zunächst um praktisches Lernen
außerhalb des Klassenzimmers an kleineren Umweltprojekten, die aber den schulischen Wirkungsbereich nicht überschritten. Bäume wurden gepflanzt und ein Schulteich wurde gebaut. Recht bald
kam es aber zur Transformation schulischer Arbeit
in den gesellschaftlichen Raum. Auf Initiative der
Biologie-AG führte die Stadt Soest viele Renaturierungsmaßnahmen durch.
53
Die in der Untersuchung über die Soester Bäche
enthaltenen Vorschläge zur Offenlegung der Soester
Quellen und Renaturierung der Bachläufe wurden
den städtischen Gremien vorgestellt und nach einem
Ratsbeschluss umgesetzt, wovon sich jeder überzeugen kann, der heute in der Innenstadt am Soestbach
entlang geht. Nach der Untersuchung des Amper
Bruchs, von dem ein Teil als Schrottplatz genutzt
wurde, und der Erstellung eines ökologischen Gutachtens erfolgte per Ratsbeschluss 1994 die Renaturierung des Gebietes als erste Soester Naturschutzzone. 1996 wurde das ökologische Gutachten über
die Klärteiche der ehemaligen Zuckerfabrik zur
Grundlage der Flächenplanung von Kreis und Stadt
Soest. Seit dem Jahr 2000 wird ein Konzept für den
Biotopverbund Soest-West erarbeitet, das in die
städtische Bauplanung übernommen wird.
Wie erfolgreich und beispielhaft die Arbeit war,
zeigt sich einerseits an den vielen hochkarätigen Preisen, mit denen Schülerinnen und Schüler der Biologie-AG ausgezeichnet wurden – darunter bei Jugend
forscht, die Auszeichnung mit dem Comenius-Förderpreis und zuletzt die Verleihung des Westfälischen
Friedenspreises –, andererseits wird das auch daran
deutlich, dass verschiedene Lehrfilme als Unterrichtsmaterial gedreht und wissenschaftliche Aufsätze über die Arbeit der AG veröffentlicht wurden.
Ulrich Dellbrügger
Jochen Grade (Hg.)
DIPLOMATEN
IN GUMMISTIEFELN
Die Biologie-AG beteiligt sich auch an der Umsetzung der auf der Konferenz von Rio beschlossenen Agenda 21. Hier bietet das schon oben erwähnte Konzept des Biotopverbunds, das seit dem Schuljahr 98/99 entwickelt wird, die Möglichkeit, den abstrakten Agendaprozess zu konkretisieren, indem die
Schüler für jeden Ort, für jeden Bereich, in dem sie
sich engagieren, eigene Programme entwickeln.
Wie wir zur Solarschule wurden: Ein weiteres Beispiel
für die Verknüpfung von traditionellem schulischen
Lernen mit praktischem Handeln zur Mitwirkung
an der Lösung gesellschaftspolitischer Probleme
stellt die im Februar 1998 gegründete EnergiesparAG dar. Ihr geht es um einen Beitrag unserer Schule
zum Klimaschutz, einem wesentlichen Problem der
Menschheit.
Schon nach einem Jahr zeigte sich, wie erfolgreich
die Arbeit war. Durch Information der Mitschüler,
durch Messen des Energieverbrauchs, durch Kontroll- und Dämmmaßnahmen, durch den Austausch
von Beleuchtungskörpern mit hohem Energieverbrauch und weitere Maßnahmen konnte der Energieverbrauch der Schule im Vergleich mit dem Jahr
1997 deutlich gesenkt werden. 16 % an Strom und
13 % an Gas konnten eingespart werden. Neben Defensivmaßnahmen verfolgt die Energiespar-AG auch
ein offensives Konzept der Nutzung alternativer Energien durch den Einsatz von
Zukunftstechnologien an unserer Schule.
So wurde auf Betreiben der AG im März
2001 eine Sonnenkollektoranlage in Betrieb genommen, die den Wärmebedarf
für das Duschwasser im Sportbereich und
einen Teil der Heizenergie liefert. In Planung ist die Errichtung einer Photovoltaikanlage. Auch diese Erfolge waren nur
durch eine intensive Zusammenarbeit der
Schule mit der Verwaltung der Stadt
Soest, den Stadtwerken und Soester Betrieben möglich.
Die europaweiten
Projekte des
Conrad-von-SoestGymnasiums
Dokumentation
anlässlich der
Verleihung des
Westfälischen
Friedenspreises
2000
Festschrift zur Verleihung des
Westfälischen Friedenspreises 2000
54
„Der Ernst des Lebens“ in der Klasse 10 –
drei Wochen lang: Eine weitere, wenn auch
andere Form der „Öffnung von Schule“
oder des „Lernens am außerschulischen
Ort“, wie es im Pädagogenjargon heißt,
ermöglicht das Anfang 1994 für die Klassen 10 eingeführte Betriebspraktikum.
Praktika machten auch schon die Schüle-
Lehrerkollegium 1998 mit Schulleiter Wiesmann
rinnen des Mädchenlyzeums seit den 30er Jahren.
Sie waren aber einerseits sehr eng auf die Ausübung
eines Frauenberufs im sozialen Bereich ausgerichtet,
waren daher Kindergartenpraktika oder solche im
sozial-pflegerischen Bereich. Andererseits leiteten
sich ihre Begründung und Sinnhaftigkeit aus einem
traditionellen Bild von der Stellung und Rolle der
Frau in der damaligen Gesellschaft ab.
Die jetzige Art des Betriebspraktikums kennt solche Einschränkungen nicht. Praktika sind in allen
Berufsfeldern möglich. Sie sollen Schülerinnen und
Schülern möglichst vielfältige Erfahrungen in ökonomischen und sozialen Bereichen der Arbeitswelt
vermitteln und sie mit den Anforderungen und
Pflichten der Arbeitswelt konfrontieren. Die Bewährung im Praktikum fördert die Selbstständigkeit der
Jugendlichen; und manchmal ist das Praktikum
auch Orientierungshilfe bei der Berufsfindung. Die
Verknüpfung von schulischem Lernen und praktischer Erfahrung in der Arbeitswelt erfolgt über die
intensive Vor- und Nachbereitung im Unterricht.
Durch das Betriebspraktikum konnte die Schule
auch kontinuierliche Beziehungen zu vielen Soester
Unternehmen, Betrieben und Praxen aufbauen, die
regelmäßig Praktikumsplätze zur Verfügung stellen.
Diplomaten in Gummistiefeln: Eine weitere Entwicklung, auf die unsere Schule reagiert hat, ist die seit
den 50er Jahren des 20. Jhs. vorangeschrittene Europäisierung und Internationalisierung der Lebenswelt. Das politische Engagement des Staatsbürgers,
das Betroffen-Sein von Politik im postklassischen
Nationalstaat, die Anforderungen an, aber auch die
Chancen für die Lebenspraxis des Einzelnen als Arbeitnehmer in der globalisierten Wirtschaft, als Tourist oder Kulturkonsument in einer mulitikulturellen Zivilisation werden verstärkt von europäischinternationalen Rahmenbedingungen geprägt.
Als notwendiges Instrument der Bildung, die
zum Verstehen, zur Bewältigung und zur Gestaltung
der oben beschriebenen Anforderungen und Chancen beiträgt, leistet nach wie vor der klassische Schüleraustausch mit unseren Partnerschulen Bedeutendes. Er ist das Grundelement des interkulturellen
Lernens.
Türöffner in die Welt waren zuerst der Schüleraustausch und die Partnerschaft mit Schulen in
Troyes und Chaumont in Frankreich seit 1972. Unsere Partnerschule dort ist heute das Collège Louise
Michel. Von Anfang an ging es um das Ausprobieren
der Französischkenntnisse, das Erleben des Alltags
55
in Frankreich, aber auch um die Begegnung mit seiner Geschichte und Kultur. Der Bogen spannte sich
gleichsam vom Geschmack der Zwiebelsuppe bis
zum Blick auf Notre-Dame an der Seine. Zusätzlich
zu den Bildungserlebnissen sollte der Austausch
auch einen Beitrag zur Völkerverständigung, zur
Aussöhnung zwischen Deutschen und Franzosen
leisten. Dies war vor allem nach dem Besuch des
französischen Präsidenten Charles de Gaulle 1962 in
der Bundesrepublik zum politischen Ziel und nach
der Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerkes zur Aufgabe der Jugend geworden. Heute
sind die politische Fundierung und die starke emotionale Prägung zwar nicht ganz verschwunden, aber
weitgehend in den Hintergrund getreten. Verlässlichkeit und Routine dominieren, was nur den Erfolg
des Austausches zeigt. Wieviel die erste Partnerschaft
den Schulen heute immer noch bedeutet, zeigt die
Teilnahme einer französischen Delegation am Schuljubiläum im September 2001.
Den Schüleraustausch mit der Säveskolan in Visby auf der schwedischen Insel Gotland seit 1982
könnte man als Fortsetzung der traditionellen hansischen Beziehungen von Soest und Visby seit dem
Mittelalter bezeichnen. Unserer Schule bietet er Kontakte mit Nordeuropa, die schwedische Schule gewann mit Soest ein attraktives Reiseziel für ihre
Deutsch lernenden Schüler.
Der erste Besuch in Bangor/Wales fand 1988 statt.
Sprachpraxis und die Möglichkeit des Kennenlernens von Land und Leuten sind gemeinsame Ziele,
die uns mit der David-Hughes High School verbinden.
Die Schulpartnerschaften mit den drei anderen
Schulen, dem Liceum Ogolnoksztalcace in Strzelce
Opolskie, Polen, dem Arpard Vezer Gimnazium Sárospatak, Ungarn, und dem Almere College in Kampen, Niederlande, bestehen erst seit Mitte der 90er
Jahre des 20. Jahrhunderts.
Als 1989 der Eiserne Vorhang hochging und zu
Beginn der 90er die Beziehungen zwischen Deutschland und den ehemaligen Ostblockstaaten sich normalisierten, nutzte die Schule, unterstützt von der
Stadt Soest, die Möglichkeit, Kontakte nach Oberschlesien und etwas später nach Ungarn zu knüpfen.
Wir haben dadurch Partner und Freunde gewonnen,
die uns dabei helfen, den historisch und kulturell so
bedeutsamen und politisch für Deutschland so
wichtigen und schicksalsträchtigen ostmitteleuropäischen Raum kennen und verstehen zu lernen.
56
Dierk Mentz (1935-1999)
Die Zusammenarbeit mit dem Almere College
entwickelte sich seit dem internationalen Hansetag
in Soest 1995 in der Durchführung gemeinsamer
Projekte.
Nicht zufällig sind wir mit Schulen der offiziellen
Partnerstädte der Stadt Soest verbunden. Es ist nicht
nur manchmal ganz nützlich und erleichtert vieles,
wenn man auf die Hilfe von Rat und Verwaltung
bauen kann. Schulpartnerschaften und Schüleraustausch haben wir immer auch als Möglichkeit aufgefasst, die Bürgerschaft, den Rat und die Verwaltung
bei ihren Bemühungen zu unterstützen, auf kommunaler Ebene eine Zusammenarbeit von Städten
in Europa zu erreichen, um dadurch die Menschen
einander näher zu bringen. Durch den Schüleraustausch sollen die Kontakte von Jugendlichen der
Partnerstädte verstetigt und intensiviert und die anderen Formen der Begegnung von Bürgern ergänzt
werden. Unsere Schülerinnen und Schüler sollen also durch ihre Besuche dabei mithelfen, die Beziehungen von Bürgern unterschiedlicher Nationalität
zu vertiefen, sind daher – in Anspielung auf die besondere Rolle, die die Biologie-AG dabei in den letzten Jahren gespielt hat – Diplomaten in Gummistiefeln.
Eine auf das organisierte Lernen abzielende Kooperation stellt eine neue Stufe und vertiefte Qualität der Schulpartnerschaft dar. Sie hat sich in den
letzten Jahren entwickelt. Die bisher gelungene Pro-
jektarbeit von Schülergruppen oder Kursen mit einigen unserer Partnerstädte an Schlüsselproblemen
vermittelt Erfahrungen einer erfolgreichen europäischen Zusammenarbeit im Kleinen. Diese Erfolgserlebnisse sollen bei Schülerinnen und Schülern eine positive Grundeinstellung dazu wecken, darauf
zu vertrauen, dass auch die großen zwischenstaatlichen und europäischen Probleme langfristig lösbar
sind und dass sie sich dafür engagieren müssen, als
diejenigen, die in der Zukunft Europa gestalten werden.
Diese Form des Lernens wird einerseits als binationale, andererseits als multinationale Projektarbeit
organisiert und beschäftigte sich bisher mit Umweltproblemen sowie mit historisch-politischen
Themen. Das Projekt Umwelt kennt keine Grenzen
war ein deutsch-polnisches Umweltprojekt der Biologie-AG und eines Chemiekurses des Lyzeums in
Strzelce 1994-95. Drei Jahre später lief das multinationale Umweltprojekt Hydor men ariston, an dem
neben Schülerinnen und Schülern unserer Schule
auch solche aus Kampen, Strzelce Opolskie, Sárospatak und Visby teilnahmen. In gleicher Besetzung
wurde 1998 bis 2000 das Umweltprojekt Water in abundance durchgeführt. Und für das Jahr 2002 wird
vom Gimnazium in Sárospatak das dritte multinationale Umweltprojekt, eine ökologische Untersuchung an den ungarischen Flüssen Theis und Bodrum vorbereitet.
Das deutsch-polnische Geschichtsprojekt Alte
neue Heimat beschäftigte sich 1997 mit dem Schicksal deutscher und polnischer Flüchtlinge und Vertriebener während und nach dem Zweiten Weltkrieg.
Ein weiteres deutsch-polnisches Geschichtsprojekt
soll in der ersten Hälfte des Jahres 2002 abgeschlossen werden. Denkmäler in Soest und Strzelce Opolskie
als Beispiele lokaler Erinnerungskultur soll untersuchen, welches lokale Geschichtsbild durch die Denkmäler repräsentiert wird und von welcher Bedeutung sie für die Entwicklung eines solchen sind. Alle
Die Schule von hinten
57
Projekte sind zwei- oder mehrsprachig dokumentiert und wurden und werden auf deutschen und
internationalen Veranstaltungen, z. B. den Hansetagen, der Öffentlichkeit vorgestellt.
Das für die Schule wichtigste und schönste Ergebnis dieser Lern- und Verständigungsversuche war
die Verleihung des Westfälischen Friedenspreises an
das Conrad-von-Soest-Gymnasium am 28. Oktober
2000. Ihn konnte unser Schulleiter, OStD Hans Jürgen Wiesmann, an der Spitze einer Schuldelegation
im Friedenssaal des Münsteraner Rathauses in Empfang nehmen.
Und was sonst noch? Seit Mitte der 80er Jahre zog der
Computer auch in das Conrad-von-Soest-Gymnasium ein. Ohne Computer entsteht kein Stundenplan mehr. Das Schreiben der Zeugnisse und die
Dienstpost der Schule werden über Computer abgewickelt. Lehrer schreiben ihre Texte und Unterrichtsvorbereitungen, Schüler ihre Facharbeiten darauf. Recherchiert wird im Internet. – Aber eigentlich ist der Computer für uns nur ein modernes
Schreibgerät oder Lern- und Lehrmittel – also nichts
Besonderes.
Angesichts der immer bedeutender werdenden
Rolle von Images, die in einer Gesellschaft ständig
zunehmender indirekter Kommunikation die
Orientierung erleichtern, erwies es sich als notwendig, eine zeitgemäßere, effizientere und wirksamere
Form der Öffentlichkeitsarbeit, als es die traditionelle Pressearbeit war, zu leisten. Seit ca. drei Jahren hat
sich der Schwerpunkt von der reagierenden auf die
offensive, planmäßige, langfristig angelegte, steuernde sowie die antizyklische Öffentlichkeitsarbeit verlegt, die per Kontrast Aufmerksamkeit erringen will.
Ein wichtiger Bestandteil davon ist das Schulleben,
eine knappe, periodisch erscheinende Informationsschrift für die Eltern, die zum ersten Mal 1999
herausgegeben wurde.
Und das Schulprogramm, mit dem sich das Kollegium rund fünf Jahre beschäftigt hat, wurde unter
Mithilfe von Eltern in seiner ersten Fassung Ende
Dezember 2000 abgeschlossen. Es stellt einen Versuch dar, in pragmatischer Weise den Stand der
Schulentwicklung zu fixieren und für Fachunterricht
und Erziehungsarbeit sowie verschiedene Bereiche
des Schullebens Perspektiven für die Zukunft unserer Schule aufzuzeigen.
Die vielen Schulnamen spiegeln sich auch in der Menge der Stempel wider, mit denen Bücher inventarisiert
wurden. Die Bücherei-AG „Die Leseratte“ hat sie mal alle zusammengestellt.
58
Und die Zukunft?
Angesichts der Standortnachteile unserer Schule
gegenüber anderen weiterführenden Schulen in
Soest, angesichts der in wenigen Jahren zurückgehenden Schülerzahlen und angesichts vor allem der
jetzt schon bestehenden Möglichkeiten, an vielen
Soester Schulen höhere Bildungsabschlüsse und das
Abitur abzulegen, wird es für uns darauf ankommen, auch für kommende Schüler- und Elterngenerationen eine attraktive, also gute Schule zu bleiben.
Wir müssen unsere fachliche und pädagogische
Kompetenz bewahren und da, wo es möglich und
notwendig ist, auch steigern.
Für die nahe Zukunft sehe ich zwei wichtige Aufgaben vor uns. Einmal müssten wir ein Mittelstufenkonzept entwickeln, das Vorschläge für eine verstärkte Erziehungsarbeit und die fachliche Förderung der Mittelstufenklassen enthält.Vor allem müssen wir uns mit der uns aufgegebenen Entwicklung
einer Profiloberstufe befassen und dafür zu vernünftigen Lösungen kommen. Fast könnte man dazu sagen Zurück in die Zukunft.
Alfons Kenkmann scheint mir unsere augenblikkliche Situation zutreffend zu beschreiben, wenn er
in seinem Aufsatz Von der bundesrepublikanischen
„Bildungskatastrophe“ zur Bildungsreform in der 60er
Jahren bilanziert:
Hatte die Bildungsforschung 1964 als Inkarnation
der „Bildungskatastrophe“ das katholische Mädchen
vom Lande ausgemacht, so gilt heute übrigens das katholische Mädchengymnasium in der Provinz als Garant effizienter Bildung.(Diese Aussage ist sicher auch
konfessionsübergreifend richtig.)
Da fühlt man sich und denkt beinahe wie Camus’
Sisyphos (soll eine Metapher für die älteren Leserinnen und Leser sein). Also: La lotta continua – oder
doch besser: The beat goes on!? – aber auf jeden Fall,
wie der jetzt auch schon 60-jährige Bob Dylan 1963
sang: For the times they are a-changing.
Anmerkungen Als Zwerg sitze ich auf den Schultern folgender Riesinnen und Riesen, ohne deren Vorarbeit dieser Aufsatz nicht hätte geschrieben werden können und denen ich für
ihre Arbeit danke.
■ Abiturentia 1945/46: 50 Jahre danach – Erinnerungen an unsere Schulzeit 1933-1945/46. o.O., 1995
■ Blattgerste, Eduard: Die Entwicklung des Conrad-von-SoestGymnasiums von 1876-1976. In: Einhundert Jahre Conrad-vonSoest-Gymnasium und Namensvorgänger. Soest 1976
■ Blotevogel, Wilhelm: 50 Jahre städtisches Lyzeum Soest, 18761926. Soest 1926
■ Dellbrügger, Ulrich/Grade, Jochen (Hg.): Diplomaten in Gummistiefeln. Die europaweiten Projekte des Conrad-von-Soest-Gymnasiums. Dokumentation anlässlich der Verleihung des Westfälischen Friedenspreises 2000. Soest 2000
■ Ferchland, Paul: 1876-1951 Städtisches Mädchengymnasium
Soest, Paradieser Weg. Geschichte der Anstalt. Soest 1951
■ Frandsen, Dorothea: Helene Lange – Ein Leben für das Bürgerrecht der Frau. Oldenburg 1999
■ Görtemaker, Manfred: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland – Von der Gründung bis zur Gegenwart. München 1999
■ Kenkmann, Alfons: Von der bundesdeutschen „Bildungsmisere“ zur Bildungsreform in den 60er Jahren. In: Axel Schildt u.a.:
Dynamische Zeiten – die 60er Jahre in den beiden deutschen
Gesellschaften. Hamburg 2000
■ Köhn, Gerhard: Soest in der Geschichte. Ein Kalender von 5500
v. Chr. bis 1992. Soest 1992
■ Ders.: Soest in alten Bildern, Band 2. Die Soester im Kaiserreich
und in der Weimarer Republik. Soest 1986
■ Mazower, Mark: Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000
■ Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1983
■ Protokollbücher der Lehrerkonferenzen des Conrad-von-SoestGymnasiums und Vorgänger seit 1949
■ Soester Frauen für den Frieden (Hg.): ... als hätte es uns nie gegeben! Soest o.J.
Ich danke Judith Tornau-Opitz, Werner Braukmann, Ulrich
Dellbrügger, Benno Dahlhoff, Ingo Drescher und Wolfgang
Marciniak dafür, dass ich ihre Beiträge zum Schulprogramm
für meinen Aufsatz ausschlachten durfte, und Helmut Kopper
für die Überlassung einer schriftlichen Zusammenfassung eines Interviews mit unserem ehemaligen Schulleiter Busmann. Für mündliche Auskünfte danke ich Helmut Busmann,
Ursula Gutsche, Margot Müller, Hildegard Schmidt, Willi
Goldstein, Wolfgang Lücking und Jürgen Meyer.
J. G.
Das Sekretariat mit Gabriele Beier und Irene Klüsener
59
1819 Private Gründung eines Töchterinstituts
Umzüge und
Umbenennungen
(Schließung 1821)
1828 Gründung einer privaten Mädchenschule
1832 Neubau eines Schulgebäudes
Ecke Kolkstraße/Thomästraße
1863 Umbenennung in Mittelschule für Töchter
1864 staatliche Anerkennung
1867 Gründung einer Katholischen höheren
Mädchenschule
1876 Stadt übernimmt Trägerschaft:
1873 im Zuge des Kulturkampfs geschlossen
Städtische höhere Mädchenschule
1879 Umzug von der Thomästraße in
1895 Neugründung: Höhere Mädchenschule
St. Hildegard
den Hohen Weg
1898 staatliche Anerkennung als
höhere Mädchenschule
1909 staatliche Anerkennung als höhere
Lehranstalt
1911 Die höhere Mädchenschule wird Lyzeum
1927 Oberlyzeum reformgymnasialer Richtung
(Abiturbefähigung)
1935 Umwandlung in ein Lyzeum mit
dreijähriger Frauenschule
1937 Umwandlung in eine Oberschule für
Das alte Schulgebäude am Paradieser Weg
1928 Einweihung des Neubaus am
Mädchen hauswirtschaftlicher Form
Paradieser Weg
1939 Die Oberschule für Mädchen zieht in das Gebäude des von den Nationalsozialisten
geschlossenen Hildegard-Lyzeums am Paradieser Weg
1946 Wiederaufnahme des Unterrichts in der Oberschule für Mädchen – neusprachlicher Form
1969 nach Ausweitung des Frauenschulzweigs auf die gesamte Oberstufe:
Städtisches neusprachliches Mädchengymnasium und Gymnasium für Frauenbildung
zur Erlangung einer fachgebundenen Hochschulreife
1972 Umbenennung: Gymnasium am Paradieser Weg
1976 Umbenennung in Conrad-von-Soest-Gymnasium und Umzug in das Schulzentrum am
Paradieser Weg
60
Was hat unsere Schule mit
Conrad von Soest zu tun?
Über eine falsche, aber dennoch goldrichtige Namengebung
Warum heißt unsere Schule eigentlich Conrad-von-Soest-Gymnasium? Wer war Conrad
von Soest? Und was hat das Convos mit diesem Namengeber zu tun? Mehr noch: Ist es
eigentlich richtig, sich Conrad von Soest als
Namengeber zu erwählen? Diese Fragen
werden häufig gestellt, nicht nur anlässlich
eines Jubiläums, und – zugegeben – hätte
man bei der Namengebung vor nunmehr 25
Jahren genau dieselben Kriterien angewendet wie beim Aldegrever Gymnasium oder
der Christian-Rohlfs-Schule, dann müsste
unsere Schule heute einen anderen Namen
tragen.
Conrad von Soest – Selbstbildnis
Während Heinrich Aldegrever Bürger unserer Stadt
und wie Christian Rohlfs ein hier schaffender Künstler war, lebte Conrad von Soest in Dortmund und
besaß die Bürgerrechte der Reichsstadt. Auch legen
namhafte Kunsthistoriker noch in ihren neuesten
Veröffentlichungen dar, dass sich heute keine Kunstwerke aus der Hand Conrads mehr in Soest befinden.
von Soest? von Dortmund!
Conrads Leben ist nur durch zwei Dortmunder
Quellen spärlich bezeugt. Aus ihnen lässt sich schließen, dass der Maler von ca. 1360 bis kurz nach 1422
gelebt hat. Nach einem Heiratsvertrag vom 11. Februar 1394 nahm er Gertrud von Münster zur Frau.
Als Trauzeugen unterschrieben die beiden damals
amtierenden Bürgermeister von Dortmund, Lambert Berswordt und Arndt Sudermann, sowie vier
weitere aus dem Patriziat stammende Ratsmitglieder. Conrad von Soest stand also in enger Verbindung zum Patriziat und war selbst auch recht wohlhabend. In dem Heiratsvertrag legte er fest, dass seine Frau, wenn er vor ihr erbenlos sterben würde, die
damals ungewöhnlich hohe Summe von 200 Mark
Dortmunder Pfennige erben sollte.1
Die Zugehörigkeit zur Oberschicht wird auch
durch die Mitgliedschaft Conrads und seiner Frau in
den Bruderschaften der Dortmunder Marien- und
Nikolaikirche belegt, denen auch viele der wohlhabenden, einflussreichen und mächtigen patrizischen
Familien angehörten.2 Der Name von Soest ist also
nicht der Herkunfts-, sondern der Beiname des
Künstlers.
Soester Lokal- und Kunsthistoriker, vor allem
Hubertus Schwartz, haben dagegen immer wieder
den Nachweis zu erbringen versucht, dass Conrad
zumindest in Soest künstlerisch gearbeitet und daher hier eine Zeit lang gelebt hat.3 Aber selbst die Nikolaustafel in der Nikolaikapelle am Dom, der auch
61
Der Wildunger Altar (Ausschnitt)
62
die neuesten kunstwissenschaftlichen Untersuchungen eine Nähe zu Conrad von Soest zuschreiben,
wurde wohl nicht von ihm gemalt. Zwar gibt es einige Übereinstimmungen mit Conrads Hauptwerk,
dem Wildunger Altar,4 die Kunsthistorikerin Brigitte Corley weist aber nach, dass der Entwurfs- wie der
Malstil des Künstlers in wesentlichen Bereichen von
denen Conrads abweicht.5
Verbindungen zu Soest
Müssen wir den Namen Conrad von Soest wegen
fehlender Soest-Bezüge unseres Patrons also ablegen
und uns stattdessen, wenn wir bei einem Malernamen bleiben wollen, etwa Hans-Kayser- oder
Richard-Cox-Gymnasium nennen? Wohl nicht.
Denn es gibt einiges, was Conrad mit der Stadt Soest
verbindet.
Zunächst Biographisches.„1331 erhielt ein Maler
Werner von Soest das (Dortmunder) Bürgerrecht,
1348 (...) ist es ein Maler Werner. Entweder handelt
es sich beide Male um denselben Maler, der von
Soest nach Dortmund und nach einem Zwischenaufenthalt anderen Ortes wieder zurückkam. Oder
es sind zwei verschiedene Werner. Auf jeden Fall ist
eine verwandtschaftliche Beziehung (Conrads) als
Sohn des Wernerus pictor oder als Enkel des Wernerus pictor de Sosato anzunehmen.“ 6
Conrads unmittelbare Vorfahren stammen also
höchstwahrscheinlich aus Soest und vielleicht lebten
ja dort noch Verwandte von ihm. Zudem gab es enge Beziehungen zwischen dem Soester und dem
Dortmunder Patriziat, das zu den wichtigsten Auftraggebern Conrads gehörte. Als Mitglieder der
Hanse kooperierten beide Städte, wenn auch nicht
immer spannungsfrei, in Politik und Handel. Und da
Dortmund und Soest ja nicht sehr weit auseinander
liegen, ist nicht auszuschließen, dass Conrad unsere
Stadt besucht und über die religiöse Kunst und andere Seiten des Stadtlebens hier manches gewusst
hat.
Zudem ist die Malerei Conrads zwar nicht direkt,
aber indirekt noch heute in Soest zu bewundern. Das
Wandbild in der Petrikirche, das die Kreuzigung darstellt, der Hauptaltar in der Paulikirche, auch hier vor
allem wieder die Darstellung der Kreuzigung, der Jakobialtar in der Wiesenkirche und die Nikolaustafel
sind im Bildaufbau, in der Darstellung der Motive
und Figuren, z. T. auch in der Farbgebung durch die
Malerei Conrads stark beeinflusst worden. Vielleicht
waren es ja seine Schüler, die diese und weitere andere Bilder in Soester Kirchen angefertigt haben.
Wenn man die aus dem Soester Walburgisstift stammenden, heute im Westfälischen Landesmuseum für
Kunst und Kulturgeschichte ausgestellten Tafeln mit
den Bildnissen der hl. Dorothea und der hl. Odilia,
die von Conrad stammen, dazurechnet, dann beweist sich, dass die Malerei im Soest des ausgehenden Mittelalters wie in kaum einer anderen Stadt
von Conrad mit geprägt worden ist. Und noch heute können wir durch die sakrale Kunst die Religiosität und Spiritualität der Zeit Conrads – Herbst des
Mittelalters – in unseren Kirchen nachempfinden.
Conrads künstlerischer Rang
Aber selbst wenn es diese Soest-Bezüge nicht gäbe,
ehrt es unsere Schule, Träger des Namens eines der
bedeutendsten norddeutschen Maler des ausgehenden Mittelalters zu sein. Geprägt durch seine Lehrzeit in Pariser Werkstätten, beeinflusst in seinem
Schaffen sowohl von niederländischer wie venezianischer oder lombardischer Buch- und Tafelmalerei,
aber auch westfälische malerische Traditionen aufnehmend,7 hat Conrad von Soest bei der Einführung
und Verbreitung des Internationalen Höfischen Stils
um und nach 1400 in Norddeutschland eine zentrale Rolle gespielt. Von Frankfurt über Westfalen, die
Niederlande, Hamburg, Lübeck bis nach Stockholm
und England finden sich noch heute in Kirchen
(oder Museen) religiöse Bilder, deren Maler sich die
Kunst Conrads zum Vorbild nahmen.8 Sie kannten
seine Kunstwerke, die sich durch die hansischen
Handelsbeziehungen verbreiten konnten. Einige von
Conrads Nachfolgern haben ihn sicher in Dortmund aufgesucht, um bei ihm zu lernen, oder sie haben in den dortigen Kirchen seine Werke studiert.9
Besonders großen Einfluss übte die Malerei Conrads
auf den Meister der hl. Veronika, den Begründer der
Kölner Schule, aus.10 Die großen Stilähnlichkeiten
mit Conrad von Soest zeigen, wie gut dieser ebenfalls
bedeutsame spätmittelalterliche Maler mit dem
Werk Conrads vertraut war.11 Brigitte Corley merkt
an, dass „das Können des Conrad von Soest (...) ganz
offenbar nicht allein von seinen Auftraggebern, sondern auch durch die zeitgenössischen Künstler anerkannt worden ist.“ 12 Sie fährt fort: „So hat Conrad
von Soest in der Entwicklung der nordeuropäischen
Kunst eine zentrale Rolle gespielt. Angesichts der bedauerlichen Zerstörung von Kunstwerken dieser Zeit
63
Die Nikolaustafel
bilden die Altäre und Bildtafeln Conrads ein kostbares Erbe.“ 13
Wie diese Autorin schätzen die Kunsthistoriker
ganz allgemein Conrad als vollendeten Könner und
kreativen und intelligenten Maler!14
Die Nikolaustafel
Am Schluss möchte ich noch einmal auf die Nikolaustafel zu sprechen kommen. Auch wenn sie „nur“
aus der Schule Conrads stammten sollte oder ihr
Maler „nur“ durch seine Bilder angeregt wurde – sie
allein reichte als Legitimation für den Namen unserer Schule aus:
Sie stellt eine religiöse Botschaft anschaulich und
fasslich in Bildgestalt als Synopse dar. Das Medium
Bild vereinfacht zwar das komplexe theologische
Programm und ermöglicht zudem, dass die Heilsbotschaft auch in „naiver“ Frömmigkeit geglaubt
werden kann, aber ohne Wissen können die Einzelheiten und Zusammenhänge des Dargestellten (also
die Ikonographie des Bildes) nicht erschlossen werden. Persönliche Verantwortung für Komposition
und „Lernprogramm“ des Bildes übernimmt der
Stifter, der, mit dem Spruchband in seinen Händen,
leicht rechts vor dem Thron des hl. Nikolaus kniet.
Dabei handelt es sich wohl um Johannes Schürmann, um 1410 Probst von Soest.15
Die männlichen Heiligen, die Nikolaus flankieren, links Johannes der Täufer, rechts Johannes der
Evangelist, sind u. a. Schutzheilige der Theologen, also der Schriftausleger und Wortarbeiter. Ihre Wortmächtigkeit wird auch durch die Bücher, die sie halten, charakterisiert. Auch die beiden weiblichen Heiligen, links die hl. Katharina von Alexandria, rechts
die hl. Barbara, starben als Märtyrerinnen, weil sie
erfolgreich das Wort Gottes verkündigten. Die hl.
64
Katharina konnte sich sogar in einer Debatte durch
die besseren Argumente erfolgreich gegen viele
männliche – heidnische – Gelehrte durchsetzen.
Von den Wundern des hl. Nikolaus werden diejenigen gezeigt, die er an und für Jugendliche gewirkt
hat. Rechts ist das Wunder an den drei jungen Frauen dargestellt, durch die er sie, wie es heißt, vor einem unsittlichen Lebenswandel bewahrt hat. Links
sieht man die Scholaren, die Schüler, die der Nikolaus wieder zum Leben erweckt hat, nachdem sie ein
böser Metzger noch lange vor den Zeiten gewaltfeiernder Kino- und Videofilme geschlachtet und
portioniert in ein Pökelfass gesteckt hatte. Durch
sein Eingreifen hat der hl. Nikolaus also dafür gesorgt, dass die Schüler ihre Studien weiter betreiben
konnten. So ist es nicht verwunderlich, dass Nikolaus
der Patron vieler mittelalterlicher Schulen war und
auch heute noch der zweite Patron der Universität
Paris ist.
Im Nachsinnen fällt mir gerade auf, dass in der
Soester Nikolaustafel sich demnach einige pädagogische Grundprinzipien unseres Schulprogramms
verstecken. Also sollten wir uns nicht NikolausGymnasium nennen? Würde ein Nikolaus-Logo
nicht eher akzeptiert werden als das Conrad-Logo?
Aber das ist ein anderes Thema ...
Jochen Grade
1
Vgl. Brigitte Corley: Conrad von Soest. Maler unter fürstlichen
Kaufherrn. Berlin 2000, S. 15
2
Vgl. Brigitte Corley, a.a.O., S. 15 f.
3
Vgl. Hubertus Schwartz: War Meister Konrad von Soest ein
Soester oder Dortmunder? In: Soester Zeitschrift, 65. Heft.
Soest 1953. S. 41 ff.
4
Vgl. Arthur Engelbert: Conrad von Soest – Ein Dortmunder Maler um 1400. Dortmund. Köln 1995. S. 128 f.
5
Vgl. Brigitte Corley, a.a.O., S. 77 ff.
6
Arthur Engelbert, a.a.O., S. 22
7
Vgl. Brigitte Corley, a. a. O., S. 149 ff.
8
Vgl. Brigitte Corley, a. a. O., S. 155 ff.
9
Vgl. Brigitte Corley, a. a. O.., S. 156
10
Vgl. Brigitte Corley, a.a.O., S. 170
11
Vgl. Brigitte Corley, a.a.O., S. 174
12
Brigitte Corley, a.a.O., S. 189
13
Brigitte Corley, ebd.
14
Vgl. Brigitte Corley, a.a.O., S. 189
15
Schürmann kam aus Schüren bei Dortmund und unterhielt auch
als Soester Probst enge Beziehungen zur Reichs- und Hansestadt zu einer Zeit, in der Conrad dort lebte und arbeitete. Und unter Berücksichtigung gewisser von Kunstwissenschaftlern festgestellter malerischer Übereinstimmungen zwischen der Nikolaustafel und dem eindeutig Conrad zugeschriebenen Wildunger
Altar könnte man doch wieder vermuten, dass die Nikolaustafel
etwas mit Conrad zu tun hat. (Darüber wird übrigens unser ehemaliger Kollege Othmar Rütting im nächsten Jahr in der Soester
Zeitschrift ausführlichere und genauere Angaben machen.)
Geschichten aus der Geschichte dieser Schule
Von Schnürleibchen,
Schulspeisung
und einer
Starkarriere
Wir haben in alten Festschriften
und „Bierzeitungen“ geblättert,
wir haben Zuschriften erhalten,
wir haben ältere und jüngere
Ehemalige angesprochen und
angeschrieben – ganz willkürlich,
nach keinem bestimmten
Schema – und darum gebeten,
einmal zum Stift zu greifen bzw.
sich an den Computer zu setzen
und Erinnerungen an die Schulzeit auszugraben bzw. von sich
selbst zu berichten: Was aus mir
geworden ist ... So ist dieses
bunte Bündel von Beiträgen
entstanden, aus vielen verschiedenen Blickrichtungen, in ganz
unterschiedlichem Stil werden
hier Geschichten aus der
Geschichte dieser Schule erzählt.
65
Über die allmähliche Lockerung des Schnürleibchens
Ilse Maas erinnert an die Pädagogin Elisabeth Altmann
Elisabeth Altmann
Mit dem Namen Elisabeth Altmann verbindet sich ein ganzes Kapitel Soester und preußischer Schulgeschichte. Sie gehörte zu den
ersten Lehrerinnen des Landes mit Examen
für Handarbeit und Turnen, brachte den
Schulsport für Mädchen als ganz neues Fach
in unsere Gegend und machte sich einen Namen in der Frauenbewegung um Helene Lange. Ihr Leben spiegelt die Zeit, in der Frauen
begannen, einen Beruf zu erlernen und so
gewissermaßen das Schnürleibchen lockerten, das der Zeitgeist ihnen vorschrieb. – In
diesem Text, der im Juli 1993 in der Beilage
Heimatblätter des Soester Anzeigers erschien, erinnert die frühere Schülerin Ilse
Maas (Abitur 1966 in Lippstadt) an diese besondere Frau.
66
Am 1. Oktober 1879 trat Elisabeth Altmann als junge Lehrerin für die sogenannten „technischen Fächer“ an der gerade drei Jahre alten Städtischen
Mädchenschule am Hohen Weg ihre erste Stelle an.
Was heute nicht eben aufregend klingt, das erhitzte
damals die Gemüter. Das Turnen an Mädchenschulen, noch dazu bei einer Lehrerin, das waren Reizworte jener Zeit, die heftig diskutiert wurden.
Allein die Vorstellung, dass sich Frauen und Mädchen beim Sport als Wesen mit Körper aufführen
könnten, galt als unzüchtig, wenn nicht gar sittenlos.
Die Weiblichkeit der Oberschicht wurde von klein
auf zu schicklichem Stillsitzen erzogen. Das führte
verbreitet zu ernsthaften Gesundheitsschäden, wie
Rückgratverkrümmungen und Kreislaufproblemen.
Schäden an inneren Organen kamen hinzu, da
die weibliche Gestalt sich gewissermaßen als Symbol
ihrer Situation in besagtes Schnürleibchen zu zwängen hatte, das sie bis zur Luftnot einengte. Turnunterricht für Mädchen wurde also regelrecht medizinisch dringlich. Aber es dauerte noch lange, bis
Frauen ihn erteilen durften. Schließlich gestand man
es ihnen zu, weil Männer womöglich nicht „frei von
lodernden Leidenschaften“ waren.
Mathilde Johanna Elisabeth Altmann gehörte
dann zu den allerersten Frauen in Preußen, die sich
zu dem heiß umstrittenen Beruf der Turnlehrerin
■ Der wahre Grund
der Frauenbildung
Wozu brauchen Mädchen überhaupt Bildung?
Nun, der deutsche Mann soll „nicht durch die
geistige Kurzsichtigkeit und Engherzigkeit seiner
Frau an dem häuslichen Herd gelangweilt und in
seiner Hingabe an höheren Interesse gelähmt“
werden – so die Denkschrift der Mädchenschulpädagogen aus dem Jahr 1872.
ausbilden ließen. Sie wurde 1856 als Tochter eines
Gastwirtes in dem Städtchen Sorau im heute polnischen Teil der Niederlausitz geboren. Nach der
Schulzeit brauchten ihre Eltern sie zunächst als
Hilfskraft zu Hause. Dann aber erwischte sie einen Zipfel Emanzipation, als in Berlin an einem
privaten Institut ein Halbjahreskursus für Technische Lehrerinnen eingerichtet wurde. Im Mai
1879 machte sie dort ihre Prüfung.
Ihre ersten Turnstunden in Soest erregten Aufsehen. Das „wohllöbliche Curatorium“ der fünf
Ratsherren, die die Schulaufsicht über die Städtische Mädchenschule ausübten und Vertreter der
Regierung kamen zur Visitation. Schließlich war
Soest in weitem Umkreis die erste Stadt, wo dieses Neuland betreten wurde. Die preußische Regierung machte erst 1894 dieses Schulfach zum
Regelunterricht an Höheren Mädchenschulen.
Die neumodische Körperertüchtigung hielt dann
aber die Beteiligten noch weit davon ab, übermütig zu werden. Mit 10 bis 15 Kilogramm Kleidung
am Körper führten sie in Zucht und Ordnung
Übungen aus, die den Kasernenhofdrill fröhliche
Urständ feiern ließen. Aber das Schnürleibchen
wurde ganz allmählich gelockert!
Elisabeth Altmann suchte die Unterstützung
von Weggenossinnen. Sie engagierte sich in einem Kreis um Helene Lange bei der Gründung
des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverbandes. Fünf Jahre später, 1895, rief sie den Verband
der Technischen Lehrerinnen Preußens ins Leben. Der Kampf für die Frauenrechte blieb dabei
sehr gemäßigt. Sie akzeptierten klaglos, dass Lehrerinnen viel weniger Gehalt bekamen als ihre
Kollegen und bei der Heirat ihre Stelle verloren.
Sie hat sich auch als Autorin pädagogischer
Fachliteratur einen Namen gemacht. Besonders
für den Handarbeitsunterricht verfasste sie vielgelesene Schriften. Im Ersten Weltkrieg gab es
dann nur noch ein Ziel bei der Arbeit mit der Nadel: Dinge für die Soldaten an der Front herzustellen. Elisabeth Altmann – und ihre Schülerinnen – zeigten auch hier Einsatz, was ihr 1918 ein
Verdienstkreuz eintrug.
Bis 1922, über 40 Jahre also, unterrichtete sie
an ihrer Soester Schule. Sie wohnte Jakobistraße
3, später Freiligrathstraße 7. Im Alter zog sie in ein
Bielefelder Stift. Sie starb am 4. Juni 1943 und
wurde in Soest bestattet. Seit 1986 unterhält die
Stadt Soest die kleine Grabstätte.
Rückblick auf ein bewegtes Leben:
Elisabeth Altmann im Alter
67
Leise, wie Mäuslein, am Direktorzimmer vorbei
Die Abiturientia 1934 blickt nach 55 Jahren zurück
Im Jahre 1989 traf sich am runden Tisch im
Direktorzimmer des Convos ein Clübchen älterer Damen: der Abiturjahrgang 1934. Man
saß bei Kaffee und Tee und tauschte Erinnerungen aus – eine der Anwesenden hatte folgende Ansprache formuliert:
Dass wir uns heute zum 55. Abitur in dieser neuen
Schule versammeln, hat seinen besonderen Sinn.
Wir möchten damit dokumentieren, dass wir alten
Abiturientinnen in einer Art Tradition die alte mit
der neuen Schule in Verbindung bringen wollen.
Am 28. Februar 1934 überreichte man uns das
Zeugnis der Reife. Zwölf waren wir und sind heute
noch zehn, die nach 55 Jahren an die gemeinsame
Schulzeit zurückdenken wollen. – Ein besonderes
Gedenken gilt in dieser Stunde unseren beiden Mitschülerinnen Ida Flüchter und Dita Grage, die früh
durch den Tod aus unserer Mitte gerissen wurden.
Ich will nun versuchen, in großen Linien unseren
Schulweg nachzuzeichnen:
Schulanfängerinnen (Sexta) 1925
68
Drei von uns marschierten als kleine schüchterne Mädchen 1925 zum ersten Mal in das hohe Haus
am Hohenweg. In der Untersekunda kamen die
Schülerinnen vom Hildegard-Lyzeum dazu – und in
der Oberstufe die Damen aus Lippstadt und Werl.
Zwei Fragen möchte ich stellen:
1. Was war das Typische im Schulgeschehen jener
Zeit zwischen 1925 und 1934?
2. Was ist geblieben aus den neun Jahren gemeinsamer Schulzeit?
Zu 1: Nach einigem Nachdenken und Vergleichen
mit heutigen Schulverhältnissen ist es wohl dies: Ein
ausgewogenes Verhältnis von Ordnung, Disziplin
und Autorität auf der einen Seite – und auf der anderen ein großes Maß an Freiheit und Vertrauen im
Verhältnis Lehrer-Schüler.
In der ersten Stunde der Woche versammelten
wir uns in der Aula zu einer Morgenandacht, in der
ein Lehrer uns einige besinnliche Gedanken für den
Weg in die Woche mitgab. In der ganzen Schule galt
das Schweigegebot, d. h. auf Fluren und Treppen
schlichen wir wie Mäuslein – schön zu zweien aufgestellt – leise am Direktor-Zimmer
vorbei. Aber dann in den Deutschoder Religionsstunden waren wir
von einer Kühnheit in der Meinungsäußerung, die der freien
Atmosphäre des modernen Unterrichtsstils wohl kaum nachsteht.
Herrlich waren die Diskussionen
zwischen Lene und dem Chef über
den „Arier-Paragraphen“.
Zu 2: Was ist geblieben aus der
Schulzeit? Als Erinnerung und als
Lebenshilfe? Es ist nicht in erster Linie der Lernstoff – so solide auch
die Auswahl, die Darbietung und
der Fleiß der Schüler waren. Es sind
die Lehrer, die ihn uns darreichten.
Abitur 1934 mit Schulleiter Dr. Oberbeckmann im Hotel Overweg
Denken wir nur an die hochdramatischen EnglischStunden, in denen Frau Dr. Wolke „Scarlett Letter“
vorn am Pult inszenierte! Oder wenn Fräulein Otte
die Romantiker auftreten ließ: den Achim von Arnim mit dem Ruf: „Ach, doch im Arm ihn!“ Heinrich Isenbeck ließ Goethe am Möhnesee wandernd
die Natur erleben. Später fuhr der gleiche Lehrer mit
uns nach Weimar, um uns an Ort und Stelle mit den
großen Geistern bekannt zu machen.
Gar vergnügliche Tage verbrachten wir mit unseren Lehrern in der Jugendherberge Brilon. So wurde
das Verhältnis zwischen uns und unseren Lehrern
von Jahr zu Jahr vertrauter, fast wie in einer großen
Familie. Als unser Klassenlehrer seine Zwillinge bekam, brachten wir ihm eine Wiege ins Haus; und
den ersten Sohn unseres Chefs hat Else Schulte treu
verwahrt. Unser verehrter Herr Direktor Dr. Oberbeckmann hat uns mit Nachdruck einen Vers eingeprägt:
Der eine fragt: „Was kommt danach?“
Der andre fragt nur: „Ist es recht?“
Und also unterscheidet sich
der Freie von dem Knecht.
Er selbst wurde uns Vorbild, der nach diesem
Motto im Dritten Reich und danach wie selten einer
Zivilcourage gezeigt hat.
Es gäbe noch vieles zu erzählen aus jener sorglos
glücklichen Schulzeit. An alle unsere Lehrer denken
wir dankbar zurück. Das beste aber, das uns blieb, ist
die Gemeinschaft der Klasse, die immer lebendig geblieben ist. Und je älter wir werden, desto enger wird
der Zusammenschluss. Freud und Leid haben wir
miteinander getragen. Auch die Verbindung zu unseren jüdischen Klassenkameradinnen blieb lebendig, z. B. durch Besuche in Israel.
Und immer, wenn unsere alte Klasse beisammen
ist, ist es wie ein Zu-Hause-Sein unter Geschwistern.
Da fällt mir ein Vers von Hermann Hesse ein:
Wo befreundete Wege zusammenlaufen, da sieht die
ganze Welt für eine Stunde wie Heimat aus.
Zum Abschluss möchte ich uns – in abgewandelter Form – einen Gedanken von Romano Guardini
mitgeben:
Dies ist wohl einer Klassengemeinschaft tiefster Sinn:
dass einer den anderen begleitet auf dem Wege nach
dem ewigen Zuhause.
69
Unterricht zwischen Bombenalarm und Ernteeinsatz
Hildegard Awater erinnert an die Schulzeit von 1933 bis 1945/46
„50 Jahre danach“ ist eine kleine Veröffentlichung betitelt, in der die Schülerinnnen des
Abitur-Jahrgangs 1945/46 ihre Erinnerungen
sammelten. Zum Auftakt hat Hildegard Awater (Abitur 1946) die „12 Jahre Schule im
Dritten Reich“ im Überblick dargestellt.
Beamtentöchter, die die Sexta im Hildegardlyzeum
absolviert hatten, dazu. Den Beamten war es ja nicht
mehr erlaubt, ihre Kinder in eine Schwesternschule
zu schicken. Ostern 1939 wurde dann das HildegardLyzeum endgültig geschlossen und alle Schülerinnen
in die Städtische Schule überführt, die nun „Oberschule für Mädchen“ hieß. Als einzige vertraute Lehrerin ging Frau Dr. Merten mit. Hell im Bewusstsein
Hitler war acht Wochen an der Macht, da schulter- ist noch der Umzug vom Hohen Weg zum Paradieten wir zum ersten Mal unseren Ranzen; fünf Wo- ser Weg: Im großen Möbelwagen durften wir mehrchen vor Kriegsende – am 31. März 1945 – erhielten mals den Weg von einer Schule zur anderen machen.
In den Sommerferien 1939 brach der Zweite
wir das „Zeugnis mit Reifevermerk“. Dazwischen lagen zwölf Jahre Schule, in denen sich die Ereignisse Weltkrieg aus, das Schulgebäude am Paradieser Weg
des Dritten Reiches mehr oder weniger dramatisch wurde als Lazarett beschlagnahmt, und nach den
verlängerten Ferien fanden wir uns im Archigymnawiderspiegeln.
Die Erinnerung geht zurück an die ersten Schul- sium wieder.
Dort gab es Schichtunterricht – ein besonderer
tage, als die Welt noch in Ordnung war: Lehrer aus
altem Schrot und Korn schirmten uns während der Reiz, da wir in den Tintenfässern (die es damals noch
Grundschulzeit ab gegen die negativen Einflüsse des in den Bänken gab) Nachrichten für die Jungen
Dritten Reiches. 1937 kam der Übergang zum Ober- hinterlegen konnten, die den gleichen Klassenraum
lyzeum am Hohen Weg. Ein Jahr später stießen die benutzten – sehr zum Missfallen der Lehrer, die eine
große Untersuchung starteten, wer
denn wohl an dieser Schandtat beteiligt gewesen war!
Mit verkleinertem Kollegium – die
männlichen Lehrkräfte waren zum
Teil Soldaten geworden – ging der
Unterricht weiter. Glücklicherweise
zog das Lazarett am Paradieser Weg
bald wieder aus – und wieder war ein
Umzug fällig.
Bis 1941 waren wir in eine A- und
eine B-Klasse geteilt worden, die Klasse 5 (Obertertia) wurde in eine Mammutklasse zusammengelegt unter der
Regie von Direktor Ferchland, der
wohl glaubte, als Respektsperson notwendig zu sein. Beim Übergang in die
Oberstufe gab es eine neue Teilung in
Arbeitseinsätze machten dem Unterricht vorzeitig ein Ende
70
Musik unterm Hakenkreuz – das Schulorchester
einen hauswirtschaftlichen und sprachlichen Zweig.
Für die S-Klasse bedeutete das zwei neue Fremdsprachen: Latein und Französisch. Bis dahin durften
wir ja nur Englisch lernen, da Hitler das Bildungsangebot an den höheren Schulen rigoros zusammengestrichen hatte – darum fehlte auch die
Untersekunda. (Frau Dr. Wolke war damit gar nicht
einverstanden: sie gab freiwilligen Französischunterricht in der Klasse 4 für interessierte Schülerinnen.)
In Werl und Lippstadt waren inzwischen die letzten Ordensschulen geschlossen worden. So kamen
die Schülerinnen zu uns nach Soest. In den Industriestädten wurden wegen der vermehrten Luftangriffe Kinder und Jugendliche evakuiert: Aus Bochum, Essen, Duisburg, Hamm kamen neue Mitschülerinnen dazu, die in den Dörfern um Soest eine neue Bleibe fanden.
Rückschauend wundert man sich, wie viel in diesen unruhigen Jahren an Wissen vermittelt werden
konnte, obwohl wir in den Nächten nur wenig Schlaf
bekamen und der Unterricht bei Tage durch die sich
mehrenden Fliegeralarme häufig unterbrochen wurde, obwohl der BDM uns beanspruchte und wir
beim Rübenverziehen und Ernteeinbringen helfen
mussten.
Im Sommer 1944, beim Übergang in die Klasse 8,
griff der Krieg auch massiv in die Klassengemeinschaft ein. Einsätze in Industrie und Landwirtschaft
und schließlich die Einberufung in den Arbeitsdienst
machten dem Unterricht vorzeitig ein Ende. Die
letzten Kriegsmonate erlebten die meisten irgendwo
in Deutschland. Im Mai 1945 traten sie zu Fuß den
langen Weg in die Heimat an, wo manche erst nach
Wochen ihr – zum Teil zerstörtes – Elternhaus wiederfanden.
Im Jahr 1945 blieben die Schulen geschlossen.
Anfang 1946 erlaubte die Militärregierung die stufenweise Wiederöffnung – mit gereinigtem Lehrstoff.
Für diejenigen, die nur das „Notabitur“ hatten, wurde ein Förderkurs eingerichtet, der in neun Monaten
zur Hochschulreife führte. 44 junge Damen fanden
sich ein, teils aus den alten Klassen H und S, teils am
Ende des Krieges nach Soest verschlagen. Die Lehrer
fanden eine Jugend vor, die mit Feuereifer nachzuholen suchte, was ihr im Dritten Reich vorenthalten
worden war.
Unvergessen die erste Begegnung mit Gertrud
von le Fort und Werner Bergengruen, unvergessen
auch die ersten Kenntnisse über die Kernspaltung.
Dass wir zeitweise in kalten Räumen saßen, nur ein
wenig gewärmt durch einen Toaster, den Gisela Sch.
zur Verfügung gestellt hatte, wen kümmerte es!
Der große Hunger wurde durch die Schulspeisung gestillt – abwechselnd Erbsbrei und eine Art
Schokoladensuppe. Frau Dr. Wolke und Direktor
Stopp, der den Lateinunterricht bei uns gab, regten
einen Tanzkurs an mit dem Parallelkurs des Archigymnasiums So lernten wir nachmittags beim alten
Herrn Streil Fox und Swing. Beim Schlussball im
Domhof drängten sich Amis dazwischen trotz Fraternisierungsverbots. Befürchteten Unannehmlichkeiten gingen wir aus dem Weg, indem die Fete kurzerhand abgebrochen wurde.
In den letzten Oktobertagen 1946 wurde die Reifeprüfung abgelegt, mit hervorragenden Ergebnissen, wie es sie nach Aussagen der Lehrer in einem
einzigen Jahrgang noch nicht gegeben hatte.
71
Maria, in Wolldecken gewickelt
Gonda Schädler (geb. Schüttfort) erinnert sich an drei Ereignisse
Das Städtische Mädchengymnasium zog
1939 in das Gebäude des 1895 von den
Schwestern der christlichen Liebe gegründeten Lyzeums St. Hildegard ein; das Gebäude
war 1928 errichtet worden. Die Nazis strichen
1933 die Zuschüsse, Ostern 1938 erfolgte die
Schließung der Frauenschule, im Jahr darauf
die Auflösung des Lyzeums. („Das Besitztum
mußte zwangsweise an die Stadt Soest verkauft werden“, schreibt Propst W. Dornschneider 1.) Gonda Schädler – Abitur 1951,
heute Bochum – erinnert sich.
Im März 1951 absolvierte ich am Neusprachlichen
Mädchengymnasium Soest mein Abitur. Das Schulgebäude war mir lang vertraut: Dort war ich schon
zusammen mit meiner Schwester Monika in den
Kindergarten gegangen, während meine beiden älteren Schwestern das Lyzeum St. Hildegard besuchten, wie diese höhere katholische Mädchenschule
(mit Frauenschule und Handarbeitsschule) damals
hieß. Drei Ereignisse habe ich besonders in Erinnerung behalten:
Klassisch: Eine Abiturientia lädt ein ...
72
Alle weinten
1938 erfolgte die „Auflösung“ – ich war damals acht
Jahre alt und erinne mich noch genau! Auf der Treppe von der Kapelle herunter bis zur Tür knieten die
Schwestern sowie etliche Anteilnehmende, auch unsere Familie, mit brennenden Kerzen in den Händen. Ein Geistlicher trug das Allerheiligste feierlich
die Treppe hinunter nach draußen. Alle weinten.
Wir Kinder haben damals nicht genau begriffen,
um was es ging, aber die große Trauer darüber, dass
die Kapelle nun „leer“ sein würde und alle Schwestern weg mussten, hat uns ergriffen.
Eine Madonna fehlte
Eine weitere Erinnerung betrifft den Schulgottesdienst nach dem Krieg. Die Kapelle der Nonnen war
zur Aula geworden. Der Altar wurde durch einen
Vorhang verdeckt, wenn der Raum als Aula genutzt
wurde. Sonntags wurde dort auch die Messe gefeiert,
da nach den Bombenangriffen im Patrokli-Dom
kein Gottesdienst möglich war. (1967 wurde die Heilig-Kreuz-Kirche eingeweiht am Paradieser Weg.)
Mittwochs zur Schulmesse hatte ich für Blumenschmuck zu sorgen. Auf dem Altar stand ein Kreuz,
aber wir hatten keine Marienfigur! Im Mai wollten
ein paar Mitschülerinen und ich einen Maialtar im
Chorraum gestalten. Wir fragten nach und wollten
gerne die Maria aus dem Dom haben, die heute in
Hl. Kreuz steht; eine mittelalterliche geschnitzte Madonna.
Ob der damalige Küster Kröger uns nun tatsächlich diese wertvolle Figur gegeben hat oder eine andere, weiß ich nicht mehr genau. Jedenfalls haben
wir 1947 eine Marienstatue in Wolldecken gewickelt
vom Dom zur Schule gebracht, dort aufgestellt und
geschmückt.
Lernen unterm Dach, ganztägig
Im Winter 1950/51 hatten zwei meiner Mitschülerinnen (Ursula Hilgenstock und Liesel Wallner) die
Idee, statt täglich mühsam als Fahrschülerinnen zur
Schule zu kommen, im Schulgebäude auch zu wohnen! Frau Dr. Wolke hatte nichts dagegen und gab
ihre Erlaubnis.
Oben unter dem Dach in den kleinen Zimmern
war es warm, Wasser gab es auch. Meine Eltern stellten zwei Betten und Matratzen, alles wurde per
Handwagen zur Schule gebracht. Die beiden zogen
kurzerhand ein und konnten, oben unterm Dach,
nun viel besser für das Abitur lernen.
1
St. Patriokli Soest, 1845-1995 (S. 205)
Kleine Geschichten
Vor den Toren der Metaphysik
■ Nicht immer waren die Zensuren gut, aber diesmal war’s eine glatte Eins. Was mich jedoch besonders beeindruckte, war der Satz von Frl. Dr.
Merten unterm Aufsatz: „Der Verfasserin ist es gelungen, vor die Tore der Metaphysik zu gelangen.“
Zwar wusste ich nicht, was Metaphysik war, aber da
gab’s ja den Brockhaus oder, noch einfacher, einen
Vater vom Fach ... Ich fragte Papa.
Irgendwie merkte ich an seinem Schmunzeln,
dass er’s nicht so ganz ernst nahm, doch gab er sich
Mühe, mir den Begriff lang und breit zu erklären.
So ganz verstand ich das Ganze danach trotzdem
nicht, aber ich merkte schon, dass es etwas „Erhabenes“ war. Also ging ich weiterhin voller Stolz und
geschwollener Brust (so weit die mit etwa 15 Jahren überhaupt vorhanden war) einher ... bis, ja bis
meine sechs Jahre ältere Schwester, die damals
schon ganz schön zynisch sein konnte, mich dauernd damit aufzog. Etwa mit Bemerkungen wie:
„Helga spinnt mal wieder vor den Toren der Metaphysik, anstatt mir beim Abtrocknen zu helfen.“
Bis heute fühle ich beim Wort „Metaphysik“,
und mag es in noch so einem seriösen Zusammenhang stehen, ein leise glucksendes Schmunzeln in
mir aufkommen.
Helga Paradies, geb. Dietrich
73
Welch ein Schatz, das neue Lehrbuch!
Elfriede Bohs (geb. Risse) über die Liebe zum Buch und zur Literatur
Die gebürtige Soesterin Elfriede Bohs, Abiturjahrgang 1952, lebt heute in Warstein. Sie
arbeitete – „Studieren blieb ein Traum; das
konnten wir uns finanziell nicht leisten!“ – als
Angestellte in einer Bank, beim Finanzamt
und später beim Kreis Soest.
Radtour nach Tecklenburg (mit Frau Blömker) 1949
Frau Rethmann
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Das Jubiläum des Conrad-von-Soest-Gymnasiums
ruft Erinnerungen an meine Schulzeit wach. Sie begann im Sommer 1942 an der, wie es damals noch
hieß: „Oberschule für Mädchen“. Ich habe mich gefragt, was ich neben einer guten Allgemeinbildung,
dem Fundament für den weiteren Lebensweg, neben
schönen und schmerzlichen Erinnerungen und einigen bis heute bestehenden Freundschaften für
meinen ganz eigenen persönlichen Lebensbereich
aus dieser Zeit mitgenommen habe.
Das ist zuallererst meine Liebe zum Buch, zur Literatur. An meine Deutschlehrerinnen und ihre Art
uns Lektüren nahe zu bringen kann ich mich noch
heute gut erinnern. Da war zunächst Frau Rethmann, durch die wir in der Mittelstufe den „Pole
Poppenspäler“ kennen lernten und etwas „Aus dem
Leben eines Taugenichts“ erfahren durften. In der
Oberstufe wurde dann Frau Blömker unsere
Deutschlehrerin.
Neben den Klassikern tauchten nach 1945 ganz
neue Namen am Literaturhimmel auf. Wir lasen die
„Hirtennovelle“ von Ernst Wiechert. Die Namen
amerikanischer Autoren wurden bekannt. Leider
waren ihre Bücher für eine Schülerin unerschwinglich; die einzige Möglichkeit an diesen Lesestoff zu
kommen war, das Buch in der Städtischen Bücherei
auszuleihen – und ab 1950 gab es erstmals preisgünstige Ausgaben in der rororo-TaschenbücherReihe.
Wenn man live erleben wollte, wer sich hinter
dem einen oder anderen berühmten Namen verbarg, konnte man zu sehr erschwinglichen Preisen
die Dichterlesungen der Ritterschen Buchhandlung
besuchen. Theaterbesuche zur Abrundung eines literarischen Themas waren noch außergewöhnlich
und mussten mit einigen Mühen erkauft werden:
So war die Krönung einer zweitägigen Fahrradtour nach Tecklenburg der Besuch des „Sommernachtstraums“ auf der Freilichtbühne. Zwei Jahre
später folgte eine Busfahrt nach Recklinghausen zu
den Ruhrfestspielen. Wir standen dicht gedrängt auf
der Galerie und erlebten eine, wie mir schien, atemberaubende „King Lear“-Aufführung. Diese beiden
Shakespeare-Inszenierungen waren Initialzündungen zu einer immer noch andauernden Freude am
Theater.
Meine zweite große Liebe, die mich aus meiner
Schulzeit begleitet, ist zwar auch mit einem Buch
verknüpft, berührt aber einen ganz anderen Bereich.
Nach 1945 mussten für die meisten Unterrichtsfächer neue Lehrmittel selbst erstellt werden, viele alte
Texte wurden abgeschrieben. Ich erinnere mich noch
genau an den Tag, als wir unser erstes „richtiges“
französisches Lehrbuch bekamen, einen Schatz, der
sorgfältig durchgeblättert wurde. Auf der Rückseite
des Einbanddeckels: ein Bild vom „Mont-Saint-Michel“. Unser Französischlehrer, Direktor Ferchland,
Abiturientia 1952 (E. Risse 2. v. r.)
erzählte von diesem berühmten „Heiligen Berg“ an
der Grenze zwischen Normandie und Bretagne. So
kurz nach dem Krieg erschien eine Reise nach
Frankreich noch utopisch, doch immer wenn ich
während des Unterrichts meine Gedanken schweifen ließ – meine Begeisterung für die französische
Sprache hielt sich damals noch in engen Grenzen –,
träumte ich davon einmal in meinem Leben diesen
Berg zu sehen und in der Kirche zu stehen. Es sollten
einige Jahre vergehen, bis dieser Wunsch in Erfüllung
ging.
Als die Zeit der französischen Lektüren kam und
Herr Ferchland uns das Land des „Tartarin de Tarascon“ und die Mühle Daudets in der Provence in lebendigen Bildern beschrieb – er hatte einen Teil seines Studiums dort verbracht, liebte das Land und die
Menschen –, habe ich mir immer wieder gewünscht
„Heiliger Berg“: Mont-Saint-Michel
auch das einmal mit eigenen Augen zu sehen. Mit einem Mal interessierte mich auch die französische
Sprache und Literatur, die den Blick auf ein faszinierendes Land und seine Menschen eröffnete.
Im Laufe der Jahre bin ich oft in Frankreich gewesen, an allen Orten, die ich seit meiner Schulzeit
so gerne sehen wollte, und jedes entdeckte Traumbild machte mich neugierig auf eine andere Landschaft, andere Menschen. Der Provence gilt meine
besondere Liebe. Die Männer, die im Herbst mit Gewehr und Beret Basque über die Felder streifen, erinnern mich noch heute an die Bilder von Tartarin.
Dank einer sehr regen und langjährigen Städtepartnerschaft zwischen Warstein und der kleinen
nordfranzösischen Stadt
St. Pol sur Ternoise habe
ich dort gute Freunde
gefunden, bei Besuchen
und langen Gesprächen
Menschen und Dinge,
die mir zunächst fremd
erschienen, kennen und
verstehen gelernt.
So kann ich rückblickend mit Freude und
Dankbarkeit sagen, dass
mir die Schulzeit Erfahrungsräume eröffnete,
die für mein ganzes späteres Leben bedeutsam
sein sollten.
Elfriede Bohs heute
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Kleine Geschichten
Respektloser Endreim
■ In den Kriegsjahren wurde manche Stunde im
Keller verbracht. Wenn es Alarm gab, mussten wir
sehen, dass wir möglichst schnell nach unten kamen. Im letzten Kriegsjahr, als wir wieder einmal
ins Archigymnasium umgesiedelt waren (die Schule am Paradieserweg wurde wieder als Lazarett gebraucht) und mit der Sirene alles die Treppe hin-
unterstürzte, stand Fräulein Langenohl am Geländer und rief: „Schneller, schneller!“ Ein kleiner Sextaner drehte sich zu ihr um und sagte: „Die Ruhe
sei dem Menschen heilig, denn nur Verrückte haben’s eilig!“ Wer Fräulein Langenohl kannte, dem
blieb der Atem stehen vor so viel Respektlosigkeit.
Aber ehe die Dame eine Strafkanonade loslassen
konnte, war der Junge in der Menge untergetaucht.
Hildegard Awater
Deutliche Unterschiede in der Resonanz auf die „Quäkerspeise“
Heut’ ist die braune
Suppe dran ...
■ Ein Rückblick in Reimform
auf die Schulspeisung in
der frühen Nachkriegszeit
– von Lotte Kipp
Kaum ist verhallt der Klingelton,
wird's auf den Treppen lebhaft schon,
und alles rasch nach unten eilt,
denn: Schulspeisung wird ausgeteilt.
Und wie man deutlich schnuppern kann,
ist heut’ die braune Suppe dran!
Auch wir sind lange sprungbereit,
der Lehrer aber lässt sich Zeit,
er gibt uns erst noch Mathe auf –
doch dann geht’s ab in wildem Lauf!
Es klirren Töpfe, Löffel klappern,
die Schule dröhnt vom lauten Plappern,
wir tauchen unter in der Menge,
es herrscht entsetzliches Gedränge
wie immer vor den Austeil-Tischen,
bis dass ein Lehrer fährt dazwischen.
Nun heißt’s in Zweierreihen steh’n,
wer drängelt, muss ans Ende geh’n.
Fast zehn Minuten noch verstreichen,
bis endlich wir den Tisch erreichen.
Schwapp! gibt’s was in den Henkelmann,
dann fängt das große Löffeln an.
Von dieser Suppe, süß und fein,
könnt’s ruhig ein bisschen mehr noch sein
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– deshalb auch die lange Schlange.
Doch morgen dauert’s nicht so lange:
Wir brauchen nur kurz anzustehen,
wenn in den Töpfen ist zu sehen
die grüne Suppe mit dem Mais –
das ist vielleicht ’ne Quäkerspeis’!
Auch nach der fünften Stunde noch
kommt einem dieser „Fraß“ stets hoch.
Niemand ist darauf versessen,
lieber wird mal nichts gegessen!
Bei brauner Suppe hört man schreien:
Wer kann mir seinen Deckel leihen?
Die Bauerntöchter, wohlgenährt,
sind von der Speisung ausgesperrt,
doch tauschen wir oft in der Gruppe:
ein Wurstbrot gegen braune Suppe!
Bleibt für ’nen Nachschlag noch ein Rest,
beginnt erneut das Drängelfest,
und oft wird man dabei beschmiert,
doch das wird einfach ignoriert.
Nur Mutter hat schon oft gemeckert,
weil meine Kleidung war bekleckert.
Von grüner Suppe – ungeliebt –
es immer reichlich Nachschlag gibt,
und viele ziehen mittags dann
heimwärts mit vollem Henkelmann;
für die Familie zu Haus
ist das ein ganz besondrer Schmaus!
So holen wir uns jeden Tag
als „Pausenbrot“ ’nen Suppenschlag,
denn wir sind alle ziemlich dünn
– und da sind Kalorien drin!
Blechnapf und Löffel in der Schultasche
Hildegard Schmidt über ihre Schulzeit 1942 bis 1952
Die ehemalige Schülerin Hildegard Schmidt,
Jahrgang 1932, war später auch als Lehrerin
an unserer Schule, sie unterrichtete bis 1986
Mathematik und Erdkunde. Im folgenden
Text erinnert sie sich an ihre Schulzeit während und nach dem Krieg.
Nach bestandener Aufnahmeprüfung begann im
Sommer 1942 meine Schulzeit in der „Oberschule
für Mädchen“ in Soest. Es gab zwei Klassen, die l a
und die 1 b. Ich kam in die 1 a und hatte rund 40
Klassenkameradinnen. Unsere Klassenlehrerin war
Frau Langenohl. Unter den auswärtigen Schülerinnen gab es eine Gruppe aus Werl, da die dortige Ursulinenschule 1939 von den damaligen Machthabern geschlossen worden war.
Nicht nur die Schule, auch der Staat stellte Anforderungen an zehnjährige Mädchen. So mussten
wir einmal in der Woche zum nachmittäglichen
Treffen der „Jungmädchenschar“ antreten. Die regelmäßige Teilnahme wurde von Lehrkräften, die
dem damaligen System nahe standen, überprüft.
Von Zeit zu Zeit wurde zu Altmetall- oder Heilkräutersammlungen aufgerufen. Beliebt war das
Kartoffelkäfersuchen, fand es doch vormittags während der Unterrichtszeit im Klassenverband statt, ein
Ersatz für Wandertage.
Ab 1943 rückte der Krieg näher. Das Schuldach
hatte eine Sirene, Keller wurden Luftschutzräume.
Auch vormittags gab es Luftalarm. Soest galt noch als
sicher. So kamen aus den Ruhrgebietsstädten, auch
aus Münster, viele Schüler nach Soest. Sie fanden bei
Verwandten oder Bekannten Unterschlupf.
Als 1944 das Schulgebäude mit einem Lazarett
belegt wurde, zogen wir in das Archigymnasium und
hatten Schichtunterricht. In einer Woche wurde vormittags, in der nächsten am Nachmittag unterrichtet. Nächtlicher Fliegeralarm nahm zu. Waren wir
Klassenausflug 1948
(die 6a mit Klassenlehrer Ferchland)
gezwungen, wegen Fliegeralarms nach Mitternacht
längere Zeit im Luftschutzkeller zu verbringen, begann der Vormittagsunterricht erst mit der dritten
Stunde.
Am 5. Dezember 1944 legte ein schwerer Luftangriff Teile der Stadt Soest in Schutt und Asche. Die
Schulen schlossen ihre Pforten. Im Januar 1945 versuchte man wieder zu unterrichten, doch wurde der
Unterricht durch täglichen Fliegeralarm sehr gestört.
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Sommerfest 1948 – ein Schwank von Hans Sachs
(rechts Hildegard Schmidt)
Der Schulweg wurde besonders für auswärtige Schüler gefährlicher, weil tagsüber immer häufiger feindliche Flugzeuge am Himmel erschienen. Im Februar
bekamen wir noch ein Zeugnis. Dann hörte der
Schulunterricht zunächst einmal auf.
Erst am 25. Februar 1946 trafen wir uns im
Schulgebäude am Paradieserweg wieder. Zwei Klassenkameradinnen lebten nicht mehr. Die eine hatte
ihr Leben bei einem Tieffliegerangriff verloren, die
andere war nach schwerer Krankheit verstorben. Die
„Werler“ und auch einige Schülerinnen aus dem
Ruhrgebiet fehlten, sie besuchten wieder die Heimatschulen.
Drei Bauerntöchter von der Haar waren nun
auch in Werl im Internat der Ursulinen. Neu zu uns
kamen heimatvertriebene Schülerinnen aus Ost-
Klassenfahrt nach Saalburg 1950
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preußen und Schlesien. Eine andere
kam aus Wien. Sie und ihre Mutter
waren als Deutsche von dort ausgewiesen worden.
An der Schule herrschte Lehrermangel. Einige Lehrer waren noch
nicht aus dem Krieg heimgekehrt, andere noch nicht „entnazifiziert“. So
war das Unterrichtsangebot dürftig:
Unterricht nur in Deutsch, Englisch,
Mathematik, Erdkunde und Religion.
Unterrichtsstoffe, Lehrpläne und
Lehrbücher aus früheren Tagen mussten überarbeitet werden. Es herrschte
große Freude über den Schulneubeginn. Unsere Klassenlehrerin war Frau
Weitekamp, nach einem Jahr folgte
Herr Ferchland als Klassenlehrer.
Hochwillkommen als Zugabe zu den
üblichen schmalen Rationen war damals die Schulspeisung, eine warme Suppe, die in
der großen Pause verteilt wurde. Selten fehlten
Blechnapf und Löffel in den Schultaschen, dafür
sorgten schon die Mütter.
Am 19. Juli 1946 gab es ein Versetzungszeugnis.
Es wies einen feinen Unterschied zu früheren Zeugnissen auf. Waren wir bis dato „laut Entscheidung
des Direktors“ versetzt worden, so hieß es nun: „laut
Konferenzbeschluss versetzt“. Auch ein Zeichen für
beginnende Demokratie? Das Schuljahr 46/47 wurde zum Kurzschuljahr, da das Ende des Schuljahres
vom 1. August auf den 1. April vorverlegt wurde.
Langsam normalisierte sich der Schulalltag. So
wurde im Sommer 1948 ein Schulfest gefeiert. Buntes Treiben erfüllte das weitläufige Gartengelände der
Schule. Der Boxring des Soester Boxsportvereins
wurde ausgeliehen. Das war die Bühne, auf der viele Klassen Sketche oder Theaterstücke darboten.
Meine Klasse, die 6 a, hatte mit Frau Rethmann einen Schwank von Hans Sachs einstudiert.
Zu dieser Zeit änderte sich die Schulform. Aus der
„Oberschule für Mädchen“ wurde ein „Neusprachliches Mädchengymnasium“. Waren bisher die Jahrgangsklassen durchnummeriert worden, so erhielten sie jetzt die an Gymnasien üblichen Namen: Sexta, Quinta, Quarta usw.
Viele Mitschülerinnen aus beiden Klassen verließen im Frühjahr 1949 die Schule mit dem Zeugnis
der „Mittleren Reife“. Die Klassen „a“ und „b“ wurden zu einer Obersekunda mit 32 Schülerinnen zu-
Schriftliches Abitur 1952
Die Abiturientia 1952 mit Klassenlehrerin Blömker
sammengelegt. In der Oberstufe war Frau Blömker
unsere Klassenlehrerin. Die Klassengröße nahm
während der Oberstufenzeit stark ab. So waren wir
nur noch neun Oberprimanerinnen, die in die Abiturprüfungen gingen.
Klassenfahrten wurden ab 1949 wieder möglich.
So unternahmen wir im Herbst ’49 als Obersekundanerinnen eine zweitägige Fahrradtour nach Tecklenburg. Im folgenden Jahr gab es gemeinsam mit
der Oberprima eine mehrtägige Busfahrt zum Römerlager Saalburg im Taunus. Es war an unserer
Schule wohl die erste größere Klassenfahrt seit
Kriegsende.
1951 feierten wir den 75. Geburtstag der Schule.
Höhepunkt war die Aufführung der Schuloper „Des
Kaisers neue Kleider“, einstudiert von Musikdirektor Dr. Kraus. Beteiligt waren Schulchor, Schulorchester und Schülerinnen aus verschiedenen Klassen. Die Aufführung fand in der Turnhalle statt, die
über eine Bühne verfügte.
Dann kam das Abitur. Es begann mit einer Prüfung im Fach Sport. Schriftliche Prüfungen in
Deutsch, Englisch, Latein und Mathematik folgten.
Am 7. März 1952 wurde jeder Prüfling in drei Unter-
richtsfächern der Oberprima mündlich geprüft. Auf
die Wahl dieser Fächer hatten wir keinen Einfluss.
Erst unmittelbar vor jeder Prüfung wurde uns das
Prüfungsfach mitgeteilt. Am Abend des Tages gab es
neun glückliche Abiturientinnen:
Elisabeth Feldmann, Agnes Mense, Cilly Oeding
und Elfriede Risse waren seit 1942 meine Mitschülerinnen. Dorothee Meyer (aus Münster), Ursula
Kallabis und Ruth Knigge (beide heimatvertrieben)
kamen 1946 nach Soest. Annemarie Reinhardt war
erst seit Herbst 1951 in unserer Klasse; eine schwere
Krankheit hatte sie zu einer zweijährigen Schulunterbrechung gezwungen.
Schulzeit in unsicheren, schweren, wechselvollen
Jahren. Rückblickend kann ich nur sagen, dass es
trotz allem eine glückliche Zeit war. Das gilt besonders für die Jahre 1947 bis 1949. Wir waren jung,
unternehmungslustig, neugierig, lernbegierig und
wissensdurstig. Außerschulische Aktivitäten gab es
damals kaum. So hatte die Schule für uns einen sehr
hohen Stellenwert. In der Klasse herrschte ein guter,
kameradschaftlicher Geist. Allen Mitschülerinnen
fühlte man sich freundschaftlich verbunden. Diese
Verbundenheit hat die Zeit überdauert. So findet seit
fast 50 Jahren regelmäßig einmal im Jahr ein Klassentreffen statt.
Hildegard Schmidt auf dem Weg zum
Lehrerzimmer (Anfang der 80er Jahre)
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Das Geheimnis der überzähligen Vokabeln,
blauer Flecken und mangelnder Umgangsformen
Monika Bunte (geb. Schüttfort) hat fünf Geschichten aufgeschrieben
Aus der Erinnerung und nach einem Blick in
den Kalender hat Monika Bunte, Abitur 1953,
fünf kleine Geschichten aufgeschrieben, die
auch die Schattenseiten der (früheren) Schulzeit lebendig werden lassen.
Wie es kam, dass wir die Texte der
Abi-Lateinklausuren kannten
Großes Latinum! Wir hatten in jeder Woche sechs
Unterrichtsstunden, von Untersekunda bis Oberprima. In Unter- und Oberprima hatten wir Fräulein Stadtfeld. Sie war dünn, streng und humorlos.
Sie diktierte uns in der einen Stunde Vokabeln,
die wir zum nächsten Tag können mussten, denn
dann gab es den neuen Text, aber nicht noch einmal
die Vokabeln dazu. Am Jahresanfang 1953 waren es
nur noch wenige Wochen bis zum schriftlichen Abitur. Brigitte fragte uns:„Ist euch eigentlich schon aufgefallen, dass sie uns immer zwei oder drei Vokabeln
gibt, die im Text gar nicht vorkommen?“ – Nein, das
hatte außer Brigitte niemand gemerkt. Sie war es, die
über Wochen die überzähligen Vokabeln gesammelt
hatte, nach meiner Erinnerung waren es 12-15 Wörter.
Bei Brigitte zu Hause gab es lateinische Lektüren.
Brigitte hatte einen Vorschlag: „Ich bringe die Lektüren mit, und wir treffen uns am Nachmittag in der
Klasse und gucken, in welchem Text solche Vokabeln
vorkommen.“ Da saßen wir nun und gingen Zeile
für Zeile Dutzende von Lektüren durch, bis eine
schrie: „Ich hab’s!“ – Dieses unfassbare Glück!
Und kurz darauf direkt der nächste Treffer – Ich
hab’s! –, weil wieder einige der überzähligen Vokabeln in einem Text entdeckt worden waren. Wir waren schon recht müde, als wir den dritten Text fanden; da war das Glück schon nicht mehr so groß, da
hatten wir uns schon ans Finden gewöhnt.
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Grace Kelly hätte die Grünkern-Speise sicher besser
zuzubereiten gewusst ...
Nun ging es ans Übersetzen. Wir bauten gemeinsam die Fehler ein, die einfach da sein mussten, um
in der Nähe der Vorzensur zu bleiben. Wir schworen
heilige Eide, dass wir diese Fehler auch wirklich in
die Abiklausur einbauen würden. Ich glaube, wir ha-
ben uns alle daran gehalten, bis auf eine. Sie konnte es nicht lassen, trotz
schlechter Vorzensur eine makellose
Klausur abzuliefern. Sie kam dafür ins
Mündliche und musste büßen.
Zwischen schriftlichem und mündlichem Abitur ging es uns schlecht im
Lateinunterricht. Fräulein Stadtfeld
musste beim Korrigieren gemerkt haben, dass ihr wasserdichter Plan doch
irgendwie undicht geworden war. Aber
sie konnte nichts machen und sagte
nichts, und von uns hat auch keine etwas gesagt.
„Ich konnte das eben nicht!“
Sportabitur 1953 Ich war damals 19.
Ich las viel und bewegte mich wenig.
Das machte mich dick, und ich fühlte Letzte Schulstunden vorm Abi 1953 (Monika Schüttfort rechts)
mich auch so. In der Turnstunde trainierten wir fürs Sportabitur: Hocke über den Kasten. tung im Tornister. Ein Mädchen aus der Klasse verDer Kasten war groß und hart und hölzern, auch teilt in jeden Napf einen Schlag Schulspeisung. Wir
wenn er mit Leder gepolstert war. Ich fand ihn viel aßen alles in der Pause auf, und gelegentlich nahmen
zu hoch, trotz des kleinen Sprungbretts davor. Ich wir auch etwas mit nach Hause. Im großen Topf war
traute mich nicht, ganz hinüber zu hocken. Jedesmal entweder Schokoladenpuddingsuppe oder Vanillemusste ich die Füße ein kleines bisschen aufstellen puddingsuppe oder Grünkern, worüber wir lästeroder wenigstens mit den Zehen das Leder berühren, ten, weil uns das nicht schmeckte. Jedenfalls war den
sicherheitshalber.
deutschen Köchinnen das Kochrezept nicht bekannt,
Unsere Sportlehrerin war Frau Dr. H’Loch. Sie nach dem Grünkern hätte schmecken können. Die
trug einen blonden Knoten, und eine Strähne fiel ihr großen Töpfe wurden für alle Klassen mit irgendimmer ins Gesicht. Sie ließ mich gewähren bei der welchen Militärfahrzeugen angeliefert.
Hocke. Ich konnte das eben nicht.
Ich weiß nicht, ab wann es Schulspeisung gab,
Dann kam das Sportabitur. Alle Lehrer und Leh- und ich weiß auch nicht, wann sie aufhörte, vielrerinnen standen am Kasten und guckten zu. Frau leicht nach der Währungsreform? Gelegentlich fiel
Dr. H’Loch gab Hilfestellung. Sie hatte plötzlich har- auch das Wort Quäkerspeise, doch mit dem Wort
te Augen. Sie hatte sich in meinen Arm festgekrallt. Quäker wussten wir nichts anzufangen.
Sie stieß ein leises Hei! aus und zerrte mich mit eiEinige Jahre später gab es den hinreißenden Film
nem plötzlichen Ruck auf die andere Seite.
High Noon (Zwölf Uhr mittags), Grace Kelly ist daEinmal in meinem Leben bin ich über den Kasten rin die pazifistische Braut, die den Banditen ergeflogen, beim Sportabitur – am Arm hatte ich tage- schießt: als Quäkerin!
lang blaue Flecken.
Fünfzig Jahre später sah ich in Berlin eine kleine
Ausstellung über das Friedensprogramm der Quäker. Erst da wurde mir klar, welch unglaubliche geisDer göttliche Funken
tige Leistung darin steckt, unmittelbar nach Kriegsin jedem Menschen
ende die Kinder der Feinde zu füttern, weil auch in
Schulspeisung 1947 Ich sehe uns Schülerinnen in der ihnen „der göttliche Funke“ steckt. Der unerschütPause am großen Topf in der Klasse stehen. Wir ha- terliche Glaube an den göttlichen Funken in jedem
ben alle unseren Henkelmann dabei oder einen Menschen war die wunderbare Triebfeder für das
Napf, und ein Löffel gehört auch zur Grundausstat- humanitäre Handeln der Quäker.
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rerinnen muss es auf dem Weg zur Schule im Blickfeld gelegen haben. In der ersten großen Pause verließ eine Späherin den Schulhof (nicht erlaubt!) und
hielt Ausschau nach dem Schild.
Es war weg. Das war alles.
„Want of Manners“
Auszug aus dem Diarium der Autorin
„Filiale Kalkwerke“
Das tolle Gefühl einer kühnen, riskanten Tat Während der 11. Klasse/Obersekunda, das war im Jahr
1951, hatte ich angefangen, in einem kleinen Kalender Eintragungen zu machen. Unter dem 20. April
finde ich: „Schild: Filiale Kalkwerke“. Mit diesem
Eintrag hatte es folgende Bewandtnis:
Wir hatten uns furchtbar, wirklich furchtbar über
unsere Lehrerinnen – und vielleicht auch die Lehrer
– geärgert. Worum es ging, weiß ich nicht mehr zu
sagen. Jedenfalls hatten wir versucht zu diskutieren,
zu begründen. Vergeblich. Da verfielen wir auf eine
andere Form von Protest: Ich holte aus unserm
Keller eine große Holztafel, nach meiner Erinnerung
größer als DIN A1. Wir schrieben darauf: Filiale
Kalkwerke und versahen es mit einem Pfeil Richtung
Schule. Am Donnerstagabend hängte unsere Sportlerin Lotte Kipp das Schild an einem hohen Pfosten
am Sägewerk Ecke Paradieser Weg/Nöttenstraße auf.
Wir waren ein ganzer Trupp Mitschülerinnen, und
uns bewegte das tolle Gefühl einer kühnen und riskanten Tat. Was würde folgen?
Am Freitagmorgen auf dem Schulweg machten
sich alle Schülerinnen auf das Schild am Sägewerk
aufmerksam. Kichern und Staunen. Auch den Leh82
Mein Leben lang sind diese Worte in meinem Gedächtnis eingegraben Ich war Klassensprecherin in
der Obersekunda. Ich hatte für die Klasse etwas bei
Fräulein Dr. Merten erreichen wollen, ich war hartnäckig dafür und sie war hartnäckig dagegen und sie
beschwerte sich über mich bei der Direktorin Dr.
Wolke. Wir hatten bei ihr Englischunterricht, und sie
stellte mich zur Rede. Man stand ja damals noch auf,
wenn man aufgerufen wurde. Irgendwie prasselte die
Strafpredigt auf die ganze Klasse herab, aber ich
musste dabei stehen. Wörtlich: „Want of manners
heißt das in England, Mangel an Manieren ist das!“
Das Nächste weiß ich nicht mehr Wort für Wort,
obwohl es jetzt noch schlimmer kommt. Aber sinngemäß schloss sich an, das hinge wohl damit zusammen, dass da kein Vater wäre und dass der Vater bei
der Erziehung fehle. Peng, das saß!
Mein Vater war im Zweiten Weltkrieg beim Angriff auf Soest am 5. Dezember 1944 gefallen. Der
Satz hat mich zutiefst getroffen und mundtot gemacht. – Im Nachhinein empfinde ich die Schulerziehung als kleinmachend und unterdrückend.
„Mangel an Manieren“:
Schulleiterin Dr. Wolke, Kollegin Dr. Merten
„Krauser Sinn nur vereint sich
mit lockengetürmter Frisura“
Homerische Antwort der Schulleiterin Elisabeth Wolke auf ein Nikolauspäckchen
Auf den Hexameter greift Direktorin Wolke
zurück, um gereimt auf ein Schülerinnen-Geschenk zu reagieren. In ihrem kleinen Werk
sind zeitgemäße pädagogische Prinzipien
verpackt ...
Saget, Ihr strebsamen Töchter, der siebenten,
sprachlichen Klasse,
Wem ich den Einfall verdanke, mein Lob in Versen
zu singen,
Wie es dem griechischen Sänger Homeros nicht
besser gelungen?
Wohlan denn, so laßt mich versuchen, den Pegasus
auch zu besteigen
Und meinem Dank und der Freude gebührenden
Ausdruck zu leihen. –
So hört denn, Ihr bildungshungrigen Töchter
der Stadt und Umgebung,
Daß ich von Herzen mich freute, ob Eurer gelung’nen Bescherung.
Füllt doch nun würziger Duft der heimischen
Fichte mein Zimmer,
Lieblich sich mischend dem Duft der rotwangigen
Äpfel, der Plätzchen,
Die ich beim Öffnen des reizend geschnürten
Paketes entdeckte.
Heißhungrig stürzt ich mich auf die Parmänen,
die goldigen Früchte,
Löschten sie mir doch den Durst, den das Fieber
der Grippe verursacht.
Wahrlich, Ihr schöngeistgen Töchter der mir
anvertrauten Sieben,
Ohne Neid stell ich fest, welche Frucht der Deutschunterricht zeitigt,
Pflegt drum mit Eifer das Deutsche, das Intelligenzfach der Schule,
Seht Ihr doch selbst, welch reichen Gewinn er Euch
einbringt fürs Leben.
Hätt’ nicht das tückische
Fieber der Grippe ans
Bett mich gefesselt,
Wäre von mir auch zu
Nik’laus ein Gruß an
die Klasse ergangen.
Allzugern hätt ich im
Spiegel Euch Euer
Bildnis gezeiget,
Wie Ihr es sicher nicht
kennt, sonst würden
E. Wolke, verkleidet
nicht manche wie
Fohlen
Wiehernd und springend die Treppen im Schulhaus
hinabeil’n,
Oder die blonden Mähnen zu zügeln laut kreischend
nach Kämmen.
Burschikoses Verhalten erreget nur Anstoß und
Ärger,
Während die wohlbezopften und sinnig einhergehnden Töchter
Manchen wohlwollenden Blick der Eltern und
Lehrer einheimsen. –
Drum, Ihr weisheitshungrigen Töchter der sprachlichen Sieben,
Bleibet bescheiden im „Obergehäuse“ und seiner
„Behauptung“.
Krauser Sinn nur vereint sich mit lockengetürmter
Frisura,
Die einem nach echter Bildung strebenden Mädchen
nicht ziemet.
Was ich ansonsten zu sagen noch hätte, ist
schnellstens erledigt:
Wahret die Eintracht der Klasse, haltet zusammen,
wie’s üblich,
Damit eine Klassengemeinschaft zum Wohl der
Gesamtheit sich bilde,
Die bis zur „Reife“ gedeihe und wachse – im
„Schatten der Wolke“.
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Karneval? Keine Zeit
– denn das Abi ist nicht weit!
Wie die „Oberprima-Ballerinen“ von 1959 einmal den Ruhestand vorwegnahmen
Ina Prössdorf (geb. Richter) fasste für ein
Abitur-Wiedersehenstreffen eine besondere
Episode aus ihrer Schulzeit in Reime.
Frau Wolke plante Karneval
im Mädchen-Paradies, im großen Saal!
Die Damen hatten den Kopf ganz voll,
keine fand den Fasching toll:
Kavalieren in die Arme sinken,
tanzen, flirten, Limonade trinken?!
Dazu war nicht Lust, nicht Zeit,
denn das Abi war nicht weit!
Spielverderber wollt’ man auch nicht sein –
so fiel denn einer ’was Dolles ein:
„Als Omas schleichen wir zum Ball,
jeder sieht dann gleich im Saal,
die sind viel zu alt zum Tanzen,
runzlig, taube Pomeranzen,
mit Strickstrumpf, Hut und Pompadour
bringt man keine auf die Spur.
Viel zu müde schaun die aus,
die geh’n sicher gleich nach Haus!“
Doch anders kam’s – ganz urig, groß,
die Omas landeten famos!
Jeder wollte mal entdecken:
„Was kann unter Hüten stecken?“
Kein Tänzchen wurde ausgelassen,
die Omas konnten’s gar nicht fassen.
Ein Menuett, getanzt mit viel Gefühlen,
riss das Publikum von Stühlen.
So wurd’ es eine lange Nacht –
an’s Abi wurde nicht gedacht!
Uns’re Lehrer waren stolz:
„Der Jahrgang ist aus gutem Holz!“
Jetzt sind sie so alt wie auf dem Bild.
Sind weiser und leiser, weniger wild,
Brauchen Runzeln nicht mehr anzumalen,
können sich auf Lorbeern aalen,
sind im Ruhestand und haben Zeit!
Kinder, ist das Abi weit!
Sie schau’n zurück und sagen getrost:
Dank den Lehrern damals in Soest!
„Runzlig, taube Pomeranzen“,
die jungen Alten von 1959
Obere Reihe, v.l.n.r.: Ina Richter,
Elsbeth Berghoff, Uta Schmidt
(?), Christine Roschanski,
Annegret von der Vecht, Renate
Seelisch, Edda Wippermann,
Elke Kastien, Gisela Tewes
Untere Reihe: Elke Freiburg,
Rosemarie Brüggemann, Heidi
Körner, Karin Schmachtenberg,
Sigrun Pälmer
84
Nebenbei lernte ich melken
Marie-Luise Tolle (geb. Volmerich) sollte eigentlich nicht auf die „Höhere Schule“
Kurz vor ihrer Abreise in den Urlaub, nach einer Zeit besonders
hoher Arbeitsbelastung, hat MarieLuise Tolle (Abitur 1970), die Festrednerin der Jubiläumsfeierlichkeiten, es doch noch geschafft, einen
kurzen Text über ihren denkwürdigen Werdegang fertig zu stellen.
Nur ein Mädchen!
Eigentlich sollte ich nicht „auf die Höhere Schule“ – und schon gar nicht Abitur
machen. Aber vielleicht war genau das die
Antriebsfeder, die mein Leben entscheidend geprägt hat.
Für meine – übrigens sehr liebevollen
– Eltern war klar, dass ich als einzige
Tochter unseren Hof übernehmen würde.
Für eine Bäuerin reichte die Berwicker
Volksschule. Alles andere wäre unnütze
Zeitverschwendung. Dies entsprach den
traditionellen Rollenvorstellungen, die
1962 noch auf dem Lande herrschten, für
Mädchen sowieso.
Also blieb mir nichts anderes übrig, als
selbst die Anmeldung zum Gymnasium
zu unterschreiben. Dies erregte große
Heiterkeit, aber mit dem Erfolg, dass ich
doch mit meiner Freundin jeden Morgen
im Bus nach Soest fahren durfte – bis zur
Mittleren Reife. „Puddingabitur“ konnte
ja nicht schaden. So jedenfalls war die Planung.
Aber nicht meine. Ich ging gerne zur
Schule. Von vielen Lehrerinnen und Lehrern war ich begeistert. Nebenbei lernte
ich melken, Schweine füttern, Trecker fah-
Im Nyltestkittel mit amerikanischer Austauschschülerin
Anne aus Pasadena auf einem Trecker (1968)
85
ren usw. Obwohl ich diese Arbeit auch
gerne machte – ich wollte Lehrerin
werden!
Diesmal versuchten meine Eltern
eine liebe, kleine Bestechung: PH-Besuch in Hamm und Wohnen zu Hause hätten mir ein Auto beschert (1970
war das noch eine Sensation). Aber ich
wollte die Welt sehen und ein eigenständiges Leben führen. Das entsprach
1970 dem Trend bei vielen Abiturientinnen und Abiturienten.
So bin ich schließlich über Münster, Freiburg, Aachen, Geilenkirchen,
Düsseldorf in Hamburg gelandet.
Nur ein Mädchen?
„Frauen machen Neue Medien“. Marie-Luise Tolle (3. v. l.) mit
amerikanischen Referentinnen auf der Digitelle 2000
Lebenslaufskizzen
■ „Marie-Luise Tolle, Senatsdirektorin – geb. 1952 in
Nordrhein-Westfalen (Welver-Berwicke), verheiratet seit
1978 mit Dr. Arnold Tolle, Studium in Münster, Freiburg,
Aachen.
Nach siebenjähriger Tätigkeit als Gymnasiallehrerin in
Geilenkirchen (Englisch/Geographie) von 1985 bis 1999
für die nordrhein-westfälische Landesregierung tätig: vier
Jahre persönliche Referentin von Kultusminister Hans
Schwier. Seit 1992 unter anderem zuständig für den Themenbereich Gleichstellung, z. B. Entwicklung eines Konzeptes zur reflexiven Koedukation; weitere Schwerpunkte: Steigerung des Frauenanteils in schulischen Leitungspositionen und Förderung von Wissenschaftlerinnen an
den Hochschulen des Landes.
Neben den gleichstellungspolitischen Aufgaben parallel
immer auch für andere Politikbereiche zuständig: als Leitende Ministerialrätin für politische Planung, Gremienkoordination und Öffentlichkeitsarbeit, danach Entwicklung von innovativen pädagogischen Konzepten, u. a. für
Medienerziehung („Schulen ans Netz“), anschließend
Gruppe „Internationale Angelegenheiten“.
Seit 15. September 1999 Leitung des Senatsamtes für die
Gleichstellung, Hamburg.“
86
„Neue Wege, andere Perspektiven“, so
lautet eine Broschüre unseres Senatsamtes für die Gleichstellung Hamburg. Am 28. Januar 1999 fand ich in
der Zeit eine Stellenanzeige: „Senatsdirektorin gesucht“. Nach über 20 Jahren
in NRW reizte mich die Stelle. Nach einem erfolgreichen Assessment Center
– als erste Führungskraft der Hamburger Verwaltung – siedelten wir nach
Hamburg über.
Gleichstellungspolitik! Das soll spannend sein?
Als Beispiel seien zwei neue Projekte angeführt, die bundesweit Beachtung fanden:
■ Digitelle: Mit highheels auf dem Daten-Highway – Frauen in den Neuen
Medien, bundesweit die erste Messe
mit Kongress
Auf Anhieb kamen 3 000 Frauen.
■ TöchterTag: Väter
nehmen ihre
Töchter mit zur Arbeit, um Mädchen
auch an technische Berufe heranzuführen.
Viele Firmen folgten dem Aufruf,
ca. 4 000 Schülerinnen nahmen teil.
■ Im Internet finden Sie die Hamburger Gleichstellungsstelle unter:
www.hamburg.de/fhh/behoerden/sfg
„Ein deutsches Mädchen schminkt sich nicht!“
Gundel Rohe findet ihre Vergangenheit wieder
Die Buchhändlerin Gundel Rohe, Abiturjahrgang 1974, leitet heute die Rittersche Buchhandlung in Soest.
Nach langer Zeit habe ich mir mein „Zeugnis der
Reife“ wieder hervorgesucht. Nicht nur das AbiZeugnis, auch die späteren Abschlussbelege von
Schule und Hochschule waren jahrelang verschwunden, tauchten aber überraschend – ordentlich abgelegt in der Dokumentenmappe, einem Geschenk zum Abitur – vor circa fünf Jahren wieder
auf.
Ich hatte mich schon damit abgefunden, weder
den schulischen noch den beruflichen Werdegang
dokumentieren zu können und hoffte so nur, nicht
mehr in die Situation einer „Bewerberin“ zu kommen, denn ich war ja diesbezüglich formal ein
„Nichts“. Doch plötzlich hatte ich wieder eine Vergangenheit ... Eine Vergangenheit, in der z. B. das
Fach „Nadelarbeit“ (Klasse V-IX) mit der Note „befriedigend“ dokumentiert ist, ein Fach, in dem ich
ohne jeglichen Ehrgeiz die Doppelstunde absaß – die
Knopflöcher an dem selbstgenähten Kissenbezug
ribbelten sofort wieder auf, die Nähte saßen schief,
aber selbst dieser Bezug wurde voller Pietät in der
Wäschetruhe aufbewahrt – und vergessen.
Bei meiner handarbeitlichen Begabung war es
klar, dass nicht der F-Zweig – abwertend wurde der
Abschluss als „Pudding-Abitur“ bezeichnet –, sondern der sogenannte G-Zweig gewählt wurde. Die
Wahl zwischen F- und G-Zweig war auch eigentlich
die einzige Entscheidung, die uns Schülerinnen aufgebürdet wurde. Da gab es noch keine Leistungskurse und Wahlpflichtfächer, wir hatten alle Disziplinen bis zum bitteren Ende. Trotzdem zweifle ich
stark an, dass wir durch dieses Schulsystem eine größere Allgemeinbildung als die heutigen Abiturienten/innen erhielten, denen jene ja oft abgesprochen
wird.
Viele unserer Lehrer sind zeitlich ungefähr mit
unserem Abiturjahrgang in den Ruhestand verabschiedet worden. Viele von ihnen hatten noch die
Befangenheit der Kriegs- und Nachkriegsgeneration,
was zum Beispiel im Fach Geschichte dazu führte,
dass die Zeit des Nationalsozialismus im Unterricht
nicht behandelt wurde, sondern die Uhren spätestens in der Weimarer Republik stehen blieben, was
aber nicht nur für unsere Schule galt.
Die Deutschlehrerin maß meine Aufsätze an der
Fantasie und dem sprachlichen Vermögen meiner
Tante, die sie rund zwanzig Jahre früher unterrichtet
hatte. Auch gab sie uns 16/17-jährigen Mädchen
Weisheiten mit auf den Weg, die sich nicht nur für
uns schon sehr antiquiert anhörten, wie beispielsweise: „Ein deutsches Mädchen schminkt sich
nicht!“ So wurden unsere ersten Lidschatten- und
Lippenstiftversuche von ihr eigenhändig auf der
Schülerinnentoilette entfernt.
Erhalten derartige Erinnerungen durch die mittlerweile vergangene Zeit einen eher amüsanten Beigeschmack, so bleiben die engagierten und geschätzten Lehrer/innen zweifelsohne positiv im Gedächtnis haften: Der Physiklehrer, der so manchen
Nachmittag der Vorbereitung eines Versuchs opfer-
Aus der Arbeit der Theater-AG: Mario Werdan (l.) und
Katja Bock in der Maske (r.)
87
Schule heute: Szene aus „Heute wird improvisiert“ (Pirandello)
te, oder auch der Englischlehrer, der nicht nur als
Mensch geschätzt wurde, sondern auch den „Geist“
der Klassengemeinschaft förderte.
Dass es in unserem Jahrgang eine Gemeinschaft
gab, zeigte sich auch in der fast hundertprozentigen
Teilnahme am Wiedersehenstreffen 20 Jahre nach
dem Abi. Bei jeder Teilnehmerin war wirkliches
Interesse am Werdegang und den jetzigen Lebensumständen der Klassenkameradinnen vorhanden.
Es handelte sich nicht um ein nostalgisches Abgleiten in die schöne alte Schulzeit, nicht um das Kokettieren mit dem jetzigen Status und den bisher er-
Gundel Rohe
inmitten von Büchern in der „Ritterschen“
88
Monika Pendzialek in „Der Geizige“
brachten Leistungen. Freundschaftliche Offenheit
bestimmte den Abend.
Nach Lehr- und Wanderjahren in das heimische
Soest zurückgekehrt, ist auch bei mir die Verbundenheit mit der alten Schule noch da, auch wenn der
Kontakt nicht mehr über die Lehrer läuft und auch
das Gebäude neu ist.
Der Bonus meiner Erinnerung kann für das
Interesse an meiner ehemaligen Schule jedoch nur
die Basis sein, gefördert wird es heute durch Aktivitäten seitens der Schule und durch Lehrer/innenPersönlichkeiten, mit denen ich zumeist durch meinen Beruf Kontakt habe. So habe ich mehrmals Aufführungen der Theater-AG gesehen und neidvoll
darüber sinniert, warum so etwas zu meiner Zeit
noch nicht möglich gewesen ist. Auch hätte ich mir
eine derartig praxisorientierte Lehrstoffdarbietung
gewünscht, wie sie beispielsweise in den Biologie-Arbeitsgemeinschaften realisiert wird.
Dass das Fach Geschichte nicht nur Vergangenes
zum Inhalt hat, sondern auch völkerverbindend
über Vergangenes freundschaftliche Kontakte herstellen kann, hat das Conrad-von-Soest-Gymnasium
in den letzten Jahren wohl eindeutig unter Beweis
gestellt. Derartige „Highlights“ entstehen nicht von
selbst, sondern sind Ausdruck einer soliden Grundlagenarbeit und nach vorn schauenden Ausrichtung.
Ich wünsche meiner ehemaligen Schule und den
jetzigen Schülern und Schülerinnen, dass es dabei
auch in der Zukunft bleibt.
Vorteile des Tischläuferstrickens
Christoph Keß, der erste Junge am Mädchengymnasium, erzählt
Der Andrang war zunächst sparsam. Als die
Koedukation aufgehoben wurde, meldeten
sich lediglich zwei Jungen an der Mädchenschule am Paradieser Weg an, und nur einer
blieb: Christoph Keß, geboren 1962 in Soest.
Hauptgrund: der kurze Schulweg. Christoph
nämlich war Diabetiker und die Eltern wollten ihn gern an der nächstgelegenen Schule
unterbringen. Bald schon zog die Familie von
Soest weg – und andere Jungen rückten
nach ins „Mädchenparadies“. Christoph Keß
lebt heute als Lehrer in Bonn.
hat mir für mein zukünftiges Leben viel Positives beschert. Waren es zunächst hauptsächlich Großmütter und Tanten, die voller Bewunderung meine Topflappen, Strickhandschuhe und Tischläufer begutachteten und immer wieder „so akkurat – und das
von einem Jungen!“ ausriefen, wurde ich mit Beginn
der Pubertät zu einem der beliebtesten Blue-JeansFlicker dank meiner in Soest erworbenen Kunstfertigkeiten auf der Nähmaschine. Hier stellte sich zum
ersten Male auch Anerkennung von mir gleichaltriger Frauen ein, die ihren Höhepunkt dann später in
meiner Kollektion selbstgestrickter Norwegerpullover fand.
Aber sicherlich war die damalige Schulzeit auch
„Wie fühlst du dich denn jetzt so als Hahn im in mancherlei Hinsicht etwas Besonderes. Mein UmKorb?“, war die Frage, die mir fast jeder Erwachsene kleideraum zum Sportunterricht war damals die
stellte, mir, dem ersten Jungen auf dem „Mädchen- Dusche der Lehrer/innen-Kabine und erforderte
gymnasium“. Meist wurde diese Frage begleitet von höfliches Anklopfen, sobald ich mein Schultrikot anallgemeinem Gelächter, die Frauen zwinkerten ver- gezogen hatte – das damals übrigens auch ein Unischwörerisch mit den Augen und die Männer klopf- kat war, da ich ja nicht wie meine Mitschülerinnen
im petrolfarbenen Gymnastikanzug Sport treiben
ten mir jovial und anerkennend auf die Schulter.
Verstanden habe ich das damals nicht, denn im wollte. Die Teilnahme am „Mädchensport“ lehrte
zarten Alter von zehn Jahren hatte die Tatsache, dass mich sehr früh, dass Sport auch etwas mit Technik
ich für einige Zeit in der Schülerschaft der einzige zu tun hat, denn die Tatsache, dass ich sehr ehrgeizig
„Mann“ unter Hunderten von Frauen war, weder ei- war und versuchte, meine Kraft einzusetzen, konnte
ne erotische Komponente noch fühlte ich mich als nicht darüber hinwegtäuschen, dass einige MitschüPrivilegierter. Vielleicht wäre dies alles
lerinnen besser fangen, geschickter
noch einmal anders geworden, wenn
werfen oder auch höher springen
ich erst in die Mittel- und Oberstufe
konnten als ich, zumal ich auch eher
gekommen wäre, aber nach der 7.
zu den Kleinen in der Klasse gehörte.
Klasse zog ich mit meiner Familie weg
Besonders interessant wurde der
von Soest und musste damit dieses
Sportunterricht dann für mich, als ein
vermeintliche Paradies verlassen.
paar „ältere Jungs“ vom Alde in die
Für mich war das alles weit weniger
Jahrgangstufe 11 wechselten und sich
spektakulär als es für viele von außen
auch Markus Sappel dazu entschied,
vorstellbar war. Die Teilnahme am
von nun an das „Gymnasium am PaHandarbeitsunterricht war ohne ein
radieser Weg“ zu besuchen und mein
Reflektieren über Softie-Sein und
Klassenkamerad zu werden. Die Ära
Männerrollen selbstverständlich und Christoph Keß heute
des nachmittäglichen „Jungensports“
89
bei Herrn Mentz begann. Basketball zu
losem Witzeerzählen berichteten, bespielen, wenn alle Mit- und Gegenreitete ich meinen abendlichen Ausspieler etwa 40-50 cm größer sind, hat
flug entsprechend vor. Mein Bett wurnatürlich seinen Reiz und in den Gede mit Wäsche so hergerichtet, als ob
nuss einer Riesenfelge am Hochreck
ich darin läge, und mit Herzklopfen
mit Hilfestellung von zwei Oberstumachte ich mich auf durch den lanfenschülern kommt nicht jeder Sextagen, dunklen Gang im Mädchentrakt
ner. Die Lust am Sport und das Erlerzum verabredeten Zimmer. Schon
nen vieler Grundtechniken hat dieser
bald waren wir in Roald Dahls subtile
Unterricht enorm gefördert.
Geschichten vertieft, als ein Warnruf
Auch in anderen Bereichen war mit
aus dem Nebenzimmer kam: „Die
meiner Sonderrolle eine besondere
Ermlich kommt!“. Ich muss erbärmFörderung verbunden. Als die Thealich unter der Decke gezittert haben,
ter-AG von Herrn Rösner die Rolle Als erster Junge an einer halb neben mir, halb über mir eine
von Jungen zu besetzen hatte, war ich Mädchenschule
Mitschülerin, die sich wie alle anderen
natürlich erste Wahl und kam so zu
schlafend stellte und versuchte, mich
meinen ersten Erfahrungen und Erfolgen als Schau- zu verdecken. Ob Frau Ermlich mich damals großspieler. Neben Brechts „Furcht und Elend des Drit- zügig übersehen hat (wenn ja, noch jetzt tausend
ten Reiches“ wurde damals ein selbstgeschriebenes, Dank!), oder die Tarnung so gut war, ist mir bis heusozialkritisches Stück über ein Mädchen aus dem te nicht klar. Aber noch wochenlang hatte ich Angst
Heim aufgeführt. Auf diesem Wege lernte ich im Al- vor dem Skandal „Keß im Mädchentrakt“ und hoffter von elf Jahren endlich die Beatles kennen, die für te nur, dass keine meiner Mitschülerinnen zu Hause
das Stück die Musik lieferten, und gleichzeitig brach- irgendetwas erzählen würde.
ten mir die älteren Oberstufenschülerinnen nachNeben endlosen Einsätzen beim Kartoffelschälen,
mittags während der Proben auf dem Schulhof das das einfach zur Männerarbeit erklärt wurde, und
Mofafahren bei. Auch die erste „richtige Fete“ mit ersten Annäherungsversuchen an Krabben, MuRauchen, Trinken und Tanzen erlebte ich mit dieser scheln und ähnlichem bei uns zu Hause verpönten
Gruppe. Non scholae, sed vitae discimus.
Getier ist mir in besonderer Erinnerung geblieben,
Meine Sonderrolle hatte aber den Nachteil, dass bei Windstärke 11 rauszumüssen, um das Volleyich nie untertauchen konnte. Unwillkürlich war ich ballnetz abzubauen. Wir mussten uns auf dem Deich
im Gespräch, wenn es um bestimmte Vorfälle ging. aneinanderkrallen um nicht wegzufliegen, waren
Da es unter Mädchen anscheinend nicht üblich war, hinterher kalt, nass und durchgefroren, aber hatten
Meinungsverschiedenheiten durch Ringkämpfe aus- richtig ’was erlebt.
zutragen, brachte meine kleine Einlage mit einer
Ob dieses Erlebnis dazu geführt hat, dass ich heuMitschülerin mir einen Klassenbucheintrag ein. Frau te selbst bei Wind und Wetter gerne in den Bergen
Banhidai hatte aus der Ferne nur wahrgenommen, Abenteuer erlebe, ob meine Mofaerfahrung auf dem
„dass da zwei am Raufen waren“, und hatte mich Schulhof verursacht hat, dass ich jetzt Motorrad fahselbstverständlich als Übeltäter identifiziert, wohin- re, oder ob meine drei Jahre Erfahrung am „Mädgegen die Mitschülerin nicht mehr auszumachen chengymnasium“ dafür verantwortlich sind, dass ich
war. Das Warten im Vorzimmer der sagenumwoben Frauen lieber als Männer mag, darüber lässt sich nur
strengen Direktorin Zita Bruski, bei der ich vorzu- spekulieren. Unbestreitbar ist aber, dass meine dasprechen hatte, war für mich trotz der aufmuntern- malige Begeisterung für den grünen Nagellack meiden Tröstungsversuche der Sekretärin eines der ner braungebrannten Kunstlehrerin Frau Heisig sich
schrecklichsten Erlebnisse in meinem damaligen bis heute gehalten und auf meine Frau (die auch
wohlbehüteten Leben.
Kunstlehrerin ist!) übertragen hat.
Diese Erfahrung führte zu entsprechender VorSpaß macht es, mich an diese Zeit zu erinnern,
sicht beim Landschulheimaufenthalt auf Wanger- die mir in guter Erinnerung ist, und vielleicht höre
ooge. Nachdem meine Mitschülerinnen mir nach ei- ich demnächst mal von Andrea, Angela, Beate und
nigen Tagen von legendären nächtlichen Zimmerfe- wie sie alle heißen, wie diese Zeit aus Frauenpersten mit Vorlesen von Schauergeschichten und end- pektive aussieht.
90
Drei Berufe in vierzehn Jahren
Sigrun Nickel über die Last, frei zu sein
Nachdem sie 1981 ihr Abitur abgelegt hatte,
studierte Sigrun Nickel Germanistik, Pädagogik und Soziologie, wurde Zeitungsredakteurin, Pressesprecherin, Hochschulmanagerin und Organisationsberaterin; sie lebt
und arbeitet abwechselnd in Hamburg und in
Graz/Österreich.
Darauf war ich nicht vorbereitet. Wieso hat mich
keine meiner Lehrerinnen, keiner meiner Lehrer gewarnt vor dem Leben außerhalb des pädagogischen
Schonraums namens „Schule“!? Vor den vielen
Chancen und Möglichkeiten, die sich einem bieten
und die einen in den Stress versetzen, sich immer
und immer wieder zwischen ihnen entscheiden zu
müssen. Vor der Wissensgesellschaft, die einem zwar
alle Informationen zugänglich macht, aber zugleich
mit der Anforderung quält, stets auf dem neuesten
Stand sein und die richtigen Daten aus dem Multimedia-Dschungel herausfiltern zu müssen.„Lernen
– lebenslänglich“ lautet das Urteil für meine Generation, die Baby-Boomer, die heute auf die 40 zugehen. Wir sind die ersten wahrhaft flexiblen Menschen, die eingeklemmt zwischen Alt-68ern und jungen Techno-Yuppies ihren Weg durch die individualisierte Gesellschaft finden müssen.
Wir haben keine Vorbilder und, was noch schlimmer ist, wir haben keine Utopien. Wir leben in einer
„entzauberten Zeit“, so der Titel eines Buches des
Philosophen Ludger Heidbrink, übrigens ein Absolvent des Soester Aldegrever Gymnasiums. Wir
durchlaufen einen Prozess der gründlichen Desillusionierung, in der die letzten Geheimnisse entschlüsselt werden, wie zum Beispiel das menschliche
Genom oder politische Gesellschaftsentwürfe, wie
der des Sozialismus, einfach im Orkus der Geschichte verschwinden ohne Alternativen zu hinterlassen. In dieser Welt herrschen die Prinzipien der
Rationalität, der Ökonomie und der Ambivalenz
über die Sehnsucht nach Gemeinschaft, Sinnhaftigkeit und Eindeutigkeit.„Die Moderne ist das, was sie
ist – ein besessener Marsch nach vorne –, nicht deshalb, weil sie immer mehr will, sondern weil sie niemals genug bekommt; nicht weil sie ehrgeiziger und
abenteuerlustiger wird, sondern weil ihre Abenteuer bitter sind und ihre Hoffnungen nichtig“, so der
Soziologe Zygmunt Bauman.
Das Wegbrechen von Hoffnungen und Utopien
liefert uns unerbittlich der Realität, dem Faktischen
aus. In dieser Welt ist jeder für sich selbst verantwortlich. Ob er Erfolg hat oder ob er scheitert – es
liegt an ihm. Es gibt keine wirklichen Entschuldigungen mehr für das Verpassen von Chancen, und
Sigrun Nickel im Schullandheim Wangerooge 1975
91
Der „flexible Mensch“ muss sich ständig persönlich
und räumlich verändern.
die Verantwortung für den eigenen Lebensweg kann
zunehmend weniger delegiert werden: nicht an einen Gott, nicht an das System, nicht an das Schicksal. Damit ist der Mensch frei. Diese Freiheit birgt
viele Chancen, aber sie ist auch eine ungeheure Last
für das auf sich gestellte Individuum. Allein Harry
Potter stellt sich dieser Kälte mutig entgegen und
schafft es, Millionen (insbesondere erwachsenen!)
Menschen den verloren gegangenen Zauber zurückzugeben, indem er sie in eine Gegensphäre entführt,
in der es noch wahre Solidarität und eine eindeutige
Einteilung der Welt in Gut und Böse gibt.
Wie gut, dass der vierte Harry-Potter-Band noch
ungelesen auf meinem Nachttisch liegt. Da habe ich
wenigstens noch einen Trostspender für Krisenzeiten!
92
Verantwortlichkeit und Freiheit stellen hohe Anforderungen an den Einzelnen. Der amerikanische
Wissenschaftler Richard Sennett prägte den Begriff
des „flexiblen Menschen“, der am Verlust sozialer
Bindungen leidet, weil er ein Getriebener ist, der sich
ständig persönlich und räumlich verändern muss,
um in der modernen Welt mithalten zu können. Der
Originaltitel des Buches lautet deshalb „The corrision of character“. Was das konkret bedeutet, lässt
sich zumindest ansatzweise an meiner eigenen Biographie erkennen:
Als ich 1981 mein Abitur am Conrad-von-SoestGymnasium hinter mir hatte und sich der Nebelschleier verzog, der sich während der vielen rauschenden Abiturfeiern in meinem Gehirn ausgebreitet hatte, begann ich Germanistik, Pädagogik
und Soziologie zu studieren. Natürlich in Münster,
das war so schön „heimatnah“. Kein Lehrer und keine Lehrerin hatten zuvor mit mir darüber gesprochen, welches Studienfach sich wohl für mich eignen
würde, welche Studienrichtung welche Berufsaussichten hat und was es heißt, nicht mehr in die Schule zu gehen, sondern wissenschaftlich zu arbeiten.
Also stolperte ich unschuldig ins Studium und es
dauerte lange, ehe ich überhaupt Fuß fassen konnte
im anonymen Massenbetrieb Universität. Gewählt
hatte ich die Fächer, die mich interessierten und in
denen ich in der Schule gut war. Meine Abschlussarbeit schrieb ich zum Thema „Geschlechtsspezifisches
Sprachverhalten unter besonderer Berücksichtigung
der Modalpartikeln ja und doch“ und erlangte
schließlich den Grad der Magistra Artium. Mit einer
Fülle wissenschaftlicher Erkenntnisse ausgestattet
musste ich nun entscheiden, welchen Beruf ich ergreifen wollte. Wo zum Teufel werden in der Wirtschaft Germanistinnen und Germanisten gebraucht?
Was kann ich eigentlich außer Konversationsanalyse, Sprechakttheorie, Strukturalismus, feministischer
Soziologie und der Theorie des romantischen Kunstmärchens? Ich kam zu dem Schluss, mich in dem
Feld umzusehen, in dem ich schon als Grundschülerin ganz gut war: dem Schreiben.
So wurde ich Zeitungsredakteurin. Schon Ende
der 80er Jahre war es sehr schwierig, einen Ausbildungsplatz bei einer Zeitung zu bekommen. Ich
schaffte es dennoch und durchlief ein Volontariat
beim Soester Anzeiger. Es war eine turbulente, anstrengende, aber auch sehr lehrreiche Zeit. Vor allem
aber merkte ich, dass ich genau den Beruf gefunden
hatte, der zu mir passte. Welch seltener Glücksfall!
Nur das, was ich im Studium gelernt hatte, konnte
ich im Job herzlich wenig gebrauchen. Nach anderthalb Jahren Berichterstattung über Schützenfeste,
Landfrauenversammlungen und Karnevalsfeiern
war mir klar: Ich wollte raus aus der ländlichen Idylle. Durch Zufall entdeckte ich eine Stellenanzeige.
Die „taz“, Deutschlands einzige überregionale linke
Tageszeitung, suchte für den Hamburger Lokalteil
eine Bildungsredakteurin. Ich hatte wenig Ahnung
von Bildungspolitik, bewarb mich aber trotzdem
und wurde eingestellt. Mein Wechsel nach Hamburg
war das beste, was mir passieren konnte. Die Konkurrenz in der Hamburger Medienlandschaft war
hart. Dennoch gelang es mir, mir schnell einen Namen in der bildungspolitischen Szene zu machen. In
dieser Situation erhielt ich das Angebot, Pressesprecherin einer Hamburger Hochschule zu werden. Eigentlich hatte ich keine Lust, mich schon wieder in
ein neues Metier einzuarbeiten, aber dann dachte
ich, ein zusätzliches Standbein als Alternative zum
unsicheren Journalismus wäre nicht schlecht. 1992
Sigrun Nickel 2001
begann ich also, mir eine zweite berufliche Existenz
aufzubauen. Dies schaffte ich erneut mit viel Energie und Erfolg. Parallel dazu bekam ich Zugang zu
den Bereichen Hochschulmanagement und Organisationsentwicklung.
Sechs Jahre später wurde ich von der Hamburger
Wissenschaftsministerin und Zweiten Bürgermeisterin angesprochen, ob ich nicht – ohne Parteimitglied zu sein – in ihrem Stab mitarbeiten wollte. Ich
fühlte mich geschmeichelt, außerdem stellte ich es
mir reizvoll vor, ganz nah am Senat, dem Machtzentrum der Hansestadt, zu arbeiten. Im März 1999
wechselte ich in die Wissenschaftsbehörde und arbeitete vorwiegend als Pressesprecherin sowie im Bereich Hochschulmodernisierung. Doch der Einblick
in die Politik entpuppte sich schnell als Horror:
Machtspiele, Intrigen, Schönfärbereien, fiese Journalistinnen und Journalisten, die versuchten, einen
unablässig in die Pfanne zu hauen. Schaudernd
wandte ich mich ab. Ganze anderthalb Jahre hielt ich
durch, dann war für mich klar: Nie wieder Pressearbeit und schon gar nicht im Politikbereich!
Nun bin ich dabei, mir meinen dritten Beruf zu
erschließen. Derzeit arbeite ich in der Leitung eines
„Hochschulmodernisierungsprojektes“, welches die
Universität Hamburg von der Verwaltung bis zu den
Studienangeboten reformiert. Nebenbei bin ich als
freie Mitarbeiterin einer Hamburger Beratungsfirma im Bereich Organisationsentwicklung von NonProfit-Organisationen tätig.
Drei Berufe in 14 Jahren, immer wieder lernen,
immer wieder Erfolg haben – kurzum immer flexibel sein müssen kostet Kraft. Aber was heißt eigentlich „müssen“? Ich hätte doch nicht ständig neue
Wege einschlagen müssen, ich hätte mich doch abfinden können, oder!? Tja, wer die Wahl hat ... Ich
frage mich, wie man junge Leute auf ihre Existenz als
flexible Menschen vorbereiten kann. Lehrerinnen
und Lehrer sind um diese Aufgabe heutzutage nicht
zu beneiden. Für mich steht jedenfalls fest, dass ich
beruflich nur reüssieren kann wegen meiner Schlüsselqualifikationen und nicht wegen meines Fachwissens. Zudem hätte ich sowohl als Schülerin als auch
als Studentin viel mehr Beratung benötigt. Bildungsberatung – das müsste in den Schulen und
Universitäten zum Standardprogramm gehören.
Aber vielleicht wäre es viel sinnvoller, Menschen
dafür auszubilden, diesem Wahnsinn, den man Moderne oder Postmoderne nennt, eine andere Richtung zu geben.
93
Wie ich einmal eine peinliche Rede gehalten habe
Ein Erlebnisaufsatz von Matthias Kamann
Durch einen Umzug nach Neuengeseke im
Jahr 1977 wurde Matthias Kamann, 1961 in
Schmallenberg geboren, in der zehnten Klasse Schüler des Conrad-von-Soest-Gymnasiums (Abitur 1981). Nach Abitur und Zivildienst studierte er in Marburg und Hamburg
Germanistik und Volkskunde. Nach der literaturwissenschaftlichen Promotion im Jahre
1993 absolvierte er ein journalistisches Volontariat beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt am Main, war dann drei Jahre lang Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und ist seit 1999 Feuilleton-Redakteur
der Zeitung „Die Welt“. Er ist verheiratet, hat
eine zehn Jahre alte Tochter und lebt in Berlin.
Früher: Matthias Kamann 1980
94
Geplant war es als der krönende Abschluss meiner schulischen Laufbahn. Wochenlang hatte ich
darüber gegrübelt, nächtelang daran gefeilt und zu
niemandem mehr als Andeutungen gemacht.
Endlich dann war es soweit, vor Nervosität zitterten mir die Hände, sodass ich sie in den Hosentaschen des vom Tanzschul-Schlussball herübergeretteten Anzugs verbergen musste. Nun stand ich in der
Aula am Pult, um sie zu halten, sie, meine Rede zur
Abiturfeier des Jahres 1981, meine Rede, in der ich
vor allen Mitschülern und Eltern den Lehrern und
dem Direktor mal so richtig die Meinung geigen
wollte.
Fünf oder sechs Jahre später wurde mir die Erinnerung dann unangenehm. Präpotent kam mir die
Rede vor, großmäulig und realitätsfern. Beschämt
habe ich das Manuskript beim Aufräumen weggeschmissen. Das war ein Fehler. Denn sie ist ein wichtiges Dokument meiner Biographie. Schon deshalb,
weil sich in ihr manifestiert, wie autoritätsfixiert ich
war:
Du lieber Himmel, am letzten Tag, als Abstoßungsreaktionen des Lehrkörpers nun wirklich
nicht mehr zu befürchten waren – da habe ich mich
getraut, es den Lehrern und dem Direktor heimzuzahlen. Aber immer noch mit flatternden Fingern.
Wie ernst die Schule da genommen wurde! Nicht
nur von mir. Jedenfalls scheint es mir so, als sei am
Ende der siebziger Jahre, als der Begriff „alternativ“
noch eine sparsam vergebene Auszeichnung für die
selbst ernannte Raucherhof-Elite war (und es haben
wirklich alle geraucht, die auf sich hielten) –, als sei
da die Mischung aus kühner Radikalität und schwerem Hierarchie-Respekt sehr verbreitet gewesen.
Wenn der Eindruck nicht trügt, ist dies ein wichtiger
Unterschied zwischen der gegenwärtigen und der
Schule von vor zwanzig Jahren: dass man ihr damals,
gerade weil man ihre Autorität bekämpfen wollte,
solch großes Gewicht gegeben hat.
Ganz unbegründet
war das, wie sich dann
auch an den ersten
Reaktionen auf meine
Rede zeigte, durchaus
nicht. Beim anschließenden Empfang, als es
Sekt für die Abiturienten
gab, schlugen die Wellen
hoch, einige Lehrer zeigten sich hellauf empört,
andere schwer beeindruckt. Beim abendHeute:
lichen Ball zogen mich
Matthias Kamann 2001
die notorisch diskussionsfreudigen unter
den Lehrern in lange Gespräche, ob das denn wirklich mein Ernst sei und was ich mir denn dabei gedacht habe. Diese Erregungsbereitschaft kann als Beleg dafür gelten, dass es auf der Gegenseite tatsächlich eine Entsprechung für meine autoritätsfixierte
Verbalradikalität gab: einen altlehrerhaften Hierarchiestolz, der auf Provokationen so empfindlich wie
prompt reagierte.
Was habe ich denn eigentlich gesagt? Zunächst
habe ich den Lehrern sogar gedankt, für Geduld und
Wissensvermittlung. Dann aber, dann habe ich
wortreich beklagt, dass die Schule kein Ort zum Leben sei. Es gehe im Schulleben nur darum, den Ansprüchen der Lehrer an Lerneifer und Disziplin gerecht zu werden, aber die kreative Selbstentfaltung
der Schüler komme viel zu kurz. Mehr weiß ich
kaum noch. Es ist ja auch so schon peinlich genug.
Es war die Alternativbewegung, was aus dieser
Rede sprach, ein in den Alltag gewendeter, aktionistischer Utopismus, Joschka Fischer viel näher als Rudi Dutschke (den man ja nur noch vom Hörensagen
kannte): sich im Hier und Jetzt verwirklichen, authentisch sein, das Korsett der Vernunft abstreifen,
Jute- statt Aktentasche, Atomkraft nein danke und
die Kunst des Liebens. Für lange Haare sprachen weniger modische, schon gar nicht ästhetische, sondern
ideologische Gründe. Und die Schülermitverwaltung
galt als utopisches Projekt zur Aufweichung hergebrachter Hierarchien, zur Förderung der im Schulalltag unterdrückten Lebensimpulse.
Ob freilich das in meiner Rede entworfene
Gegensatzpaar: da die kalte Schule, hie das blühende Alternativleben, realistisch war, scheint mir mittlerweile höchst zweifelhaft. Die Schule, zumal das
eher liberale Convos, war doch längst nicht mehr die
Zwangsanstalt, als die sie viele Schüler noch in den
sechziger Jahren hatten erleben müssen. Allenfalls
herrschte zuweilen noch repressive Toleranz, meist
wurden, nicht nur von den jüngeren Lehrern, die
Ideen der Schüler aufgegriffen: AGs, Kulturgruppen,
Schulkino, Projekt-Unterricht.
Zu vermuten ist daher, dass ich mit der These von
der lebensfernen Lehranstalt einen Pappkameraden
aufgebaut habe. Wahrscheinlich aber ist dies das
Schicksal der Institution Schule (und nicht ihre
schlechteste Funktion): dass sie dazu herhalten muss,
als böse Gegenwelt aufgebaut zu werden, vor deren
dunklem Hintergrund die Ideale der jeweiligen
Schüler-Generation um so strahlender leuchten.
Gleichwohl: Mit meinem Kreativ-Utopismus
konnte ich noch so manchen ärgern, es gab also
noch die Konfliktlinien zwischen einem immer
mehr in die Defensive geratenden Traditionalismus
der Ordnung und einem liberalistischen Spontaneismus, der auf Fantasie und Autoritätskritik setzte. Dass dieser Konflikt dann in den vergangenen
zwanzig Jahren zugunsten von letzterem entschieden
wurde, gilt mittlerweile nicht nur Konservativen als
Ursache für den Verfall unserer Bildungsanstalten.
Ob da etwas dran ist, kann und will ich nicht beurteilen. Mir ist aber nicht ganz einsichtig, was schlecht
daran sein soll, wenn Schüler durch AGs ermuntert
werden, gern in die Schule zu gehen, oder wenn diese durch vielfältige Angebote eine Gegenwelt zur
Trostlosigkeit mancher Elternhäuser schafft. Gerade
das, was ich heute noch vom Convos mitbekomme,
scheint mir zu belegen, wie segensreich es war, dass
einst diejenige Pädagogik sich durchsetzte, in der die
intellektuellen und kreativen Potenziale der Schüler
nicht gleich unter Verdacht gestellt, sondern zunächst einmal bejaht und, soweit möglich, ins Schulleben integriert werden.
Nicht minder segensreich freilich war es, dass sich
die Verfechter jener Pädagogik dabei nicht von den
verblasenen alternativen Ideen leiten ließen, die meine Abiturrede prägten, sondern von Vernunft und
pädagogischem Eros.Vermutlich – das jedenfalls legt
der jüngste Streit um 1968 und die Folgen nahe –
war zur Verwirklichung dieser maßvollen Modernisierung eine Zeit lang auch ein ins Kraut schießender Utopismus erforderlich. Dessen muss man sich
durchaus schämen, vor allem aber erinnern.
Ich hätte die Rede nicht wegwerfen sollen.
Aber peinlich war sie doch.
95
Auf Umwegen zurück nach Soest
Susan Hegemann (geb. Al Talab) sagte sich nach dem Abi: „Nur weg hier!“
„Teilzeitmutter, Teilzeithausfrau, Teilzeitbuchhändlerin“ gibt Susan Hegemann, geb.
Al Talab, als derzeitige Tätigkeiten an. Sie ist
außerdem aktive Elternvertreterin. Susan
Hegemann wurde 1962 in Berlin geboren,
machte 1982 am Convos Abitur, wohnt und
lebt in Soest.
Was aus mir wurde ... – zu diesem Thema also soll ich
eine kurze Beschreibung meines Werdegangs geben.
Tja, was wurde denn aus mir? So richtig groß ’rausgekommen bin ich ja nicht: immer noch 1,53 m ohne Schuhe – genau wie vor 20 Jahren!
Jetzt aber mal der Reihe nach: Nach dem Abitur
1982 an dieser über 125 Jahre alten Schule dachte
ich: „Nur weg hier!“ Mittelalterlicher Mief drückt
aufs Gemüt, also die Koffer gepackt und ohne jegliche Französisch-Kenntnisse auf nach Lyon, um dort
für neun Monate au pair zu arbeiten. Zwei reizende
Sprösslinge sorgten dafür, dass ich aus lauter Selbstschutz in Rekordzeit Französisch lernte.
Im Anschluss daran ging es noch weiter in den
Süden Frankreichs, dort begann (ich gebe es zu) die
Karriere, zur Millionärin zwar nicht, aber zur Kellnerin. Doch schon nach nur drei Monaten wurde
mir klar: „Susan, das kann nicht das Ziel deiner
Träume sein!“
Also zurück nach Deutschland, genauer gesagt,
nach Aachen, um dort Politische Wissenschaften zu
studieren.Vielleicht würde Deutschland irgendwann
einmal einen weiblichen Kanzler benötigen ... Doch
wie man sieht, ist bis jetzt noch nichts daraus geworden.
Stattdessen schlug das Schicksal zu: Ich lernte einen wirklich netten Menschen kennen, der sich nach
kurzer Bekanntschaft als der Sohn meiner Englischlehrerin vom Convos entpuppte. Das konnte nur
Vorsehung sein, dachten wir uns, und wollten fort96
an gemeinsam durch dieses Leben gehen, erst zweisam, dann dreisam und schließlich viersam.
Im Laufe der Zeit wurden die Rufe der mittelalterlichen Heimat immer lauter und wir kehrten nach
sieben Jahren rheinischen Frohsinns zurück. Mittlerweile haben unsere Kinder das Pubertätsalter erreicht und gehen – wie sollte es anders sein: Qualität
setzt sich eben durch – zum Convos.
Wenn ich mich jetzt so frage, was eigentlich aus
mir geworden ist, dann stelle ich fest: „Groß bist du
nicht, berühmt bist du nicht, aber – glücklich bist du
doch!“
„Nur weg hier!“
Susan nach dem Abitur
7° nördliche Breite, ganz schön nah am Äquator
Barbara Müller über ihre Arbeit als Missionarin am anderen Ende der Erde
Es war einmal eine 19-jährige Soesterin, die
davon träumte, in Äquatornähe zu überwintern und dabei noch sozial tätig zu sein.
• Wo alles begann? – Na, wo schon! Im Convos, nach bestandenem Abitur!
• Wann alles begann? – 1982; ich weiß schon,
manche, die diese Zeilen lesen, waren noch
nicht einmal geboren, als ich Abi gemacht
habe.
• Was aus dem Traum, als Entwicklungshelferin zu leben, wurde? – Nun, das erzähle
ich jetzt …
Manchmal kommt im Leben einfach alles anders als
man denkt. Warum sollte es bei mir nicht auch so
sein?
Aus dem geplanten Studium nach dem Abi wurde zunächst mal nichts, obwohl meine damaligen
Lehrer ihr Bestes gegeben haben mein Leben positiv
zu beeinflussen. (Meinen Dank an dieser Stelle an
besagte Pädagogen!) Ich begann eine Ausbildung zur
Arzthelferin – von einigen Semestern Raumplanung
unterbrochen – und war 15 Jahre lang in diesem Beruf tätig.
Vor etwa sieben Jahren wandte ich mich theologischen Fragen zu – und fand meinen persönlichen
Weg zu Gott. Irgendwann las ich dann von einer Organisation, die Hilfsschiffe, genannt Mercy Ships, mit
dem Angebot unentgeltlicher medizinischer Versorgung sowohl nach Afrika als auch in andere Länder der Dritten Welt schickte. Meine Abenteuerlust
war geweckt und mein Traum nach zwölf Jahren erneut in Reichweite gerückt. Allerdings sollte es noch
einige Zeit dauern, bis er endgültig Realität werden
würde.
Ich informierte mich über Möglichkeiten, in diese Organisation YWAM (= Youth With A Mission) –
zu deutsch JmeM: Jugend mit einer Mission –, eine
internationale Bewegung von Christen aus verschiedenen Denominationen, eingebunden zu werden. Es
war gar nicht so einfach, aber 1998 endlich saß ich
dann im Flugzeug, Zielort Davao City, Philippines.
Ich hatte mich für eine 6-monatige JYWAM-Jüngerschaftsschule auf der südlichsten Insel der Philippinen angemeldet. Diese Insel heißt Mindanao und
ist sicherlich vielen Menschen durch das Geiseldrama des vergangenen Jahres bekannt.
Nach diesen sechs Monaten bewarb ich mich als
freiwillige, ehrenamtliche Mitarbeiterin in dem dort
ansässsigen Ausbildungszentrum. Die Schule bietet
zwei dreimonatige Lehrgänge, zunächst Theorie,
dann praktische Einsätze.
Wir haben Einsatzorte in den verschiedensten
Ländern mit den unterschiedlichsten Bedürfnissen.
Beispielsweise konnten wir im vergangenen Jahr ein
Team in das Erdbebebengebiet der Türkei schicken.
In diesem Jahr lag unser Einsatzschwerpunkt auf der
Stadt Davao (flächenmäßig die größte Stadt der
Welt). Wir haben Gemeinden beim Bau von Missionshäusern geholfen, Programme mit Straßenkindern und in Waisenhäusern unterstützt, Stadtteile
vom Müll befreit und ein dreiwöchiges Festival für
Jugendliche organisiert.
■ Kontaktadresse
Barbara Müller
c/o YWAM
P. O. Box 80236
8000 Davao City
Philippinen
■ Spendenkonto
Die Arbeit von Barbara Müller kann man auch
– finanziell – unterstützen:
Konto „Barbara Müller“, Nr. 4 594 370 bei der
Sparkasse Bielefeld [480 501 61]
97
Nach der dreimonatigen Charakterschulung bedeutet der Einsatz für unsere Studenten eine sehr
große Herausforderung unter Extrembedingungen.
Es handelt sich übrigens überwiegend um Filipinos
und Deutsche, aber es sind auch einige andere Nationen vertreten. Die Studenten, auch wir Mitarbeiter, werden ständig weitergebildet, die Möglichkeiten dazu sind vielfältig, da YWAM der University of
the Nations angeschlossen ist. Meine Hauptarbeit besteht momentan darin, die Studenten als Mentorin
zu betreuen und seelsorglich zu begleiten.
Für die Zukunft kann ich mir eine Fortbildung an
der University of the Nations in Kona, Hawaii vorstellen. Ein neuer Traum? Ja, vielleicht. Dream big
and never give up!
Barbara Müller im Einsatz: Essensausgabe ...
Worin genau besteht nun meine
Tätigkeit am anderen Ende der Welt,
mehr als 16 000 km entfernt von
Deutschland?
Nun, zum einen bin ich eine der Leiterinnen der
Jüngerschaftssschule, zum anderen bin ich Dolmetscherin im Unterricht (englisch/deutsch) – und ich
betreue junge Menschen in ihrem alltäglichen Leben
mit Gott, wobei ich versuche, ihnen biblische Werte
zu vermitteln. Auch biete ich Hilfestellung bei interkulturellen Differenzen und leite die praktischen
Einsätze. Kurz: Ich bin Missionarin auf den Philippinen.
Unterricht ...
... Kinderbetreuung
98
Was bedeutet es ganz praktisch,
Missionarin zu sein?
Es bedeutet zunächst, dass ich mein früheres Leben
ohne Kompromiss aufgeben musste. Jegliche Sicherheiten, wie Job, Familie, Freunde, Auto, Sozialleistungen, ja sogar mein Zuhause habe ich aufgegeben. Während meiner Deutschland-Besuche bin ich
auf die Hilfe von Bekannten und alten Freunden angewiesen, um ein Dach über dem Kopf zu haben
und eine warme Mahlzeit zu erhalten.
Es bedeutet, flexibel und anspruchslos zu leben,
sich den gegebenen Umständen anzupassen und dabei das Evangelium zu leben und es gerade jungen
Leuten in einer ihnen angemessenen Form anzubieten. Sicherlich keine ganz leichte Aufgabe, insbesondere auf Mindanao mit einem extrem hohen Anteil
an Moslems, aber eine tägliche Herausforderung, die
jede Menge Spaß bringt und Zufriedenheit bereitet.
Wie Marcel Reich-Ranicki einmal zwei junge
Damen in Göttingen auf die Knie zwang
Heike Droste über die mühsame Arbeit mit einem unerwarteten Bestseller
Die 1964 in Welver geborene Heike Droste
gehört zum Abiturjahrgang 1984, studierte in
Göttingen Germanistik, schloss ab mit dem
Magister und ging als Lektorin zu einem kleinen Verlag. Sie lebt – verheiratet, zwei Töchter – in Göttingen. – Im Folgenden berichtet
sie, wie einmal das „Literarische Quartett“ in
ihr Leben eingriff ...
Was ein Bestseller ist, habe ich vor neun Jahren
buchstäblich am eigenen Leib erfahren. In dem Göttinger Wallstein Verlag, in dem ich seit 1992 arbeite,
ist in jenem Jahr ein Buch erschienen, das sich wenige Monate später als Bestseller erweisen sollte: Ruth
Klügers Lebensbericht „weiter leben. Eine Jugend“.
Die ersten beiden Auflagen mit zusammen 5 000
Exemplaren dieses Buches waren dank ausgesprochen positiver Rezensionen in mehreren überregionalen Zeitungen fast ausverkauft, als wir in unserem
kleinen Vierpersonenbetrieb erfuhren, dass „weiter
leben“ im Januar 1993 im Literarischen Quartett besprochen werden sollte. 10 000 weitere Exemplare
waren für dieses Ereignis in Auftrag gegeben worden.
Viel zu wenig, wie sich bald herausstellte. Als wir aus
Bonn, von wo das Literarische Quartett ausgestrahlt
wurde, zurück nach Göttingen kamen, war das Faxgerät unter den daraus hervorquellenden Bestellungen nicht mehr zu erkennen. Da der Verlag sich noch
keinen eigenen Vertrieb leisten konnte, lag die Bearbeitung der Buchbestellungen bei mir und meiner
Kollegin – bislang eine Aufgabe, die man zusätzlich
zu den täglichen Satzarbeiten und Lektoratstätigkeiten erledigen konnte, sozusagen nebenbei. Jetzt begann für uns allerdings mit dem beinahe hymnischen Lob durch Marcel Reich-Ranicki die körperlich wohl anstrengendste Zeit im Verlag. Wir haben
tagelang praktisch auf dem Bürofußboden gearbeitet, wo wir die eingegangenen Bestellungen alphabe-
tisch sortierten: Welche Buchhandlungen sollte man
zuerst beliefern und mit welchen Stückzahlen? Denn
dass aus der Nachauflage nicht alle Bestellungen abgewickelt werden konnten, war am Abend des ersten
Tages nach der Sendung bereits klar. Sofort wurde
die vierte Auflage mit 20 000 Exemplaren in Auftrag
gegeben. (Und auch diese Auflage war bereits komplett ausverkauft, als sie Mitte Februar aus der Drukkerei kam.) Das Telefon klingelte heiß: Bestellungen,
Interview-Anfragen, Glückwünsche – und noch
mehr Bestellungen. In den folgenden Wochen haben
wir eigentlich ‚nur‘ Rechnungen geschrieben, Versandkartons gefaltet, Bücher in verschiedensten
Stückzahlen in unterschiedlichste Verpackungen
und Kartons verpackt und gemeinsam mit rasch angeheuerten Hilfskräften die Pakete, Päckchen und
Büchersendungen zur Post getragen. Über Nacht
war der kleine Göttinger Wallstein Verlag berühmt
Die Schülerin Heike Droste bei der Kursfahrt 1983
99
geworden. Inzwischen sind von Ruth Klügers Buch
fast 100 000 Exemplare verkauft. „weiter leben“ ist
darüber hinaus als Taschenbuch erschienen und als
Buchclub-Ausgabe (bei der Büchergilde Gutenberg).
Heute kann man es auf Französisch, Ungarisch, Italienisch, Spanisch, Japanisch, Tschechisch und
Niederländisch lesen. Ruth Klüger hat für ihr Buch
neun bedeutende Preise erhalten, darunter den Rauriser Literaturpreis und den Thomas-Mann-Preis.
Ein weiterer Bestseller ist uns bis heute leider
nicht mehr gelungen. Dennoch hat der Verlag, was
seinen Bekanntheitsgrad angeht, durchweg von Ruth
Klügers Buch profitiert. Heute gibt es immerhin
neun feste Mitarbeiter, die über mangelnde Beschäf-
Die Autorin heute
„weiter leben. Eine Jugend“ (Cover der Erstausgabe).
Ruth Klüger, 1931 in Wien geboren, wurde mit zwölf
Jahren gemeinsam mit ihrer Mutter nach Theresienstadt, später nach Auschwitz-Birkenau und dann nach
Christianstadt deportiert, von wo den beiden Frauen
1945 die Flucht gelang. Zwei Jahre später emigrierten
sie in die USA, wo Ruth Klüger Anglistik, Bibliothekswissenschaften und später auch Germanistik studierte. Heute lebt und arbeitet sie als Germanistin in Irvine/Kalifornien und in Göttingen.
100
tigung nicht klagen können. Jahr für Jahr werden etwa 60 neue Titel produziert, der Wallstein Verlag hat
sich – unter anderem in den Sparten Literaturwissenschaft, Geschichte und Kulturgeschichte, Editionen und auch zeitgenössische Literatur – inzwischen
einen Namen gemacht. Zusätzlich zum eigenen Programm werden auch noch verschiedenste Titel für
andere Verlage produziert.
Die Entscheidung, das aussichtslose Fach Germanistik zu studieren – und nicht dem elterlichen
Rat folgend Jura oder Pharmazie –, habe ich bis heute nicht bereut. Nach dem Studium habe ich ein Jahr
unter anderem in der Erwachsenenbildung gejobbt
und dann in meinem ‚Traumberuf ‘ im Verlag angefangen. Natürlich ist die Arbeit dort nicht immer
traumhaft – wo ist das schon der Fall? In aller Ruhe
mit Autoren und Autorinnen Rotwein trinken, plaudern und essen gehen, ist doch eher die Ausnahme.
Ihre Bücher wollen in erster Linie lektoriert, gesetzt,
gedruckt, in den Medien und nicht zuletzt in den
Buchhandlungen erfolgreich platziert werden. Die
Mischung all dieser, von Buch zu Buch natürlich
unterschiedlich aufwändigen Tätigkeiten macht
meine Arbeit im Verlag aus. Und genau diese Mischung macht auch – meistens – so viel Spaß, dass
ich an einen Wechsel zur Konkurrenz oder gar in einen anderen Beruf auf keinen Fall denke. Und
irgendwie ist es auch ein schönes Gefühl, über all die
letzten Jahre einen persönlichen Beitrag zum Aufstieg des ehemals kleinen Verlags geleistet zu haben.
Schon am Convos wurde Geschichte ausgegraben
Markus Sanke über seinen Werdegang zum Archäologen
Vor 17 Jahren hat Markus Sanke, ein von Beginn an geschichtsbegeisterter Schüler, an
unserer Schule sein Abitur gemacht. Er spezialisierte sich auf die Archäologie.
Zwei Ereignisse in meiner Schulzeit haben vielleicht
dazu beigetragen, dass ich mich heute in der „brotlosen Kunst“ der Archäologie versuche: Im Differenzierungskurs Geschichte (Jahrgangsstufe 9) wurden wir Schüler, die Historie bislang nur als Bücherstoff und Lehrbuchwissen erlebt haben, plötzlich
selbst zu Geschichtsforschern. In einem Projekt –
was ist daraus eigentlich geworden?1 – griffen wir zu
Mikrofon und Notizblock und bemühten uns, aus
dem Gedächtnis von Zeitzeugen Bilder und Stimmungen über den Zusammenbruch des „Dritten
Reichs“ und die unmittelbare Nachkriegszeit in unserer Heimatstadt hervorzulocken. Da wurden
Großeltern und Freunde, Tätige und Leidende, Experten und Laien ausgiebig interviewt, und bald
stellte sich heraus, dass das, was uns die Zeugen berichteten, in keinem Buch nachzulesen war. Geschichtsforschung hatte offenbar doch auch mit eigenen Bemühungen, mit dem „Ausgraben“ von verschütteten Informationen zu tun.
Ohne Beteiligung der Schule, nachmittags und
stundenweise, durfte ich dann auf den damals stattfindenden Ausgrabungen am Kohlbrink (vor dem
Bau des C&A-Kaufhauses), später auch an anderen
Stellen, teilnehmen. Als angenehmer Nebeneffekt
traf übrigens das erste selbstverdiente Geld ein! Nun
gut, der schmächtige Knabe hat seine Unfähigkeit
beim Hantieren mit übervollen Schubkarren recht
bald gründlich unter Beweis gestellt, aber die Arbeitsweise der Archäologen, ihr sorgsamer Umgang
mit Erdschichten und Bodenverfärbungen, unscheinbaren Topfscherben und Knochen hat großen
Eindruck gemacht. Als dann die bis heute sensatio-
nelle Entdeckung einer ganzen Salzsiedersiedlung
aus dem 7. Jahrhundert deutlich wurde, war der
Schüler schon ein wenig stolz, zur Erforschung dieses Denkmals seinen sehr bescheidenen Beitrag geleistet zu haben. (Über die zeitweise Verirrung ins
Lager der „Ritter“-Adepten, die überall in der Vorgeschichte unserer Stadt die Reste untergegangener
Nibelungen witterten – die Stadt war zeitweise ganz
im Thidreks-Fieber –, möchte der heutige Archäologe dagegen lieber den Mantel des Schweigens breiten ...)
Düstere Erinnerungen:
Der junge Markus Sanke erprobt Folterinstrumente
101
Jedenfalls stand nach dem Abitur fest: Ich werde
Prähistoriker. Ob die enge Bindung an unsere schöne Stadt die Wahl des nächstliegenden Studienorts
Münster begründet hat oder ob die Bequemlichkeit
einer Wäsche- und Futterversorgung durch das Elternhaus den Ausschlag gab, kann ich nicht mehr rekonstruieren. Sicher ist, dass ich, ohne zu wissen,
worauf ich mich da genau einlasse, zum Wintersemester 1984/85 in Vor- und Frühgeschichte, mittlerer Geschichte, Volkskunde und Kunstgeschichte an
der Westfälischen Wilhelms-Universität immatrikuliert wurde. Aus dem Fenster meines Zimmers im
Wohnheim konnte man, wenn man sich ganz weit
hinauslehnte, sogar ein kleines Stück des Aasees erspähen. Jahre gingen ins Land, spannende Exkursio-
Titelblatt der Dokumentation des Geschichtsprojekts
102
nen nach England, Dänemark und Schweden wurden unternommen, Bücher gewälzt, Formen und
Typen memoriert, ein Thema gesucht – und 1990
konnte das Studium mit einer Magisterarbeit über
die „Steinzeit im Bergischen Land“ abgeschlossen
werden.
Inzwischen hatte ich jedoch mein Herz für das
Mittelalter entdeckt, eine Zeit, der von archäologischer Seite erst seit kurzem Interesse geschenkt wurde. Am Institut für Vor- und Frühgeschichte in Freiburg, so hieß es, sollte man diese Epoche besonders
gut studieren können. Mit einem selbstgewählten
Thema im Gepäck – ich wollte eine wichtige und
weit verhandelte Keramik des 10. bis 12. Jahrhunderts einmal grundsätzlich aufarbeiten – stellte ich
mich beim Direktor, Prof. Dr. Heiko
Steuer, vor und wurde zum Promotionsstudium zugelassen. Da die Objekte meiner künftigen Studien in den
tiefen, dunklen Magazinen des Rheinischen Landesmuseums lagerten, wurde in Bonn Quartier bezogen. Ich erinnere mich noch genau, dass ich eine
kurze Arbeitspause am Tageslicht genutzt habe, um 1991 eine Kommilitonin aus Münsteraner Tagen zu heiraten. Weitere Jahre gingen ins Land,
und 1995 konnte eine dicke Studie
über „Die mittelalterliche Keramikproduktion in Brühl-Pingsdorf“ in
Freiburg eingereicht werden. Sie fand
Gefallen, das Rigorosum wurde absolviert, und im Februar 1996 wurde der
Magister zum „Dr. phil.“ promoviert.
Die neuerworbene akademische
Würde berechtigte den Absolventen,
nun in das harte Berufsleben einzutreten. Erste Station war das Landesamt
für Archäologie in Dresden. Dort waren ganze Scharen emsiger Jungarchäologen damit beschäftigt, die bislang bekannten Bodendenkmäler und
Funde von teilweise über einhundert
Jahre alten Karteikarten einer gigantischen hölzernen Registratur in die
moderne EDV zu überführen. Dies
hatte indes wenig mit dem „Erdgeruch“ der Archäologie zu tun, sondern
war eine wenn auch notwendige, so
doch sehr staubige Angelegenheit. Die
Markus Sanke heute
zweite Station, ein Volontariat am Westfälischen Museum für Archäologie, kam meinen Vorstellungen
schon näher: Im Zentralreferat, der Schaltzentrale
des Hauses, fielen alle möglichen Arbeiten an, vor allem die Betreuung der vielen Schriften zu archäologischen Funden aus Westfalen und Lippe. Der Wechsel nach Bonn, wo mir ein neu eingerichtetes Volontariat am Rheinischen Amt für Bodendenkmalpflege angeboten wurde, brachte dann nicht nur den erwünschten Kontakt mit echten Ausgrabungen, sondern führte auch die Familie wieder zusammen, die
sich 1996 um die Tochter Johanna vermehrt hatte.
Meine jetzige Stellung als wissenschaftlicher Assistent am „Lehrstuhl für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit“ in Bamberg habe ich dann –
aus dem noch nicht beendeten Volontariat heraus –
im Oktober 1997 antreten dürfen. Ich habe das große Glück, an der Universität tätig zu sein, noch dazu
an Deutschlands einzigem Lehrstuhl für die Archäologie „meiner“ Epoche (Lehrstuhlinhaber: Prof. Dr.
I. Ericsson). Hier halte ich – in großer akademischer
Freiheit – Lehrveranstaltungen zu allen Themen der
europäischen Archäologie von etwa 300 n. Chr. bis
in die Gegenwart ab. Hinzu kommen große und
kleine Exkursionen, dazu eine Menge Verwaltungs-
arbeit – wir sind bei etwa 150 Studierenden nur zwei
feste Lehrkräfte – sowie Mitarbeit in universitären
Gremien und Kommissionen. Wichtig ist uns, die
Studierenden schon früh in die berufliche Praxis einzuführen. Dazu dienen zum Beispiel Ausstellungsprojekte, die mit den jungen Archäologen von der
Konzeption bis zur finanziellen Abwicklung durchgeführt werden. Vor allem aber biete ich jedes Jahr
eine mehrwöchige Lehrgrabung in unserem Hauptforschungsobjekt, dem karolingischen Reichskloster
Lorsch an der Bergstraße (Hessen), an. Zumindest
für einige Wochen stehe ich also glücklicherweise
noch selbst mit Kelle und Zeichenbrett auf der Ausgrabung. Wir konnten in bislang drei großen Grabungskampagnen ziemlich spannende Erkenntnisse
zur Baugestalt, zum Alltagsleben, zum Handwerk im
fast vollkommen untergegangenen, ehemals wichtigsten Kloster nördlich der Alpen sammeln. Die
Grabungen werden in diesem Jahr fortgesetzt, wir
rechnen mit weiteren aufregenden Entdeckungen!
In der knappen Zeit, die bleibt, bemühe ich mich
um die Fertigstellung meiner Habilitationsschrift.
Sie trägt den morbiden Arbeitstitel „Grab und Begräbnis von der Karolingerzeit bis zum Dreißigjährigen Krieg“ und behandelt alle Aspekte, die der Archäologe am christlichen Grab des Mittelalters und
der Frühneuzeit erforschen kann – von der Form des
Sarges bis zur Grabbeigabe, vom Ort der Bestattung
bis zur Bekleidung und Haltung der Toten im Grab.
1
Eine Veröffentlichung, wie sich das gehört,
in der Zeitschrift Geschichtsdidaktik Heft (1/1982)
■ „Liebe Convos-Schülerinnen und -Schüler,
wenn ihr Interesse an diesen Dingen habt (interessiert sich wirklich irgend jemand in Soest für
Mittelalterarchäologie?), möchte ich euch herzlich einladen, einmal nach Bamberg zu kommen,
ich zeige euch gerne alle unsere Einrichtungen.
Oder kommt im Sommer doch auf unserer Ausgrabung in Lorsch vorbei, dort gibt es mit Sicherheit aufregende Funde und Befunde zu sehen.
Wer weiß – vielleicht fängt ja noch einmal jemand von uns Feuer für das Geschichtsbuch unter unseren Füßen.“ M. Sanke
Dr. Markus Sanke M.A. – Lehrstuhl für Archäologie
des Mittelalters und der Neuzeit –
Am Kranen 1-3 · 96049 Bamberg
Telefon 09 51 / 8 63-23 87
E-Mail: markus.sanke@ggeo.uni-bamberg.de
www.uni-bamberg.de/~ba5am1/home.html
103
Aus „Soest, bei Dortmund“
Christian Buxot über ein Lehrerleben im bittersüßen Exil
Nach seinem Abitur 1988 studierte Christian
Buxot Englisch und Geographie in Berlin,
Münster, Würzburg sowie Albany (NY/USA)
und unterrichtet seit 1998 in Oettingen (Bayern). Er ist verheiratet und hat einen einjährigen Sohn.
Christian Buxot als 17-Jähriger im Café Pudding
auf Wangerooge
„So, and where are you from?“ – „Ach, des kennen S’
eh net.“ – „Well, tell me anyhow, if you don´t mind,
please.“ – „Na, des is halt so a kleine Stadt und heißt
Soest.“ – „What a strange coincidence. I think I bombed your dam in WW II. Let me find this map for
you.” Und tatsächlich, als der englische Geographieprofessor der amerikanischen Universität zu Albany
im US-Bundesstaat New York seinem deutschen
104
Gast, der für ein Jahr an seinem Institut studiert, besagte vergilbte Fliegerkarte aus dem Weltkrieg vorlegt, ist dort die Möhnetalsperre als „main target“
eingekreist. Die Welt ist klein, denke ich mir später
auf dem Heimweg – die Karte als Geschenk und
Souvenir der besonderen Art in der Tasche.
Ihnen als geneigter Leserin und geneigtem Leser
dieses Festschriftbeitrags dürfte schwerlich entgangen sein, dass der eingangs zitierte Hochschullehrer
sich seiner Muttersprache bediente, was mir, dem
beteiligten Verfasser selbiger Anekdote, jedoch dank
fremdsprachlicher (und auch sonstiger) Convos-Bildung – die Pädagogen Goldstein, White, Simons und
Urbanke hatten alle ihren Anteil daran – keine Probleme bereitete. Selbige Sprachkenntnisse kamen mir
auch auf Lebensstationen in Nordschottland beim
Whiskytrinken – „Yerfeckinhavtalerntadrinkitbleednell!“ – und in Südaustralien beim Wellenreiten –
„No worries, mate – you’ll be happy as a pig in shit,
just watch out for Noah’s ark!“ – zugute.
Die leicht bizarr anmutende süddeutsche Färbung im Eingangsgespräch hat sich durch einen bereits mehrere Jahre andauernden „Auslandsaufenthalt“ in Franken und Schwaben und nicht zuletzt
durch meine oberbayerische Ehefrau eingestellt.
Mehr als acht Jahre südlich des WeischwurschtÄquators können selbst ein unter normalen Umständen witterungsbeständiges Soester Westfälisch
nachhaltig beeinflussen. (Aus eben wird eben/halt
halt, aus Guten Tag ein knackiges Grüß Gott und aus
Auf Wiedersehen halt Ade. Reaktion von Frau Simons
auf der Kirmes: „Oh Gott, Christian, du sprichst ja
Bayerisch!“)
Mittlerweile bin ich 32 und gut dreizehn Jahre
nach dem Abitur wieder in der Schule gelandet –
derzeitig im www.gymnasiumoettingen.de im landschaftlich einmaligen Meteoritenkrater „Nördlinger
Ries“. Im bittersüßen Exil auf Lebenszeit (= bayerischer Beamter in Festanstellung) versuche ich den
hiesigen Kindern mit erdkundlichen
Merksätzen à la Jürgen Meyer („Welcher
Seemann Liegt Bei Nelly Im Bett?“) die
Topographie der ostfriesischen Inseln beizubringen, ihnen weiterhin klarzumachen, dass die Börde eine agrarisch geprägte Region am Nordrand der Mittelgebirge ist und Soest eben (bzw. halt)
nicht ein Teil des Ruhrgebiets ist, sondern
ca. 50 km östlich von Dortmund liegt.
Den Insel-Merksatz und die Bördeinformation habe ich schon an den Bayer gebracht. Was „Soest, bei Dortmund“ betrifft, so mag folgende Unterhaltung Aufschluss genug geben:
Schüler: Haben Sie früher eigentlich auch
Fußball gespielt? Ich: Ja, in Soest. (Stummer, ratloser Schülerblick) Das liegt bei
Dortmund. Schüler (in der Pause, untereinander, fast schon ehrfürchtig): Der
Herr Buxot hat früher bei … Dortmund
gespielt.
Beim alljährlichen Abschlusskick zwischen Lehrern und Abiturienten an unserem „Dorfgymnasium“ werde ich den
Schülern erst nach dem Schlusspfiff
widersprechen – natürlich nur, wenn wir
gewonnen haben sollten. Und halt auch
nur dann, wenn sie mich fragen.
Christian Buxot mit Sohn Lukas
Kleine Geschichten
Lehrerkammer – Besenzimmer
■ Der letzte Streich im Förderkurs hätte beinahe
schlimme Folgen gehabt. Es war im Abitur am dritten Prüfungstag. Wir hielten uns in einem Klassenraum auf, tranken Tee und vertrieben uns die
Zeit mit Klönen. Plötzlich hörten wir im Flur lautes Schimpfen vom Lehrerzimmer her, wo noch die
letzten Prüfungen stattfanden. Wir ahnten nicht,
was passiert war. Später erfuhren wir, dass jemand
das Schild von der Besenkammer mit dem Schild
vom Lehrerzimmer getauscht hatte. Frau Dr. Wolke und Direktor Stopp wollten das nicht auf sich
sitzen lassen – sie als „Besen“ zu titulieren!
Der Verdacht fiel auf den Lehrerausbildungskurs, der unter der Leitung von Dr. Korn ebenfalls
im Hause untergebracht war. Die Täter sollten zur
Rechenschaft gezogen werden.
Aber sie waren es nicht gewesen, sondern eine
der Abiturientinnen, die brave Doris L. Als das herauskam, wollte man ihr das Abiturzeugnis entziehen! Das wäre die Vernichtung ihrer Zukunft gewesen!
Eine Abordnung unserer Klasse zog darum zu
Frau Dr. Wolke und bat um Milde. Schließlich war
es ja nur ein dummer Streich aus einer übermütigen Laune heraus gewesen.
Beim Abschiedskommers wurde dann Friede
geschlossen: Direktor Stopp trank der Übeltäterin
freundlich zu mit den Worten: „Prost Doris, alter
Besen!“
Hildegard Awater
105
Auf der Bühne fühlte ich mich wohl
Anette Fessler (geb. Kruse) entdeckt den Clown in sich
Zusammen mit Nathalie Meyer begründete
Anette Kruse (Abitur 1990) im Jahr 1987 die
Convos-Schultheatergruppe „Ensemble halb
fünf“, und zwar mit dem Jugendtheaterstück
„Geheime Freunde“ nach Myron Levoys Erfolgsroman „Der gelbe Vogel“. – Sie blieb
der Bühne treu ...
„Der Clown, das bin ich selber, und darum ist Clown
sein so einfach und gleichzeitig unendlich schwer!“
Diesen Satz schrieb ich
während der Zeit in der
Clownschule Hannover in
mein Tagebuch. Er beschreibt, wie ich die Suche
nach der eigenen Clownfigur erlebt habe. Eine Suche,
die ganz viel mit mir selbst
und mit meinem Lebensgefühl zu tun hat. Der Clown
ist ein ewig Suchender, auf
der Suche nach Glück, nach
Heiterkeit und Einfalt.
Ich bin weder ein lauter
noch besonders komischer
Mensch. Schon als Kind
Ansichten einer Clow- war ich eher verträumt und
nin: Anette Fessler
empfindsam. Ich habe die
beneidet, die lockere Sprüche klopfen konnten, immer gut drauf waren und
umschwärmt im Mittelpunkt standen.
Ich fand meinen Platz auf der Bühne, wo meine
Fähigkeit, mich in andere einzufühlen, zum Tragen
kam. Auf der Bühne fühlte ich mich wohl.
Mit der Suche nach dem richtigen Beruf habe ich
mich sehr schwer getan. Über ein abgebrochenes
106
Lehramtsstudium Kunst in Bielefeld bin ich zur Ergotherapie gekommen. Nach der Ausbildung in
Hannover und drei Jahren Arbeit mit wahrnehmungsgestörten Kindern in Frankfurt/Main wurde
ich innerlich unruhig.
Mein Wunsch, mehr aus meiner Leidenschaft am
Theaterspielen zu machen, trieb mich an und ich
ging erneut auf die Suche nach Veränderung. Nach
erster Enttäuschung darüber, dass ich für die normale Schauspielschule mit 27 Jahren schon zu alt
sein sollte, entdeckte ich die Schule für Clown, Komik und Theater in Hannover. Mein Mann und ich
waren gerade hierher zurückgekehrt, weil auch er
sich beruflich verändern wollte. Die Entscheidung
zur Clownschule musste ich schnell treffen, weil der
Lehrgang zu dem Zeitpunkt gerade begonnen hatte.
Mir war klar, dass ich nicht bei allen Freunden und
der Familie gleich mit Zustimmung und Verständnis rechnen konnte, das Ganze klang doch etwas seltsam und absurd. Ich hab‘s dennoch getan! Und es
war gut!
Und jetzt? An zwei Nachmittagen werde ich als
Ergotherapeutin weiter arbeiten, so ist die Miete bezahlt. Die andere Zeit werde ich nutzen, um meine
Fähigkeiten und Fertigkeiten für die Clownerie
(Jonglieren, Zaubern, Einrad, Improvisation) weiterzuentwickeln und vor kleinen und großen Leuten zu
spielen. Mein Wunsch ist es aber nach wie vor, auch
wieder in einer Theatergruppe auf der Bühne zu
spielen.
Egal was wir tun, was wir lernen und leisten, ob
wir damit viel oder wenig Geld verdienen, wichtig
ist, dass wir nicht vergessen, dass wir Menschen sind
und menschlich miteinander umgehen. Dass wir das
Kind (oder den Clown!) in uns nicht länger unterdrücken, und wieder Raum für Vertrauen und Liebe
öffnen.
Der Clown öffnet die Herzen aller Menschen.
Charles Chaplin
In der Einsamkeit missglückten Soloturnens
Gesa Rünker (geb. Wörmann) trinkt ein Bier, wartet – und erinnert sich
Sie gehörte zu den ersten blinden Schülerinnen und Schülern, die zum Convos kamen:
Gesa Wörmann, später Rünker, heute 32 Jahre alt. 1990 machte sie ihr Abitur. Sie studierte Germanistik und Geschichte in Bochum
und Köln. Heute lebt Gesa Rünker mit ihrem
Mann in Leichlingen und arbeitet als Hörfunkredakteurin beim Westdeutschen Rundfunk.
Hier war es mal anders, ganz bestimmt. Die Kneipe
hat sich verändert – und nicht zum Positiven. Gemütlicher war’s, ein echtes zweites Wohnzimmer.
Damals haben die hier noch richtig gute Musik aufgelegt, Rock und Pop, auch Neue Deutsche Welle,
mit Anspruch, oder wenigstens mit Herz, oder ohne
alles und einfach nur schön. Und jetzt – BumbumMusik, viel zu laut und monoton, kann sich doch
keiner anhören so was! Und die Kinder, die hier
rumspringen – das Publikum wird in dieser Kneipe
von Jahr zu Jahr jünger. Ich fühle mich fremd und alt
– und dabei habe ich diesen Treffpunkt selber vorgeschlagen!
Da sitze ich also in der Lieblingskneipe meiner
Oberstufenzeit, und durch meinen Kopf gehen dieselben blöden Nörgel-Sätze, mit denen mir noch vor
13 Jahren die Erwachsenen auf den Nerv gefallen
sind. Das ist mir etwas peinlich, und deshalb suche
ich Lichtblicke: Die Kellnerin duzt mich, obwohl sie
mich nicht kennt – das ist doch was! Das Bier, das sie
gebracht hat, ist würzig und kühl – also doch alles
wie immer?
Ich bin viel zu früh. Das passiert mir oft; denn
wenn ich mich selbstständig mit dem Blindenstock
in der Innenstadt orientieren muss, plane ich großzügig, bin dann ungern in Eile, Zeitdruck mindert
die Konzentration – das kann gefährlich werden, unkonzentriert und blind im Straßenverkehr.
Gleich wird meine frühere Religionslehrerin hier
erscheinen. Wir sind verabredet. Irgend etwas will sie
mit mir besprechen wegen eines Schuljubiläums. Ihren Andeutungen entnehme ich, dass ich etwas
schreiben soll über meine Schulzeit. Erinnerungen,
Streiflichter, nicht zu lang, nicht zu verkürzend –
aber das müsse man eben noch mal in Ruhe durchsprechen. Ich weiß noch nicht, ob ich schreiben will.
Die Schule ist weit weg, die Schulzeit schon lange her,
das höre ich ganz genau an der Musik, die sie hier
spielen. Und überhaupt – was soll ich schreiben?
Die Studiendirektorin, die gleich hier auftaucht
(evangelische Religion und Biologie) wird sich über
das Bier wundern. Sie hat nämlich nicht so recht registriert, dass ich ab Klasse 11 einige Kneipen für
mich entdeckte als Treffpunkt mit Freunden. Sie
trinkt selbst kein Bier, eher mal ein Schlückchen
Wein. Sie ist manchmal etwas vornehm und sicher
politisch konservativer, als ich das während meiner
Schulzeit wahrhaben wollte. Dafür hatte ich zu viel
gelernt bei ihr: kritisch fragen, analytisch denken,
Religionsunterricht war Philosophie auf hohem Niveau, kein Gefasel vom herzliebsten Jesulein. Das hat
Spaß gemacht, wie die Gottesdienst-AG, die sie leitete. Die Jugendgottesdienste, die wir in einer kleinen Gruppe planten, waren beliebt. Und die Texte,
die wir – mit wenigen Hilfestellungen der Lehrerin dort verfassten, konnten sich sehen lassen. Als die
Schülerzeitung zwischendurch mal wieder eingegangen war, habe ich mich schreibend im Gottesdienst ausgetobt – einfach mal die gesammelte
Schulwut reingepackt in drei Fürbitten. Und alle in
der Aula mussten zuhören! Missbrauch des Gottesdienstes? Ach Quatsch! Jedenfalls ist mir dabei klar
geworden, dass ich ehrlicherweise lieber Journalistin
werden sollte als Pastorin. Dabei bin ich geblieben,
auch, wenn ein Geschichtslehrer mir bei meinen
Aufsätzen „pastoralen Stil“ vorwarf – sein Problem.
Der philosophische Theologieunterricht war wich107
Gesa auf dem Wasser
tig für mich – und Deutsch. Mein erster Deutschlehrer im Gymnasium schleppte mich zur Schülerzeitung: „Mach da mal mit!“ Gemeinsam mit ihm
spielte ich in Schulbands, segelte über die Ostsee und
philosophierte über Literatur und Leben. Heute sind
wir gute Freunde und teilen die Gegenwart im Wissen um gemeinsame Erinnerungen.
Zwei Deutschlehrerinnen haben mich immer
zum Schreiben ermutigt und tapfer gegen meine
nachpubertäre schlechte Laune angeredet. Vor allem
Letzteres war nicht einfach und verdient Anerkennung. Denn diese schlechte Laune war hartnäckig.
Und ein Englischlehrer, der mich gar nicht unterrichtete, hat mir schließlich ein großes Stück weitergeholfen: Er hat mich daran erinnert, dass ich die
Gestaltung meiner Stimmungen auch selbst in der
Hand habe.
Der letzte Deutschlehrer meiner Schulzeit
schwatzte mich brillant einem leitenden Redakteur
beim „Soester Anzeiger“ auf. Der sah schließlich keine andere Chance, als mich zu beschäftigen – so
wurde ich freie Mitarbeiterin. Als Redakteurin habe
ich heute manchmal das Gefühl, dass die Redaktionskonferenzen der Schülerzeitung sich nicht von
108
konferenzähnlichen Zusammenkünften unterscheiden, die wir Profis uns zuweilen liefern.
Klar, in der Schule lief noch mehr. Die Schulfahrten waren meistens klasse. Drei Wochen auf Wangerooge – ich habe selten später so herrlich viel Blödsinn gemacht.
Manchmal lernte ich in der Schule sogar fürs Leben. In der Turnhalle zum Beispiel, als ich am Barren hing, mit feuchten Fingern und sinkender Hoffnung, da jemals wieder runterzukommen. Warum
hatte ich mich eigentlich dafür eingesetzt, dass meinen Mitschülern im Musikunterricht erspart bleiben
sollte, alleine vorzusingen? In der Einsamkeit missglückten Soloturnens schwand jedes Verständnis für
unmusikalische Schiefsänger. Mit dem Pausenzeichen – das war übrigens ein verstimmter Vierklang
– bekam ich wieder Bodenhaftung. Diesmal war es
noch gut gegangen!
Gut ging es nicht, als unsere Schülerzeitung vor
Gericht stand. In einer Satire hatten wir den Schulkiosk zum Drogenumschlagplatz für Sextaner erklärt. Bilder mit langen Schlangen vor den Bonbondosen der Hausmeisterin sollten die Sucht der Kleinen belegen. Was in Wahrheit Zuckersucht war, wur-
de ironisch überzeichnet zur Drogensucht. Das fanden nicht alle zum Lachen. Und die Hausmeisterin
beklagte sich nicht lang, sie klagte sofort. Wir haben
verloren und uns schwarz geärgert. Rachegedanken
wurden uns ausgeredet.
Auch die Szenen aus dem Leben einer Schule, die
wir zum Schulfest aufführten, fanden nicht alle so
lustig. Jemand erkannte sich wieder und fühlte sich
getroffen, nur eben nicht so gut. Aber da mussten die
Lehrer durch, fanden wir. Uns hat es Spaß gemacht.
Bei Spaß fällt mir ein: „Du sollst zum Direx kommen – steht am schwarzen Brett!“ Diese Auskunft eines Mitschülers am frühen Morgen ließ in mir Magendrücken spürbar werden. Eine Schulstunde lang
sann ich nach über Gesagtes, Getanes und sogar Gedachtes der letzten Zeit. Ich ging in mich und fand
einiges, legte Verteidigung zurecht. Allzu laut hatte
ich auf der Schulstraße verkündet, welche Lehrer ich
für reaktionäre Vollidioten hielt. Allzu offen und
hochnäsig hatte ich mich über alberne Hausaufgabenstellungen geäußert. Das sollte ich zukünftig lassen, schließlich sehe ich diejenigen nicht, die mich
im Augenblick hören können. „Kirmes ist vorbei –
es geht auf Buß- und Bettag zu!“ Mein Englischlehrer und Lieblingsgegner hatte Recht mit diesem Satz,
nun war es so weit ...
Die Sekretärin des Direktors war plötzlich viel
fröhlicher als sonst: „Du sollst zum Direktor kom-
men? Nee Gesa, da hat dich jemand veräppelt! Da ist
wirklich nichts dran!“ Ich teilte ihren Frohsinn,
wenn auch aus anderer Perspektive.
Eigensinnig, einfallsreich und eitel, sportlich und
schön, clever und cool, dabei karriereorientiert und
konservativ – so war ein Teil der Generation im Jahrgang „Abi 1990“. Zusammen mit meinem Mann las
ich neulich ein Buch, das diese Generation beschreibt: „Generation Golf“ heißt es. Ein wortgewandter FAZ-Feuilletonist feiert die Arroganz seines
Jahrgangs und öffnet mir die Augen. Das musste am
Ende schief gehen mit mir und der Jahrgangsstufe.
Das Abiturzeugnis erhielt ich als Einzelgängerin, und
das Ende der Schulzeit war fast eine Erlösung.
Zum Studieren bin ich weggezogen, und ein Neubeginn war möglich. Die Rückschau verklärt die
Schulzeit nicht, gestaltet sie nur ein wenig freundlicher.
So viel steht fest: Die Erfahrungen der Schulzeit
waren Grundlage des Neubeginns. Wäre ich ausschließlich mit behinderten Mitschülern aufgewachsen, fiele der Umgang mit nicht behinderten
Kollegen mir heute schwerer. Darum schreibe ich
zum Jubiläum.
„Hallo Gesa“, die Theologin und Biologin, auf die
ich wartete, reicht mir die Hand und sagt: „Schön,
dass du gekommen bist, um ... was ist das denn? Seit
wann trinkst du Bier?“
Gesa im Stadion
109
Der Probe-Schläfer vom Potsdamer Platz
Ein Text nicht von, sondernüber Sasha
Der wohl bekannteste Convos-Ehemalige ist
der Sänger Sasha („If You Believe“), heutiger
Wohnsitz: Dortmund. Er kam im Verlauf der
Mittelstufe unter seinem bürgerlichen Namen Sascha Schmitz (Jahrgang 1972) an unsere Schule, schlug sich so durch, machte
aber auch schon aufmerksam auf seine Qualitäten als Entertainer, z. B. als Moderator des
Letzten Schultags seines Abiturjahrgangs
1993. – Skizzen zu einem kurzen Sasha-Porträt von Werner Braukmann.
Nein, er wird sich wohl nicht mehr melden, unser
Star, jedenfalls lag bis Redaktionsschluss kein Text
vor, kein Originalbeitrag von Sasha, dem zweiten
berühmten Künstler aus Dortmund, der mit unserer Schule zu tun hat. Zu beschäftigt. Zu weit weg.
Schade.
Young Sasha – verschmitzter Charme
110
Dabei hatte er gerade noch gemailt: „... tut mir
leid, dass ich mich noch nicht gemeldet habe, obwohl ich es tausendmal vorhatte!“ Tja dann, dann
müssen wir’s halt selbst machen, müssen über ihn
schreiben! Also gut ...
Das Bild des bettlägerigen Schülers am Bördetag
ist eine meiner schönsten Erinnerungen an Sascha
Schmitz. „Hallo, Herr Braukmann!“, ruft mir im
Trubel des Soester Straßenfestes – 1991 war das,
schätze ich – am Potsdamer Platz jemand putzmunter entgegen, die leicht ramponierte Stimme kommt
aus den Tiefen eines Federbettes, da liegt wer unter
freiem Himmel in einem Vorführbett von „Betten
Schulte“, Nachthemd, nackte Füße, rote Schlafmütze, Cola-Dose in der Hand – Sascha, wer sonst!? –,
und lässt sich vergnügt grinsend von irgendeiner
Matratzenbewegungsautomatik sanft hin und her
schaukeln. Im Schlaf verdientes Taschengeld.
Wo andere sich geniert hätten – ihm machte es
nichts aus, sich im Nachtzeug zu präsentieren, das
zeigte schon seine Fähigkeiten als jemand, der auf die
Bühne passt und ins Scheinwerferlicht gehört, ob als
Schauspieler oder als Sänger. Oder anders: Das
machte seine Qualitäten aus als jemand, der alles,
was just um ihn herum war, gleich zur Bühne werden ließ!
Eine angenehme, ansteckende Eitelkeit ging von
Schmitz’ Sascha aus, er war ein Genießer des gegenwärtigen Augenblicks (und weniger ein systematischer zielstrebiger Karriereplaner), war von keiner
Bescheidenheit oder Verlegenheit oder Beflissenheit
gequält, in Konflikten von entwaffnendem Charme
– ein junger Lebenskünstler.
Als solcher kam er auch zu uns in die Theater-AG
Ensemble halb fünf. Er war mir als Schüler nicht bekannt, aber Mitschülerinnen schwärmten, er habe
Talent, er mache in den Pausen aus dem Stegreif Hape Kerkeling nach und – es folgten jede Menge Namen von Fernsehgrößen. Ich war skeptisch, aber
Sascha im Nahkampf der internationalen
Jugendbegegnung (Wales)
food“, eindrucksvoller noch, meiner Meinung nach,
seine Auftritte zusammen mit Bene Scheef im Duo,
Gitarre und Gesang, quer durch alle Musikgattungen, wobei er sein verblüffendes Imitationsvermögen zeigen konnte, seine bluesige stimmliche Qualität. „Der hätte das Zeug zu einer Karriere!“, meinten wir, aber so recht glaubte man nicht daran. Karriere machen im Musikbusiness – muss man da
nicht aus härterem Holz geschnitzt sein?!
Lange war nichts von Sascha zu hören. Dann
tauchte er als Sasha wieder auf – verschlankt, verjüngt und mit marktgängigerer Musik, und verwundert hörte man von Konzerten und CD-Produktionen, Fernsehauftritten und Ausklapppostern in Teenie-Popblättern, erst begleitete er Young Denay,
dann wurde er solo präsentiert, und von nun an
ging’s bergauf, und zwar steil. Als hätte man auf ei-
nach ersten Proben seines Könnens ganz schnell
überzeugt: welch ein komisches Talent! Er machte
das Ekelpaket Mr Hollander, den Besitzer eines Partyservice aus Newark, New Jersey in Woody Allens
„Yankee, come home!“ („Don’t drink the water!“ –
„Vorsicht Trinkwasser!“) zu einem Ereignis und
auch die sonst oft ätzenden Probenstunden gewannen an Unterhaltungswert.
Ein wirklich begabter junger Mann! Nicht unbedingt ein guter oder gar vorbildlicher Schüler, mitnichten, aber eben ein mimisches und stimmliches
Naturtalent. Erst recht die nächste Inszenierung,
Molières „Geiziger“, wurde dank seiner Interpretation der Haupt-Charakterrolle des Harpagon zu einem kleinen Theaterereignis. Und dann seine Gesangsdarbietungen, Beatles-Oldies beim Schulkonzert, später seine kleine Rock-Karriere bei „Junk
Früh gealtert – Sascha in einer Charakterrolle
Sascha als
Sasha
nen Star wie ihn gewartet, räumte Sasha ab, und seine Stimme ist heute rund um den Erdball zu hören,
er bricht die Herzen nicht nur junger Mädchen, er
wird vom Spiegel interviewt und selbst von der trokkenen Frankfurter Allgemeinen als vielversprechendes Gesangs- und Show-Talent gewürdigt.
Und wenn’s jetzt zum Jubiläum nicht klappen
sollte – „Gern würde ich etwas singen, noch lieber etwas spielen mit euch ...“ –, irgendwann wird er sicher
überraschend auch vorm Schulpublikum mal wieder auftreten, vielleicht ja auch in einer Gastrolle im
Schultheater – als Romeo? als Troubadix? als Mephisto? oder – ja, das wär’s! – als Puck in Shakespeares Sommernachtstraum!
111
Zu viel Kaffee
Christian Mühlhaus über Schule, Politik und Coffein
Der junge SPD-Stadtvertreter Christian Mühlhaus – er studiert in Münster Rechtswissenschaften – machte 1999 am Convos Abitur. Er
war im Schuljahr 1996/1997 Schülersprecher
und amtierte 1999/2000 als Jägerken von
Soest. Christian Mühlhaus ist Mitglied im Rat
der Stadt Soest sowie im Schul- und im Umweltausschuss.
Da sitz ich doch neulich im Schulausschuss der Stadt
Soest und lausche dem Tagesordnungspunkt „Friedenspreis für das Conrad-von-Soest-Gymnasium“
– schlagartig kommt Nostalgie auf: Man erinnert
sich an seine guten Freunde, all den Unsinn, den
man gemeinsam verzapft hat, an Klassenfahrten,
Austausche und natürlich an viele feucht-fröhliche
Partys und Kurstreffen – also alles, was wir fürs Leben gelernt haben!
Umso schwerer fällt es mir jetzt aber, einen Text
für diese Festschrift zu schreiben, weil der Großteil
meiner Erinnerungen eher indirekt „schulischer Art“
ist und ich nicht glaube, dass sich außer mir und
meinem Freundeskreis jemand für diese Eskapaden
interessiert ...
Jedoch zieht sich etwas wie ein roter Faden durch
mein ganzes, also auch schulisches Leben – und zwar
die Politik! Schon meine Grundschullehrerin stöhnte: „Wenn man sich mit Christian auf eine Diskus-
Christian Mühlhaus
als Schüler
112
sion einlässt, dann ist die Stunde verloren!“ Wie oft
habe ich mich mit meinen Freunden, die z. T. politische Gegner sind, über politische Weichenstellungen
gestritten. Wie leidenschaftlich habe ich gegen den,
jetzt leider doch nicht (vor-)bestraften Exkanzler K.
verbal gekämpft oder mich in Zynismus gerettet.
Ich habe auch immer noch die Argumente einer
Lehrerin (nicht Frau S.F.) im Ohr, die es für absolut
falsch hielt, dass die „Peng“ (unsere Schülerzeitung)
auch politische Themen behandeln solle. Ich sah das
natürlich ganz anders und war über ihre Meinung
entsetzt, aber meine Begeisterung für alles Politische
und Wirtschaftliche blieb ungebrochen.
Auseinandersetzungen gab es auch im Fach Sozialwissenschaften, wo man doch so schön Wirtschaftsmodelle totreden konnte und dabei auch
noch den damals im Bund herrschenden Parteien
und Politikern „ans Bein pinkeln“ konnte.
Das waren wirklich schöne Stunden und mein
Banknachbar (zwar eher liberal, aber sehr nett und
mindestens ebenso leidenschaftlich wie ich in solchen Fragen) fehlt mir auch heute noch manches
Mal in langweiligen Vorlesungen, weil wir uns
gegenseitig so schön ärgern konnten.
Ziemlich lange war ich Klassen- und Stufensprecher, da ich so die SV-Arbeit (Schülervertretung)
stark mitgestalten konnte. Viele wollten diesen Job
damals nicht übernehmen, weil sie zu viel Arbeit
darin sahen, aber als Klassensprecher hatte ich relativ wenig Arbeit – allerdings eine Stunde frei, wenn
getagt wurde, und manchmal fiel auch ein ganzer
Tag aus, wenn im Ardey-Haus eine längere SV-Sitzung stattfand.
Ein weiterer handfester Vorteil waren die nicht zu
erledigenden Hausaufgaben für solche Stunden oder
gar Tage, denn wie wollte man das schon kontrollieren?!
Außerdem hatten die Themen meist eine gewisse Brisanz, so dass ich mein Hobby, mich verbal zu
Jägerken und Landesvater
streiten, gut ausleben konnte. Die Diskussionen waren heiß und kontrovers, nicht viel anders als heute
im Soester Stadtrat, dem ich seit 1999 angehöre. In
guten Diskussionen und verbalen Gefechten fehlt es
auch nicht an bissigen Kommentaren oder trockenen Sprüchen, wie man sie von Niels Ruf kennt und
liebt.
Mein SV-Lieblingsthema war die 5-Tage-Woche
in der Schule, die damals heftig bekämpft und lange
verhindert wurde – heute wird sie als ganz normal
angesehen.
Die heutige Schülergeneration erinnert sich
schon gar nicht mehr an die schrecklichen Schulsamstage, die einem schon am Anfang des Wochenendes ein Schlafdefizit einbrachten, da der Freitagabend in einer 6-Tage-Woche natürlich genauso gestaltet wurde wie in einer 5-Tage-Woche, nämlich
mit Kneipe, Disco, Kino oder ähnlichem. Jetzt denkt
bestimmt jeder, die 5-Tage-Woche hat doch nur Vorteile, aber es war damals ungemein schwer, dies auch
zu vermitteln. Schließlich war ein großer Teil der
Schüler- und auch der Lehrerschaft gegen diese Regelung! Aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg ...
Während meiner Zeit in der Klasse 11 wurde ich
zum Schülersprecher gewählt, und es war schon ein
tolles Gefühl, wenn dann der eigene Wunsch, die
Durchsetzung der 5-Tage-Woche, durch Überzeu-
gungsarbeit auf Seiten der Schülerschaft vorankommt. An dieser Stelle muss ich auch Herrn Wiesmann ein dickes Lob aussprechen, weil er einer der
wenigen 5-Tage-Woche-Befürworter war.
Natürlich besteht der Job als Schülersprecher/in
nicht nur aus Arbeit und Stress (das sicher auch, vor
allem, wenn man sich engagiert), sondern auch aus
vielen angenehmen Dingen. Die Schülervertretung
hat z. B. einen eigenen, sehr gemütlich eingerichteten SV-Raum, der bestens mit Musikanlage und Sofas ausgerüstet war (und wahrscheinlich auch noch
ist). Leider standen in diesem Raum auch zwei oder
drei Kaffeemaschinen, die unablässig liefen und meinen Körper mit Kaffee versorgten, aber auch meine
Magenschleimhaut stark ankratzten. Ich vertrage
heute keinen Kaffee mehr; und Tee ist ja auch billiger, gesünder und leckerer (man sucht halt krampfhaft nach Vorteilen!)
Tja, auf was will ich jetzt eigentlich hinaus? Soll
jeder und jede Schülersprecher und Schülerinnensprecherin werden und sich den Magen verderben?
Nein, aber jeder kann und sollte sich ein bisschen engagieren! Politik findet eben nicht nur im Bundestag, in der Bundesregierung oder im Soester Stadtrat,
wie in meinem Fall, statt, Politik betrifft vielmehr
einfach alles, das gemeinschaftliche Leben, den Umweltschutz oder die Höhe der Bafög-Förderung.
Für mich war ganz einfach die Einsicht prägend,
dass es zu billig und zu ergebnislos ist, bloß immer
zu meckern, ohne Alternativvorschläge zu unterbreiten. Wer einmal erlebt hat, dass sich etwas ändern kann, wenn man nur lange und intensiv genug
dafür oder dagegen kämpft, und zwar auf demokratische Art und Weise, der lässt sich so leicht nicht
mehr verunsichern und der hält sich mit bloßem
Meckern auch zurück.
Nebenbei gesagt, es macht unheimlich Spaß,
Convos-Lehrern, die in der politisch anderen Ecke
sitzen, mal richtig verbal Zunder zu geben. Der
(Ex-)Schüler-Lehrer-Respekt ist komplett dahin,
sämtlicher falscher Respekt ebenso und übrig bleibt
eine neue Betrachtungsweise, die sich auf den Menschen bezieht. Ich beurteile Menschen nur noch
nach Taten und nicht mehr nach Worten, weil sich
bei vielen Menschen nach den Worten nur noch
gähnende Leere einstellt.
Jetzt habe ich vermutlich auch den letzten politisch interessierten Jugendlichen vergrätzt, aber vielleicht ja auch nicht! Also, frei nach Grönemeyer: Jugendliche an die Macht!
113
Mir fällt zuerst der Kiosk ein …
Thorsten Hellmich über Nahrungsaufnahme, Schule und Schauspielerei
Schon als Schüler war Thorsten Hellmich –
Abitur 1999 – ein vielbeschäftigter Schauspieler auf verschiedenen Bühnen, so beispielsweise in der Rolle des Pinocchio auf
der Waldbühne Heessen. Er ist einer aus einer stattlichen Reihe von ConvosSchülern/innen, die aus dieser Leidenschaft
einen Beruf gemacht haben – er lässt sich
derzeit zum Schauspieler und Tänzer ausbilden.
Großeinkäufe tätigte um im Unterricht gut versorgt
zu sein (meinen Pausensnack von zu Hause hatte ich
schon immer vor der ersten Stunde vertilgt), und als
zweites natürlich die Theater-AG, mit der ich das
Stück „Bella, Boss und Bulli“ auf die Bühne brachte.
Dass dies meine ersten Erinnerungen sind, begründet sich so:
1. Ich esse nun mal besonders gerne und besonders
viel und
2. spielte in meinem Leben das Theater schon immer
eine Hauptrolle.
Mit vier Jahren war ich zum ersten Mal in einer
Also, jetzt sitze ich hier und versuche mich an meine Theateraufführung und habe danach sofort festgeSchulzeit zurückzuerinnern – an irgendwelche Leh- legt: Mama, Papa! Ich werde Schauspieler!!!
Kurz danach stand ich auch schon auf der Bühne
rer/innen, Fächer, peinliche Erlebnisse – und mir
fällt natürlich zuerst mal wieder der Schulkiosk mit und bin auch nie wieder davon losgekommen. Doch
Doris ein, bei der ich immer in der Pause meine bevor ich mit einer professionellen Ausbildung beginnen konnte, musste ich halt erstmal
zur Schule. Aber auch hier merkte ich,
dass man mit Schauspiel sich oft helfen konnte, z. B. wenn man mal keine
Hausaufgaben hatte wegen überlanger
Theaterproben an Nachmittag oder
einfach keine Lust auf Unterricht verspürte:
„Oh, mir ist ja so schlecht!“
„Ja, Thorsten, geh besser mal raus an die
Luft, du bist ja total blass!“
Einmal, im Physikunterricht, verließ mich mein Improvisationsvermögen dann aber doch: Ich musste wie so
häufig nach vorn kommen, sollte am
Pult einen Stromkreis aufbauen; es
ging natürlich schief – Kurzschluss! –,
es krachte, zischte, dampfte und der
Physikraum oder auch die ganze
Schule versank in Dunkelheit: Welch
ein Auftritt! Applaus! (Na ja, man sagt
ja immer: Künstler und Technik, das
Thorsten Hellmich in „Bella, Boss und Bulli“ 1999 (3. v.l.)
114
Thorsten als Pinocchio auf der Waldbühne Heessen (1999)
sind zwei verschiedene Welten ...) Jedenfalls musste
ich nie wieder nach vorn.
Am Nachmittag bis Abend hatte ich halt immer
Tanz-, Gesangs- und Schauspielproben und natürlich auch Auftritte, und so konzentrierte ich mich
hier auf mehr als auf manche Kurvendiskussion
(Wer bin ich gleich? Was muss ich tun? Sind Kostüm
und Requisiten komplett?)
Aber auch ohne Kurvendiskussionen kann man
was werden! Mein Abi habe ich 1999 gemacht, die
Mathenote war nicht so gut (das Thema war: Kurvendiskussionen!), und ich musste zum Glück auch
in keine Nachprüfung (hätte auch keine Zeit gehabt:
Theateraufführung!).
Anschließend habe ich meinen Zivildienst absolviert und konnte nun endlich einen Traum verwirklichen: eine Ausbildung zum Schauspieler und Tänzer (an der School of Theatre Arts in der Nähe von
Frankfurt a. M.) – es ist eine sehr harte und oft ernüchternd eintönige Ausbildung, ich bin täglich von
morgens acht bis fast in die Nacht auf den Beinen, das
ist nicht immer lustig! -, und außerdem qualifiziere
ich mich zum Ballettpädagogen (man bleibt ja nicht
ewig jung und will im Alter vorgesorgt haben ...)
Kleine Geschichten
Das Gute an einem
miserablen Gedächtnis
■ Da gab’s aber ein Wort von Frl. Dr. Merten, fast
so nebenher gesagt, das große Bedeutung für mein
Leben hatte. Als ich mal wieder etwas nicht wusste,
sagte sie sinngemäß:„Helga, Sie haben zwar ein miserables Gedächtnis, aber trösten Sie sich, das ist
auch etwas Gutes. Sie können sich niemals auf Ihrem Gedächtnis ausruhen. Sie müssen jede Situa-
tion überdenken, ihr auf den Grund gehen und
kreativ eigene Ideen in die Welt setzen. Das hält den
Verstand hellwach.“
Diese Worte haben mich wesentlich mitgeformt. Oft fühlte ich mich verpflichtet, mir etwas
einfallen zu lassen und nicht nur einfach in festgelegten Bahnen weiterzumachen. Das brachte mir
viele Ups, aber auch Downs in mein Leben, denn
nicht alle Ideen waren vernünftig.
Helga Paradies, geb. Dietrich
115
Alles Gute – dein Jüngster!
Claus Bröskamp über seinen Absturz in die tiefste Provinz,
von Bielefeld aus gesehen …
Seit dem 1. Februar 1999 ist Claus Bröskamp,
geboren 1971 in Harsewinkel, als Studienreferendar an unserer Schule tätig. Fächer: Mathematik und Sozialwissenschaften (studiert
hat er aber auch mal Maschinenbau in Stuttgart und er ist im Besitz eines Busführerscheins!) Der Benjamin des Kollegiums ist
seit dem 1. Februar fest angestellt.
Mittwoch, 23. Dezember 1998:
Vor dem Postfach
im Postamt Harsewinkel
Da ist es! Mein erstes, sozusagen vorgezogenes
Weihnachtsgeschenk: das sehnsüchtig erwartete Einstellungsangebot ... Oder vielleicht doch nicht?
Ich reiße den Umschlag auf: „Sehr geehrter Herr
Bröskamp, aufgrund Ihrer Bewerbung und des Ergebnisses eines für Ihr Lehramt durchgeführten Zulassungsverfahrens beabsichtige ich, Sie in den Vorbereitungsdienst für das Lehramt, für das Sie die Erste Staatsprüfung abgelegt haben, einzustellen. [...]
Ihre Ausbildung soll beim Studienseminar für das
Lehramt für die Sekundarstufe II, Berliner Platz 3-5,
59759 Arnsberg [...] erfolgen.“
Arnsberg!? Mittelschwere Panik macht sich breit.
Ich lehne mich an die Mauer. Referendariat am Studienseminar Arnsberg!? (Mit Verlaub: Der Regierungsbezirk Arnsberg galt unter uns Bielefelder
Lehramtsstudenten als das „Ostfriesland NordrheinWestfalens“.)
Ein Film läuft vor meinen Augen ab: Mein neues
Zuhause ist eine einsame Almhütte im Herzen des
Sauerlandes. Andere Menschen meines Jahrgangs
haben die Region bereits vor Jahren fluchtartig verlassen, nachdem sie sich im Tausch gegen ein paar
Kästen Sauerländer Bieres den Führerschein „erschmuggelten“ oder einige von Ochsen gezogene
116
Fuhrwerke zu einem langen Treck gen Westen zusammengestellt hatten. Umgeben von vielen Kurgästen friste ich einsam mein Dasein. Den Tag verbringe ich in einer zur Schule umgebauten Scheune.
Mittwoch, 4. Juli 2001:
Marktplatz Soest
Gemütlich sitze ich mit den letzten in der Region
verbliebenen Ex-Referendaren in einem Café am
Marktplatz von Soest. Scharen von Schülerinnen
und Schülern strömen an uns vorbei. Auch einige
meiner ersten „Schützlinge“ aus der Klasse 8d des
Convos sind dabei. Ihnen habe ich mich vor knapp
zwei Jahren „noch etwas wackelig auf den Beinen“
als Referendar und gleichzeitig neuer „Mathe-Lehrer“ vorgestellt. „School’s out!“ - die Sommerferien
beginnen und die Jugendlichen läuten sie „rund ums
Pesel“ entsprechend ein.
Für mich gilt seit Februar 2001: „school’s completely in“ und insbesondere „Convos is in!“ Denn
seit Februar bin ich als erster frisch aus dem Referendariat eingestellter Lehrer seit 17 Jahren mit einer
festen Stelle am Convos.„Sind Sie denn jetzt ein richtiger Lehrer oder nicht?“, das fragten die Schülerinnen und Schüler am Anfang des Referendariats und
am Ende fragten sie es wieder. Naja,„richtig“ im Sinne von „perfekt“ bin ich bestimmt nicht.
Aber ich habe einiges dazugelernt:
1. Soest gehört nicht zum Sauerland. Der „konventionelle Soester“ reagiert schon mit einer gehörigen
Portion Unmut, wenn man ihn nur als „Nordsauerländer“ tituliert.
2. Das Sauerland ist aber in greifbarer Nähe. Und das
ist gut so! Möhnesee und Arnsberger Wald laden am
Ende eines langen Tages zum Entspannen ein.
3. Meine „Referendarbude“, die ich immer noch bewohne, ist längst keine Almhütte. Dafür ist sie viel zu
klein!
4. Nicht allen Soestern meines Jahrgangs ist es offenbar gelungen, ein Fuhrwerk zu ergattern, um die
Region zu verlassen. Es gibt tatsächlich zahlreiche
Lebewesen in Soest, die meinen Jahrgang vertreten.
5. Das Schulgebäude hat wenig Ähnlichkeit mit einer Scheune.
Glücklicherweise sind mir diese Erkenntnisse bis
zum Januar 2001 zuteil geworden. Schließlich haben
sie mich u.a. auch dazu bewogen, mich in der „nördlichen Peripherie des Sauerlandes“ um eine feste Stelle als Lehrer für Mathematik und Sozialwissenschaften zu bemühen. An meiner Ausbildungsschule Convos hatte ich bis dahin nicht nur das Gebäude zu
schätzen gelernt. Schülerinnen und Schüler, die
Schulleitung und insbesondere die engagierten Kolleginnen und Kollegen im Innern und vielfach auch
vor den Toren dieses Hauses des Lernens tragen bis
heute dazu bei, dass ich mich hier richtig wohl fühle.
So habe ich den Sprung aus dem Referendariat in
die Praxis eines Gymnasiallehrers hinter mich gebracht, einen der noch nicht allzu üppig gesäten Posten „ergattert“. Auch wenn mir im ersten Halbjahr
meines Lehrerdaseins des Öfteren „der Kopf rauchte“, konnte der drohende „Praxisschock“ durch die
Arbeit in einem tollen Team gut bekämpft werden.
Ob ich Zukunftsvisionen habe? – Ein schüler-,
handlungs- und anwendungsorientierter Mathematikunterricht gehört sicherlich dazu, ebenso der Einsatz neuer Medien. Berufsorientierung und die Förderung methodischer Kompetenzen sind zentrale
Bestandteile des Politik-/Sowi-Unterrichtes, die
ebenfalls weiter ausgebaut werden sollten. Mit neuen Konzepten im Kontext des Betriebspraktikums
und kleineren Unterrichtsprojekten beispielsweise
zu den Themen Freizeit, Jugendkonsum und Jugendkriminalität möchte ich mich hier einbringen.
Claus Bröskamp vor einer Art Almhütte
Schön, dass ich diese Projekte in den nächsten
Jahren weiterverfolgen kann. Schön auch, dass ich als
„Noch-Nicht-Dreißiger“ im Jubiläumsjahr dabei
bin. Für die nächsten „runden Geburtstage“ unserer
Schule gehe ich jedoch davon aus, nicht mehr die
Rolle des „Benjamins im Kollegium“ inne zu haben.
Nicht schlimm!
Happy Birthday Convos!
Alles Gute, dein Jüngster.
Kleine Geschichten
Schlammschlacht
■ Im Mai 1943 nach der Möhnekatastrophe wurden wir zum Aufräumen abkommandiert. In den
Dörfern unterhalb der Sperrmauer halfen wir, die
Wohnungen in Ordnung zu bringen.
Ich war in Niederense eingesetzt. Es war herrliches Frühlingswetter. Das sonst so grüne Möhnetal war mit Geröllmassen bedeckt, an den Ufern la-
gen verendete Pferde; steif streckten sie die Beine in
die Luft aus einem aufgetriebenen Leib.
Die Wohnungen sahen schlimm aus: von
Schlamm überzogen, die Furniere der Schränke
aufgeweicht und abgeplatzt. Was in den Schränken
noch brauchbar war, wurde mühsam abgewaschen.
Nie habe ich so viel Geschirr gespült.
Hildegard Awater
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Kleine Geschichten
Blendende Oberkörper
■ Es ist die Zeit kurz vor den Sommerferien, es ist
heiß und die Bauarbeiter, die am Paradieser Weg
die Aula umbauen – das muss 1967 gewesen sein
– machen sich frei, obenrum, wie man das nicht
selten sieht. Aber sie arbeiten vor den Fenstern eines Mädchengymnasiums! Unbekleidete männliche Haut: welche Gefährdung der Sittlichkeit junger heranwachsender Schülerinnen, die, dankbar
für jede Abwechslung, am Fenster hängen und begeistert den Ablauf praktischer Arbeiten studieren!
Dem muss Einhalt geboten werden ...
Einige Zeit später eilt Dr. Blattgerste durch die
Räume, in denen Sichtkontakt zur Baustelle besteht, und verfügt, die Mädchen hätten sich bitteschön den Fenstern fernzuhalten. Und Schulleiterin Bruski muss ein ernstes Wörtchen mit den Herren vom Bau gesprochen haben, denn in der zweiten Pause schon konnten die Mädchen nur noch
verhüllte männliche Körper erspähen.
Klar, dass solche Geschichten schnell die Runde
machen in Soest. Und später noch legten (männliche) Abiturienten, die bei ihren Umzügen auch das
Mädchengymnasium stürmten, gern demonstrativ ihre Hemden ab.
Anna Blazejewska sendet eine Mail aus Warschau
Keine Zeit, irgendwas zu schreiben
■ Für zwei Jahre war Anna Blazejewska
Schülerin unserer Schule, in den Klassen 5
und 6 (von 1998 bis 2000), dann zog die Familie wieder zurück nach Warschau. Anna
schreibt bzw. mailt:
Hallo Herr Braukmann,
tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet
habe, aber ich komme einfach nicht dazu.
Wenn ich nach sieben oder acht Stunden nach
Hause komme und ich noch für ein paar Klassenarbeiten lernen muss, habe ich wirklich keine Lust
und Zeit, um irgendwas zu schreiben. Zum Beispiel
am Montag hab ich eine Bioarbeit und am Mittwoch Geschichtsarbeit und eine Physikarbeit.
Irgendwann in der Woche muss ich noch Mathe
schreiben. Und ich dachte früher, dass Sie uns
quälten ...
Jetzt schreib’ ich eine Antwort auf Ihre Fragen:
Ich vermisse Deutschland, das Convos, meine Klasse und sogar Sie (obwohl ich damals dachte, dass
Sie ein Tyrann sind, aber das gehört wohl nicht in
118
die Festschrift). Hier in Polen müssen wir viel mehr
lernen, aber dafür müssen wir nicht so viel Schriftliches machen. Ach ja, ich gehe jetzt in die 1. Klasse. Lustig, nicht? In Deutschland zählt man weiter:
z. B. 7., 8. Klasse Gymnasium, und hier ist es die 1.
118
und 2. Klasse Gymnasium (denn die Grundschule
dauert sechs Jahre).
Ach, ich bin wieder vom Thema weg. Eigentlich
kann ich nicht mehr viel sagen. Mir gefiel es am
Convos und ich will wieder zurück. Die Zeit im
Convos war die schönste und ich habe dort die besten Freunde gefunden!
So, wenn Sie noch irgendwelche Fragen haben,
dann interviewen sie mich doch live! Was halten sie
davon? Nee, ich bin noch nicht verrückt. Ich meine nur, dass ich euch besuchen komme. Das wird
ungefähr nach dem 25. Juni sein. Toll! Ich werde
dort etwa eine Woche zur Schule gehen. (Ich bin
doch wahnsinnig! In den Sommerferien freiwillig
in die Schule gehen!) Das soll aber für die 7c ein
Geheimnis bleiben ...
Grüße Anna B.
Anna 2. v. l. kurz nach der Einschulung 1998
Das Convos und der „Westfälische Friedenspreis 2000“
Diplomaten in
Gummistiefeln
Am 28. Oktober 2000 wurde dem Conradvon-Soest-Gymnasium der „Westfälische
Friedenspreis 2000“ verliehen – eine hohe
Auszeichnung! Wie es dazu kam, soll in einer
chronologischen Darstellung der Aktivitäten
und Auszeichnungen der betreffenden
Arbeitsgemeinschaften sowie in einem
Schülerbericht deutlich werden.
117
Das Pferd in der Vitrine
Hanno Leifert erinnert sich an ganz besondere Schul-Erlebnisse
Stellvertretend für all das, was schon über
die erfolgreiche Arbeit der Bio-AG und die
anderen Initiativen im Rahmen der internationalen Projekte des Conrad-von-SoestGymnasiums berichtet wurde, stellt hier
Hanno Leifert – Abitur 2001 – diese praktische Unterrichtsarbeit aus Schülersicht dar.
Recht einsam und fremd steht ein Pferd in der
Schulstraße des Conrad-von-Soest-Gymnasiums
und schaut traurig auf die vorbeiziehenden Schülermassen. Irgendwie scheint es noch nicht seinen Platz
gefunden zu haben und deswegen zieht es kaum die
Beachtung des Schülerstromes auf sich. Eine provisorische, hinter das Pferd geklemmte Urkunde gibt
Aufschluss über die Herkunft des Tieres: Es ist ein
wertvolles westfälisches Tier.
Jede Wette, dass dieses Pferd heute, im September
2001, zum 125-jährigen Bestehen des Conrad-von-
Preis und Preisträger: Hanno Leifert, Uli Dellbrügger,
Simone Folke (v. l.)
120
Soest-Gymnasiums seinen Ehrenplatz bekommen
hat! Wahrscheinlich steht es auf schwarzem Samt
hinter einer frisch polierten Glasscheibe und ein goldener Lorbeerkranz ziert das stolze Haupt des Tieres ... Aber wir wollen nicht übertreiben! Vielmehr
wollen wir doch endlich die Geschichte hören, die
erklärt, wie das Pferd seinen Weg in eine Glasvitrine
des Conrad-von-Soest-Gymnasiums fand.
Aber wer wird diese Geschichte erzählen? Nun,
das bin ich, ehemaliger Schüler der Schule – und
jetzt gerade, wenn Sie diese Zeilen lesen, wahrscheinlich schon nicht mehr im Lande. Deswegen
kann ich auch keineswegs versprechen, dass das
Pferdchen nicht immer noch einsam steht und keine Beachtung findet. Aber wenn dem so sei, lesen Sie
ruhig weiter und versuchen Sie zu verstehen, warum
ich dem Tier doch so sehr wünsche, geschmückt auf
Samt zu stehen!
Mir wurde gesagt, dass die Geschichte im Jahre
1984 mit der Gründung der Biologie-AG am Convos anfängt. (Sie sehen schon, dass es eigentlich eine
lange Geschichte werden müsste ...) Aber Sie haben
Glück, denn – wie Sie sich leicht ausrechnen können
– ich vermag zum Anfang der Geschichte nicht viel
zu sagen. Genauer gesagt: Den größten Teil der Geschichte müssen Sie sich von anderen, älteren Menschen erzählen lassen. Mein Teil wird nicht mehr als
zwei Seiten dieser Jubiläumsschrift umfassen. Aber
dafür ist es eben mein Teil; Sie hören die ehrliche
Fassung eines (ehemaligen) Schülers und sie reicht
aus, um zu verstehen, warum das Pferd in der Vitrine steht.
Und dieser Teil der Geschichte beginnt genau 15
Jahre später in einer Biologiestunde mit der Aufforderung, sich für die Teilnahme an einem multinationalen Projekt in den Niederlanden zu bewerben.
Mein Biologielehrer begann zu erzählen, über die
Tradition dieser Projekte, von denen ich zwar schon
viel gehört, für die ich mich aber bis dahin nicht
sonderlich interessiert hatte. Nun, das soll heißen:
Mehr als die Informationen, die man über die Lokalteile der Zeitung erhielt, besaß ich nicht. Aber
trotzdem war für mich und fünf weitere Schüler und
Schülerinnen meiner Stufe damals sofort klar, dass
dieses ein besonderes Angebot war, das man während seiner Schulzeit höchstens ein Mal bekommt:
Mit dem Projekt waren ein immerhin 14-tägiger
Aufenthalt im Ausland, praktische ökologische Arbeit und – das fand ich damals besonders interessant
– der direkte Kontakt mit Jugendlichen aus fünf verschiedenen europäischen Nationen und damit die
Auseinandersetzung mit fünf verschiedenen Kulturkreisen verbunden!
Heute – über ein Jahr nach dem Projekt in der
Umgebung der Soester Partnerstadt Kampen – ist
für mich klar, dass dieses Camp im Mai 2000 zu den
erfahrungsreichsten, interessantesten und schönsten
Momenten meiner Schulzeit gehörte. Dabei bedeuteten die 14 Tage in Holland keineswegs immer nur
Vergnügen und Spaß (wobei wir diesen Aspekt nie
zu kurz kommen ließen), sondern verlangten noch
in weit stärkerem Maße als auf einer Klassenfahrt
Anpassung und Integrationsvermögen. Das volle
Programm, nicht zuletzt das miserable Wetter und
kleine Versorgungsprobleme während des Projektes
sorgten manchmal für eine gereizte Stimmung. Man
könnte behaupten, das sei negativ zu bewerten, aber
aus meiner Sicht waren es gerade diese Situationen,
die einem Gelassenheit und Kommunikationsvermögen abverlangten; Eigenschaften also, die für das
Funktionieren einer solchen kleinen und erst recht
jeder größeren Gemeinschaft unabdingbar sind. Eine weitere wichtige Eigenschaft, die während des
Camps immer wieder gefordert wurde, war das Verständnis für den anderen. Denn trotz aller Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen nationalen Gruppen gab es eben auch
(Gott sei Dank!) Unterschiede, auf die es Rücksicht
zu nehmen galt. Ohne diese Rücksicht – das merkte
man schnell – konnte ein solches Projekt nicht funktionieren. Und diese Rücksicht wurde, und das ist
unvermeidlich, einige Male auf die Probe gestellt.
Auf der anderen Seite ist es bemerkenswert, wie
groß die Übereinstimmungen im Denken der verschiedenen nationalen Gruppen waren: Zwischen
den westlichen Jugendlichen konnte man bis auf einige Kleinigkeiten fast gar keine größeren Unterschiede feststellen; die Distanz zu den aus Osteuropa kommenden Gruppen dagegen war zwar größer,
Dankrede zur Preisverleihung im Friedenssaal zu
Münster, am Pult: Uli Dellbrügger, Leiter der Bio-AG
aber trotzdem aus meiner Sicht immer noch erstaunlich gering.
Insgesamt hat unsere kleine europäische Gemeinschaft während der Zeit in Holland sehr gut
funktioniert. Und nur das – und nicht schriftlich
festgehaltene ökologische Untersuchungsergebnisse
(die es im Übrigen auch reichlich gab) oder das
„Preis/Leistungs-Verhältnis“ der ausgefallenen Unterrichtszeit – sollte der Bewertungsrahmen eines
solchen Projektes sein. Ich kann übrigens versprechen, dass man in zwei Wochen Schulzeit an einem
deutschen Gymnasium gar nicht so viel verpassen
kann, wie man durch die Teilnahme an einem solchen Projekt gewinnt. Und für diesen Gewinn an Erfahrungen, schönen Momenten und interessanten
Eindrücken möchte ich mich bedanken, denn ich
weiß, dass dies keineswegs an jeder deutschen Schule selbstverständlich ist.
Sie werden sich jetzt fragen, wann denn nun das
Pferd endlich ins Spiel kommt! Nun, dieses Pferd,
das werden die meisten sofort gewusst haben, verkörpert den Westfälischen Friedenspreis, den unsere Schule für die internationale Zusammenarbeit mit
ihren Partnerschulen verliehen bekommen hat. Das
Camp in Holland war zwar nur ein Beitrag von vielen, aber trotzdem: Mich persönlich erinnerte das
Pferd in der Schulstraße, wenn ich an ihm auf dem
Weg in die Pause oder in den Bio-Hörsaal vorbeiging, immer an die tolle und lehrreiche Zeit während
des Projektes im Mai 2000 und an alles, was sich im
Zusammenhang mit dieser Fahrt in der Nachfolge
ergeben hat.
121
Aktivitäten und Auszeichnungen
Die internationale Arbeit des Conrad-von-Soest-Gymnasiums
seit Gründung der Bio-AG – und die vielfache Resonanz
1984 Gründung der Biologie-Arbeitsgemeinschaft (Bio-AG)
1985 Bau des Schulteiches
1986 Praktische Naturschutzarbeit vor Ort, Anlegen von Feuchtbiotopen und Hecken
1988 Erste Veröffentlichung: Vorläufige Untersuchungsergebnisse über Soester Fließgewässer für die Umweltschutztage der Stadt
Soest
1989 Erste Auszeichnung der Arbeit durch den
Kreis Soest
2. Bundessieger beim Wettbewerb Impulse
des Schroedel-Verlags für die Analyse der
Soester Fließgewässer
Dokumentation des sehr
konfliktträchtigen
Projekts Vom Klärteich
zum Vogelschutzgebiet
Die erste Veröffentlichung der Arbeitsgemeinschaft
Erste bundesweite Veröffentlichung der
Ergebnisse
1990 Gewässeranalyse der Soester Bäche
1991 Vorstellung des Buches Soester Bäche in
der Sparkasse Soest, Ratsbeschluss zur
Offenlegung aller Soester Quellen
Sonderpreis Umwelt des Landes NRW bei
Jugend forscht
Auszeichnung durch den Naturschutzbund Deutschland für beispielhaftes Engagement und vorbildlichen Einsatz um den
Schutz und den Erhalt der bedrohten Tierund Umwelt
Mehrere Ausstellungen in verschiedenen
deutschen Städten (u. a. Bundesgartenschau in Dortmund, Bundesumweltministerium)
1992 Analyse des Schrottplatzgeländes im
Amper Bruch
122
Anlage eines Teiches
1993 Vorstellung des Buches: Vom Schrottplatz
zum Feuchtgebiet – eine Untersuchung
zum Artenschutz im Amper Bruch im Landesinstitut für Schule und Weiterbildung
Runder Tisch: Schüler/innen diskutieren
mit Behördenleitern die Umsetzung ihrer
Renaturierungspläne
1993 Sieger des Regionalwettbewerbes von
Jugend forscht in Dortmund
Auszeichnung mit dem Sonderpreis Umwelt
Landessieger Jugend forscht in Biologie,
Umweltpreis des Landes NRW
Sonderpreis der Jugendjury für die beste
Präsentation der Ergebnisse beim Landeswettbewerb
Vertreter des Landes NRW beim Bundeswettbewerb von Jugend forscht in Bitburg.
Auszeichnung mit dem Sonderpreis
Europas Jugend forscht für die Umwelt.
Qualifikation für den Europawettbewerb
von Jugend forscht
Verfilmung des Projektes im Auftrag von
Jugend forscht
Die Untersuchung der Bio-AG über den
Amper Bruch wird somit den Schulen in
Deutschland und im Fernsehen als beispielhaftes Projekt vorgestellt.
Modell Amper Bruch mit den Preisträgern
Antje Trick, Babette Jahn, Jörg Tillmann
Auszeichnung durch die Theodor-HeussStiftung und die Akademie für Bildungsreform für vorbildhaftes demokratisches
Handeln, Teilnahme an der 3. Lernstatt
Demokratie in Leipzig
Gewinn eines Hauptpreises beim BundesUmweltWettbewerb von IPN (Institut für
Pädagogik der Naturwissenschaften) und
Bundesbildungsministerium
Bundesweite Veröffentlichung als Beispielarbeit durch IPN
Preisübergabe durch Hilmar Kopper
1993 Nationaler Preisträger der Bundesrepublik
Deutschland beim Europawettbewerb von
Jugend forscht (Young Europeans’ Environmental Research)
Die Untersuchung über den Amper Bruch
wird mit einem Sonderpreis ausgezeichnet und erhält europaweite Anerkennung.
Berichterstattung in regionalen und überregionalen Medien, u. a. mehrere Fernsehauftritte in Magazinen, Talkshows, Nachrichtensendungen
Ausstellungen in mehreren deutschen
Städten
Oberschlesien: Polnische und deutsche
Jugendliche untersuchen das Himmelwitzer Wasser
– Rzeka Jemielnica
Als Landessieger des Wettbewerbes Jugend
forscht Teilnahme an einem internationalen
Forschercamp
123
1996 3. Platz im Fachgebiet Biologie und 3.
Umweltpreis des Landes NRW
2. Platzierung beim bundesweiten Wettbewerb Schule des Jahres des Schülermagazins Chance
Auszeichnung durch die Theodor-HeussStiftung und die Akademie für Bildungsreform. Teilnahme an der 6. Lernstatt Demokratie in Bremen
Internationale Zusammenarbeit
(Umwelt kennt keine Grenzen)
1994 Als Preisträger des Jugend forscht-Europawettbewerbes Teilnahme am 3. Internationalen Jugendcamp Europas Jugend forscht
für die Umwelt
Ökologische Untersuchungen im dt.poln. Nationalpark Unteres Odertal
Umwelt kennt keine Grenzen
Srodowiskonie zna granic:
Luft- und Wasseranalysen in Polen
Projekt mit polnischen Jugendlichen,
Transfer von Naturschutzarbeit nach Polen. Kongresse in Polen und Deutschland.
Veröffentlichung als zweisprachiges Buch
Erster Besuch in Strzelce Opolskie,
Durchführung der Gewässeranalysen
1995 Vorstellung des Buches Umwelt kennt
keine Grenzen im großen Sitzungssaal des
Rathauses der Stadt Soest, Hansetag in
Soest
1996 Analyse des Geländes der Klärteiche der
ehemaligen Zuckerfabrik in Soest und
Publikation Vom Klärteich zum Vogelschutzgebiet
Sieger im Fachgebiet Biologie beim Regionalwettbewerb Jugend forscht in Dortmund, Sonderpreis Umwelt der Stiftung
Jugend forscht und 2. Sonderpreis des Umweltministers, Sonderpreis des Bundesforschungsministers für das Conrad-vonSoest-Gymnasium
Teilnahme am Landeswettbewerb Jugend
forscht in Leverkusen
124
Preisverleihung des BundesUmweltWettbewerbes im Wissenschaftszentrum in
Bonn, Sonderpreis des Wettbewerbes
Sonderpreis des Bundesforschungsministers für Umweltschutzarbeit
1997 Auszeichnung mit dem Comenius-Förderpreis durch Frau Dr. Hildegard
Hamm-Brücher in der Frankfurter Paulskirche für besonderes und kontinuierliches
demokratisches Engagement
Teilnahme an der 7. Lernstatt Demokratie
in Offenbach
Durchführung des Projektes Hydor men
ariston – Young Europeans’ Joint Venture in
Environmental Research
Einladung des Bundespräsidenten Roman
Herzog und Vorstellung der Projekte in
seinem Berliner Amtssitz Schloss Bellevue
Bundespräsident Herzog begutachtet die
Projektbroschüre (mit U. Dellbrügger)
2000 Durchführung und Vorstellung des multinationalen Projektes Water In Abundance?!
beim 20. Internationalen Hansetag in
Zwolle
Ornithologische Studien auf Gotland
1997 Alte neue Heimat Stara nowa Ojczyzna :
Deutsch-polnisches Geschichtsprojekt,
bei dem die Schüler/innen das schwere
Schicksal Vertriebener nach dem 2. Weltkrieg untersuchen. Publikation in deutscher und polnischer Sprache
Öffentliche Vorstellung des Buches in
Deutschland und Polen
1998 Vorstellung des Projektes Hydor men
ariston beim 18. Int. Hansetag in Visby
8. Lernstatt Demokratie am Conradvon-Soest-Gymnasium in Soest
Preisträger Demokratisch Handeln bei
der Lernstatt Demokratie in Nürnberg für
Aktivitäten im Bereich der Lokalen
Agenda 21
Auszeichnung des Bio-LK 12 mit dem
JUP 2000 (JugendUmweltPreis des WDR)
für das Projekt An der schönen blauen
Donau
Zweifacher Preisträger des BundesUmweltWettbewerbs für die Projekte Biotopverbundplanung und den Film Nistkastenbau.
28.10. 2000 Westfälischer Friedenspreis
Einladung zur Konferenz Ökologie und Erziehung nach Krasnojarsk/Sibirien
Preisträger der Tutzinger Stiftung zur
Förderung der Umweltbildung
Vorstellung Vom Schulteich zur internationalen Partnerschaft
Arbeiten zur lokalen Agenda. Kartierungen im Soester Westen
Lehrfilm der Bundeszentrale für politische Bildung über die Arbeit der Bio-AG
unter dem Aspekt Lokale Agenda 21
Per Rad von Deutschland nach Polen:
Gemeinsame Fahrradtour einer deutschpolnischen Schülergruppe durch das
deutsche und polnische Niederschlesien.
Seminar in Kreisau
1999 Aufnahme in den Kreis Innovative Schulen
in Deutschland durch die BertelsmannStiftung
2000 Auszeichnung als Zukunftsprojekt beim
Robert Jungk Preis des NRW-Ministeriums für Arbeit, Soziales und Stadtentwikklung, Kultur und Sport für zukunftsweisende Ideen und Konzepte in Zusammenhang mit der Lokalen Agenda 21
Kurs Visby
Anfrage auf Zusammenarbeit im Bereich
Gewässeranalysen aus Olonez/Karelien in
Nordwestrussland
In Planung sind zwei weitere Geschichtsprojekte des Conrad-von-Soest-Gymnasiums
und des Liceums in Strzelce Opolskie: erstens
die Geschichte von Denkmälern in Strzelce
Opolskie sowie Soest und zweitens die Untersuchung des Schicksals polnischer Zwangsarbeiter.
125
Vorbild für Ausgleich, Verständigung und Frieden
Ernst F. Schröder zur Verleihung des Westfälischen Friedenspreises 2000
Die in diesem Jahr in der Abteilung Jugendpreis verliehene und mit 50 000 DM dotierte Auszeichnung
geht je zur Hälfte an das Conrad-von-Soest-Gymnasium im westfälischen Soest und an das Zespol
Szkol Spolecznych Nr. 1 in Breslau. Das hat die Wirtschaftliche Gesellschaft für Westfalen und Lippe e.V.
(WWL) als Preisstifterin entschieden.
Das Kuratorium des Westfälischen Friedenspreises
folgte mit der Entscheidung für das Conrad-vonSoest-Gymnasium und an das Zespol Szkol Spolecznych Nr. 1 in Breslau einstimmig dem Vorschlag
der Jury. Mit der Auszeichnung werden die erfolgreichen und vorbildlichen Bemühungen beider
Schulen um den Frieden in Europa gewürdigt. Zwischen beiden Schulen gibt es keine Zusammenarbeit,
sondern sie engagieren sich mit verschiedenen Partnerschulen in Polen und Deutschland und in anderen europäischen Ländern für grenzüberschreitende
Verständigung.
Das Soester Gymnasium hat dies besonders bei
Umweltprojekten zum europäischen Wassermanagement Umwelt kennt keine Grenzen und dem
Projekt Alte neue Heimat zum Schicksal der vertriebenen und ausgesiedelten älteren Bürger getan.
Bundespräsident Johannes Rau hat die Aktivitäten
des Conrad-von-Soest-Gymnasiums bereits als eindrucksvollen Beleg für gelebte Schulpartnerschaften
und als Beitrag dafür bezeichnet, dass sich junge
Menschen verschiedener Völker wirklich kennen lernen und gemeinsam am Haus Europa bauen.
Das 1990 gegründete Breslauer Gymnasium fördert seit 1992 den Verständigungsprozess mit deutschen Schulen, um die europäische Teilung unter
dem Stichwort Nachbar in Europa zu überwinden.
An zwölf Projekten haben sich mehr als 400 Schüler
beteiligt. 1997 hat das Gymnasium einen Wettbewerb zum Thema Deutschland entdecken unter Mitwirkung von zehn Schulen aus der Woiwodschaft
Breslau veranstaltet. Umweltthemen hat die Schule
vorangebracht unter dem Motto Wälder schützen
Menschen, Menschen schützen Wälder. In diesem
126
Jahr läuft ein von ihr initiierter Wettbewerb in
Kreisau/Schlesien zur
Weltausstellung EXPO
2000 in Hannover.
Zu den Preisrichtern
des Westfälischen Friedenspreises zählen Jean
François-Poncet, Senator
der Französischen Republik, der frühere dänische Ministerpräsident
WWL-Vorsitzender
Poul Schlüter, der eheErnst F. Schröder
malige Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer,
der ehemalige Bremer Bürgermeister und EU-Verwalter von Mostar, Hans Koschnick, der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker und der
Vorsitzende der WWL.
Der mit insgesamt 100 000 DM dotierte, zweigeteilte Westfälische Friedenspreis ist 1998 aus Anlass
des 350. Jubiläums des Westfälischen Friedens von
Unternehmern gestiftet und erstmals an den tschechischen Staatspräsidenten Vaclav Havel und die
baskische Friedensorganisation Gesto por la paz (Bewegung für den Frieden) verliehen worden. Er wird
alle zwei Jahre vergeben und zeichnet je zur Hälfte
einerseits Persönlichkeiten aus, die sich beispielhaft
für die föderale Integration Europas, die gleichzeitige Stärkung der Regionen nach dem Subsidiaritätsprinzip und die friedliche Versöhnung eingesetzt haben. Andererseits wird der Westfälische Friedenspreis vergeben an Jugendliche und Jugendgruppen,
die durch ihr Handeln zum Vorbild für Ausgleich
und Frieden geworden sind und durch tätige Friedensliebe Zeichen der Verständigung gesetzt haben.
Er wird getragen von führenden Unternehmern aus
Westfalen und Lippe, die dem Kuratorium des Westfälischen Friedenspreises angehören. Die WWL besteht aus einem Zusammenschluss von 500 Unternehmen der Region.
(Auszug)
Auf dem Weg zur Solarschule
Das Convos zapft die Sonne an
■ Bei der 11. Lernstatt Demokratie der Initiative Demokratisch Handeln (20. bis 23. Juni
Aachen) wurde jetzt auch die EnergiesparAG des Conrad-von-Soest-Gymnasiums ausgezeichnet. 258 Projekte hatten sich zu diesem Wettbewerb beworben, 45 davon wurden prämiert, darunter zwei Convos-Projekte: Water in abundance?! (Bio-AG) und Auf
dem Weg zur Solarschule (Energiespar-AG).
Alles fängt damit an, dass die Stadt Soest das sogenannte fifty-fifty-Modell mit einem anderen Soester
Gymnasium durchführen will. Das Modell sieht
vor, dass das durch weniger Energieverbrauch eingesparte Geld auf die Schule und die Kommune
aufgeteilt wird. Das Gymnasium darf sich schließlich auch an diesem Projekt beteiligen. So wird im
Februar 1998 die Energiespar-AG ins Leben gerufen, welche sich auf vielfältige Art und Weise darum kümmert, dass der Energieverbrauch der
Schule sinkt.
Schon bald erkennen die 13 Schüler der Jahr118
gangsstufen 5, 7, 9 und 10, dass an der Schule sehr
viel Energie durch Unachtsamkeit vergeudet wird.
Nachdem die energetischen Schwachstellen ermittelt sind, wird sofort gehandelt: Die Schüler suchen einfache, aber wirksame Maßnahmen zur
Energieersparnis. Energiespartipps werden dann
im Infoblatt der Schule, in dem die AG regelmäßig
über ihre Aktionen informiert, veröffentlicht.
Außerdem wird an der Tür jeden Klassenzimmers
ein Aushang angebracht, der alle Schüler um Mithilfe bei einem Energiecheck bittet. Um die Klassen
für diese Aufgabe zu motivieren, wird die Klasse
mit dem niedrigsten Energieverbrauch mit einem
Extra-Wandertag belohnt. Um den Sieger dieses
Wettbewerbs zu ermitteln, kontrollieren die Mitglieder der Energiespar-AG, ob das Licht ausgeschaltet und die Fenster geschlossen sind. Im
Schuljahr 1999/2000 wird eine Ausstellung geplant,
die die einzelnen Klassen besuchen. Die Schüler
können selbst experimentieren und am Ende einen
Fragebogen ausfüllen. Danach schließen alle Klassen der Unter- und Mittelstufe mit der Energiespar-AG einen Vertrag ab, in dem sie versprechen,
sich in ihren Klassen energiebewusst zu verhalten.
Dieses Versprechen wird wie im Vorjahr auf seine
Einhaltung überprüft. Diesmal erhält die Siegerklasse eine Geldprämie. Es stellt sich heraus, dass
sich das Verhalten der Schüler des Gymnasiums bis
dahin bereits um 5 % verbessert hat.
Die Energiespar-AG betreibt auch Öffentlichkeitsarbeit, indem sie beispielsweise die Sportvereine, die die Anlagen der Schule nutzen, um Energiebewusstsein bittet, wöchentliche Energiespartipps verteilt, Artikel im Infoblatt der Schule
schreibt.
Die Sonnenenergieanlage auf dem Convos-Dach
Im aktuellen Schuljahr wird beschlossen, eine
zweite Ausstellung aufzubauen. Diese soll aus einem Energie-Parcours bestehen. Diese Ausstellung
wird nach monatelanger Tüftelei und Arbeit im
September 2000 eröffnet. Um die Schüler zur Auseinandersetzung mit dem Thema zu motivieren,
müssen sie nach dem Besuch der Ausstellung wieder einen Fragebogen ausfüllen, der später ausgewertet wird. Ziel des Parcours ist es, die Schüler
selbst erkennen zu lassen, was Energie ist. Der
Energieparcours wird nachmittags der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und erfreut sich auch dort
großer Beliebtheit. – Das Projekt bezieht alle in der
Schule arbeitenden Personen aktiv mit ein.
Die AG will nun mit Hilfe der Stadtwerke aus
dem Gymnasium eine Solar-Schule machen. Beim
Wettbewerb Solarschule 2000 gewann die Initiative
15 000 Mark, sammelte weiteres Geld und konnte
im Frühjahr die Sonnenenergie-Anlage (s. Foto)
einweihen. Derzeit gehen die Bestrebungen dahin,
auch in eine Photovoltaik-Anlage zur Energiegewinnung zu investieren.
127
... und wie sieht die Schule von unten aus?
Kellerratten und
Stilblüten
Originelle und originale Texte
und Sentenzen von Schülerinnen
und Schülern zum Abschluss
128
117
„... und hier sind die Mäuse drin!“
Die Klasse 5 c (jetzt 6 c) lässt sich vom Hausmeister
durch den Untergrund des Convos führen
Wahrscheinlich haben wir uns alle mal gefragt: Was ist eigentlich unten im Keller unserer Schule, wie sieht der wohl aus? Aus
diesem Grunde haben wir Hausmeister Paul
gefragt, ob er uns nicht mal herumführen
könne.
Herr Paul ist seit zwei Jahren an der Schule beschäftigt und die Arbeit, so sagt er, mache ihm Spaß. Er steht um halb sieben auf
und fährt dann mit dem Moped zur Schule.
Im Winter, bei Schnee oder Glätte, muss er
noch eher ’raus und die Wege freimachen.
Früher musste ein Hausmeister auch noch alle Kräne und Hähne aufdrehen – heute geht
das aber alles per PC in der Loge in der
Schulstraße!
Evelyn Gerth
„Dann lasst uns loslegen!“, mit diesen Worten begrüßt uns Herr Paul, als wir uns alle in seine Loge
drängen. Mit Notizblöcken und Stiften bewaffnet,
folgen wir ihm – er führt uns zur Aula. Aber was sollen wir denn hier, fragen wir uns, wir wollen doch
heute den Keller besichtigen! Herr Paul sieht unsere
verdutzten Gesicher und fängt an zu lachen. Dann
zeigt er uns eine Tür. Wir denken alle: Jetzt kommt
das geheimnisvolle Reich des Hausmeisters, und wir
sind die einzigen, die Zutritt haben!
Herr Paul schließt die Tür auf – aber welche Enttäuschung! Ein unangenehmer Geruch versperrt uns
fast den Weg. Doch unsere Neugier ist größer und
wir folgen ihm – einige halten sich die Nasen zu – in
den ersten Teil der Convos-Unterwelt. Es handelt
sich um einen Raum mit einer großen Tonne voller
Wasser. Herr Paul erklärt: „Dieser Raum heißt Leitwerkschichtspeicher.“ Alle Rohre und auch die Tonnen sind mit glänzender Alufolie umwickelt. Wir gehen weiter in den nächsten Raum. „Das ist der Lüftungsraum für die Aula.“ Unser Lehrer fragt ver-
wundert: „So ein großer Raum nur für die Aula?“
Das war dann aber auch schon der erste Teil der
Führung, wir gehen erstmal zurück und kommen an
einem Schacht vorbei, der wieder ziemlich stinkt.
Am Ausgangspunkt angekommen, ziehen wir Richtung Musikraum, an einer Tür vorbei, die bei größeren Aula-Veranstaltungen geöffnet wird und zu
den großen Toilettenräumen führt. Aber deswegen
sind wir ja nicht hergekommen, sondern um weitere Kellerräume kennen zu lernen, und so schließt
Herr Paul uns wieder eine unauffällige Tür auf, und
dahinter befinden sich 110 Kästen – große Batterien
– akkurat nebeneinander angebracht. „Wenn in der
Schule mal der Strom ausfällt, fangen diese Batterien
von selbst an zu arbeiten!“, erklärt uns Herr Paul –
wir staunen!
Die Wände sind grau und huckelig, doch die
Oberfläche fühlt sich glatt an. Überall sind Flecken, und es sieht sehr unordentlich und
schmuddlig aus. Das heißt: nicht gerade der gemütlichste Raum auf Erden!
Lara Neumann
Danach kommen wir in den Heizungsraum, in
dem sich eigentlich nichts Besonderes befindet außer Rohren und verschiedenen Hebeln. Im nächsten
Convos-Unterwelt: nicht gerade gemütlich
129
alle Kabel“, informiert uns der Hausmeister. Anschließend wird es dunkel, aber nicht, weil der Strom
ausgefallen ist! Nur wird der Gang niedriger und es
gibt lediglich eine sparsame Beleuchtung. Erst allmählich können wir erkennen, was in dem Raum
herumliegt und herumsteht – neben viel Gerümpel
eine kleine Sensation: eine Seifenkiste von früheren
Rennen der Schule!
Die alte Seifenkiste (aus dem Jahre 1985/1986)
kommt mir vor wie ein Kanu auf Rädern.
Maren Lammert
„Wenn in der Schule mal der Strom ausfällt ...“
Raum gelbe und blaue Rohre. Herr Paul: „In den gelben Rohre ist Gas und in den blauen kaltes Wasser.“
Gespannt gehen wir durch die nächste Tür, die zum
Kunst-Gang führt, also da kommt man zum Werkraum, und außerdem sind die Wände ganz toll
bemalt.
Es gibt einen Heizungsraum, der viel größer als
ein Klassenzimmer ist. Es gibt Küchenräume
und Kunst-Textil-Räume. Das alles ist wie ein Labyrinth!
Ramona Vahle
Ein weiterer Durchgang führt uns zum Aulakeller. Hier sind Tische, Stühle und vieles andere
mehr gelagert. „Durch den Aulakeller führen auch
Im Kunstgang gibt es auch noch einen Bücherkeller, einen Medien-Raum, den Requisitenraum der
Theater-AG und einen Raum, der für die Lüftung
des naturwissenschaftlichen Trakts eingerichtet
wurde.
Als wir weiterziehen, versperrt uns plötzlich ein
Gitter den Weg! Erst erkunden wir, ob man nicht
doch hindurch kann – aber es ist hoffnungslos. Sind
wir eingesperrt? „Aber nein“, beruhigt uns Herr Paul,
„vor diesem Gitter sind die Räume für die Putzfrauen, dahinter liegen die Werkräume und andere Räume für die Hauptschule.“ Wir passieren den Computergang, in dem die Wände aufwändig bemalt
sind – die ganze Welt als Wand-Bild!
... die ganze Welt an eine Wand gemalt! Und
zwar nicht nur als grün-blau-braune Kugel, sondern von jedem Land ein Bild! Das bedeutet,
dass z.B. China dargestellt ist als ein großes China-Restaurant, mit vielen Chinesen und orginalchinesischen Bauten usw. Schön bunt alles!
Lara Neumann
Wir kommen nun noch vorbei an einem Kriechkeller, einem ganz niedrigen Gang, und Herr Paul
Als wir die bemalten Wände im Kunst-Gang hinter uns haben, stehen wir plötzlich vor einem
sogenannten „Krieg-Keller“ – so hatte ich Herrn
Paul jedenfalls zunächst verstanden!
Maren Lammert
„Kanu auf Rädern“
130
meint nur ganz lässig: „Dort sind Mäuse drin“, was
auf ganz unterschiedliche Reaktion bei uns stößt ...
Ja, und damit sind wir bereits am Ende unseres
Rundgangs. Einige Stufen noch, und wir erblicken
wieder das Tageslicht.
Annika Fischer
Das Tor zur Hölle
Ein echter Convos-Keller-Thriller, entstanden in Koproduktion
mit Lallfred Flitchcock – von Lara Neumann (5 c /6 c)
Hey Leute, hier bin ich, ja – hier! Pssst! Klappe halten! Ich bin die beste Spionin des FBI und im Moment auf ’ner ganz heißen Fährte! Angeblich sollen
am Convos vor ein paar Jahren mehrere Kinder verschwunden sein! Der Fall wurde letztens wieder neu
aufgerollt, weil das FBI eine neue Theorie entwickelt
hat: ALIENS! Und ich bin jetzt unterwegs, um mich
mal ein bisschen umzusehen, denn äußerlich ist die
Schule zwar voll o. k., doch wer weiß, was sich im Innern befindet?! Damit meine ich ganz im Innern! Im
Keller nämlich! Mir wurde gesagt, dass eine gewisse
5c heute eine Kellerführung hat ... Dann kann ich
mich ja unter die Schüler mischen. Hoffentlich kommen wir da heil wieder raus! O, da sind sie ja schon.
Hihi, keiner bemerkt mich. Na dann mal los!
Hab ich’s doch gewusst! Ein geheimer Zugang in
der Aula! Den anderen Kindern scheint das gar
nichts auszumachen. Ob die schon hypnotisiert
worden sind? Wahrscheinlich! Anscheinend greifen
die Außerirdischen zu härteren Maßnahmen! Naja,
wir werden sehen ...
Ojeoje! Nun sind wir unten! Im ersten Raum ist
etwas, das wahrscheinlich als Wasserkessel getarnt
sein soll. Vielleicht bewahren sie darin ihren Ekelschleim mit den halb geschlüpften Larven auf.
Bäääh! Die anderen Räume dagegen sehen sehr
harmlos aus. Zu harmlos, wenn ihr mich fragt!
Oben in der Aula angekommen, stehen mir noch
immer die Haare zu Berge! Die Klasse dagegen hat
ihren Spaß! Da haben die Aliens beim Hypnotisieren wohl ihren besten Guru eingesetzt! Wir gehen
weiter zu einem der Trakte mit der Beschriftung „J“
– ob das wohl zu einem Code gehört? –, jedenfalls ist
als nächstes ein Raum mit vielen Batterien dran. Wofür brauchen denn Außerirdische so viel Strom? Na
klar: für ihre grausamen Experimente, die sich aus
ihren überaus intelligenten Gehirnen entwickeln!
Wusst’ ich’s doch!
Und weiter geht’s! Im Vorbeigehen entdecke ich
einen seeehr dunklen und seeehr tiefen Schacht, aus
dem es bestialisch stinkt! Was mag das sein? Werfen
die da die misslungenen Versuche rein, oder was?
Durch fast noch schlimmer riechende alte Toiletten
kommen wir in einen Gang, der sich „Kunstgang“
nennt. Verschlüsselt! Brillant! An den Wänden sind
Bilder.Von Fenstern! Einen so schönen Ausblick gibt
es doch nirgendwo mehr auf dieser Welt! Ich tippe
auf Dimensions-Tore! Im „Kunstraum“ steht ein
Brennofen. Oh-oh, wozu der wohl gut ist? Lieber
schnell weiter! Einen Gang weiter versperrt uns ein
riesiges Gitter den Weg! Hauptsache, wir bleiben
außerhalb! Bitte! – So’n Mist aber auch! Es gibt wirklich nur eins, was im Moment gut läuft, und das ist
meine Pechsträhne!
Irgendwann kommen wir zu ’nem Gang, der
heißt Computergang. Hier sind u. a. große Naturkatastrophen auf die Wände gemalt! Das ist mit Sicherheit eine Aufzählung der Dinge, die sie mit der
Menschheit vorhaben! Bibber, bibber, schlotter,
schlotter! Endlich: der große Augenblick, auf den ich
schon so lange gewartet habe, endlich ist er da! Ich
bin aus diesem schrecklichen Loch raus! Doch die
Diagnose ist klar: eindeutig Außeridische!
Aber ich hab’ die Schnauze voll! Wenn ich nochmal darunter muss, häng’ ich meinen Job an den Nagel! Auch ein Topspion hat Hemmungen! Basta!
131
Interview mit dem Hausmeister
Reporter: Herr Paul, wie ist ihr Vorname?
Paul: Ferdinand. (Reporter grinst.)
Wenn ich fragen darf, wie alt sind Sie?
Ich bin 53 Jahre alt.
Wie lange sind Sie schon im Dienst?
So ungefähr zwei Jahre.
Und wann kommen Sie morgens zur Schule?
Ich bin meistens so um 6.30 Uhr hier.
Wann gehen Sie immer in den Keller?
Ich muss jeden Tag alles kontrollieren.
Macht Ihnen Ihr Beruf Spaß?
Eigentlich schon. Nur wenn es viel zu tun gibt, dann ist
es ein bisschen stressig.
Früher standen hier an Ihrer Stelle Leute mit Schaufeln in der Hand, heute wird alles mit Knopfdruck
und Mausklick gesteuert!
Ja, das stimmt, wir sind sozusagen auf dem neuesten
Stand der Technik.
„Das geheimnisvolle Reich des Hausmeisters“
Wie man sieht, haben Sie keinen leichten Job.
– Vielen Dank für dieses Gespräch.
Tag auch, ihr Kellerratten: Seid ihr
auf Wohnungssuche?
Johanna Hegemann
Dann seid ihr im Convos-Keller genau richtig! Denn
wir, die Klasse 5c, haben gemeinsam mit unserem
Hausmeister, Herrn Paul, den Keller besichtigt und
denken, es wäre eine perfekte Wohnung für Ratten
aller Art.
■ Der Kessel, mit seinen 25 Grad unten und 60 Grad
oben, ist ideal für Wasserratten!
■ Als Wohnzimmer ist der Kriechkeller zu empfehlen.
■ Für elektrische Ratten ist der Raum mit den Notstromaggregaten genau richtig.
■ Als Küche ist der Abstellraum geeignet.
■ Die malerischen Ratten suchen ihr Zuhause im
Kellerflur, denn dort sind die Wände mit den
schönsten Bildern bemalt.
■ Diejenigen unter euch, die gerne an der frischen
Luft wohnen, können die Lüftung in Anspruch
nehmen.
■ Als Autobahn könnte man die Abflussrohre nutzen
(aber nur, wenn gerade keiner auf dem Klo sitzt ...)
■ Zum Austoben und Anknabbern gibt es Wasserrohre, Stromleitungen und Gasleitungen.
Also, liebe Kellerratten, wie wär’s ...?! Zu Risiken und
Nebenwirkungen beschweren Sie sich bei Hausmeister Ferdinand Paul.
Miro Dahmen/Edgar Kammerer
132
Die beiden Hausmeister in ihrer Loge:
Alexander Flekler und Ferdinand Paul
Die Untergrunderkundungsmannschaft der 5 c
Sabrina Ahle, Meike Brennecke, Miro Dahmen,
Julius Fehrmann, Annika Fischer, Lena Gantenberg, Evelyn Gerth, Yves Grosser, Heinz-Jürgen
Grund, Johanna Hegemann, Edgar Kammerer,
Katharina Kaup, Maren Lammert, Christina Medwedew, Tatjana Meinhardt, Lara Neumann, Samuel
Raufeisen, Katharina Ricken, Max Rosendahl,
Gökhan Serindik, Carolin Torregroza, Kristina Trokkel, Ramona Vahle, Cosima Vogel, Daniela Wallenborn, Dirk Wagner, Alexander Wilshaus – an der Erforschung des Untergrunds hat die ganze letztjährige Klasse 5 c mitgewirkt; hier konnten nur
einige Texte berücksichtigt werden.
Vernartischer Christ kittneppt
Kandidandidaten im Kaffee
Die Stilblüte als Auflockerung des Schulalltags
Was ist der einzige Trost schrecklicher, öder,
entnervender Korrektursitzungen? Richtig:
die Stilblüte! Werner Braukmann hat seine
alte Sammlung (siehe Jahresschrift 1987/88)
ein wenig aufgefrischt ...
Wie? Der Faust werde nicht mehr gelesen im
Deutsch-Unterricht? Ich bitte Sie! Und ob Goethes
Klassiker gelesen wird! Was sich fast zur GretchenFrage der bundesdeutschen Schul-Politik entwickelt
hat – neuerdings zum Kernpunkt der wiederaufgeflammten Kanon-Diskussion –, lässt unsere Schüler
sich nur ins Fäustchen lachen: Sie kennen ihren
Heinrich:
Faust soll dem Mephisto als Teufel dienen. Hierin sieht
der Herr eine gerechte Bestrafung des Faust. (D. B., Jahrgangsstufe 12)
Und sie kennen seine Begierden:
Diese Freuden des Lebens bestanden für Faust aus zwei
Dingen. Das Erste war das Trinken ... (F. N., 12)
Damit wären wir bei den leiblichen Genüssen; ich
glaube, hier handelt es sich um das eigentliche Jugendproblem Nr. 1. Denn es schreiben ein Sextaner...
... gingen wir mit Gebäck beladen ...
und unlängst ein Obersekundaner:
Beim Ausbacken der Einkaufstasche ...
Im Verlauf der Oberstufe allerdings nehmen diese
Freuden des Lebens im Allgemeinen eher flüssige
Formen an ...
... sitzen in einem Kaffee ... (A . H., 1982)
... und an Leidenschaft zu:
Das Schicksal nimmt seinen Lauf und Faust verführt
das Gretchen und reißt es damit in den Sprudel von
Verderben und Laster. (M. T., 12)
Womit wie wieder bei den Klassikern wären. Nun,
Goethes, nein, Fausts Leben kannte noch eine andere Freude, sie hieß Gretchen und hatte einen Pferde-
fuß: Mephistopheles, kurz: Meffi. Das Dreier-Verhältnis sieht so aus:
In dieser Szene bietet Mephisto Gretchen Faust regelrecht an. (12)
Wer?
Memphisto!
Gediegener formuliert ein anderer Schüler:
Gleichzeitig ist er (M.) bemüht, Faust in der
„Gretchenfrage“ zu helfen. (12)
Und wie reagiert Faust? E. H. sieht’s praktisch:
Er (F.) hatte sich von Gretchen entfernt, weil er sie
nicht untergraben wollte. (12)
Und nun wendet sich von Gretchen Faust Mephisto zu:
... und auch als Faust Fleischesgelüste verspürt, versteht
er (M.), ihn zu befriedigen. (12)
Womit wir wieder bei leiblichen Genüssen wären ...
Um Dracula eine kleine Blutspende zu überreichen,
übernachteten wir in einer Burg. (C. G., 5)
(Oh, das war wohl eher eine bewusste „Stilblüte“!)
Aber wo wir schon über Existenzielles plaudern – die
meisten Probleme bereitet unseren Schülerinnen
und Schülern der Selbstmord. Logisch.
Dieses Buch von Peter Handke („Wunschloses Unglück“) erzählt die Lebensgeschichte seiner Mutter, die
an einem Selbstmordversuch gestorben ist. (10)
Und wie starb Edgar Wibeau, der „Held“ in Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“?
Der Selbstmord war von Edgar unbeabsichtigt.
(M. S., 10)
Überhaupt der Tod:
So kommt schließlich zu Tage, dass Miss Brown einen
erschossenen Mann im Auto hat, welcher vor nicht allzu langer Zeit noch lebte. (8)
Logik, wohin man schaut ...
In dem Text wird eine Idylle gezeigt, die aber nicht weiter als über den Horizont hinausgeht.
Wir leerten unsere Köpfe mit Antworten. (5)
... die Nachtschicht hat einen ganz anderen Tagesrhythmus.
133
... wurde der Stein ins Rollen gebracht, der den Teufelskreis zum Laufen brachte. (9)
... die eine Nickel-Brille trugen, obwohl es damals noch
keine DDR gab. (10 – über Kunzes „Wunderbare Jahre“)
Deshalb sei die Verteuerung durch die Werbung um ein
Vielfaches niedriger als die durch Werbung erreichte
Verbilligung des Produkts. (11)
... dass Verbrechen begangen werden konnten, ohne
dass sie jemals hinters Licht geführt wurden.
(P. G., 9)
Mary möchte, dass die Leute keine Vorurteile haben,
und vor allem keine falschen. (12)
Je mehr ähs sie sagt, desto aufgeregter ist sie. (10)
Die vorliegende Glosse kritisiert also die fehlende oder
nicht in ausreichendem Maße vorhandene Schulbildung aufgrund zu hohem Maße an Einfluss von Fernsehsendungen auf Kinder. (11)
Von der Logik zum Sinn:
Denn im Grunde genommen ist ein Krieg meines Erachtens sinnlos. (A. L., 8)
und entschuldbar:
134
Das heißt, man liebt sein Vaterland im innerst (!) über
alles. Die Grenze zum Nachbarland hat nichts damit
zu tun. (U. R., 8)
Wie so eine Liebe überhaupt vor sich geht, beschreibt T. M. aus der 8:
Zwei Volken führen gegeneinander Krieg.
Ach, das ist der eigentliche
Hindergrund (C. B., 12)?
Vom Sinn zum Tief-Sinn:
Der Elternteil spricht: „Ja wo isser denn!?“ Dieses hat
meiner Meinung nach keinen tieferen Sinn. (9)
Fundierter sinniert da ein Sextaner:
Über das Thema Eltern gibt es nicht viel zu sagen, ich
meine aber, Eltern sollten nicht gleich zuschlagen,
wenn die Kinder nicht ihrer Meinung sind.
(M. G.)
Der Gedanke an die Eltern bringt die armen, geplagten Schüler völlig durcheinander ...
Der Leser kommt zu der Meinung, dass auch er vielleicht das werden kann, wozu seine Eltern völlig unbegabt sind. (K. W., 8)
Dazu gewissermaßen als Kommentar:
Der Affe fällt nicht weit vom Stamm.
So ein Menschen-Affe wurde ja bekanntlich auch
mal von Erich Kästner in Verse gepresst:
Er (Kästner) schildert die einzelnen Entwicklungsstufen, zuerst behaart und auf Bäumen hockend bis zu
seiner jetzigen Erscheinungsform. (8)
(Ehrlich gesagt, ich hatte mir Erich Kästner bisher
immer ganz anders vorgestellt.) Auch zwischen diesen Entwicklungsstufen gab es hochstehende Personen, wie etwa eine ägyptische Prinzessin, über die
T. K. Folgendes zum Besten gibt:
Auch Diener, Sklaven und anderes Gesindel hatte sie
unter sich. (7)
Modernere gesellschaftliche Entwicklungen reflektiert folgendes Zitat, in dem ein Subjekt mal nicht als
schlaffes Opfer einer gläsernen Welt erscheint, denn:
Er steht zu seinen Daten. (8)
Die Gesellschaft ihrerseits zeigt sich tolerant:
Wird das Baby zum Kleinkind, entwickelt es sich körperlich und geistig. Dieses wird von der Umwelt akzeptiert.
Wie entgegenkommend! – Wenden wir uns nun für
einen Moment weniger toleranten, brutaleren Seiten
des Lebens zu (neben den leiblichen Genüssen ein
wahrer Tummelplatz der Schüler- und Schülerinnenphantasie) ...
Johannes taucht in dem ganzen Stück gleichmäßig verteilt auf (B. D., 12).
Der Herzogin wurde der Unterleib aufgeschlitzt, so
dass alle Eingeweide herausquollen. (8)
Oh, diese letztere Darstellung – übrigens aus der Feder einer Schülerin – war ja wieder mal gar keine
Stilblüte. Na, macht nichts. Immerhin hat sie
die Fähigkeit, was sie empfindet, ungeschweift in Worte ... kleiden (13)
zu können. Ob das folgende Zitat wohl eine Blüte ist?
... und auf dem Metzgertisch wird fleißig auf das wehrlose Fleisch eingeschlagen. (M. F., 8)
(Da hätte ich doch fast fleischig geschrieben!) Nun,
wieder eindeutig blühend geschrieben ist:
Die Stadtrundfahrt wurde wegen Todes der Teilnehmer abgebrochen.
Und:
Die Menge wird vor Wut noch lange beben. (H.-W. Sch.,
8)
(Ein Königreich für eine Überleitung!) – Schwierigkeiten haben unsere Schülerinnen und Schüler vor
allem mit der Gesellschaft, handle es sich um
eine bessere soziale Schicht (8)
oder auch um
mittelschichtige Leute (8)
oder schlechterdings um uns alle:
Mitglieder der Bevölkerung (D. H., 12).
Die Probleme fangen schon beim Einzelnen an:
weil er in seinem Leben auch eine Hauptfigur war.
(M. F., 8)
(Welche Bescheidenheit!) Und es geht mit frühreifen Gedanken über zwei Einzelne weiter:
In den Ring der Ehe treten ...
... wo sie ihm ihr Geheimnis entlüftet. (10)
Sie will nicht einen ihr völlig unbekannten Gemahl
zum Gatten. (12)
Wofür wir durchaus Verständnis haben. So kommt
es nun also zur Gründung einer Familie – die ernährt sein will ...
Es ist möglich Falschgeld herzustellen, was z. B. beim
Rindertausch wesentlich schwieriger ist. (12)
Eine Stilblüte mit historischem Tiefgang. Nun eine
mit biologisch-ökonomischem: Was ist eine Tochterfirma?
Eine Firma, wo Vater und Tochter zusammenarbeiten. (8)
Genauer:
Tochter ist auch eine Abzweigung von der Mutter. (8)
Es ist aber auch unvertretbar, was alles an Fremdwortkenntnissen den Schülerinnen und Schülern
heute abverlangt wird:
Daran sieht man, dass Interaktion auch durch dieses
„Ineinanderhineinversetzen“ (Mist, ich komme nicht
auf das schöne Fremdwort) ... (H. H., 12)
Das war wieder keine echte Stilblüte. Erst echte Stilblüten nämlich zeigen die außerordentliche Sprachgewalt der Schüler und Schülerinnen, da sie hier ...
... die Begriffe genau auf den Kopf treffen. (10)
Sie sehen, man kann aus Schüleraufsätzen viel lernen. Zum Beispiel über den Zusammenhang von
Sprache und Kunstepoche:
... da es sich bei dieser Sprache um eine bestimmte Jugendsprachen (!), einen Jugendstiehl handelt ... (10),
über die Einsichtsfähigkeit der Schülerinnen und
Schüler in den Zweck der Schule:
Der Schüler ist der Meinung, dass der Lehrer ihn mit
Wissen vollstopft, um ihn zu schikanieren, und übersieht dabei, dass dies wirklich notwendig ist. (12),
auch darüber, was man sich in unserer Konsumgesellschaft voller Fernsehwerbung und
Werbespotts (10)
heute so alles kaufen kann, etwa in
Jubilierläden (12),
135
Käckebrot
und wie es mit der Psyche des Konsumenten bestellt
ist:
Durch die Umweltverschmutzung tritt ein Schuldgefühl beim Konsumenten ein, der dann die Bio-Waren
kauft, um die Selbstbefriedigung wieder herzustellen.
(11)
Man erfährt etwas über das Deutsche an unserer
Sprache:
Schwimmingpool (6),
und über teutonische Klarheit:
er wurde dann ganz deutschlich (11),
und unser Grundgesetz:
Es (das GG) stellt also alle Menschen gleich. Es ist gut
gemeint. (M.S., 12),
über
Kongurenz,
über
136
Backtärien (6),
über
Raudis (12)
und über
Kandidandidaten.
Ich kannte ja bislang schon Sultaninen, Mandarinen,
Apfelsinen – aber kennen Sie etwa
Nachbarinen?
Schüler/innen belehren uns über Moden (1):
Er trug eine spärliche Kleidung (10),
Moden (2):
Fettwams,
man lernt Frauen (1) kennen:
Sie schaute ihn unglaublich an (10),
Frauen (2):
Das weibliche Tier zu Erpel ist die Ente (Gilda, 10),
Hausfrauen:
Ich wandte mich meiner Hausarbeit zu und versank in
Gedanken in den Suppentellern, von denen ich dringend neue brauchte (6),
und Putzfrauen:
Hausarbeit ist nicht gleich Hausarbeit. Sie hängt ab
von ... der technischen Ausstattung des Haushalts. Eine Wohnung mit Geschirrspülmaschine, Waschmaschine, Wäschetrockner und Putzfrau ... (12),
Übernatürliches (1):
Horrorskop (10),
Übernatürliches (2):
Optisch sind sie nicht sichtbar ...,
Außerirdisches:
... er werde mir jeden Stein vom Himmel holen (9),
Unendliches:
... wobei ewig sehr weit gefasst ist (13),
und über Kriegsveteranen als Lehrer:
Dadurch wurde es diesen, meist fürs Leben gezeichneten, ermöglicht zu überleben. (C. B., 13)
Man erfährt etwas über Hunde:
Rontu, der haarsträubend zu ihr kam (6),
über Hunde und Katzen:
Die Verärgerung des Hundes ist auf die Verschwindung
der Katze zurückzuführen. (6),
und Käfer:
Der Fahrer des Volkswagens hat einen totalen Blechschaden,
über Stimmungen (1):
Mir war ganz muffig zumute (5),
Stimmungen (2):
Die Person war völlig verfrustet (A. B.),
und Verzweiflung:
Er schmiss die Flinte völlig ins Korn (E. L., 8),
über Gemeinheit (1):
Menschen werden ausgenutzt, ohne dabei an deren
Wohlergehen zu denken! (M. G., 13),
über Gemeinheit (2):
Ebenfalls lustig bzw. gemein ist ... (10),
über faschistische Grüße:
Hei Hitler! (13),
und über Solidarität:
... zusammenhalten wie Pattex.
Grund?
Die Jungen hatten die Mädchen extra nicht mit eingeweiht, denn sie würden petzen und den Jungen den
Spaß verderben. (M. T., 5)
(Das wieder eine Blüte unter den Blüten, aber der
Satz war so schön bzw. gemein!) – Man trifft auf
Grundsätze:
... vom moralisch epischen Standpunkt ... (12),
auf Zurückhaltung:
... das finde ich (peep) ... (5),
gar auf philosophische:
Der kantigorische Imperativ ... (S. G., 13),
auf Autoren (1):
Die Autorin beschreibt sein Äußeres sehr hässlich. (10),
Autoren (2):
Meine Meinung und auch die des Autors zu dem Märchen ist ... (R.D., 8),
auf berühmte Buchtitel:
Die verlorene Ehe der Katharina Blum (T. Z., 12),
auf Verlage und ihre Machenschaften:
Das Buch ist erschienen im Diogenes-Verlag, Zürich,
der dafür bekannt ist, dass er die Werke populärer Autoren niederdruckt. (M. K., 9),
und man studiert Orthographie in Abhängigkeit von
der Schullaufbahn:
6: kittneppen – Qusäng – Hänsel und Grätel,
10: ein vernartischer Christ – lünchen,
12: Käckebrot,
sowie Interpunktionsprobleme unabhängig von der
Schullaufbahn:
Der Satzteil wird abgekommat (5),
und übrigens auch Wortschatzprobleme:
Den Krankenschwestern wird beim Kaffeeklatsch beigewohnt. (10)
Orthographie-Fehler, liebe Leserin, lieber Leser, verursachen
sehlische (9)
Qualen bzw.
Quallen (U. J.,12),
die mich mit einem Obersekundaner hahrstreubend
ausrufen lassen:
tüpisch!!
Kommen wir allmählich zum Ende, an dem gewöhnlich ...
... das Gute siegt ..., obwohl es erst schlecht um das Gute steht.
Es steht oft ebenfalls nicht schlecht um Gedanken
und Formulierungen von Schülerinnen und Schülern. Hier ein geradezu phantastisches Beispiel für
Spezialisten:
Doch man darf Opium und andere Stoffe nicht als Religion des Volkes dulden! (I. N., 10)
Lenin bzw. Marx auf den Kopf gestellt! - Aber ich
wollte zum Schluss kommen. Ich muss Ihnen nämlich ein Geständnis machen. Ich habe meine Stilblüten-Sammlung auch deswegen von meinem HomeComputer-Programm ausdrucken lassen, weil ich
Angst vor der Zukunft habe, vor der Zukunft der
Stilblüte. Denn wie fragt sich S. H., ganz unblütig,
geradezu skeptisch-prophetisch:
... wenn Lernprogramme eingeführt würden, wo blieben dann die Stilblüten von Lehrern und Schülern?
(12)
Das war aber immer noch kein richtiges
prositives
Häppy-End. Wie wär’s mit folgendem märchenhaften Ausklang:
Die Hecke ging auseinander und der Prinz war in
Dornröschens Zimmer. Er küsste sie, und Dornröschen
wachte auf. Mit den Schlossbewohnern ging es nicht
anders. Nur wurden sie nicht geküsst. (M. St., 5)
137
Zum Schluss ...
Jetzt habe ich gerade noch einmal, zum letzten Mal,
alle Texte genau durchgesehen, Korrektur gelesen
– und bin endlich fertig! Immer mal wieder fiel ein
Schreibfehler auf, oder der Computer hatte falsch getrennt. Hoffentlich habe ich alle Fehler entdeckt!
Und, eine weitere Sorge: Sind auch die Fotos richtig
zugeordnet und erklärt? Stimmen die Namen, die
Jahreszahlen? Ist auch nichts vergessen worden?
Schluss! Jetzt gehen alle Korrekturabzüge an die
Druckerei, damit das Buch auch pünktlich zum Jubiläum fertig ist!
Eine solche Fülle an Erinnerungen, Bildern, Geschichten – aber fehlt nicht vieles in diesem Buch?
Etliche frühere Schülerinnen und Schüler waren
noch um Beiträge gebeten worden und hatten, mit
guten Gründen zumeist, abgesagt. Und viele hätten
noch angesprochen werden können ... Gut, es sollte
eine Zufallsauswahl sein. Aber ist die Palette an Stimmen und Lebensläufen, die sich jetzt hier findet, einigermaßen repräsentativ? Journalistische Karrieren,
Erinnerungen an die Theater-AG, Germanistik-Studien, das findet sich häufiger, aber Naturwissenschaftler? Unternehmer/innen? oder Reiseverkehrskaufleute, Steuerberater, Bodybuilder, Hausmänner,
Pilotinnen, Hotelfachfrauen, Veterinärmediziner
usw.? Sie sind eher „Mangelware“! Nur, wie gesagt,
viele weitere Beiträge waren vorgesehen, aber nicht
alle Vorhaben konnten realisiert werden.
Allen jedoch, die mitgewirkt haben, die zum Stift
gegriffen oder sich an den Computer gesetzt haben,
und allen jenen, die Bilder – und ganze Alben! – zur
Verfügung gestellt haben, sei an dieser Stelle noch
einmal ganz herzlich gedankt für die Verwirklichung
dieses kurzweiligen, an Anregungen reichen Bilderund Lesebuchs aus der Geschichte unserer Schule.
Werner Braukmann
138
Bildnachweis
Die meisten Bilder und Illustrationen wurden privat
zur Verfügung gestellt, von den jeweiligen Verfasserinnen und Verfassern. Besonderer Dank gilt Frau
Hildegard Schmidt, die sehr viele Fotografien besorgte, ferner Frau Hildegard Awater und Frau Monika Bunte – ein ganz besonderer Dank übrigens an
Frau Christa Trendelkamp aus Münster, die ein sehr
schönes Album mit tollen „Schnappschüssen“ auf
die Post gab! Die sehr frühen Aufnahmen von den
Seiten 17, 18, 21-23, 66 und 67 sind vom Bildarchiv
des Soester Stadtarchivs dankenswerterweise zur
Verfügung gestellt worden (Signaturen: A 6/45,
A 8/47, A 10/7, B 246, A 1511/22, A 2743/7,
A 3075/13); etliche Aufnahmen sind von der FotoAG unserer Schule (bzw. Ursula und Peter Gutsche)
sowie von Werner Braukmann. Illustrationen zum
Text über Conrad von Soest sind dem Band Arthur
Engelbert: Conrad von Soest – ein Dortmunder Maler
um 1400. Dortmund, Köln 1995 entnommen. S. 80
– Phillip Drummond: Zwölf Uhr mittags. Mythos und
Geschichte eines Filmklassikers. Hamburg, Wien 2000,
S. 32. S. 92 – www. nouvellesimages.com. S. 111
– „... you“. WEA records, 2000. S. 120 ff. – U. Dellbrügger/J. Grade (Hg.): Diplomaten in Gummistiefeln. Soest 2000. S. 134 – Frank Möbus u. a. (Hg.):
Faust – Annäherung an einen Mythos. Göttingen
1995, S. 182. S. 136 – Originalverpackung. S. 137
– Das Ludwig-Richter-Hausbuch. München 1976,
S. 405. Weitere Zusendungen von Bildern und Illustrations-Materialien kamen – soweit wir das noch
rekonstruieren können – von Frau Ingrid Bals, Frau
Marianne Fuchs, Frau Gonda Schädler, Frau Hannelore Olbrich, Frau Erika M. Horstmann, Frau Marieluise Arend-Heidbrinck, Frau Christel Bögge,
Frau Margret Brotte-Enste, Frau Grasemann, Frau
Blume-Markhoff und Frau Jühe, ferner von den Kollegen Uli Dellbrügger, Axel Urbanke, Jochen Grade
und Josef Pieper sowie den Kolleginnen Gisela Norpoth und Dorothea Achtelik.
Vielen Dank!
139
Dank an Sponsoren
Dieses Buch wurde mit Unterstützung vieler Unternehmen und Institutionen aus
Soest und Umgebung erstellt. Wir danken den im Folgenden genannten Sponsoren
(sowie einigen nicht genannten*) für die freundliche und großzügige Unterstützung!
Seniorenwohnheim
Lütgen Grandweg 4-6
59494 Soest
Busreisedienst
Karrie-Tours
Am Kümken 6
59494 Soest
Inh. Gundel Rohe
Grandweg 1 a
59494 Soest
Dachdeckermeisterbetrieb
Hans-Joachim Bücker
Schendeler Straße 100
59494 Soest-Hattrop
Inh. Meinolf Kahrig
Walburgerstraße 15
59494 Soest
Bau- und Möbeltischlerei
Fuisting
Kleine Osthofe 22-24
59494 Soest
Marktstr.19
59494 Soest
TUI-Reisecenter
Marktstraße 2
59494 Soest
Kaminöfen und Zubehör
Dipl.-Ing. Thomas Demski
59494 Soest-Meiningsen
HERMESSEN
Sigefridwall 4 a (ab 1. Nov.)
59494 Soest
140
Buchhandlung Dust
Grandweg 17
59494 Soest
Reisedienst Hermessen
An Lentzen Kämpen
59494 Soest
Rosenthal & Rustemeier
Westenhellweg 52
59494 Soest
Engel-Apotheke
Dr. Horst Heidel
Marktstraße 8
59494 Soest
Pagenstraße 57
59494 Soest
Die Jungsozialisten
im Ortsverein SPD Soest
Ulricher Str. 26/28
59494 Soest
Gothaer Versicherungen
Harald Blankenhahn
Deiringser Weg 67
59494 Soest
Jägerken von Soest
Karrie Omnibus
Boleweg 2
59494 Soest
Naturheilpraxis Hartmut Sahm
Kölner Ring 64
59494 Soest
Kona Trade GmbH
Elfserweg 14
59494 Soest
...und ein besonderer Dank
gebührt unserem Forderverein
für seine Unterstützung dieser
Veröffentlichung!
Puppenstraße 7-9
59494 Soest
Groth Catering
Am Bruch 6
59510 Lippetal-Hovestadt
Verein der Freunde, Förderer
und Ehemaligen des Conradvon Soest-Gymnasiums
Herbert Bauch
Paradieser Weg 92
59494 Soest
Telefon 029 02/64 22
Steuerbüro
Schrader-Brennecke
und Schürmann
Deiringser Weg 89 a
59494 Soest
* berücksichtigt wurden
Meldungen bis
zum 21. August 2001
(Redaktionsschluss)
Unterstützen Sie die wichtige
pädagogische Arbeit des Fördervereins – werden Sie Mitglied!
141
In eigener Sache
Zur Verleihung des „Westfälischen
Friedenspreises 2000“ wurde diese
kleine Festschrift herausgegeben, die
die grenzüberschreitenden Aktivitäten
unserer Schule im Einzelnen
dokumentiert.
84 Seiten, 10 Mark.
Ulrich Dellbrügger
Jochen Grade (Hg.)
DIPLOMATEN
IN GUMMISTIEFELN
Die europaweiten
Projekte des
Conrad-von-SoestGymnasiums
Dokumentation
anlässlich der
Verleihung des
Westfälischen
Friedenspreises
2000
142
Zu beziehen über:
Conrad-von-Soest-Gymnasium
– Sekretariat –
Paradieser Weg 92
59494 Soest
Telefon 029 02/64 22
Telefax 029 02/66 5124
conrad-von-soest-gymnasium@t-online.de
■ Als ich mal wieder etwas nicht wusste,
sagte Frl. Dr. Merten: „Helga, Sie haben
zwar ein miserables Gedächtnis, aber
trösten Sie sich, das ist auch etwas
Gutes. Sie können sich niemals auf Ihrem
Gedächtnis ausruhen. Sie müssen jede
Situation überdenken, ihr auf den Grund
gehen und kreativ eigene Ideen in die
Welt setzen. Das hält den Verstand
hellwach.“ Diese Worte haben mich
wesentlich mitgeformt. Oft fühlte ich mich
verpflichtet, nicht einfach in festgelegten Bahnen weiterzumachen.
Helga Paradies (Abitur 1946)
■ Später erfuhren wir dann, dass jemand
das Schild von der Besenkammer
mit dem Schild vom Lehrerzimmer
vertauscht hatte. Als das herauskam,
wollte man ihr (der „Täterin“) das
Abiturzeugnis entziehen!
Hildegard Awater (Abitur 1946)
■ Im Nachhinein empfinde ich die Schule
als kleinmachend und unterdrückend.
Monika Bunte (Abitur 1953)
■ ... versuche mich an meine Schulzeit zu
erinnern – und mir fällt natürlich zuerst
mal wieder der Schulkiosk mit Doris ein!
Thorsten Hellmich (Abitur 1999)
■ Mir gefiel es am Convos und ich will
wieder zurück. Die Zeit im Convos war die
schönste und ich habe dort die besten
Freunde gefunden!
Anna Blazejewska (12 Jahre)
in einer Mail aus Warschau