buch 3_2013.indb - Wasser
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buch 3_2013.indb - Wasser
Nr. 3/2013 29. IBC in Memphis • Magic Slim - Alvin Lee - Richard Townend - Saffire • Wir wollen ein Lied von Dir - Die Zweite • Album des Monats: Nina van Horn - Seven Deadly Sins • Texte von Odile Endres, Carl Sternheim, Ernst Toller • Bücher von Jenny Feuerstein, Rainald Goetz, Stanislaw Lem Editorial Impressum Die Wasser-Prawda ist ein Projekt des Computerservice Kaufeldt Greifswald. Das pdf-Magazin wird in Zusammenarbeit mit dem freiraum-verlag Greifswald veröffentlicht und erscheint monatlich. Es wird kostenlos an die registrierten Leser des Online-Magazins www. wasser-prawda.de verschickt. Wasser-Prawda Nr. 2/2013 Redaktionsschluss: 28. Februar 2013 Redaktion: Chefredakteur: Raimund Nitzsche (V.i.S.d.P.) Redaktion: Lüder Kriete, Erik Münnich, Dave Watkins Mitarbeiter dieser Ausgabe: • Anne-Lena • Kristin Gora • Dirk Uwe Hansen (Greifswald) • Maria Woodford Die nächste Ausgabe erscheint am 18. April 2013. Adresse: Redaktion Wasser-Prawda c/o wirkstatt Gützkower Str. 83 17489 Greifswald Tel.: 03834/535664 redaktion@wasser-prawda.de Anzeigenabteilung: marketing@wasser-prawda.de Gerne schicken wir Ihnen unsere aktuelle Anzeigenpreisliste und die Mediadaten für das Online-Magazin und die pdf-Ausgabe der WasserPrawda zu. Anzeigenschluss für das pdf-Magazin ist jeweils der 1. Werktag des Erscheinungs-Monats. 2 Inhalt Impressum2 Alles neu macht der ... März. 3 Editorial5 24. Bluesfest in Eutin6 Magic Slim (1937-2013)10 Alvin Lee (1944-2013)13 Mia Moth & Melanie Dekker im Roxy (Ulm) 15 Wir wollen ein Lied von Dir - Volume 2 17 Zehn Fragen an: Richard Townend 19 Die International Blues Challenge 24 Eine Erfahrung für‘s Leben Wiedergehört: Saffire - The Uppity Blues Women Jos Slabbert, African Cajun. 28 31 33 Nina Van Horn - Seven Deadly Sins 36 Rezensionen A-Z38 4 Jacks - Deal With It 38 Bottleneck John - All around man 38 David Sinclair - Strange Paradise 39 Devon Allman - Turquoise 40 Dubl Handi - Up Like The Clouds 40 Eric Burdon - Til Your River Runs Dry 41 Fred Kaplan - Hold My Mule 41 French Blues Explosion - French Blues Explosion feat. Nico Wayne Toussaint42 Gaetano Partipilo - Besides - Songs From The Sixties 42 Grady Champion - Tough Times Don‘t Last 43 Harry Connick Jr. - Smokey Mary 43 Hayden Sayers - Rolling Soul 44 Heinz Ratz - Billy the Kid 45 Jeff Healey - As The Years Go Passing By. 46 Jessy Martens & Band - Brake Your Curse 47 Jimi Hendrix - People Hell and Angels 47 Jo Harman - Dirt On My Tongue 48 Kevin Breit & The Upper York Mandolin Orchestra Field Recording51 LZ Love & Lightnin Red - International Blues Family 52 Mario Nyéky & The Road - To The Wind 52 Mark Robinson - Have Axe - Will Groove 53 Matt Woosey Band - On The Waggon 53 Petey Hop - The Levee 54 Preacher and Bear - The Storm Has Come 55 Robben Ford - Bringing It Back Home 56 Sabrina Weeks & Swing Cat Bounce - Got My Eye On You56 Tinsley Ellis - Get It 57 Tonträger - Trostlose Torten 57 Vinz - The Birth of Leon Newars 58 © wasser-prawda Alles neu macht der ... März. Als wir im vorigen Jahr die erste Nummer unseres pdf-Magazins verschickten, da wollte ich ein ganz klassisches Outfit dafür haben: Eigentlich lag dafür das Tabloid-Format nahe: da passt ein dreispaltiges Textlayout hinein, man kann schön flexibel mit Bildgrößen arbeiten. Und außerdem sieht es einfach prima aus - ich liebe klassische Layouts, wie man es heute fast nur noch im Spiegel findet. Doch schon bald kamen Klagen darüber: Wenn man sich das Magazin ausdruckte, dann wurde auf A4-Seiten der Text zu klein dargestellt. Und auf Tablet-Computern oder ebookReadern musste man ständig scrollen, um zur nächsten Spalte zu kommen. Jetzt - nach langen Debatten, Experimenten und langen Nachtschichten des Layouters präsentieren wir hier ein neues Layout: Ab sofort gibt es als Seitengröße A4, was sofort ausdrucken kann, wer das unbedingt will. Und wir gehen außerdem fort vom mehrspaltigen Satz, um auch die Lesbarkeit auf mobilen Geräten zu verbessern. Die direkte Folge wird sein, dass der Heftumfang spürbar anwachsen wird. Aber das stört hoffentlich nur diejenigen, die unser Magazin ausdrucken wollen. Wahrscheinlich wird es noch immer mal paar kleine Anpassungen geben - und hierfür bitte ich um Hinweise, Anregungen und nett formulierte Kritiken, die uns unter redaktion@wasser-prawda.de erreichen. © wasser-prawda Hier könnte Ihre Werbung stehen! Neues Layout - neue Preise für Anzeigen im pdf-Magazin und online. Fragen Sie nach unseren Sonderangeboten: redaktion@wasserprawda.de. 3 Dynamite Daze auf Deutschland-Tour Der „Rolling Stone“ nannte Dynamite Daze mal die deutsche Antwort auf Tom Waits und Captain Beefheart. Die Band selbst bezeichnet ihre Musik schlicht als Krautblues. Auf jeden Fall spielen die vier Musiker einen Bluesrock, der eigenständig und immer wieder überraschend ist. Mit dem 2011 erschienenen Album „Scarecrows on Rampage“ sind sie jetzt wieder auf Tour durch Deutschland. B.B. & The Blues Shacks „Come Along“ ist nicht umsonst von den „Blues News“-Kollegen zum Album des Jahres hierzulande gewählt worden. Und wie kann man diesen großartigen Soulblues besser genießen als im Konzert? Bis in den Mai sind B.B. & The Blues Shacks mit dem Album auf großer Frühjahrs-Tour durch die Welt. Hier die nächsten Termine in Deutschland: 11.04.2013 | D-HOLSTE 12.04.2013 | D-UNNA 13.04.2013 | D-VERDEN 26.04.2013 | D-PERLESREUT 27.04.2013 | D-LÖHNE 09.05.2013 | D-RÖDERMARK 25.05.2013 | D-LÜNEBURG 16.03. Burghausen Jazztage 23.03. Meidelstetten Adler 12.04. Braunschweig Barnabys Blues Bar 13.04. Hannover Anderter Bahnhof 14.04. Rhede Blues 18.04. Roth Rother Bluestage 19.04. Weiden Salute Music Club Julian Dawson Ein Jahr lang war der britische Songwriter nicht mehr auf Tour. Jetzt hat er einen umfangreichen Tourplan veröffentlicht, der Konzerte vor allem in Deutschland beinhaltet. März 28 Featherstone St. Wilfrid’s Catholic High School April 05 Heiligenhaus Der Club 06 Neustadt (Hannover) 09 Nijmegen Café Trianon (NL) 10 Amsterdam Kapitaen Zeppos (NL) 11 Frankfurt Musikmesse Mai 05 House concert (NL) 11 Wolfenbuettel Blue Note e. V. 4 © wasser-prawda Editorial Wenn Ende Januar in Memphis die International Blues Challenge stattfindet, dann ist das heutzutage längst kein reiner Nachwuchswettberwerb mehr sondern könnte durchaus als „Weltmeisterschaft“ für Bluesmusiker und -bands bezeichnet werden. Außerdem ist dieses Ereignis eines der Szenetreffen für Fans, Musiker, Journalisten und Plattenfirmen. Leider sieht unser Budget keinen Posten für eine Reise an den Mississippi vor. Doch wir haben es geschafft, dass drei Musikerinnen und Musiker ihre Erlebnisse rund um den Wettbewerb für uns auf chreiben. Den Beginn macht die Sängerin und Gitarristin Maria Woodford aus den USA. Für die nächste Ausgabe erwarte ich noch Texte und Bilder von Michael van Merwyk (mit seiner Band Bluesoul als Sieger der German Blues Challenge 2011 teilnahmeberechtigt - und hat mit seinem zweiten Platz in der Bandwertung nach dem Sieg von Schröter & Breitfelder die zweite deutsche Spitzenplatzierung im Wettbewerb erreicht) und aus Israel Ori Naftaly und Sängerin Elaonor Tsaig. Eine kleine Vorschau auf ein kommendes Ereignis haben wir in letzter Minute aufgenommen: Nach wochenlangen Unsicherheiten steht das Programm für das diesjährige Internationale Bluesfest in Eutin fest, wo als letzte Künstlerinen Nina van Horn und Morland & Arbuckle verpflichtet wurden. Dave Watkins setzt seine vor vier Wochen begonnene InterviewReihe „Zehn Fragen an“ mit dem britischen Gitarristen und Songwriter Richard Townend fort, der als Solist oder mit Band seit 2011 im Vereinigten Königreich große Erfolge feiert. Und Lüder Kriete besuchte in Ulm eine Open-Mic-Session, wo die Band Mia Moth und die ebenfalls aus Kanada stammende Songwriterin Melanie Dekker auftraten. Die Mitschnitte beider Auftritte werden demnächst zum Streaming auf www.wasser-prawda.de zur Verfügung stehen. Quasi als Beitrag zum Internationalen Frauentag am 8. März haben wir die Frauenband Saffire - The Uppity Blues Women mit einem kurzen Werksüberblick gewürdigt. Und aus der Kategorie unerwarteter Fundstücke stellen wir Blues Rock & Country Inc. aus Namibia vor. © wasser-prawda 5 Grenzüberschreitungen beim 24. Bluesfest in Eutin Grenzen werden in vielerlei Hinsicht überschritten, wenn vom 17. bis 20. Mai auf dem Eutiner Marktplatz das traditionelle Bluesfestival stattfinden wird: Unter dem Motto „Crossing Borders“ werden Musiker aus 15 Ländern auftreten, die Blues in verschiedensten Stilrichtungen zwischen Folkblues, Boogie Woogie, Chicagoblues bis hin zum RetroSoul spielen. Wonach schaut man zuerst bei einem Festival? Die bekannten Namen auf dem Programm? Davon hat Eutin zu Pfingsten 2013 einige zu bieten: Tommy Schneller etwa wird am Samstagabend mit großer Besetzung auftreten. Seine Band - Gewinner der German Blues Challenge 2012 - ist eine der besten Adressen für Soul, Funk und Rhythm & Blues. Der texanische Bluesrocker Lance Lopez (Headliner am späten Freitagabend - Foto r.o) ist hierzulande auch kein ganz unbekannter Name mehr. Und in anderen Teilen dieser Welt wird die Französin Nina van Horn längst als Star gefeiert. Sie zählte zu den letzten Künstlern, die eingeladen wurden. Und da war leider nur noch ein Platz am Sonntagnachmittag im Programm frei. Oder schaut man nach den bevorzugten Stilrichtungen? Klassischen Boogie Woogie kann man da erleben mit dem Österrei- 6 © wasser-prawda cher Robert Roth und dem Ungarn Balázs Dániel. Für die Freunde des Akustikblues ist wahrscheinlich der Auftritt von Mario Marchi & the Mojo Workers (Samstag ab 14.45 Uhr) besonders bemerkenswert. Diese Truppe hat ihre Wurzeln in der Frühzeit von Blues und Ragtime - doch daraus haben die vier Musiker ihren ganz eigenen Sound kreiiert. Und für die Fans von Retroklängen gibt es gleich zwei verschiedene Angebote: Die Italiener Guitar Ray & The Gamblers spielen swingenden Retroblues (Samstag ab 17 Uhr). Und aus Norwegen wurde die großartige Soulsängerin Stina Stenrud (Foto unten: Helge Nickel) mit ihren Soul Replacements eingeladen. Da kann man sich auf eine Soul- & Funkrevue mit insgesamt zehn Musikerinnen und Musikern auf der Bühne freuen. Für die Freunde traditioneller Bluesklänge ist sicherlich Big Pete Pearson eine Empfehlung (Samstag ab 21.30 gemeinsam mit Sugar Ray & The Gamblers). Und mit ihrer großen Stimme zwischen Blues, Gospel und Soul wird Wanda Johnson am Montag die letzte Headlinerin sein. Traditionsgemäß bildet der Blues aus dem Ostseeraum einen der Schwerpunkte in Eutin. So wurden aus Norwegen (zusätzlich zu Stenrud) noch Yngve and His Boogie Legs engagiert (Montag 14.30-16 Uhr(. Mit ihrem modernen Jump Blues & Rockabilly haben die vier jungen Musiker 2011 den Norwegian Union Blues Cup gewonnen. Aus Schweden ist die Sängerin Ingrid Savbrant am Start, die einserseits eigenen rockigen Blues, andererseits ein „Tribut to Etta James“ im Programm hat. Und aus Polen kommt eine Band, die auf Grund ihrer Besetzung für Aufmerksamkeit sorgt: Vier der acht Musiker von Harpcore sind Mundharmonikaspieler. Und gemein- © wasser-prawda 7 Zu den Fotos: S. 6: Nina van Horn S. 7: Lance Lopez, Stina Stenrud (Foto: Helge Mickel) S. 8: Big Pete Pearson S. 9: Cajun Rooster, Robert Roth und Balázs Dániel, Wanda Johnson (Foto: Andrzej Matysik) 8 sam spielen alle eine Mixtur von funkigem Blues a la Dr. John und traditionellen Bluessounds und rockig-modernen Stücken. Das Eutiner Bluesfest versteht sich immer als Festival für Neugierige. Neben bekannten Namen tauchen auf dem Programm auch in diesem Jahr wieder Geheimtipps und auch Newcomer auf. So wird am 18. Mai die Kalle Reuter Experience auftreten. Deren Gitarrist ist gerade mal 13 Jahre alt, hat aber das Potential (so die Anmerkung von den Veranstaltern), in den nächsten Jahren in eine Riege mit Bluesrockern wie Henrik Freischlader aufzusteigen. Lassen wir uns überraschen! Neben dem Open-Air gibt es auch in diesem Jahr wieder ein „Nightfestival“, welches vom 17. bis 19. Mai nach Programmschluss auf dem Marktplatz (ca. 23.15 Uhr) im „Theater am Schloss“ mit Sonderkonzerten und Sessions zelebriert wird. Zum Konzept dabei gehört, dass man im Vorfeld noch nicht weiß, wer überhaupt dort auftreten wird. Das können Bands sein, die man vorher schon auf dem Markt hören konnte - aber auch Auftritte ganz anderer Musiker sind beim „Nightfestival“ möglich. Ach so: Nach den Preisen braucht man auch in diesem Jahr nicht zu schauen. Die Konzerte auf dem Markt sind kostenlos. Dass von den Veranstaltern um Spenden gebeten wird, das ist selbstverständlich. Das komplette Programm gibt es auf www.bluesbaltica.de Raimund Nitzsche © wasser-prawda Rich Hopkins German Fanclub & Wasser-Prawda präsentieren: RICH HOPKINS & LUMINARIOS (USA) „Buried Treasures“-EuropeanTour 2013 Rich Hopkins & Luminarios kommen zusammen mit Lisa Novak mit neuer Platte wieder bei uns in die Lande. Auch auf „Buried Treasures“ ziehen wieder unbequeme Alltagsthemen des amerikanischen Südwestens durch die Songs, sie sind aber diesmal längst nicht so dominant. • Do, 11. April HAMBURG Happy Billard • Fr, 12. April NEUÖTTING Stadtsaal • Sa, 13. April SINGWITZ KesselhausLager • So, 14. April BERLIN Chester‘s Music Inn • Mo, 15. April BERLIN Rock Steady Record Store (Private Show) • Di, 16. April CHEMNITZ Weltecho • Mi, 17. April BRILON Kump • Do, 18. April EPPSTEIN Wunderbar Weite Welt • Fr, 19. April ESSEN Grend • Sa, 20. April ZÜRICH El Lokal • So, 21. April LANGENAU Cafè Kapilio • Mo, 22. April DRESDEN Kathy’s Garage • Di, 23. April ERFURT Museumskeller • Mi, 24. April HANNOVER MusikZentrum • Do, 25. April HALLE Objekt 5 • Fr, 26. April BORDESHOLM Albatros Steaks‘n‘Music • Sa, 27. April HEILBRONN Red River • So, 28. April STUTTGART Laboratorium © wasser-prawda 9 Magic Slim (1937-2013) Noch mit 75 Jahren klang seine Gitarre jünger als die vieler nach ihm geborener Musiker. Mit „Bad Boy“ hatten Magic Slim & The Teardrops 2012 ein Album vorgelegt, dass seinen unverwechselbaren Blues aus der South Side von Chicago aufs Feinste zelebrierte. Seine letzte Europa-Tournee musste er wegen einer Erkrankung abbrechen. Am 20. Februar starb Morris Holt alias Magic Slim in Philadelphia. Von Raimund Nitzsche. Die Gitarrenlinien schneiden heftig und kraftvoll in die Gehörgänge und durchdringen spielend jeden Kneipenlärm. Seine Stimme erreicht zuweilen gar die Rauhheit und Heftigkeit von Sängern wie Muddy Waters. Und die Rhythmusgruppe legt einen Groove aus, der klar macht: hier ist man richtig, um zum Wochenende gehörig abzutanzen. Das ist BLUES in Großbuchstaben, Blues wie er seit Jahrzehnten einfach nicht altert. Blues, der so viel direkter und lebendiger ist als jegliche neue Rockmode. Magic Slim & The Teardrops haben seit den 60er Jahren ihren Stil beibehalten, ohne jemals altertümlich zu klingen. So wie auf „Bad Boy“ spielte man in der South Side von Chicago den Blues seit den 60er Jahren. Geboren wurde Morris Holt am 7. August 1937 in Torrence, Mississippi. Seine Eltern hatten als Sharecropper eine Farm gepachtet. Und schon früh musste der Sohn mit raus auf die Baumwollfelder. 10 © wasser-prawda © wasser-prawda 11 Sobald als möglich versuchte er, diesem Leben zu entkommen. Irgendwann suchte er sich Gelegenheitsjobs in der Umgebung, um selbst etwas Geld zu verdienen. Als er 13 war kam es zu einem Unfall, der sein Leben als Musiker entscheidend beeinflusste. Schon früh hatte Holt Liebe zur Musik gezeigt. Er begann mit dem Klavierspiel und sang im Kirchenchor. Doch dann geriet er mit der Hand in eine Cotton Gin und verlor einen kleinen Finger. Klavier konnte er jetzt nicht mehr spielen. So wandte er sich der Gitarre zu. Sein erstes „Instrument“ baute er sich, indem er Teile von Mutters Besen verwendete. Das gab natürlich zunächst gewaltigen Ärger, doch fanden sich seine Eltern damit ab. Und 1955 fühlte er sich gut genug, um seinen ersten Trip ins gelobte Land nach Chicago anzutreten. Chicago: Der erste Versuch, der eigene Ton Er wollte Gitarre bei seinem Jugendfreund Magic Sam spielen. Der hatte sich auf der South Side von Chicago schon einen Namen erspielt und gab Holt nicht nur Tipps für sein Gitarrenspiel sondern verpasste ihm auch seinen Bluesnamen Magic Slim (der Holt auch noch beibehielt, als er schon längst nicht mehr „slim“ aussah). Und vor allem meinte Sam: Du musst Deinen eigenen Ton finden! Du musst so klingen, wie du bist - nicht wie eine Kopie von anderen Musikern. Und irgendwann fand Magic Slim seine ureigne Art, die Gitarre zu spielen: Allein mit dem Vibrato der Finger auf den Saiten und ohne Bottleneck entwickelte er einen Klang, der dem einer Slidegitarre nahekam. Doch konnte er diesen Sound durch das Bending der Saiten so variieren, wie es mit einem Slide eigentlich unmöglich ist. Viele haben seither versucht, diese Spielweise zu kopieren. Gelungen ist das eigentlich niemandem. Weggehen und Wiederkommen Zunächst allerdings musste er einsehen, dass er noch nicht gut genug war, um in der harten Konkurrenz Chicagos als Gitarrist zu bestehen. Zwar hatte er in der Band von Robert Perkins einen Job als Gitarrist gefunden, doch der schien nicht wirklich eine große Zukunft zu haben. Also ging er wieder zurück nach Mississippi. 1965 folgte der zweite Anlauf, Chicago zu erobern. Gemeinsam mit seinen Brüdern Nick und Lee „Baby“ Holt als Rhythmusgruppe zog er nach Norden. Als Magic Slim & The Teardrops erspielte er sich in den Clubs bald einen guten Namen und konnte auch einige Singles veröffentlichen. Der eigentliche - landesweite - Durchbruch kam für die Band allerdings erst 1979, als Slim für die bei Alligator erscheinende Reihe „Living Chicago Blues“ einige Titel aufnahm. Schnell folgten bei diversen Labels weitere Alben. Auch als der langjährige zweite Gitarrist der Band, John Primer, seine Solokarriere begann, änderte sich der Sound der Teardrops nicht wirklich. Einige der besten Alben erschienen nach dem Wechsel von Magic Slim zu Blind Pig Records im Jahre 1996. „Bad Boy“ bildet hier als Coveralbum den Abschluss einer beeindruckenden Laufbahn, die immer auch mit den unermüdlichen Touren Slims zu tun hatte. Nicht umsonst wurden er und seine Teardrops sechs Mal mit dem Blues Music Award als beste Band ausgezeichnet. 12 © wasser-prawda Alvin Lee (1944-2013) Schon mit seinem Solo bei „I‘m Going Home“ und einer ellenlangen Tour de force durch die größten Hits des Rock & Roll auf dem Woodstock Festival ist er als einer der prägenden Bluesgitarristen Großbritanniens in die Geschichte eingegangen. Nach einer eigentlich harmlosen Operation ist Alvin Lee am 6. März 2013 im Alter von 68 Jahren gestorben. Von Raimund Nitzsche © wasser-prawda 13 In den späten 60er Jahren änderte sich der Sound des britischen Blues. Klar, schon immer waren es Gitarristen wie Eric Clapton, Peter Green oder andere gewesen, die in der Öffentlichkeit als Helden gefeiert wurden. Doch spätestens mit Bands wie Cream oder dem Einstieg von Jimmy Page bei den Yardbirds ging es mehr um Rock als um Blues, stand mehr die reine instrumentale Meisterschaft des Einzelnen als die korrekte Erbepflege im Mittelpunkt. In diese Geschichte fällt auch die von Ten Years After, die zwischen 1968 und 1973 nicht weniger als acht Alben in den den Charts platzieren konnten. Die Band, 1962 von Alvin Lee und Leo Lyons als Jaybirds gegründet, kam 1966 in die Londoner Szene. Zuvor hatten sie im auch schon für eine Weile im Hamburger Starclub gespielt. Jetzt wurden sie Hausband im Marquee Club und hatten bald schon einen Plattenvertrag bei Deram. Bis 1973 folgte ein Album dem nächsten, eine Tour der anderen nicht nur in Europa sondern auch in den Vereinigten Staaten. Dann war Schluss. Alvin Lee, dem die Pläne von Columbia, aus Ten Years After eine Popband zu machen, nicht passten, machte unter eigenem Namen weiterhin Rock mit jeder Menge Blues aber auch Country. So entstanden Alben wie „On the Road To Freedom“ (wo er unter anderem von Steve Winwood, George Harrsion und Ronnie Wood begleitet wurde). Dann spielte er bei den „London Sessions“ von Jerry Lee Lewis ebenso mit wie Rory Gallagher und Peter Frampton. Seine Bandnamen wechselten von Alvin Lee & Company zu Ten Years Later. In den 80ern - noch immer war er konstant auf Tour - holte er sich auch noch den Ex-Stone Mick Taylor in seine Band. Die Zeit der großen Hits und der riesigen Festivals war für ihn allerdings vorbei. Daran änderten auch seine Soloalben nichts. Als letztes war im September 2012 „Still on the Road to Freedom“ herausgekommen. Die 13 Songs boten noch einmal Querschnitt durch die Rockmusik seit den 60ern aus der Sicht des älter gewordenen Musikers, getragen werden sie von der noch immer in irrsinnigen Tempi dahinjagenden Gitarre Lee‘s, die schon in Woodstock die Menschen zu Begeisterungsstürmen hingerissen hatte. Aber wo in Woodstock die schiere Größe des Festivals für Ten Years After Zwischentöne eigentlich unmöglich machten, ist hier eine Entspanntheit und Zurückhaltung genau da zu spüren, wo es notwendig ist. Und es braucht nicht die große Showtapete, wenn hier ein Musiker aus seinem Leben jenseits der großen Bühnen singt. „Still on the Road To Freedom“ ist ein Album, dass eigentlich nicht nur den treuen Fans sondern eigentlich auch jüngeren Musikern ans Herz gelegt werden sollte: It‘s only Rock n Roll - but really good. 14 © wasser-prawda Mia Moth & Melanie Dekker im Roxy (Ulm) Weit über 500 begeisterte Besucher erlebten im Roxy, Ulm, einen vollauf gelungenen Abend mit hochkarätiger, abwechslungsreicher Unterhaltung. (Und eine nicht geringe Zahl von Interessierten mussten leider wieder weggeschickt werden - Ausverkauft!) Dieses Programm-Format hat sich ja mittlerweile in einer Reihe von Klubs erfolgreich durchgesetzt, hier im ROXY Ulm ist es immer ein ganz hervorragendes Erlebnis. Diesmal waren neben viel Comedy und Singer/Songwriter-Musik die beiden kanadischen Topp-Acts Mia Moth und Melanie Dekker die Topstars des Abends mal ganz abgesehen von dem erstklassigen Publikum! Von Lüder Kriete Wenn der Punk poppt - Mia Moth live on stage Im Zuge ihrer bisher sehr erfolgreich verlaufenen ersten Deutschland Tour machten Mia Moth Station im ehrwürdigen ROXY in Ulm. Eine tolle Location die auch bis auf den letzten Platz mit enthusia- © wasser-prawda 15 Todd Thibaud „Waterfall“ Tour 2013 • • • • • • • • • • • • • • • 25.04.13 D-Eppstein, Wunderbar Weite Welt 26.04.13 D-Finnentrop, private Show 27.04.13 D-Wesel, JZ Karo 28.04.13 D-Frelsdorf, Bostelmann Saal 29.04.13 D-Norderstedt, Music Star 30.04.13 D-Neuenkirchen-Vörden, Kulturbahnhof 02.05.13 D-Parchim, Irish Pub 03.05.13 D-Singwitz, Kesselhaus Lager 04.05.13 D-Weimar, Venue tba 05.05.13 D-Berlin, private Show 07.05.13 D-Offenburg, Spitalkeller 08.05.13 D-Heilbonn, Red River 09.05.13 D-Stuttgart, Laboratorium 10.05.13 D-Langenau, Music Stage 11.05.13 A-Thalgau, Hundsmarktmühle (neues Album „Waterfall“ (VÖ 19.04.13 Blue Rose Records)) www.toddthibaud.com 16 stischem Publikum gefüllt war. War den meisten dieses Trio mit Kara Fraser - Gesang; Allen Rodger - Bass und Electronics und BJ Genten - Drums, noch unbekannt, so hat sich dass nachhaltig durch diesen Gig geändert. Frischer PunkPopFunkRock kam da von der Bühne und verzauberte das Publikum. Kara mit ihrem dynamischen Auftritt, ihrem betörendem Gesang, Allan mit seinem unglaublich druckvollem Bass und BJ Genten mit einem astreinen, präzisen Drums fuhren das Publikum vom Fleck weg zu einer rasanten Spritztour durch den Rock. Das Publikum nahm diesen Erstkontakt mit den Kanadiern dankbar an und hätte wohl auch mitgetanzt, wenn der Platz dafür vorhanden gewesen wäre. So drückte es seine Sympathie für die Band in kraftvollem Applaus aus. - Wäre schön, wenn diese Band bei ihrer nächsten Deutschland Tour einen ganzen Abend im ROXY Station machen könnte. Sunshine from Vancouver - Melanie Dekker begeistert die Fans Melanie Dekker ist beileibe keine Unbekannte mehr im Ulmer Land. So sprang der Funke auch sofort über, als sie mit ihrem Trio nach der Pause kraftvoll in die Saiten griff. Melanie spielt akustische Gitarre und singt und -Deutschland-Premiere- spielt seit neuestem auch Banjo! Neben ihr sind diesmal ihr langjähriger Freund David Sinclair an der E-Gitarre (auch aus Kanada) und Sven Rowolt aus Fulda an den Keyboards. Die drei machen eine sehr sympathische Mischung aus Singer/Songwriter und acousticRock. Melanie übernimmt mit ihrem kräftigen Akkorden dabei mitunter den Part des Drums, was dann den beiden Herren Raum für Soli bietet, den sie auch gerne und überzeugend nutzen. So ist der Saal schnell bereit mitzumachen, sei es durch Klatschen oder Singen. Das auch bei diesem Act das Auge des Betrachters sehr positiv gereizt wurde sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Kein Wunder also, das Melanie Dekker erst nach einer Zugabe die Bühne für den nächsten Gast freigeben durfte! Nicht unerwähnt bleiben sollen auch die anderen Personen, die ebenso zum guten Abend beitrugen. Da sei allen voran Matthias Matuschek von br3 erwähnt, der als Moderator pointenreich durch den Abend führte und das Publikum schnell auf Betriebstemperatur brachte. Lukas Lurex mit einer Mischung aus Singer/ Songwriter und Comedian und das Duo Manou, das mit der ungewöhnlichen Besetzung von Gesang und Cajon + Gesang, Gitarre und Bass-Drum zeitgenössische Musik aus dem Wohnzimmer präsentierte. Im zweiten Set gab es dann als Gegenpol zu Melanie Dekker viel Comedy mit den beiden Solisten Christa Mayerhofer und anschließend Thomas Schreckenberger. © wasser-prawda Wir wollen ein Lied von Dir Volume 2 Zwischen Blues und Rock - auch Teil zwei unserer Sampler-Reihe bringt wieder Musik aus vielen Teilen dieser Welt zusammen, die die Entdeckung lohnt. Vielen Dank an die Musiker, die uns ihre Songs zum Geburtstag geschenkt haben! 1. Den Anfang macht der kanadische Gitarrist Danny Marks mit dem Song Blues of the Future vom aktuellen Album „A Friend In The Blues“ (Album des Jahres 2012 bei der WasserPrawda). 2. Auch „Radiogram“ gehörte 2012 zu den beliebThe testn Alben der Leser. Gwyn Ashton hat uns Little Girl, die erste Single daraus zur Verfügung gestellt. © wasser-prawda 17 3. The Motives feat, Matt Taylor gehören in Großbritannien zu den Aufsteigern des letzten Jahres. „Leap of Faith“ stammt vom ersten Album dieser Band. 4. „Wings“ ist eine sehr schöne Nummer der großartigen Bare Bones Boogie Band - wir bleiben in Großbritannien und beim Bluesrock. 5. Paul Garner - Blue Morning Light 6. Mit der kanadischen Songwriterin Melanie Dekker und ihrem Song „Hippie“ gibt es erstmals einen Blick außerhalb der Blueswelt. 7. Und auch Mia Moth kann man beim besten Willen nicht als Blues verkaufen. Dafür ist ihr Song „Bark“ vom Album 12.12.12 eine schöne poppige Rocknummer. 8. Seit 30 Jahren gibt es die Münchner Blue Note Blues Band schon. Und „Big Easy“ ist eine der Nummern die auf dem zweiten Album der Truppe namens „Can‘t Get Enough“ zu finden sind. 9. Mockingbird Hill - Train A Comin‘ (vom Album „One Horse Town) 10. Greyhound George stammt aus Bielefeld. Und seine Lieder zählen zu denen, wo man wirklich auf den Text achten sollte, weil hier nicht die üblichen Klischees wiederholt werdden, sondern ganz aktuelle Geschichten erzählt werden. „Virtual Bluesman“ etwa ist einer der wenigen Blues, die ich kenne, die von der Einsamkeit im Internet handeln. 11. Schon lange habe ich eine Schwäche für die Lame Dudes aus Rejkjavic. „Mojo Oil“ hören wir hier in einer ganz aktuellen Live-Fassung vom Ende 2012. 12. Für mich eine Neuentdeckung ist das deutsche Studioprojekt Blackout Country, deren Musik man ganz grob einfach als Rock bezeichnen kann. Besonders bei dem Duo ist, dass sie als Texte oftmals Lyrik des 19. Jahrunderts verwenden. „Alone“ wurde beispielsweise von Edgar Allen Poe geschrieben. 13. Big Llou Johnson zählt für mich zu den Neuentdeckungen der letzten Monate. Als Sänger zwischen Chicago-Blues, Soulblues und Funk ist er einfach umwerfend. „They Call Me Big Llou“ stammt vom Debüt, das für einen Blues Music Award nominiert ist. 14. Ebenfalls eher dem Soulblues zugerechnet werden kann Tweed Funk. „Fine Vine“ The haben wir hier exklusiv im Video-Mix. 15. Noch unveröffentlicht ist „Now I“ von The Jits aus Phoenix in Arizona. Die Rockband wird demnächst bei Cactus Rock Records ihr neues Album veröffentlichen. Und sie passt großartig zum Motto des Labels, bisher unerhörte Musik voller Energie ist das. 18 © wasser-prawda Zehn Fragen an: Richard Townend Ein Interview von Dave Watkins. 1: Was war Dein frühester Musikgeschmack und wie hast Du die Welt des Blues entdeckt? Mein Vater spielte klassisches Klavier, auch wenn er ein guter Musiker war, fehlte ihm aber das Quentchen Glück, um es darin weiter zu bringen. So hatte ich seit ich ganz jung war immer irgendwelche Musik in meinem Leben. Als ich ungefähr zehn war, kaufte man mir eine Gitarre und ich schrammelte ein paar Akkorde mit meinem Freund am Klavier und meinem Bruder am Schlagzeug. Ich hatte außerdem eine Vokalgruppe mit zehn Jahren, die sich Ricky and the Raindrops nannte mit vier Mädchen, die unser Lehrer aus dem Kirchenchor zusammengeholt hatte. Später kaufte mein Bruder Alben von Queen, und so begann ich mit 15 richtig mit dem Gitarrenspiel. Damals entdeckte ich außerdem Jimmy Page und Jimi Hendrix zusätzlich zu Brian May - sicher bemerkst Du, wie sich der Musikgeschmack veränderte durch diese Gitarristen. Ich glaub, die waren die ersten, die mich auf die Blues© wasser-prawda Dave Watkins, unser Mann im Vereinigten Königreich, stellte seine zehn Fragen diesmal an Richard Townend, der seit 2011 - ob als Solist oder mit seiner Band The Mighty Boss Cat großen Eindruck in der britischen Szene gemacht hat. Vier Alben von ihm - mit und ohne Band - sind allein 2011 erschienen. Jetzt arbeitet er an einem neuen, dass in einigen Monaten auf den Markt kommen soll. Auf dem will er sich - obwohl kein sehr religiöser Mensch - mit den sieben Todsünden auseinandersetzen. 19 road schickten. Stevie Ray, Johnny Winter, Clapton, Rea, ... alle diese folgten ihnen nach und verwiesen mich auf die gleiche rocky road. 2: Wer waren die Künstler, die dich dazu brachten, dass Du diese Musik spielen wolltest. Und wann stelltest Du fest, dass Du dazu das Talent hast? Jeder gute Gitarrist, der einen einzigartigen Sound hat, hat einen großen Einfluss auf mich. Leute wie Hank Marvin und Mark Knopfler beispielsweise. Aus Zeitmangel höre ich eigentlich nicht viel Musik, aber ich erinnere mich, dass die meisten Alben, wenn man sie mit dem Finger abbremste, um die Solos zu lernen, nur etwa eine Woche durchhielten! Mit etwa 15 spielte ich bei einer Band vor, und die sagten, ich wäre absolut mies. Sofort ging ich in einen Gitarrenladen und kaufte „Teach yourself rock guitar“ von Pat Thrall. Ich dachte: Wenn du es liebst, dann solltest du es auch lernen. Ich hab mich da richtig reingesteigert und dieser Drang hat mich niemals verlassen. Ich ging aufs Music College in Leeds, um Gitarre zu studieren und arbeitete nach meinem Umzug nach London als SessionGitarrist. Schließlich war ich gehörig desillusioniert und tauschte diese Arbeit gegen einen 9-5-Job ein. 20 © wasser-prawda 3: Deine ersten Aufnahmen - hörst Du sie immer noch an? Wie beurteilst Du sie heute? Und gibt es welche, die Du nicht mehr anhören würdest? In den 80ern machte ich einige Aufnahmen - Popsongs eigentlich - danach hängte ich meine Gitarre an den Nagel und nahm bis zum Januar 2011 nichts mehr auf. Seither hab ich fünf Alben gemacht, alle mit eigener Musik. Ich würde die alten Songs eigentlich als gut bezeichen - vom Klang her sind sie wahrscheinlich schrecklich und sie sind keinesfalls irgendwie dem Blues verwandt. Ich würde sie wohl niemals wieder hervorholen, mir ist eher danach, sie zu beerdigen. 4: Welche anderen Jobs hast Du gemacht, um Deine Musikkarriere zu unterstützen? Nun ... geheimnisvoller Elchkopf-Trinker etwa, wo ich dafür bezahlt wurde, durch die Pubs zu ziehen, Bier zu bestellen und wenn die Leute hinter der Bar den korrekten Werbe-Slogan sagten, gab ich ihnen einen Preis ... und bekam ein Freibier. Ich hielt ungefähr fünf Pubs durch, bis ich nicht mehr wirklich als Analytiker für die Marktforschung durchging, weil ich halt die fünf Pints intus hatte... Ich war Buchhalter, Gitarrist in einer Cover-Band, Eis-Verkäufer, Regalbeschicker in einem Supermarkt, IT-Berater, Daten-Architekt, leitender Verwaltungsangestellter, Fensterputzer, Fahrradkurier, ... Einmal arbeitete ich von Montag bis Freitag als Aushilfe in einem Büro, spielte Donnerstag, Freitag und Samstag in einer Coverband und machte Jobs für die Marktforschung am Samstag und Sonntag. Das hielt ich etwa einen Monat durch, aber ich bringe heute genau die gleiche Energie von damals in meine Musik ein. Ich versuche Dinge immer mit hundertporzentigem Einsatz zu machen. 5: Wie schwer ist es, von seiner Musik zu leben? Und gibt es irgend etwas, dass diese Ziel für alle Musiker einfacher erreichbar machen würde? Von der Musik zu leben ist hart, aber wenn Du all die Shows, die Urlauber-Bespaßung, Kreuzfahrten, oder Unterrichtsstunden machen willst, dann hast Du die gleichen Chancen erfolgreich zu sein wie jeder andere Selbständige. Es braucht Entschlossenheit, Selbstvertrauen, Kompetenz und Networking. Geld zu verdienen als Künstler, der sein eigenes Material schreibt ... Hier reden wir wirklich über harte Arbeit. Das etwas vollkommen anderes. Was es für Künstler etwas vereinfachen würde, wäre ein Wiederaufleben der Live-Musik-Szene. Aber wie man das machen soll, davon hab ich keine Idee. Lokale Radiostationen helfen unwahrscheinlich, © wasser-prawda 21 Der Bombenanschlag von Omagh Am 15. August 1998 explodierte in der nordirischen Stadt Omagh eine Autobombe. Durch das Attentat der Real Irish Republican Army, einer Splittergruppe von ehemaligen Mitgliedern der Provisional Irish Republican Army, starben 29 Menschen, ungefähr 220 wurden verletzt. Der Anschlag richtete sich gegen das Karfreitags-Abkommen von 1998, dass zwischen Großbritannien, der Republik Irland und den Parteien in Nordirland geschlossen wurde und einen Verzicht Irlands auf die Wiedervereinigung mit Nordirland enthält. aber wir brauchen Orte, wo die Leute die Musik, die die Sender spielen auch hören können. 6: Auf welchen Deiner eigenen Songs bist Du besonders stolz? Erzählst Du uns die Geschichte hinter dem Lied? Ich hab über 100 Songs in den letzten zwei Jahren geschrieben, von denen ich 50 oder so aufgenommen haben. Bis zu einem gewissen Grad bin ich auf jeden von ihnen stolz. Ich schrieb ein Lied über den Bombensnaschlag von Omagh (s. äußere Spalte. R.N.), das einige sehr freundliche Kommentare von Menschen erhielt, die noch immer in Omagh leben, es ist schön, so ein direktes Feedback zu bekommen. Die meisten Songs, die ich schreibe, handeln von Etwas oder Jemandem und sind nicht einfach formelhafte Texte nach dem Klischee „Woke up this morning“. Ich möchte Dinge dokumentieren, und daher kommt es mir auf die Texte ebenso an wie auf den Sound. Das erste Lied, dass ich für The Mighty Boss Cats schrieb, war „She‘s my best friend“ - das war über eine Gitarre, die Mark Knopfler hat. Er hat sie all die Jahre behalten vom Underground bis zu seinem gigantischen Ruhm. Als er gefragt wurde, warum er sie behalten hat, sagte er, sie ist wie ein Freund, der einen niemals hängenlässt, da dachte ich, das gehörte ganz hoch auf die Liste von Liedern mit einer Bedeutung, die ich und alle Gitarristen nachvollziehen können. „The House of the Blues“ ist ein anderes Beispiel von Songs, die Ereignisse dokumentieren. Das handelt von meinem Trip in die USA, wo ich B.B. King spielen sah. Alle Lieder haben eine Story - hör sie dir an und achte auf die Texte. 7: Wenn Du Dich zum Schreiben hinsetzt, was kommt zuerst der Text, die Melodie oder die Idee für ein ganzes Lied? Das hängt ganz davon ab - manche Themen zwingen mich dazu, ein Lied zu schreiben und dann arbeite ich zuerst am Text. Ich schaute etwa eine Sendung über das Staatsgefängnis in Indiana. Die Worte „I got the Indiana State prison blues“, sprangen mich förmlich an. So entstand ein neues Lied, dass hoffentlich seinen Platz auf dem nächsten Album findet. Zu anderen Zeiten kann es auch ein besonders schöner Akkord sein, den ich finde oder ein Riff, dass einfach beim Rumspielen entsteht. Das ist es, was es so unvorhersehbar macht: es könnte wirklich alles sein. Inspiration ist keine exakte Wissenschaft. 8. Erzähl uns etwas über das Lieblingsinstrument in Deiner Sammlung. Und gibt es irgend ein anderes Instrument, was Du gern haben oder erlernen möchtest? 22 © wasser-prawda Ich habe verschiedene Gitarren. Aber ich liebe meine Strats, weil sie für mich eine fast ikonenhafte Form haben. Elektrische Gitarren sollten wie Strats aussehen, was sonst sieht schon seit den 50er Jahren immer noch genau so aus? Die haben es meiner Meinung nach einfach genau richtig hinbekommen damals. Ich besitze auch einige Nationals, weil ich wahrscheinlich mehr akustisch als elektrisch spiele. Die Nationals klingen einfach und klingen - wirklich ehrfurchgebietende Teile. 9. Wo möchtest Du Deine Karriere gerne hinführen sehen in der Zukunft? Was sind da Deine hauptsächlichen Ambitionen? Ich will einfach nur fortfahren zu schreiben, Platten aufzunehmen und für immer größer werdende Zuschauerzahlen zu spielen. Zusammen haben wir einen wirklich guten Sound gefunden und es wäre schöne, das mit anderen zu teilen. Ich würde außerdem gern mehr Festivals spielen - nur für den Fall das irgendein Festival-Organisator oder Booking-Agent mitliest. 10: Was machst Du außer Musik am liebsten? Ich lese, fahre ein wenig Rad und habe eine wundervolle Familie, aber das ist es dann auch schon. Musik ist meine Leidenschaft, und sie kostet mich eine Menge Energie. Daher muss ich einfach bei anderen Ablenkungen kürzer treten. Zusatzfragen: Spielst Du lieber Solo oder mit den Mighty Boss Cats? Eindeutig mit den Mighty Boss Cats. Wenn wir mit allen Zylindern Gas geben, ergibt das eine großartige Reise. Es ist eine sehr kreative Umgebung zum spielen und schreiben. Die Solo-Arbeit kann auf ihre Art auch sehr erfüllend sein, besonders wenn man sich selbst mit dem Loop-Pedal antreibt. So ist‘s einfach weniger formelhaft. Wie auch immer - alles hat seinen Platz und ob Solo oder mit der Band hängt meistens an Fragen der Verfügbarkeit und der Ökonomie. Wo können die Menschen mehr über Dich erfahren? Die können auf www.richardtownend.com oder www.themightybosscats.com schauen. All unsere CDs kann man bei Amazon, itunes oder auf der Webseite der Band bestellen. Und außerdem gibt es noch bei youtube einen eigenen themightybosscats-channel mit um die 50 Videos. © wasser-prawda 23 Die International Blues Challenge - Eine kurze Geschichte Von Raimund Nitzsche Wenn heute jedes Jahr mehr als 200 Bands und Musiker in Memphis zur International Blues Challenge antreten, dann ist das ein Ereignis, was zumindest in den USA immer wieder die Aufmerksamkeit der Medien auf den Blues lenkt. Und es ist eine Veranstaltung, die Millionenbeträge in die Kassen von Memphis spült, die für Bluesfans die Bedeutung von Mekka oder Medina hat - je nachdem welchen Platz man Chicago da einräumen mag. Die Geschichte von Wettbewerben zwischen Musikern ist wohl so alt wie die Musik selbst. Und auch im Blues gibt es die nicht erst seit dem legendären Gitarrenduell zwischen Ralph Macchio und Steve Vai im Film „Crossroads“ aus dem Jahr 1986. Wenn Musiker aufeinandertreffen, dann wollen sie wissen, wer besser ist. Ob man nun bei einer Jamsession einander in immer neue Höhen schraubt oder bei einer „Battle“ das Publikum entscheiden lässt, wer besser ist. Legendär sind die Geschichten, wie etwa große Swingorchester in den 30er Jahren einander Battles lieferten und die Verlierer wie begossene Pudel dastanden. Und auch von den Straßenbands in New Orleans in der Geburtszeit des Jazz sind solche Schlachten überliefert. Warum also nicht in einem Wettstreit feststellen, wer im Blues die beste Show hinlegen kann? 24 © wasser-prawda Es war 1985, als die Blues Foundation in Memphis erstmals beschloss, einen Wettbewerb auszuschreiben. Man wollte die besten Solisten, Duos und Bands des Planeten finden, die noch keinen Plattenvertrag haben. Die Anfänge waren simpel und billig. Joe Savarin, Gründungsdirektor der Bluesfoundation, wollte eigentlich nur einen kleinen Beitrag dazu leisten, die historische Beale Street zu neuem musikalischen Leben zu erwecken und gleichzeitig den lokalen Bluesmusikern wieder Auftrittsmöglichkeiten zu verschaffen.. Damals in den 70ern und 80ern war die heutige Touristenmeile eher mit einem Abrissgebiet zu vergleichen. Aber dennoch kamen Touristen. Und die sollten in der Straße wirklich guten Blues zu hören bekommen. Also nahm er Kontakt zu den 60 oder 70 BluesGesellschaften in aller Welt auf, die er finden konnte. Auch wenn keine wirklichen Preise ausgesetzt werden konnten, waren die Reaktionen äußerst positiv. Der erste Wettbewerb wurde im Handy-Park und im New Daisy Theater an der Beale Street abgehalten. Und schon, dass die von außerhalb der Stadt angereisten Musiker im Handy-Park mit den dort ansässigen Bluesmusikern der Stadt musizieren konnten, war Ansporn genug. Schnell stiegen die Teilnehmerzahlen - und die Stadt Memphis bekam so mitten im Winter ein absolutes kulturelles Highlight, dass Millionenbeträge in die lokale Wirtschaft spült. Und außerdem wird der Blues nicht nur in Memphis sondern auch dort, wo die regionalen Vorausscheide abgehalten werden, wieder ganz anders wahrgenommen. Gerade die Teilnehmerinnen von außerhalb der © wasser-prawda Fotos: S. 20: Die Beale Street 1974: Bis auf ein Geschäft waren sämtliche Läden verschwunden. S. 21: Heute ist die Beale Street eine Touristenattraktion nicht nur für Bluesfans. S. 24: Statue von W.C. Handy im nach dem „Vater“ des Blues benannten Park an der Beale Street. 25 Vereinigten Staaten haben in den letzten Jahren für Aufmerksamkeit gesorgt. Dass mit Georg Schröter und Marc Breitfelder vor drei Jahren erstmals Sieger aus Deutschland kamen, hat die Skeptiker hierzulande ganz schön überrascht. Und auch der zweite Platz für Michael van Merwyk & Bluesoul 2013 sorgte wiederum für Aufmerksamkeit. Heute bekommen die Sieger nicht nur Geldpreise sondern vor allem auch Auftritte bei den großen Festivals in den USA oder auch bei den legendären Blues-Cruises im Pazifik oder der Karibik. Das kann für die Künstler schnell kostenlose Werbung bedeuten, die keine Plattenfirma bezahlen könnte. Und daher ist aus dem anfänglichen Amateur-Wettbewerb inzwischen ein hochprofessionelles Ereignis geworden: Jemand, der nicht wirklich spielen kann, braucht eigentlich gar nicht erst anzutreten. Doch auch heute läuft der Wettbewerb vor allem über das Engagement von Freiwilligen, wäre er als rein kommerzielle Veranstaltung nicht zu stemmen. Wenn hierzulande kritisiert wird, dass für die German Blues Challenge keine Gagen gezahlt werden: Die bekommt man auch in Memphis nicht. Für Anreise, Unterkunft und Verpflegung müssen sich die Musiker Sponsoren suchen. Was zählt, ist die Teilnahme, die Chance mit einigen der besten Musiker der Welt sich zu messen in einem musikalischen Wettstreit. Und vor allen Dingen, Kontakte zu knüpfen nicht nur zu Kollegen, sondern auch zu Veranstaltern, Labels und Medien. Denn die IBC ist mittlerweile weltweit einer der Termine, wo man sich treffen kann. In Memphis, dem Home of the Blues, in der Beale Street und ihren zahllosen Clubs und Lokalitäten. 29. International Blues Challenge Die Gewinner Kategorie Solo/Duo: 1. Platz: Little G Weevil (Atlanta) 2. Platz: Suitcase Brothers (Spanien) Kategorie Band: 1. Platz: Selwyn Birchwood Band (Suncoast) 2. Platz: Michael van Merwyk & Bluesoul 3. Platz: Dan Treanor’s Afrosippi Band with Erica Brown (Colorado) 26 © wasser-prawda © wasser-prawda 27 Eine Erfahrung für‘s Leben Von Maria Woodford Der Blues ist für mich eine Art zu leben. Der Geist des Blues hat mich auf eine Weise gerettet, die ich nicht beschreiben kann. Der Bewahrung dieser historisch so reichen Tradition ist mir sehr wichtig. Wenn ich wie in Memphis so viele Menschen sehe, die ihre Zeit ebenso wie ihr Herz daran hängen, das Überleben und das Gedeihen des Blues zu fördern, dann hat das etwas Wunderschöne. Ich glaube, ich hab bei der IBC einige wundervolle Freunde für‘s Leben gefunden. Und ich kann es kaum erwarten, das nochmal zu machen. Denn: Die International Blues Challenge war einfach unglaublich. Auf dem persönlichen Level war es wundervoll, beim ersten Versuch das Halbfinale zu erreichen. Aber mehr als alles andere haben mich die schiere Unermesslichkeit der Veranstaltung und die perfekte Organisation umgehauen. Der Wettbewerb selbst läuft wie ein Uhrwerk. Jede einzelne Nacht treten die Bands reibungslos und pünktlihc auf. Die Leute, die für Sound und Bühne zuständig sind waren unglaublich hilfreich und effizient. In jedem Laden, wo wir gespielt haben, überraschten mich die Freiwilligen mit ihrer Professionalität. Wir spielten gut - und weil alle so prima zusammen arbeiteten, hatten wir eine Menge Spaß dabei. Nach Jahren im Blues Teil dieses Wettbewerbs 28 © wasser-prawda Maria Woodford zu sein, hat mir regelrecht die Augen geöffnet. Ich glaub, durch diese Erfahrung bin ich als Performerin deutlich gewachsen. Meine Band war unglaublich und nachdem ich mit ihnen durch diesen Spießrutenlauf gegangen bin, liebe ich sie noch viel mehr. Drei unerwartete Schwerpunkte der IBC wurden zu meinen Favoriten (abgesehen natürlich davon, dass wir ins Halbfinale kamen und in die zweite Runde für die beste selbstproduzierte CD): Der „All Woman‘s Jam“, die Jugend-Workshops und die Jamsessions spät in der Nacht. Zuerst: Der von Schauspielerin und Sängerin Michelle Seidman organisierte „All Woman‘s Jam“ war erstaunlich. Ich wollte dabei auftreten, aber mein Auftrittsplan ließ das nicht zu. Aber immerhin habe ich es zwischen all den Verpflichtungen geschaff t, wenigstens einen Teil von der Veranstaltung zu erleben. Ich hatte von Kopf bis Fuß Gänsehaut! Die Reaktionen von Frauen auf und vor der Bühne war einfach überwältigend. Die Zuschauerzahl war riesig - und ebenso die Liste der jammenden Musikerinnen. Dafür, dass sie das organisiert hat, gebührt Michelle der ganze Ruhm. Bei weitem meine liebsten Erfahrungen in Memphis waren die Jugend-Workshops. Schon seit vielen Jahren habe ich bei BluesWorkshops Kinder im Augusta Heritage Center in Elkins, West Virginia, unterrichtet. Und in diesem Jahr unterrichte ich auch im Nordwesten am Pazifik. Das letzte, was ich (als erstmaliger Teilnehmer) bei der IBC erwartet hätte, war die Möglichkeit, das zu tun, was ich am meisten liebe: zu unterrichten. Es war die zweite Nacht der Viertelfinals, als ich nach der Show von meinen guten Freunden Jonn DelToro und Rich DelGrosso Besuch bekam. Eigentlich kamen sie, um mich zu unterstützen, aber mir auch von einer Gelegenheit zu berichten: Jedes Jahr veranstaltet die IBC neben dem Wettbewerb für Erwachsene auch einen Jugendwettbewerb. Und die IBC bietet tagsüber auch „Blues Camp“ genannte Workshops für die Kids an. Der Lehrer, der eigentlich eingeplant war, konnte wegen eines familiären Notfalls nicht kommen. John (ein Gewinner des Albert King Award und langjähriger Kämpfer für die Erhaltung des Blues) wurde gebeten, einen Ersatz zu finden und schlug mich gemeinsam mit Cassie Taylor (Tochter von Otis Taylor, Vorstandsmitglied der Blues Foundation, eine preisgekrönte unglaubliche Musikerin und Sängerin) vor. Joe Whitmer, der stellvertretende Leiter kam darum auch in dieser Nacht, um mich zu sehen. Ich wurde dann gebeten einzuspringen und mit den jun- © wasser-prawda ha e 2012 mit „Bad Dog Blues“ ihr erstes Bluesalbum veröffentlicht. Die Sängerin, Gitarrisn und Musikpädagogin (die unter anderem auch ein Buch über Musikerziehung im Grundschulalter veröffentlicht hat) präsen ert sich darauf in der Tradi on von Sängerinnen wie Nina Simone oder auch von den Frauenbluesband Saffire - The Uppity Blues Women. Zur Interna onal Blues Challenge wurde sie vom Leigh Valley Blues Network delegiert und erreichte in Memphis mit ihrer Band das Halbfinale. 29 gen Bands Workshops zu ihrem Auftreten zu halten. Bei meiner allerersten Reise zur IBC gefragt zu werden, neben solch unglaublichen Künstlern zu unterrichten, war eine riesige Ehre. Der beste Weg, um zu beschreiben, wie großartig diese Erfahrung war, ist, eine Reaktion zu schilderen, die ein Elternteil an uns weitergab: „Wow, die Jugendworkshops waren außerordentlich! Wir arbeitenen mit Cassie Taylor und Maria Woodford in zwei Sessions - es war einfach: Spot on - und du konntest direkt vor deinen Augen sehen, wie sich die Fähigkeiten der Schüler beim Auftritt verbesserten.“ Die Studenten waren unglaublich talentiert und offen für Hinweise. Und Cassie ist ein unglaubliches Energiebündel mit jeder Menge Feuer - das machte einfach Spaß, mit ihr zu arbeiten. Zum Schluss: Die von Jonn DelToro jede Nacht im The New Daisy geleiteten Late Night Jams waren der Hammer - und ein Teil der besten Musik, die ich in der ganzen Zeit gehört habe, hab ich dort gehört. Ich konnte meine Sachen zusammen mit einigen unglaublichen Musikern spielen. Und alles, was ich auf der Bühne sah, war absolute Weltklasse. Jonn legte sich voll ins Zeug, um jede Nacht eine gigantische Show mit Preisträgern der IBC und kommenden Stars auf die Beine zu stellen. Wobei man natürlich auch den Fakt erwähnen sollte, dass Jonn DelToro selbst ein fantastischer Gitarrist und eine echte Macht auf der Bühne ist. Mit ihm auf der Bühne zu stehen, brachte die Diva in mir heraus! Die International Blues Challenges sind eine Erfahrung, die jeder Bluesmusiker und -fan mindestens einmal - oder besser noch mehrfach - im Leben machen sollte. Dank an die Blues Foundation, dass sie den Blues am Leben erhält. Dank an die zahllosen Freiwilligen, die die IBC Realität werden lassen. Dank an Euch alle, für Eure Unterstützung der Blues Community. Ohne Euch hätten wir niemanden, mit dem wir dieses Geschenk teilen könnten! Bleibt dabei, den Blues zu lieben - wir lieben Euch auch! 30 © wasser-prawda Wiedergehört: Saffire - The Uppity Blues Women Von Raimund Nitzsche In den 90er Jahren sahen sie Saffire - The Uppity Blues Women eigentlich eher als Blueshistoriker. Doch seit sie überall auf der Welt auf Festivals auftraten und bei Alligator einen Plattenvertrag unterschrieben, wurde daraus eines der bemerkenswertesten Kapitel von Frauen im Blues überhaupt: Drei Musikerinnen - alle herausragende Instrumentalistinnen und Sängerinnen - brachten mit ihren Liedern eine Note in den Blues, wie er seit den 20er Jahren viel zu selten zu hören war: Frauen, die voller Humor und Selbstbewusstsein Lieder schreiben ohne eingefahrene Klischees. Keine „Girls“, nein: starke Frauen, die Freudenlieder über Scheidungen schreiben oder ihr Alter ironisch zum Thema erheben. Acht Alben nahmen Saffire auf - Platten, die man nicht nur nach dem kürzlichen Tod von Pianistin Ann Rabson mal wieder aus dem Schrank holen sollte. 1990: Saffire - The Uppity Blues Women Als Thema hatten sich Saffire die alte Nummer von Ida Cox „Wild Women Don‘t Get The Blues“ gewählt, die nicht umsonst am Schluss ihres 1990 erschienenen Debüts steht: Wilde, starke Frauen lassen sich nicht einsperren, schon gar nicht vom Blues. Sie singen eher drüber - oder lachen. „Middle Aged Blues Boogie“: Nein, nicht die jungen und vom Leben unberührten Mädchen sind die richtigen Interpretinnen des Blues. Es braucht die Erfahrungen und den wachen Blick auf die Welt, wo selbst Yuppies nicht davor gefeit sind, Niederlagen einstecken zu müssen. 1991: Hot Flash Manche Kritiker bezeichnen das 1991 erschienene zweite Album der Band als eines der für sie typischsten: Klassische Bluessounds zu Songs, die deftig, humorvoll und äußerst unterhaltsam. Ann Rabson, Gaye Adegbalola und Earlene Lewis knüpfen damit an die Themen an, die auch schon die klassischen Bluessängerinnen hatten - und so sind Geschichten wie „Shopping For Love“, „Elevator Man“ oder auch das umwerfend witzige „(No Need) Pissin‘ On A Skunk“ denn auch Songs, wie sie Anfang der 90er eigentlich völlig aus der Zeit gefallen klangen. Aber das ist der Vorteil: Noch heute ist „Hot Flash“ ein Album, das keinerlei Staub angesetzt hat. 1992: Broad Cas ng Als Ersatz für Bassistin Earlene Lewis ist bei Broad Casting erstmals Andra Faye in der Band. Mit ihrer Mandoline bringt sie neue Klangfarben in den Sound ein - und für dieses Album wurden auch diverse andere Musiker wie Gitarrist Steve Freund verpflichtet. Neben Neuinterpretationen von Louis Jordan („Is You Is Or Is You Ain‘t My Baby“), Brownie McGhee („Evil Hearted Me“) und anderen sind es wieder vor allem die Songs von Rabson und Adegbalola, die herausragen aus dem Blueseinerlei der 90er: Klar dürfen Männer weinen - und statt „Dust My Broom“ ist es © wasser-prawda 31 für eine Frau manchmal an der Zeit, to „Shake The Dew Of The Lily“ als Zeichen für einen nötigen Aufbruch. 1994: Old New Borrowed & Blue Eine Menge alte und geborgte Songs sind hier zu hören, von Phil Wiggins‘ „Fools Night Out“ über das von Sippie Wallace bekannte „You Got To Know How“ bis hin zu Jelly Roll Mortons „Sweet Substitute“. Und im Trio entsteht daraus der schon von den Vorgängeralben bekannte Sound zwischen Nostalgie und Gegenwart. Doch wieder sind es die eigenen Songs wie „Bitch With A Bad Attitude“, die das Album für mich zu einem bemerkenswerten machen. 1998: Live & Uppity Irgendwann war mal ein Live-Album fällig. Und das an drei Abenden mitgeschnittene „Live & Uppity“ ist absolut großartig gelungen: Drei Frauen in Top-Form, ein begeistertes Publikum - und dazu die Songs wie „Cold Pizza and Warm Beer“, „Bitch With A Bad Attitude“ oder „Middle Aged Blues Boogie“, „Silver Beaver“ ... Cover stammen unter anderem von Dorothy LaBostrie („You Can Have My Husband“), Rick Estrin („Dump That Chump“) und Willie Nelson („Crazy“). 2001: Ain‘t Gonna Hush Lange waren sie nicht mehr im Studio gewesen, wenn man vom Tempo ihrer bisherigen Veröffentlichungen absah. Doch das hat „Ain‘t Gonna Hush“ gut getan - gab es doch irgendwann dann doch gewisse „Abnutzungserscheinungen“. Hier aber sind die drei Frauen wieder in Hochform: Immer deutlicher wird, dass die von manchen eher als „Comedy“ angesehene Musik weniger wichtig ist und Platz gemacht hat für tiefernste und persönliche Lieder wie „Unlove You“ oder „Blues for Sharon Bottoms“. Aber natürlich ist auch „Ain‘t Gonna Hush“ nicht wieder ohne Songs, die die Welt auf die Schippe nehmen wie Sidney Baileys „Footprints on the Ceiling“ oder „Prop Me Up Beside The Jukebox“. 2009: Havin‘ The Last Word 25 Jahre ständig auf Tour - mit einer letzten Tournee und dem Album „Havin The Last Word“ verabschiedeten sich Saffire 2009 als Band. Und das letzte Lied „The Bad Times“, von Rabson gemeinsam mit EG Kight geschrieben klingt als Epilog wesentlich trauriger, als man es erwartet hätte. Aber das hat auch damit zu tun, dass die Jahre eben Spuren hinterlassen haben bei den Musikerinnen. Und - ähnlich wie beim Weißen Album der Beatles - man hat hier eher den Eindruck, schon drei Solistinnen zuzuhören, die künftig ihre eigene Musik stärker präsentieren wollen. Ann Rabson hatte zu dem Zeitpunkt schon erfolgreich ihr Album „Music Makin Mama“ veröffentlicht. Und hier hat sie Nummern, wie „Haste Makes Waste“ oder das melancholische „Locked Up“. Gaye Adegbalola macht sich in Liedern wie „Bald Headed Blues“ über die Folgen ihrer überwundenen Krebserkrankung lustig. Und Andra Faye hat als ihre „Glanznummern“ „Blue Lullabye“ und ihre Version von Deanna Bogarts „I‘m Growing Older“. Insgesamt ein melancholischer und rundum überzeugender Schlussakkord, kein Abgesang. PS.: Cleaning House (1996) und „The Middle Aged Blues“ (1997) fehlen bislang in meinem Musikarchiv. R.N. 32 © wasser-prawda Jos Slabbert, African Cajun. Oder: Country-Bluesrock vom Ende der Welt Das Alter muss nicht immer einhergehen mit Milde oder Weisheit. Manchmal muss man einfach auch mal auf den Punkt kommen: Du junges Ding bist einfach nur „a pain in the ass“. Und glaub bloß nicht, dass ich mit 64 Jahren zum alten Eisen gehöre! Wenn Du Dir gar einbildest, ich würde Deinetwegen meine Frau verlassen - vergiss es! Sie ist die Liebe meines Lebens. Du bist einfach nur ein One Night Stand. - Kein nettes Liedchen, mit dem das Album „Old-fashioned Love“ da beginnt. Aber in seiner Rotzigkeit und Direktheit bleibt es schnell an einem kleben, dieses „I Can Rock n Roll“. Klassischer Bluesrock mit ner feinen Slide, ab und zu auch mit Parts auf der Resonator gespielt, und einem eher grantelnden als singenden Geschichtenerzähler. Die Band heißt Blues Rock & Country Inc. Und hier geht die Geschichte los. Der Ort: Die Skelettküste Namibias. Auf der einen Seite eine der gefährlichsten Gegenden des Atlantik mit zahllosen Schiffswracks und riesigen Robbenkolonien an den Stränden. und auf der anderen Seite die älteste Wüste der Welt, die Namib. Eine Landschaft, die einen schon auf Fotografien überwältigen kann. Wer hier lebt, lebt in ziemlicher Einsamkeit. Selbst die Post liefert nicht bis an die Haustür, sondern nur in ein Postfach in der Provinzhauptstadt Swakopmund. Hier wohnt Jos Slabbert mit seiner Frau, der Familie, etlichen Tieren und seiner Sammlung von verschiedenen Gitarren. Er ist Fan von Blues, Bluesrock und Country. Doch in weitem Umkreis gibt es niemandem, der seine Vorlieben teilt. Und so gründete er Blues Rock & Country Inc. als One-Man-Band oder besser: als Studio-Projekt. Im Herbst 2012 stellte er „Old Fashioned Love“ als erstes Album auf seiner Homepage online. Man merkt dem Album die Vorlieben für klassische Blues, Bluesrock und auch Country-Klänge an: Auch wenn seine Familie seit 1688 in der Gegend der Skelettküste lebt, ist Slabbert von afrikanischer Musik unbeeinflusst. Eher hört man hier den Bluesrock aus Texas heraus, die heftigeren Country-Rocker in irgendwelchen Truckerkneipen zwischen Texas und Tennessee. Und manchmal auch noch die Melancholie der irischen oder französischen Ahnen. Er bezeichnet sich eher als afrikanischen Cajun, als jemanden, der hier am Ende der Welt einen einfachen Lebensstil pflegt, der so gar nicht zur Hektik eines Europäiers im 21. Jahrhunderts passt: Wenn es grad vom Wetter her passt, dann macht man für paar Tage eben eine Reise in die Wüste. Und wenn man dort erleben kann, wie nach einem Regen plötzlich überall Leben hervorsprießt, dann ist das wirklich ein Ereignis, wofür man losziehen sollte. Das Fehlen musikalischer Mitstreiter ist freilich etwas, was „Oldfashioned Love“ immer wieder schmerzlich anzuhören ist: Die Rhythmusmaschine, die für die Schlagzeugbegleitung sorgt, klingt oftmals wie von einer Bontempi-Heimorgel und zerrt die eigentlich guten Songs in eine belanglose Schlager-Humpta-Seligkeit, die fast wehtut. Eine eigentlich wundervolle Ballade wie „Josephine“ mit ihrem schönen Akkordeon geht dadurch ziemlich © wasser-prawda 33 Blues Rock Country Inc im Internet: http://bluesrockcountryinc. com/ Fotos: • • • • • 34 Gitarren mit „Bandmitglied“ Glenda Wasser in der Wüste Namib Die „Skeleton Coast“ Sonnenaufgang Nach einer Strandparty am Tiger Reef kaputt. Anderswo funktioniert es besser - etwa in dem melancholischen Rocker „The Days We Believed In Heaven“, wo Slabbert über den Verlust des einfachen Kinderglaubens klagt, über die Zeiten, wo man einfach drauf vertraute, dass alles irgendwie besser werden würde durch Glauben und Gebet. Hier würde sich der Kritiker wünschen, dass der Künstler doch noch Musiker finden könnte, um seinen Blues am äußersten Ende Afrikas mit einer kompletten Band zu spielen. Denn es geht halt nichts über eine auf den Punkt spielende Band. Inzwischen hat Slabbert noch eine weitere One-Man-Band gegründet, mit der er Rockmusik irgendwo zwischen Hardrock, Metal und Gothic spielt. Manchmal, so meint er, wolle er einfach mit seiner Les Paul richtig Krach machen und losrocken. Wobei seine Texte aber da auch mal ins Politische gehen und sich glücklicherweise nicht an den Metalklischees abarbeiten. Eher nutzt er textliche Anregungen von Dichtern wie Yeats oder Milton, als über endlose Kriege der „Kings of Metal“ zu singen. Auch „Eorongo Conspiracy“ hat mit „Phoenix Warrior“ inzwischen ein Album online - und er legt sofort mit dem nächsten Projekt nach. Und das kann für den Bluesfan dann noch interessanter werden. Denn „Joburg Blues“ (auch wenn es unter Eorongo Conspiracy firmiert) ist dann eher wieder ein Album für Bluesrock-Fans, bei dem er dann auch Lieder in Afrikaans schreibt. Dass so die gerade in Südafrika als Spracher der Kolinialisten und des untergegangenen Apartheidstaates verhasste Sprache für Blues Verwendung findet, ist schon ziemlich bemerkenswert. Raimund Nitzsche. Fotos: Jos Slabbert. © wasser-prawda © wasser-prawda 35 Nina Van Horn - Seven Deadly Sins Sieben Todsünden reichen im 21. Jahrhundert nicht mehr aus, um den Zustand der Welt zu beschreiben. Das meint jedenfalls die französische Sängerin und Songwriterin Nina Van Horn. Und so erweitert sie den Kanon von Hochmut, Habier, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid, Stolz und Trägheit noch um Krieg, Elend, Eifersucht und Gleichgül gkeit. Musikalisch zwischen Blues und Rock ist das Album ein teils zorniger, teils zynischer aber auch humorvoller Blick auf unsere Gesellscha heute. Von Raimund Nitzsche Mit „Sieben“ hat David Fincher vor knapp 20 Jahren unseren Blick auf die Todsünden entschieden verändert. Ok, er hat vielen Zeitgenossen endlich einmal wieder vor Augen geführt, was unter diesem Lasterkanon seit Jahrhunderten eigentlich zusammengefasst wird an Haltungen, die unser Zusammenleben in der menschlichen Gesellschaft vergiften. Doch die Bilder des Films, die raffinierte Story seines Thrillers rufen jetzt sofort Assoziationen zu durchgeknallten Serienkillern in uns hervor. Und wir sind ja zum Glück nicht Typen, die geldgierige Anwälte foltern und zwingen, sich Körperteile abzutrennen. Dass die „Todsünden“ von den verschiedensten Künstlern durch die Jahrhunderte hin immer wieder genutzt wurden, um den Zustand unserer Welt zu beschreiben, dass vergessen viele zu gern auch bei diesem Film. Ganz anders jetzt bei Nina Van Horn: In dem Gebet „Prayer for the Ones“ listet sie beinahe endlos auf, wer ihrer Meinung derzeit nicht 36 © wasser-prawda zu gut mit Gott steht. In „A Hand Shake, A Pencil And A Smile“ klagt sie über Politiker, denen ihre Gier über die Menschlichkeit geht. Mit Handschlag und nem Lächeln werden Entscheidungen getroffen, die eher dem Bankguthaben wichtig sind als die anderen Menschen. „In Enough Is Enough“ fordert sie die Politiker auf, endlich mal von ihrem hohen Ross herabzusteigen und sich den Menschen wirklich zuzuwenden. In „Streets of Bangalore“ erzählt sie ein Erlebnis, dass sie 2010 bei ihrer Indien-Tour hatte: Ein Kind sitzt da im Freien und isst etwas, was ihre Mutter gerade aus dem Müll einer Villa geholt hatte. Und wenn man die Nachrichten verfolgt, dann ist die Schlussfolgerung, auch der Krieg gehöre zu den Todsünden der Menschheit heute, nicht wirklich von der Hand zu weisen. „Let‘s Kill The War“ ist noch einer dieser explizit politischen Songs des Albums. Doch die Sünden gehen immer auch ins private und persönliche Leben hinein. Da ist der Lüstling, der immer auf der Pirsch nach der nächsten Frau ist, die er ins Bett bekommen will. Eine Frau setzt ihr ganzes Bestreben daran, einen Mann zu finden, auf dessen Wohlstand sie sich gemütlich ausruhen kann. Eifersucht und Versuchung. Oder Nina erzählt als Beispiel für die Völlerei eine Geschichte aus ihrer Jugend in Texas: 20 Beers Ago ist eine der wirklich witzigen und selbstironischen Nummern. Aber Momente wie dieser sind ziemlich rar - immer ist diese tiefe Betroffenheit, die Wut über sich selbst und über die Zustände der Welt zu spüren. Entstanden ist „Seven Deadly Sins“ in den Münchner Sky-Studios mit Bobby Altvater als Produzent. Die Kompositionen, an den Blues des Mississippi ebenso erinnern wie sie den Texasblues nach Johnny Winter reflektieren, wurden von dem Gitarristen John. H. Schiessler (Beige Fish, Vanilla Moon) geschrieben. Die Texte stammen von Nina van Horn. Es ist an der Zeit, dass Bluesmusiker sich so wie Nina van Horn hier wieder stärker als Kommentatoren der politischen und gesellschaftlichen Zustände in der Welt begreifen. „Seven Deadly Sins“ ist für mich eines der ganz wichtigen Bluesalben des Jahres 2013. Sehr empfehlenswert! Nina van Horn - Seven Deadly Sins Cristal/ Rue Stendhal/Believe VÖ.: April 2013 Vorbestellungen möglich über www.ninavanhorn.com © wasser-prawda 37 Rezensionen A-Z 4 Jacks - Deal With It Ein Grand mit Vieren? Wenn man sich die Besetzung der Band 4 Jacks anschaut, könnte man darauf kommen. Der texanische Gitarrist Anson Funderburgh, Sänger/Schlagzeuger Big Joe Maher, Keyboarder Kevin McKendree und Steve Mackey am Bass liefern auf ihrem aktuellen Album „Deal With It“ ein Glanzbeispiel dafür, wie man heute aktuellen Blues voller Respekt vor der Geschichte spielen sollte. Es geht schon los mit dem Titelsong, einem Instrumental, dass gleich mal Erinnerungen an die Instrumentalbands des Hauses Stax hervorruft: ein swingender und funkiger Groove, Gitarre und Orgel spielen sich die Ideen zu und Funderburghs Riffs treiben die Temperatur in die Höhe. Damit muss man sich auch später einfach abfinden... Es geht weiter auf diesem Level: mal swingend, mal funky - manchmal gar politisch („I Don‘t Want To Be President“ - eine Absage an das System, in dem man selbst mit den besten Absichten immer nur zum Scheitern verurteilt wird angesichts der Typen, mit denen man sich zusammenraufen muss), oft natürlich auch um Beziehungen und die ewige Klage des Bluesman über das andere Geschlecht. Stilistisch zwischen Texas, Memphis und Kalifornien pendelnd, musikalisch immer genau auf den Punkt: „Deal With It“ ist genau das Album, das ich an diesem grauen Montagmorgen brauchte, um wirklich wach zu werden. (Eller Soul) Nathan Nörgel Bo leneck John - All around man Die britische Bluespresse nannte ihn den Van Gogh des europäischen Blues. Auf jeden Fall ist Bottleneck John (Johan Elisasson) aus dem schwedischen Lit im Bereich des traditionellen Blues ohne Weiteres Musikern wie Eric Bibb an die Seite zu stellen. Das wird auf seinem neuen Album „All around man“ mehr als deutlich. Es sind vor allem die verschiedensten Resonator-Gitarren, die einem sofort ins Ohr springen: Wenn Bottleneck John Blues spielt, dann ist er immer daran interessiert, den Sound und die Spielweisen der 20er und 30er Jahre wieder zum Leben zu erwecken. So erklingt bei seiner Version von Robert Johnsons „Come On In My Kitchen“ eine 1935 produzierte Dobro von Regal. Aber und das macht das ganze Album deutlich: John versucht nur den Klang, nicht die verschiedenen Originale der Songs neu zu fassen. Beim Gesang ebenso wie bei seinem Gitarrenspiel ist ein zurückhaltender, fast elegant zu nennender Klang zu hören. Wo Robert Johnson beinahe lüstern fleht, dass die Angebetete doch bitte rein kommen möge, dann ist das hier ein melancholischer, sich mit der Situation abfindender Mann zu hören. Auch „Do You Call That A Buddy“, was bei Dr. John rotzig und aufbrausend daherkommt, ist hier traurig, ja desillusioniert. Und das wird durch die begleitende Harp. Fiddle, Chor und Drums noch unterstützt - bis zu dem Punkt, wo die Band dann den Sänger doch noch zur Übermütigkeit des Originals aus New Orleans beschleunigt. Überhaupt sind die verschiedenen Arrangements - ob da nur die Harp von Stefan Swén erklingt oder der (ebenfalls historische) Konzertflügel von Mattias Nordquist, ob mit Fiddle und Bass der Sound traditioneller String Bands aufgenommen wird oder gar mit 38 © wasser-prawda Tuba, Percussion und anderen Instrumenten der frühe Jazz aus New Orleans erklingt: Immer passt das zu den Songs ebenso wie zu Johns Interpretation derselben. Nur manchmal kommen bei der für SACD produzierten und klanglich absolut hinreißenden Aufnahme auch elektrische Instrumente zum Einsatz. „Out Of The Rain“ etwa lebt gerade durch die Klangflächen der Hammond-Orgel und ruft einem einen Bußgospel beim Spätgottesdienst am Samstagabend in Erinnerung. Und bei dem von Tom Waits geschriebenen „Jesus Gonna Be Here“ spielt Bottleneck John auf einer in den 60er Jahren von Kawai in Japan gebauten E-Gitarre, die sich zwischen all den historischen Gitarren zunächst seltsam anhören mag. Doch der dreckige Klang dieser Billiggitarre unterstreicht das Lied in seiner Rotzigkeit optimal. „All Around Man“ ist für mich auf jeden Fall ein Highlight des akustischen Blues im Jahre 2013. Unbedingt reinhören! (opus 3 records) Raimund Nitzsche David Sinclair - Strange Paradise David Sinclair hat auf seinem aktuellen Album Strange Paradise 13 musikalische Blickwinkel auf ein befremdliches Paradies eingenommen. Überwiegend akustisch, teilweise mit Wurzeln in der irisch/schottischen Folk-Musik, teilweise aus dem Blues, teilweise einfach nur zeitlos schön. Wer die Gitarre, egal ob akustische oder elektrische, technisch so brillant beherrscht wie der Kanadier mit schottischen Wurzeln David Sinclair, der verdient Gehör zu finden. In guten 43 Minuten umrundet David einmal das Paradies und findet dabei authentische Blickwinkel. Alles beginnt mit einem gefühlvollen ‚prelude‘ auf diesem Album, das in einem schlicht gehaltenen Papp-Cover daher kommt. Nicht viel Extra-Infos, gerade mal die Besetzung und die notwendigen Credits. Da kann sich der Hörer ganz auf das Hören einlassen. Im ‚strange paradise‘ marschiert der Protagonist mit kraftvollem Beat im Daumen über die Saiten und durch die unterschiedlichen Abteilungen unseres vermeidlichen Paradieses. Die Gitarre hält, auch in der feinen Improvisation über dem Beat, die gemeinsame Richtung ein, damit sich auch niemand verläuft in diesem sinnlichen Irrgarten der menschlichen Möglichkeiten. Mit ‚windriders‘ macht David Sinclair eine Verbeugung vor den Impulsen von Kanadas First Nation, wie die heutigen Kanadier ihre seit Frühzeiten dort lebenden Indianer bezeichnen. Ob eine Trommel zu hören ist oder der Schlag auf den Resonanzboden der Gitarre lässt sich nicht sicher sagen, in jedem Fall macht es dies Instrumental rund. ‚gracie‘ erzählt uns die Geshichte von Eva, die bekannte Plätze verlasst und von den Menschen, die dort bleiben einfach nicht verstanden wird. Da muss dann der alte Freund Alc zu Hilfe gezogen werden - Ausgang ungewiss. Schöne ruhige Ballade mit Mandoline im Overdub. In ‚standing stones‘ nimmt David seine schottischen Wurzeln, um ein weiteres Instrumetal vorzustellen. Die Finger flitzen teils wie kleine Kobolde über die Saiten, um dann wieder ganz geordnet im großen Reigen mitzutanzen. ‚gonna find that girl‘ ist ein beswingter Song über die Suche nach der Traumfrau oder doch eher nach dem Grund einfach weiter von Ort zu Ort zu ziehen. Ein wenig slide auf der Dobro, ein leichtes Schlagwerk, eben einfach ein schöner Song um in Bewegung zu bleiben. In dieser gleichzeitig ernsthaften und fröhlichen Leichtigkeit geht David Sinclair auf die übrigen Tracks © wasser-prawda 39 auf Strange Paradise an. Der Zeigefinger wird nicht erhoben, den braucht er ja für sein virtuoses Spiel auf der Gitarre. Instrumentals und mit Text versehene Songs haben gleichberechtigt Bestand, und auch auf die irisch/schottischen Wurzeln wird noch zurück gegriffen. Über allem aber fasziniert dieses unglaublich saubere und technisch brillante Spiel des Meisters. Einen guten Eindruck erhält auch jeder, der sich das Video anschaut. ‚desperate ones‘ ist der vorletzte Titel des fast 45 Minuten langen Albums des Kanadiers. Da erzählt er auch ein wenig von der eigenen Geschichte. Der Vollständigkeit halber wollen wir auch diejenigen Musiker erwähnen, die mit von der Partie sind, wenn David nicht solo spielt. Da wären Rene West am akustischen Bass und Shawn Soucy an den Drums. Nur in ‚gonna find that girl‘ übernimmt Buff Allen diesen Part. Fazit: Strange Paradise ist ein sehr gehaltvolles Album, das wir uneingeschränkt jedem Liebhaber von erstklassiger Gitarren-Musik empfehlen möchten. (Telesonic Productions) Lüder Kriete Devon Allman - Turquoise Nein, das ist hier kein reinrassiges Southern Rock-Album sondern eine Sammlung von entwaffnend persönlichen Liedern zwischen Rock, Soul und Blues. Aber wenn „Turqouise“ von Devon Allman mit „When I Left Home“ loslegt, fühlt man sich sofort in die besten Ecken des Southern Rock (die mit gehörigen Untertönen an Blues und Soul) versetzt. Das ist eine Nummer, die einen einerseits mit ihrer entwaffnend persönlichen Geschichte, andererseit natürlich auch mit einem mitreißenden Chorus, der jeden Thresen einer Rockerkneipe nach Mitternacht zum Singen bringen kann, sofort packt. Auch „Don‘t Set Me Free“ hält dieses Level - natürlich deutlich entspannter aber ebenso gut. Später bei „Into The Darkness“versucht sich Allman gar (leider manchmal zu hörbar bemüht) als Soul-Crooner in der Nachfolge von Al Green. Serviert werden dazu Saxophone, jazzige Gitarren und alles, was man sonst noch von einer Soulnummer erwartet. Und bei „There‘s no Time“ kommen selbst swingende Reggae-Klänge hinzu. „Stop Draggin My Heart Around“ ist in der Playlist eine kleine Überraschung: Ein Cover von Fleetwood Mac??? Aber beim Hören stellt sich schnell heraus, dass das ein kleines Highlight des Albums geworden ist. Denn hier singt Allman gemeinsam mit Labelkollegin Samantha Fish ein Duett während die Gitarren immer wieder in Solos ausbrechen und der Hintergrundchor Uhuut. Very nice! Produziert wurde das Album von Jim Gaines. Yonrico Scott (Schlagzeug+ Percussions), sowie Myles Weeks (Upright und Electric Bass), beide Kollegen Allmans in der Royal Southern Brotherhood, sind für den Groove zuständig. Und als Gäste schauten neben der erwähnten Samantha Fish unter anderem noch Luther Dickinson (Gitarre), und Saxoponist Ron Holloway vorbei. Sehr empfehlenswertes Album - eine gute Ergänzung im Katalog von Ruf Records. Raimund Nitzsche Dubl Handi - Up Like The Clouds Während zahlreiche (Rock-)Bands sich wieder mit Folk-Wurzeln (postmodern aus aller Herren Länder gesammelt) schmücken und sich damit den notwendigen Hipster-Anstrich (mit oder ohne Bart) verpassen, gehen Dubl Handi noch weiter: Mitten in Brooklyn 40 © wasser-prawda spielt das Duo (Hilary Hawke - voc, bj und Percussionist Brian Geltner) den Folk der Appalachen für die Caféhaus-Society, dass auch die konservativsten Folkjünger in den 50er Jahren begeistert zugstimmt hätten. „Up Like The Clouds“ heißt das Debüt der beiden und ist von vorn bis hinten voller Musikalität und mit einem Humor produziert, dass dem Kritiker böse Bemerkungen über Unzeitgemäßheit oder Irrelevanz in der Feder vertrocknen. Und wen es interessiert: Den seltsamen Namen hat Dubl Handi von einer Firma „übernommen“, die Anfang des 19. Jahrhunderts Waschbretter hergestellt hat. Und dass passt natürlich wundervoll zum Sound der beiden. Nathan Nörgel Eric Burdon - Til Your River Runs Dry Es gibt Sänger und Sängerinnen, die werden im Alter komischerweise immer besser. Und es gibt welche, die haben es sich irgendwann in Regionen eingerichtet, wo sie sich wohlfühlen und keinerlei Risiken mehr eingehen. Eric Burdon, einst einer der ergreifendsten weißen Bluessänger überhaupt, ist spätestens mit seinem aktuellen Album in der Komfortzone angekommen: Musikalisch und vom Gesang her ein zu routiniertes und glattes Album. Viel zu selten bekommt man noch wie früher eine Gänsehaut, wenn er singt. Aber Burdon weiß selbst auch, dass er längst alt geworden ist. Und so ist „27 Forever“ mit den Erinnerungen an früher, wo einen die Dämonen von Drogen und Alkohol lockten, in den Club der 27er einzutreten so desillusioniert - und doch so ehrlich, dass dieses Stück allein den Kauf rechtfertigen könnte. Nathan Nörgel Fred Kaplan - Hold My Mule Die Band: ein paar der wichtigsten Musiker der kalifornischen Bluesszene, die Pianist Fred Kaplan zusammengerufen hat. Das Album: !7 Instrumentals, die live beim Zusammenspiel entstanden und nie zu Papier gebracht wurden. Der Stil: etwa aus den 40er Jahren. Damals als Blues und Jazz noch dichter benachbart waren im Alltag. Es swingt, es jumpt - und ab und zu gibt es auch paar Rhumba-Rhythmen. Das ist Tanzmusik für den Jazzkeller. Nicht allein durch seine Mitwirkung in der inzwischen legendären Hollywood Fats Band gehört Keyboarder Fred Kaplan zu den wichtigsten Musikern im Grenzbereich zwischen Jazz und Blues. Wenn man sich seine Discographie anschaut, dann finden sich Alben in den verschiedensten Besetzungen - ob im klassischen Piano-Trio, ob mit Musikern wie Kim Wilson oder B.B. & The Blues Shacks - die Liste ist schier endlos. Sein aktuelles Album Hold My Mule entstand über einen längeren Zeitraum hinweg. Immer wenn die Band (Kaplan - p,org Junior Watson - g, Richard Innes, drums, Kedar Roy - b, „Sax“ Gordon Beadle - ts) zusammenkam, dann wurde aufgenommen. Blues, Shuffle, ein wenig klassisch swingenden Rhythm & Blues: Und das alles ohne aufgeschriebene Noten und allein aus der Session heraus entstehend. Das ist etwas, was sich sonst eigentlich kaum jemand traut - weil die Ergebnisse ja absolut unvorhersehbar sind. Aber hier hört man sofort: Da ist eine Band, wo jeder dem anderen genau zuhört, wo - wie in einer guten Jam-Session üblich - man sich gegenseitig die Ideen zuspielt und einer halt doch irgendwie immer der Chef im Ring ist. Hier also Kaplan an den Tasten. Jedenfalls so lange, bis Junior Watsons Gitarre kurz- © wasser-prawda 41 zeitig mit prägnanten Licks die Führung übernimmt oder Beadles Sax klassische Honking-Sounds einstreut. Den Stücken hört man die große Liebe zum klassischen Blues Kaliforniens an, zu Musikern wie T-Bone Walker in den 50ern, zu Pianisten wie Charles Brown aber auch Otis Spann. Wenn man das „Retro“ nennt, dann liegt man nicht wirklich falsch. Aber man hört ihnen eben die Frische an, das uneinstudierte und spontane ihrer Entstehung. Und das wiederum ist überhaupt nicht „Retro“ sondern einfach großartig. Insgesamt ist „Hold My Mule“ ein wirklich unterhaltsames und tanzbares Album, dass ganz bewusst außerhalb irgendwelcher Trends liegt. Und damit hat es natürlich am Markt so seine Probleme. Aber das ist in dem Fall wirklich das Problem der „normalen“ Blueskäufer, denen etwas entgehen könnte... Nathan Nörgel French Blues Explosion - French Blues Explosion feat. Nico Wayne Toussaint Hier wird er rotzig und gemein - gemeinsam mit dem Mundharmonika-Ass Nico Wayne Toussaint macht das Trio French Blues Explosion klar, dass die Sprache der Straße auch im Blues ihren Platz hat. Musikalisch ist das Album wirklich eine Explosion in Sachen Elektroblues des 21. Jahrhunderts. Im Radio läuft nur Scheiße, das Fernsehprogramm ist auch nur Müll - warum tut man sich das eigentlich immer noch an? Wenn French Blues Explosion feat Nico Wayne Toussaint mit „S... on the Radio“ loslegt, dann steht hinter dem Titel auf dem Cover gleich als Klammerbemerkung: Explicit. Und das ist nicht der einzige Song, der bildungsbürgerliche Eltern aufschrecken könnte, auch nicht der einzige mit dieser Warnung vor derber Sprache. Aber genau die macht einen großen Reiz des Albums aus. In Kombination mit einem immer der Tradition verhafteten aber nie auch nur im geringsten angestaubten Bluesrock zeigt die französische Band, dass Blues auch heute noch die Musik rebellischer und unzufriedener Jugendlicher sein kann. Und dass nicht selbsternannte Gangster-Rapper die alleinige Nachfolge der Punk-Revolte übernommen haben (die diese seinerzeit ja von den Rock & Rollern übernommen und weitergeführt hatten). Doch keine Angst: Es geht auf dem Album nicht immer nur so rotzig zu. Bei Stücken wie „Hey Little Honey“ klingt der Rock & Roll der 50er durch, das wundervolle „I Think“ ist ein gespenstischer Voodoo-Blues im Geiste von Howlin Wolf. Und bei „El Mariachi“ kollidiert der Blues auf‘s Witzigste mit mexikanischer Musik. Und eine Ballade wie „Once And For All“ sollte nicht nur die Fans von Gitarristen wie T-Bone Walker sondern auch die letzten Skeptiker überzeugen, dass French Blues Explosion eine Band sind, die ganz genau weiß, was sie tut. Was sie tut, macht einfach eine Menge Spaß.. Und die Harp von Nico Wayne Toussaint setzt dem Triosound immer noch das letzte Extra-Häubchen auf, so dass niemals Langeweile auftaucht bei dem Album. (Iguane) Nathan Nörgel Gaetano Par pilo - Besides - Songs From The Six es Nein, hier werden nicht die Hits der Beatles oder der Stones neu interpretiert. Der italienische Saxophonist Gaetano Partipilo hat für sein aktuelles Album „Besides“ Songs zwischen swingendem Jazz 42 © wasser-prawda und leichtfüßigem Bossa Nova ausgegraben. Gemeinsam mit zahlreichen Gästen und seinem Sextett ist eine sommerlich anmutende Scheibe herausgekommen, die auch vor heftig aufgetragenem Pathos nicht zurück schreckt. Manche bezeichnen so etwas böse als „Fahrstuhlmusik“. Ich würde es eher als passendes Album für ein erstes Rendevouz in der Cafébar meiner Wahl ansehen. Es swingt, es ist verträumt - und es macht gute Laune. Nathan Nörgel Grady Champion - Tough Times Don‘t Last Zwischen klassischem Chicagoblues mit einer Harp in der Tradition des zweiten Sonny Boy Williamson, Gospel und Soulpop - für den ehemaligen Rapper Grady Champion ist der Blues ein weites Feld. Die Lieder auf seinem aktuellen Album „Tough Times Don‘t Last“ sind ähnlich vielfältig: Persönliche Songs, die die üblichen Blues-Themen vom Unterwegssein und der Liebe behandeln stehen neben politischen Songs voller Selbstbewusstsein und Gospelpredigten. Und in „Ghetto“ kehrt sogar der Rapper nochmals zurück, wenn auch nicht in irgendwelchen aufgesetzten Attitüden, sondern als jemand, der gerade jungen Menschen eine Botschaft nahebringen will. Und wenn man grade den Vorwurf erheben will, hier werde Viefältigkeit mit Beliebigkeit gleichgesetzt, dann knallt er mit „Cookie Jar“ dann doch noch eine astreine Bluesnummer raus, die man gerne als Hommage an Howlin‘ Wolf hören kann: Die knarzende Stimme, die heftige Harp und all die Metaphern über untreue Frauen, die nach dem Mann an der Hintertür ausschauen. Ja doch - Grady Champions „Tough Times Don‘t Last“ ist eben doch ein Bluesalbum. Aber eines, dass zeigt, wie man all seine Erfahrungen und Kenntnisse, seine Biografie und das Leben seiner „Gemeinde“ in eine Musik einbringen kann, die bunter ist, als die Bluespolizei mancherorts gestattet. Mir gefällt‘s! Nur auf die Weihnachtsschnulze zum Schluss kann ich verzichten. Einerseits ist bald Karfreitag, andererseits ist dieser Song zu klischeehaft mit Glöckchenklingeln, Christus im Ghetto und „Christmas in your Eyes“. Ne, das ist ganz schlimm! Raimund Nitzsche Harry Connick Jr. - Smokey Mary Mit seinem aktuellen Album ist Sänger/Pianist Harry Connick Jr. wieder ganz in New Orleans, besser gesagt: beim Mardi Gras. Das nach einem legendären Umzugswagen benannte Album ist funky, jazzig, swingend - und voller Spaß. Eigentlich habe ich Harry Connick Jr. erst mit dem Album „Oh my Nola“ als Musiker wirklich ernst genommen. Klar: Großartige Soundtracks wie „Harry & Sally“ bleiben einem im Ohr noch nach Jahrzehnten. Und auch seine Crooner-Scheiben, wo er sich in der Tradition irgendwo zwischen Nat King Cole und Frank Sinatra präsentiert, werden immer mal wieder zu passender Stunde aufgelegt. Aber erst 2007 fand ich ein Album, wo er für mich ganz direkt erlebbar wurde: Eine groovende, swingende und auch politisch engagierte Hymne an seine Heimatstadt war da entstanden als Antwort auf den Hurrikan Katrina. An diese Scheibe fühlte ich mich sofort erinnert, als ich jetzt „Smokey Mary“ auflegte: Da sind sie wieder, die funkigen Grooves, die einen den schmalzigen Balladensänger vergessen lassen. Da kommen Nummern wie der Titelsong daher - und es ist völlig egal, dass es schon nach Aschermittwoch ist: So muss Karnevalsmusik sein. © wasser-prawda 43 Und es gibt Jazznummern, wo Connick Jr. von Branford Marsalis am Saxophon, Trompeter Mark Braud (Preservation Hall), Percussionist Bill Summers und anderen angetrieben wird. Und auch die neuen Rhythm & Blues - Nummern sind feinste Party-Musik mit einer Garantie für gute Laune ohne Zwangsschunkeln. Höhepunkte für mich nebem dem Titelsong mit seiner heftigen Orgel sind „The Preacher“ und das swingende „S‘pposed To Be“, dass er gemeinsam mit Tara Alexander im Duett singt. Hier ist der Crooner irgendwie vom Mardi Gras-Umzug rechtzeitig zum Gospelgottesdienst gekommen. Ein großer Spaß das ganze Album. Raimund Nitzsche Hayden Sayers - Rolling Soul Hayden Sayers singt den Blues mit der Eindrücklichkeit eines echten Seelsorgers. Hier ist einer, der aus seinem Leben die Kraft schöpft, mit der Musik auch anderen Heilung zu schenken. Natürlich ist Hayden Sayers ein Bluesgitarrist, der mit seiner Strat Linien malen kann, die in ihrer Schlichtheit einfach unwahrscheinliche Schönheit ausstrahlen. Irgendwann Anfang des Jahrhunderts kannte man den Namen von Hayden Sayers nicht nur in der texanischen Bluesszene. Er war gefragt nicht nur in Houston und Umgebung, war beständig auf Tour und veröffentlichte hoch gelobte Platten. Doch dann war er weg vom Fenster. Erst war er mit seiner Frau in den mittleren Westen gezogen. Sie hatte die Chance, an einem renommierten Krebsforschungsinstitut zu arbeiten. Hayden suchte sich eine neue Band zusammen. Doch dann lösten sich einige Plattendeals plötzlich mitsamt den Firmen in Luft auf. Bandmitglieder starben unerwartet. Und dann verschwand auch noch sein Booking-Agent. Hayden Saysers hatte genug von der Musik. Seine Strat verstaubte in der Ecke und Sayers begann mit der Reparatur einer Fischerhütte, um einen klaren Kopf zu bekommen. Dann war dann doch irgendwann wieder der Blues, der sich meldete, die Melodie, die einem durch den Kopf ging. Irgendwann rief Ruthie Foster an, und holte ihn in ihre Band. Sie unterstützte ihn auch bei den ersten neuen Aufnahmen, die 2011 zum Album „Hard Dollar“ führten. Die Single „Back to the Blues“ (von Sayers und Foster gemeinsam gesungen) wurde bei den Blues Music Awards als „Song of the year“ nominiert. Plötzlich war Sayers wieder zurück, als wäre nichts gewesen. Doch dass da was gewesen ist, dass ist in jeder Note von „Rolling Soul“ zu hören: Das ist nicht der leichtfertig dahingespielte Partyblues für die Kneipennacht mit Freunden. Das ist Blues in medizinzischer Konzentration, der einen auffängt in fruchtlosen Grübeleien, der einem neue Gedanken fern der Hoffnungslosigkeit schenken kann, wenn man sich auf die Musik und die Geschichten von der Straße einlässt, die Sayers erzählt in seinen Liedern. Da ist etwa „Unhappy“, was so gar nicht unglücklich klingt: Die Geschichte von einem Typen, der letztlich kein Glück hat, aber sein Leben mit Klamotten von der Heilsarmee doch nicht als Grund zur Verzweiflung sieht. Ein Rock & Roll wie „Tippin‘ In“ ist voller Energie, die Dinge anzupacken, dass er nicht nur zum Tanzen reizt. Und wenn Sayers gemeinsam mit Ruthie Foster „Lay Down Your Worries“ singt, dann ist das ein Lied, dass mich ähnlich stark berührt wie damals als ich erstmals „The Weight“ von The Band oder „You‘ve Got A Friend“ in der Fassunng von James Taylor hörte: Musik, die heilen kann, die Schmerzen lindert 44 © wasser-prawda und einen nicht nur einfach ablenkt durch elegante Melodien. Das ist Blues, wie ihn der Doktor verschreibt. Oder aber der Pfarrer. Raimund Nitzsche Heinz Ratz - Billy the Kid Mit Billy the Kid hat Heinz Ratz ein ganz besonderes Konzept-Album bereit gestellt. Abenteuerlich und kurz war das Leben von Billy the Kid. Abenteuerlich, aber lang ist die Entstehungsgeschichte dieses Albums. Wir wollen Heinz den Raum dafür geben, zu berichten, denn er weiß am besten, wie es einmal war. . . Wir schreiben das Jahr 2000. Ich lebe in Glasgow. Aus heute leider völlig vergessenen Gründen komme ich auf die Idee, das Leben Billythe-Kids in die Jetztzeit zu übertragen. Was wäre, wenn sich so ein Charakter, so ein anarchistischer Pistolero-Lebensentwurf in der heutigen Bundesrepublik entwickeln würde - ich denke an den Entführungs- und Mordfall Silke Bischoff, bei dem die Verbrecher zeitweise fast Medienhelden waren, ich denke an - den Selbstmord? - die Hinrichtung? - des früheren RAF-Terroristen Wolfgang Grams im Bahnhof in Bad Kleinen, ich lese den hervorragenden Roman von Charles Neider „Die einzig wahre Geschichte vom Leben und grausamen Ende des berühmten Revolverhelden Hendry Jones, genannt Billy the Kid“ - ich frage meinen schottischen Schlagzeuger Shane Connolly, ober er mitmachen würde - er will! - ich entsinne mich eines tollen Trompeters aus Lada Königshofen, Steffen Faul - er will auch! - und schon gehts los! Zwei Flüge nach Berlin gebucht, ein verdreckter Hinterhofproberaum - Benedikt Glatz an der Gitarre, Tobias Strunk am Bass - zwei Tage Zeit für die Grundidee, dann alle zusammen nach Pforzheim ins Innerear-Tonstudio, zu Thomas Mrochen - und die CD entsteht in nur 9 Tagen! Allerdings in 20stündigen Aufnahmesessions mit einem weltrekordverdächtigen Kaffeeverbrauch. Dabei führe ich zum ersten Mal so eine Art „Musikregie“ durch - das erste Lied eher „afrikanischfeierlich“, mit plötzlichem Übergang in heftige Rockparts, düster und gewalttätig, das zweite Lied als aufmüpfiger Antierziehungs-Ska usw. usw. - Die Texte schreibe ich, während die anderen einspielen. Es ist ein unglaublich intensives Arbeiten, und über all die Begeisterung haben wir etwas wichtiges vergessen: fünf leere Geldbeutel geben nicht genug her, die CD auch noch zu mischen, zu mastern und ins Presswerk zu geben. So telefoniert jeder, bittet, bettelt, droht, schwört, schmeichelt - und Tobias erinnert sich noch, daß seine Großmutter ihm echtes Gold vererbt hat - für den Notfall. So können wir die Aufnahmen auch mischen und mastern! Erste Probeauftritte folgen, aber dann stellt sich leider raus, daß wir alle zu arm, zu beschäftigt, zu weit weg von einander wohnen, um „Billy“ wirklich auf die Beine zu stellen. Zwölf Jahre später: längst wohne ich wieder in Deutschland, längst bin ich mit anderen Projekten unterwegs, vornehmlich mit „Strom & Wasser“. Immer noch denke ich schwermütig ans Billy-Album, das nie veröffentlicht wurde, dessen Lieder mir aber immer noch gefallen - da kommt mir eine Idee - wenn ich eine ebenfalls abgebrochene und halbfertige CD-Produktion meiner schottischen Band aus dem Jahr 2002 dazunehme, wenn ich ein paar neue Texte schreibe, ein paar schwächere Lieder ersetze, noch meinen Freund Arne Assmann an Saxophon und Querflöte dazubitte, nochmal ins Pforzheimer Tonstudio fahre -- dann könnte ich doch endlich dieses Album in die Welt entlassen! Voilá - nach 12 Jahren ist Billy nun endlich erschienen: aufmüpfig, rotzfrech und anarchistisch - und siehe da: es passt hervorragend in unsere heutige Zeit voller Terroristenpanik, Überwachungsgesetze, Medienhysterie und politische Ratlosigkeit! Klasse, daß das Schicksal © wasser-prawda 45 mich gebremst hat, bis der Kapitalismus in voller Blüte steht! Heinz Ratz Ja, wir stimmen Heinz Ratz uneingeschränkt zu: dieses Album passt in die Jetztzeit! Und dass nicht nur wegen der Texte und der Geschichte. Auch die Musik passt ins Hier & Jetzt. Dass Heinz Musik machen kann hat er über die Jahre hinlänglich gezeigt. Welche Elemente und Stile er dafür benutzt ist oben beschrieben. Er nimmt sich über eine Stunde Zeit, um dieses Opus sich entfalten zu lassen und den notwendigen Eindruck zu schaffen. Denn es macht Eindruck! Egal, ob man sofort genau auf die Texte hört oder alles erstmal nur so mitlaufen lässt und einen die Musik mitnimmt auf eine Reise in die Randbezirke unserer zivilisierten Gesellschaft. Und dann ist man auch mittendrin im Geschehen: am Rande fließt kein Mainstream, da entsteht Begegnung mit allem, was da so außerhalb umhertreibt. Und dass hat Farbe, Form, Kultur und Würde. - Auch im Rock geht Trompete, Flöte und Saxofon, geht erzählen neben musizieren. Auch dieser Rock hat mitunter Hosen drunter, ist manchmal gediegen lang, manchmal aufreizend knapp. - Was diese Musik so besonders macht, ist ihr natürlicher Impuls zur Interaktion. Und so sind wir auch sicher, dass dieser Billy the Kid noch lange reiten wird. (Traumton Records) Lüder Kriete Jeff Healey - As The Years Go Passing By. Live In Germany 1989 - 1995 - 2000 Drei bislang unveröffentlichte Live-Mitschnitte des großartigen Bluesrock-Gitarristen Jeff Healy hat das deutsche Label inakustik jetzt auf drei CDs und zwei DVDs in eine Box gepackt. Entstanden sind die Mitschnitte bei zwei Auftritten Healeys bei „Ohne Filter Extra“ (1989, 2000) und bei der ebenfalls vom SWR verantworteten Sendung „Extraspät in Concert“ (1995). Es gibt wohl kaum einen besseren Weg, einen Künstler kennenzulernen, als verschiedene Stationen seiner Karriere nachzuhören. 1989 stand der damals gerade erst 23 Jahre alt gewordene Gitarrist mit seinem Trio erstmals vor den Kameras der Sendung „Ohne Filter Extra“. Damals begann der Siegeszug des in seiner Kindheit erblindeten Healey gerade bei europäischen Bluesrockfans. 1988 war das Debütalbum „See The Lights“ erschienen, „Angle Eyes“ wurde zum Singlehit. Und kein späteres Album reichte je an den Erfolg dieser Scheibe heran. Es waren vor allem Stücke dieses Albums, die Healey mit Schlagzeuger Tom Stephen und Bassist Joe Rockman hier darbot: Die drei spielen hier ohne Bremse, Netz oder doppelten Boden und reizen das Format des Blues-Rock-Trios aus. 1995 gehörte dann als zweiter Gitarrist Pat Rush zur Band - Healey kann sich hier mehr auf seine Solos und den Gesang konzentrieren. Der Sound geht mehr in Richtung Hardrock. Aber gerade die mehrstimmig gesungenen Passagen machen riesigen Spaß. Auch ist die Spielfreude einer umwerfenden Band zu spüren. Und „See The Lights“ wird zum Schluss in einer mehr als 15 minütigen Version abgefeiert. Auch 2000 war wieder ein zweiter Gitarrist auf der Bühne zu erleben. Damals stand Philipp Sayce noch ziemlich am Anfang seiner Karriere. Heute ist er mit eigenen Alben und Konzerten längst ein bekannter Name in der Bluesrock-Gemeinde. Natürlich gibt es auch dieses Mal wieder die großen Hits wie „Angel Eyes“ oder „See The Light“. Auch wenn man diesen Auftritt noch genießen 46 © wasser-prawda kann, bleibt doch ein Stück Wehmut zurück. Kurze Zeit später zerbrach die Jeff Healey Band. Und mit seinen Solo-Blues-Alben konnte er nicht wirklich derartig heftig den Nerv der Fans treffen. Für einen kompletten Karriereüberblick über das Schaffen Healeys reicht „As The Years Go Passing By“ natürlich nicht aus. Hier müsste man auch noch Aufnahmen seiner Jazzprojekte aufnehmen, die er seit Beginn des 21. Jahrhunderts immer wieder veröffentlicht hatte. Aber so ist die ausgezeichnet ausgestattete Box mit ihrem sehr guten Sound und einer hervorragenden Bildqualität (dafür zahle ich gern meine GEZ-Gebühren!) ein Pflichtkauf für jeden Fan ebenso wie für diejenigen, die einen wirklich einzigartigen Gitarristen erst jetzt entdecken. Wer auf die bewegten Bilder verzichten kann, kann auch die „normale“ Ausgabe mit drei CDs erwerben. (in-akustik) Nathan Nörgel Jessy Martens & Band - Brake Your Curse „How Beautiful“ heist der Song mit dem das zweite Studio-Album von Jessy Martens & Band beginnt. Und das macht klar: die Hamburger Sängerin hat den Schwerpunkt ihrer Musik vom Blues konsequent weiter in Richtung Rock verlagert. Auch wenn der gehörigen Spaß macht und überzeugender für mich ist als aktuelle Werke anderer Bluesrocker wie Henrik Freischlader. Denn anstatt nur loszubratzen zeigt sie sich - noch stärker als auf „Brand New Ride“ - als eine äußerst variable Sängerin, die in einem Moment gespielt mädchenhaft daherkommt, um dann gleich die selbstbewusste Kratzbürste heraushängen zu lassen. Gerade der Titelsong - auch wenn der manche vielleicht an Stücke von den Guano Apes oder ähnliche Bands mit Sängerin erinnern mag, ist ein sehr gelungenes Stück, dass sich im Ohr festsetzt. Und auch „Run With Me“ mit seinem immer wieder aufbrandenden Riffgewitter ist Klasse. Nur eines wird mir - ähnlich wie beim Debütalbum der Band immer wieder klar: Ich bin wahrscheinlich zu alt für die Powerballaden des härteren Classic Rock. Das ist - wenn ich mich nicht live im Konzert mitreißen lassen kann - einfach nicht mehr meine Musik. Denn da ist für mich zu viel aufgesetzte Show drin, zu viele nach Applaus schielende Gitarrensolos, zu wenig echte, zu Herzen gehende Emotion. Hier besteht für mich die Gefahr, dass die großartige Sängerin Jessy Martens irgendwann zu einer Neuauflage von Doro Pesch verkommt. Das wäre außerordentlich bedauerlich, denn ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass sie sich irgendwann wieder auf den Blues besinnt. Das allerdings ist Meckern auf ziemlich hohem Niveau. „Break Your Curse“ ist ein wirklich gutes Rockalbum von einer der besten jungen Sängerinnen hierzulande und einer direckt auf den Punkt kommenden Band. (Moonsound/New Music Distribution) Raimund Nitzsche Jimi Hendrix - People Hell and Angels Alle Jahre wieder - oder in letzter Zeit so ungefähr alle fünf Jahre wieder - taucht in den Medien die Meldung auf, es seien unveröffentlichte Aufnahmen von Jimi Hendrix entdeckt worden. Zahllos die Versuche, aus den Hinterlassenschaften von unterschiedlichster Qualität den geplanten Nachfolger des Klassikers „Electric Ladyland“ zu kompilieren. Grandios gescheitert ist auf jeden Fall der © wasser-prawda 47 bislang letzte, den Sony unter dem Titel „People Hell and Angels“ zum 70. Geburtstag auf den Markt geworfen hat. Wird das niemals ein Ende haben? Kaum war Hendrix tot, begann eine Veröffentlichungspolitik, die an Fragwürdigkeit lange nicht seinesgleichens hatte. Zahllos sind die zusammengeschusterten Scheiben, die in wenigen Jahren den Markt überschwemmten. Und erst als die Hendrix-Nachfahren die Rechte an den Aufnahmen zurück bekommen hatten, schien sich so etwas wie eine angemessene Erbepflege anzudeuten. Scheiben wie „First Rays Of The New Rising Son“, „South Saturn Delta“ oder „Valleys of Neptune“ versuchten zumindest, aus dem Wust an belanglosen Sessiontapes Lieder auszuwählen, die über einen Grobentwurf hinausgediehen waren. Damit hätte man eigentlich die Geschichte bis zu einer historisch-kritischen Gesamtausgabe abschließen können. Aber das ist wohl nicht profitabel genug auf Dauer. Also jetzt schon wieder „neuer“ Hendrix: Welch eine Mogelpackung. Man kennt die Songs fast alle schon in der einen oder anderen Fassung. Nett eigentlich fast nur „Hear My Train A Coming“ in der Besetzung mit der Band of Gypsys. Die andere in der Besetzung eingespielte Nummer „Bleeding Heart“ ist einfach langweilig wie auch ein Großteil der anderen ohne Konzept zusammengereihten Aufnahmen. Lieder wie „Izabella“ kennt man in besseren Versionen von anderen Nachlassveröffentlichungen. Der als Single veröffentlichte „Earth Blues“ ist das Ergebnis kreativer Schnittarbeit von Eddie Kramer, der verschiedenste Aufnahmen des Liedes zu einer Endfassung montierte. „Crash Landing“ ist völlig misslungen - Gesang und Musik sind asynchron. Und niemals hätte der Perfektionist Hendris ein Stück mit einfach improvisierten Nonsense-Lyrics durchgehen lassen. Nein: Das ist kein würdiges Hendris-Album. „People Hell and Angels“ ist ein Rückfall in eine Veröffentlichungspolitik der frühen 70er Jahre, ein Versuch, aus Restmüll noch Gold zu pressen. (Sony) Raimund Nitzsche Jo Harman - Dirt On My Tongue Nur selten ist in letzter Zeit das Debüt einer britischen Künstlerin im Blues und darüber hinaus derartig erwartet worden wie dieses. Die ersten Rezensionen kommen so langsam herein, und ich hab keinen Zweifel daran, dass ihre Zahl in den nächsten Wochen noch gehörig anwachsen wird. Ich will die Gelegenheit nutzen, meine Meinungen und Gedanken zu äußern. Ich bin kein professioneller Musik-Schreiber, ich werd hier keine Menge langer Wörter in musiktheoretischer Terminologie äußern, nur meine ehrlichen Gedanken als ein Fan guter Musik. Zuerst wurde ich Anfang 2012 auf Jo aufmerksam, ich weiß nicht mehr genau wie, aber ich bekam mit, dass sie auf dem Raven & Blues-Podcast gespielt wurde. Und es gefiel mir, was ich da hörte. Es endete damit, dass ich Kontakt aufnahm und bekam die CD „Live At Hideway“ und noch mehr Material zugeschickt. Nachdem, was man mir sagte, war ich so ziemlich die erste Radiosendung, die sie gespielt hat. Jo und auch ich waren sehr froh drüber. Noch glücklicher war ich allerdings, als Jo im Mai 2012 zu Besuch ins Studio von FromeFM kam, zusammen mit Mark Ede, ihrem äußerst leidenschaftlichem Manager (und einem Supertypen), und einigen Devon-Scones, die ihre Mutter selbst gebacken hatte. Wir sprachen eine ganze Stunde über ihre Musik und ihre 48 © wasser-prawda Pläne für die Zukunft. Und das war bislang eine der bemerkenswertesten Erfahrungen, die ich in meiner kurzen Zeit im Lokalradio hatte. Die Art, wie Jo so leidenschaftlich darüber sprach, was sie tun wollte - man wusste einfach: Eines Tages würde das wahr werden. Eines der Themen, das wir behandelten, war die Chance, in einer TV-Reality-Show zu „singen“, aber Jo war sich völlig klar drüber, dass sie die Dinge auf ihre Art angehen wollte. Und ich kann nur folgern, dass „Dirt On My Tongue“ genau das Album ist, was sie schon damals im Sinn hatte. Dass das Album jetzt mit derartiger Aufmerksamkeit bedacht wird, muss für sie äußerst befriedigend sein. Und ich kann mir nur vorstellen, wie froh und stolz sie jetzt sein dürfte, so viele positive Kommentare von hunderten von Menschen zu erhalten. Nur um das Interesse mal zu verdeutlichen: Kaum war das Album auch nur erwähnt, erhielt sie Berge von Vorbestellungen. Und das war Monate bevor an eine Veröffentlichung auch nur gedacht werden konnte. Und die Aufnahmen waren zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal gelaufen! Und selbst Radio-DJs, die normalerweise kostenlose Exemplare zugeschickt bekommen, zahlten diesmal für ihr Exemplar. Und - war das gezeigte Vertrauen am Ende gerechtfertigt? Ich würde sagen: JA! Jo meinte, sie wolle ein Album produzieren, dass man auch in zehn Jahren noch anhören könne und das auch dann noch gut klingen solle. Eben ein gutes Album mit guten Songs. Das hat sie auf jeden Fall erreicht. Auch auf die Gefahr hin, hier zu übertreiben, will ich sagen: Wenn Musikmagazine in ein paar Jahren ihre Listen über die „Besten Alben“ der letzten Dekade zusammenstellen, dann sollte dieses Album aus dem Jahr 2013 als ganz wichtiger Maßstab aufgenommen werden. Jo hat lange und intensiv über die Reihenfolge der Lieder nachgedacht und sich zum Schluss ganz auf ihr Gefühl verlassen - und beginnt das Album mit drei Balladen. Was in vielerlei Hinsicht natürlich ein ziemlich mutiger Zug ist- Aber es funktioniert, und es zeigt den Leuten, dass das hier ein Album ist, wo es zuallererst um die Songs geht. Der Opener „I Shall Not Be Moved“ fängt ganz langsam mit einfacher Pianobegleitung an, bevor er sich langsam mit einem großartigen Chorus aufbaut und die ersten Zeichen von Gospel-Einflüssen offenbart, die überall zu spüren sind. „Worthy Of Love“, dass im letzten Jahr auf einer EP veröffentlicht wurde, wurde hier verändert zu einem ganz einfachen Lied - und es ist dennoch enorm wirkungsvoll. Und dann kommt da „(This Is My) Amnesty“, dass ich liebe, seit ich es das erste Mal live gehört habe. (Und ich hatte das Glück, es letztens als Erster exklusiv in Blues Train spielen zu dürfen.) Alles an diesem Song ist einfach klassisch, besonders hat es mir die Gitarre von Mike Davies angetan: subtil, aber genau auf den Punkt treffend. Dieses Album wurde als eines von Jo Harman angekündigt - aber „and Company“ ist immer noch ein wichtiger Teil des Sounds: Jeder Musiker in der Band weiß genau, was zum jeweiligen Zeitpunkt gebraucht wird. Es hat mir immer gefallen, sie live zu sehen - und das Album ist definitiv die Leistung einer Gruppe. „Heartstring“ ist das vierte Lied und kommt uns funky daher - ein sehr zeitgemäß klingender Song, sehr catchy, und man kann sich gut vorstellen, dass dieses Lied in jedem beliebigen Radiosender, der einem einfällt, gespielt wird. Dann folgt „I Don‘t Live Here Anymore“, das einen Einschlag vom Country her hat, eine ein- © wasser-prawda 49 gängige Melodie und sehr zugespitzte Textzeilen. Etwas sollte man hier anmerken: Diese Songs wurden für das Album erneut eingespielt. Aber selbst wenn Du meinst, Du kennst die meisten von ihnen und hast sie schon mal gehört - denk nochmal drüber nach! Ein Zeichen dafür, dass ein Song wirklich gut geschrieben ist, ist die Tatsache, dass man ihn auf ganz verschiedene Weisen hören kann und er immer wieder neu klingt. Das ist hier der Fall. Und das auf keinen mehr zu als auf „Sweet Man Moses“, der hier als Nummer sechs als Zentrum des ganzen Albums fungiert. Klar, die Nummer hat man schon viele Male gehört, aber vielleicht ist das hier der krönende Moment für das Lied. Ich kann mir nur die Gefühle vorstellen, die Jo für den Song haben muss, er ist derartig persönlich, klingt derartig gut .... einfach Gänsehaut-Zeit! Es muss großartig sein, wenn man etwas wie dieses Lied schreiben kann und es dann von so vielen Menschen gemocht wird. „Underneath The River“ zählt live immer zu den Favoriten, weil es der ganzen Band erlaubt loszurocken. Diese Version bewahrt genau dieses Live-Feeling sehr schön. Das ist wahrscheinlich der „bluesigste“ Song auf dem ganzen Album - und er hat außerdem eine gute Gitarre von Mike Davies. Danach entspannt es sich wieder etwas mit ein paar großen Balladen. Die erste ist „Fragile“ mit - lustigerweise - zerbrechlich klingender Stimme und Klavier, und das Stück hält diesen Sound bis hin zum dicken Ende. „Cold Heart“ geht ähnlich los, aber in der zweiten Strophe setzt die Band ein. Ein wirklich cooles Stück mit dezenten Hammondklängen im Hintergrund, ziemlich nach Blues klingende Nummer - und ich mag besonders, wie Martin Johnson hier am Schlagzeug seine Akzente setzt. Live war für mich immer „Better Woman“ eines meiner Lieblingsstücke. Daher war ich sehr froh, dass es auch hier seinen Platz bekommen hat, angemessen kurz vor dem Ende platziert. Sieben Minuten lang, das ist ein derartig soulgeladener Rocker - und hat auch wieder dieses Live-Feeling im Studio behalten. Wenn ich ehrlich sein soll: Wenn ich die Band das Lied live spielen sehe, dann zählt zu meinen Lieblingsteilen, wenn Steve Watts gegen Ende regelrecht wahnsinnig wird an seiner Orgel. Und genau das vermisse ich in dieser Version, die statt dessen mit Gitarre und BackgroundGesang endet. Wie auch immer: Es ist immer noch ein großartiges Lied, und andere Fassungen davon gibt es ja zu finden. Auf ganz leise Art endet das Album: „What You Did For Me“ - nur Jo und Mike, man kann sich vorstellen, wie die beiden auf der Bühne mit einem einzigen Spotlight die Vorstellung beenden. Es hat ja ganz schöne Debatten darüber gegeben, in welche Schublade man Jo Harman packen soll. Ist sie „Blues“? Ist sie „Soul“? Oder was anderes? Ich glaube, dieses Album überschreitet all diese Kategorisierungen. Können wir nicht einfach sagen: Das ist einfach großartige Musik? Dieses Album sollte in jedem Radiosender der ganzen Welt gespielt werden und sollte idealerweise Jo‘s Namen in jedem Haushalt bekannt machen. Aber eigentlich will ich im gleichen Moment, dass sie „unser Geheimtipp“ bleiben soll... Ich mag es nicht, Noten für Alben zu vergeben - Musik ist für uns alle so perönlich. Aber ich kann dennoch mit einigiger Sicherheit sagen, dass ich - wenn ich Du wäre - auf http://joharman.com gehen und mein Exemplar bestellen würde. Und wenn es dann ankommt, nimm dir etwas Zeit mit einer guten Stereoanlage und Kopfhörern, schließ die Augen und genieße! Dave Watkins 50 © wasser-prawda Kevin Breit & The Upper York Mandolin Orchestra Field Recording Zwischen Blues und klassisch anmutenden Kompositionen, Country und Songs zwischen Musical und Filmmusik: „Field Recording“, das neue Album des kanadischen Sängers und Multiinstrumentalisten Kevin Breit ist eine Fundgrube eindrücklicher Songs. Und es ist für Freunde akustischer Musik durch die konsequente Einbeziehung eines Mandolinenorchesters eine absolut wundervolle Scheibe. Kevin Breit ist als Saitenvirtuose längst ein Begriff für Musiker aus Folk, Country, Jazz und Blues. Als Songwriter mit einem wachen Blick für Tradition und Moderne konnte man ihn zuletzt etwa mit „Strictly Whatever“, seinem zweiten Duo-Album mit Harry Manx kennenlernen. „Field Recording“ allerdings geht weit darüber hinaus. Ähnlich wie die Ukelele scheint die Mandoline, dieses seit dem 17. Jahrhundert bekannte Zupfinstrument, zur Zeit eine kleine Renaissance in der Folkszene zu feiern. Mandolinenorchester - diese an klassische Streichorchester aufgebauten Orchester mit Mandolinen, Mandolas, Mandocellos und Kontrabass - spielen allerdings dabei keine Rolle. Aber deren Flexibilität geht ja eh darüber hinaus - schon im Barock gab es Lautenchöre, die als klangliche Alternative zu Streichergruppen eingesetzt wurden. Und die seit dem 19. Jahrhundert weltweit entstandenen Zupforchester können im Prinzip das ganze Repertoire klassischer Streicherliteratur spielen und werden von Komponisten immer wieder auch durch spezielle Kompositionen gewürdigt. Und genau hier setzt Breit mit „Field Recording“ an: Hier ist kein einsamer Bluesman mit seinem Saiteninstrument zu erleben, sondern ein Songwriter, der sich von großem Orchester begleiten lässt. Die Zupfinstrumente malen in den Arrangements Klangflächen, die zuweilen an Filmscores von Morricone erinnern, im nächsten Moment nach einer heruntergekommenen Zirkusshow klingen oder nach der großen Musical-Bühne am Broadway: Das ist eine Musik, die sich einfach jeder Kategorisierung entzieht. Wenn etwas Breits Hommage an „Big Bill Broonzy“ beginnt, dann ist das weit entfernt vom Blues des Meisters sondern ist zunächst eher mit einem Rezitativ eines modernen Oratoriums verwandt, ehe dann doch noch ein paar Folkklänge in die Melodie einfließen. Aber das Orchester bleibt hier der ständige moderne Kontrast zu den tradionelleren Melodien des Liedes. Natürlich gibt es auch Songs, wie ich sie von Breit nach meiner Vorbildung eher erwartet hätte - „Johnny Dollar“ etwa, eine schöne Folknummer, bei das Orchester zumeist die Riff begleitung Breits übernimmt. Aber es sind für mich vor allem die so unerwarteten Klänge und Arrangements, die Breit für seine Songs jenseits des Blues gefunden hat, die „Field Recordings“ für mich so großartig machen. (Poverty Playlist) Raimund Nitzsche Lore a and The Bad Kings - s.t. Gegründet worden sei die Band mit dem alleinigen Ziel, die Leute zum Tanzen zu bringen. Wenn man das selbstbetitelte Debüt des französischen Quartetts in völliger Reglosigkeit anhören kann, ist man wahrscheinlich entweder im Koma oder tot. Denn: Diese Mixtur aus Blues, Soul und Jazz ist ansteckend. Eigentlich sollte man ja davon ausgehen, dass sämtliche Spielarten von Rhythm & Blues, Blues und Soul der 50er und 60er Jahre im © wasser-prawda 51 Rahmen der noch immer andauernden Retro-Bewegung ausgereizt worden seien. Doch immer wieder stößt man auf Musiker, die mit diesen alten Stilmitteln hinreißende eigene Songs kreiieren. Wie etwa Sängerin und Harpspielerin Loretta mit ihren üblen Königen (Andy Martin - dr, Anthony Stelmaszack - g, Mig Toquereau - b, voc). Mal singt sie rotzig heftig wie ein weiblicher Mick Jagger in seiner Teenagerzeit, mal sanft schmusend - und wenn sie dann noch ihre Harp spielt, könnte man manchmal meinen, auch Big Mama Thornton hätte bei ihr Patin gestanden. Loretta ist eine Stimme, die man sich merken muss. Ebenso wie übrigens auch Gitarrist Anthony Stelmaszack. Seine trockene und meist unverzerrte Gitarre kann zwischen klassischem Rock & Roll, Soullicks a la Steve Cropper und mitreißendem Texas-Blues zu dieser Frau immer die nötige Ergänzung liefern. Und über die Rhythmusgruppe kann man nur sagen: sie versteht ihr Handwerk perfekt und hält die teils wilden Ausbrüche fest zusammen. Die Songs sind witzig, schmalzig, wild, ... aber immer tanzbar. Wer die Musik von Musikerinnen wie Sabrina Weeks, Paula Harris oder Hip Shakin Mama mag, kann hier ohne Bedenken zugreifen. Schade, dass das kanadische Label Iguane das Album der Franzosen nur als Download veröffentlicht hat. Aber zumindest ist es so auch hierzulande problemlos und preiswert erhältlich. Raimund Nitzsche LZ Love & Lightnin Red - Interna onal Blues Family Jahrelang sang LZ Love im Background so unterschiedlicher Künstlerinnen wie Mary Wells, Joan Armatrading, Billy Preston oder bei George Clintons Parliament und Luther Vandross zu hören. Bis sie dann von Tommy Castro und Michael Fronti eingeladen wurde, sie auf der Bühne und im Studio zu begleiten. Da war der Schritt zum Blues getan. Der Schritt zur Solokarriere kam 1995 und führte dann sogar zu einem Hit in Europa - allerdings in den Dance-Charts. 2001 gehörte sie in der kalifornischen Bay Area allerdings zu den besten Bluesinterpretinnen. Auf den texanischen Gitarristen Lightnin Red traf sie 2006, als sie bei seinem ersten Akustik-Album mitsang. Als sie 2010 gemeinsam für einen Festivalauftritt in die Schweiz kamen, wurden sie dort von fast 10000 Besuchern gefeiert. Begleitet wurden sie dabei von einer Band mit Musikern aus Kroatien und Deutschland. Und weil diese Kombination so gut funktionierte, hat man gemeinsam ein Studioalbum eingespielt, wo Soulblues und klassischer Texasblues wunderbar miteinander harmonieren. Nathan Nörgel Mario Nyéky & The Road - To The Wind Manchmal zart und behutsam, dann wieder wild und rockend kommen die Folkpopsongs von Mario Nyéky daher. Mit seiner Band The Road hat er acht kleine akustische Kostbarkeiten eingespielt, die eine gute Medizin für lärmgeplagte Ohren und vom Zynismus zerfressene Seelen sein können. „Quiet Is The New Loud“ - wann war das noch mal der Slogan der Stunde? Auch egal. Könnte auch gut zu Mario Nyéky & The Road passen in den stilleren Momenten ihrer Songs. Hier sind vier Freunde am Werke und spielen Lieder, die manchmal an die zarteren Hymnen des jungen Paul Simon erinnern, dann aber ausbrechen in wilde Attacken von Geige, Gitarre und Cajon. Hier wird zwar mit dem Erbe der klassischen Folkmusik ebenso 52 © wasser-prawda gespielt wie mit deren popmusikalischen Verwandlungen. Doch letztlich - so der Bandchef im Material der Plattenfirma - ist das nur der Tatsache geschuldet, dass die vier Freunde eben genau Gitarre, Geige, Kontrabass und Cajon spielen konnten und man gemeinsam Musik machen wollte. Das Jonglieren mit Versatzstücken und Referenzen passiert so wohl eher im Kopf des Hörers, als dass es beabsichtigt oder gar kalkuliert ist. Hier hat einer Lieder geschrieben und mit seinen Freunden gespielt, die sich Zeit nehmen für Entwicklungen, die einen langsam gefangennehmen, um einen dann immer schneller mitzureißen in einen Wirbel an Emotionen, die einen dann aber auch wieder ganz leise entlassen. Hat seine Berechtigung, wenn die Band ihren Stil Roadmusic nennt. Stillstand ist hier nur die kurze Pause beim ständigen Unterwegssein. (Meyer Records/Rough Trade) Nathan Nörgel Mark Robinson - Have Axe - Will Groove Sein 2010 erschienenes Debüt nannte er „Quit Your Job - Play Guitar“. Das machte Mark Robinson auch und hat sich seither in den USA einen ziemlichen Namen erspielt. Jetzt kommt mit „Have Axe - Will Groove“ der Nachfolger auf den Markt: Alltagsgeschichten mit einem hervorragenden Gitarristen. Klassischer Rhythm & Blues („Cool Rockin Daddy“) wechselt sich ab mit mit Texas-Blues, elektrische Gitarren mit akustischen und sogar mit Glockenspiel. So sollte zeitgenössischer Blues klingen. Wenn es in der Welt gerecht zugeht, sollte Robinson es nicht mehr nötig haben, sich einen Zweitjob zu suchen. Allein „Drive Real Fast“ mit seiner ersten Strophe My cell phone out the window/Throw my cell phone out the window/Don’t want to talk to nobody no more ist den Kauf des Albums wert. Oder aber diese nette Geschichte in „Baby‘s Gone To Memphis“: Der arme Typ - sie haut ab nach Memphis, weil sie Elvis den Toten besuchen will. Da hat Mann selbst als Lebender keine Chance mehr, selbst mit dem schnell zitierten Mojo von Muddy Waters. Nathan Nörgel Ma Woosey Band - On The Waggon Eine geschundene Akustikgitarre, der man die Jahre „on the road“ ansieht, ein Bass und ein stoisches Schlagzeug: Wenn das aktuelle Album „On The Waggon“ des britischen Gitarristen und Songwriters loslegt, dann ist das Blues aufs Wesentliche reduziert. Auch inhaltlich spielt der Opener „Black Smoke Risin“ mit all den gängigen Bildern, zitiert zwischendurch gar den „Back Door Man“ von Howlin Wolf. Großartig auch „That‘s My Baby“: Hier lässt Woosey die Zügel vollkommen los und singt zwischen hinterhältigem Gelächter und bösartigem Brummen etwas, was ich zunächst für ein Liebeslied hielt. Aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Daneben finden sich auf „On The Waggon“ auch Songs, die Matt Woosey als einen lyrischen Songwriter erkennen lassen, der in seinen besten Momenten an Kollegen wie Ezio erinnert. Ein Album mit ein paar sehr schönen Songs zwischen Blues und Folk. Reinhören lohnt sich. Raimund Nitzsche Pam Taylor Band - Hot Mess Die Sängerin und Gitarristin Pam Taylor stammt aus South Carolina. 2012 wurde ihre Band bei den Charlotte Music Awards so- © wasser-prawda 53 wohl als „Best Female Rock Band“ als auch als „Best Blues Band“ ausgezeichnet. Damit wird die Mixtur klar, die den Hörer auf dem Debüt „Hot Mess“ erwartet: funkiger Bluesrock mit einer prägnanten Gitarre - und einem röhrenden Saxophon, dass ihr Vater spielt. Eigentlich könnte man Pam Taylor und ihre Band in die Kategorie: Another Girl With Guitar ablegen. Doch es ist genau diese inzwischen selten gewordene Spannung zwischen Gitarre und Saxophon, die Taylors Songs aus dem Alltäglichen heraushebt. Und es wird klar, dass sie in ein paar Jahren eine wirklich gute Bluessängerin werden kann. Heute hört man an vielen Stellen noch die Anstrengung, den einzelnen Songs mit möglichst auffälligen Phrasierungen die Krone aufzusetzen. Das haben die Lieder aber eigentlich nicht nötig. Die Leadgitarre spielt sie im Übrigen nicht selbst. Diesen Job hat der lokal bekannte Kyle Phillips übernommen, dem man seine Liebe zu Musikern wie Tommy Castro oder Joe Bonamassa anhört, der sich hier aber immer song- und banddienlich zurückhält mit ausufernden Solo-Ausflügen. Lohnt das Reinhören auf jeden Fall. Nathan Nörgel Petey Hop - The Levee Zwischen beschwingtem Rock & Roll und mitternächtlichen Jazz-Balladen, Blues und Rocksongs - der New Yorker Gitarrist und Songwriter hat auf seinem zweites Album „The Levee“ die verschiedensten Stile zusammengeführt. Dass daraus ein dennoch absolut rundes und stimmiges Werk geworden ist, liegt auch an einer hervorragenden Band - und an Produzent Duke Robillard, der auch ein Solo beisteuerte. Dammbrüche sind nicht umsonst gefürchtet: Wenn plötzlich all das angestaute Wasser sich Bahn bricht, dann wird alles fortgerissen, was sich im Weg befindet. Zurück bleiben Schlamm, Zerstörung und heilloses Durcheinander. Dieses Album gleicht (auch wenn das grafisch schön gestaltete Cover es andeutet) keinem Dammbruch, eher einem kontrollierten Fluten einer Region, um Zerstörungen vorzubeugen. Aber - und hier stimmt das Bild vom Damm dann doch wieder - man merkt, welch verschiedenen Einflüsse Gitarrist und Songwriter Petey Hop über die Jahre in sich aufgenommen hat: Klassischen Swing und Rhythm & Blues, den seine Eltern liebten, den Blues und Rock&Roll der 60er Jahre, den die Geschwister hörten, die Rockmusik der 70er hin zum Vorkriegsblues und Jazzpop: Wir wählen uns nur selten die Musik aus, die in unserem Leben bedeutsam wird. Aber alles das in eine eigene Welt zusammen zu fassen, ist eine Heidenarbeit. Petey Hop kann so - ohne sich selbst untreu zu werden einerseits klassisch anmutende Folkblues-Nummern wie „Porter“ inklusive Fingerpicking mit ebenso klassisch anmutendem Rock & Roll („Out All Night“ ist einfach ein fantastischer Partysong!) und dem düster drohenden Titelsong kombinieren und zeigt uns so die verschiedensten Facetten. Und wenn er auf der E-Gitarre eines seiner Solos spielt, dann fühlt man sich an all die „Ahnen“ zwischen Lonnie Johnson, T-Bone Walker, B.B. King, Chuck Berry - und auch Chet Atkins - erinnert. Dass „The Levee“ ein wirklich bemerkenswertes Album geworden ist, liegt auch an der fantastischen Band, die Hop hier gemeinsam mit Produzent Duke Robillard ins Studio geholt hat: Von der variablen und stehts im Bauch fühlbaren Rhythmusgruppe (Nick Longo - dr, Anthony Candullo - b) über Jeremy Baum, der 54 © wasser-prawda zwischen Piano, Orgel oder Wurlitzer wechselt bis hin zu den Saxophonisten Chris DiFrancesco und Ian Bennett: Hier sind Musiker am Werk, die die ganzen Stilwechsel problemlos mitgehen können. Und die dem Ganzen dann noch durch einen wundervoll eleganten Sound Einheitlichkeit verleihen. Erhältlich ist das Album lediglich über www.peteyhop.com oder iTunes. Nathan Nörgel Preacher and Bear - The Storm Has Come Einen gehörigen Sturm entfachen Sängerin Elin Piel und Gitarrist Frederik Petterson alias Preacher and Bear auf ihrem zweiten Album. Geschichten über Kampf und Trauer, Freude und Ungerechtigkeit sind in Lieder verpackt, die zerbrechliche Folkanklänge mit rockigen Gitarren und der zupackenden Stimme Piels verbinden. Nein: Hier geht es nicht um ein laues Lüftchen selbstbezogener Folkloristen und Ego-Songwriter. Und vor allem: Wenn jemand das von der Plattenfirma vergebene Label Folk-Pop zu ernst nimmt, könnte er schockiert sein. Hier ist eine Band am Start, die den Folk gehörig anreichert: Americana kann man ebenso hören wie die Rockmusik eines jungen Neil Young. Das verdankt das Duo natürlich auch der großartigen Schlagzeugerin Kajsa Podnak, die mit ihnen schon 2012 auf Tour war. (Black Star Foundation/Cargo) Nathan Nörgel Record Kicks 10th Es war 2003 als in Mailand Nicolò Pozzoli das Label Record Kicks ins Leben rief. Mehr als 100 Platten, CDs oder Singles sind dort bislang veröffentlicht worden. Und alle, Wiederveröffentlichungen klassischer Raditäten oder Neuerscheinungen, zeichnet eines aus: Die Liebe zu den Grooves von Soul, Funk, Afrobeat oder Dancefloor Jazz der 60er und 70er. Zum zehnjährigen Bestehen gibt es jetzt einen Labelsampler mit Hits, neuen Singles und ein paar exklusiven Nummern. Die ersten Veröffentlichungen waren Sampler der inzwischen bei Teil 7 angekommenen Reihe „SoulShaker“, mit der der Labelgründer die zeitgenössische Funk & Soul-Szene vorstellen wollte. Damals standen Daptone Records in New York gerade am Anfang. Und so kam es, dass Record Kicks damals die europäischen Rechte für neue Singles etwa von Sharon Jones oder Sugarman 3 an Land ziehen konnte. Heute sind für DJs, die in der Deep-Funk-Szene arbeiten, sind die Platten aus Mailand ebensolche Pflichtkäufe wie die Veröffentlichungen von Tramp in München oder Daptone Records. Nur dass - anders als bei Tramp - bei Record Kicks in den letzten Jahren wesentlich mehr neue Bands präsentiert wurden wie etwa zuletzt Hannah Williams & The Tastemakers, die Dojo Cuts oder die Third Coast Kings. Die 21 Stücke des Geburtstagssamplers decken das gesamte Spektrum des Labels vom Funk über Northern Soul, jazzigen Afrobeatklängen bis hin zum klassischen Rocksteady ab. Und wenn man das Album einlegt, dann streikt der innere Kritiker eigentlich sofort, weil er lieber tanzen möchte. Denn dass ist ein Sampler, wie ihn ein DJ für ein wundervolles Set zusammenstellen könnte: Bekannte und (für mich) unbekannte Tracks wechseln sich ab. Aber niemals fällt die Spannung ab. Der Groove trägt dich unwillkürlich in Gedanken in einen Club, den es so hier in der Gegend leider nicht gibt. Aber für einen Moment, für 21 Lieder kannst Du ihn förmlich spüren diesen Club, der aus einem jeden halbwegs leben- © wasser-prawda 55 digen Menschen einen Tänzer macht. Und hinterher hat man das beseligte Lächeln im Gesicht, was der Umgebung zeigt: Hier hat einer etwas unwahrscheinlich Schönes erlebt. - Herzlichen Glückwunsch nach Mailand zu Record Kicks! Nathan Nörgel Robben Ford - Bringing It Back Home Jazzig und äußerst relaxt geht es zu: Robben Fords neues Album „Bringing It Back Home“ ist formal ein Streifzug durch die Bluesgeschichte. Musikalisch ist es eine Kombination der zwei Persönlichkeiten des Gitarristen: des Blueshelden und das Jazzers. Er hat mit Jimmy Witherspoon Blues gespielt, war auf Tour mit George Harrison und Joni Mitchell. Und Robben Ford gehörte in den 80er Jahren zur Band von Miles Davis: Als Gitarrist ist er im Jazz ebenso zu Hause, wie im Blues und Bluesrock. Vor allem Kollegen halten den Kalifornier für einen der versiertesten Meister der Gitarre überhaupt. Als 2007 sein letztes Studioalbum „Truth“ erschien, wurde das für einen Grammy als bestes zeitgenössisches Bluesalbum nominiert. Die Bluesfans bekamen darauf den Saitenzauberer zu hören, den sie erwarteten. Sein jetzt bei Provogue veröffentlichtes Werk „Bringing It Back Home“ kommt fast ohne technische Hexereien aus. Denn Robben Ford hat für die Aufnahmen eine All-Star-Band zusammengesucht, die genügend Raum lässt, dass er sich ganz entspannt als Sänger von Klassikern der Bluesgeschichte präsentieren kann. Ob er nun Werke des Vorkriegsblues wie Charley Pattons „Birds Nest Bound“ oder Allain Toussaints „Everything I Do Gonna Be Funky“, seine eigene (ganz wundervolle) Komposition „Oh Virginia“ oder Bob Dylans „Most Likely You Can Go Your Way and I‘ll Go Mine“ interpretiert: Hier stimmt jede Note die er singt, jede stimmliche Nuance, die er setzt - und natürlich auch jeder einzelne Klang, den er seiner Gitarre entlockt. Und das ganze geschieht mit einer Relaxtheit, die einen in eine nachmitternächtliche Session in einem kleinen Jazzclub versetzt. Ford spielt den Kollegen in der Band (herausragend: Larry Goldings - org, Stephen Baxter - tb) Ideen zu und diese jonglieren sie zu ihm zurück. Besonders schön zu verfolgen ist das in der mehr als sieben Minuten langen Instrumentalnummer „On That Morning“. Und auch wenn es funky wird, der Groove über das Schaukelstuhl-Level angezogen wird, ist hier eine Präsenz und Prägnanz zu erleben, die faszinierend ist. Ach ja: Wer Belege dafür braucht, dass Ford wirklich einer der begnadetsten Gitarristen der Gegenwart ist, sollte sich anhören, was er aus Earl Kings „Trick Bag“ macht. (Provogue/Mascot) Raimund Nitzsche Sabrina Weeks & Swing Cat Bounce - Got My Eye On You Die Mischung ist die gleiche geblieben wie beim 2010 veröffentlichten Debüt „Tales From Lenny‘s Diner“: Sabrina Weeks & Swing Cat Bounce servieren auf ihrem zweiten Album „Got My Eye On You“ wiederum Jump-Blues und Swing irgendwo zwischen Doris Day und Koko Taylor, zwischen elegantem Nachtclub und verrauchter Tanzbar am Wochenende. Oh ja, endlich mal wieder gibt es neues für den Swingfan in mir: Zu selten tauchen in all den Neuveröffentlichungen auf dem Plat- 56 © wasser-prawda tenstapel Scheiben wie „Got My Eye On You“ auf, die man sofort in die Playlist bei der nächsten Swingparty aufnehmen möchte. Sabrina Weeks & Swing Cat Bounce, 2012 in ihrer kanadischen Heimat mit dem Maple Blues Award ausgezeichnet, liefern hier mit einigen Songs echte Tanzflächenfüller - wenn mich mein Ohr nicht ganz täuscht. Ähnlich wie auf dem Debüt ist hier nicht die Ruppigkeit von Brian Setzers Orchester zu hören oder anderer Retro-Swing-Kapellen sondern eine Eleganz, die ziemlich einschmeichelnd ist. Aber wer glaubt, hier ginge es gelackt und belanglos zu, hat diese Sängerin und ihre perfekt aufeinander eingespielte Band unterschätzt. Immer ist in Liedern wie „Sunday“ oder „Burn That Boogie“ ein leichter Hauch des Verruchten drin, der den oben angeführten Hinweis auf Doris Day eigentlich Lügen straft. Und: Natürlich ist „Got My Eye On You“ mit gleichem Recht auch ein Bluesalbum, ein Jump-Blues-Album, das man gerade Neueinsteigern im Blues gern in die Hand drücken kann. Hier bekommt er zwischen rasanten Boogies und Balladen jede Menge Ohrwürmer geboten. Ich freue mich, dass Sabrina Weeks den eingeschlagenen Weg fortsetzt. Und ihr zweites Album ist meiner Meinung nach noch eine deutliche Steigerung zum Debüt. Soviel zum Thema: Schwieriges zweites Album. Und eigentlich sollte man wirklich mal ein Festival organisieren, dass die unwahrscheinliche Vielfalt der kanadischen Bluesszene auch hiesigen Konzertbesuchern nahebringt. Raimund Nitzsche Tinsley Ellis - Get It Ein reines Blues-Instrumentalalbum? So etwas kann eigentlich nur gut gehen, wenn da ein wirklich großer Meister am Werke ist. Und Tinsley Ellis zählt nicht umsonst seit den 80er Jahren zu den wichtigsten elektrischen Bluesgitarristen. Auf „Get It“ finden sich acht seiner eigenen Kompositionen neben zwei Covern, Bo Diddley‘s „Detour“ und Texas Cannonball’s „Freddy’s Midnight Dream”. Vom Bluesrock über Rock & Roll bis hin zu spanisch anmutenden Klangimpressionen geht das Spektrum dieses unterhaltsamen Albums, das nicht nur Gitarristen ein ums andere Mal ein Lächeln ins Gesicht zaubern dürfte. Und nur ganz selten einmal verliert sich die Band, zu der neben Ellis noch Kevin MkKendree (keyboards), Schlagzeuger Lynn Williams und bei fünf Stücken noch Ted Pecchio am Bass gehören in Belanglosigkeiten. Wer sich zuweilen an den Sound von Booker T & MGs oder aber an britische Instrumentaltruppen der 60er erinnert fühlt, dürfte nicht ganz falsch liegen. Wer endlose Saitenhexereien im Höchstgeschwindigkeitsbereich erwartet, erlebt bei „Get It“ wohl eher eine Enttäuschung. Und wem beim letzten Stück „Catalunya“ nicht das Herz aufgeht, der dürfte völlig gefühllos sein. (Heartfixer Music) Raimund Nitzsche Tonträger - Trostlose Torten Das Quartett aus Berlin macht schon seit einigen Jahren die Bühnen der Hauptstadt unsicher und erfreut mit einem Rock‘n‘RollKabarett, in dem die Pointen der Texte exakt mit der Musik abgestimmt sind. Geprägt sind Tonträger von den Beatles, und wenn man die elf plus eins Lieder von „Trostlose Torten“ gehört hat, wünscht man sich fast noch eine deutsche Version von „Rocky Raccoon“ dazu. © wasser-prawda 57 Der Humor der „Tonträger“ reicht „Vom Scheitern der Menschlichkeit“ bis zu „Indierockschmalzschnulzenpop“, wobei Letzteres beweist, dass sie auch einen anderen, kommerziell verheißungsvollen Weg hätten gehen können. Haben sie aber nicht, und so spricht sich das Schaffen der Tonträger ohne Major-Deal über Berlin-Brandenburg hinaus durch andere Künstler ohne Plattenvertrag bei einer Weltfirma wie Bodo Wartke herum. Und dann gibt es ja auch noch das Internet; auf der Webseite ist für alle Fans und Interessierten außerhalb Berlins ein Online-Konzert angekündigt. Es ist spannend zu beobachten, ob sich jenseits etablierter Informationswege, dem immer gleichen Radio-Pop und der Castingshows im Fernsehen hier was entwickeln kann. Die Substanz für ein großes Publikum haben Tonträger allemal. Anne-Lena Vinz - The Birth of Leon Newars Eine fazinierende Mixtur: bei dem französischen Songwriter und Multiinstrumentalisten Vinz treffen die Sounds des Rhythm & Blues von New Orleans auf französische Chansons, Soul, Funk, Pop und ein wenig Reggae. Und die Musik entführt einen in die Gedankenwelten eines Dichters, der im Kampf mit sich und der Welt liegt. Die an Hannibal Lecter erinnernde Maske auf dem Cover ist eine Hilfestellung, um sich dieses Album zu erschließen. Vom Sound her scheint alles ganz einfach: Das ist ein Album voller schöner Songs zwischen dem Sound von New Orleans zwischen Professor Longhair, Fats Domino und Alain Toussaint, der mit jeder Menge Anspielungen aus aller Welt immer wieder aufgebrochen oder angereichert wird. Von groovenden Tanzflächenfegern bis hin zu melancholischen Balladen für die späten Stunden ist alles dabei und jede Note fügt sich ein in ein schlüssiges Album. Das Grauen allerdings, was die Maske andeutet, lauert unter der schönen Oberfläche. Hier singt einer zu sonnigen Reggae-Rhythmen von der verzweifelten Frage, ob er es denn jemals schaffen wird in dieser Welt. Eigentlich hatte man ja geglaubt, man sei der Hitze gewachsen. Aber jetzt ist die Sicherheit dahin („Make it“). Bei „Let My People Sing“ bleibt als Reaktion auf die Zustände der Welt eigentlich nur noch der Gesang übrig, um der Niedergeschlagenheit Herr zu werden. Es ist schon zu lange her, dass man einfach von vollem Herzen gelacht hat. Es fehlt in der Beziehung einfach daran, dass die scheinbar „falsche“ Seite nach einiger Zeit nicht mehr zum Vorschein kommt. („Wrong Side“) „The Birth of Leon Newars“ ist das Debüt von Vinz, das Iguane Records in Kanada veröffentlicht hat. Es ist eine der vielschichtigsten Neuentdeckungen im Bluesumfeld seit einiger Zeit. Und wenn ich irgendwann mal Französisch erlernen sollte, verstehe ich von diesem Album vielleicht auch noch die andere Hälfte. Oder zumindest soviel, bis ich auf die nächsten Maskierungen stoße, hinter denen Vinz seine Welten vor uns immer wieder versteckt, um unsere durch den Groove geweckte gute Laune nicht völlig zu zerstören. (Iguane) Nathan Nörgel 58 © wasser-prawda Editorial Am 10. Mai 2013 jährt sich die Bücherverbrennung in Deutschland zum 80. Male. Es ist der Tag, an dem sich Teile der deutschen Bildungselite dafür hergaben, die deutsche Literatur oder besser gesagt: einen großen und vielleicht bedeutenderen Teil derselben, den Flammen zu übergeben. „Aktion wider den undeutschen Geist“ nannten sie das. Almansor: Wir hörten daß der furchtbare Ximenes, Inmitten auf dem Markte, zu Granada – Mir starrt die Zung im Munde – den Koran In eines Scheiterhaufens Die Redaktion hat lange überlegt, wie wir an dieses Datum erinnern können. Gerade in den letzten Jahren ist die Forschung über Flamme warf! die Aktion und der betroffenen Bücher ziemlich vorangekommen. Aber wir haben uns dafür entschieden, hier nicht über die Täter zu sprechen, sondern statt dessen Texte von betroffenen Autoren zu drucken, die teilweise wegen der Bücherverbrennung in Vergessenheit gerieten. Bis zum Mai werden wir im „Sprachraum“ Autoren wie Carl Sternheim, Ernst Toller aber auch Stefan Zweig Platz einräumen. Und - die Bücherverbrennung ist ja nur ein Teil der Poltik der Nationalsozialisten - wir haben Werke von Künstlern beigefügt, die von den Nazis als „entartet“ gebranntmarkt wurden. Hassan: Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher Verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen. (Heinrich Heine, Almansor, 1821) Die neueste Literatur kommt im „Sprachraum“ in diesem Monat natürlich auch nicht zu kurz. Hier stellen wie die Lyrikerin Odile Endres vor, die zur Zeit ihren ersten Gedichtband vorbereitet. © wasser-prawda 59 Inhalt Editorial Inhalt 59 60 Bücher Jenny Feuerstein, Lyriklos: Gedichte und Fotografien Will Bingley & Anthony Hope-Smith: GONZO. Die Grafische Biografie von Hunter S. Thompson Stanislaw Lem: Professor A. Donda. Rainald Goetz – Johann Holtrop 66 69 72 Odile Endres: Drei Gedichte 74 „Manuskripte brennen nicht.“ 77 Carl Sternheim - Napoleon Ernst Toller - Kindheit 79 101 Edgar Wallace A.S. der Unsichtbare 60 61 111 © wasser-prawda Jenny Feuerstein Lyriklos silbende kunst 2013 90 Seiten ISBN: 978-3000411168 VÖ.: 13. März 2013 Jenny Feuerstein, Lyriklos: Gedichte und Fotografien Von Dirk Uwe Hansen. Fotografien von Jenny Feuerstein. Seit 2010 erscheint in Köln eine Literaturzeitschrift mit dem schönen Namen silbende_kunst und dem ebenso schönen Motto „betont unbetont“. Tatsächlich sind die einzelnen Hefte im Format Din-A-5 unbetont, d.h. erfrischend unprätentiös, haben aber dennoch eine ganz eigene Erscheinung, denn die Herausgeberin der Zeitschrift, Jenny Feuerstein ist nicht nur Lyrikerin (sie debütierte 2007 mit dem Band „In meiner Tasche aus Gedanken“), sie ist auch Graphikerin und verleiht den einzelnen Bänden eine ganz individuelle Handschrift. Nun erscheint mit „Lyriklos“ unter dem Label silbende_kunst ein Einzelband mit Gedichten und Photographien von Jenny Feuerstein. Das weckt Neugier und kaum habe ich das Buch aus dem Briefkasten genommen, lese ich es auch sogleich von vorn bis hinten durch. Die Gedichte erzählen die Geschichte eines Verlustes, das wird sogleich im ersten Stück des Bandes deutlich: © wasser-prawda Dirk Uwe Hansen schreibt und übersetzt (neben seiner Arbeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter für Gräzistik an der Greifswalder Universität) selbst Gedichte. 2012 erschienen sein Gedichtband „Sirenen“ und seine Übersetzungen und Nachdichtungen von Sappho. 61 Lilien/Rosen Ich schreibe nicht mehr von Lilien / Rosen. Ich sitze verschwiegen im roten RE. Ich fahre mit dir in die düstere Stadt. Ich schreibe nicht mehr am dunkelnden Abend. Ich schreibe nicht mehr, am Dunkelnden / Abend, von Liebe. Ich Lilie, ich lasse den Park aus. Ich fahre mit dir in den Wochenendwald, ins Farbenlose einer Stadt. Ich schreibe nicht mehr von Lilien / Rosen. Ich sitze verschwiegen im roten RE. Erzählt wird vom Ende zum Anfang hin, von der Sprach- und Farbenlosigkeit der Stadt bis zu den verheißungsvollen „Poetenarmen“ einer naturverbundenen Kindheit. Jedes der vier Kapitel des Bandes zeigt dabei ganz eigene Aspekte des Verlierens und Fehlens von Etwas, und so schließe ich eine zweite Lektüre, Kapitel für Kapitel, an. „Ins Farbenlose einer Stadt“ berichtet von Vereinsamung in einer Situation, in die allein das Eisenbahnrot ein bisschen Hoffnung – und sei es nur auf einen Besuch im Wochenendwald – bringt. Blaue Stadt I Was heißt das: im Blaumann? Die Arbeit in Schichten? Du fährst blass in den Morgen, auf einem Zeitungspapier. Dein Haus: am Horizont verschachtelte Balkone. Du fährst blind dafür den Fuß auf einem Stück Papier. In „In einem stummfilmischen Schatten“ ist es das Fehlen von Kommunikation; die Gedichte beobachten hier genau Situationen, in denen ein Sprechen nicht stattfinden kann. 62 © wasser-prawda Budapest Westend Metroshopping Untertage, wo die Nylonstrumpfverkäuferin Blaue Stadt ein Traumamädchen - ungekämmt - , ihr Lachen so ein Sololachen. In einem stummfilmischen Schatten. Eine Person ist es, die im dritten Kapitel „Noch einmal der Wind“ fehlt, das von einem verlorengegangenen wir (woran / wir verloren gegangen sind) spricht. Auf einem Spiegelschrank sah es aus: Die Wimpernpaare im Staub. Kein Atmen in der Stille zwischen Fliesen. Kein Flüstern fiel. Du bandst dir den Schal um, mit einem Albtraumgefühl. © wasser-prawda 63 Wie die Photos des Bandes, sind diese Gedichte Nahaufnahmen, die immer auch von dem sprechen, was wir nicht und nicht mehr sehen. Feuersteins Sprache bleibt dabei lakonisch, spröde manchmal Chris an und lädt zu genauem Hinhören ein. Und auch die Gedichte des vierten Teils „Ein Satz von Wiese“ zeichnen solche kleinen Bilder aus: Regentage. Eine Serie in von großer Schönheit. Eine Kindheit wird beschworen, offensichtdrei Augenblicken. lich fern der farbenlosen Stadt; doch auch hier ahnt man immer eine Bedrohung und einen Verlust. Hortensien Die Laute hing da und die Lampe, wie immer. Der Großvater machte uns Licht. Der Großvater hatte mit trauriger Hand ein Lied notiert auf einen Zeitungsrand. Die Laute hing da und die Lampe, wie immer. Der Großvater machte uns Licht. Die Großmutter machte ein Fenster auf. Ein Rascheln ging durch die Hortensien. Das auf den Zeitungsrand notierte Lied ist nicht nur ein herrliches Bild, es leitet den Leser auch zurück zum Zeitungsblatt am Boden des Vorortzuges in Blaue Stadt I. Und so beginne ich eine dritte Lesung, diesmal den Hinweisen der Texte selbst folgend. Vom schwarzen Haar in „Orkan“ zurück zu den schwarzen Fragen in „Noch einmal der Wind“ etwa. Vom Wochenendwald zum Wald der Kindheit: 64 © wasser-prawda Zurückschauen Zurückschauen in einen Wald, fahrigen Wald. Insektenwirre, schwarze Schleier. Zurückschaudern auf einem Weg. Wir cremten uns den Mückentod über die schwitzenden Arme. Poetenarme. Zurückschauend: die Stämme der Birken. Ein Bild hing im Schuppen der Eltern, von diesen Birken. Zurückschauend und schaudern, dass ich an den Bilderrahmen rührte, während über mir das Wespennest – Schauen und schaudern: Ein Photo gibt es in dem Band, da schaut man über die Schultern der Zuschauer auf eine Zirkusmanege; und während ich noch schaue, bemerke ich mit schaudern, dass mich aus der linken Bildhälfte ein maskenhaftes Gesicht anschaut. Ein ähnliches Hin- und Her von Blicken in einem anderen Bild: da spiegelt sich ein Plakat von Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrring im Fenster eines Busses vor einem Bahnhofsgebäude. Passanten laufen daran vorbei und es bleibt unklar, ob man schaut oder angeschaut wird. Und auch hier spielt Feuerstein mit den Richtungen des Blickes: Gartenbier I Ob du noch da warst: Vielleicht in deinem Taschenspiegel. Zogst deine Lippen unter dem Baum ins Blutbuchenrote. Gartenbier II Das passte sich gut: der schwatzlastige Nachbartisch und dein schwarzlastiges Bier vor deinen Cowboyjeans. Zogst einen Spiegelrevolver. Für jemanden, der sich auf diese Bezüge zwischen den Texten / den Texten und den Bildern einlässt, gibt es viel zu entdecken in dem Band, dem ich viele Leser, und den ich vielen Lesern wünsche. © wasser-prawda 65 Will Bingley & Anthony Hope-Smith: GONZO. Die Grafische Biografie von Hunter S. Thompson. Mit einem Vorwort von Alan Rinzler. Übersetzt von Jan-Frederik Bandel. 80 Seiten, 17 x 24 cm. Tolkemitt Verlag. 18,00 EUR (D). Will Bingley & Anthony HopeSmith: GONZO. Die Grafische Biografie von Hunter S. Thompson Von Erik Münnich. Hunter S. Thompson wird „heute viel zu oft nur noch als eine Karikatur wahrgenommen […]: als menschenhassender, dauerzugedröhnter Freak mit einer Schreibmaschine.“ Die grafische Biografie dieses Mannes wage einen anderen Blick auf den Schriftsteller – „in seinem Balanceakt zwischen dem altbekannten Paar Genie und Wahnsinn, Schreib- und Drogenexzessen, zwischen Fakten und Fiktion.“ Ganz auf ging dieses Vorhaben allerdings nicht – dennoch ist diese Graphic Novel ein lesenswerter Versuch, diesem oft gedeuteten und selten angemessen gewürdigten Allrounder der US-amerikanischen Literatur näherzukommen. 66 © wasser-prawda © wasser-prawda 67 Die Anekdoten über Hunter S. Thompson füllen Bücher und zeichnen das Bild eines Autors, welches sich auf folgende Schlagworte reduzieren ließe: Waffennarr, Alkoholiker, Kiffer und LSD-Konsument; Hell’s Angels, Nixon, Gonzo, Alter Ego Raoul Duke und schlussendlich Suizid. Diese Zuschreibungen tragen dazu bei, einen Mythos zu begründen, der abseits seiner Texte ent- und besteht, den Blick auf den Literaten und seine Arbeiten verstellt und darüber hinaus eine vermarktungsfähige Gegenposition begründen soll – ob als Gegenchronist der US-amerikanischen Gesellschaft, als Rebellion gegen literarische bzw. journalistische Standards oder, vereinfacht ausgedrückt, als eine Alternative zum vermeintlich allgegenwärtigen Mainstream. Eine Darstellung abseits dieser scheinbar allgegenwärtigen Klischees würde zeigen, dass Hunter S. Thompson sehr viel mehr ist als das. Hier setzt, ließe sich unterstellen, GONZO. Die Grafische Biografie von Hunter S. Thompson an: Wer ihn nur so kenne, „der hat keine Vorstellung davon, dass Hunter in seiner besten Zeit ein sehr ernsthafter, hart arbeitender Schriftsteller war, der über jedes einzelne Wort nachdachte und es sorgsam auswählte, der sich an jedem Satz abquälte, an seinem Inhalt, den verschiedenen Bedeutungsschichten, dem Rhythmus, der unnachahmlichen Stimme, dem Witz und der Schärfe“, schreibt sein langjähriger Lektor Alan Rinzler im Vorwort. Und: „Hunter hätte der Schwergewichts-Champion der amerikanischen Literatur werden können.“ Damit trifft er den Kern, bleibt aber leider bei diesen immer wieder bemühten Bildern stehen: den auf Grund der Eigenarten Hunter S. Thompsons zu erwartenden Komplikationen während des Arbeitsprozesses, deren Verbindung zu Alkohol- und Drogenexzessen sowie der Bedeutung der Verfilmungen seiner Arbeiten für das von ihm gezeichnete Bild u. a. – befremdlich wirkt hier vor allem die Betonung der Bedeutung seiner Arbeit als Lektor, fast so, als wären die vier bedeutendsten seiner Werke nicht ohne seine Hilfe möglich gewesen. Neues oder Unbekanntes, was im Stande wäre, das kritisierte Bild zu verändern, liefert er nicht – die Gleichsetzung zwischen Protagonist (Raould Duke vs. Dr. Gonzo) und Autor ist hier vielmehr viel zu deutlich angelegt; ein Versuch übrigens, der die Auseinandersetzung mit Texten oft auf abseitige, weil nicht mit literarischen Fragestellungen kompatible Wege lenkt und dabei selten für diese relevante Aussagen erbringt. Wird nun noch die Reduktion des für Graphic Novels üblichen Formats – wodurch die Lektüre erschwert wird – berücksichtigt, sind alle Mängel benannt. GONZO. Die Grafische Biografie von Hunter S. Thompson bildet das Leben eben jenes in den 60er und 70er Jahren ab, wobei bezüglich dieses „Projekts“ vor allem der künstlerische Ansatz zu betonen ist: eine Annäherung an, eine Auseinandersetzung mit diesen/m Autor, seinem Leben und Werk. Nicht nur die Einbindung zahlreicher Zitate des Schriftstellers – welche dieser „Biografie“ eine gewisse Nähe, Authentizität verleihen –, sondern auch die Verbindung mit einem Format, das für Darstellungen dieser Art ganz sicher nicht ungeeignet ist, schaff t Anreize, sich mit seinen Arbeiten auseinanderzusetzen – und damit das überlieferte Bild zu korrigieren. 68 © wasser-prawda Stanislaw Lem: Professor A. Donda. Aus dem Polnischen von Klaus Staemmler. 87 Seiten. Insel Verlag. 13,95 EUR (D.) Mater semper certa est – Die Mutter ist immer sicher. Die Wundersame Geschichte des Professor A. Donda. Eine Rezension von Kris n Gora. Bereits drei Jahre bevor am 25.07.1978 in Oldham bei Manchester Louise Joy Brown als erster in vitro gezeugte Mensch das Licht der Welt erblickte, schrieb der polnische Autor Stanislaw Lem seine eigenen Vorstellungen bezüglich eines Retortenbabys nieder. In einem etwas unordentlichen Gemeinschaftslabor werden Schleimhautzellen der „Frau, die Dondas Vaters war“, einer Navaho-Mestizin, für Versuche künstlicher Befruchtung benutzt und mit ihnen die Eizelle einer russischen Spenderin befruchtet. © wasser-prawda 69 „Verlage, die mich in einer mit Sciencefiction etikettierten Schublade eingeschlossen haben, taten dies hauptsächlich aus merkantilen und kommerziellen Gründen, denn ich war ein hausbackener und heimwerkelnder Philosoph, der die künftigen technischen Werke der menschlichen Zivilisation vorauszuerkennen versuchte, bis an die Grenzen des von mir genannten Begriffshorizontes.“ Lem in Riskante Konzepte 70 Bekanntlich kann Wissenschaft ja nicht einfach zurückgenommen werden (siehe Atombombe etc.) und so entsteht aus diesem Experiment der berühmte Professor A. Donda, der Titelheld der Geschichte. Aber das ist natürlich noch nicht die ganze Geschichte. Die befruchtete Eizelle wird durch Gerichtsbeschluss vor dem Tod im Inkubator gerettet und einer freiwilligen Austräger-Mutter eingepflanzt, die wiederum in einen Anschlag verwickelt wird und im Gefängnis landet, sodass die Schwangerschaft von einer Philanthropin fortgesetzt wird, die dann eine Frühgeburt erleidet. Ein großes Rätsel der Wissenschaft und ein unendlich seltsamer Zufall: Jede Menge weibliche Beteiligte, aber das Y-Chromosom kam nun eigentlich woher genau? Allein mit der Schilderung dieser „Zeugung“ wird die Erzählung Professor A. Donda zu einem Lesevergnügen, das von der InselBücherei zu Recht mit einer Einzelausgabe gewürdigt wurde, die in keinem gut sortierten Bücherregal fehlen sollte. Ursprünglich wurde die Geschichte auf Deutsch erstmals 1978 in der erweiter- © wasser-prawda ten Ausgabe der Sterntagebücher sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland veröffentlicht. Ein Zyklus, der vielfach übersetzt und in Auszügen auch verfilmt wurde. Stanisław Lems Bücher wurden bisher in 57 Sprachen übersetzt und erreichten eine Auflage von mehr als 45 Millionen. Und das alles nicht ohne Grund. Lem hat ein Form der Science-Fiction begründet, von der man behaupten möchte, sie sei näher an der Science als an der Fiction, was natürlich angesichts der dem Leser entgegensprühenden, blühenden Phantasie ziemlicher Blödsinn, aber doch ein Versuch sei, diesen Texten, ohne den Stempel eines Genres aufzudrücken, gerecht zu werden. Science-Fiction oder Wissenschaftsphilosophie? Sicher ist es für den heutigen Leser nicht einfach, sich die prognostische Leistung von Lems Texten zu vergegenwärtigen. Wir haben es hier mit einem Denker zu tun, der nicht nur Wissenschaftsgeschichte schrieb, bevor sie Geschichte wurde. Während für uns so einiges zum uns umgebenden Lebensraum geworden ist, war es für Lem noch naturwissenschaftlich-technisches Wissen mit unglaublich viel Phantasie und Forscherdrang zur Zukunftsvision gepaart. Bei aller Phantastik aber stets im Rahmen der menschlichen Vorstellungskraft und seines Begriffshorizontes. Kleine Gedankenspiele, die einen wissenschaftsphilosophischen Hintergrund für eine intelligente, humorvolle und anregende Prosa bilden. Wir haben es hier mit einem Literaten zu tun, der mit viel Humor und Liebe für Details, die Möglichkeiten der schriftstellerischen Kunst auslotet und uns die Geschichte des Professor A. Donda dicht und vom Zufall streng motiviert erzählt. Die geschilderten Geburtsumstände bilden freilich nur den Anfang der Lebensgeschichte des eigenartigen Professors. Die Entdeckung seines Lebens ist der Beweis, dass Informationen eine Masse haben und dass es „eine kritische Masse von Informationen“ gibt, „wie es eine kritische Masse Uran gibt“. Ist diese kritische Masse erreicht, so beginnt eine Kettenreaktion und alle Informationen verschwinden. Leider glaubt niemand dem Herrn Donda, so dass der Untergang der Zivilisation die einzige logische Konsequenz bleibt. Hatte Stanislaw Lem, der einen Ehrendoktor von Informatikern erhielt, Angst vor der informatorischen Sintflut? 1996, in der Wiegezeit der zivilen, kommerziellen Nutzung des Internets, sagte der Schriftsteller, dass er selbst lieber bei Büchern und Journalen bliebe. Im gleichen Atemzug sah er die großen Copyright-Debatten unserer Gegenwartspolitik kommen. Literatur mit Relevanz. Etwas, das heute kaum jemand an erster Stelle dem Genre der Science-Fiction zuschreibt. Deutlich bleibt aber, dass wissenschaftliche Prosa selten so viel Freude bereitet, wie bei der Lektüre von Stanislav Lems Professor A. Donda. In der Insel-Bücherei ist nun eine neue, erstmals illustrierte Einzelausgabe der Erzählung erschienen. Unter der Leitung von Henning Wagenbreth hat die Klasse für Buchgestaltung und Illustration an der Universität der Künste im Rahmen eines Illustrationswettbewerbs Entwürfe für diese Ausgabe angefertigt. Ausgezeichnet und gedruckt wurden die Zeichnungen von Benjamin Courtault, der mit dreifarbigen Drucken 10 Doppelseiten, den Umschlag und mehrere Seiten mit Randzeichnungen gestaltete. Professor A. Donda ist seine erste publizierte Illustrationsarbeit. Die Übersetzung aus dem Polnischen hat Klaus Staemmler geleistet, das Nachwort Matthias Reiner verfasst. © wasser-prawda 71 Rainald Goetz: JOHANN HOLTROP. Abriss der Gesellschaft. 343 Seiten. Suhrkamp Verlag 2012. 19,95 EUR (D). Rainald Goetz – Johann Holtrop Eine Rezension von Kris n Gora. Mit einem treffsicheren Fingerspitzengefühl piekst Rainald Goetz in seinem aktuellen Roman in eine Sprachblase nach der anderen. Er zeigt, was Menschen mit ihrer Sprache machen und wie die Sprache die Menschen macht, wie Wirtschaft oder Kunst mit Sprache erklärt und geschaffen werden. Eine große konstruierte Wirklichkeit. Besser als jede Reality-TV-Sendung, denn hier wird die Wirklichkeit zur Show. Die Figuren der erzählten Welt des Johann Holtrop geben ununterbrochen den „normalen Nulltext“ von sich, den „Text, den alle kannten.“ Die Wirtschaft wird zum großen verbalen Wenn-Dann-Geschäft. Der Roman kreist um einen internationalen Medienkonzern und dessen Vorstandsvorsitzenden Dr. Johann Holtrop, der als GlobalPlayer dem Unternehmen mit geschickten Verhandlungen und Zukäufen mittels Krediten einen Wachstumsschub ermöglicht. Eine Wirtschaftsblase, die mit dem Zusammenbruch der Investmentbranche nach dem 11. September platzt. Für das eigentliche Kerngeschäft hat Holtrop keine Interesse und auch so ziemlich keine Ahnung davon, wie man ein Unternehmen saniert. Als es eng wird, ist der Vorstandschef zu echten Taten nicht in der Lage. Denn nur eines konnte Johann Holtrop wirklich: reden. Und das macht er auch die ganze Zeit. Entweder textet er seine Untergebenen sinnlos selbstdarstellerisch und machtdemonstrierend zu oder er redet mit sich selbst. Jeder Gedanke scheint ihm Gold wert, Stoff für ein Buch oder einen Vortrag. Wie er sich freute, „wie gut das klang, was er in Interviews und Porträts schriftlich zu sagen be- 72 © wasser-prawda kam, was er angeblich gesagt hatte.“ Eine journalistische Blase über den ohnehin schon hohlen Worten von Holtrop. Dass so ein Leben bedacht auf und bestehend aus Außendarstellung, medialer Resonanz und ständiger Selbstvergewisserung bei mangelnder Kompetenz nicht glücklich und zufrieden wie bei Fallada in der Gartenlaube enden kann, liegt auf der Hand. Und so stirbt der Selbstdarsteller während seiner letzten Performance, seiner letzten verzweifelten Machtdemonstration, weil er sich mal wieder verzockt hat. Mit einem Schritt wollte er sich rechtzeitig vor dem herannahenden Zug retten und rutscht dann aus. Das Ende eines Lebens ohne Sicherheitsabstand. So gemein es auch ist, mit dem Ende einen Roman schmackhaft zu machen, so sehr eignet es sich in diesem Fall doch dazu. Für die Lektüre definitiv eine Schlüsselstelle und ein Grund, auf jeden Fall noch über den Roman zu schreiben, auch wenn die meisten sich schon dem Programm der nahen Leipziger Buchmesse zuwenden. Aber Mainstream wollen wir hier ja auch gar nicht sein. Keine Blasen produzieren und schreiben, was wir morgen schon nicht mehr lesen wollen. Schlechte Kritiken seien gut für ihn aber schlecht für das Buch, sagte Rainald Goetz im Interview mit der Zeit. Dem ist nur zuzustimmen, weshalb hier der Debatte eine etwas andere „- es ist ja nicht so, Lesart hinzufügen war. Viele schrieben darüber, was der Roman dass Rainald Goetz hätte sein können/ sollen/ müssen. Sie beschreiben, dass alle auf „den Roman“ von Rainald Goetz gewartet hätten, beschreiben sein an der Form Roman Scheitern an der Fiktion um gleichzeitig mit dem gespielten who- gescheitert wäre, es ist is-who-Spiel wieder das Gegenteil zu wollen. Diskussionen, die vielmehr so, dass Raidem Buch selbst nur wenig gerecht werden. So tragisch der Absturz des Vorstandsvorsitzenden Dr. Johann nald Goetz vorführt, Holtrop doch klingen mag, so wenig Tragödie finden wir im Text. Ein Erzähler, der seinen Abriss der Gesellschaft – so der Untertitel wie eine Welt scheides Romans – mit den Worten „Wütend schritt ich voran“ einlei- tert, die sich immer tet, verleiht seiner Wut in einem zunehmenden Erzähltempo, vorschnellen Urteilen über die Figuren und einer Sprache Ausdruck, mehr in einen Rodie dicht und gleichzeitig auch leer ist. So wie man einen wut- man verwandelt.“ schnaubenden, rotanlaufenden und leere Phrasen brüllenden Chef in Film und Literatur so gerne dargestellt sieht, über den man am (Georg Dietz, Spiegel-onEnde nur noch lachen kann, wie auch kleine Kinder ihre schimp- line 14.9.2012) fenden Mütter so gerne mit einem Lächeln beglücken. Rasant und unglaublich witzig. Ein Roman, von dem man sich durchaus selbst ein Bild machen darf und definitiv sollte. © wasser-prawda 73 Odile Endres: Drei Gedichte Odile Endres Odile Endres (Jg. 1957) studierte an den Universitäten Aix-en-Provence (Lettres Modernes) und Heidelberg (Germanistik, Romanistik, Computerlinguistik). Literarisch debütierte sie 1995 mit „Rendezvous mit Künzle“. In den folgenden Jahren widmete sie sich vor allem der Internet-Literatur, in der sie Wort, Bild, Klang und Programmcode zu einer Synthese zusammenführte. Seit 2005 lebt sie in Mecklenburg-Vorpommern, wo sie als Dozentin für Schriftkompetenz an der Universität Greifswald lehrt. Ihr Schwerpunkt entwickelte sich in den letzten Jahren hin zur Lyrik und Lyrik-Performance. 2008 wurde ihr bei der 11. Lyrikmeisterschaft des Landes MecklenburgVorpommern der 2. Preis der Jury zugesprochen, 2009 erhielt sie den Publikumspreis. Im Juni 2009 gründete sie gemeinsam mit Silke Peters und Irmgard Senf in Stralsund die Lesebühne tEXTRAbatt, eine Plattform für Poesie-Performance. 2012 qualifizierte sie sich für eine Einladung zum Lese- und Gesprächsabend „Lichtes Rauschen“, der ersten Veranstaltung einer neuen Reihe für Lyrikerinnen und Lyriker des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Internet-Literatur und Blogs: http://www.odile-endres.de: Das Cyku des Tages und andere Lyrik- und Text-Projekte http://w w w.cyberprosa.de: Internet-Literatur, Papier-Literatur, Lyrik im Cyberspace 74 sorgenbus der sorgenbus fährt jetzt täglich. zu jeder tages- und nachtzeit. der zus eg ist überall möglich, man braucht sich nur an die straße zu stellen: daumen nach unten und der bus stoppt. für eine atmosphäre der angst ist gesorgt. jeder ist berech gt, das mikro zu nehmen & sich die sorgen vom herzen zu versen in einer art sorgenslam der busfahrer trägt ohropax besonders beliebt sind die nacht kurse es spricht sich besser bei einer not-beleuchtung orangnes flackern in düster gezackten abständen gibt das rich ge höllen feeling es ist auch erlaubt zu schweigen angenehmer aber ist das leise sorgengespräch mit den kummer sitz kollegen jeder der einsteigt verpflichtet sich alles was geverst wird vertraulich zu behandeln natürlich darf auch geweint werden besonders beliebt sind die nacht fahrten jeden letzten samstag im monat wenn per abs mmung die sorgenmeister gewählt werden der rekord waren sechzig präzise getaktete sorgen in einer minute also eine sorge pro sekunde der sorgenslam ist für manche der höhepunkt des ganzen monats andre fahrn lieber in den morgenstunden wenn die sorgen allmählich müde © wasser-prawda werden & auch den sorgenmachern den somnambulen die augen zu fallen wenn die ersten licht pixel in der finsternis am horizont aufscheinen wenn die dinge durchsich g werden und zu flirren beginnen wenn die schicksale für einen wimpernschlag der elendszeit in der schwebe bleiben wenn der bus für einen hellen zeitspli er lang hinüberfährt in die andere zone aber fast immer bleibt der bus auf der strecke der wirklichkeit die ihm bes mmt ist & selten kehrt er mit einer leerfahrt zurück. (2009) wir waren am ende der welt angelangt aber das schicksal der erde bekümmerte uns wenig uns war das eigene abhanden gekommen wir hörten die stecknadeln fallen ihre köpfe schimmerten meerblau vielleicht waren sie daran schuld dass wir nicht mehr wegkommen würden von jenem ufer der langsamkeit wo die fische mit ihren goldaugen uns zuflüsterten wenn wir versuchten die zeichen von wasser und sand zu verstehen als die pipelines das haar der meerjungfraun durchschni en und ihr methanblut am strand verströmten wachten wir auf und merkten dass wir zu lange geträumt ha en (2008) © wasser-prawda 75 PUTBUSLUST ach putmusbuse busputmuse musbuspute mutbuspuse mutpusbuse putbusmuse ah putbussucht putbusbucht putbuswucht putbuskuss putbusbus putbusnuss putbussstuss putbusmousse putbuswust putbusfrust putbuslust oh kutbuspunst busputkunst nuskutpunst putkussbunst putkussbrunst busputdunst PUTBUSKUNST 76 (2010) © wasser-prawda „Manuskripte brennen nicht.“ Michael Bulgakow Voller Trotz schleudert der russische Dichter diese Worte der Stalinistischen Kulturpolitik ins Gesicht. Religiöser oder politischer Fanatismus hat immer wieder Menschen ihrer kulturellen Identität zu berauben versucht. Von den Zeiten des Alten und Neuen Testaments über die Antike, von der Inquisition, der Reformation zum Wartburgfest 1817, über Bücherverbrennungen unter den Nationalsozialisten, die Chinesische Kulturrevolution, die Roten Khmer, von Aktionen fanatischer „Christen“ in den USA bis jüngst nach Timbuktu zieht sich die Brandspur. Wer sich im Besitz der einzigen gültigen Wahrheit glaubt, will die Andersdenkenden und -glaubenden zwingen, sich ihrer Weltsicht anzuschließen. Doch: So sehr sie sich auch mühen, sie können Bücher verbrennen, sie können Menschen erschlagen, sie können versuchen, ihre kulturelle Identität zu zerstören. Was sie nicht können, ist, die Literatur zu verbrennen. Denn Bulgakow hat Recht, wenn er den Teufel in seinem Roman „Der Meister und Margarita“ dem Meister das den Flammen entrissene und unversehrte Manuskript mit den Worten zurück gibt: „Manuskripte brennen nicht.“ Andreas Kaufeldt und Raimund Nitzsche © wasser-prawda Am 10. Mai 1933 gab es Bücherverbrennungen in: Berlin Bonn Braunschweig, Bremen, Breslau, Dortmund, Dresden, Frankfurt am Main, Gö ngen Greifswald Hannover Hannoversch Münden Kiel, Königsberg Landau Marburg München Münster Nürnberg Rostock Worms Würzburg 77 78 © wasser-prawda Carl Sternheim (1878-1942) Carl Sternheim wurde 1878 in Leipzig geboren. Ab 1900 lebte er als freier Schriftsteller. Bekannt wurde er vor allem durch seinen Dramenzyklus „Aus dem bürgerlichen Heldenleben“, in dem er ebenso wie in seinen Novellen das Bürgertum - und die Sprache desselben - einer scharfen Kritik unterzog. Bevor er 1912 nach Belgien übersiedelte, gehörte Sternheim in München zur Boheme um Frank Wedekind. Nachdem seine Werke von den Nationalsozialisten verboten wurden, starb er nach langem nervlichen und psychischem Leiden 1942 in Brüssel. Werke: in Auswahl: „Aus dem bürgelichen Heldenleben“ (Dramenzyklus 19081923): Die Hose, Der Snob, 1913, Das Fossil, Die Kassette, Bürger Schnippel Carl Sternheim - Napoleon Napoleon wurde 1820 zu Waterloo im Eckhaus, an dem sich die Steinwege nach Nivelles und Genappes trennen, geboren. Sein Kinderleben verließ historischen Boden nicht. Über die durch Hohlwege gekreuzten Flächen, auf denen des Kaisers Kürassiere in Knäueln zu Tod gestürzt waren, gingen seine Soldatenspiele mit Gleichalterigen. Sie lehrten ihn ewige Gefahr, Wunden und Sieg. Zwölf Jahre alt, nahm er von Kameraden beherrschten Abschied, sprang zum Vater in die Kalesche, fuhr nach Brüssel hinüber, wo er vor ein Gasthaus abgesetzt wurde. In der Küche des Lion d‘or lernte er Schaum schlagen, Fett spritzen, schneiden und schälen. Gewohnter Überwinder der Kameraden auf weltberühmter Walstatt, ließ er auch hier die Mitlernenden hinter sich, war der erste, der die © wasser-prawda Chronik von des zwanzigsten Jahrhunderts Beginn, Novellen (1918) Europa, Roman (1919-1920) Vorkriegseuropa im Gleichnis meines Lebens, Erinnerungen (1936) Sternheim nahm seine 1915 erschienene Novelle „Napoleon“ 1918 in den ersten Band seiner „Chronik von des zwanzigsten Jahrhunderts Beginn“ auf, der wir hier folgen. 79 Geflügelpastete nicht nur zu des Chefs Zufriedenheit bereitete, auch nach Gesetzen zerlegte. Er selbst blieb von allen Speisenden der einzige, den der Vol-au-vent nicht befriedigte; doch nahm er Lob und ehrenvolles Zeugnis hin, machte sich, siebzehnjährig, auf den Weg, betrat an einem Maienmorgen 1837 durch das SanktMartins-Tor Paris. Als er auf einer Bank am Flußufer die strahlende Stadt und ihre Bewegung übersah, wurde ihm, was er in Brüssel geahnt hatte, zur Gewißheit: Nie würde er aus den allem Verkehr fernliegenden Küchenräumen die enge Berührung mit Menschen, die sein Trieb verlangte, finden. Tage hindurch, solange die ersparte Summe das Nichtstun litt, folgte er Kellnern in Wirtschaften gespannten Blickes mit inniger Anteilnahme; verschlang ihre und der Essenden Reden, Lachen, Gesten. An einem hellen Mittag, da eine Dame Trauben vom Teller hob, den ihr der Kellner bot, trat er in die Taverne auf den Wirt zu, empfahl sich durch Gebärden, flinken Blick als Speisenträger. Nun brachte er Mittag- und Abendmahl für alle Welt herbei. Von beiden Geschlechtern kam jedes Alter, jeder Beruf zu seinen Schüsseln, sättigte sich. Unermüdlich schleppte er auf Tische, fing hungrige Blicke auf, satte, räumte er ab. Nachts träumte er malmende Kiefer, schlürfende Zungen, ging anderen Morgens von neuem im Bewußtsein seiner Notwendigkeit ans Tagwerk. Allmählich sah er Unterschiede des Essens von schmatzenden Lippen ab, kannte den gierigen, weitgeöffneten Rachen des Studenten, durch den Bissen in ein nie gestopftes Loch fielen, unterschied den Vertilger eines nicht heißhungrig ersehnten, doch regelmäßig gewohnten Mahles von jenem Überernährten, der sich ungern zum Tisch niederließ, gelangweilt Leckerbissen kostete und zurückschob. Prägte die kauende, trinkende Menschheit in allen Abstufungen sich fest und bildhaft ein. Durch Kennerschaft wurde er ihr Berater und Führer; wies Hungrigen feste Nahrung, bediente die Satten mit Schaum und Gekröse; von ihm zu allen Tischen lief ein Band des Verständnisses. Hob der Gast die Karte, fiel von Napoleons Lippen der gewünschten Speise Name. Jahrelang blieben die seine Lieblinge, deren leibliche Not die Kost stillen sollte. Ein saftiges Stück Fleisch, von kräftigen Zähnen gebissen, schien ihm die gelungenste Vorstellung. Doch machte er Unterschiede zwischen Sorten. Ließ er Kalb und Lamm im Hinblick auf ihre festere Zusammensetzung gelten, war ihm Wild, Geflügel wenig sympathisch. Von Fischen, Austern und Verwandtem hielt er der lockeren Struktur wegen nicht das geringste. Inbegriff guter Nahrung war ihm das Rind. Unwillkürlich sah er die Begegneten beim Hin- und Heimweg auf ihre Muskulatur hin an. Die schienen ihm wohlbereitet, die über straffem Knochenbau gedrängte Materie trugen. Magere verachtete er, die mit losem Fett Gepolsterten waren ihm verhaßt. Einem gut aufgesetzten Körper folgten seine Blicke zärtlich, zerlegten ihn in gigots, selle, côtes und Kotelettes. In der Einbildung streute er Pfeffer und Salz hinzu, garnierte, schnitt, servierte das Ganze mit passendem Salat; dann 80 © wasser-prawda lächelte das junge Gesicht, hingerissen ahnte er nicht, in welcher Zeit er lebte; unterschied Sommer, Winter, Trokkenheit, Regen, Überfluß und Notdurft nicht, wußte nur: dies freut den Gast! Immer hitziger wurde sein Trieb, dem zu Bedienenden sättigende Kost zu bieten. Gewürz und Zutat sah er nur in dem Sinn, wie sie die bestellte Speise fest und ausdauernd machten. In seine Vorstellung bildete sich des leeren Magens Raum, in der er Nahrung aus Beton baute. Ging der Gesättigte, der schlappen Schrittes gekommen war, wuchtig zur Tür hinaus, hing Napoleons Blick, als sei dessen Lebendigkeit sein Werk, an dem Schreitenden. Er brauchte, vor sich bestehen zu können, das Bewußtsein schöpferischer Tat, steigerte es zur Überzeugung, ohne ihn und seine Pflege sei der Betroffenen Lebensarbeit unmöglich. Die festzustellen, merkte er der Gäste Namen; nahm an ihrem Vorwärtskommen teil. Es geschah, als er am freien Tag durch Wege der Versailler Parks schritt, in der Einbildung, er habe gerade eine riesige Wurst mit Höchstwerten menschlicher Nährstoffe gestopft und schnitte den Wartenden Scheiben herunter, daß aufschauend sein Auge zu einem jungen Weib fiel, das ein Kind am entblößten Busen hängen harte. Gebannt blieb Napoleon stehen, prägte sich das Bild rosiger, geblähter Rundheiten an der Frau und dem Säugling in aufgetane Sinne. War das eine Apotheose seiner Träume von kraftvoller Nahrung und ihrem besten Verbrauch! An die Nährende hätte er niederfallen, durch Umschlingung ihres und des Kindes Leibes am erhabenen Vorgang teilnehmen mögen. Das Bild verließ ihn nicht, veranlaßte ihn, flüssigen Stoffen gesteigerte Aufmerksamkeit zu schenken; dann hob es den Wert der Frau, der bis heute ihrer geringen Lust zum Essen wegen für seine Welt nicht groß gewesen war, sich jetzt aber gut ins große Bild tafelnder Menschheit einordnete. Zum erstenmal besah er das Mädchen an der Anrichte, dem er bisher nur den kräftigen Gliederbau bestätigt hatte, immer eindringlicher, als prüfte er es auf gewisse ihm einleuchtende Möglichkeiten. Er fand, sie nähme zuviel leichtes Zeug als Nahrung, belade sich mit Geblasenem und Aufgerolltem, das im Magen zu einem Nichts zusammenfiele, warnte vor Klebrigkeit und Süßem, forderte sie eines Tages geradezu auf, mit ihm ein Mahl zu nehmen, das bis ins kleinste von ihm zusammengestellt, in seinem Wert für sie erörtert werden sollte. Das Mädchen nahm des Mannes Kauderwelsch für Umschweif, willigte ein, und an einem der nächsten Tage gingen sie ein Stück über Land, traten in einen Gasthof ab. Dort verschwand Napoleon und erklärte zurückkommend der schmollenden Suzanne, er habe bis ins kleinste in der Küche vorgesorgt. Mit einem Ragout von Hammel in Burgunderweinsoße beginne man, gehe, falsche Vorspiegelungen verschmähend, geradezu auf ein wundervolles, halbblutiges Rindlendenstück, an das er englische Gurken und Zwiebeln habe braten lassen, zu. Als das Essen aufgetragen war, wies er sie, Bissen langsam zu kauen, ohne Zukost von Brot zu schlucken, ruhte nicht, © wasser-prawda 81 bis das letzte Stück auf der Schüssel vertilgt war, befahl ihr und sich ein Gläschen Schnaps zu besserem Bekommen an. Da sie nach Tisch im Grase lagen, breitete er Arme und Beine aus, riet ihr, Gleiches zu tun. Ein schmächtiger Bursche sei er gewesen, seine Gewebe nur durch vernünftige Nahrung, angemessene Verdauung fest und kräftig geworden. Dabei ließ er Muskeln der Arme und Waden durch Beugung zu kleinen Bällen schwellen, worauf sie, in der Eitelkeit gepackt, auch die Glieder spielen ließ, ihn zur Prüfung der festen Beschaffenheit einlud. Doch bestritt er alles von vornherein, meinte, bei ihrer bisherigen Ernährung sei es nicht möglich, forderte sie, in Zukunft nach seinen Vorschriften zu leben, auf. Dann werde, was nicht dasei, kommen. Er gefiel ihr. Der nüchterne Sinn machte Eindruck auf sie, sie bemühte sich, seine Erwartung zu erfüllen. Beim nächsten Ausflug blieb sie plötzlich stehen, bäumte den Arm, ließ seine Hände die Anschwellung fühlen. Doch kam durch Wochen nur ein Schnalzen von ihm, das ihr, sie sei auf rechtem Weg, bedeutete. Bis sie eines Tages beim Versuch, ein gelöstes Schuhband zu knüpfen, ihm ein so mächtiges Rückenstück entgegenhob, daß runde Anerkennung seinen Lippen entfuhr. Gleich lag sie an seiner Brust; bot ihm den Mund zum Kuß. Der Besitzer der Taverne starb, und Napoleon wurde des Speisehauses Inhaber. Er konnte schalten, wie er wollte, entfernte alle Spielereien von der Karte. Die gleichbleibende Kundschaft, er selbst und Suzanne waren gewichtige Personen, die eine Rede deutlich in den Mund nahmen, geworden. Es gab kein Getuschel in seinen Räumen, doch dröhnendes Lachen zu schallenden Worten. Forsches Zugreifen und Fortstellen. Überzeugte Meinungen, Entschlüsse für kühne Tat. Napoleons Vaterunser und Einmaleins hieß: in allen Molekülen drängende Kraft. Von Suzannes Kind, das sie von ihm unter dem Herzen trug, rechnete er, es müßte nach Menschenermessen ein Herkules werden. Des Hauses Ruf hatte sich verbreitet. Einer rühmte es dem andern, brachte ihn zu einem Versuch mit. Schließlich reichte der Raum, die Gäste zu fassen, nicht. Einen frei werdenden Stuhl besetzte gleich ein anderer Hungriger. Große Tagesumsätze wurden erzielt, immer bedeutendere. Verglich aber der Wirt zum Jahresabschluß Einnahme und Ausgabe, kam kaum ein Guthaben zu seinen Gunsten heraus. Anfangs, bevor er das Ziel seines großen Rufes erreicht hatte, ließ er es gehen; als der in Paris feststand, begann die schlechte Abrechnung ihn zu wurmen. Er war dreißig Jahr alt, hatte große Pläne, und schien Reichtum nicht seine letzte Absicht, mußte er mit dem übrigen kommen. Nochmals nahm er die Bücher gründlich vor und stellte fest, der geforderte Preis war in Anbetracht der hervorragenden Beschaffenheit und Menge der gereichten Speisen zu niedrig. Da ihm aber einleuchtete, er könnte der Konkurrenz wegen keinen Preisaufschlag eintreten lassen, sah er sich vor der Entscheidung, alles beim alten zu lassen oder des Gebotenen Qualität zu verschlechtern. Treu seinen Grundsätzen 82 © wasser-prawda entschloß er sich zu ersterem, stand aber den Essenden nicht mehr mit alter Unbefangenheit gegenüber. Bei jedem Filet, das der Kellner mit schönem Schwung zum Gast niedersetzte, stellte er den Vergleich zwischen Ware und erzieltem Preis an, kam dazu, daß eine Platte, je besser sie gelungen, je reichlicher sie serviert wurde, ihn um so mehr in qualvolle Erregung setzte. Besonders konnte er den Blick von einem Gast nicht wenden, der mit dem Gebotenen nicht zufrieden, Bedienung und Küchenbrigade durch anfeuernde Reden zu höchster Leistung gespornt hatte, wahre Fleischtrümmer, die er mit Mengen alles Erreichbaren würzte, vorgesetzt bekam. Dazu warf er Napoleon triumphierende, anerkennende Blicke zu, die diesen erbitterten, endlich zu heller Empörung brachten. Der Vielfraß war ein Kanzleibeamter, von dem besonderes Verdienst nie verlautet hatte, und der Herr des Gasthauses fragte sich, mit welchem Recht, für welches bedeutende Vorhaben der Betreffende solche Anforderungen für seinen Magen stellte. Man wisse zu welchem Zweck, schlänge ein Thiers, Balzac solche Mengen in seine Därme. Dieser Durchschnittsbürger aber schweife widerlich aus, garniere er den faulen Bauch täglich mit solchen Prachtfleischstücken. Überhaupt begann der Wirt des Veau à la mode, seine Stammgäste auf ihre Verdienste hin anzusehen, und stellte vor seinem Gewissen fest, keiner habe die Sorge, die man jahrelang an seine Ernährung gewandt hatte, durch Erfolge vergolten. So folgte er ihrem Schlingen mit scheeleren Blicken, und © wasser-prawda 83 als seines Grolls Maß aufs höchste gestiegen war, brüllte er eines Tages dem Hauptkoch, der über ein Tournedos ein volles achtel Pfund Butter goß, zu, ob er von Gott verlassen sei, ihn durchaus ruinieren wollte. Über alles das hatte er schlaflose Nächte, bis er sich zu fester Anschauung durchgerungen hatte: Die Mahlzeit hat ein Äquivalent der durch tägliche Arbeit verausgabten Kräfte zu sein. Und stellte den Blick seiner Kundschaft gegenüber auf Feststellung dieser Tatsache ein, fand, er könnte ruhigen Gewissens mit der Beschaffenheit, dem Maß der Portionen heruntergehen und leiste immer noch ein Mehr in den Magen der Speisenden. Auch Suzanne gegenüber, die ihm ein Mädchen geboren hatte und noch in derselben Stellung bei ihm war, nahm er diesen Standpunkt ein. Auf Grund seiner Erziehung war sie, ihren und ihres Kindes Körper mit ausgesuchter Eßware zu stopfen, gewöhnt. Jetzt wies er sie hin, Schande sei es, ungeheueren Nahrungsmengen, die sie genösse, ein so winziges Maß an Leistung gegenüberzustellen. Sie möge Leib und Geist mehr tummeln oder ihren Eßverbrauch einschränken. Damit hatte der Prozeß kein Ende in ihm. War gegen Mitternacht das Geschäft vorbei, das Haus leer, blieb er am Herd, begann, schmorend und bratend, Versuche mit Surrogaten, die er den Speisen beimischte, zu machen, von Überzeugung geführt, er habe das Recht und die Pflicht, es den Verbrauchern gleichzutun, die auch an Stelle persönlichen Wertes für das Menschengeschlecht falsches Vorgeben, hohle Gesten und Phrasen gesetzt hatten. Langsam begann er, seine theoretischen Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen. Äußerlich blieb alles, Name, Anrichtung der Speisen, beim alten. Bedachte er aber, wie ein Stück Fleisch durch Klopfen und Lockern der Atome geschwollen, durch Beimischung scharfer Gewürze Kiefer und Gaumen jetzt mehr durch Beize reizte, schmunzelte er, trieb die entdeckte Kunst zu größerer Vollendung. Da hatte er am Schluß des Jahres zwar die Genugtuung außerordentlichen Überschusses, fühlte aber, ihn befriedigten die Grundsätze, nach denen er heute Wirt sei, weder in bezug auf die Beschaffenheit der Gäste noch hinsichtlich der Mittel, die er, ihre Erwartungen zu erfüllen, anwandte. An einem Sonntagabend lief vor seinen Augen die Wendeltreppe zu Räumen im ersten Stock des Restaurants ein Persönchen empor, das mit Rockrüschen und Volants, ein Quirl über seiner Stirn hüpfte. Beine in weißseidenen Strümpfen nahmen zwei, drei Stufen auf einmal, bei jedem Satz federte der Körper hoch auf in Gelenken, dazu flogen Haare, Federn, Pelzwerk um den Kopf, empörtes Hundekläffen kam von ihrem vermummten Busen her. Mit einem Sprung schwang sie sich oben zu zwei Herren an den Tisch, rief klingenden Stimmchens: »Hunger!« Napoleon, der auf Zehen vor sie getreten war, durchfuhr‘s, hier sei seine ganze Speisekarte fehl am Ort, und während Röte sein Antlitz malte, schlug das Herz in hastiger, aussichtsloser Erregung Generalmarsch, was er diesem Püppchen bieten könnte. Als Madame Valentine Forain stellte sie einer der Herren vor, und Napoleons Unruhe wuchs, als er hörte, er habe die berühmte Tänzerin, die Paris seit Wochen bezauberte, 84 © wasser-prawda © wasser-prawda 85 vor sich. »Stillen Sie meinen Hunger mit Luft«, sagte sie, »die den Leib nicht beschwert. Sie sehen aus, als verstehen Sie Ihre Kunst. Diesem süßen Ungeheuer«, sie wies auf das safranrote Hundeschnäuzchen, das aus Spalten ihrer Taille schnüffelte, »reichen Sie ein Schälchen zerkleinerte Kalbsmilch.« Einen Augenblick blieb Napoleon auf dem Gang zur Küche im Dunkeln an einem Pfeiler stehen, als habe er einen Schlag an die Stirn bekommen, müßte sich zu neuem Leben sammeln. Gleich aber schoß die Stichflamme der Erkenntnis hoch, hier gelte es Zukunft, er spürte den aus Kämpfen der letzten Wochen gesammelten Willen zu gänzlich Neuem als Lichtmeer über sich fluten. An den Herd er glitt, schnitt, mischte, quirlte; hob es in kleinster Kasserolle nur eben ans Feuer, nahm‘s fort, als erster Wrasen stieg, und mit vier Sprüngen die ganze Treppe nehmend, servierte er das Schüsselchen in frühester Hitze: Taubenpüree mit frischen Champignons. Sie kostete, murmelte, schluckte und schlug ein Paar kornblumenblaue Augen zu ihm auf. Er stürzte in die Küche zurück, setzte den Herd in heißere Glut, ließ über eine Handvoll Spargelspitzen, die er den jüngsten Sprossen abgeschnitten, Dampf, in dem er sie gar kochte, schlagen. Im letzten Augenblick gab er eine Schwitze von Sahne und Sellerie auf das Ganze. Als drittes, letztes Gericht bot er frische, geschälte Walnüsse mit Himbeeren à la crème. Dem Hündchen hatte er Trüffeln an die Kalbsmilch getan. Nun stand er in der Nähe, sah, wie nach wenigen Bissen von jeder Platte die sanfte Röte auf ihrer Haut lag, der Körper sich tiefer in des Sofas Kissen drückte, ein Fauchen aus ihrem Mund, winzige Tropfen Feuchtigkeit aus den Augen kamen, ansagend, das zarte Leibchen ziehe Kraft aus dem Genossenen. Keiner der Herren sprach in diesen Augenblicken, da auf der Frau Antlitz andächtiges Lächeln lag, als sei es ausgemacht. Zitternden Zwerchfells lachte Napoleon, schütternden Leibes in heller Seligkeit dazu, bis die Augäpfel in Tränen schwammen. Er war mit ihm eins, lobte Gott in der Höhe! Die Begegnung wurde geänderten Lebens, neuer Ziele Anfang. Als er am gleichen Abend heimkehrend Suzannes kräftigen Leib in den Bettkissen fand, schnitt er der Schlafenden eine angewiderte Grimasse. Wütend deckte er ein freiliegendes Rundteil von ihr zu, schloß die Augen und träumte der Tänzerin behende Gestalt in Wolken Seide und Band. Vor seinem geistigen Blick prüfte er die schlanken Arme, schmale Hand, ihre zierliche Erscheinung und stellte fest, wie wenig fleischliche Person die Begnadete sei, wie geringer Kost sie zu künstlerischer Leistung, durch die sie eine Nation zum Entzücken hinriß, bedürfe. Für welche Tat sei der Leib neben ihm so aufgemästet, zu welchen Fortschritten brauchte er die täglichen mächtigen Rationen? Mit was für Gesindel habe er, Napoleon, sich bis über sein dreißigstes Jahr abgegeben, welchen steilen Weg zu lohnendem Ziel müßte er noch steigen! Er fühlte, keine Minute sei zu verlieren, alles Heil ruhe im Anschluß an die verehrte Gastin. So widmete er ihr vom zweiten Erscheinen sein Trachten und Vermögen. Dachte bis zu ihrem Kommen 86 © wasser-prawda nichts, als was er ihr vorsetzen, wie er ihre Erwartungen übertreffen müßte. Lief vom Markt in Hallen und Krämereien; suchte, tüftelte Frischestes, Zartes, Rarstes heraus. Zur Vorstellung ihres winzigen Kernes in einer Hülle von Tüll und Tand dichtete er aus Schaum, Krusten, Farce und Soßen das assoziierende Speisengebild; schabte, preßte in Tücher, seihte, überquirlte ein dutzendmal, bis, eine Wolke, das Gekochte schwebend zum Teller sank. Dann sah er es entzückt zwischen zwei leuchtenden Zahnreihen auf schmaler Zunge zergehen. Einst gönnte sie ihm ein Wort der Anerkennung. Ihm schien‘s ein Rauschen, hallte ihm lange im Ohr. Zum Schluß riet sie, das Stadtviertel des soliden Bürgers zu verlassen, jenseits des Flusses, mitten im Herzen des vornehmen Paris, ein Restaurant, das trotzdem jeder entbehrte, der an Küche und Keller höchste Anforderungen zu stellen gewillt sei, zu schaffen. Sie würde mit Freunden kommen; wollte seiner außerordentlichen Kunst Verkünderin sein. So geschah‘s. Nachdem er in einer Seitenstraße bei der Oper das passende Lokal gefunden hatte, verkaufte er die alte Wirtschaft mit Nutzen, ließ die Wände der gemieteten Räume mit weißsilbernen Malereien, die zum reichen Silber, der Wäsche der Tischreihen stimmten, zieren. Ein roter Teppich deckte den Boden. Kraft eines Schlagwortes, das auf und über die Boulevards flog, wußte Paris von der Existenz des Chapon fin, daß Kenner gewählten Bissens dort auf ihre Rechnung kämen. Vier Wochen nach Eröff- © wasser-prawda 87 nung ging die beste Welt, als habe sie nie einen anderen Ort des Stelldicheins gekannt, bei Napoleon ein und aus. Der Ruhm seiner Küche beruhte auf der leichten Platten Vorzüglichkeit. Man konnte ein Chateaubriand, Seile de chevreuil wie anderswo bekommen, doch wies der Maitre d‘hôtel den Gast mit Augenzwinkern auf des Hauses Spezialität: Muschelgerichte, Ragouts, Pürees in Pfännchen; Überraschungen in winzigen Schälchen und Kasserollen. Der Gast folgte und war regelmäßig zufrieden. Denn was der Herr des Hauses für die Tänzerin erdacht hatte, vervollkommnete, vermehrte er von Tag zu Tag. Schalentiere ließ er aus Krusten, Geflügel von Knochen brechen, nahm Gekröse vom Tier, von Gemüsen Spitzen. Frikassierte, mischte verblüffende Gegensätze, verband Widerstrebendes in Soßen von Sahne, kostbaren Eiersorten, Pilzen und duftenden Essenzen. Das letzte Geheimnis seines Erfolges aber war die »kurze Hitze«, in der die Speisen gar werden mußten. Oberster Grundsatz hieß: was zu lange Feuer gerochen, ist für den Ruch verdorben. Nach wie vor blieb Valentine die erste, die jede neue Schöpfung kostete. Zwischen ihr und dem Patron webte schöne Vertraulichkeit, geboren aus Blicken dankbarer Anerkennung, mit denen die Essende Napoleon nach jeder von ihm selbst angerichteten Platte beschenkte. Allmählich lernten sich die Augen sonst auch suchen, nach dem lauten Scherzwort eines Gastes, unzarter Bemerkung von irgendwoher, bei jedem Vorkommnis. Fühlten, wie es in der Blicktiefe des anderen ein Geheimnisvolles gab, durch das das eigene Schauen an feinen Häckchen schmerzvoll süß harangiert wurde. Dazu fuhr die Frau freundschaftlicher Würde ihm Beobachtungen und Anregungen mitzuteilen fort, die sie aus sich selbst, von anderen zur Vervollkommnung des Betriebes nahm. Auch fragte sie ihn, legte er die kostbare Pelzhülle ihr um die Schultern, nach dem praktischen Erfolg, und er war glücklich, ihr von Mal zu Mal eine höhere Summe als erzielten Gewinn zuflüstern zu können. Die Gefährtin seiner Lehrjahre und ihr Kind hatte er mit einer Summe abgefunden, aus seiner Nähe verbannt. Anfangs sah er sie noch hin und wieder, dann stand sie als Gleichnis der Hausmannskost und kleinbürgerlicher Umstände im Schrank seiner Erinnerungen. Auf den Rat seiner Gönnerin widmete er der Zufriedenheit jener Frauen Aufmerksamkeit, die nach dem Theater in kostbaren Toiletten in Begleitung von Lebemännern aßen. Er merkte ein Besonderes, eine Laune der Betreffenden, spielte das nächste Mal vertraut freundschaftlich darauf an. Das Luxusgeschöpf sieht vom ernsten Mann sich ernst genommen, errötet vor Vergnügen, wird seine treue Kundin. Neben dieser Kategorie und ihrem Anhang stellte er sich Diplomaten und Staatsmännern zur Verfügung, indem er ihnen, kamen sie mit wichtigen Gesichtern von einer Sitzung, um zu einer Sitzung zu gehen, ein stilles Eckchen anwies, wo sie ungestört blieben; nicht duldete, daß sich ein Kellner näherte, sie für Augenblicke durch ausgesuchte Leckereien der Bürde ihrer Verantwortlichkeit enthob. Da er aber fühlte, im Umgang mit Spitzen politischer Abteilungen ging ihm aus Unkenntnis ihres Wirkens und Wollens die nötige 88 © wasser-prawda Sicherheit ab, lud er sie in ein abgelegenes Zimmer, durch dessen Wand er ihre Gespräche von seinem Kontor hören, ihre Mienen beobachten konnte. Da lernte er, durch welche Spitzfindigkeiten und Umschweife aus Eifersucht und Ehrgeiz der Handelnden strittige Fragen zwischen politischen Parteien des Vaterlandes oder den verschiedenen Nationen, aus logischem Gelenk gerissen, zu Entscheidungen wurden, die Zwischenfälle, Krisen, ein Mißtrauensvotum für das Ministerium hervorriefen. Er sah Frankreichs Führern ihr Stirnrunzeln, das ironisch überlegene Lächeln, die knackende Handbewegung, die ein Ultimatum bedeutet, ab, hörte sich in die inner-, außerpolitischen Strömungen vollkommen hinein. Bald konnte er dem eintretenden Minister, Attaché oder Abgeordneten so treffende Anmerkung zur gerade wichtigen Affäre zuzuraunen wagen, daß der einen bedeutenden Eindruck von ihm bekam und weitergab. Doch auch des galanten und Geschäftslebens Kenntnis verschaffte sich Napoleon durch seine Horchspalte, sah er verliebten Paaren, feilschenden Geldleuten angespannter Aufmerksamkeit zu, bis sich die in Erregung aufgesperrten Kiefern krampften. Am erregendsten blieb es, verließ ein Teil des Paares für Augenblicke das Zimmer, und der Zurückbleibende, sich allein glaubend, verlor alle Haltung, wurde Mensch mit seinen Hoffnungen und Sorgen, zählte die Barschaft in der Brieftasche oder suchte durch Prüfung der zurückgebliebenen Kleidungsstücke des anderen auf dessen wirkliche Lebensumstände zu schließen. Kurz, der Wirt des Chapon fin wurde Kenner, der in der Menschheit Unbewußtsein hinabsah. Binnen Jahresfrist lag ihm Paris zu Füßen. Er beherrschte es als gütiger Fürst durch Kenntnis seines Magens, lächelte, als man ihn zaghaft, vereinzelt, dann allgemein König Napoleon im Gegensatz zum Kaiser nannte. Rührung und Glück aber ergriff ihn, als Valentine das erstemal seine Hand drückte. Das war Beweis nicht nur geschäftlichen Erfolges, doch erreichten gesellschaftlichen Ansehens, da die Gefeierte einen unter ihr Stehenden nicht vor aller Welt so ausgezeichnet hätte. Nun wuchs er von Tag zu Tag mehr in eine überlegen menschliche Haltung hinein, die veranlaßte, daß auch der höchstgestellte Gast ihm die Hand gab, gutgelaunt auf die Schulter klopfte. Für den Mann der Provinz wurde es bei der Rückkehr in die Heimat Glanzstück des Berichtes der in der Hauptstadt erlebten Abenteuer, konnte er nicht nur bemerken: Ich habe beim »König« gespeist, doch hinzusetzen: der mich auf die Schulter schlug und fragte: »Nun, Baron, wie wäre es mit einer Boule au jus tutu?« Als er von einem fremdländischen Herrscher das erste Ritterkreuz erhalten hatte, dessen violette Rosette er am gleichen Abend im Knopfloch trug, forderte Valentine ihn auf, sie am nächsten Tag um fünf Uhr nachmittags aufzusuchen. Er erschien nach schlafloser Nacht, dem ruhelosesten Morgen, fand sie im Raum auf der Erde, wo sie mit dem Hund balgte. Sie sprang hoch, steckte das entfesselte Haar auf, saß ihm in niedrigem Sessel so nah gegenüber, daß er das vergötterte Antlitz vor sich hatte, es sich zum © wasser-prawda 89 erstenmal andächtig einprägen konnte. Sie machte keine Bewegung, ließ ihn sich satt sehen. Dann gab sie die Hand, die er inbrünstig küßte. Sie selbst war einfacher Herkunft, ehrte Tüchtigkeit, die ihm seinen außerordentlichen Platz verschafft hatte. Umgehend mit Männern vornehmster Geburt, fesselte sie an ihn das Band gleicher Vergangenheit, bei ihm durfte sie Gefühle, die ihren Freunden fremd waren, voraussetzen. In die Erzählung der Mühsale auf steilem Weg zum Erfolg vertieften sie sich, sprachen mit kräftig eindeutigen Worten, genossen mit kicherndem Sich-lustigMachen die Schadenfreude, die sie für die Welt, über die sie jeder auf seine Art herrschten, empfanden. Napoleon kramte seine kleinen Geheimnisse, Mittel vor ihr aus, mit denen er sich in der oberen Tausend Vertrauen geschlichen hatte; erzählte von seiner durchsichtigen Kontorwand. Sein Vertrauen erwidernd, gab sie ihm ihres Aufstieges Hauptdaten, nannte drei, vier Männer, denen sie als Frau und Künstlerin verpflichtet war, zeigte, vor ihm tanzend, durch welche choreographischen Einfälle sie die Menge bezwungen hatte. Schwebte, bog sich ohne Ziererei, und da sie im leichten Hausrock war, wurde er durch Zufälle im Rock- und Kleiderfall entzückt. Zum Schluß, einen Csárdás hinreißenden Rhythmusses stampfend, kam sie aus des Zimmers entfernter Ecke auf Zehen gegen ihn, das Bein bei jeder Taktsenkung wie einen bohrenden Pfeil gegen sein Antlitz streckend. Bei seinem zweiten Besuch wurde sie mit reizender Natürlichkeit seine Geliebte. Diese Frau, die Männern das Bild eines buntschimmernden Vogels von phantastischer Seltenheit, blasierter Ungeduld zu genügen, hatte geben müssen, war an seinem Hals das schlanke Mädchen aus dem Volk. Es bedurfte nichts Außerordentlichen von seiner Seite, der Umarmten Sehnsucht zu stillen. Doch blieb bei dem mannigfachen Glück, das sie sich gaben, die gassenbübische Art, mit der sie alle offizielle Welt verhöhnten, höchster Genuß. Napoleon war darin unerschöpflich. Größen der Geldwelt, Sterne der Wissenschaft und Kunst stellte er in gedrängter Plastik hin, knickte mit witzigem Einfall das Pathos ihrer Geste. Berühmte politische Personen ahmte er nicht nur in Tonfall und Haltung nach, doch auch, wie er in der Betroffenen Art durchsichtige Tatsachen mit riesigem Wortschwall in ein Chaos verwirrte. Während sie ihm vorgebeugt zusah, führte er dramatische Szenen zwischen Botschaftern zweier Staaten auf, in deren Verlauf die beiden, sich über unsagbare Nichtigkeit unsagbar aufgeblasen unterhaltend, an die Stelle verbindlichster Umgangsformen steifere Haltung, schroffere Bewegungen setzten, bis sie, zwei schmollende Gockel, hochmütig auseinanderstelzten. Er erzählte, mit welchen Torheiten und Zufällen das Schicksal der Gesetzesvorlagen in den verschiedenen Kommissionen, die nach offiziellen Sitzungen bei ihm fortgetagt hatten, sich entschieden hatte; sie gab ihm Einsicht in abertausend Spitzfindigkeiten, die die auf Liebe gestellte Frau der Gesellschaft anwendet, sich Launen und Lust, am öffentlichen Leben teilzunehmen, zu erfüllen. Wie oft habe sie ihre Gönner aus Eigensinn zu unsinnigen, folgenschweren Entschlüssen bestimmt, Reportern, die ihr 90 © wasser-prawda das Haus einliefen, phantastische Lügen aufgebunden! So reinigten sie sich, das Thema unaufhörlich variierend, von dem Respekt, den proletarische Herkunft ihrer Jugend auferlegt hatte, wurden lächelnde Verächter feiner Lebensformen und guten Tones, den sie wie den Stil in einem Drama von Corneille, einer Molièreschen Komödie agierten, während ein herzliches Wort, menschliche Bewegung aus ihrer Liebe ihnen immer gleichnishaft gewärtig war. Im Geschäft dehnte Napoleon die Herrschaft, die er auf Franzosen besaß, auf die übrige Welt aus. Er hatte London, Petersburg, Wien gesehen, Verbindungen angeknüpft und befestigt, manche Anregung mit heimgenommen. Sein Haus wurde an der Themse und Donau berühmt, bei Sacher und Claridge fand man Platten »Au Chapon fin«. Es scheiterte auch sein Vormarsch an die Newa nicht wie der seines unsterblichen Namensvetters. Als der fünfzigste Geburtstag vor der Tür stand, war sein Ruhm über zwei Erdteile verbreitet, der größere Teil zivilisierter Menschheit aß nach seinen Einfällen und Vorschriften. Er besaß ein fürstliches Einkommen, hatte die kluge, ihn anfeuernde Frau, zu der die Beziehungen nicht legitimiert waren, die er aber leidenschaftlich, zärtlich liebte, an der Seite. Da man vierzehn Tage vor seinem Fest vom Krieg mit Preußen zu sprechen begann, die Gäste seine Meinung wollten, blieb er lächelnd ruhig, verneinte jede Möglichkeit eines Ausbruchs von Feindseligkeiten. Er wußte aus besten Quellen, kein ernsthafter Politiker glaubte an Krieg, war gewiß, es handelte sich wieder um die Prestigefrage, das sattsam bekannte Händeknacken, schmollende Gockeltum. Auch als die Regierung unter frivolem Vorwand die Schiffe hinter sich verbrannt hatte, blieb Napoleon in tiefster Seele ruhig. Er, der wußte, hohe Politik wird gemacht, ein paar tausend Ehrgeizigen in jedem Land Vorwand für eine Karriere zu geben, ihren Heißhunger nach öffentlichem Bekanntsein und Sensationen, mit denen ihr Name verknüpft ist, zu befriedigen, war überzeugt, man werde diesen Wichtigtuern Genugtuung geben, indem man sie mit Titeln, Orden, Auszeichnungen so reichlich, daß sie satt werden mußten, fütterte. Was Frieden bedeutete. Einen Willen der Völker stellte er nicht in Rechnung. Er hatte gelernt, es wird nach Gutdünken der Regierung mit ihnen verfahren. Sie sind es gewöhnt, wissen und wollen nichts anderes. Sagen heute zu schwarz schwarz, morgen zu schwarz weiß. Es genügt, ihnen zuzurufen: Das Vaterland ist in Gefahr! Sie fragen nie: Durch wen im letzten Grund? Lassen sich bewaffnen, morden jeden beliebigen als Erbfeind, erst zögernd, dann mit Überzeugung und Hochrufen. Valentine gab ihm recht, verspottete alles, Regierende und Regierte. Verbreitete Erzählungen, die der Diplomaten Albernheit in fabelhaftes Licht setzten, militärische Maßnahmen des Generalstabes dem Gelächter preisgaben. Beide griffen mit Wollust nach jedem Gerücht, in dem eine großartige Dummheit manifestierte, fütterten, hätschelten es und waren vor Freude außer sich, akzeptierten es selbst die mit feierlichem Ernst, die seine Sinnlosigkeit aus übergeordneter Stellung sofort hätten einsehen müssen. Mehr als der Friede gab ihnen der Krieg Gelegenheit, der Welt blöde Einfalt auf Schritt und © wasser-prawda 91 Tritt zu erkennen, sich über sie zu erheben. Die einfache Tatsache, sie sahen durch Einsicht in politische Zusammenhänge die Lügenhaftigkeit aller Vorwände für den Krieg ein, gab ihnen Unabhängigkeit von ihm. Sie konnten sich, während alle Welt in das Auf und Ab der Geschehnisse tiefer verstrickt wurde, auf Grund wirklicher Überlegenheit von den Menschen trennen. In ihre Seele trat das Bewußtsein höherer Bestimmung, das sich in den Antlitzen malte. Sie lebten und webten über gemeinem Volk auf Wolken. Lächelten zu Unglücksfällen und Exzessen, die die Folgezeit in schnellem Aufeinander brachte. Des Vaterlandes vollendete Katastrophe führte sie auf den Gipfel innerer Erhebung. Nicht nur die Mitbürger lagen ihrer erkannten Weisheit, Napoleon und Valentine lagen einander, jeder sich selbst bewundernd, zu Füßen. Eines Tages trat auf in Paris, was man die Kommune nannte, zerschlug die Spiegelscheiben des Chapon fin, zertrümmerte Gerät im Innern, setzte Valentine und Napoleon, jeden für sich, ins Gefängnis. Als es nach Wochen Napoleon sich zu befreien gelang, erfuhr er, seines Lebens Gefährtin sei, an die Wand gestellt, erschossen. Ihm fielen die Beine unter dem Leib fort, tagelang schleppte er sich aus Gassen in Felder an Flußrändern entlang, ohne Licht und Finsternis scheiden zu können. Erstes Bewußtsein empfing er durch einen Stoß vor die Brust, den ihm ein deutscher Landwehrmann gab. Doch schwand es wieder, bis ihn eines Nachts auf einer Pritsche Erinnerung an Valentine überfiel. Sie war rosa und wie eine tanzende Girlande anzusehen, die 92 © wasser-prawda sich enger um ihn schlang, ihm erste Träne, Tränenströme aus den Augen schnürte. Nun sank er hin, aufgelöst in ein weiches, warmes Weh. Lange erschütterte es seine Glieder, hüllte Welt in feuchte Schleier. Es trat aber der Vergleich seiner jetzigen elenden Lage und des Gewesenen hinzu, füllte ihn mit Haß gegen Menschheit und Schöpfer. Tiefer kroch er in sich, häufte Anklage auf Anklage gegen die Welt. In dunkler Nacht stand er vor den mit Brettern vernagelten Fenstern seines Lokals – noch hafteten des Schildes goldene Buchstaben –, und in das Loch plötzlich riesengroßer Erkenntnis fiel die Summe fünfzigjährigen Lebens: blankes Nichts und Einsamkeit. Trotz und Empörung stachelten ihn zu neuem Tun. Gegen der Verhältnisse Ungunst wollte er Mittel zu neuem Anfang zu schaffen versuchen; des gleichen Abends aber legte er sich nieder, spürend, seine Natur leide nicht, daß man sie um das, was ihr vor allem wichtig sei, bestehle: hingebende Trauer um Valentine. So suchte er einen Platz, der tägliches Brot gab. Früh am Nachmittag aber schloß er sich in seine Kammer, stopfte Fenster, Schlüssellöcher, legte sich aufs Bett und begann, die Frau von den Toten heraufzudichten. Nachdem er sie bis in die kleinste Einzelheit körperlich vor sich wiederhergestellt hatte, ging er sein Leben mit ihr von frühestem Anbeginn durch. Um keinen Augenblick ließ er sich betrügen, repetierte die einzelne Situation so oft, bis sie lebendiger Wahrhaftigkeit vor ihm stand. Jene erste, da sie, ein Quirl mit Rüschen und Volants über seiner Stirn, die Treppe hinaufgehuscht war. Beine in weißseidenen Strümpfen nahmen zwei, drei Stufen auf einmal, er sieht sie im Gelenk flitzen, und da – das aber hat er damals nicht gesehen erscheint blitzend am Knie die goldene Strumpfbandschnalle. Wahrhaftig, als Wirklichkeit dauerte, hatte sie sein Bewußtsein vor Schauen und Staunen nicht gefaßt. Heute, beschworen durch seine unwiderstehliche Zärtlichkeit, erstand sie das erstemal zum Leben. So drang er weiter in Erinnerung, entriß ihr, mit Hingebung und Andacht um ein Nichts, das Bruchteil einer Sekunde kämpfend, soviel Nichtgespürtes, Nichterfahrenes, daß er mit der Gestorbenen ein neues, reicheres Leben führte. Als er bei jener Epoche, in der sie ihr irdisches Leben beendet hatte, angekommen war, brachte er sie leicht über des leiblichen Todes Klippe in jetzige Zeit hinüber, sah sie zu seinem augenblicklichen Dasein Stellung nehmen. Er müßte, da die Verhältnisse sich wieder zur Ordnung fügten, den sinnenden Zustand aufgeben, an äußeres Fortkommen, neue bedeutende Einstellung zu neuen Umständen denken. Hatte der Krieg ihm nicht tiefere Einblicke in Fragen der Ernährung, Möglichkeiten der Rohstoffverarbeitung als jede Situation vorher gegeben? Welche außerordentlichen Aufschlüsse hatte die zweckmäßige oder unzweckmäßige Ernährung eines Heereskörpers, der Bevölkerung einer belagerten Stadt, welche Klarheit des eigenen Körpers Befinden nach dieser oder jener leiblichen Zumutung verschafft! Das mindestens war klar geworden: Weit über die Notdurft hatte der Mensch vor dem Krieg gegessen und getrunken. Es schien Napoleon ein Unding, das bisher übliche Mittagsmahl von sechs oder sieben Platten, ein Abendessen von © wasser-prawda 93 fast gleichem Umfang anzurichten. Millionen hatten größere Arbeitsleistung, höheren Schwung bei einem Stück Brot, wenigen Kartoffeln als Generationen bei einer täglichen Unzahl von Gerichten bewiesen. Es schien, die gewonnenen Erkenntnisse dem Publikum praktisch zu zeigen, hohe Pflicht. Er gab Valentine recht. Sie habe nicht nur dem eigenen Leib nie mehr als das Notwendige zugemutet, sei auch, daß er den Gästen Leichtestes und Verdaulichstes geboten hatte, Anlaß gewesen. Doch in viel zuviel Platten auf einmal. Von jetzt ab müßte er in zwei, drei Gerichte, was der Magen zur Speisung des Organismus brauchte, zusammendrängen, ihm zugleich eines reichlichen Mahles volle Wollust vermitteln. Während er die am Leben gebliebenen Gönner aufsuchte und zu seiner Unterstützung vermochte, die lange leer gebliebenen Räume seines alten Heims in strahlenden Stand gesetzt wurden, unterrichtete er sich methodisch über der verschiedenen Nahrungsmittel wissenschaftliche Zusammensetzung, ihren Gehalt an Eiweiß, Kohlehydraten, Fett. Machte Tabellen, Exempel über Exempel, errechnete an glückseligen Tagen eine neue ideale Speisekarte, auf der er jeden, auch den verführerischsten Namen einer Platte durch Zahlen ersetzen konnte; aus der man mittels zweier Speisen einen ausreichenden Nenner sämtlicher für die Ernährung wichtigen Stoffe erzielen konnte. Hatte anfangs Notwendigkeit, die gewollten Einheiten in ein Gericht unterzubringen, auf dessen gastronomische Vollkommenheit gedrückt, ging Napoleons Phantasie auf Spaziergängen der erklügelten Platte von allen Seiten zu Leib, wie ihre Schmackhaftigkeit und Anrichtung auf höchste Höhe zu bringen sei. Und da ihm Hitze des Entdeckerglückes ein über das andere Mal ins Gesicht stieg, fixierte er Gerichte, mit denen er künftige Menschen aus der Schwächung durch den Krieg zu frischem Leben führen wollte. Der Erfolg war an der wiedereröffneten Stelle nicht wie das erstemal überraschend. Schon nach wenigen Tagen stellte der Wirt, er hatte es mit Unbekannten zu tun, fest, die nicht Empfehlung, aber Zufall und Laune zu ihm geführt hatte. Der Kreis seiner alten Gäste war vom Erdboden getilgt. Doch stählte die Erkenntnis seine Kräfte, da ihm einleuchtete, die Neulinge brachten keine Voreingenommenheit auf Grund liebgewordener Gewohnheiten mit. Er verließ die Küche Monate nicht, wo er mit Anspannung aller Kräfte die gewonnenen Grundsätze in Tat umsetzte. Vor allem mußte er die Köche von der Richtigkeit seiner Ansichten überzeugen, daß ihnen nötige Herzenslust zur Arbeit nicht fehlte. Erst als unten die Wirtschaft geregelten Gang ging, betrat er des Restaurants Räume wieder, suchte Fühlung mit den Gästen. Vom Ton zwischen ihnen und den Kellnern war er betroffen. Es gab keine Unterhaltung über zu wählende Speisen, keinen Scherz, kein Hin und Wider. Kurze Kommandos flogen. Der Bedienende, geneigten Hauptes stumm, machte kehrt. Man aß schnell, ließ sich nicht mit Behaglichkeit nieder. Kaum, daß man die Kissen drückte. Zur Verdauung gab sich niemand Zeit. War der 94 © wasser-prawda letzte Bissen gegessen, fuhr der Gast auf und verschwand. Rote Köpfe, fettgeränderte Lippen, müde Scheitel, die sich in Sofarücken lehnten, Hände, mit geschwollenen Adern aufs Gedeck gebreitet, sah Napoleon nicht mehr. Es wehte kein Atem glückseliger Sattheit nach Tisch und des Dankes gegen Gott und den Wirt durch den Raum. Steif und gereizt saß der Kauende, vermied, von sich fortzusehen. Das war kein geänderter Kundenkreis, war das Gesicht einer anderen Welt, erkannte Napoleon. Es war klar: andere Ideale herrschten in neuen Menschen. Der Krieg hatte die Machthaber von gestern vernichtet. Nicht mehr die Glieder alter Familien saßen an seinen Tischen, die in jahrhundertelangem Ringen Ansehen, Vermögen an sich gebracht hatten, es zu brauchen wußten; er bediente nicht mehr die dreifache Aristokratie des Adels, ererbten Reichtums und des Geistes. Hier trat eine Rasse auf, die durch den Umsturz aller Verhältnisse an die Oberfläche gespült, behend zugegriffen, in allgemeiner Verwirrung, bei der Besitzenden sentimentaler Erschlaffung, sich bereichert hatte. Den Sack voll Gold, saßen sie unkundig seines Verbrauches, gierig, sich der Wissenden Haltung anzueignen, elend und leer mit der Geste schweigender Abwehr. Stumm und in der Bewegung beherrscht, konnten sie für unterrichtet gelten. Sprachen sie, wurde Wirken der Glieder notwendig, klappten sie zu völliger Ohnmacht zusammen. Nachdem er eingesehen hatte, der Gäste Zurückhaltung sei in einem Zuwenig begründet, ließ er die beherrschte Unterwürfigkeit, ging langsam, eindringlich zum Angriff gegen die maskierte Gesellschaft vor, brach, ein Dieb, gepanzerte © wasser-prawda 95 Unnahbarkeit, legte ein harmloses Sätzchen als Köder vor und amüsierte sich göttlich, ließ sich der geschmeichelte Heraufkömmling aufs Eis überkommener Begriffe locken, legte eine erbarmungswürdige Blöße an den Tag. Hatte er jemandes Vertrauen hinter undurchdringlicher Maske gewonnen, ließ er den Getäuschten das eigene Selbstbewußtsein ausbreiten, das sich fast immer auf alberne, mit Emphase vorgetragene Gemeinplätze über den Krieg, Heldentaten, die der Betreffende während des Feldzuges vollbracht haben wollte, stützte; dann kamen Napoleons Einwürfe aus des Herkommens Schatz, Namen ausgezeichneter Menschen der Vergangenheit, bedeutender Erfindungen, einer Geistesgroßtat. Am höchsten hüpfte sein Herz, konnte er durch einen einzigen Kulturbegriff, den er dem Gegner als spitzen Pfeil in die Parade flitzte, diesen bis auf die Haut entlarven. Nun fing des Abends im Bett ein Gekicher an, das grausamer und schonungsloser als jenes Lachen mit Valentine über Narrheiten einzelner Zeitgenossen vor dem Krieg war. Hier fand Napoleon eine Welt närrisch; ihren einzigen Ehrgeiz, Geldgewinn und Beurteilung des Menschen nach seiner Eignung dazu, über das Maß abgeschmackt, kahl. Während die Geschäfte noch gut gingen, sah er die Kluft zwischen moderner, merkantiler Weltauffassung und dem eigenen Universalismus sich auftun. Ergriffen spürte er, wie er zum erstenmal von Valentine sanft sich schied. Er wußte, auch für die schrecklich veränderte Welt hätte sie gutmütigen Spott gehabt, in ihm aber kam von Tag zu Tag Empörung, die ihn beherrschte, stärker herauf. Ihm schien, die fröhliche Überlegenheit, die mit Valentines fortschreitendem Alter friedlicher und harmloser geworden war, hätte ihn in der letzten Zeit ihres Lebens gereizt. Hatte sie nicht, nachdem man sich ausgelacht, immer Entschuldigung, Güte für den Verspotteten gehabt? Er war, sie würde es heute nicht anders machen, gewiß, sie möchte zur Nachsicht noch geneigter sein, und zürnte ihr. Je mehr seine Abneigung gegen das Publikum wuchs, je hassenswerter ihm die Erscheinungen wurden, um so mehr schob er Valentine den unbeugsamen Willen zu, alles zu begreifen, zu vergeben. Täglicher Kampf, unaufhörliche Auseinandersetzung mit der Welt einerseits, dem lebendigen Bild der geliebten Frau auf der anderen Seite, der ihn zermürbte und elend machte, begann. Doch blieb allen Einwendungen gegenüber sein dumpfer Haß siegreich. Jahre hindurch hatte er nichts mehr von Freundlichkeiten und Lieblichkeiten geselligen Lebens bei sich gesehen. Der Sinn für Blumen, Überraschungen, Tollheiten, geistreich Unvorhergesehenes war geschwunden; nicht mehr gab es die über das Mannesbewußtsein als Spenderin alles Glückes erhöhte angebetete Frau. Kein Lachen herrschte mehr, Verschwenden, nicht Laune, Überlegenheit. Wohin er hörte: Geschäfte. Zahlen, wohin er sah. Das Dach des Hauses schien auf ihn zu stürzen, als ihm eines Tages ein Gast, kühl und korrekt, an dem er sich mit witziger Bemerkung gerieben hatte, ein Goldstück als Trinkgeld bot. Da lief das zum Rand gefüllte Gefäß über. Von jenem Abend grub sich bis zum anderen Morgen eine Falte zwi- 96 © wasser-prawda schen seine Brauen, Lippen preßten sich aufeinander. Er hatte für der Gäste gute Bedienung nicht nur keine Teilnahme mehr, genoß mit Schadenfreude ein Glück, sah er über die angerichtete Speise Enttäuschung in einem Antlitz. Schnell ward den Kellnern, Köchen sein geänderter Sinn offenbar. Sorgfalt und Gewissen floh. Immer häufiger gab es der Essenden unzufriedene Gesichter. Unbewegter Miene schlürfte der Wirt jedes Quentchen Wut, dessen Ausdruck er erhaschte, berauschte sich daran. Ganz nach vorn wuchs sein Gesicht. Stechenden Blickes, geblähter Nase schnüffelte er sich in das Empfinden der neuen Welt; trank, wie bitter es schmeckte, sie aus und spürte zum anderen Mal als Entscheidung: in dreißig Millionen Narren besaß die Nation nur noch einen Sinn: das Geld, und jeder, dem der Erwerb geglückt war, war im eigenen und allgemeinen Urteil Person. In Napoleons Auffassung ein Räuber, Scheusal, das während des Krieges die Anarchie der Vernunft benutzt hatte, den durch Überlegenheit und © wasser-prawda 97 Mühsale in Generationen erworbenen Familienbesitz des Landes an irdischen und himmlischen Gütern zu zerstören. Es kamen die Häuptlinge der neuen Geldaristokratie zu ihm. Fett, frech, verlegen stümperten sie mit ihren Weibern Geselligkeit. In Napoleons Hirn stieg der Gedanke an Gift, das ihnen in die Speisen zu mischen sei. Bald machte er sich im Denken breiter, beherrschte sein Trachten ganz. Von irgendwoher hatte er sich das Quantum Arsenik, das ihm seit einigen Tagen in der Tasche brannte, verschafft, es als harmloses Gewürz in die Teller zu streuen, abzuwarten, bis die Wirkung, die in Eingeweiden wühlte, ins Auge brach. Glut stieg ihm ein über das andere Mal in die Haare, bis er fühlte, im nächsten Augenblick widerstände er dem ungeheueren Verlangen nicht mehr. Da riß er die Tür zur Gasse auf, und barhäuptig im Galopp, als wälzten sich Lavaströme auf seinen Fersen, entlief er der Straße, dem Stadtviertel, der Bannmeile von Paris; sank draußen ins Feldgras, schluchzte, daß die Knochen bebten, schluchzte sich und die Erde naß. Er zog Landstraßen entlang, durch Märkte, Städte. Blieb aus Zufall Monate, Jahre als Aufwärter, Hausknecht, Gelegenheitsarbeiter. Sein Weltbild wurde auf gleicher Basis runder. Überall sah er die vom Kampf ums Dasein betäubten Massen, von rücksichtslosen Unternehmern an Kessel und Maschinen geschmiedet, Waren verfertigen, für die aus Mangel an Absatz über kurz oder lang durch neue Kriege mit neuen Hekatomben zerfleischter Menschen neue Abnehmer in zu erobernden Provinzen gewonnen werden mußten. Hellen Bewußtseins trat er aus diesem Lauf der Geschicke aus, riß den Gedanken an Erwerb aus seiner Seele, erlaubte sich keinen Besitz über die Notdurft. Das von aller Welt gesonderte Dasein gab ihm Person und Überlegenheit; Mangel an Eigentum, Unabhängigkeit und freie Bewegung. Von einem Tag zum andern hatte er durch einen einzigen Entschluß Verfügung über sich und die Welt nach allen Seiten gewonnen, erlöstes Lachen trat in sein Gesicht. Jetzt, wo er stand und ging, war er Zuschauer der menschlichen Komödie, an der er, weil durch eigene Qual nicht mehr verbunden, gutmütige Kritik übte. Da war es, daß er sich Valentines vergessenem Andenken wieder innig vermählte, der er, wie er sich gestand, während seine Vernunft ihre Einflüsse bekämpfte, ahnend nachgefolgt war. Eines Tages stand er vor jenem Eckhaus, an dem sich die Steinwege nach Nivelles und Genappes treffen; in dem er geboren war. Niemand kannte ihn dort. Alles Verwandte war tot. Als zwölfjähriger Knabe war er fortgegangen, der Wiedergekehrte zählte fünfundsechzig Jahre. Doch wußte man seine Geschichte im Wirtshaus. Erzählte Grandioses, Historie von ihm. Mehr war dieses heimischen Napoleons Erfolgen die allgemeine Teilnahme und Bewunderung als dem Korsen zugetan. Man wies ihm, der sich nicht zu erkennen gab, gerahmte Zeitungsnachrichten, in denen es hieß, wie Außerordentliches in verschiedenen Zeitläuften von ihm ausgerichtet war – »und angerichtet«, 98 © wasser-prawda wie ein Witziger hinzufügte. Länder samt ihren Fürsten, die zivilisierte Welt habe von West nach Ost dem flamischen Bauernsohn zu Füßen gelegen. Mit nachdenklichem, gerührtem Erstaunen hörte Napoleon die mannigfachen Erzählungen, entsann sich der Kreuze und Sterne an rotgrünen, an gestreiften Bändern, die in einer Schublade lagen. Am Rand des unvergleichlichen Wälderkranzes, der Brüssel einsäumt, liegt an der Straße von Quatre-bras nach Waterloo in einer Talsenkung das Schlößchen Groenendael; ein weißes einstöckiges Haus aus dem Empire. In vergangenen Zeiten Abtei, wurde es im neunzehnten Jahrhundert Wirtshaus, in das Brüssels bessere Bürger auf Ausflügen einkehren. Dort, nah der Stätte seiner Geburt, nahm Napoleon Platz als Kellner. Seine Jahre, schwache Füße erlaubten angestrengten Dienst nicht mehr. Hier war im Winter nichts, im Sommer an Wochentagen wenig zu tun. Nur sonntags mußte er sich ein wenig tummeln. Doch nahmen die Gäste seiner Rücksicht, blickten ihm neugierig entgegen, trug er das hochbeladene Brett auf sie zu. Jeder hatte ein Wort, dem er freundliche Empfindung unterlegte, für ihn; alle Anrede begann mit Umschreibung, Entschuldigung. Nicht, was er brachte, wie er‘s ausführte, blieb Gegenstand teilnehmender Aufmerksamkeit, gutmütigen Staunens, und stand das Gewünschte auf dem Tisch, strahlte ihm alles Anerkennung zu. Doch auch Napoleon lachte in heller Befriedigung. Der Wirt und seine Familie merkte der Gäste Gefallen an dem alten Mann, behandelte ihn mit Rücksicht, ließ ihn ungescholten Tage hinbringen. So kam kein Mißlaut mehr von außen in sein Leben, das im ruhigen Gleichmaß ging. Den Frühling sah er, Gottes himmlische Wärme in bestimmten Abschnitten über die Erde kommen, auf Hügeln Buchen grünen, Kühe über die beblumte Wiese weiden. Menschen aller Art wandelten zu allen Jahreszeiten in schönem landschaftlichem Panorama vor ihm. Lange sah er sie als deutliche Figuren mit Lärm und eigener Bewegung, dann als scharfe Schatten. Allmählich lösten sie sich in umgebende Natur auf. Die sich in seine Seele als vollkommenes Gemälde spannte, das er mit Andacht schaute. War Sonne mild, trat er unter Bäume, blickte Warmes an, das um ihn summte. Dort strahlte ein Vogel lange dasselbe Lied; dann flog er, Licht, zum andern Baum hinüber. Hier putzte das Eichhorn sich schnurrig geduldig zum Goldbraun der Stämme, Blindschleiche kroch mit dem Schatten ins Helle und züngelte. Dann faltete Napoleon die Hände, stieß entzückte Seufzer aus, legte sich lang ins Gras. Den Blick zum Himmel aufgeschlagen, hatte er gesamte Schöpfung, Ton, Raum und Licht mit eins in der Netzhaut. An Vergangenheit, Macht, Ehre, Leid und Elend, häusliches bürgerliches Wesen, dachte er nicht mehr. Manchmal tätschelte er die Kuh, den Hund und wußte nichts dabei. Er wurde gar sehr schwach. Das war ihm eitel Wollust. Als die letzte, größte Schwäche kam, war er gut und fromm. © wasser-prawda Gemälde von Christian Rohlfs (1849 - 1938) • • • • • • • • • Der Zecher (1921) Gauner (1918) Gasse in Ehringsdorf bei Weimar (1893) Kirche in Soest (1912) Gelbes Haus mit rotem Dach (c. 1913) Winterlandschaft (1900) Berg (1912) Hügellandschaft mit tiefstehender Sonne (c. 1911) Erlinger See (c. 1911) Das Porträt von Carl Sternheim stammt von Ernst Ludwig Kirchner. 99 Ernst Toller (1893 – 1939) Ernst Toller wurde 1893 in Samotschin, Provinz Posen, geboren. Er wurde er vor allem als Dramatiker bekannt. Nach der Niederschlagung der Münchner Räterepublik entkam er nur knap der Todesstrafe. Nach seiner Haftentlassung wurde er mit expressionistischen Gedichten und Dramen bekannt. Mit seiner Geschichtsrevue „Hoppla, wir leben!“ eröffnete 1927 die Piscator-Bühne in Berlin. Auf der Ersten Ausbürgerungsliste des Deutschen Reichs 1933 befand sich auch sein Name. Völlig mittellos floh Toller ins Ausland. 1939 nahm er sich in New York das Leben. Werke: Hoppla, wir leben! Das Schwalbenbuch (1924) Eine Jugend in Deutschland (1933) 100 © wasser-prawda Ernst Toller - Kindheit Beginn des ersten Kapitels von Tollers 1933 erschienener Autobiografie „Eine Jugend in Deutschland) Friedrich der Große erlaubte meinem Urgroßvater mütterlicherseits als einzigem Juden in Samotschin, einer kleinen Stadt im Netzebruch, sich anzusiedeln. Mein Urgroßvater bezahlte eine Summe Geldes, dafür ward ihm der Schutzbrief eingehändigt. Auf diesen Akt war der Urenkel stolz, er sah darin Auszeichnung und adlige Erhöhung und prahlte damit vor den Schulkameraden. Mein Urgroßvater väterlicherseits, der aus Spanien gekommen sein soll, besaß ein Gut im Westpreußischen. Von diesem Urgroßvater erzählten die Tanten, daß ihm das Essen auf goldenen Schüsseln und Tellern gereicht werden mußte und seine Pferde aus silbernen Krippen fraßen. Die Söhne verkupferten erst die Krippen, dann versilberten sie die Schüsseln und Teller. Vom sagenhaften Reichtum des Urgroßvaters träumte der Knabe: Die Pferde fraßen den alten Mann, und er sieht zu, ohne Abscheu und ohne Mitleid, eher mit einem unerklärlichen Gefühl der Befriedigung. Auf den Dachböden des Hauses verstaubten riesige vergilbte Folianten. Sie hatte der Großvater bei Tag und oft bei Nacht studiert, während die Großmutter im Geschäft stand, die Käufer bediente, Wirtschaft und Küche versah. Dieses Geschäft übernahm mein Vater, nachdem er als Primaner und Apotheker versagt hatte. Samotschin war eine deutsche Stadt. Darauf waren Protestanten und Juden gleich stolz. Sie sprachen mit merklicher Verachtung von jenen Städten der Provinz Posen, in denen die Polen und Katholiken, die man in einen Topf warf, den Ton angaben. Erst bei der zweiten Teilung Polens fiel die Ostmark an Preußen. Aber die Deutschen betrachteten sich als die Ureinwohner und die wahren Herren des Landes und die Polen als geduldet. Deutsche Kolonisten siedelten ringsum in den flachen Dörfern, die wie vorgeschobene Festungen sich zwischen die feindlichen polnischen Bauernhöfe und Güter keilten. Die Deutschen und Polen kämpften zäh um jeden Fußbreit Landes. Ein Deutscher, der einem Polen Land verkaufte, ward als Verräter geächtet. Wir Kinder sprachen von den Polen als »Polacken« und glaubten, sie seien die Nachkommen Kains, der den Abel erschlug und von Gott dafür gezeichnet wurde. Bei allen Kämpfen gegen die Polen bildeten Juden und Deutsche eine Front. Die Juden fühlten sich als Pioniere deutscher Kultur. In den kleinen Städten bildeten jüdische bürgerliche Häuser die geistigen Zentren, deutsche Literatur, Philosophie und Kunst wurden hier mit einem Stolz, der ans Lächerliche grenzte, »gehütet und gepflegt«. Den Polen, deren Kinder in der Schule nicht die Muttersprache sprechen durften, deren Vätern der Staat das Land enteignete, warf man vor, daß sie keine Patrioten seien. Die Juden saßen an Kaisers Geburtstag mit den Reserveoffizieren, dem Kriegerverein und der Schützengilde an einer Tafel, tranken Bier und Schnaps und ließen Kaiser Wilhelm hochleben. © wasser-prawda 101 Ich bin am ersten Dezember 1893 geboren. Suche ich nach Kindheitserinnerungen, werden mir diese Episoden bewußt: Ich habe ein Kleidchen an. Ich stehe auf dem Hofe unseres Hauses an einem Leiterwagen. Er ist groß, größer als Marie, so groß wie ein Haus. Marie ist das Kindermädchen, sie trägt rote Korallen um den Hals, runde, rote Korallen. Jetzt sitzt Marie auf der Deichsel und schaukelt. Durchs Hoftor kommt Ilse mit ihrem Kindermädchen. Ilse läuft auf mich zu und reicht mir die Hand. Wir stehen eine Weile so und sehen uns neugierig an. Das fremde Kindermädchen unterhält sich mit Marie. Nun ruft sie Ilse: »Bleib da nicht stehen, das ist ein Jude.« Ilse läßt meine Hand los und läuft fort. Ich begreife den Sinn der Worte nicht, aber ich beginne zu weinen, hemmungslos. Das fremde Mädchen ist längst mit Ilse davongegangen. Marie spricht auf mich ein, sie nimmt mich auf den Arm, sie zeigt mir die Korallen, ich mag nicht die Korallen, ich zerreiße die Kette. Der Sohn des Nachtwächters ist mein Freund. Wenn die anderen »Polack« schreien, schreie ich auch »Polack«, er ist trotzdem mein Freund. Die Polacken hassen die Deutschen, ich weiß es von Stanislaus. Auf dem Marktplatz wird das Pflaster aufgebrochen, Gräben werden geschaufelt. Es ist Feierabend, die Arbeiter haben Spaten und Hacken in einen kleinen Schuppen getan, aus rohen Brettern gezimmert. Sie sind in die Kneipe gegangen, einen heben. Stanislaus und ich sitzen im Graben. Unser Versteck ist ein schmaler Schacht, mit Pfählen verschalt. Stanislaus zielt und spuckt. »Heute nacht wird ein Arbeiter sterben«, sagt Stanislaus, »zur Strafe. Sie dürfen hier nicht graben, es ist polnische Erde. Die Deutschen haben sie gestohlen. Aber laß sie nur graben, hier unten, wo sie graben, hundert Meter tief, wartet der polnische König. Im Stall steht sein weißes Pferd, dagegen ist das Pferd vom Herrn Rittmeister ein Ziegenbock. Wenn es soweit ist, setzt sich der König aufs Pferd, reitet nach oben und verjagt euch. Euch alle. Dich auch.« Ich möchte Stanislaus fragen, wann es »soweit« ist, Stanislaus weiß mehr als ich, sein Vater ist Nachtwächter, aber die Lippen von Stanislaus pressen sich, und sein Mund wird hart und abweisend. »Spuck jetzt, einen Murmel als Einsatz!« Ich spucke und verliere. Nachts träume ich, daß Stanislaus auf dem Markt steht und auf dem Horn seines Vaters bläst. Aus unserm Schacht springt im Galopp ein weißes Pferd, auf dem braunen Sattel, rechts und links, oben und unten, sitzen Kaiserbilder. Jetzt ist es »soweit«, denke ich. Ich sammle Kaiserbilder. Im Geschäft meiner Eltern gibt es viele verlockende Dinge, Bindfaden und Bonbons, Limonaden und Rosinen, große und kleine Nägel, aber am schönsten sind die Kaiserbilder. Wenn auch am schwersten 102 © wasser-prawda © wasser-prawda 103 zu stehlen. In jeder Tafel Schokolade liegt eins. Der Schokoladenschrank ist verschlossen, der Schlüssel hängt an einem Bund, den Mutter an ihrer blaugewürfelten Umhängeschürze trägt. Früh, wenn ich aufwache, arbeitet Mutter. Sie arbeitet im Laden, sie arbeitet im Getreidespeicher, sie arbeitet in der Wirtschaft, sie schickt den Armen Essen und lädt die Bettler zum Mittag, und wenn der Knecht aufs Feld geht, den Acker zu pflügen und das Korn zu säen, mißt sie ihm das Korn zu. Abends liest sie bis tief in die Nacht, oft schläft sie ein über einem Buch, und wenn ich sie wecke, bittet sie: »Laß mich lesen, Kind, es ist meine einzige Freude.« »Warum arbeitest du immer, Mutter?« »Weil du essen willst, Kind.« Wenn Mutter nicht achtgibt, stehle ich erst die Schlüssel, dann aus den Schokoladentafeln die Bilder, Schokolade nur nebenbei. Schön sind die Bilder der alten Germanen, sie tragen Felle und Keulen, auf die sie sich stützen, ihre Weiber kauern auf der Erde und müssen die Schilde scheuern. Stanislaus meint, sie gebrauchten dazu ihre blonden Haare, die aussehen wie um den Kopf gelegte Bettvorhänge aus Stroh. In den meisten Tafeln liegen Bilder von unserem Kaiser, er hat sich einen Mantel von rotem Samt auf seine Schultern gelegt, in der einen Hand hält er eine Kugel, in der anderen einen goldenen Feuerhaken. Wenn ich morgens in meinem Bett liege und die vielen Kaiserbilder ansehe, frage ich mich: Geht ein Kaiser auch aufs Klo? Die Frage beschäftigt mich sehr, und ich laufe zur Mutter. »Du wirst noch ins Gefängnis kommen«, sagt Mutter. Also geht er nicht aufs Klo. Vom Marktplatz zu den Kirchhöfen führt die Totenstraße. Die Menschen, die dort wohnen, finden nichts dabei, daß ihre Straße »Totenstraße« heißt, sie stehen vor den Türen und schwatzen, sie schimpfen auf den Bürgermeister, weil das Trottoir, auf das alle Leute in der Stadt stolz sind, mitten in der Straße aufhört. »Wie abrasiert«, sagt Kaufmann Fischer. Ich möchte nicht in der Totenstraße wohnen. Ich habe noch nie einen Toten gesehen, nur Schädel und Knochen, die haben Arbeiter gefunden, als sie neben der Mühle einen Brunnen gruben. Stanislaus und ich spielen Ball mit Schädeln, die Knochen dienen als Abschlaghölzer, Stanislaus gibt den Schädeln Fußtritte. »Warum tust du das?« »Großmutter hat gesagt, es sind böse Menschen gewesen, Gute bleiben nicht im Grab, Engel holen sie und fliegen mit ihnen in den Himmel zum lieben Gott.« »Was tun sie da?« »Pellkartoffeln fressen sie nicht.« Ich esse Pellkartoffeln sehr gerne, zu Hause nicht, ich esse sie lieber bei Stanislaus. Seine Großmutter, seine Mutter, sein Vater, drei Schwestern und vier Brüder wohnen in der Dorfstraße, in einem kleinen Haus aus Lehm, oben deckt es ein Strohdach, alle schlafen in einer Stube, und gekocht wird darin auch. In der Dorfstraße fehlt das Trottoir, aber niemand schimpft auf den Bürgermeister. Immer, wenn ich um die Mittagszeit Stanislaus besuche, essen sie Pellkartof- 104 © wasser-prawda © wasser-prawda 105 feln und Grützsuppe oder Pellkartoffeln und Hering, ich stehe in einer Ecke, und das Wasser läuft mir im Mund zusammen. »Lang zu«, sagt endlich Stanislaus‘ Mutter, »essen elf sich satt, wird es auch für zwölf reichen.« Stanislaus pufft mich in die Seite: »Braten und Gebackenes kannst du dir malen.« »Wir essen auch nicht jeden Tag Braten und Gebackenes,« »Ihr könntet so fressen, wenn ihr wolltet.« Ich nehme meine Mütze und renne nach Haus. »Was mußt du dort zu Mittag bleiben«, schilt mich Mutter, »du ißt den armen Leuten ihr bißchen Brot weg.« »Warum haben sie so wenig?« »Weil der liebe Gott es so will.« Die Totenstraße ist sehr lang, ich denke mir, wegen der Toten, sie wollen noch ein bißchen spazierenfahren, ehe sie ins Grab gelegt werden und es sich entscheidet, ob sie darin bleiben oder in den Himmel fliegen. Neulich ist Onkel M. gestorben. Ob er ein guter Mensch war? Ich stehe an der Friedhofsmauer. Von einer Weide breche ich mir eine Gerte und spitze sie an, ich klettere über die Mauer, laufe zum Grab und bohre, der Friedhofswärter überrascht mich, ich mache mich aus dem Staub. Auf dem Nachhauseweg denke ich: ›Was ist ein guter Mensch?‹ Draußen krachen Türen. Im Zimmer ist es dunkel. Dort schläft Vater, dort Mutter. Es ist gar nicht dunkel. Und die Betten von Vater und Mutter sind leer. Haben Räuber sie überfallen? Von draußen blinkt es rötlich. Ein Horn bläst, immer den gleichen heulenden Ton. Ich springe aus dem Bett, reiße die Tür auf, renne auf die Straße, drüben, auf der anderen Seite des Marktes, brennt ein Haus, rot und grün und schwarz, Feuerwehrleute mit glänzenden Helmen auf dem Kopf rennen wild umher, und die Menschen stellen sich auf die Zehenspitzen. Jule, unsere Köchin, sieht mich und jagt mich ins Bett zurück. »Warum brennt es, Jule?« »Weil Gott strafen will.« »Warum will Gott strafen?« »Weil kleine Kinder zuviel fragen.« Ich fürchte mich, ich kann nicht mehr einschlafen, es riecht nach Rauch, es riecht nach Versengtem, es riecht nach dem lieben Gott. Am andern Morgen stehe ich vor verkohlten Balken und Steinen, sie sind noch heiß. »Nicht einen Knochen hat man gefunden, die arme Frau ist in ihrem Bett verbrannt.« Ich drehe mich jäh um, der Mann, der es sagte, ist weitergegangen. Ich laufe nach Haus, setze mich in eine Ecke, der Stock, mit dem ich in der Asche gestochert habe, klebt in meiner Hand. Herr Levi kommt. Er lacht. »Schöne Sachen machst du.« Ich rühre mich nicht. »Alle in der Stadt wissen es, du hast Eichstädts Haus angesteckt.« 106 © wasser-prawda © wasser-prawda 107 Herr Levi steckt sich eine Zigarre an und geht davon. Erst meinte Jule, ich sei schuld, nun sagt es Herr Levi. Ich verkrieche mich auf dem Boden und bleibe dort bis zum Abend. War es anders gestern? Ich hatte mich ausgezogen, mich gewaschen, ins Bett gelegt und geschlafen, gewaschen habe ich mich nicht, nur Mutter vorgeredet, ich hätte es getan, also gelogen. Darum das Feuer? Darum diese schreckliche Strafe? Ist Gott so streng? Ich denke an die Pellkartoffeln, an die verbrannte Frau Eichstädt. Im Zimmer ist es dunkel. Ich liege und horche. Rechts von der Tür hängt ein rundes längliches Glasröhrchen, an das zu rühren mir verboten ist, das Stubenmädchen Anna bekreuzigt sich, bevor sie es abstaubt. »Da wohnt der Juden ihr Gott drin«, brummt sie. Mein Herz klopft. Noch wage ich es nicht. Wenn »Er« nun aus der Rolle herausspringt und schreit: »Ich bin der liebe Gott! Zur Strafe, daß du gelogen hast...« Ich lasse mir nicht länger Angst einjagen, und vor Pellkartoffeln fürchte ich mich auch nicht, mit einem Satz bin ich an der Tür, klettere auf die Kommode, reiße den »lieben Gott« herunter. Ich zerschlage das Glasröhrchen. »Er« rührt sich nicht. Ich werfe das Röhrchen auf den Boden. »Er« rührt sich nicht. Ich spucke es an, ich nehme meine Schuhe und schlage drauf los. »Er« rührt sich nicht. Vielleicht ist »Er« schon tot. Mir ist leicht zumute. Ich packe Glas- und Papierfetzen, stopfe sie in die Sofafalte zwischen Lehne und Polster, morgen werde ich den »lieben Gott« begraben. Fröhlich lege ich mich ins Bett, mögen alle wissen, daß ich den »lieben Gott« totgeschlagen habe. Ich habe geglaubt, alle Jungen und Mädchen gehen zusammen in eine Schule. Ilse und Paul gehen in die »evangelische«, Stanislaus in die »katholische«, ich in die »jüdische«. Dabei lernen sie lesen und schreiben wie ich, und die Schulhäuser sehen eins aus wie das andere. Der Lehrer heißt Herr Senger. Wenn er morgens die Türe aufreißt, rufen wir: »Guten Morgen, Herr Senger.« Er setzt sich aufs Katheder und legt den Rohrstock neben sich. Wer seine Aufgabe nicht gelernt hat, muß seine Hände vorstrekken, dann schlägt Herr Senger mit dem Rohrstock darauf, »zur Strafe«, sagt er. Wer seine Aufgaben gelernt hat, den nimmt Herr Senger auf die Knie, er muß seine Backe an die Backe von Herrn Senger legen, die ist stachlig, und Herr Senger reibt sich daran, »zur Belohnung«, sagt er. In der Pause zeigen wir uns die Frühstücksstullen. »Ich habe Fleisch.« »Ich habe Käse.« »Was hast du drauf?« »Er hat gar nichts drauf.« Kurt will seine leere Stulle verstecken, wir lassen es nicht zu, wir lachen ihn aus, Kurt ruft: »Ich werde es meiner Mutter erzählen«, wir rufen: »Petzer«, Kurt wirft sein Brot in den Sand und weint. Wie wir von der Schule nach Haus gehen, sagt Max: »Meine Eltern erlauben nicht, daß ich mit Kurt spiele, seine Mutter 108 © wasser-prawda wäscht bei uns jede Woche, alle armen Leute sind schmutzig und haben Flöhe.« Ich spiele mit Stanislaus. Ich habe eine Eisenbahn geschenkt bekommen. Ich bin der Lokomotivführer. Stanislaus ist Weichensteller. Mitten in der Fahrt bremse ich. »Weiterfahren«, ruft Stanislaus, er steckt zwei Finger in den Mund und pfeift schrill. »Hast du Flöhe?« »Fahr weiter.« »Bist du schmutzig?« Stanislaus tritt mit seinem Fuß auf die Eisenbahn und zerbiegt das schöne Spielzeug zu einem Haufen Blech. »Wenn Max doch sagt, daß alle armen Leute schmutzig sind und Flöhe haben. Jetzt hast du meine Eisenbahn kaputt gemacht, und du willst mein Freund sein?« »Ich bin nicht dein Freund. Ich hasse euch.« Auf der Straße schreien die Kinder: »Jude, hep, hep!« Ich habe es früher nie gehört. Nur Stanislaus schreit nicht, ich frage Stanislaus, warum die anderen so schreien. »Die Juden haben in Konitz einen Christenjungen geschlachtet und das Blut in die Mazzen gebacken.« »Das ist nicht wahr!« »Daß wir schmutzig sind und Flöhe haben, das ist wohl wahr, wie?« Lehrer Senger geht über den Marktplatz. Ein Junge läuft hinter ihm her und singt: »Jiddchen, Jiddchen, schillemachei, reißt dem Juden sein Rock entzwei, der Rock ist zerrissen, der Jud hat geschissen.« Lehrer Senger geht, ohne sich umzudrehen, weiter. Der Junge ruft: »Konitz, hep, hep! Konitz, hep, hep!« »Glaubst du wirklich«, fragte ich Stanislaus, »daß die Juden in Konitz einen Christenjungen geschlachtet haben? Ich werde nie mehr Mazzen essen.« »Quatsch! Gib sie mir.« »Warum rufen die Jungen Jude, hep, hep?« »Rufst du nicht auch Polack?« »Das ist etwas anderes.« »Ein Dreck! Wenn du‘s wissen willst, Großmutter sagt, die Juden haben unsern Heiland ans Kreuz geschlagen.« Ich laufe in die Scheune, verkrieche mich im Stroh und leide bitterlich. Ich kenne den Heiland, er hängt bei Stanislaus in der Stube, aus den Augen rinnen rote Tränen, das Herz trägt er offen auf der Brust, und es blutet. »Lasset die Kindlein zu mir kommen«, steht darunter. Wenn ich bei Stanislaus bin und niemand aufpaßt, gehe ich zum Heiland und bete. »Bitte, lieber Heiland, verzeih mir, daß die Juden dich totgeschlagen haben.« Abends im Bett frage ich Mutter: »Warum sind wir Juden?« © wasser-prawda 109 »Schlaf, Kind, und frag nicht so töricht.« Ich schlafe nicht. Ich möchte kein Jude sein. Ich möchte nicht, daß die Kinder hinter mir herlaufen und »Jude« rufen. Auf dem Hof des Tischlers Schmidt steht ein Schuppen. Dort versammeln sich die »Wahren Christen«. Sie blasen Posaune und singen Haleluja, sie knien sich hin und schreien: »Dein Reich ist nahe, o Zion!« Sie umarmen sich und Holzschnitte von küssen sich und blasen wieder Posaune. Ich will auch ein wahrer Christ werden, darum gehe ich in den Schuppen. Kurt Scheele Der Herr Vorleser streichelt mich, schenkt mir Zucker und (1905 - 1944) sagt, ich sei »auf dem rechten Wege«. »Wir werden alle in Liebe und Eintracht das heilige Weih• Mann mit Kind (1934) nachtsfest feiern«, sagt er. • Der Mann, der das Gras »Ja«, sage ich. wachsen hört »Und du, mein Kind, wirst dieses Weihnachtsgedicht auf• Bestialisches Gelächter sagen.« • Der Kuss Ich bin selig, ich bin kein Jude mehr, ich werde ein Weih• Paar mit Lampe nachtsgedicht aufsagen, keiner darf mir mehr »Jude, hep, • Schnapstrinker hep!« nachrufen. Ich nehme meine Trompete und blase wie er die Posaune, dann spreche ich mit lauter, feierlicher Stimme das Weihnachtsgedicht. Am andern Tag sagt mir der Herr Vorleser, es täte ihm leid, aber dem Herrn Heiland sei es angenehmer, wenn Franz das Gedicht aufsage. 110 © wasser-prawda A.S. der Unsichtbare Kriminalroman von Edgar Wallace. Aus dem Englischen von Ravi Ravendro 9. Fortsetzung. Kapitel 14 Mr. Boyd Salter saß an einem kleinen Tisch in der Nähe des offenen Fensters seiner Bibliothek. Von hier aus konnte er das ganze Tal und auch einen Teil von Beverley Green überschauen. Er war damit beschäftigt, Patiencen zu legen, wurde aber doch nicht so davon in Anspruch genommen, daß er nicht von Zeit zu Zeit eine Pause gemacht und aus dem Fenster gesehen hätte. Einmal interessierte ihn eine Schafherde, die gerade des Weges kam, dann beobachtete er einen Habicht, der plötzlich herabstieß und sich mit seiner Beute wieder in die Lüfte erhob. Er wurde auf einen Mann in einem langen dunklen Mantel aufmerksam, der sich sehr merkwürdig benahm. Aber die Entfernung war zu groß, um feststellen zu können, was er eigentlich tat. Er ging an dem Rand einer Pflanzung entlang, aus der er vermutlich herausgekommen war. Mr. Salter drückte den Knopf einer elektrischen Klingel. »Bringen Sie mir meinen Feldstecher, Tilling. Wissen Sie, ob dort ein Parkwächter in der Gegend herumstreift?« »Ich glaube nicht. Madding ist unten im Leutezimmer.« »Schicken Sie ihn, bitte, herauf, aber bringen Sie erst mein Glas.« Mr. Salter stellte den Feldstecher ein, aber er konnte den Fremden nicht erkennen, der etwas zu suchen schien. Der Mann kam nur langsam vorwärts und bewegte sich nicht in gerader Linie. Boyd Salter wandte den Kopf. Ein untersetzter Mann mit rotem Gesicht, der einen Anzug aus Manchestersamt und Gamaschen trug, war eingetreten. »Madding, wer geht dort bei Spring Covert?« Der Wächter legte die Hand über seine Augen. »Sieht mir so aus, als ob es einer von diesen Leuten aus Beverley Green wäre. Ich glaube, es ist Wilmot.« Mr. Salter schaute wieder hinaus. »Sie werden wohl recht haben. Gehen Sie hin, bestellen Sie einen schönen Gruß von mir und fragen Sie, ob Sie etwas für ihn tun können. Vielleicht hat er etwas verloren. Warum aber gerade auf meinem Grundstück etwas vermißt wird, ist mir ein Rätsel.« Madding ging hinaus, und Mr. Salter wandte sich wieder seinen Karten zu. Als er nach einiger Zeit noch einmal hinaussah, eilte der Wächter mit großen Schritten durch das Gelände. Später konnte er nur Madding allein ins Glas bekommen, der Fremde war verschwunden. Boyd Salter nahm die Karten zusammen, mischte sie und legte sie von neuem auf. Bald darauf kam Madding zurück. »Ich danke Ihnen, ich habe schon gesehen, daß Sie ihn nicht mehr angetroffen haben.« © wasser-prawda 111 »Dieses Ding habe ich gefunden, Sir. Es lag etwas weiter entfernt von der Stelle, wo Mr. Wilmot suchte. Wahrscheinlich hat er danach gesucht.« Er reichte Salter ein goldenes Zigarettenetui, von dem er den Lehm abgewischt hatte. Der Boden um Spring Covert war feucht und lehmig. Mr. Salter nahm das Etui und öffnete es. Es enthielt zwei feuchte Zigaretten und ein abgerissenes Stück Zeitungspapier, auf dem mit Bleistift eine Adresse geschrieben war. »Es ist gut, Madding. Ich werde dafür sorgen, daß es Mr. Wilmot zurückerhält. Es wird ihm gehören, hier ist sein Monogramm. Ich glaube, daß er Ihnen eine gute Belohnung geben wird. Ich habe gehört, Sie haben heute morgen ein Hermelin gefangen? Diese Tiere sind doch die größten Feinde der jungen Fasane. Sagten Sie nicht, daß es in diesem Jahr viele gibt? Nun, es ist gut, ich danke Ihnen, Madding.« »Entschuldigen Sie bitte, Sir, ich möchte Ihnen noch etwas mitteilen.« Der Parkwächter wartete einen Augenblick, bis Salter ihm zunickte weiterzusprechen. »Es ist wegen des Mordes. Ich habe die Vermutung, daß der Täter durch den Park geflohen ist.« »Wie kommen Sie darauf?« »Ich war in jener Nacht draußen unterwegs. Die Leute von Beverly wildern schlimmer denn je. Mr. Goldings Oberwächter erzählte mir erst heute wieder, daß er einen Mann gefaßt hat, der sechs Fasanen in seinem Rucksack hatte. Als ich so herumstreifte, hörte ich unten bei Vally Bottom einen Schuß. Ich lief so schnell wie möglich hin, obgleich ich mir sagte, daß sich Wilddiebe im allgemeinen hier nicht mit Gewehren herumtreiben. Als ich eine Strecke weit gegangen war, hielt ich an und horchte. Ich kann einen Eid darauf leisten, daß ich hörte, wie jemand über den hartgetretenen Weg ging, der nach Spring Covert führt, wo eben auch Mr. Wilmot war. Ich rief ihn an, aber da hörte ich keine Schritte mehr. ›Bleiben Sie stehen, Sie sind erkannt!‹ rief ich, da ich dachte, es sei ein Wilddieb. Ich habe aber nichts mehr gehört und auch niemand gesehen.« »Haben Sie der Polizei das alles mitgeteilt? Das hätten Sie tun sollen, Madding. Es könnte ein wichtiger Anhaltspunkt sein. Glücklicherweise besucht mich Mr. Macleod heute nachmittag.« »Ich wußte nicht recht, was ich tun sollte. Ich habe den Schuß nämlich nicht mit dem Mord in Verbindung gebracht. Erst als ich es meiner Frau erzählte, sagte sie, daß ich Ihnen das mitteilen müsse.« »Ihre Frau hat recht, Madding«, erwiderte Salter lächelnd. »Bleiben Sie in der Nähe, wenn Doktor Macleod kommt.« Andy, der Mr. Salter wegen der Leichenschau verschiedenes zu fragen hatte, hörte die Geschichte des Parkwächters mit Interesse an und erkundigte sich nach der genauen Zeit, wann er den Schuß gehört hatte. »Madding hat auch ein Zigarettenetui gefunden, das Mr. Wilmot gehört«, sagte Boyd Salter und erzählte, daß er Artur auf der Suche nach einem Gegenstand gesehen habe. »Ich danke Ihnen, Madding, Sie brauchen nicht zu warten, 112 © wasser-prawda wenn nicht Doktor Macleod noch weitere Fragen an Sie hat. Nein? Dann können Sie gehen.« Andy betrachtete das Etui. »Wie kam er denn in die Nähe von Spring Covert? Führt dort ein öffentlicher Weg vorbei?« »Nein, er hat unerlaubt fremdes Gebiet betreten, obgleich ich so harte Worte nicht gern von den Spaziergängen eines Nachbarn auf meinem Grund und Boden gebrauche. Unsere Freunde in Beverley Green haben die Erlaubnis, hier auf meinem Gelände Picknicks zu veranstalten. Sie müssen nur meinem Wächter davon Mitteilung machen. Aber sie kommen eigentlich nie nach Spring Covert – es ist nicht besonders schön dort.« Andy öffnete das Etui und nahm das Stückchen Zeitungspapier heraus. »Es ist wohl eine Adresse«, meinte Mr. Salter. »Ja – die Adresse des ermordeten Sweeny –, und Wilmot hat sie am selben Tag erhalten, an dem der Mord begangen wurde!« Er drehte den kleinen Fetzen um. Er war von einer Sonntagszeitung abgerissen, oben war noch zu lesen ... onntag, den 23. Juni... Offenbar hatte diese Zeitung Sweeny gehört, dachte Andy. Wahrscheinlich hatten sich die beiden getroffen, miteinander gesprochen, Wilmot hatte sich währenddessen überlegt, daß ihm der Sekretär Albert Selims vielleicht noch irgendwie nützlich sein könnte, und hatte sich deshalb seine Adresse notiert. Diese Begegnung hatte aber schwerlich in Spring Covert stattgefunden, wo das Etui gefunden worden war. Sie mußten sich dort nach Einbruch der Dunkelheit noch einmal getroffen haben, oder Wilmot hatte nachts diesen Platz heimlich aufgesucht. Die erste Möglichkeit erschien Andy wahrscheinlicher. Wilmot hatte also doch etwas mit der Sache zu tun. »Worüber denken Sie nach?« fragte Boyd Salter. »Es ist merkwürdig, ich weiß nicht, was ich aus diesem Fund machen soll. Ich werde Wilmot aufsuchen und ihm das Etui zurückgeben, wenn Sie gestatten.« Als er nach Beverley Green zurückging, fiel es ihm plötzlich auf, daß fast alle wichtigen Ereignisse während seines Aufenthaltes doppelt eingetreten waren. Er hatte die Drohung Wilmots vor Merrivans Haus und die Wutausbrüche Nelsons vor dessen Tür gehört. Sowohl in Merrivans als auch in Nelsons Haus hatte er verbrannte Papiere entdeckt. Und nun war wieder etwas gefunden worden – »Wir haben einen kostbaren Brillantring gefunden – vielmehr Mr. Nelson hat ihn auf dem Rasen entdeckt«, begrüßte ihn der Polizeiinspektor. »Ich habe nicht gehört, daß irgendwo ein Ring vermißt würde. Niemand im ganzen Dorf bekennt sich als Eigentümer des Schmuckstücks.« Stella war doch wirklich zu achtlos! Sie streute verdächtigende Gegenstände wie der ›Fuchs‹ bei der Schnitzeljagd. »Der Eigentümer wird sich schon noch melden«, meinte Andy gleichgültig. Am Abend traf er Wilmot, der gerade nach Hause kam. »Ich glaube, das gehört Ihnen«, sagte Andy und hielt ihm das Etui hin. © wasser-prawda 113 Wilmot wurde rot. »Ich glaube kaum. Ich habe nichts verloren –« »Aber Ihr Monogramm ist doch darauf, und zwei Leute haben es bereits als Ihr Eigentum erkannt.« Das war zwar nicht die Wahrheit, aber Andy hatte Erfolg mit dieser Methode. »Tatsächlich! Ich danke Ihnen, Doktor Macleod. Ich hatte es noch nicht vermißt.« Andy lächelte. »Dann haben Sie oben bei Spring Covert wohl nach etwas anderem gesucht?« Wilmot wurde jetzt blaß. »Wann haben Sie sich Sweenys Adresse notiert?« Wilmot sah Andy haßerfüllt an. Entweder war Wilmot schuldig oder eifersüchtig. Wahrscheinlich war Eifersucht die Ursache – er wußte oder vermutete doch, wie Andy zu Stella Nelson stand. »Ich traf ihn am Sonntagmorgen, er bat mich, ihn für eine neue Stellung zu empfehlen. Ich hatte ihn kennengelernt, als er in den Diensten meines Onkels stand. Ich traf ihn auf dem Golfplatz, und so schrieb ich seine Adresse auf ein Stück Zeitungspapier.« »Sie haben aber weder mir noch Inspektor Dane gesagt, daß Sie ihm begegnet waren.« »Das hatte ich ganz vergessen – nein, das stimmt nicht, aber ich wollte nicht in diesen Fall verwickelt werden.« »Sie haben ihn dann nachts noch einmal gesehen – warum wählten Sie Spring Covert als Treffpunkt?« Wilmot schwieg, und Andy mußte seine Frage wiederholen. »Er war von Beverley Green fortgegangen und wollte mich noch einmal sprechen. Er dachte, daß es mir peinlich sei, wenn man uns zusammen sähe.« »Wann dachte er denn das? Am Morgen, als die zweite Verabredung vereinbart wurde?« »Ja«, entgegnete Wilmot zögernd. »Wollen Sie nicht hereinkommen, Macleod.« »Sind Sie allein?« »Ja, ich bin allein im Haus. Die Dienstboten haben heute alle Ausgang. Sie kommen auch sonst nur in mein Zimmer, wenn ich sie rufe.« Artur Wilmots Haus war das kleinste von allen, aber es war mit hervorragendem Geschmack eingerichtet. Wenn es Andy trotzdem nicht vollständig befriedigte, so lag das wohl daran, daß ihm der Charakter der Einrichtung zuwenig männlich erschien. Auf dem Tisch des Zimmers, in das sie traten, lag ein halbfertiger Damenhut. Wilmot unterdrückte einen Ausruf. Es war eine mit prachtvoller, farbiger Seide überzogene Hutform. Ihre Ankunft mußte irgend jemand gestört haben. Andy tat, als ob er nichts gesehen hätte, aber Wilmot war zu aufgeregt, um die Sache übergehen zu können, und versuchte, Andy eine Erklärung zu geben. »Vermutlich hat wieder eins der Dienstmädchen hier gearbeitet!« Mit diesen Worten packte er den Hut und schleuderte ihn in eine Ecke. 114 © wasser-prawda Der Zwischenfall, der eigentlich Wilmots Verwirrung hätte vergrößern müssen, schien die entgegengesetzte Wirkung zu haben. Seine Stimme war klar und fest, als er jetzt sprach. »Ich habe Sweeny zweimal getroffen, und es war töricht von mir, es nicht sofort zuzugeben. Sweeny haßte meinen Onkel. Er kam zu mir, um mir etwas zu erzählen – er deutete wenigstens an, daß er etwas wüßte, durch das ich Mr. Merrivan in meine Hand bekäme. Die zweite Zusammenkunft in Spring Covert diente dazu, über die Bedingungen zu verhandeln, unter denen Sweeny mir seine Informationen geben wollte. Ich wünschte, ich wäre nicht hingegangen, ich bin auch nicht lange dort gewesen. Ich versprach Sweeny, ihm zu schreiben, und damit hatte die Sache ein Ende.« »Worin bestand denn Sweenys Geheimnis?« Wilmot zögerte. »Offen gestanden, ich weiß es nicht. Ich hatte nur den Eindruck, daß Mr. Merrivan irgendwie in Selims Schuld war – Selim war der Name von Sweenys Chef. Aber das kann ich nicht recht glauben, es kommt mir fast lächerlich vor. Mein Onkel war ein reicher Mann.« Andy schwieg und überlegte, ob Wilmot die Wahrheit gesagt haben könnte. »Haben Sie irgendeine Ahnung, wer Ihren Onkel getötet haben könnte?« Wilmot runzelte die Stirn. »Haben Sie denn eine Vermutung?« Andy wußte, wen Wilmot beschuldigen würde, wenn auch nur der geringste Verdacht auf ihn selbst fallen sollte. »Ich habe mir viele Theorien zurechtgelegt«, erwiderte er kühl. »Aber es wäre übereilt, wenn ich mich jetzt schon endgültig für eine von ihnen entscheiden würde. Da fällt mir etwas ein, Mr. Wilmot. Als wir uns das letztemal sahen, sprachen Sie von einem nichtswürdigen Mädchen. Das interessiert mich. Sie beschwerten sich heftig über sie und sagten, daß Sie ihretwegen Streit mit Ihrem Onkel gehabt hätten. Das könnte ein wichtiger Anhaltspunkt sein. Wer war diese Dame?« Das war ein meisterhafter Angriff, der wohlüberlegt im günstigsten Augenblick geführt wurde. Auf eine so direkte Frage war Wilmot nicht vorbereitet. Es war ihm klar, daß Macleod genau wußte, wen er gemeint hatte. Er mußte jetzt mit der Sprache heraus oder – »Die Antwort darauf muß ich schuldig bleiben.« Aber Andy war schon zu weit gegangen und hatte zu viel gewagt, um seinem Gegner jetzt noch gestatten zu können, das Gefecht abzubrechen. »Das kann ich nicht gelten lassen. Entweder kennen Sie eine solche Dame oder Sie kennen sie nicht. Entweder haben Sie sich mit Ihrem Onkel gestritten oder nicht. Ich spreche jetzt als der Polizeibeamte, der mit der Untersuchung dieses Falles beauftragt ist, und ich muß die Wahrheit erfahren.« Seine Stimme klang hart und drohend. »Ich war damals sehr verwirrt«, sagte Artur Wilmot mürrisch und widerwillig. »Ich wußte nicht, was ich sagte. Ich © wasser-prawda 115 meinte keine bestimmte Dame, auch habe ich mich mit meinem Onkel nicht gestritten.« Langsam zog Andy ein Notizbuch aus der Tasche und schrieb diese Worte Wilmots, der ihn wütend beobachtete, auf. »Ich danke Ihnen. Ich werde Sie jetzt wohl nicht wieder in dieser Angelegenheit belästigen müssen.« Ohne ein weiteres Wort entfernte er sich. Wilmot blieb zurück und trug sich mit Mordgedanken. »Mr. Macleod!« Andy drehte sich an der Gartenpforte noch einmal um. Wilmot kam hinter ihm her. »Es ist jetzt sicher kein Grund mehr vorhanden, warum ich das Haus meines Onkels nicht betreten dürfte. Ich bin der gesetzmäßige Erbe Mr. Merrivans, und ich habe einige Vorbereitungen für seine Beerdigung zu treffen.« »Ich muß Ihnen im Augenblick nur noch die eine Beschränkung auferlegen, daß Sie nicht in sein Arbeitszimmer gehen. Dieser Raum kann erst nach der Leichenschau freigegeben werden.« Andy ging über die Straße und sprach mit dem Polizeisergeanten, der das Haus bewachte. »So, diese Sache habe ich in Ordnung gebracht, Mr. Wilmot. Der Beamte wird Sie einlassen.« Andy war weder überrascht noch belustigt über den Damenhut in Wilmots Zimmer, der zu vielen Vermutungen Anlaß geben konnte. Wilmots Verlegenheit war zu deutlich und seine Erklärung vollständig unglaubwürdig gewesen. Ein Dienstmädchen sollte den Hut dort genäht haben? Das stimmte doch nicht mit seiner Angabe überein, daß kein Dienstbote in sein Zimmer kommen dürfe, wenn er nicht gerufen war. Wilmot war Junggeselle wahrscheinlich nicht besser und nicht schlechter als alle Junggesellen. Aber es war doch ein wenig überraschend, daß er seine Damen nach Beverley Green brachte, wo alle Dienstboten bekanntermaßen klatschten. Eine solche Unbesonnenheit sah Artur Wilmot gar nicht ähnlich. Er ging zu Nelsons. Wenn er nach seinen Wünschen hätte handeln können, wäre er jeden Tag dort hingegangen und die ganze Zeit dort geblieben. Er richtete es jetzt immer so ein, daß er Scottie in den frühen Morgenstunden draußen im Freien traf, gewöhnlich in den Parkanlagen. Stella empfing ihn. Ihr Vater war im Atelier und arbeitete. Sie war begeistert, denn Kenneth Nelson hatte ein neues Gemälde begonnen, ein Porträt Scotties. »Das ist ja großartig, weil ich dann immer ein gutes Bild von Scottie zur Verfügung habe«, meinte Andy. »Wenn ich ihn in Zukunft wieder einmal verhaften lassen muß, schicke ich meine Leute einfach zur Akademie, damit sie ihn vorher genau studieren können.« »Er wird in Zukunft aber nichts mehr anstellen«, sagte sie, denn sie war über seine Worte erschrocken. »Er erzählte mir, daß er sein altes Leben aufgeben und nicht mehr stehlen wolle.« Andy lächelte. »Ich würde ja nur zu froh sein, wenn es so wäre. Kennst du Artur Wilmot sehr gut, Stella?« 116 © wasser-prawda Sie wollte schon sagen, daß sie ihn nur allzugut kenne. »Ich habe es einmal gedacht«, erwiderte sie. »Warum fragst du danach?« »Weißt du, ob er irgendwelche Freundinnen oder weibliche Verwandte hat?« Sie schüttelte den Kopf. »Seine einzigen Verwandten waren Mr. Merrivan und eine alte Tante. Er hat nie Besuch gehabt mit Ausnahme seiner Tante, die aber gestorben ist, soviel ich weiß. Er hat nicht einmal Junggesellenabende gegeben. Ich weiß nicht mehr, was vorgeht. Hast du neue Anhaltspunkte gefunden? Der ganze Ort wimmelt von Zeitungsreportern. Einer kam und fragte mich, ob ich ihm irgendwelche Einzelheiten aus Mr. Merrivans Privatleben erzählen könne. Er fragte mich zum Beispiel, ob er regelmäßig zur Kirche gegangen und sonst ein ruhiger, stiller Mensch gewesen sei. Ich gab zur Antwort, daß ich nicht viel über ihn wisse. Er war leicht zufriedenzustellen.« Andy seufzte. »Ich bin nur froh, daß Downer nicht gekommen ist.« »Wer ist Downer?« »Ein Journalist, der tüchtigste und geschickteste Mann von der ganzen Gesellschaft. Der gibt sich nicht so leicht zufrieden wie der Reporter, der dich aufgesucht hat. Er hätte auch nicht so dumme Fragen gestellt. Er hätte mit deinem Vater über Kunst gesprochen, wäre ins Atelier gegangen, hätte den Pygmalion bewundert und mit deinem Vater über Farbwerte, den Einfluß der Atmosphäre, über Beleuchtungs- und Bewegungsmotive diskutiert. Wenn er aber gegangen wäre, hättest du das unangenehme Gefühl gehabt, mehr gesagt zu haben, als gut war. Und zwar nicht über alte Meister, sondern über Mr. Merrivans Privatleben.« Sie wandte die Augen nicht von ihm, während er sprach. Aber er sah sie nicht lange an, denn er fürchtete, er würde sie an sich reißen und nicht wieder freigeben. »Du mußt unheimlich viele Menschen kennenlernen, diesen Downer zum Beispiel, und Leute wie Scottie. Ich nannte ihn übrigens aus Versehen auch Scottie, es schien ihm sehr angenehm zu sein. Gibt es eigentlich etwas Neues?« »Inspektor Dane hat deinen Ring gefunden. Streust du deine Brillantringe immer so aus?« Sie war nicht im mindesten verwirrt. »Ich habe ihn weggeworfen, ich weiß nicht mehr, wo. Willst du schon gehen? Du bist noch kaum eine Minute hier und hast weder meinen Vater noch sein Gemälde gesehen.« »Ich bin schon lange genug hiergewesen, um die ganze Nachbarschaft in Aufruhr zu bringen. Verstehst du nicht, daß ich dich nur besuchen kann, wenn ich unter dem einen oder anderen Vorwand auch zu allen anderen gehe? Jeden Tag mache ich zehn bis zwölf verschiedene Besuche und falle den Leuten auf die Nerven – nur um dich einmal sehen zu können.« Sie begleitete ihn zur Tür. »Ich wünschte, du würdest kommen und wieder Staub wischen«, sagte sie zärtlich. »Und ich – ich wünschte, wir wären wieder bei dem zweiten Golfloch«, erwiderte er leise. Sie lachte, und er hörte sie noch auf dem Gartenweg. © wasser-prawda 117