taxifahrer stirbt raubueberfall
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Inhalt AUFSÄTZE Zivilrecht Vorsicht – Kinder haften für ihre Eltern! Zum 10. Geburtstag des „Minderjährigenhaftungsbeschränkungsgesetzes“ Von Prof. Dr. Diederich Eckardt, Trier 444 Strafrecht Zu den Voraussetzungen der (sukzessiven) Beteiligung – zugleich Anmerkung zu BGH, Urt. v. 18.12.2007 – 1 StR 301/07, NStZ 2008, 280 Von Prof. Dr. Uwe Murmann, Göttingen 456 Ermöglichung der Dienstausübung als strafbare Korruption Von Prof. Dr. Mark Deiters, Münster 465 Bezahlung von Geldstrafen durch das Unternehmen – § 258 StGB oder § 266 StGB? Von Ass. iur. Meik Kranz, Hannover 471 DIDAKTISCHE BEITRÄGE Zivilrecht Eigentumsvorbehalt und Anwartschaftsrecht Von Prof. Dr. Johann Kindl, Münster 477 Strafrecht Die Lehre von der objektiven Zurechnung und ihre Anwendung – Teil 1 Von Prof. Dr. Ingeborg Puppe, Bonn 488 Inhalt (Forts.) 5/2008 ÜBUNGSFÄLLE Zivilrecht Übungsfall: Die falsche Frau Von Ass. iur. Dr. Gregor Roth, Rechtsanwältin Silke Warmer, Hamburg 497 Öffentliches Recht Übungsfall: Eile mit Weile – die verspätete vorläufige Amtsenthebung Von Rechtsanwältin Anja Mayer, lic. en droit, Rechtsreferendar Alexander Sperlich, LL.M. (Cornell), Düsseldorf 512 Strafrecht Übungsfall: Straftaten gegen Kraftfahrzeuge Von Rechtsreferendar Dr. Niclas Börgers, Köln, Rechtsanwalt Dr. Ralph Grunewald, LL.M. (UW-Madison), Düsseldorf 521 ENTSCHEIDUNGSBESPRECHUNGEN Öffentliches Recht BGH, Urt. v. 24.4.2008 – III ZR 252/06 (Vertrauensschutz und Mitverschulden im Rahmen des Amtshaftungsanspruchs) (Privatdozent Dr. Matthias Cornils, Mainz) 534 ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN Zivilrecht BGH, Urt. v. 16.7.2008 – VIII ZR 348/06 („Opt-out“-Erklärung in „Payback-Karten-Rabattvertrag“) (Privatdozent Dr. Markus Artz, Trier/Heidelberg/Bielefeld) 539 BGH, Urt. v. 15.7.2008 –VIII ZR 211/07 (Nachlieferungsanspruch des Käufers erstreckt sich nicht auf Einbau der mangelfreien Ersatzsache) (Prof. Dr. Beate Gsell, Augsburg) 542 BGH, Urt. v. 29.4.2008 –XI ZR 371/07 (Keine Nichtleistungskondiktion bei irrtümlicher Zuvielüberweisung durch die Bank) (Prof. Dr. Katja Langenbucher, Frankfurt a.M.) 545 BGH, Urt. v. 16.4.2008 –XII ZR 144/06 (Inzidente Vaterschaftsfeststellung im Regressprozess des Scheinvaters gegen den mutmaßlichen Erzeuger) (Prof. Dr. Bettina Heiderhoff, Hamburg) 547 BGH, Urt. v. 28.4.2008 –II ZR 264/06 (Zur Durchgriffshaftung wegen materieller Unterkapitalisierung einer GmbH) (Privatdozent Dr. Stefan J. Geibel, Tübingen/Konstanz) 549 Öffentliches Recht EuGH, Urt. v. 3.9.2008, verb. Rs C-402/05 P und C-415/05 (Gemeinschaftsrechtlicher Grundrechtsschutz gegen europarechtlich umgesetzte VN-Sanktionen) (Prof. Dr. Matthias Rossi, Augsburg) 551 Inhalt (Forts.) 5/2008 ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN (Forts.) Strafrecht BGH, Urt. v. 10.6.2008 – 5 StR 38/08 (Beweisantragsrecht – Zum Konnexitätserfordernis bei fortgeschrittener Beweisaufnahme) (Wiss. Assistentin Dr. Janique Brüning, Hamburg/Greifswald) 554 BUCHREZENSIONEN Öffentliches Recht Wolfgang Jakob, Einkommensteuer, 4. Aufl. 2008 (Ref. iur. Dr. Florian Meininghaus, Diplom-Jurist (Univ.), Regensburg) 557 Richard H. Fallon, Jr., The Dynamic Constitution – An Introduction to American Constitutional Law, 2005 (Tammo Lange, Münster) 558 Strafrecht Rudolf Rengier, Strafrecht – Besonderer Teil I, 2008; Strafrecht – Besonderer Teil II, 2008 (Wiss. Mitarbeiter Sascha Kische, LL.M., Osnabrück) 560 Marc Russack, Die Revision in der strafrechtlichen Assessorklausur, 2. Aufl. 2008 (Rechtsanwalt Roman G. Weber, LL.M., Detmold) 562 Uwe Hellmann/Katharina Beckemper, Fälle zum Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 2008 (Rechtsanwalt Roman G. Weber, LL.M., Detmold) 563 Uwe Murmann, Prüfungswissen Strafprozessrecht 2008 (Richter beim Amtsgericht Dr. Tobias Paul) 564 VARIA Allgemeines Corporate Governance in einer monistisch verfassten Societas Europaea deutscher Provenienz Von Fabian Walla, Hamburg 566 Vorsicht – Kinder haften für ihre Eltern! Zum 10. Geburtstag des „Minderjährigenhaftungsbeschränkungsgesetzes“ Von Prof. Dr. Diederich Eckardt, Trier I. Zur Themenstellung Die Tatsache, dass unter gewissen Voraussetzungen „Eltern für ihre Kinder haften“ – technisch natürlich: die auf § 832 Abs. 1 BGB gegründete Haftung der Eltern für (gesetzlich vermutete) eigene Sorgfaltspflichtverletzungen bei der Belehrung und Beaufsichtigung ihrer Kinder1 –, ist nicht nur den Juristen in Ausbildung und Praxis wohlvertraut, sondern auch dem juristischen Laien präsent; moderne Anwendungsfälle wie etwa die der Urheberrechtsverletzungen durch Minderjährige im Internet2 sind hier an die Stelle der früheren Paradebeispiele wie dem des unvorsichtigen Umgangs von Kindern mit Streichhölzern3 getreten und halten in Fachkreisen wie in der Allgemeinheit das Interesse an dieser Haftungskonstellation wach. In diesem Beitrag soll es dagegen um die genau umgekehrte Konstellation der „Haftung von Kindern für ihre Eltern“ gehen. Damit ist nicht die Haftung von Kindern für mangelhafte Beaufsichtigung ihrer Altvorderen gemeint (die es natürlich nicht gibt), und auch nicht die unterhaltsrechtliche Einstandspflicht finanziell leistungsfähiger Abkömmlinge für ihre verarmten Eltern (die es sehr wohl gibt).4 Hier geht es vielmehr um Haftungsfolgen und andere Rechtsnachteile, die minderjährigen Kindern aufgrund von Handlungen ihrer Eltern als ihrer gesetzlichen Vertreter drohen könnte. 1. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Mai 1986 Das Problem der „Haftung des Kindes für seine Eltern“ verdankt seinen Eintritt in das Bewusstsein einer breiteren Fachöffentlichkeit einem schon einige Zeit zurückliegenden verfassungsgerichtlichen Paukenschlag. Die damit angesprochene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Mai 19865 betraf ein zwei Jahre zuvor ergangenes Urteil des Bundesgerichtshofs.6 Der BGH hatte darin zwei Schwestern zur Zahlung von etwa 500.000 € verurteilt, und zwar an einen Gläubiger des Unternehmens, das die beiden zusammen mit ihrer Mutter in ungeteilter Erbengemeinschaft nach dem verstorbenen Vater betrieben hatten. Der Gläubiger hatte aus einem Schuldanerkenntnis geklagt, das die Mutter der beiden 1 ,,Kinder“ steht im Folgenden synonym für ,,Minderjährige“, mit ,,Eltern“ sind der oder die gesetzlichen Vertreter eines Minderjährigen gemeint. 2 Vgl. jüngst LG München I MIR 2008, Nr. 193 = MMR 2008, 619. 3 Vgl. m.w.N. BGHZ 111, 282 = NJW 1990, 2553; OLG Zweibrücken NJW-RR 2007, 173; OLG Frankfurt a.M. NJWRR 2005, 1188; OLG Oldenburg NJW-RR 2004, 1671; OLG Koblenz NJW 2004, 3047; LG Bielefeld NJW-RR 2007, 610; Berning-Vortmann, JA 1986, 12. 4 Vgl. BVerfG NJW 2005, 1927; BGHZ 169, 59 = NJW 2006, 3344 m. Anm. Koritz, NJW 2007, 270. 5 BVerfGE 72, 155 = NJW 1986, 1859. 6 BGHZ 92, 259 = NJW 1985, 136 = JuS 1985, 316. im Namen der seinerzeit noch minderjährigen Kinder dem Gläubiger erteilt hatte. Der BGH hatte hieran im Ergebnis nichts auszusetzen gehabt. Das Schuldanerkenntnis war nach Ansicht des BGH insbesondere auch nicht deswegen kondizierbar, weil die Fortführung des Unternehmens durch eine Erbengemeinschaft unter Einschluss Minderjähriger dem Erfordernis gerichtlicher Genehmigung unterfalle; die einschlägige Vorschrift des § 1822 Nr. 3 BGB, die u.a. die Gründung einer unternehmenstragenden Gesellschaft der Genehmigungspflicht unterwirft, sei auf die dauerhafte Fortführung eines Unternehmens durch eine Erbengemeinschaft weder unmittelbar noch entsprechend anwendbar, da in der Fortführung kein konkludenter Abschluss eines Gesellschaftsvertrages gesehen werden könne. Diese Sachbehandlung entsprach der damals ganz überwiegenden Anschauung, fand aber nicht die Billigung des BVerfG, das darin einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Kinder erkannte; mit diesem Grundrecht sei es unvereinbar, wenn Kinder „als Folge der Vertretungsmacht ihrer Eltern mit erheblichen Schulden in die Volljährigkeit entlassen würden“.7 Mit der Anordnung des gesetzlichen Vertretungsrechts der Eltern solle insbesondere verhindert werden, dass Kinder Verträge abschließen, die nicht in ihrem wohlverstandenen Interesse liegen. Soweit sich Fremdbestimmung der Kinder durch ihre Eltern danach als Minderjährigenschutz erweise, entspreche dies dem Kindeswohl, so dass eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts ausscheide. Mit der Einräumung der gesetzlichen Vertretungsmacht sei aber gleichzeitig die Gefahr verbunden, dass sich eine unkontrollierte Entscheidungsbefugnis der Eltern nachteilig für die Kinder auswirke. Insoweit sei der Gesetzgeber aufgerufen, in Wahrnehmung seines verfassungsmäßigen Wächteramts Regelungen zu treffen, die gewährleisteten, dass der volljährig Gewordene mehr als nur eine scheinbare Freiheit erreiche. Die Bindungen, die kraft des elterlichen Vertretungsrechts geschaffen wurden, seien – so das BVerfG weiter – verfassungsrechtlich zwar noch hinnehmbar, wenn sich die Haftung des Minderjährigen bei einem ererbten und fortgeführten Handelsgeschäft auf das im Wege der Erbfolge erworbene Vermögen beschränke. Wenn aber der Gesetzgeber den Eltern das Recht einräume, ihre Kinder in einem weitergehenden Maße zu verpflichten, müsse er gleichzeitig dafür Sorge tragen, dass den Volljährigen Raum bleibe, um ihr weiteres Leben selbst und ohne unzumutbare Belastungen zu gestalten, die sie nicht zu verantworten hätten. Die Gesetzesbestimmungen über die elterliche Vertretungsmacht (§§ 1629, 1643, 1812, 18121 f. BGB) wurden deshalb insoweit für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, als „Eltern im Rahmen der Fortführung eines zum Nachlass gehörenden Handelsgeschäfts ohne eine Genehmigung des Familiengerichts für ihre minderjährigen persönlich haftenden Kinder Verpflichtungen eingehen können, die über die 7 BVerfGE 72, 155 (172 f.) = NJW 1986, 1859 (1860). _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 444 Vorsicht – Kinder haften für ihre Eltern mit der Erbschaft erworbene Haftungsmasse hinausgehen“. Dem Gesetzgeber erteilte das BVerfG den üblichen Nachbesserungsauftrag, wobei es ausdrücklich sowohl eine Erweiterung des gesetzlichen Genehmigungskatalogs gemäß § 1643 Abs. 1 i.V.m. §§ 1821 f. BGB in Betracht zog (die in der späteren Diskussion sog. „Genehmigungslösung“) als auch eine Beschränkung der Haftung eines minderjährigen Miterben auf das ererbte Vermögen (die sog. „Haftungsbeschränkungslösung“).8 2. Das Gesetz zur Beschränkung der Haftung Minderjähriger (MHbeG) Diesem Nachbesserungsauftrag kam der Gesetzgeber nach einer quälend langwierigen Diskussion mit dem „Gesetz zur Beschränkung der Haftung Minderjähriger“ (MHbeG) vom 25. August 1998,9 in Kraft getreten am 1. Januar 1999, endlich nach. Um den volljährig Gewordenen auch vor den zukünftigen Risiken einer während der Minderjährigkeit erlangten Gesellschafterstellung in einer Personengesellschaft zu schützen, wurde durch das MHbeG zunächst das Recht begründet, sich mit Eintritt der Volljährigkeit aus einer Personengesellschaft zu lösen; dies ist für die GbR im neu gefassten § 723 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 BGB ausdrücklich geregelt und ergibt sich für die Auflösung einer OHG (§ 133 HGB) bzw. Auseinandersetzung einer Erbengemeinschaft (§§ 2044 Abs. 1 S. 2, 749 Abs. 2 S. 1 BGB) durch Auslegung des Tatbestandsmerkmals „wichtiger Grund“.10 Kernstück des MHbeG war aber die neu eingefügte Bestimmung des § 1629a BGB.11 Die Norm ändert für die Dauer der Minderjährigkeit nichts an der unbeschränkten Haftung des Kindes auch für die von den gesetzlichen Vertretern zu verantwortenden Verbindlichkeiten,12 eröffnet aber dem volljährig gewordenen Kind unbefristet die Option, seine Haftung für solche Verbindlichkeiten auf denjenigen Vermögensbestand zu beschränken, der bei Eintritt der Volljährigkeit noch 8 BVerfGE 72, 155 (173) = NJW 1986, 1859 (1861). BGBl. I (1998), S. 2487. 10 BT-Drs. 13/5624, S. 10. 11 Vgl. hierzu monographisch insbes. Arnold, Das Minderjährigenhaftungsbeschränkungsgesetz und § 15 HGB, 2002; Athanasiadis, Die Beschränkung der Haftung Minderjähriger, 2000; Binninger, Minderjährigenhaftungsbeschränkung und erbrechtliche Haftungsbeschränkung, 2008; Konz, Die Möglichkeit der Haftungsbeschränkung volljährig Gewordener gemäß 1629a in Verbindung mit §§ 1990, 1991 BGB, 2006; Malik, Die Grenzen der elterlichen Vermögenssorge, 1999; Quitzau, Haftungsbeschränkung zugunsten Minderjähriger, 2006; Thiel, Das Gesetz zur Beschränkung der Haftung Minderjähriger, 2002; Waitzmann, Das Eltern-Kind-Verhältnis im Schadensrecht, Diss. Tübingen 2002; aus der Kommentarliteratur (jeweils zu § 1629a) s. insbes. Coester, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, Stand 2008; Diederichsen, in: Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008; Huber, in: Münchener Kommentar zum BGB, 4. Aufl. 2002; Kaiser, in: Dauner-Lieb u.a. (Hrsg.), Anwaltkommentar BGB, 2005. 12 Krit. dazu etwa K. Schmidt, in: Wolf-Rüdiger Bub (Hrsg.), Festschrift für Peter Derleder, 2005, S. 601 (607). 9 ZIVILRECHT vorhanden ist. Diese Option gilt – soweit es sich nicht um Verbindlichkeiten aus Rechtsgeschäften handelt, die allein der Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse des Kindes dienten (§ 1629a Abs. 2 BGB)13 – namentlich für solche Geschäfte, die entweder unmittelbar durch seine gesetzlichen Vertreter abgeschlossen worden sind oder mit deren nach dem Gesetz erforderlichen Einverständnis zustande gekommen sind. Für sein Haftungsbeschränkungsmodell bedient sich das Gesetz der Rechtsfigur einer Haftungszäsur:14 Mit Eintritt der Volljährigkeit wird das Vermögen des Kindes in zwei Haftungsmassen separiert, indem das zu diesem Zeitpunkt vorhandene Kindesvermögen – das sog. „Volljährigkeitsvermögen“ oder auch „Altvermögen“ – den Altgläubigern haftet, während den Neugläubigern exklusiv das danach erworbene Neuvermögen zur Verfügung steht, gegebenenfalls zuzüglich der durch die Altforderungen nicht aufgezehrten Teile des Altvermögens. Technischer Behelf zur Durchführung der Haftungstrennung ist die dem Recht der Nachlassinsolvenz entnommene „Dürftigkeitseinrede“, mit der zum einen die Befriedigung der Altgläubiger insoweit verweigert werden kann, als das Volljährigkeitsvermögen nicht ausreicht, zum anderen aber auch der Zugriff der Neugläubiger auf das Altvermögen abgewehrt werden kann (§ 1629a Abs. 1 S. 2 i.V.m. §§ 1990 f. BGB). Entgegen verschiedentlichen Forderungen während des Gesetzgebungsverfahren verzichtet das Gesetz auf ein der Nachlassverwaltung bzw. Nachlassinsolvenz entsprechendes Verfahren zur gleichmäßigen Befriedigung der Altgläubiger,15 so dass diese Gläubiger nach dem Prioritätsprinzip selbst Befriedigung suchen, aber auch in Form freiwilliger Leistung erhalten können. Gerade mit dem letztgenannten Aspekt ist ein für die Beurteilung des gesetzlichen Lösungskonzepts nicht unwesentliches Detail angesprochen, verdeutlicht es doch, dass gut beratene Dritte seit der Novelle sicherlich in der Regel davon Abstand nehmen werden, mit einem Minderjährigen geschäftliche Beziehungen aufzunehmen – zumindest sofern ihnen nicht Sicherheiten gestellt werden können, die sie von dem persönlichen Anspruch gegen den Minderjährigen unabhängig machen. Den Eltern wird praktisch also die Möglichkeit aus der Hand genommen, ihr minderjähriges Kind mit der Folge uneingeschränkter Vermögenshaftung zu verpflichten. Dies sollte man durchaus als eine Beschränkung der elterlichen Vertretungsmacht auffassen, wenngleich in einer technisch ganz eigentümlichen Ausgestaltung: Da die Separierung der Vermögensmassen in Alt- und Neuvermögen zum Zeitpunkt 13 Vgl. dazu sub specie medizinischer Behandlungen AG Leipzig FamRZ 2008, 84 m. Anm. Bischof/Löscher einerseits, AG Norderstedt MDR 2001, 513 andererseits; allgemein zur Interpretation und Kritik dieser Ausnahmeregel etwa Athanasiadis (Fn. 11), S. 158 ff.; Malik (Fn. 11), S. 161 ff.; Thiel (Fn. 11), S. 55 f.; Waas, KritV 2000, 2 (22). 14 Zur rechtspolitischen Kritik vgl. etwa K. Schmidt (Fn. 11), S. 601 (608, 618 ff.); ders., JuS 2004, 361 (366). 15 Vgl. Behnke, NJW 1998, 3078 (3080); Habersack, FamRZ 1998, 1 (5); Bittner, FamRZ 2000, 325 (327 ff.); Steenbuck, FamRZ 2007, 1064 (1065); a.A. Schwartze, in: Salje (Hrsg.), Festschrift für Helmut Pieper, 1998, S. 527 (546 ff.). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 445 AUFSÄTZE Diederich Eckardt der Verpflichtung noch nicht stattgefunden hat, da sie zudem nur effektiv wird, wenn das volljährig gewordene Kind sich darauf später auch durch Einredeerhebung beruft, kann von einer Beschränkung der Vertretungsmacht auf ein bestimmt abgegrenztes Sondervermögen an sich nicht die Rede sein. Weil aber die für das Kind eingegangene Verpflichtung nun einmal mit dieser außergewöhnlichen unverlierbaren Haftungsbeschränkungsoption behaftet ist, weil die Voraussetzungen ihrer Ausübung mit Sicherheit eintreten werden und weil sich dies – abhängig vom gegenwärtigen Alter des Kindes – womöglich in dem Zeitrahmen abspielt, den der Gläubiger für die Realisierung seiner Ansprüche in Betracht zieht, hat das Gesetz den rechtlichen Möglichkeiten der Eltern, das Kind bzw. das Kindesvermögen am Wirtschaftsleben teilhaben zu lassen, doch spürbare Grenzen gesetzt. Damit hat der Gesetzgeber das BVerfG aber durchaus richtiger verstanden als die Befürworter einer „Genehmigungslösung“, insbesondere, soweit diese sich darauf beschränken wollten, den speziellen Fall der Unternehmensfortführung durch Erbengemeinschaften unter Beteiligung Minderjähriger der familiengerichtlichen Genehmigung zu unterwerfen. Denn zwar hatte das Gericht auch die Genehmigungslösung ausdrücklich als geeignet bezeichnet, die im Entscheidungstenor festgestellte Unvereinbarkeit zu beheben. Dieser verfügende Teil der Entscheidung beschränkte sich aber notwendigerweise auf diejenigen Normen, zu deren verfassungsrechtlicher Überprüfung die zugrundeliegenden Verfassungsbeschwerden unmittelbar Anlass gegeben hatten; nur hierauf konnte sich deshalb die Nachbesserungsanweisung an den Gesetzgeber beziehen. Aus den Entscheidungsgründen können sich aber sehr viel umfassendere verfassungsrechtliche Bedenken gegen den geltenden Rechtszustand ergeben und damit zugleich die Notwendigkeit einer sehr viel umfassenderen Beschränkung der Minderjährigenhaftung begründen; dies ist aufgrund der den Entscheidungsgründen durch das Bundesverfassungsgericht) beigelegten Bindungswirkung vom Gesetzgeber ebenso zu beachten wie von den Gesetzesinterpreten. Auch jenseits der im Anlassfall gegebenen Konstellation – also der Unternehmensfortführung durch eine Erbengemeinschaft – ist daher als bindende Vorgabe zu betrachten, dass es, so das Verfassungsgericht, mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht eines Kindes unvereinbar ist, wenn dieses „als Folge der Vertretungsmacht seiner Eltern mit erheblichen Schulden in die Volljährigkeit entlassen“ wird. Dies bedeutet zwar sicherlich keine Anerkennung der These, dass das Institut der gesetzlichen Vertretungsmacht der Eltern insgesamt, wie man dies als Konsequenz dieser Verfassungsgerichtsentscheidung gemeint hat, „überflüssig und verfassungswidrig"“ sei16 – es ist im Gegenteil verfassungsgemäß und notwendig, ja alternativlos, und zwar schon deswegen, weil wir sonst niemanden haben, der es übernehmen könnte, 20 Millionen Minderjährige vor Schaden zu bewahren; indem das BVerfG und im Anschluss daran die Gesetzesnovelle von 1998 Verpflichtungsund Verfügungsgeschäfte der Eltern mit Wirkung für das 16 Ramm, NJW 1989, 1711 (1712); hiergegen bereits K. Schmidt, NJW 1989, 1712 (1713 ff.): ,,notwendig und verfassungsmäßig“. vorhandene Vermögen prinzipiell anerkennen, gehen sie mit Recht hiervon weiter aus. Aber einen verfassungsrechtlich erzwungenen und gesetzlich ausgeformten Paradigmenwechsel wird man hierin doch sehen können und müssen: Das ganz bewusst lückenhafte Konzept der bisherigen Minderjährigenschutzbestimmungen – insbesondere also des gesetzlichen Genehmigungskatalogs nach §§ 1821 f. BGB – wird durch ein tendenziell umfassendes Schutzkonzept überlagert, das auch keine Relativierung durch familiengerichtliche Genehmigungsmöglichkeiten im Einzelfall mehr kennt (§ 1629a Abs. 1 S. 1 BGB a.E.). Dieses Schutzkonzept ist daher auch nicht mehr Ausdruck eines gewissen Grundvertrauens des staatlichen „Wächters“ in die von ihm zu beaufsichtigenden Eltern, sondern bringt im Gegenteil ein verfassungsgerichtlich verordnetes Grundmisstrauen gegenüber den Eltern zum Ausdruck. Dieses Misstrauen führt zu dem doch immerhin bemerkenswerten Ergebnis, dass ein minderjähriges Kind für eigenverantwortete Verbindlichkeiten – dies sind namentlich die Verbindlichkeiten aus eigenem deliktischen Handeln (vgl. § 828 Abs. 3 BGB),17 aber auch Herausgabeansprüche (§§ 985, 861 BGB)18, Bereicherungsansprüche19 sowie etwa auch Unterhaltsansprüche gegen minderjährige nichteheliche Väter20 – strenger haftet, nämlich unbeschränkt und unbeschränkbar,21 als für die von seinen gesetzlichen Vertretern verantworteten Verbindlichkeiten. Auch wenn man natürlich ergänzen muss, dass das Gesetz eigenverantwortete Verbindlichkeiten des Minderjährigen überhaupt nur in sehr engem Rahmen zulässt, so desavouiert der Gesetzgeber damit doch die Einrichtung der gesetzlichen Vertretung, die an sich doch ganz im umgekehrten Sinne auf dem sehr viel größeren (und berechtigtermaßen größeren) Misstrauen des 17 Vgl. aber zur Notwendigkeit und den insoweit bestehenden Möglichkeiten einer Haftungsbeschränkung etwa Ahrens, VersR 1997, 1064 (1065); Glöckner, FamRZ 2000, 1397 ff; Goecke, Die unbegrenzte Haftung Minderjähriger im Deliktsrecht, 1997, S. 62 ff., 194 ff.; ders., NJW 1999, 2305 ff; Looschelders, VersR 1999, 141 (148); Rolfs, JZ 1999, 233 (241); Stürner, in: Haimo Schack (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Alexander Lüderitz, 2000, S. 789 ff.; Waitzmann (Fn. 11), S. 26 ff., 161 ff. Das BVerfG hat im Beschluss vom 13. 8. 1998, NJW 1998, 3557, dazu nur entschieden, dass aus verfassungsrechtlicher Sicht weder der Wille des vorkonstitutionellen Gesetzgebers noch der Wortlaut des § 828 Abs. 3 BGB einer Einschränkung der Minderjährigenhaftung aus Billigkeitsgründen gem. § 242 BGB zwingend entgegenstünden (was seit der Neufassung des § 828 BGB durch das 2. Schadensersatzrechtsänderungsgesetz vom 19.7. 2002 (BGBl. I 2002, S. 2672) aber womöglich schon nicht mehr zutrifft). 18 Vgl. Coester (Fn. 11), § 1629a Rn. 45. 19 S. dazu noch unten II. 3. d. 20 Vgl. Coester (Fn. 11), § 1629a Rn. 43. 21 Abgesehen natürlich von der auch insoweit offenstehenden Option, Restschuldbefreiung im (Verbraucher-)Insolvenzverfahren (vgl. §§ 286 ff., 304 ff. InsO) oder einem in Zukunft möglicherweise an seine Stelle tretenden besonderen „Entschuldungsverfahren“ (s. RegE vom 22.8.2007, BT-Drs. 16/7416, dazu m.w.N. Ahrens, NZI 2008, 86) zu erlangen. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 446 Vorsicht – Kinder haften für ihre Eltern Gesetzes gegenüber dem Minderjährigen und seinen Fähigkeit zu verantwortlichem Verhalten beruht. Auch wer die Haftungsbeschränkung als solche mit Sympathie betrachtet, muss dies als wertungsmäßiges Defizit ansehen, solange eine parallele Haftungsbeschränkung für die durch den Minderjährigen eigenverantwortlich begründeten Verbindlichkeiten fehlt. Dies wird zu beachten sein, wenn es nach dieser Einführung in die Problematik nun um das eigentliche Thema dieses Aufsatzes gehen soll, der Haftung des Kindes für seine Eltern im allgemeinen Zivilrecht. 3. Eingrenzung des Themas Das Gesetz zur Beschränkung der Minderjährigenhaftung hat nicht nur seinen Anlass, sondern – trotz bislang fehlender Judikatur – wohl auch seine primäre praktische Bedeutung auf dem Gebiet des Personengesellschaftsrechts, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass hier das Risiko existenzbedrohender persönlicher Haftung des Minderjährigen deutlich am größten ist; dementsprechend bezieht sich hierauf auch ein Großteil der zu dem neuen Gesetz erschienenen Literatur.22 Das Gesellschaftsrecht soll jedoch – auch im Hinblick auf den Adressatenkreis dieser Zeitschrift – hier weitgehend ausgespart werden. Stattdessen soll es darum gehen, inwieweit die einschlägige neue Rechtsquelle des § 1629a BGB sich in den verschiedenen ganz alltäglichen Haftungsund Zurechnungssituationen des allgemeinen Zivilrechts auswirkt. II. Die Haftung des Kindes für seine Eltern im allgemeinen Zivilrecht Wir sind es gewohnt, in vielen Bereichen, in denen dem Minderjährigen Haftungsgefahren drohen, die Zustimmung seiner Eltern vorauszusetzen, auf deren Verschulden abzustellen, auf deren Kenntnisse oder deren Willen statt der Kenntnisse oder des Willens des Kindes, und zwar zum Wohl und Schutz des Kindes. Nach allgemeinen Regeln muss sich das Kind aber diese Umstände dann aber auch mit entsprechenden Haftungsfolgen zurechnen lassen, wenn die Eltern ihre Kenntnisse nicht in die gebotene Aktion umsetzen, wenn sie durch ihr Verschulden Schäden anrichten usw. Es ist daher der näheren Betrachtung wert, inwieweit es nach neuem Recht möglich ist, die entstehenden Verbindlichkeiten unter das Haftungsprivileg des § 1629a BGB zu subsumieren. 1. Primär- und Sekundärverbindlichkeiten aus fremdverantworteten vertraglichen Schuldverhältnissen Paradigmatisch für den Anwendungsbereich des § 1629a BGB sind zweifellos die Ansprüche gegen den Minderjährigen aus Verträgen, die die Eltern als dessen gesetzliche Vertreter selbst durch Rechtsgeschäft begründet haben oder deren Begründung durch den Minderjährigen sie ihre Zustim- 22 Lesenswert für Studierende sind hier insbesondere Haertlein, JA 2000, 982; K. Schmidt, JuS 2004, 361; ferner etwa Bürger, RNotZ 2006, 156.; Rust, DStR 2005, 1942, (1992). ZIVILRECHT mung erteilt haben.23 „Durch Rechtsgeschäft (der Eltern) begründet“ sind in diesem Fall unstreitig nicht nur die auf Erfüllung gerichteten Primärverbindlichkeiten, sondern auch die aus der Verletzung des Leistungsversprechens oder einer Nebenpflicht folgenden Sekundärverbindlichkeiten auf Schadensersatz.24 Streitig ist allerdings, ob dies auch dann gilt, wenn die den Anspruch letztlich auslösende Pflichtverletzung eine solche des Minderjährigen selbst war.25 Grundlage der Meinungsverschiedenheit ist der Umstand, dass der Anspruch gegen den Minderjährigen dann nicht mehr, wie § 1629a Abs. 1 S. 1 BGB dies seinem Wortlaut nach voraussetzt, unmittelbar durch die Eltern begründet worden ist („Verbindlichkeiten, die die Eltern [...] begründet haben“). Zur Lösung dieser Streitfrage mag ein kurzer Seitenblick auf die Anwendbarkeit des § 1629a BGB im Personengesellschaftsrecht hilfreich sein, nämlich auf die Frage, ob die Verpflichtung des Minderjährigen als Gesellschafter einer OHG oder Partnerschaft oder als Komplementär einer KG noch von der Haftungsbeschränkung erfasst wird, wenn der Beitritt zu der Gesellschaft unter Mitwirkung der Eltern vorgenommen wurde: Es findet sich die Ansicht, da es sich hier um gesetzliche Haftung der Gesellschafter für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft handele und nicht um eine auf Rechtsgeschäft beruhende Mitverpflichtung der Gesellschafter, sei für die Haftungsbeschränkung kein Raum.26 Damit würde indes gerade der Fall aus dem Anwendungsbereich des § 1629a BGB eliminiert, an den die Gesetzesverfasser in erster Linie gedacht haben. Zugleich ist hiermit die Konstellation bezeichnet, in der ungeachtet einer ggf. erforderlichen familiengerichtlichen Genehmigung nach § 1822 Nr. 3 BGB das Haftungsrisiko für den Minderjährigen am höchsten ist. Denn bei erwerbswirtschaftlicher Tätigkeit sind am ehesten unvorhersehbare Entwicklungen denkbar, die schnell zur Entstehung von Verbindlichkeiten in einer für alle Beteiligten existenzbedrohenden Höhe führen können. Mit Recht geht deshalb die Mehrzahl der einschlägigen Stellungnahmen davon aus, dass dieser Fall von § 1629a BGB erfasst wird und der Wortlaut der Bestimmung insofern teleologisch zu korrigieren ist.27 Diese Lösung vermeidet es auch, dass es für die Gesell23 Vgl. die instruktive Darstellung der „Normalfälle“ bei Brauer/Roßmann, JA 2001, 381. 24 Soweit hierfür eine Pflichtverletzung der Eltern haftungsauslösend war, wird hierfür allerdings teilweise auf diese (und damit i.S.v. § 1629a Abs. 1 S. 1 BGB auf den Zurechnungstatbestand der „sonstigen Handlung“) abgestellt, vgl. dazu sogleich II. 2. und die dort genannten Nachweise. 25 So die wohl h.M., vgl. Brauer/Roßmann, JA 2001, 381 (382 f.); Muscheler, WM 1998, 2271 (2281); Coester (Fn. 11), § 1629a Rn. 43; a.A. Berger, in: Jauernig, Kommentar zum BGB, 12. Aufl. 2008, § 1629a Rn. 4; Thiel (Fn. 11), S. 38 ff. 26 Z.B. Habersack/Schneider, FamRZ 1997, 649 (653); Klumpp, ZEV 1998, 411; Reimann, MittBayNot 1998, 326 (327). 27 Kaiser (Fn. 11), § 1629a Rn. 3; Behnke, NJW 1998, 3078 (3079); Brauer/Roßmann, JA 2001, 381 (381 f.); Christmann, ZEV 2000, 45 (46); Glöckner, FamRZ 2000, 1397 (1402); _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 447 AUFSÄTZE Diederich Eckardt schaft bürgerlichen Rechts im Ergebnis darauf ankommt, ob man die Haftung der Gesellschafter nach der Theorie der Doppelverpflichtung als auf der rechtsgeschäftlichen Vertretung des Gesellschafters durch den Handelnden oder entsprechend der nunmehr ganz h.M. als akzessorische gesetzliche Haftung des Gesellschafters für die Verbindlichkeiten der verselbständigten Gesellschaft ansieht.28 Das entscheidende Kriterium ist damit die Mitwirkung und Mitverantwortung der Eltern beim Zustandekommen der Gesellschaft, während die Rechtsnatur der Verbindlichkeit selbst unerheblich ist. Von der Haftungsbeschränkung erfasst werden danach selbstverständlich auch gesetzliche Verbindlichkeiten wie deliktische Ansprüche, die auf einer der Gesellschaft nach § 31 BGB zuzurechnenden Handlung oder Unterlassung eines Mitgesellschafters beruhen, oder z.B. Steuerschulden.29 Dieser kurze Ausflug ins Gesellschaftsrecht hat gezeigt, dass es nicht entscheidend sein kann, ob der gesetzliche Vertreter auch bei der Begründung des konkreten Anspruchs mitgewirkt hat. Maßgeblich für die Einordnung eines Geschäfts als „fremdverantwortet“ muss vielmehr sein, ob das Verhalten des gesetzlichen Vertreters die bei wertender Betrachtung dominierende Ursache für das Entstehen der Verbindlichkeit gesetzt hat; auch in diesem Fall geht es, um erneut das BVerfG zu zitieren, darum, dass ein Kind „als Folge der Vertretungsmacht seiner Eltern mit erheblichen Schulden in die Volljährigkeit entlassen“ würde.30 Da der elterliche Konsens zum Vertragsschluss das für die Begründung der vertraglichen Haftung essentielle und deshalb bei wertender Betrachtung die Zurechnung jedenfalls dominierende Element darstellt, ist deshalb der Auffassung zuzustimmen, dass die aus einer Verletzung des Leistungsversprechens oder einer Nebenpflicht folgenden Sekundärverbindlichkeiten auf Schadensersatz auch dann unter § 1629a BGB zu subsumieren sind, wenn die den Anspruch letztlich auslösende Pflichtverletzung eine solche des Minderjährigen selbst war. Methodisch wird man die Konstellation wohl noch als einfache Gesetzesanwendung – bei lediglich dem Normzweck entsprechender „weiter Auslegung“ – einzuordnen haben, da es sich um eine (mittelbar) „durch Rechtsgeschäft (der Eltern) begründete“ Verbindlichkeit handelt. 2. Zurechnung von Elternverschulden innerhalb bestehender Schuldverhältnisse Unproblematisch ist darüber hinaus aber auch die Behandlung schuldhafter Pflichtverletzungen der gesetzlichen Vertreter innerhalb eines bereits bestehenden – vertraglichen, vorvertraglichen oder gesetzlichen – Schuldverhältnisses (§ 278 Abs. 1 BGB): Das Gesetz hat durch die Einbeziehung der Habersack, FamRZ 1999, 1 (3); Konz (Fn. 11), S. 42 f.; Peschel-Gutzeit, FRP 2006, 455 (456); Rust, DStR 2005, 1992 (1995); Coester (Fn. 11), § 1629a Rn. 20; Thiel (Fn. 11), S. 35 f. 28 Vgl. Ulmer, in: Münchener Kommentar zum BGB, 4. Aufl. 2002, § 714 Rn. 25 ff. 29 Vgl. – letztlich offen lassend – BFH NJW 2004, 175. 30 Vgl. Peschel-Gutzeit, FRP 2006, 455 (456); Petersen, Jura 2006, 280 (282); Coester (Fn. 11), § 1629a Rn. 5. durch „sonstige Handlungen“ begründeten Verbindlichkeiten (§ 1629a Abs. 1 S. 1 BGB) sichergestellt, dass auch die dem Kind zugerechneten tatsächlichen Handlungen (oder Unterlassungen31) der Eltern keine Haftung über das Volljährigkeitsvermögen hinaus begründen können.32 Die aus einer Verletzung des Leistungsversprechens oder einer Nebenpflicht folgenden Sekundärverbindlichkeiten auf Schadensersatz fallen deshalb in den genannten Fällen auch dann unter die Haftungsbeschränkungsnorm, wenn sich dies nicht schon aus der Art und Weise der Begründung des Schuldverhältnisses ergibt. 3. Zurechnung des Elternverhaltens bei der Begründung gesetzlicher Ansprüche Der nächste Aspekt, der hier anzusprechen ist, ist die Zurechnung des Elternverhaltens bei der Begründung gesetzlicher Ansprüche. Das Elternverhalten kann hier nur darin bestanden haben, die rechtlichen oder tatsächlichen Umstände, an die das Entstehen des gesetzlichen Anspruchs anknüpft, selbst herbeizuführen oder ihre Herbeiführung durch den Minderjährigen mit ihrer Einwilligung zu versehen; ob dies ausreicht, ist wiederum bestritten.33 a) Ansprüche wegen Pflichtverletzungen im vorvertraglichen Schutzpflichtverhältnis (§ 311 Abs. 2 i.V.m. §§ 241 Abs. 2, 280 Abs. 1 BGB, „culpa in contrahendo“) Einen ersten Beispielsfall aus dem bürgerlichen Recht soll das vorvertragliche Schutzpflichtverhältnis gem. § 311 Abs. 2 BGB bilden; es entsteht kraft objektiven Rechts unabhängig vom rechtsgeschäftlichen Willen der Beteiligten, ja sogar gegen diesen. Anknüpfungspunkt für dieses „vertragsähnliche“34 Schuldverhältnis ist die im rein Tatsächlichen liegende „Aufnahme des geschäftlichen Kontakts“, die regelmäßig vor dem Stadium tatsächlicher Vertragsverhandlungen liegt und bei der rechtsgeschäftliche Erklärungen der Partei noch gar nicht abgegeben werden. Nach h.M. können jedoch nur solche Personen Parteien des vorvertraglichen Schutzpflichtverhältnisses werden, die auch den späteren Vertragsschluss hätten vornehmen können, und zwar allein und ohne Mitwirkung des gesetzlichen Vertreters; hieraus ergibt sich, dass geschäftsunfähige Kinder gar nicht Partei des vorvertraglichen Schutzpflichtverhältnisses werden können, beschränkt geschäftsfähige Minderjährige nur mit Zustimmung des gesetzlichen Vertreters, die sich 31 Muscheler, WM 1998, 2271 (2281); Coester (Fn. 11), § 1629a Rn. 23, 26. 32 Vgl. nur Kaiser (Fn. 11), § 1629a Rn. 14; Bittner, FamRZ 2000, 325 (327); Brauer/Roßmann, JA 2001, 381 (382); Habersack, FamRZ 1999, 1 (4); Habersack/Schneider, FamRZ 1997, 649 (652); Klüsener, Rpfleger 1999, 55 (56); Huber (Fn. 11), § 1629a Rn. 9, 11 f.; Quitzau (Fn. 11), S. 202; Coester (Fn. 11), § 1629a Rn. 23; Thiel (Fn. 11), S. 37 f. 33 Grundsätzlich ablehnend insbes. Athanasiadis (Fn. 11), S. 132 ff., 144; differenzierend dagegen etwa Brauer/Roßmann, JA 2001, 381 (383 ff.); Thiel (Fn. 11), S. 34 ff. 34 Vgl. Begr. zum Schuldrechtsmodernisierungsgesetz, BTDrs. 14/6040, S. 161 f. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 448 Vorsicht – Kinder haften für ihre Eltern allerdings nur auf die Aufnahme geschäftlichen Kontakts, nicht bereits zugleich auf einen späteren Vertragsschluss beziehen muss.35 Legt man diese Auffassung zugrunde, dann setzt der konsentierende Elternteil mit seinem Einverständnis zugleich die wesentliche Ursache für die Entstehung vertraglicher Schadensansprüche gegen den Minderjährigen, sofern dieser seinerseits dem po-tentiellen Geschäftspartner schuldhaft einen Schaden zufügt. Wie bereits oben anhand des Ausflugs ins Gesellschaftsrecht gezeigt wurde, ist in diesem Fall auch nicht entscheidend, ob der gesetzliche Vertreter auch bei der Begründung des konkreten Anspruchs noch mitgewirkt hat. Maßgeblich für die Einordnung eines Geschäfts als „fremdverantwortet“ muss vielmehr sein, ob das Verhalten des gesetzlichen Vertreters die bei wertender Betrachtung dominierende Ursache für das Entstehen der Verbindlichkeit gesetzt hat. Dies ist nach dem eben Gesagten bei der culpa in contrahendo ebenso der Fall wie bei der Herstellung vertraglicher Beziehungen; in beiden Konstellationen ist daher ein eventueller Schadensersatzanspruch auch dann als fremdverantwortet unter § 1629a BGB zu subsumieren, wenn der Minderjährige den konkreten Schadenseintritt selbst verschuldet hat.36 Auch hier geht es methodisch wiederum noch um einfache Gesetzesanwendung – bei lediglich dem Normzweck entsprechender „extensiver Auslegung“ –, da es sich um eine (mittelbar) „durch Rechtsgeschäft (der Eltern) begründete“ Verbindlichkeit handelt. b) Deliktische Ansprüche Hinsichtlich der nunmehr anzusprechenden deliktischen Verbindlichkeiten ist zunächst festzuhalten, dass die Anwendbarkeit des § 1629a BGB auf Deliktsansprüche, die auf ein schuldhaftes Handeln der Eltern zurückgehen, weder möglich noch nötig ist, da schon nach den tatbestandlichen Voraussetzungen eine deliktische Haftung des Minderjährigen für schädigende Handlungen seiner Eltern – sei es qua Verschuldenszurechnung gem. § 278 BGB, sei es wegen (vermuteter) Organisationspflichtverletzung nach dem Modell des § 831 35 So Canaris, NJW 1964, 1987 (1988); Dalhoff, Die Einwirkung der Geschäftsfähigkeit auf nichtrechtsgeschäftliche Willensäußerung, Diss. Münster 1969, S. 168; Flume, Das Rechtsgeschäft, 4. Aufl. 1992, § 13, 7 e cc ; Medicus, Bürgerliches Recht, 21. Aufl. 2007, Rn. 177; ders., JuS 1965, 209 (215); Emmerich, in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2007, § 311 Rn. 90; Löwisch, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2008, Vor § 275 Rn. 69; vgl. auch BGHZ 66, 51 = NJW 1972, 712 (Gemüseblatt) unter IV. a.E.; str., a.A. Krebs, in: Dauner-Lieb u.a. (Hrsg.), Anwaltkommentar BGB, 2005, § 311 Rn. 54; Klatt, Auftraglose Fremdgeschäftsführung durch Minderjährige, 2000, S. 168 ff.; Küppersbusch, Die Haftung des Minderjährigen für c.i.c., Diss. München 1973, S. 55 ff. (65 ff.). 36 Zutr. Brauer/Roßmann, JA 2001, 381 (382 f.); Muscheler, WM 1998, 2271 (2281); Coester (Fn. 11), § 1629a Rn. 43; a.A. Berger (Fn, 25), § 1629a Rn. 4; Diederichsen (Fn. 11), § 1629a Rn. 13; Thiel (Fn. 11), S. 38 ff. ZIVILRECHT BGB – grundsätzlich ausscheidet.37 Umgekehrt ist eine Haftung des Minderjährigen für selbstverantwortete deliktische Schädigungen Dritter in den durch § 828 Abs. 2, Abs. 3 BGB gesetzten Grenzen zwar möglich; sie wird aber zweifellos durch § 1629a BGB – der eben nach Wortlaut, Regelungssystematik und Zweck eindeutig nur fremdverantwortete Verbindlichkeiten im Blick hat – nicht erfasst.38 Was in diesem Bereich aber jedenfalls bleibt, sind die Gefährdungshaftungstatbestände. Bei der Begründung eines die Gefährdungshaftung auslösenden Zustands, insbesondere der Eigenschaft als Halter eines Luxustiers oder eines Kraftfahrzeugs, geht es ausschließlich um rein tatsächliche Umstände;39 gleichwohl kann die Begründung der Haltereigenschaft eines Minderjährigen nach ganz h.M. auch oder sogar ausschließlich durch die Eltern bzw. mit deren Einwilligung erfolgen.40 Auch hier entsteht die Haftung aber nicht unmittelbar aufgrund der Handlung der Eltern, sondern kraft Gesetzes; immerhin ist eine Handlung der Eltern vorhanden, wenngleich im vorgelagerten Bereich. Die Fallkonstellation ähnelt insofern der gleichfalls an sich auf Gesetz beruhenden Gesell37 Vgl. zu § 831 BGB etwa Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, 4. Aufl. 2004, § 831 Rn. 15 m.w.N. Wer dies, wie es gelegentlich für die deliktischen Verkehrspflichten geschieht, anders sieht und hierfür die Zurechnung von Gehilfen- und Vertreterverschulden zulässt (vgl. v. Bar, Verkehrspflichten, 1980, S. 269 ff.; Mertens, VersR 1980, 397 (408); ders., in: Münchener Kommentar zum BGB, 3. Aufl. 1997, § 823 Rn. 205, 226; ausf. hierzu Wagner, a.a.O., § 823 Rn. 290 ff.), muss hierauf aber konsequent auch § 1629a BGB zur Anwendung bringen. 38 So aber – ohne methodisch tragfähige Begründung – Ludyga, FPR 2006, 460. Zu den auf der Grundlage der ganz h.M. diskutierten Möglichkeiten zur Begrenzung der deliktischen Minderjährigenhaftung s. bereits die Nachw. oben Fn. 17. 39 ,,Tierhalter“ i.S.v. § 833 BGB ist z.B., wer das Tier nicht nur ganz vorübergehend im eigenen Interesse in seinem Hausstand oder Wirtschaftsbetrieb hat oder verwendet (vgl. m.w.N. Sprau, in: Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 833 Rn. 10). Dabei handelt es sich um ein rein tatsächliches Verhältnis; irrelevant sind insbesondere das Eigentum oder der Besitz an der Sache. "Halter" eines Kraftfahrzeugs nach § 7 StVG ist, wer das Fahrzeug für eigene Rechnung in Gebrauch hat und die Verfügungsmacht darüber besitzt, die ein solcher Gebrauch voraussetzt (BGHZ 13, 351 [354 ff.]); auch hier sind allein die tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnisse ausschlaggebend. 40 Spindler, in: Bamberger/Roth, Kommentar zum BGB, 2. Aufl. 2007, § 833 Rn. 14; Canaris, NJW 1964, 1987 (1991); Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994, § 84 Abs. 1 S. 2 g (S. 609); Eberl-Borges, VersR 1996, 1070 (1073 ff.); dies., in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2008, § 833 Rn. 113 ff.; Staudinger/Schmidt, Jura 2000, 347 (349); Waitzmann (Fn. 11), S. 70 ff.; vgl. auch BGH NJW-RR 1990, 789 (790); a.A. (nur § 828 BGB analog) Borgelt, Das Kind im Deliktsrecht, 1995, S. 85 ff.; Hofmann, NJW 1964, 228 (229); Deutsch, JuS 1987, 673 (678); Wagner (Fn. 37), § 833 Rn. 30. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 449 AUFSÄTZE Diederich Eckardt schafterhaftung, und ebenso wie dort sollte die Anwendung des § 1629a BGB auf diese Fälle keinen durchgreifenden Bedenken begegnen. Was den Betrachter freilich innehalten lässt, ist der Umstand, dass die Interessen des Geschädigten hier womöglich doch größere Beachtung verdienen, stehen ihm doch die Möglichkeiten, sich des geschäftlichen Umgangs mit dem Minderjährigen zu enthalten oder sich immerhin ausreichende Sicherheiten auszubedingen, nicht zu Gebote. Durchgreifend ist dieses Bedenken indessen nicht: Auch im Fall der Zurechnung der elterlichen Verantwortung wird eine Abdeckung durch Sicherheiten kaum einmal gegeben sein, da diese sich gewöhnlich nur auf die Hauptleistungspflicht erstrecken. Verschaffen die Eltern dem Kind also die Eigenschaft z.B. als Halter eines Luxustiers oder billigen sie deren Erwerb durch das Kind, so fällt der Schaden, der durch den sich als bissig erweisenden Köter angerichtet wird, deshalb ebenfalls unter § 1629a BGB.41 Aus den gleichen Erwägungen kann dann im Übrigen auch die Inanspruchnahme des Minderjährigen aus § 831 BGB ausnahmsweise von der Haftungsbeschränkung erfasst werden, nämlich dann, wenn die elterliche Mitverantwortung darin besteht, der Bestellung eines Verrichtungsgehilfen ihre Zustimmung gegeben zu haben.42 Methodisch wird auch diese Konstellation wiederum noch als einfache Gesetzesanwendung einzuordnen sein; auch hier kann man im Hinblick auf die Zustimmung der Eltern zur Begründung der Haltereigenschaft bzw. zur Bestellung des Verrichtungsgehilfen noch von einer (mittelbar) „durch Rechtsgeschäft (der Eltern) begründete“ Verbindlichkeit sprechen. c) Ansprüche im Eigentümer-Besitzer-Verhältnis Von Interesse ist auch die Haftung in den anderen gesetzlichen Schuldverhältnissen zuwenden. Beginnen möchte ich mit dem Eigentümer-Besitzer-Verhältnis gem. §§ 987 ff. BGB. Dieses gesetzliche Schuldverhältnis entsteht als solches kraft gesetzlicher Anordnung, nämlich allein aufgrund der Vindikationslage, der Existenz des Eigentumsherausgabeanspruchs gegen den unberechtigten Besitzer (§ 985 BGB). Die Geschäftsfähigkeit des Besitzers ist für die Entstehung dieses Anspruchs weder erforderlich noch überhaupt von Bedeutung; sie ist auch nicht nötig, soweit es um den Schutz des gutgläubigen unverklagten Besitzers geht, der nach dem Gesetz vor Ansprüchen auf Nutzungsherausgabe und Schadensersatz gerade bewahrt werden soll. Anders ist dies jedoch, soweit der Besitzer wegen seiner Bösgläubigkeit einer verschärften Schadensersatz- und Nutzungsherausgabehaftung unterworfen werden soll (§ 990 Abs. 1 i.V.m. §§ 987, 989 BGB). Insoweit wird unstreitig die Bösgläubigkeit des gesetzlichen Vertreters, der den Besitzerwerb vollzogen hat oder der nachträglich von der fehlenden Besitzberechtigung Kenntnis erlangt hat, im Hinblick auf seine „Gesamtverantwortung für den Vertretenen“43 dem Minderjährigen zugerechnet.44 41 Zutr. Waitzmann (Fn. 11), S. 74 ff., 183; a.A. Diederichsen (Fn. 11), § 1629a Rn. 13; Coester (Fn. 11), § 1629a Rn. 42. 42 Zutr. Brauer/Roßmann, JA 2001, 381 (385). 43 Schilken, Wissenszurechnung im Zivilrecht, 1983, S. 287. Im Hinblick auf die Anwendbarkeit der Haftungsbeschränkung des § 1629a BGB fragt es sich danach, ob es hierfür ausreicht, dass dem minderjährigen Besitzer der böse Glaube seines gesetzlichen Vertreters zugerechnet wird, oder ob zusätzlich erforderlich ist, dass auch das Tatbestandsmerkmal des Verschuldens durch den gesetzlichen Vertreter verwirklich worden ist. Wäre letzteres der Fall, so ergäbe sich die Anwendbarkeit der Haftungsbeschränkung nach dem eben Gesagten schon aus der Zurechnung des schuldhaften elterlichen Handelns – als „sonstiges Verhalten“ i.S.v. § 1629a Abs. 1 S. 1 BGB – und die Zurechnung der Bösgläubigkeit wäre ohne selbständige Bedeutung; sie würde in diesem Fall folgerichtig auch dann nicht die Anwendbarkeit des § 1629a BGB nach sich ziehen, wenn das Verschulden, was durchaus möglich ist, bei dem Minderjährigen lag. Vorzugswürdig erscheint es jedoch, entscheidend auf die Zurechnung der Bösgläubigkeit abzustellen. Dem gutgläubigen unverklagten Besitzer kann aus der Beschädigung oder Zerstörung der Sache kein haftungsrechtlich relevanter Vorwurf gemacht werden. Sein Verschulden gegen sich selbst ist unerheblich, solange er nicht wusste, dass er die Sache würde herausgeben müssen. Der Schwerpunkt der Zurechnung und damit auch das entscheidende Kriterium für die Abgrenzung von eigen- und fremdverantworteter Haftung muss deshalb bei der Bösgläubigkeit liegen. Methodisch ist zwar nicht unzweifelhaft, ob diese Fälle noch im Wege einfacher Auslegung unter das Tatbestandsmerkmal der „durch sonstige Handlung (der Eltern) begründete Verbindlichkeit“ i.S.v. § 1629a Abs. 1 S. 1 BGB subsumiert werden können; denn um eine „Handlung“ der Eltern – also ein Tun oder Unterlassen – handelt es sich bei deren die Bösgläubigkeit begründenden Kenntnissen nicht. Entscheidend muss aber auch insoweit sein, ob der Minderjährige selbst oder nicht vielmehr sein gesetzlicher Vertreter die bei wertender Betrachtung dominierende Ursache für das Entstehen der Verbindlichkeit gesetzt hat. Hierfür ist unerheblich, ob es sich um eine „Handlung“ oder eine sonstige Ursache handelt; maßgeblich ist allein, dass es sich um einen in der Person der Eltern verwirklichten Umstand handelt, der als Folge der elterlichen Vertretungsmacht nachteilige Haftungsfolgen für das Kind nach sich zieht, denn auch in diesem Fall geht es darum, dass ein Kind „als Folge der Vertretungsmacht seiner Eltern mit erheblichen Schulden in die Volljährigkeit entlassen“ würde.45 Das Tatbestandsmerkmal der „durch sonstige Handlung (der Eltern) begründeten Verbindlichkeit“ ist seinem Zweck nach also nicht im engeren Wortsinne zu verste44 Vgl. Koether/Ruchatz, NJW 1973, 1444 (1446); Medicus, in: Münchener Kommentar zum BGB, 4. Aufl. 2004, § 990 Rn. 17; Pawlowski, JuS 1967, 302 (307); Pinger, MDR 1974, 184 (187); Schilken (Fn. 43), S. 287 ff., 290; Gursky, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2008, § 990 Rn. 38 f. Umstritten ist lediglich, ob ein Abstellen auf die eigene Bösgläubigkeit des Minderjährigen gänzlich ausgeschlossen ist oder, wie die h.M. annimmt, analog § 828 Abs. 3 BGB unter der Voraussetzung entsprechender Einsichtsfähigkeit möglich sein soll, vgl. z.B. Schilken, Gursky, Pinger aaO. 45 S.o. unter I.1. m. Fn. 7. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 450 Vorsicht – Kinder haften für ihre Eltern hen; vielmehr bringt es lediglich zum Ausdruck, dass eine „fremdverantwortete“ Schuldbegründung eben nicht auf elterlichem Rechtsgeschäft beruhen muss, sondern auch „in sonstiger Weise (durch die Eltern)“ erfolgt sein kann. Wohl schon im Wege extensiver Auslegung, jedenfalls aber in analoger Anwendung ist das Merkmal deshalb dahin zu interpretieren, dass hierüber auch bloße Kenntnisse oder auch Willensmomente erfasst werden können.46 Für die Ansprüche gemäß §§ 990, 987, 989 BGB folgt hieraus die Anwendung des § 1629a BGB bereits aufgrund der dem Minderjährigen zugerechneten Bösgläubigkeit der Eltern; folgerichtig muss es ebenso ausreichen, wenn prozessordnungsgemäß (vgl. § 170 Abs. 1 ZPO) den Eltern die Herausgabeklage zugestellt worden ist.47 d) Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung Ähnlich wie im Eigentümer-Besitzer-Verhältnis stellt sich die Problemlage im Hinblick auf die verschärfte Haftung des bösgläubigen Bereicherungsschuldners (§§ 819 Abs. 1, 818 Abs. 4 BGB) dar. Sie soll, wenn der Bereicherungsschuldner minderjährig ist, nach h.M. voraussetzen, dass die Eltern – sei es sie allein, sei es zugleich mit dem Kind – die erforderliche Kenntnis von der Rechtsgrundlosigkeit des Erwerbs gehabt haben; hierüber ist man sich für die Leistungskondiktionen, die primär der Rückabwicklung fehlgeschlagener Verträge und vergleichbarer Konstellationen dienen, sogar fast einig.48 Anders sieht es für die Nichtleistungskondiktionen aus; hier orientiert man sich doch sehr verbreitet am paradigmatischen Fall des rechtswidrigen Eingriffs in ein absolutes Recht und stellt deshalb unter Berücksichtigung des altersspezifischen Verschuldensmaßstabs aus § 828 Abs. 3 BGB auf die Bösgläubigkeit des Minderjährigen selbst ab.49 Damit wird entsprechend dem eben Gesagten zugleich determiniert, ob der Anspruch unter die Haftungsbeschränkung des § 1629a BGB fällt: Auch hier muss also die Bösgläubigkeit der Eltern das für die Einordnung als fremdverantwortete Verbindlichkeit entscheidende Zurechnungsmoment bilden. Bei ZIVILRECHT der Haftung aufgrund Eingriffskondiktion kommt eine Anwendung des § 1629a BGB mithin nicht in Betracht, da allein auf die Kenntnis des Minderjährigen abzustellen ist.50 Anders ist dies dagegen bei der Leistungskondiktion: Die Bestimmung des § 1629a BGB ist anwendbar, wenn die Eltern einen unwirksamen Vertrag als gesetzliche Vertreter des Minderjährigen abgeschlossen haben und von der Unwirksamkeit oder Anfechtbarkeit des Vertrages wissen, so dass die Berufung auf Entreicherung gemäß §§ 818 Abs. 4, 819 BGB ausgeschlossen ist.51 Die Bestimmung des § 1629a BGB ist aber auch dann anwendbar, wenn der Minderjährige den Vertrag, der rückabzuwickeln ist, ohne Mitwirkung seiner Eltern abgeschlossen hat und diese lediglich vor dem Eintritt der Entreicherung Kenntnis im Sinne von § 819 Abs. 1 BGB erlangt haben.52 Seinem Sinn und Zweck nach muss § 1629a BGB aber jedenfalls unanwendbar sein – insoweit also teleologisch reduziert werden – , wenn der Anspruch nicht auf eine Schmälerung des Vermögens des Minderjährigen gerichtet ist, sondern nur dessen noch vorhandene Bereicherung abschöpft; dies ist vor allem dann der Fall, wenn der Minderjährige im Umfang einer noch vorhandenen Bereicherung Wertersatz leisten muss53 oder wenn es um die Herausgabe eines noch gegenständlich im Vermögen des Minderjährigen vorhandenen Bereicherungsgegenstands geht.54 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Unanwendbarkeit der Saldotheorie55 davor schützt, bei der Rückabwicklung eines gescheiterten gegenseitigen Vertrages durch Wegfall oder Minderung seines eigenen Bereicherungsanspruchs hinsichtlich der Gegenleistung Vermögensnachteile zu erleiden. e) Ansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag Kommen wir abschließend zur Geschäftsführung ohne Auftrag: Ein Problem der Haftung des Minderjährigen für seine Eltern kommt bei der Geschäftsführung ohne Auftrag zum einen 50 46 Vgl. bereits Muscheler, WM 1998, 2271 (2281); Quitzau (Fn. 11), S. 250 f.; Coester (Fn. 11), § 1629a Rn. 44 (jeweils primär zu §§ 683, 819 BGB, s. dazu weiter unten). 47 A.A. Brauer/Roßmann, JA 2001, 381 (384), da es sich um einen rein gesetzlichen Anspruch handele. 48 Larenz/Canaris (Fn. 40), § 73 Abs. 2 S. 2a (S. 312 f.); Reuter/Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, 1983, § 18 Abs. 3 S. 2; Lorenz, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2008, § 819 Rn. 10; Lieb, in: Münchener Kommentar zum BGB, 4. Aufl. 2004, § 819 Rn. 7; nach Böhmer, MDR 1959, 705 (706); Koppensteiner/Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, 2. Aufl. 1988, S. 145 f., soll grundsätzlich auf die den Minderjährigen (d.h. dessen Deliktsfähigkeit) abzustellen sein, zumindest sofern sich der Bereicherungsanspruch auf eine Sache richte. 49 Gursky, NJW 1969, 2183 (2184); Larenz/Canaris (Fn. 40), § 73 Abs. 2 S. 2a; Pawlowski, JuS 1967, 302.; vgl. auch BGHZ 55, 128 (136) = NJW 1971, 609 (Flugreise); BGH LM § 812 BGB Nr. 5 = MDR 1977, 388; a.A. Lieb (Fn. 48), § 819 Rn. 7, Lorenz (Fn. 48), § 819 Rn. 10, die immer auf die Kenntnis des gesetzlichen Vertreters abstellen wollen. Coester, Jura 2002, 88 (90); Quitzau (Fn. 11), S. 252 f.; Muscheler, WM 1998, 2271 (2281). 51 Quitzau (Fn. 11), S. 247 f.; Bittner, FamRZ 2000, 325 (326): Subsumtion unter das Tatbestandsmerkmal der ,,sonstigen Handlung“; im Ergebnis ebenso Coester, Jura 2002, 88 (90); ders. (Fn. 11), § 1629a Rn. 21; Kaiser (Fn. 11), § 1629a Rn. 15: Tatbestandsmerkmal ,,durch Rechtsgeschäft“; a.A. Athanasiadis (Fn. 11), S. 143 f.: nicht von § 1629a Abs. 1 BGB erfasst, weil „gesetzliche“ Verbindlichkeit. 52 Muscheler, WM 1998, 2271 (2281); Quitzau (Fn. 11), S. 250 f.; Coester (Fn. 11), § 1629a Rn. 44. 53 A.A. Brauer/Roßmann, JA 2001, 381 (384); wie hier wohl Diederichsen (Fn. 11), § 1629a Rn. 13. 54 Vgl. Athanasiadis (Fn. 11), S. 143; Brauer/Roßmann, JA 2001, 381 (384); Quitzau (Fn. 11), S. 246 f.; Coester (Fn. 11), § 1629a Rn. 45. 55 Seit Inkrafttreten des § 1629a BGB ist streitig geworden, ob die bislang zugunsten Minderjähriger anerkannte Ausnahme von der Saldotheorie (BGHZ 126, 105 [108] m.w.N.) nach wie vor ihre Berechtigung hat, bejahend Konz (Fn. 11), S. 241 ff.; Quitzau (Fn. 11), S. 245 f.; a.A. Habersack/Schneider, FamRZ 1997, 649 (655). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 451 AUFSÄTZE Diederich Eckardt in denjenigen Fällen in Betracht, in denen ein Geschäft im Rechtskreis des Minderjährigen durchgeführt wird, dieser also Geschäftsherr ist; denn für die nach dem Gesetz entscheidende Frage, ob das Geschäft dem primär maßgeblichen tatsächlichen Willen des Geschäftsherrn entspricht, ist nach allgemeiner Meinung auf den Willen der gesetzlichen Vertreter abzustellen.56 Nun könnte man auf die Idee kommen, dann auch die aus der Geschäftsführung resultierenden Verpflichtungen des Minderjährigen generell unter die Haftungsbeschränkung aus § 1629a BGB fallen zu lassen.57 Für meine Begriffe geht das zu weit. Es darf nicht pauschal dort, wo die Eltern statt des Kindes auftauchen, ohne weiteres die Haftungsbeschränkung angewandt werden. Der Elternwille ist nur dann gewissermaßen tragend für die Legitimität des Geschäfts, wenn er – was allerdings möglich und beachtlich wäre – unvernünftig oder unsachgemäß ist. Soweit der Wille der Eltern dem objektiven Interesse des Kindes konform geht, wäre die Legitimität des Geschäfts auch dann zu bejahen, wenn man sich den Elternwillen hinweg denkt; in diesem Fall kann deshalb die Übereinstimmung des Geschäftsführerhandelns mit dem Elternwillen auch nicht die Haftungsbeschränkung rechtfertigen. Was bleibt, ist der wohl eher theoretische Fall, dass der Geschäftsführer eine nicht im objektiven Kindesinteresse liegende Geschäftsführungsmaßnahme vornimmt, damit aber zufällig einem explizit abweichenden Elternwillen entspricht; in diesem Fall ist der Anspruch des Geschäftsführers allein über die Eltern zu begründen, so dass es in der Tat gerechtfertigt erscheint, hierauf § 1629a BGB anzuwenden. Um die Haftung des Kindes für seine Eltern kann es aber auch gehen, wenn der Minderjährige gerade umgekehrt selbst als auftragsloser Geschäftsführer ein Geschäft im Rechtskreis eines Dritten übernimmt. Das Gesetz bestimmt, dass der minderjährige Geschäftsführer nur nach Delikts- oder Bereicherungsrecht verantwortlich ist (§ 682 BGB). Wie der Minderjährige aber überhaupt im Rechtssinne Geschäftsführer werden kann, ob es dafür allein auf sein eigenes Verhalten ankommt oder ob er der Zustimmung der gesetzlichen Vertreter bedarf, ist streitig. Im Anschluss an Flume58 geht die wohl h.M. dahin, eine Fremdgeschäftsführung durch den Minderjährigen ohne Zustimmung des gesetzlichen Vertreters für unbeachtlich zu halten;59 liegt die Zustimmung aber vor, so bewirkt sie, dass der Minderjährige haftet wie ein Volljähriger, vom altersspezifischen Verschuldensmaßstab einmal abgesehen.60 Folgt man dem, so können die Eltern mit ihrer Zustimmung den Grund für eine unbegrenzte Schadensersatzhaftung des Minderjährigen wegen schuldhaft schlechter Ausführung der Geschäftsführung legen. Für diesen Anspruch sollte dann auch die Haftungsbeschränkung des § 1629a BGB zur Anwendung gebracht werden: Das gesetzliche Schuldverhältnis der Geschäftsführung ohne Auftrag entsteht auf dieser Grundlage überhaupt erst mit der elterlichen Zustimmung; ebenso wie in den Fällen, in denen der Minderjährige im Rahmen eines von seinen Eltern abgeschlossenen Vertrags eine schuldhafte Pflichtverletzung begeht, ist dies deshalb das die Zurechnung dominierende Element. 56 59 Vgl. nur BGHZ 55, 128 = NJW 1971, 609 (612); Gehrlein, in: Bamberger/Roth, Kommentar zum BGB, 2. Aufl. 2007, § 682 Rn. 2; Ehmann, in: Erman, BGB, 12. Aufl. 2008, § 682 Rn. 4; Medicus, FamRZ 1971, 250 (251); Seiler, in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2007, § 682 Rn. 7; Wittmann, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2008, § 682 Rn. 5. 57 Vgl. Quitzau (Fn. 11), S. 255 f.; Muscheler, WM 1998, 2271 (2281); Coester (Fn. 11), § 1629a Rn. 44; Waitzmann (Fn. 11), S. 22; a.A. Bittner, FamRZ 2000, 325 (326 Fn. 19); generell gegen die Anwendbarkeit des § 1629a BGB auf Verbindlichkeiten aus Geschäftsführung ohne Auftrag Glöckner, FamRZ 2000, 1397 (1405 Fn. 94); Klatt (Fn. 35), S. 178 f. 58 Flume (Fn. 35), § 13 II 11e. f) Ansprüche aus Rechtsscheinshaftung Der nächste Punkt, auf den ich eingehen möchte, betrifft die Haftungsvoraussetzung der zurechenbaren Veranlassung. Den ersten Beispielsfall hierfür möchte ich ausnahmsweise doch aus dem Handelsrecht entlehnen, es ist dies die Haftung gemäß § 15 Abs. 3 HGB aufgrund der positiven Publizität des Handelsregisters, und zwar in den Fällen unrichtig eingetragener oder bekannt gemachter eintragungspflichtiger Tatsachen. Dabei kommt im vorliegenden Zusammenhang als einzutragende Tatsache insbesondere die Eigenschaft als Inhaber eines Handelsgeschäfts oder als Gesellschafter einer Personengesellschaft in Betracht, die dann ihrerseits Ansprüche gegen den Betroffenen nach sich ziehen kann. Hintergrund des Problems ist der Umstand, dass seit dem Handelsrechtsreformgesetz des Jahres 1998, das nur wenige Tage älter ist als das Gesetz zur Beschränkung der Haftung Minderjähriger, das Geburtsdatum des Einzelkaufmanns sowie der Gesellschafter der handelsrechtlichen Personengesellschaften in das Handelsregister einzutragen ist – und zwar, abweichend von früheren Entwürfen, das Geburtsdatum aller, auch der volljährigen Kaufleute bzw. Gesellschafter. Dies bedeutet zunächst, dass eine versehentlich ganz unterbliebene Eintragung des Geburtsdatums nicht den Rechtsschein auslösen kann, der Betreffende sei volljährig; die negative Publizitätswirkung des § 15 Abs. 1 HGB ist deshalb richtiger Ansicht nach auf diesen Fall nicht anwendbar.61 Aber das GeburtsdaVgl. – gegen LG Aachen NJW 1963, 1252 – mit Unterschieden im Detail etwa Canaris, NJW 1964, 1987; Diederichsen, MDR 1964, 889 (891); Ehmann (Fn. 56), § 682 Rn. 2 f.; Klatt (Fn. 35), S. 66 ff., 172 ff., 210; Knoche, MDR 1964, 193; Köbler, JuS 1979, 789; Wittmann (Fn. 11), § 682 Rn. 2. 60 Nachw. aaO. (Fn. 59); a.A. insoweit aber Klatt (Fn. 35), S. 210 ff. 61 Athanasiadis (Fn. 11), S. 168; Christmann, ZEV 2000, 45 (47); Glöckner, FamRZ 2000, 1397 (1400 Fn. 28); Muscheler, WM 1998, 2271 (2283); Coester (Fn. 11), § 1629a Rn. 78; a.A. offenbar Rust, DStR 2005, 1992 (1995); MüllerFeldhammer, FamRZ 2002, 13 (17). Eine andere (und ihrerseits streitige) Frage ist, ob § 15 Abs. 1 HGB überhaupt zu Lasten Minderjähriger anwendbar ist, bejahend BGHZ 115, _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 452 Vorsicht – Kinder haften für ihre Eltern tum des Minderjährigen kann, etwa aufgrund eines Schreibversehens bei der Anmeldung, der Eintragung oder der Bekanntmachung, derart unrichtig eingetragen oder bekannt gemacht worden sein, dass der Minderjährige explizit als Erwachsener erscheint. In der Begründung zur Novelle von 1998 wird dieses Problem angesprochen, seine ausdrückliche Einbeziehung in § 1629a BGB jedoch als entbehrlich bezeichnet, da die allfälligen Kontrollen solche Fehler weitgehend ausschließen sollten62 – eine etwas eigenartige Begründung, da sie eigentlich den ganzen § 15 Abs. 3 HGB als entbehrlich erscheinen lassen müsste; auch die Rechtspraxis wird sich der Beantwortung solcher Fragen kaum mit dem Argument entziehen können, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Fragt man sich deshalb, wie die Rechtspraxis diese Fälle behandeln sollte, so dürfte entscheidend sein, wie man § 15 Abs. 3 HGB interpretiert: Geht es, wie dies etwa von Karsten Schmidt63 vertreten wird, um Bindung an den Registerinhalt an sich, um objektivierten Rechtsschein, so dürfte es in der Tat richtig sein, dem handelsrechtlichen Verkehrsschutz den Vorrang vor dem Minderjährigenschutz zu geben. Sieht man dagegen, der wohl h.M.64 entsprechend, in § 15 Abs. 3 HGB eine Haftung für zurechenbar veranlassten Rechtsschein und relativiert insofern generell den an die Registerpublizität anknüpfenden handelsrechtlichen Verkehrsschutz, so kommt man kaum daran vorbei, für die Zurechnung auf die gesetzlichen Vertreter abzustellen und die hierauf beruhenden Ansprüche dann auch konsequent dem Haftungsregime des § 1629a BGB zu unterstellen.65 Um damit den Ausflug ins Handelsrecht abzubrechen und ins bürgerliche Recht zurückzukehren: Der angesprochene Gedanke – nämlich der, dass es für die Anwendung von § 1629a BGB ausreichen muss, wenn dem Minderjährigen im Hinblick auf das Verhalten seiner seine Eltern bestimmte Umstände zugerechnet werden können – , dieser Gedanke muss auch für die Rechtsscheinstatbestände des bürgerlichen 78 (80) = NJW 1991, 2566; s. Arnold (Fn. 11), S. 152 ff. m.w.N. 62 BT-Drs. 13/5624, S. 14. 63 Heymann/Sonnenschein/Weitemeyer, HGB, 2. Aufl. 1995, § 15 Rn. 37; Krebs, in: Münchener Kommentar zum HGB, 2. Aufl. 2005, § 15 Rn. 83 ff.; K. Schmidt, Handelsrecht, 5. Aufl. 1999, § 14 Abs. 3 S. 3b; ders., JuS 1977, 209 (216 f.); Hüffer, in: Staub, Kommentar zum HGB, 4. Aufl. 1995, § 15 Rn. 55. 64 Hopt, in: Baumbach/Hopt, HGB, 33. Aufl. 2008, § 15 Rn. 19; Canaris, Handelsrecht, 24. Aufl. 2006, § 5 Rn. 52 f.; Gehrlein, in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 2. Aufl. 2008, § 15 Rn. 34; Hager, Jura 1992, 57 (65). 65 Zutr. Arnold (Fn. 11), S. 164 ff., 184 ff.; Behnke, NJW 1998, 3078 (3081 f.); Christmann, ZEV 2000, 45 (47); Eckebrecht, MDR 1999, 1248 (1251); Gehrlein, (Fn. 64), § 15 Rn. 34; Glöckner, FamRZ 2000, 1397 (1400, Fn. 28); Haertlein, JA 2000, 982 (990); Muscheler, WM 1998, 2271 (2283); Coester (Fn. 11), § 1629a Rn. 79; Waitzmann (Fn. 11), S. 17 ff., 183; a.A. Habersack/Schneider, FamRZ 1997, 649 (651); Krebs (Fn. 63), § 15 Rn. 21, 93. ZIVILRECHT Rechts gelten. In teleologischer Hinsicht macht es auch keinen Unterschied, ob die Eltern etwa im Namen des Kindes eine Vollmacht für einen Dritten ausstellen, der dann seinerseits das Kind rechtsgeschäftlich verpflichtet, oder ob ihr Verhalten lediglich zur Annahme einer Rechtsscheinsvollmacht Anlass gibt. Auch die Fälle der bürgerlich-rechtlichen Rechtsscheinsvollmacht sowie der im Gesetz angesprochenen Konstellationen der Aushändigung oder Mitteilung einer Vollmacht sind daher unabhängig von ihrer streitigen dogmatischen Einordnung jedenfalls entsprechend § 1629a BGB zu behandeln. 4. Mögliche Weiterungen: Einschränkung der Anrechnung elterlichen Mitverschuldens? Wer für die hier vorgeschlagene extensive Handhabung des § 1629a BGB plädiert, kommt an der Frage nicht vorbei, ob die maßgeblichen telelogischen Erwägungen nicht auch in anderen, von § 1629a BGB nicht mehr erfassten Fällen einer „Haftung von Kindern für ihre Eltern“ Geltung beanspruchen, insbesondere im Fall der anspruchsmindernden Anrechnung elterlicher Verantwortungsbeiträge. Angesprochen sind damit alle Fälle des elterlichen Mitverschuldens bei der Abwendung oder Minderung des Schadens aus einem Verletzungsereignis, das Ansprüche des Kindes begründet hat (§ 254 Abs. 2 S. 1, S. 2 i.V.m. § 278 BGB). Soweit sich das Mitverschulden schon auf das Verletzungsereignis selbst bezog, sind immerhin alle diejenigen Fälle betroffen, in denen zwischen Kind und Schädiger bereits eine Sonderverbindung bestand, einschließlich des zu Ansprüchen aus culpa in contrahendo gesteigerten sozialen Kontakts und der Ansprüche aus Vertrags mit Schutzwirkung für Dritte.66 Fehlt es an einer solchen Sonderverbindung, ist immer noch an die Fallgestaltungen zu denken, bei denen, ein geringes eigenes Mitverschulden des Kindes vorausgesetzt, im Rahmen der sog. Zurechnungseinheiten eine Addition der Verantwortungsbeiträge von Kind und Elternteil stattfindet; hierbei wird dem Kind zum Zweck der Bildung einer einheitlichen Mitverursachungsquote der Verursachungsbeitrag der Eltern zugerechnet und der Anspruch des Kindes um die addierte Quote gemindert.67 Prima facie scheinen nun die zur Behandlung des haftungsbegründenden Elternverhaltens nach § 1629a BGB geltenden Grundsätze nicht auch für das elterliche Mitverschulden anwendbar zu sein.68 Dafür spricht, dass die Konstellation, in der das elterliche Mitverschulden relevant wird – nämlich bei der Abwehr oder zur Minderung eines Anspruchs, den der Minderjährige in der Position des anspruchstellenden Gläubi66 Vgl. BGH NJW 1964, 1670 (1671); BGH NJW 1980, 2080; BGH NJW 1988, 2667 (2668); Oetker, in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2007, § 254 Rn. 128; Waitzmann (Fn. 11), S. 120 ff., jeweils m.w.N. 67 Vgl. BGHZ 54, 283; BGHZ 61, 213 (218); BGHZ 103, 338 (344); BGH NJW 1996, 2023; Roth, Haftungseinheiten bei § 254 BGB, 1982, S. 51 ff; Looschelders, Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht, 1999, S. 546 ff.; für das Eltern-Kind-Verhältnis abl. Waitzmann (Fn. 11), S. 145 ff., 150. 68 Vgl. Thiel (Fn. 11) S. 21 ff.; Quitzau (Fn. 11) S. 121 ff. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 453 AUFSÄTZE Diederich Eckardt gers geltend macht – , von der bislang vorausgesetzten Situation völlig verschieden ist: Bisher ging es nämlich genau umgekehrt um die Abwehr von gegen den Minderjährigen gerichteten Ansprüchen, um zu verhindern, dass dessen Start ins Leben gleich mit übermäßiger Verschuldung beginnt; das ist etwas ganz anderes als die Kürzung eigener Ansprüche des Minderjährigen, die gleichsam auf der Habenseite seiner privaten Vermögensbilanz stattfindet. An dieser Aussage ist und bleibt für den Normalfall auch nichts zu korrigieren, und so ist es auch kein Wunder, dass die einschlägige Literatur zumeist kein Wort zum elterlichen Mitverschulden verliert.69 Trotzdem stellt sich die Frage, ob es nicht Fallgestaltungen gibt – und zwar praktisch häufige und wirtschaftlich bedeutsame Fallgestaltungen – , die man unter diesem Aspekt überdenken sollte. Dies sind die in der Rechtswirklichkeit leider nicht seltenen Fälle, in denen das Kind einen Unfall erleidet, an dessen Zustandekommen neben einem familienexternen Dritten auch ein Elternteil ein Verschulden trifft, sei es unmittelbar, sei es durch Verletzung der Aufsichtspflicht, und in denen das Kind sich dieses Mitverschulden der Eltern anspruchsmindernd anrechnen lassen muss. Zu denken ist dabei insbesondere an solche Unfälle, die zu einer lebenslangen Schädigung des Kindes führen, mit einem lebenslang erheblich erhöhten finanziellen Bedarf für Therapie und Rehabilitation, Betreuung und technische Hilfsmittel, die dem Kind und später dem Volljährigen ein angemessenes, vielleicht sogar überhaupt erst ein menschenwürdiges Leben ermöglichen sollen. In diesen Fällen ist das Kind zwar nicht mit einer Verbindlichkeit belastet. Es scheint mir aber durchaus unerheblich zu sein, ob die Einbuße an Optionen zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung in der Belastung mit einer Verbindlichkeit besteht oder darin, dass eigene Ansprüche des Minderjährigen, die ihm diese Option eröffnen oder wiedereröffnen sollen, durch ein dem Minderjährigen als Mitverschulden anzulastendes elterliches Handeln oder Unterlassen zunichte gemacht werden. Eine unmittelbare oder entsprechende Anwendung des § 1629a BGB scheidet hier zwar offensichtlich aus, schon weil die angeordnete Rechtsfolge – Haftungsbeschränkung – hier nicht passt; es geht ja gerade umgekehrt darum, dem Minderjährigen einen Anspruch ungeschmälert zu erhalten, den er durch das Fehlverhalten seiner Eltern ganz oder teilweise verlieren würde. Jedoch haben wir nun einmal die bindenden Entscheidungsgründe des BVerfG, wonach der Minderjährige von Verfassungswegen nicht mit erheblichen auf seine Eltern zurückzuführenden Verbindlichkeiten in die Volljährigkeit entlassen werden darf; diese Aussage kann und muss wohl auch auf die vorliegende Konstellation entsprechend angewandt werden. Unter der weiteren Prämisse, dass diese Feststellung wenigstens als mittelbare Drittwirkung der Grundrechte bei der Auslegung der zivilrechtlichen Generalklauseln zu berücksichtigen ist,70 erscheint es deshalb ange- 69 Vgl. zu einem ähnlichen Gedankengang bereits Hertwig, FamRZ 1987, 124 (127). 70 St. Rspr. seit BVerfGE 7, 198 (207) (Lüth); s. BVerfGE 73, 261 (269); BVerfGE 81, 242 (255 f.); BVerfGE 89, 214 (229); bracht, dem Minderjährigen eine Einwendung aus § 242 BGB gegen die Anrechnung des elterlichen Mitverschuldens zu gewähren, wenn und soweit er anderenfalls in die beschriebene Situation käme, den erlittenen Schaden nicht in dem Maße kompensieren zu können, wie es für eine angemessene Lebensführung erforderlich ist. Dass diese Lösung insofern, als sie das elterliche Mitverschulden unter Umständen zu Lasten des Drittschädigers ausblendet, nicht ohne anerkanntes Vorbild ist, zeigen die häufig unter dem Terminus der „gestörten Gesamtschuld“ geführten Fälle der Regressbehinderung gemäß §§ 1664 Abs. 1, 277 BGB.71 In der Situation, dass sowohl den gesetzlichen Vertreter wie einen Dritten ein Verschulden an einer Schädigung des Minderjährigen trifft, müsste nach der Lehre von der „gestörten Gesamtschuld“ der Anspruch des Minderjährigen gegen den Geschädigten immer dann um den Verursachungsbeitrag des Elternteils gekürzt werden, wenn der Gesamtschuldregress des Dritten gegen den Elternteil durch eine Haftungsprivilegierung verhindert wird. Dies gilt seit einer Entscheidung des BGH aus dem Jahr 198872 aber grundsätzlich – mit einer allerdings praktisch bedeutsamen Ausnahme für die Teilnahme am Straßenverkehr – gerade nicht in den Fällen der elterlichen Haftungsprivilegierung nach § 1664 Abs. 1 BGB; hier muss der nicht privilegierte Zweitschädiger also den gesamten Schaden tragen, ohne dass dem Minderjährigen hier Nachteile durch den Verursachungsbeitrag seiner Eltern entstünden. III. Resümee Kinder haften für ihre Eltern – nicht generell, aber bei Lichte besehen doch überraschend häufig: Neben dem Hauptfall der Verbindlichkeiten aus Rechtsgeschäften, die die Eltern im Namen ihrer Kinder abgeschlossen haben, besteht eine Haftung des Kindes für Handlungen seiner Eltern auch im Rahmen der Verschuldenszurechnung innerhalb bestehender Schuldverhältnisse (§ 278 BGB), bei der Gefährdungshaftung (wenn etwa die die Haftung auslösende Halter-Eigenschaft durch die Eltern begründet worden ist) oder auch in Gestalt der Zurechnung der Kenntnis oder des Willens der Eltern im Eigentümer-Besitzer-Verhältnis, im Bereicherungsrecht oder bei der Geschäftsführung ohne Auftrag. Von einer „Haftung“ des Kindes für Fehlverhalten seiner Eltern kann man schließlich auch dann sprechen, wenn dem Kind als Geschädigten Rechts- BVerfGE 103, 89 (100); s. m.w.N. Guckelberger, JuS 2003, 1151; Hager, JZ 1994, 373. 71 Zur „gestörten Gesamtschuld“ vgl. etwa BGHZ 61, 51 (53); BGHZ 94, 173; BGH NJW 1996, 2023; BGHZ 155, 204; Bydlinski, in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2007, § 426 Rn. 7 ff., 54 ff.; Burkert/Kirchdörfer, JuS 1988, 341; Christensen, MDR 1989, 948; Hager, NJW 1989, 1640; Muscheler, JR 1994, 441. 72 BGHZ 103, 338 (346) = NJW 1988, 2667; zust. Noack, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2008, § 426 Rn. 156 m.w.N.; a.A. z.B. Lange, JZ 1989, 41 (49 m.w.N. in Fn. 10); Luckey, VersR 2002, 1213 (1216 f.); Mäsch, JZ 2003, 420 (421). _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 454 Vorsicht – Kinder haften für ihre Eltern ZIVILRECHT nachteile aus der Tatsache erwachsen sollen, dass seine Eltern eine Mitverantwortung an dem Schädigungsereignis tragen. Die elterliche Vermögenssorge wird deshalb mit Recht zunehmend als ambivalent gesehen: Sah man diese früher nur unter dem Aspekt des Schutzes des Minderjährigen durch die Eltern, so rückt nun verstärkt der Aspekt des Schutzes des Minderjährigen vor den Eltern ins Zentrum der Betrachtung. Auch wenn die neuere Rechtsentwicklung, markiert insbesondere durch die Entscheidung des BVerfG vom 13.5. 1986 und das MHbeG, insoweit keinen Paradigmenwechsel bedeuten kann, sind damit die Bausteine für eine angemessene Limitierung der „Haftung des Kindes für seine Eltern“ vorhanden. Von praktischer Bedeutung ist dies vor allem für die zahlreichen Fälle einer außerrechtsgeschäftlichen „Haftung des Kindes für seine Eltern“; hier stellt sich die Frage, ob die Haftung des Minderjährigen durch extensive oder entsprechende Anwendung des § 1629a BGB oder auf andere konstruktive Weise ebenso beschränkt werden muss wie für die ausdrücklich gesetzlich geregelten Fälle. Als Ergebnis meiner Rundreise durch das bürgerliche Recht lässt sich m.E. konstatieren, dass sich für die entsprechend § 1629a BGB zu gewährende Option der Haftungsbeschränkung einige zusätzliche Anwendungsfelder ergeben haben. Diese Anwendungsfälle einer fremdverantworteten Minderjährigenhaftung werden die Praxis zweifellos noch beschäftigen – nicht unbedingt, weil anzunehmen wäre, dass Minderjährige in der Zukunft häufig gerade wegen dieser Ansprüche in die Überschuldung geraten werden, sondern vor allem deshalb, weil der Minderjährige, der aus anderen Gründen, etwa aufgrund der hier paradigmatischen Unternehmensfortführung, in die Überschuldung geraten ist, den Versuch unternehmen wird, seine Haftung für alle anderen Verbindlichkeiten gleich mit zu beschränken. Nach der hier vertretenen Auffassung, die die Haftungsbeschränkungsmöglichkeit im Hinblick auf die verfassungsgerichtlichen Vorgaben extensiv interpretiert, hat er dafür gute Aussichten. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 455 Zu den Voraussetzungen der (sukzessiven) Beteiligung – zugleich Anmerkung zu BGH, Urt. v. 18.12.2007 – 1 StR 301/07, NStZ 2008, 280* Von Prof. Dr. Uwe Murmann, Göttingen Täterschaft und Teilnahme gehören wegen den mit diesen Rechtsfiguren verbundenen Sach- und Aufbauproblemen zu den bei Studierenden unbeliebten Examensthemen. Besondere Schwierigkeiten bereiten solche Fälle, in denen für die Beteiligten „nicht alles nach Plan läuft“, sondern es in der Tatsituation zu Modifikationen im Geschehensverlauf kommt. Unter den Stichworten „sukzessive Mittäterschaft“ und „sukzessive Beihilfe“ werden Konstellationen erörtert, in denen entweder ein zunächst noch Unbeteiligter in ein bereits im Gange befindliches deliktisches Geschehen eintritt oder aber ein bereits Tatbeteiligter nach einem exzesshaften Verhalten eines anderen Beteiligten im weiteren Verlauf mitwirkt. Eine neue Entscheidung des BGH gibt Anlass zur kritischen Auseinandersetzung mit den Grundsätzen der sukzessiven Beteiligung und deren Anwendung auf den Einzelfall. I. Zur Begründung und Begrenzung sukzessiver Beteiligung 1. Die Anwendung der allgemeinen Beteiligungsregeln Unproblematische Fälle sukzessiver Beteiligung sind solche, bei denen die allgemeinen Regeln zu Mittäterschaft oder Beihilfe eine Strafbarkeit ohne Weiteres tragen.1 Beispielsfälle hierfür sind etwa: Fall 1: Berufsdieb A will eine wertvolle steinerne Skulptur vom Grundstück des O entwenden. Als er die Figur gerade davontragen will, kommt sein Kollege B hinzu. Beide einigen sich über eine Teilung des Erlöses und tragen daraufhin die Skulptur gemeinsam davon. Fall 2: In der gleichen Ausgangssituation reicht B dem A aus alter Freundschaft ein Seil, um A den Transport der Beute zu erleichtern. In Fall 1 sind A und B Mittäter eines Diebstahls (§§ 242, 25 Abs. 2 StGB). Die Besonderheit liegt lediglich darin, dass A und B den gemeinsamen Tatentschluss erst fassen, als A sich bereits im Versuchsstadium befindet. Diese Besonderheit ändert aber nichts daran, dass ein gemeinsamer Tatentschluss bezogen auf die Ausführungshandlung, also die Wegnahme, noch möglich ist. In Fall 2 ist allein A Täter eines Diebstahls (§ 242 StGB). B dagegen leistet nur einen untergeordneten Tatbeitrag, der keine Täterschaft begründet. Die bloße Erleichterung der Tatausführung begründet keine Tatherrschaft. Aber auch nach * Manuskriptschluss: 24.9.2008. Ich danke meinem Mitarbeiter, Herrn Dipl.-Jurist Christian Breuer, für seine Unterstützung. 1 Teilweise wird der Begriff der „sukzessiven Beteiligung“ auf die im Text unter 2. behandelten Fälle beschränkt und hinsichtlich der unter 1. behandelten Fälle von einer sukzessiven Beteiligung in einem weiten Sinn gesprochen; so Schmoller, Kansai Univ. Rev. L. & Pol. 2002, 35. der von der Rechtsprechung vertretenen Gesamtbetrachtungslehre, wonach sich die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme nach einer umfassenden, auch subjektive Gesichtspunkte wie das Interesse an der Tat berücksichtigenden wertenden Gesamtbetrachtung richtet,2 ist der nur aus alter Freundschaft handelnde B richtigerweise nicht als Täter anzusehen. B leistet aber zur Tat des A Hilfe. Der Umstand, dass diese Hilfeleistung spontan zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu dem A sich bereits im Versuchsstadium befindet, steht dem nicht entgegen. In Fall 2 ist B also nach §§ 242, 27 StGB strafbar. 2. Besondere Regeln für eine sukzessive Beteiligung? In den beiden vorstehenden Beispielen richtet sich die Strafbarkeit der Tatbeteiligten also nach den allgemeinen Regeln und bereitet keine besonderen Schwierigkeiten. Probleme der sukzessiven Beteiligung treten erst dann auf, wenn diese Rechtsfigur dazu herangezogen wird, über die nach den allgemeinen Beteiligungsregeln unproblematisch erfassten Fälle hinaus eine strafrechtliche Haftung zu begründen. Es geht dann stets um die Frage, inwieweit der Hinzutretende für bereits zuvor realisiertes Verhalten haften kann. In der Diskussion werden insoweit zwei Fallgruppen unterschieden. Zum einen stellt sich die Frage, ob eine solche Haftungserweiterung sogar über den Vollendungszeitpunkt hinaus möglich ist (dazu a). Zum anderen ist zu klären, ob der vor Tatvollendung Hinzutretende für bereits vorgenommene Ausführungshandlungen haften kann (dazu b). a) Die zeitliche Grenze sukzessiver Beteiligung aa) Beteiligung nach Beendigung? Zur Erinnerung: Eine Tat ist (formell) vollendet, wenn alle Voraussetzungen der Tatbestandsverwirklichung vorliegen. Eine Tat ist (materiell) beendet, wenn das rechtsgutsverletzende Verhalten seinen Abschluss gefunden hat.3 Beliebte Beispiele hierfür sind Delikte mit überschießender Innentendenz: Ein Diebstahl nach § 242 StGB ist bereits mit der Wegnahme einer fremden beweglichen Sache in der Absicht rechtswidriger Zueignung vollendet; die Beendigung soll dagegen erst eintreten, wenn der Täter den Gewahrsam gesichert hat, so dass er auch tatsächlich wie ein Eigentümer mit der gestohlenen Sache verfahren kann.4 Eine Haftung für bereits realisierte Handlungen ist nach einhelliger Auffassung ausgeschlossen, wenn ein Geschehen 2 BGHSt 36, 363 (367); BGH NStZ 1987, 364; NStZ 1988, 406; StV 1998, 540; wistra 2001, 420 (421). 3 Einzelheiten zu diesem umstrittenen Problemkreis Hillenkamp, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 12. Aufl. 2007, Vor § 22 Rn. 19 ff. 4 Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 55. Aufl. 2008, § 242 Rn. 54. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 456 Zu den Voraussetzungen der (sukzessiven) Beihilfe bereits „vollständig abgeschlossen vorliegt“,5 womit gemeint ist, dass eine sukzessive Mittäterschaft ebenso wie eine sukzessive Beihilfe zu einer beendeten Tat ausgeschlossen ist6. Fall 3: A ist in die Wohnung des O eingebrochen und hat dort Gegenstände entwendet und in seine eigene Wohnung getragen. Dort fasst er den Entschluss, nochmals in die Wohnung des O zurückzukehren und weitere Gegenstände zu entwenden. Er überredet B, ihn dabei zu unterstützen. Hier liegen in der Person des A zwei Diebstahlstaten vor; der neue Entschluss stellt eine Zäsur dar (§§ 242, 244 Abs. 1 Nr. 3; 242; 53 StGB). Die erste Tat ist mit der Sicherung der Beute beendet; B ist lediglich an der zweiten Tat (§ 242 StGB) beteiligt.7 bb) Beteiligung nach Vollendung? Größere Schwierigkeiten macht dagegen die Beantwortung der Frage, inwieweit sukzessive Mittäterschaft und sukzessive Beihilfe auch nach Vollendung (und vor Beendigung) der (Haupt-)Tat noch möglich sind. Auch insoweit gibt es allerdings Fälle, in denen eine sukzessive Beteiligung unstreitig noch über den Vollendungszeitpunkt hinaus möglich ist, weil der Täter bis zum Beendigungszeitpunkt noch weitere Ausführungshandlungen vornimmt. So liegt es zum einen bei den Tatbeständen mit iterativer Deliktsstruktur, bei denen der bereits verwirklichte Tatbestand vom Täter aufgrund des gleichen Vorsatzes durch weitere Handlungen oder Unterlassungen immer wieder verwirklicht wird, ohne dass dem Täter deshalb mehrere Tatbestandserfüllungen anzulasten sind.8 Beispielhaft hierfür sind die Dauerdelikte. Fall 4: A hat O in seinem Keller eingesperrt. Er hält ihn dort über mehrere Tage gefangen. Jedes Mal, wenn er O etwas zu Essen bringt, verriegelt er anschließend wieder die Tür. Als O am dritten Tag seiner Gefangenschaft fliehen will, unterstützt B den A bei der Vereitelung des Fluchtversuchs. Mit dem Einsperren hat A den Tatbestand des § 239 StGB erfüllt. Die damit vollendete Tat wird durch die permanente Verletzung der auf Freilassung gerichteten Ingerenzgarantenpflicht wie auch durch das erneute Verschließen der Tür und die Vereitelung des Fluchtversuchs immer wieder aufs Neue verwirklicht.9 Gleichwohl erfüllt A den Tatbestand nur einmal. Die Dauer des Eingriffs intensiviert aber das Tatunrecht (vgl. § 239 Abs. 3 Nr. 1 StGB). Beendet ist die Freiheitsbe- 5 BGHSt 2, 344 (346). BGH JZ 1981, 596; NJW 1985, 814; zum Verhältnis von Beendigung und „vollständigem Abschluss“ auch Gössel, in: Vogler (Hrsg.), Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag, Bd. 1, 1985, S. 546 f. 7 Vgl. BGHSt 2, 344 (347 f.). 8 Hillenkamp (Fn. 3), Vor § 22 Rn. 27. 9 Kühl, Die Beendigung des vorsätzlichen Begehungsdelikts, 1974, S. 60 ff.; Rudolphi, in: Vogler (Fn. 6), S. 566. STRAFRECHT raubung erst dann, wenn O seine Freiheit wiedererlangt hat.10 Der Umstand, dass mit Blick auf das einheitliche Unrecht in der Person des A nur eine einzige Tatbestandsverwirklichung vorliegt, kann anderen Beteiligten, die an formell tatbestandsmäßigen Verhaltensweisen nach Tatvollendung mitwirken, nicht zugute kommen.11 B macht sich also, je nach dem Gewicht seiner Mitwirkung, einer mittäterschaftlichen Freiheitsberaubung oder einer Beihilfe zur Freiheitsberaubung des A schuldig. Besonderheiten bei der Beteiligtenstrafbarkeit ergeben sich insoweit nicht: Eine Beteiligung bleibt bezogen auf die nach Vollendung von A vorgenommenen – wenn auch nicht selbständig in Ansatz gebrachten – Verwirklichungshandlungen möglich. Freilich stellt sich bei der Strafzumessung die Frage, ob dem später Hinzutretenden das gesamte Unrecht, also der gesamte Zeitraum der Freiheitsberaubung, anzulasten ist. Hätte A den O bereits über eine Woche eingesperrt, so würde sich darüber hinaus auch noch die Frage stellen, ob dem in Kenntnis dieses Umstands mitwirkenden B auch der Qualifikationstatbestand des § 239 Abs. 3 Nr. 1 StGB anzulasten ist (vgl. dazu unten Fall 7).12 Eine sukzessive Beteiligung ist – ebenfalls unstreitig – nach Vollendung auch noch möglich bei Taten, die eine iterative Handlungsstruktur aufweisen.13 Hier ist das Delikt zwar seiner Struktur nach nicht auf wiederholte Verwirklichung angelegt. Aber die wiederholte Vornahme tatbestandsmäßiger Handlungen wird gleichwohl als eine einzige Tatbestandsverwirklichung interpretiert. Fall 5: A verprügelt O. B tritt hinzu und schlägt – im Einverständnis mit A – ebenfalls auf O ein. Schon mit dem ersten Schlag, den A gegen O führt, ist § 223 StGB verwirklicht und die Tat mithin vollendet. Jeder weitere Schlag erfüllt zwar für sich genommen die Voraussetzungen von § 223 StGB erneut. Gleichwohl liegt für A nur eine einzige Tatbestandsverwirklichung vor, die freilich durch die Vielzahl der Schläge bis zur Beendigung der Tracht Prügel intensiviert wird. Da A aber immer neue Ausführungshandlungen vornimmt, ist eine Beteiligung des B hieran ohne Weiteres möglich. A und B sind demnach Mittäter einer gefährlichen Körperverletzung (§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 4, 25 Abs. 2 StGB). Auch hier ergibt sich erst bei der – im juristischen Gutachten nicht interessierenden – Strafzumessung ein Problem. Es stellt sich nämlich die Frage, ob B nur die nach seinem Hinzutreten verwirklichten Verletzungen angelastet werden dürfen oder ob auch die von ihm erkannten vorangegangenen Misshandlungen strafschärfend Berücksichtigung finden können. 6 10 Vgl. Sonnen, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2005, § 239 Rn. 24. 11 Rudolphi (Fn. 9), S. 566. 12 Vgl. Rudolphi (Fn. 9), S. 567. 13 Hillenkamp (Fn. 3), Vor § 22 Rn. 28. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 457 AUFSÄTZE Uwe Murmann Zusammenfassend kann danach bislang festgehalten werden, dass eine sukzessive Beteiligung über den Vollendungszeitpunkt hinaus jedenfalls dann möglich ist, wenn auch nach Vollendung weitere Ausführungshandlungen vorgenommen werden. Diese Fälle entsprechen danach bei genauerem Hinsehen den oben (1.) erörterten: Die Beteiligtenstrafbarkeit setzt keine Haftung für bereits abgeschlossenes Verhalten voraus. Die verbleibenden Problemfälle sind danach solche, bei denen die nach Vollendung vorgenommenen Handlungen gerade nicht mehr tatbestandsmäßig sind. Eine Beteiligung unmittelbar an der Ausführungshandlung ist damit nicht mehr möglich. Fall 6: A hat in der Fabrikanlage des O schwere Metallteile entwendet und in einem Gebüsch in unmittelbarer Nähe des Werksgeländes versteckt (vollendeter § 242 StGB). B unterstützt A beim Wegschaffen der Beute. Hier kann sich B nicht mehr an der Wegnahme der Beute beteiligen; die Tat ist vollendet, aber mit Blick auf den ungesicherten Gewahrsam des A noch nicht beendet.14 Nach allgemeinen Grundsätzen scheidet also Mittäterschaft aus, weil B die Wegnahme nicht (mit-)beherrschen kann; Beihilfe scheidet aus, weil er keine Hilfe zur Wegnahme leisten kann. Die Rechtsprechung hält in solchen Konstellationen gleichwohl eine sukzessive Mittäterschaft wie auch eine sukzessive Beihilfe für möglich. Damit wird die Beteiligung freilich nicht auf die Tatbestandsverwirklichung, sondern auf die Verwirklichung des materiellen Unwerts bezogen. Dementsprechend ist die Lösung der Rechtsprechung bei einer materiellen Betrachtung auch nachvollziehbar: B beteiligt sich an der Erlangung einer eigentümerähnlichen Position. Die Erlangung einer solchen Position gehört sicherlich zum typischerweise mit einem Diebstahl verbundenen Unrecht. Diese Überlegungen sind aber durchgreifenden Bedenken ausgesetzt: Der Gesetzgeber hat auf ein objektives Zueignungserfordernis im Tatbestand aus guten Gründen (kriminalpolitisch sinnvoller Vollendungszeitpunkt; Vermeidung von Beweisschwierigkeiten) verzichtet. Bezugspunkt der Beteiligung ist nach §§ 25 Abs. 2, 27 StGB eine „Straftat“ bzw. eine „rechtswidrige Tat“. Maßgeblich ist damit allein die Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB). Eine Beteiligtenstrafbarkeit wegen einer Mitwirkung im Beendigungszeitraum sieht das Gesetz nicht vor – womit einer Strafbarkeit von B insoweit die gesetzliche Grundlage fehlt.15 Die teleologischen Erwägungen der Rechtsprechung stehen folglich in Widerspruch zu den zwingenden Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes (Art. 103 Abs. 2 GG). Mit diesen Überlegungen lehnt die heute überwiegende Literaturauffassung eine Strafbarkeit wegen sukzessiver Beteiligung in solchen Fällen ab.16 14 Vgl. BGHSt 4, 132 (133). Dies entsprach auch noch dem Standpunkt des Reichsgerichts, RGSt 22, 2 (3 f.). 16 Joecks, in: ders./Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2005, Bd. 1, § 25 Rn. 182; Kühl, Straf15 Möglich bleibt freilich eine Strafbarkeit wegen Anschlussdelikten wie Begünstigung (§ 257 StGB) und Hehlerei (§ 259 StGB). b) Die Haftung des Hinzutretenden für bereits realisiertes Verhalten Ist eine Beteiligtenstrafbarkeit nach Vollendung ausgeschlossen, sofern dann keine Straftatbegehung mehr im Gange ist, an der sich der Hinzutretende beteiligen könnte, so ist damit noch die Frage offen, inwieweit eine sukzessive Beteiligung vor Vollendung möglich ist. Diese Frage wurde bereits im bejahenden Sinn für die Fälle beantwortet, in denen sich der Hinzutretende an der gesamten Tatbestandserfüllung beteiligt. Damit waren die Fälle ausgespart, bei denen der später Hinzutretende nur noch an einem Teil der Tatbestandsverwirklichung mitwirkt, während andere Merkmale bereits ohne sein Zutun erfüllt worden sind. Die Möglichkeit einer solchen Teilmitwirkung lässt sich leicht an den zweiaktigen Delikten verdeutlichen. So kann der Hinzutretende beim Raub (§ 249 StGB) noch an der Wegnahmehandlung mitwirken, während die Gewaltanwendung zur Ermöglichung der Wegnahme bereits abgeschlossen ist. Es stellt sich hier also die Frage, inwieweit dem Hinzutretenden Verhaltensweisen, die von dem bereits agierenden Täter zuvor verwirklicht wurden, anzulasten sind. Bei der Beantwortung dieser Frage ist danach zu differenzieren, ob eine Mittäterschaft oder eine Beihilfe zur bereits begonnenen Tat in Betracht kommt. aa) Die Haftung des Hinzutretenden als Mittäter Konstellationen, in denen eine mittäterschaftliche Haftung des Hinzutretenden in Betracht kommt, lassen sich an folgendem Beispiel verdeutlichen: Fall 7: A war in die Wohnung des O eingebrochen. Er wollte von dort Stehlenswertes in seine eigene, nahegelegene Wohnung schaffen und war entschlossen, zu diesem Zweck auch mehrmals hin- und herzugehen. Als er den ersten Teil der Beute in seine Wohnung verbracht hatte, weckte er den dort schlafenden B und forderte ihn unter Schilderung des bisher Geschehenen auf, ihn zur Wohnung des O zu begleiten und weitere Gegenstände zu stehlen. Daraufhin gingen A und B gemeinsam zu der Wohnung und entwendeten weitere Gegenstände.17 Zweifelsfrei hat sich A wegen Wohnungseinbruchsdiebstahl (§§ 242, 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB) strafbar gemacht. Der Umstand, dass A bereits einen Teil der Beute in seine Wohnung verbracht hatte, ändert aufgrund des einheitlichen Tatentschlusses nichts daran, dass insgesamt nur eine Diebstahlstat vorliegt, die erst mit Sicherung der gesamten Beute recht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2008, § 20 Rn. 127; Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 2003, § 25 Rn. 221; Rudolphi (Fn. 9), S. 568; Cramer/Heine, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Aufl. 2006, § 25 Rn. 91. 17 Vgl. BGHSt 2, 344. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 458 Zu den Voraussetzungen der (sukzessiven) Beihilfe als beendet anzusehen ist.18 Ebenso zweifelsfrei hat sich B durch sein Verhalten im zweiten Geschehensabschnitt eines einfachen Diebstahls strafbar gemacht (§ 242 StGB). Dieser Diebstahl wurde mittäterschaftlich begangen, soweit A und B gemeinschaftlich und aufgrund gemeinsam gefassten Tatentschlusses weggenommen haben.19 Fraglich ist aber, ob B auch wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls strafbar ist. Das wäre nur der Fall, wenn er sich nach § 25 Abs. 2 StGB die bereits realisierten Einbruchshandlungen zurechnen lassen müsste. Die Rechtsprechung bejaht eine mittäterschaftliche Haftung für die bereits verwirklichten Tatbestandsmerkmale, denn das Einverständnis des später Hinzutretenden beziehe sich auf den Gesamtplan.20 Die neuere Literatur widerspricht dem zu Recht:21 Der gemeinsame Tatplan ist Grundlage der wechselseitigen Zurechnung bei der Mittäterschaft.22 Dahinter steht der Gedanke, dass gerade das planmäßig arbeitsteilige Vorgehen, bei dem jeder sein eigenes Verhalten in den Dienst des anderen stellt und umgekehrt vom Verhalten des anderen profitieren will, die wechselseitige Zurechnung legitimiert, aber auch limitiert. Handlungen, die außerhalb eines solchen Planungszusammenhanges erbracht werden, können nicht unter Hinweis auf den gemeinsamen Tatentschluss zugerechnet werden. Bestraft würde sonst ein nachträglich gefasster Vorsatz – ein dolus subsequens –, der als Zurechnungsgrundlage nicht ausreicht.23 Nichts anderes gilt für folgendes Beispiel: Fall 8: A und B verprügeln O. Währenddessen fasst A den Entschluss, die Schläge dazu auszunutzen, die Wertsachen des O wegzunehmen. Als O bewusstlos am Boden liegt, fordert er B zur gemeinsamen Suche nach Stehlenswertem auf. A und B nehmen die Geldbörse von O an sich.24 A hat sich eines Raubes (§ 249 StGB) in Tateinheit (§ 52 StGB) mit gefährlicher Körperverletzung (§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB) schuldig gemacht. Der Umstand, dass er sich erst im Laufe der Gewaltanwendung zur Wegnahme entschlossen hat, ändert nichts daran, dass ihm die Gewalt zur Wegnahme diente. B hat jedenfalls mit A gemeinschaftlich 18 In dem die einzelnen Akte umgreifenden Tatentschluss liegt der Unterschied zu Fall 3; vgl. BGHSt 2, 344. 19 Für die Erfüllung des Tatbestandes kommt es auf die Zurechnungsvorschrift des § 25 Abs. 2 StGB freilich überhaupt nicht an, da A und B den Tatbestand jeweils in eigener Person erfüllen. 20 BGHSt 2, 344 (346 f.); BGH JZ 1981, 596. 21 Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Aufl. 2006, S. 289 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2004, § 12 Rn. 88. 22 So die h.M., vgl. BGHSt 6, 248 (249); Ingelfinger, in: Dölling/Duttge/Rössner (Hrsg.), Gesamtes Strafrecht, 2008, § 25 Rn. 42; eingehend Puppe, in: Courakis (Hrsg.), Festschrift für Spinelli, Bd. 2, 2001, S. 915 ff. 23 Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, 10. Aufl. 2008, § 7 Rn. 47; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 21), § 12 Rn. 88. 24 Vgl. BGH JZ 1981, 596; dazu Küper, JZ 1981, 568. STRAFRECHT eine gefährliche Körperverletzung und einen Diebstahl begangen (§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 4; 242, 25 Abs. 2; 52 StGB, wobei der Diebstahl freilich in der Person des A durch den spezielleren Raub verdrängt wird). Die Rechtsprechung würde B zudem als Mittäter des Raubes ansehen und dies damit begründen, dass sein Einverständnis mit der noch fortwirkenden Gewalt die Zurechnung des gesamten Geschehens erlaube.25 Richtig ist das nicht. Denn die Gewaltanwendung kann B zwar im Rahmen des gemeinschaftlich gefassten Körperverletzungsentschlusses zugerechnet werden. Aber als Nötigungsmittel beim Raub wird sie durch ihre Instrumentalisierung im Dienste der Wegnahme gekennzeichnet. Hierauf bezog sich der gemeinsame Tatplan von A und B aber gerade nicht.26 Damit fehlt für eine Zurechnung die Grundlage. Schließlich gelten die gleichen Überlegungen auch dann, wenn die Voraussetzungen von Regelbeispielen bereits verwirklicht sind. Variante zu Fall 7: Bei den Taträumlichkeiten handelte es sich um einen Kiosk.27 Hier hat sich A wegen Diebstahls in einem besonders schweren Fall (§§ 242, 243 Abs. 1 Nr. 1 StGB) und B jedenfalls wegen Diebstahls (§ 242 StGB) strafbar gemacht. Die Rechtsprechung und ein Teil der Lehre würden (im Regelfall28) für B den Strafrahmen des § 243 StGB anwenden und es hierzu für ausreichend ansehen, dass er in Kenntnis des von A verwirklichten Regelbeispiels gehandelt hat.29 Zwar handelt es sich bei Regelbeispielen bekanntlich nicht um Tatbestandsmerkmale, sondern um Regeln für die Strafzumessung, aber mit Blick auf deren Ähnlichkeit mit Tatbestandsmerkmalen seien die Regeln zur sukzessiven Beteiligung entsprechend anzuwenden. Dagegen hält ein anderer Teil der Lehre zu Recht auch hier eine sukzessive Mittäterschaft für nicht akzeptabel: Weil der Einbruch nicht einem gemeinsamen Entschluss entsprungen ist, fehlt für eine Zurechnung zu Lasten von B die Legitimationsgrundlage.30 25 Die Bedeutung des Umstands, dass der BGH (JZ 1981, 596) auf das Fortwirken der Gewaltanwendung hinweist, wird allerdings nicht klar. Gegenüber BGHSt 2, 344 (346) lässt sich dies als Einschränkung deuten; vgl. Küper, JZ 1981, 568 (571). 26 Küper, JZ 1981, 570 auch zu weiteren Bedenken. 27 BGHSt 2, 344. 28 Also nur dann nicht, wenn die bei Vorliegen eines Regelbeispiels begründete Indizwirkung für das Vorliegen eines besonders schweren Falls durch besondere Gründe ausnahmsweise entkräftet wird. 29 Vgl. BGH StV 1994, 240; Eser, in: Schönke/Schröder (Fn. 16), § 243 Rn. 47. 30 Hoyer, in: Rudolphi u.a. (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 6. Aufl., 47. Lieferung, Stand: Februar 1999, § 243 Rn. 56; a.A. unter Hinweis auf den Charakter als Strafzumessungsregel Gössel (Fn. 6), S. 555. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 459 AUFSÄTZE Uwe Murmann bb) Die Haftung des Hinzutretenden als Gehilfe Varianten zu Fällen 7 und 8: B leistet jeweils nur einen untergeordneten Beitrag zu der von A realisierten Tat. Die Rechtsprechung ist der Auffassung, es gebe keinen Grund dafür, sukzessive Beihilfe und sukzessive Mittäterschaft unterschiedlich zu behandeln.31 B sei also jeweils Gehilfe der von A verwirklichten Straftat unter Einbeziehung der Umstände, bei deren Verwirklichung er noch keinen Beihilfevorsatz gefasst hatte. Die Literatur lehnt dies teilweise aus den gleichen Erwägungen ab, die auch gegen eine sukzessive Mittäterschaft geltend gemacht werden: Der Gehilfe habe bezogen auf die bereits verwirklichten Tatumstände weder einen Vorsatz gehabt (es liege bei nachträglichem Billigen lediglich ein dolus subsequens vor), noch habe er diese Tatumstände durch sein Verhalten noch fördern können.32 Beides ist richtig – steht aber einer Beihilfe nicht entgegen.33 Mittäterschaft und Beihilfe weisen nämlich grundsätzliche strukturelle Unterschiede auf: Als Form der Täterschaft setzt Mittäterschaft die Verwirklichung des vollen Tatbestandes durch jeden Mittäter voraus; Täterschaft ist nämlich nichts anderes als Tatbestandserfüllung34. Bei der Mittäterschaft wird das Minus bei der eigenen Ausführung durch Zurechnung der Ausführungshandlungen der anderen kompensiert. Die wechselseitige Zurechnung unter Mittätern nach § 25 Abs. 2 StGB führt also dazu, dass letztlich jeder Mittäter den vollen Tatbestand – wenn auch möglicherweise nicht eigenhändig – erfüllt. Eine Mittäterschaft kann also immer nur so weit reichen, wie eine Zurechnung der Tatbeiträge der anderen auf Grund des gemeinsamen Tatentschlusses möglich ist – wie bereits gezeigt, reicht hierfür eine nachträgliche Billigung bereits verwirklichter Tatbeiträge nicht aus. Der Tatbestand umschreibt nur das Unrecht der Täterschaft (sog. „restriktiver Täterbegriff“). Der Teilnehmer hingegen erfüllt nicht den Tatbestand des Besonderen Teils. Anstiftung (§ 26 StGB) und Beihilfe (§ 27 StGB) sind demnach Strafausdehnungsgründe. Das Unrecht der Teilnahme liegt in einem akzessorischen Rechtsgutsangriff, d.h. der Teilnehmer greift das geschützte Rechtsgut vermittelt durch das vom Täter verwirklichte tatbestandliche Unrecht an.35 Dem Gehilfen werden folglich nicht die Ausführungshandlungen des Haupttäters zugerechnet, sondern das von ihm verwirklichte tatbestandliche Unrecht liegt in der vorsätzlichen Vornahme der Beihilfehandlung.36 Es kommt deshalb auch nicht darauf an, dass der Gehilfe in den Tatentschluss des Täters einbezogen ist. Ein Hilfeleisten i.S.d. Beihilfetatbestandes liegt vor, wenn der Gehilfe das Risiko der Haupttatbegehung erhöht und diesbezüglich vorsätzlich handelt (s. dazu noch unten II. 3. b).37 Dabei muss die Beihilfehandlung das Haupttatrisiko nicht bezogen auf jede Unrechtsdimension der Haupttat erhöhen. Eine Beihilfe zum Wohnungseinbruchsdiebstahl liegt z.B. bei Förderung der Wegnahme vor, auch wenn die Einbruchshandlung vom Gehilfen nicht unterstützt wurde (und umgekehrt). Erforderlich ist freilich, dass der Gehilfe eine Vorstellung von den Dimensionen des vom Haupttäter verwirklichten Unrechts hat. Aber er fördert dieses Unrecht objektiv und subjektiv auch dann noch, wenn Teile der Haupttat bereits verwirklicht sind. Nichts anderes gilt auch bezüglich bereits verwirklichter Regelbeispiele (vgl. Variante zu Fall 7): Bricht A in einen Kiosk ein und leistet ihm B sodann in Kenntnis dieses Umstands bei der Wegnahme Hilfe, so kann auch bezüglich B der Strafrahmen des § 243 StGB Anwendung finden.38 Insoweit ist der Rechtsprechung demnach zuzustimmen: Fördert der Gehilfe eine Haupttat noch vor deren Vollendung, so leistet er zu dieser Haupttat auch unter Einbeziehung bereits verwirklichter Tatteile Beihilfe, sofern er in Kenntnis der verwirklichten Merkmale handelt.39 Das hat auch Konsequenzen für die Behandlung der oben aa) erörterten Fälle 7 (einschließlich Variante) und 8, bei denen nach hier vertretener Auffassung eine sukzessive Mittäterschaft bezogen auf bereits verwirklichte Tatbestandsmerkmale (bzw. Regelbeispiele) nicht in Betracht kommt. Nach dem Vorstehenden bleibt insoweit eine Beihilfe bezogen auf die jeweils von A begangenen Taten möglich. Diese steht dann in Tateinheit zu den jeweils anschließend von A und B mittäterschaftlich verwirklichten Taten.40 c) Hinweise zur gutachterlichen Prüfung Die Lösung von Aufbauproblemen hat sich an den Sachfragen zu orientieren. Jeder Aufbau, der eine angemessene Erörterung der Sachfragen erlaubt und dabei die Übersichtlichkeit der Darstellung wahrt, ist akzeptabel. Die nachfolgenden Hinweise verstehen sich vor dem Hintergrund dieser Ermutigung zu in der Sache begründeter Abweichung von vorgegebenen Schemata: - Die Strafbarkeit des Beteiligten, der eigenhändig alle Ausführungshandlungen vorgenommen hat (in den vorstehenden Fällen jeweils A), ist zuerst zu prüfen. - Hinsichtlich des später Hinzutretenden (in den vorstehenden Fällen jeweils B) ist zuerst eine Beteiligung an der Tat des A (in deren vollem Umfang) zu erörtern. Je nach Gewicht der von B vorgenommenen Handlungen kommt eine Prüfung als Mittäter oder Gehilfe in Betracht; erscheint eine mittäterschaftliche Beteiligung nicht von vornherein ausgeschlossen, so ist mit dieser zu beginnen. - Im Rahmen der Prüfung einer Strafbarkeit des B als Mittäter ist im objektiven Tatbestand festzustellen, dass B nicht in 31 BGHSt 2, 344 (346). Klesczewski, Strafrecht, Besonderer Teil, 2002, S. 107 f.; Schmoller (Fn. 6), S. 42. 33 Zutreffend Küper, JuS 1986, 866 f. 34 Murmann, JA 2008, 321. 35 Vgl. Roxin, in: Küper (Hrsg.), Festschrift für Walter Stree und Johannes Wessels zum 70. Geburtstag, 1993, S. 369 ff. 36 Rengier (Fn. 23), § 7 Rn. 49. 32 37 Näher Kretschmer, Jura 2008, 265; Murmann, JuS 1999, 548. 38 Roxin (Fn. 21), S. 290 f. 39 So auch Schünemann, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Fn. 3), § 25 Rn. 201; Ingelfinger (Fn. 22), § 27 Rn. 17. 40 Schünemann (Fn. 39), § 25 Rn. 201; Roxin (Fn. 16), § 25 Rn. 228. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 460 Zu den Voraussetzungen der (sukzessiven) Beihilfe eigener Person sämtliche Tatumstände verwirklicht hat. Es ist dann die Frage aufzuwerfen, ob er sich die von A verwirklichten Handlungen nach § 25 Abs. 2 StGB zurechnen lassen muss. Das setzt voraus, dass eine Mittäterschaft nach Tatvollendung bzw. bezogen auf bereits verwirklichte Teile des Tatbestandes noch möglich ist. Weiter setzt Mittäterschaft – wie stets – voraus, dass der von B geleistete Beitrag seinem Gewicht nach überhaupt Mittäterschaft begründen kann. Welche Voraussetzung man zuerst erörtert, ist eine Frage des Einzelfalls. Lässt sich ohne größeren Begründungsaufwand zeigen, dass auch bei unterstellter konstruktiver Möglichkeit einer sukzessiven Beteiligung der Tatbeitrag von B Mittäterschaft nicht begründen könnte, so kann eine Zurechnung nach den Grundsätzen des § 25 Abs. 2 StGB verneint werden, ohne dass der Streit um die sukzessive Mittäterschaft entschieden werden müsste.41 Andernfalls empfiehlt es sich, zuerst den Streitstand um die sukzessive Mittäterschaft und die (divergierenden) Ergebnisse von Rechtsprechung und h.L. für den konkreten Fall darzustellen, um sodann den Streit zu entscheiden. - Wird eine sukzessive Mittäterschaft mit der h.L. abgelehnt oder vermag das Gewicht des Beitrags von B eine Mittäterschaft nicht zu begründen, so ist die Prüfung mit dem Ergebnis abzubrechen, dass eine mittäterschaftliche Beteiligung an der Tat des A nicht vorliegt. Sodann ist eine Beihilfe zu der Tat des A zu erörtern. Zu diskutieren ist hier, ob trotz vollendeter Tatbegehung bzw. trotz bereits erfolgter Teilverwirklichung des Tatbestandes noch eine Beihilfe möglich ist. - Ist eine Mittäterschaft an der von A verwirklichten Tat nicht mit Blick auf das unzureichende Gewicht des Tatbeitrags, sondern mit Blick auf die Bedenken gegen eine sukzessive Mittäterschaft abgelehnt worden, so kann schließlich die Prüfung einer mittäterschaftlichen Begehung bezogen auf einen nach Hinzutreten des B verwirklichten Tatbestand zu erörtern sein. Insoweit spielt dann das Problem der sukzessiven Mittäterschaft keine Rolle. Bei dieser Prüfung darf es freilich nicht irritieren, dass sich die mittäterschaftliche Verwirklichung auf einen Tatbestand bezieht, der für A nicht eigenständig zu prüfen war, weil er in der von A verwirklichten Tat als Minus enthalten ist (vgl. Fälle 7 und 8). - Kommt Mittäterschaft nicht in Betracht, kann schließlich die Prüfung von Beihilfe zu der nach Hinzutreten des B verwirklichten Tat erforderlich sein. Dies wird aber nur bei untergeordneten Beiträgen der Fall sein, wenn man die vor Vollendung der Tat geleistete Unterstützung zu Teilen der Tatausführung – entgegen der hier vertretenen Auffassung (oben I. 2. b) bb) – zur Begründung einer Beihilfe an der gesamten Tat für unzureichend hält. II. Die Entscheidung BGH, Urt. v. 18.12.2007 – 1 StR 301/07 (NStZ 2008, 280) Auf den dargelegten Grundlagen lässt sich nun auch das aktuelle – und examenswichtige – Urteil des 1. Strafsenats des BGH erörtern. 41 So in der Fallprüfung Beulke, Klausurenkurs II, 2007, Rn. 255. STRAFRECHT 1. Der Sachverhalt Der Entscheidung lag – verkürzt – folgender Sachverhalt zugrunde: A und B wollten den Pkw des O gewaltsam entwenden und hatten zu diesem Zweck geplant, dass B den O ansprechen und ablenken, während A sich von hinten unbemerkt an O heranschleichen und ihn niederschlagen sollte. Die Bewusstlosigkeit oder Benommenheit des O sollte dann zur Wegnahme und zur Flucht ausgenutzt werden. A, der, wie B wusste, stets sein Fahrtenmesser bei sich führte, fasste jedoch spontan den Entschluss, O nicht nur niederzuschlagen, sondern zu erstechen. In Umsetzung dieses Vorhabens stach er O nach dem Anschleichen zweimal in Tötungsabsicht in die linke Halsseite. Als der zu Boden sinkende O sich in Todesangst wehrte, stürzte sich A auf ihn und stach weitere neun Mal schnell und heftig auf die linke Brustseite des O ein. Der nun wehrlose, tödlich getroffene O gab nur noch schwache Lebenszeichen von sich. B hatte, als er die wahre Absicht des A erkannte, zunächst versucht davonzulaufen. Er folgte dann aber schließlich der Aufforderung des A, ihm beim Verstecken des leblosen O zu helfen, da sein Interesse am Besitz des Fahrzeugs letztlich die Bedenken wegen des Zustechens überwog. Also schleifte B gemeinsam mit A den leblosen O, dessen Tod auch er alsbald erwartete, davon, um ihn zu verstecken und so eine vorzeitige Entdeckung der Tat zu verhindern. Nach der Sachverhaltsschilderung des Urteils – und in Abweichung von den weiteren Ausführungen, dazu unten 2. – schickte A den B anschließend zum Wagen des O, während A dem Opfer den Autoschlüssel aus der Tasche zog. Beide flüchteten anschließend mit dem Pkw, während O seinen Verletzungen erlag. 2. Die rechtliche Würdigung durch den BGH Die rechtliche Würdigung des Geschehens macht bezüglich A keine besonderen Schwierigkeiten. Dieser hat sich offensichtlich eines Mordes (§§ 212, 211 StGB) schuldig gemacht. Erfüllt sind die Mordmerkmale der Habgier und „zur Ermöglichung einer Straftat“.42 Die h.M. würde das Verhalten zudem als heimtückisch einstufen. Dieses Ergebnis lässt sich auch mit der Lehre vom verwerflichen Vertrauensbruch begründen, wenn man das, dem A über § 25 Abs. 2 StGB zurechenbare, Ablenkungsmanöver zur Begründung eines Vertrauensverhältnisses für ausreichend hält.43 In Tateinheit (§ 52 StGB) hiermit steht der von A begangene Raub mit Todesfolge (§§ 249, 251 StGB)44. Problematisch ist hingegen die strafrechtliche Beurteilung des Verhaltens von B. Das LG als Instanzgericht verurteilte B wegen Beihilfe zum Mord in Tateinheit mit schwerem Raub (§§ 212, 211, 27; 249, 250 Abs. 1 Nr. 1a; 52 StGB). Die zu Ungunsten des B eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft war mit dem Ziel, eine Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord in Tateinheit mit Raub mit Todesfolge zu erreichen, er42 Letzteres ist mit Blick auf das Erfordernis der Ermöglichung einer „anderen“ Straftat nicht ganz unproblematisch; vgl. Fischer (Fn. 4), § 211 Rn. 66. 43 Vgl. Eser (Fn. 29), § 211 Rn. 26; Meyer, JR 1979, 487. 44 Vgl. BGHSt (GrS) 39, 100. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 461 AUFSÄTZE Uwe Murmann folgreich (§§ 212, 211, 27; 249, 251; 52 StGB). Besondere Begründung durch den BGH erfuhr allein die Strafbarkeit wegen Raubes mit Todesfolge; insoweit war das Problem der sukzessiven Mittäterschaft zu erörtern. Der BGH stellt zunächst klar, dass „grundsätzlich“ eine Verurteilung nach § 251 StGB voraussetzt, dass sich der Vorsatz auf die Gewaltanwendungen erstrecken muss, die den qualifizierenden Erfolg herbeiführen. Aber „nicht jede Abweichung des tatsächlichen Geschehens von dem vereinbarten Tatplan beziehungsweise von den Vorstellungen des Mittäters begründet die Annahme eines Exzesses. Vielmehr liegt sukzessive Mittäterschaft vor, wenn jemand in Kenntnis und in Billigung des bisher Geschehenen – auch wenn dieses in wesentlichen Punkten von dem ursprünglichen gemeinsamen Tatplan abweicht – in eine bereits begonnene Ausführungshandlung als Mittäter eintritt. Sein Einverständnis bezieht sich dann auf die Gesamttat mit der Folge, dass ihm das gesamte Verbrechen strafrechtlich zugerechnet wird.“45 Eine Grenze der Zurechnung bestehe erst bei vollständig abgeschlossenen Geschehen, also bezüglich beendeter Taten46 (dazu oben I. 2. a) aa). Nach diesen Grundsätzen sei B auch die tödliche Gewaltanwendung des A zuzurechnen. Denn B habe „in Verfolgung des gemeinsamen Tatplanes die tödlich verlaufenden Körperverletzungen […] dazu ausgenutzt“, sich und A in den Besitz des Wagens zu bringen.47 B habe „das Geschehen unmittelbar mitverfolgt und trat in Kenntnis und Billigung dieser Umstände in die bereits begonnene, von der ursprünglichen Absprache abweichende Ausführungshandlung ein“, indem er das Opfer mit A gemeinsam versteckte.48 „Dadurch sowie durch das Ansichtnehmen der Kfz-Schlüssel aus der Kleidung des dann zurückgelassenen tödlich Verletzten und durch das folgende Entwenden des Fahrzeugs hat sich der Vorsatz sukzessiv auf die zum Tod führende Gewalthandlung des Mittäters (A) erstreckt.“49 An dieser Stelle ist auf die oben schon angedeutete Merkwürdigkeit hinzuweisen, dass der BGH zur Begründung darauf verweist, dass B die Kfz-Schlüssel an sich genommen habe, während nach der Sachverhaltsschilderung A diese Handlung vorgenommen hat. Wenn auch kaum anzunehmen ist, dass das Ergebnis von dieser Frage abhängt, überrascht doch die mangelnde Sorgfalt, mit der der BGH eine Entscheidung, die für den Angeklagten weitreichende Konsequenzen hat, begründet. 3. Kritik a) Zur Annahme sukzessiver Mittäterschaft durch den BGH Die Entscheidung macht die Schwäche der Rechtsprechung zur sukzessiven Mittäterschaft noch einmal besonders augenfällig: Ein „Vorsatz“, der erst im Anschluss an eine Ausführungshandlung gefasst wird, ist ein Unding. Denn der Vorsatz ist nicht lediglich eine moralisch verwerfliche Begleitmusik zu einem von ihm unbeeinflussten Geschehen, sondern er 45 BGH NStZ 2008, 280 (281). 46 BGH NStZ 2008, 280 (281). 47 BGH NStZ 2008, 280 (281). 48 BGH NStZ 2008, 280 (281). 49 BGH NStZ 2008, 280 (281). erhält seine Relevanz als Unrechtsbestandteil aus seiner Qualität als steuerndes, das Rechtsverhältnis zum Opfer gestaltendes Element. Diese Relevanz kann einem nachträglich gefassten Vorsatz ersichtlich nicht zukommen. Zwar kann der unter Mittätern gefasste Tatentschluss insofern nicht geschehenssteuernd wirken, wie die Tatbeiträge der anderen Mittäter in Rede stehen. Die insoweit erforderliche Zustimmung zu den fremden Ausführungshandlungen wirkt aber – wie bereits oben I. 2. b) aa) gezeigt – nur dann zurechnungsbegründend, wenn das Minus an Selbststeuerung dadurch ausgeglichen wird, dass sich der Mittäter im Rahmen des gemeinsam gefassten Tatplans bewegt. Mit dem Widersinn eines nachträglich gefassten Vorsatzes hängen auch die Schwächen der Ausführungen zusammen, mit denen der BGH das Vorliegen eines bedingten Vorsatzes des B bezogen auf die konkreten Gewalthandlungen des A zu begründen sucht. Für ausschlaggebend hält der BGH insoweit das Verhalten des B nach den tödlichen Messerstichen, als er unter Überwindung anfänglicher Vorbehalte am Verstecken des Sterbenden mitwirkte und die geplante Wegnahme des Pkw weiterverfolgte. Ein voluntatives Vorsatzelement lässt sich so schon deshalb nicht begründen, weil sich ein „Wollen“ denknotwendig auf Zukünftiges oder gerade Stattfindendes bezieht. Bezogen auf die Realisierung der vorangegangenen Ausübung tödlicher Gewalt bleibt das Nachtatverhalten immer eine unverbindliche, konsequenzlose Stellungnahme. Das gilt natürlich auch für das billigende Inkaufnehmen als einer Ausprägung des voluntativen Elements. Freilich verliert die Prospektivität des Vorsatzes durch die Formel vom „billigenden Inkaufnehmen“ etwas von ihrer sprachlichen Evidenz. Insoweit zeigt sich aber auch jenseits der fehlerhaften Intuition eines rückwärtsgerichteten Vorsatzes, dass der Schluss von dem anschließenden Verhalten des B auf die Billigung der von A vorgenommenen Tötungshandlung nicht tragfähig ist. Es ist nämlich ohne Weiteres möglich und sogar naheliegend, dass B das Verhalten des A nicht billigte und dennoch die Früchte von dessen Verhalten auszunutzen bereit war. Darüber hilft auch die Formel vom „Billigen im Rechtssinne“ nicht hinweg. Denn deren inhaltliche Ausfüllung gelingt nur, wenn der Täter trotz des erkannten Risikos des Eintritts eines unerwünschten Erfolgs sich von der Handlung nicht abbringen lässt. In der grundlegenden Lederriemen-Entscheidung des BGH heißt es hierzu: Der Täter billige den Erfolg im Rechtssinne, „wenn er, um des erstrebten Zieles willen, notfalls, d.h. wofern er anders sein Ziel nicht erreichen kann, sich auch damit abfindet, dass seine Handlung den an sich unerwünschten Erfolg herbeiführt, und ihn damit für den Fall seines Eintritts will“50. Die innere Haltung, die die Vorsatzstrafe legitimiert, zeigt sich also gerade in der Verfolgung eines Zieles notfalls auch unter Inkaufnahme des Todes des Opfers. Mit dem Ausnutzen des Unabänderlichen ist diese Haltung nicht vergleichbar. b) Zur Annahme sukzessiver Beihilfe durch den BGH Die Bestätigung der landgerichtlichen Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord wird vom BGH nicht besonders begrün50 BGHSt 7, 363 (369). _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 462 Zu den Voraussetzungen der (sukzessiven) Beihilfe det. Dabei ist sie alles andere als selbstverständlich. Ausgangspunkt der Überlegungen muss die Frage sein, was unter einer Hilfeleistung im Sinne von § 27 StGB zu verstehen ist. Hierüber herrscht bekanntlich Streit: Die Rechtsprechung verlangt ein Fördern der Haupttat und verzichtet damit auf einen kausalen Beitrag51. Soweit Teile der Literatur hiergegen einwenden, mit dem Verzicht auf das Kausalitätserfordernis werde die Abgrenzung zur straflosen (Argument aus § 30 StGB) versuchten Beihilfe aufgelöst,52 ist damit richtig gesehen, dass sich die Beihilfe in irgendeiner Weise in der Haupttatbegehung niedergeschlagen haben muss. Andererseits hat aber die Rechtsprechung zutreffend erkannt, dass Kausalität im Sinne der conditio sine qua non-Formel nicht verlangt werden kann.53 Denn Hilfe kann auch durch solche Beiträge geleistet werden, die die Haupttat äußerlich nicht modifizieren, wenn etwa der Gehilfe „Schmiere steht“, aber die Haupttat unabhängig davon störungsfrei durchgeführt wird.54 Richtigerweise folgt aus der Charakterisierung der Beihilfe als akzessorischer Rechtsgutsangriff, dass der Gehilfe durch seinen Beitrag das in der Haupttat liegende Risiko zu Lasten des Opfers erhöht und sich diese Risikoerhöhung in der Haupttatbegehung niedergeschlagen haben muss, was auch dann der Fall ist, wenn die Tat ohne äußerliche Modifikation durch den Gehilfen sicherer wird, wie dies im Beispiel des „Schmierestehens“ der Fall ist.55 Als Beihilfehandlung kommt hier zunächst das von B vorgenommene Ablenkungsmanöver in Betracht. Da dieses die Tatausführung erleichtert hat und sogar ursächlich für die konkrete Art der Tatausführung geworden ist, stellt dieses Verhalten objektiv nach allen vertretenen Auffassungen eine taugliche Beihilfehandlung dar. Die Beihilfe verlangt aber weiter einen auf die Beihilfehandlung bezogenen Vorsatz. Zum Zeitpunkt, als B den O in das Gespräch verwickelte und A so die Tatausführung erleichterte, hatte er aber keinen Vorsatz dahingehend, eine gegen das Leben des O gerichtete Tat zu fördern. Im Zeitpunkt der Begehung dieser Tat wollte B in Angst und Schrecken das Weite suchen. Wie bereits gezeigt, lässt sich auch kein nachträglich gefasster, auf den Zeitpunkt der Tötungshandlungen rückwirkender Vorsatz 51 BGHSt 46, 107 (109). vgl. Lackner/Kühl, 26. Aufl. 2007, § 27 Rn. 2. 53 So auch Jescheck/Weigend, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 694: „Auflockerung des Kausalitätserfordernisses“. 54 Dabei ist es keine überzeugende Lösung im Sinne des Kausalitätserfordernisses, als Haupttaterfolg die unter Mitwirkung des Gehilfen begangene Tat zu definieren und so deren Ursächlichkeit zu begründen; Schaffstein, in Festschrift für Honig zum 80. Geburtstag, 1970, S. 176; vgl. aber Roxin, in: Kühne (Hrsg.), Festschrift für Miyazawa, 1995, S. 511; Schünemann (Fn. 39), § 27 Rn. 9 f. 55 Vgl. BGHSt 42, 135 (138); BGH NStZ 1985, 318; gegen eine Überschätzung der divergierenden Auffassungen BGH NJW 2007, 384 (389); näher Murmann, JuS 1999, 549; vgl. auch Jescheck/Weigend (Fn. 53), S. 694; Otto, JuS 1982, 563; Roxin (Fn. 54), S. 509 ff.; Cramer/Heine (Fn. 16), § 27 Rn. 10; Wohlers, NStZ 2000, 169. 52 STRAFRECHT konstruieren. Bezogen auf die objektiv taugliche Beihilfehandlung fehlt also der Gehilfenvorsatz. Damit bleibt als mögliche Beihilfehandlung nur das anschließende Verstecken des O. Dieses Verhalten war aber für den Eintritt des Todeserfolgs ohne Belang. Manipuliert wurde so lediglich der – für die Tatbestandsverwirklichung irrelevante – Ort des Todeseintritts. Eine auf die tatbestandliche Ausführungshandlung bezogene Beihilfe kann in dem Verstecken also nicht erblickt werden. Zu erwägen bleibt aber eine sukzessive, im Anschluss an die tatbestandsmäßige Handlung erfolgte Beihilfe. Für deren Einbeziehung eignet sich auf den ersten Blick in besonderer Weise das von der Rechtsprechung vertretene Verständnis der Beihilfe als Fördern der Haupttat unter Verzicht auf ein Kausalitätserfordernis. Denn wenn die Beihilfe nicht für die Haupttatbegehung kausal werden muss, dann, so könnte man meinen, spielt es auch keine Rolle, ob der Gehilfe vor oder nach der Ausführungshandlung tätig geworden ist. Diesen Standpunkt vertritt die Rechtsprechung, die – wie oben I. 2. a) bb) gezeigt – auch für den Zeitraum zwischen Vollendung und Beendigung der Tat eine Beihilfe für möglich hält. Vorliegend war die Tat sogar noch nicht einmal vollendet. Eine Beihilfe war damit jedenfalls grundsätzlich noch möglich. Hätte B etwa dem A geholfen, Retter fernzuhalten, deren Einsatz die Lebensspanne von O verlängert hätte, so wäre das entsprechende Verhalten von A Teil einer sukzessiven Tatbestandserfüllung, bezogen auf die B Hilfe geleistet hätte (oben I. 2. a) bb). Entscheidend bleibt also die Frage, ob eine Beihilfe auch bezogen auf solche Handlungen möglich ist, die nicht zum tatbestandlich umschriebenen Unrecht gehören. Diese Frage ist zu verneinen56, und zwar aus den gleichen Gründen, aus denen die Literatur mehrheitlich eine Beihilfe nach Vollendung der Haupttat ablehnt (oben I. 2. a) bb). Denn die Beihilfe muss sich dem Gesetzeswortlaut nach auf die Haupttatbegehung beziehen. Haupttat ist aber nur das tatbestandlich umschriebene Geschehen. Dieses Ergebnis ist hier auch für eine materielle Betrachtung das allein sachgerechte: Die Unterstützung beim Verstecken des Sterbenden kann das Unrecht einer Strafvereitelung verwirklichen, mit dem Unrecht der Tötung hat es nichts zu tun. Auch die Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord ist danach nicht haltbar. III. Schlussbemerkung Die hier vertretenen Abweichungen gegenüber der Entscheidung des BGH sind gravierend, was sich mit besonderer Deutlichkeit an den Unterschieden hinsichtlich der Rechtsfolgen zeigt. Der BGH hält eine Verurteilung wegen mittäterschaftlich begangenen Raubs mit Todesfolge (§§ 249, 251, 25 Abs. 2 StGB) in Tateinheit (§ 52 StGB) mit Beihilfe zum Mord (§§ 212, 211, 27 StGB) für sachgerecht. Der Strafrahmen ergibt sich aus § 251 StGB (vgl. § 52 Abs. 2 StGB). Es ist also entweder eine lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren (bis zu fünfzehn Jahren, vgl. § 38 Abs. 2 StGB) zu verhängen. Die hier für richtig gehaltene Verurteilung wegen schweren Raubes (§§ 249, 250 Abs. 1 Nr. 1a StGB) in Tateinheit 56 Vgl. Rudolphi (Fn. 9), S. 569 ff. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 463 AUFSÄTZE Uwe Murmann (§ 52 StGB) mit gefährlicher Körperverletzung (§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 3, 25 Abs. 2 StGB) eröffnet dagegen die Möglichkeit der Verhängung einer Freiheitsstrafe von drei bis fünfzehn Jahren, was eine angemessene Reaktion auf das von B verschuldete Unrecht erlaubt. Das „Mitgegangen – Mitgehangen“ des BGH führt also auch auf Rechtsfolgenseite zu tiefgreifenden Ungerechtigkeiten57. 57 Entsprechende Kritik an der Ungerechtigkeit der Rechtsprechung zur sukzessiven Beteiligung übte vor fast 30 Jahren schon Küper, JZ 1981, 574. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 464 Ermöglichung der Dienstausübung als strafbare Korruption? Von Prof. Dr. Mark Deiters, Münster* Ob und unter welchen Voraussetzungen die Zuwendung von Freikarten für ein Spiel der Fußballweltmeisterschaft 2006 an Mitglieder der baden-württembergischen Landesregierung und einen beamteten Staatssekretär im Bundesumweltministerium eine strafbare Vorteilsgewährung (§ 333 Abs. 1 StGB1) darstellt, hatte das LG Karlsruhe im Fall Claassen zu entscheiden. Es sprach den Angeklagten vom Vorwurf strafbarer Korruption frei. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Der vorliegende Beitrag nimmt den aktuellen Fall zum Anlass, sich ausgehend von einer Entscheidung des OLG Zweibrücken aus dem Jahr 1981 grundsätzlich mit der Frage einer Strafbarkeit wegen Vorteilsannahme und -gewährung durch Ermöglichung der Dienstausübung auseinanderzusetzen. Dabei wird die gegenwärtig unbestrittene These, dass die Gewährung eines allein die Ermöglichung der Dienstausübung bezweckenden Vorteils die Voraussetzungen der §§ 331 Abs. 1, 333 Abs. 1 nicht erfüllt, kritisch überprüft und erläutert, welche Konsequenzen sich für die Einladung von Amtsträgern im Rahmen repräsentativer Dienstausübung ergeben. I. Problembeschreibung Vor mehr als einem Vierteljahrhundert, im Jahr 1981, hatte das OLG Zweibrücken über den Fall eines Kriminalbeamten zu entscheiden, der seine Tätigkeit zur Aufklärung bestimmter Straftaten in der Freizeit fortsetzte und dafür sein privates Kraftfahrzeug nutzte.2 Der an der Aufklärung der Straftaten interessierte Geschädigte stellte ihm, wie erbeten, den für die Ermittlungsfahrten erforderlichen Kraftstoff unentgeltlich zur Verfügung. Der überobligatorisch ermittelnde Staatsdiener wurde deshalb sowohl vom Amts- als auch vom Landgericht wegen strafbarer Vorteilsannahme gemäß § 331 Abs. 1 verurteilt. Der 1. Strafsenat des OLG Zweibrücken sprach ihn in dritter Instanz vom Vorwurf strafbarer Korruption frei. Wegen Vorteilsannahme machte sich nach damals geltendem Recht u.a. strafbar, wer als Amtsträger einen Vorteil als Gegenleistung dafür forderte, sich versprechen ließ oder annahm, dass er eine Diensthandlung vorgenommen hat oder künftig vornehmen werde.3 Eine Strafbarkeit des Kriminalbeamten hätte folglich im konkreten Fall vorausgesetzt, dass er den Kraftstoff als Gegenleistung für die Ermittlungshandlungen gefordert und angenommen hat. Diese Voraussetzung war nach Ansicht des OLG Zweibrücken aus folgenden Gründen nicht erfüllt: Das Benzin sei dem Angeklagten nicht für seine Ermittlungstätigkeit überlassen (worden), sondern als Mittel * Der Beitrag beruht auf der vom Verf. am 9.4.2008 an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität gehaltenen Antrittsvorlesung. Der Vortragsstil wurde beibehalten 1 Alle §§ ohne nähere Angabe sind im Folgenden solche des StGB. 2 OLG Zweibrücken JR 1982, 381. 3 Siehe Bekanntmachung der Neufassung des Strafgesetzbuches (StGB) vom 2.1.1975, BGBl. 1975 I, S. 75. zu ihrer Ermöglichung.4 Der Geschädigte habe – weil die Durchführung der Diensthandlung „aus der Sicht der Beteiligten“ ansonsten undurchführbar gewesen wäre – lediglich „die […] zur Vornahme der Diensthandlung erforderlichen sächlichen Mittel zur Verfügung“ gestellt5. Anders formuliert: Bei der kostenfreien Überlassung des Kraftstoffes habe es sich „nicht um ein Entgelt, sondern um einen Auslagenersatz für vom Angeklagten mit seinem Privatwagen [...] getätigte […] Ermittlungen“6 gehandelt. Die zentrale Aussage der Entscheidung ist in der Rechtslehre allgemein auf Zustimmung gestoßen.7 Hinsichtlich des konkreten Falles wurde von Geerds8 allerdings bezweifelt, dass die in der Freizeit vorgenommenen Ermittlungen als Diensthandlungen zu bewerten sind. Geht man lebensnah davon aus, dass der Angeklagte dabei als Kriminalbeamter auftrat (und möglicherweise sogar von seinen amtlichen Befugnissen Gebrauch machte), so gehörten die Ermittlungen aber grundsätzlich zu dem Kreis der Obliegenheiten, die ihm dienstlich übertragen waren und die er im konkreten Fall auch in dienstlicher Eigenschaft ausübte.9 Das Tätigwerden nach Dienstschluss kann für sich genommen schon deshalb kein hinreichender Grund sein, ein ansonsten zur Dienstausübung gehörendes Verhalten als Privathandlung zu bewerten, weil der Amtsträger dann über die Zuordnung frei disponieren könnte. Die von allen drei mit dem Fall befassten Gerichten nicht bezweifelte Annahme, es handele sich bei den Ermittlungsfahrten um dienstliches Verhalten, ist deshalb, zumindest auf der Grundlage der dargestellten Prämissen, zutreffend. Ob das auch für den vom OLG Zweibrücken formulierten Rechtssatz gilt, die Gewährung und Annahme eines Vorteils als Mittel zur Ermöglichung der Dienstausübung vermöge weder unter dem Gesichtspunkt der Vorteilsannahme (§ 331 Abs. 1) 4 OLG Zweibrücken JR 1982, 382. OLG Zweibrücken JR 1982, 382. 6 So die Formulierung bei Geerds, JR 1982, 385. 7 Überwiegend wird entsprechend der Entscheidung des OLG Zweibrücken die Unrechtsvereinbarung verneint, so etwa Heine, in: Schönke/Schröder (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Aufl. 2006, § 331 Rn. 28; Korte, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2006, Bd. 4, § 331 Rn. 94; Kindhäuser/Goy, NStZ 2003, 291 (293 f.); Kuhlen, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2005, Bd. 2, § 331 Rn. 80; Rudolphi/Stein, in: Rudolphi u.a. (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 6. Aufl., 58. Lieferung, Stand: September 2003, § 331 Rn. 27; Wentzell, Zur Tatbestandsproblematik der §§ 331, 332 StGB, 2004, S. 141. Teilweise wird aber auch bereits der Vorteilscharakter der Zuwendung abgelehnt: Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 55. Aufl. 2008, § 331 Rn. 12 und Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 26. Aufl. 2007, § 331 Rn. 5. 8 Geerds, JR 1982, 385 (386 f.). 9 Zum gesetzlichen Merkmal der Dienstausübung bzw. der Diensthandlung vgl. statt vieler Lackner/Kühl (Fn. 7), § 331 Rn. 8 m.w.N. 5 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 465 AUFSÄTZE Mark Deiters noch unter dem der Vorteilsgewährung (§ 333 Abs. 1) strafbares Unrecht darzustellen, wird bislang kaum problematisiert. Dabei sind die praktischen Konsequenzen dieses Grundsatzes im Detail wenig geklärt.10 In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist die Entscheidung vereinzelt geblieben. Soweit der BGH Anlass gehabt hätte, den in ihr formulierten Grundsatz zu bestätigen, hat er andere Lösungen bevorzugt. Das gilt zunächst für die Problematik drittmittelfinanzierter Hochschulforschung. In der strafrechtlichen Literatur war und ist die Auffassung verbreitet, dass die Annahme solcher Mittel im Regelfall schon deshalb keine strafbare Vorteilsannahme darstellen könne, weil sie mit dem Ziel der Ermöglichung künftiger Forschungen und damit der Ermöglichung der Dienstausübung des begünstigten Hochschullehrers erfolge.11 Dem 1. Strafsenat des BGH reichte in seiner Grundlagenentscheidung aus dem Jahr 200212 dieser Umstand indes nicht aus. Er knüpfte die Straflosigkeit der Annahme solcher Vorteile (über den besonders gelagerten Einzelfall hinausgehend)13 bekanntlich an die zusätzliche Voraussetzung der Einhaltung der hochschulintern geltenden Regeln der Drittmitteleinwerbung. Und auch im Fall der Einwerbung von Wahlkampfspenden durch einen direkt gewählten Oberbürgermeister sah es der 3. Strafsenat des BGH in seinen Entscheidungen zum Fall Kremendahl14 nicht als entscheidend an, dass eine Wahlkampfspende zunächst einmal dazu dient, eine weitere Amtsausübung des betreffenden Kandidaten durch die Wiederwahl zu ermöglichen15. In der Rechtspraxis kann deshalb nicht als geklärt gelten, ob und bejahendenfalls unter welchen Voraussetzungen die Zuwendung von Mitteln zur Ermöglichung einer Diensthandlung unter dem Gesichtspunkt der Amtsträgerkorruption straflos ist. Das ist angesichts der praktischen Bedeutung dieser Frage höchst problematisch. So hatte das LG Karlsruhe im vergangenen Jahr darüber zu befinden, ob sich der ehemalige Vorstandsvorsitzende des Unternehmens Energie Baden-Württemberg (EnBW), Prof. Dr. Utz Claassen, wegen Vorteilsgewährung strafbar gemacht hat, als er an sechs Mitglieder der baden-württembergischen Landesregierung und einen Staatssekretär des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit dem Unternehmen EnBW als WM-Sponsor zustehende Freikarten für Spiele der Fußballweltmeisterschaft verschenkte. Claassen ist 10 Rudolphi/Stein (Fn. 7), § 331 Rn. 27 am Ende; Heine (Fn. 7), § 331 Rn 28: Die Unterscheidung habe durch die Lockerung der Unrechtsvereinbarung im Zuge des Korruptionsbekämpfungsgesetzes von 1997 an Trennschärfe verloren. 11 Ambos, JZ 2003, 345 (352); Kindhäuser/Goy, NStZ 2003, 291 (293 f.); Kuhlen, JR 2003, 231 (234). 12 BGHSt 47, 294; bestätigt durch BGHSt 48, 44. 13 In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall stellten die Drittmittel zugleich die Gegenleistung für Beschaffungsentscheidungen dar, dazu näher Kindhäuser/Goy, NStZ 2003, 291 (293 f.). 14 BGHSt 49, 275; BGH NStZ 2008, 33. 15 Dem entgegen will Korte, NStZ 2005, 512 (513) in unproblematischen Fällen der Wahlkampfspende bereits unter diesem Gesichtspunkt die Tatbestandsvoraussetzungen des § 331 Abs. 1 StGB verneinen. vom LG Karlsruhe am 28. November des vergangenen Jahres von diesem Vorwurf freigesprochen worden.16 Ihre Entscheidung hat die 3. Große Strafkammer auch damit begründet, dass die Eintrittskarten für die Begünstigten keinen Vorteil i.S.d. §§ 331 Abs. 1, 333 Abs. 1 darstellten, weil sie zur Ermöglichung einer – im konkreten Fall: repräsentativen – Dienstausübung gewährt wurden.17 Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig, über die Revision der Staatsanwaltschaft muss in Kürze der 1. Strafsenat des BGH entscheiden. Ob er dabei auch allgemein dazu Stellung nehmen wird, ob und unter welchen Voraussetzungen die Zuwendung eines die Dienstausübung ermöglichenden Vorteils strafrechtlich riskant oder aber unbedenklich ist, lässt sich angesichts der mehrstufigen Freispruchsbegründung des LG Karlsruhe18 nicht verlässlich prognostizieren. Im Folgenden wird allein diese Frage behandelt. Dabei ist zu bedenken, dass die Ausgangssituation aufgrund der weitreichenden Reformen des Gesetzes zur Bekämpfung der Korruption von 199719 inzwischen eine andere ist als im Jahr 1981. Zunächst muss deshalb erörtert werden, welche Auswirkungen sich durch die 1997 ins Werk gesetzten Verschärfungen des Korruptionsstrafrechts für den einschlägigen Fragenkomplex ergeben (II.). Im Anschluss daran sind die tragenden Grundsätze der Entscheidung des OLG Zweibrücken vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Rechts kritisch zu prüfen (III.) und die Konsequenzen für die Ermöglichung repräsentativer Dienstausübung näher zu erläutern (IV.). II. Auswirkungen des Gesetzes zur Bekämpfung der Korruption von 1997 Seit 1997 macht sich wegen Vorteilsannahme nicht nur strafbar, wer einen Vorteil als Gegenleistung für eine (bestimmte) Diensthandlung zugewendet bekommt. Ausreichend ist, dass der Vorteil vom Amtsträger für die Dienstausübung angenommen wird. Entsprechendes gilt für den spiegelbildlich gefassten Tatbestand der Vorteilsgewährung. Im Zuge des Gesetzes zur Bekämpfung der Korruption von 1997 hat der Gesetzgeber damit nicht nur das Merkmal der Diensthandlung durch das der Dienstausübung ersetzt; er hat darüber hinaus auch das Merkmal der Gegenleistung aus dem Wortlaut des § 331 Abs. 1 gestrichen, das für die Annahme der Straflosigkeit des Kriminalbeamten in dem vom OLG Zweibrücken 1981 entschiedenen Fall von zentraler Bedeutung war. Trotz des damit heute offenen Gesetzeswortlautes20 entspricht es nach wie vor allgemeiner Überzeugung, dass der Vorteil auch nach gegenwärtigem Recht die Gegenleistung der Dienstausübung sein muss.21 Der Gesetzgeber habe mit der Änderung des Wortlauts lediglich das Ziel verfolgt, künftig auch Verhaltensweisen als strafbare Vorteilsannahme oder 16 LG Karlsruhe, Urt. v. 28. 11. 2007, 3 KLs 620 Js 13113/06; teilweise veröffentlicht in NStZ 2008, 407; vgl. zur Problematik auch Schlösser/Nagel, wistra 2007, 211. 17 LG Karlsruhe (Fn. 16), S. 47 f. = NStZ 2008, 407 Rn. 3 ff. 18 Dazu eingehend Paster/Sättele, NStZ 2008, 366. 19 BGBl. 1997 I, S. 2038. 20 Korte (Fn. 7), § 331 Rn. 94. 21 Siehe dazu die Nachweise in Fn. 7. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 466 Ermöglichung der Dienstausübung als strafbare Korruption ? -gewährung erfassen zu können, bei denen die Diensthandlung, für die der Vorteil gewährt wird, nicht näher konkretisiert werden kann.22 Das ist etwa der Fall, wenn die Zuwendung der allgemeinen Klimapflege dient. Diese Begründung erklärt freilich nur, warum der Begriff der Diensthandlung durch den der Dienstausübung ersetzt wurde. Die Streichung des gesetzlichen Merkmals „als Gegenleistung“ erklärt sie nicht. Allerdings enthielt der Tatbestand der Vorteilsannahme bis 1975 ebenfalls keinen ausdrücklichen Hinweis auf die Notwendigkeit einer Äquivalenzbeziehung zwischen Vorteil und Diensthandlung23 – er wurde aber auch seinerzeit schon in diesem Sinne verstanden24. Dieser Umstand spricht dafür, dass man dem bei der Formulierung „als Gegenleistung für die Dienstausübung“ denkbaren Missverständnis vorbeugen wollte, der Vorteil müsse das Äquivalent für die gesamte Dienstausübung darstellen. Bei dieser Sichtweise erklärt sich die gegenwärtige Fassung „aus sprachlichen Gründen“25; eine sachliche Änderung war nicht bezweckt. Legt man diese herrschende Sichtweise zugrunde, spricht auf den ersten Blick viel dafür, dass sich durch das Korruptionsbekämpfungsgesetz von 1997 kaum Änderungen ergeben haben. Der Nachweis einer Äquivalenzbeziehung zwischen Vorteil und irgendeiner Diensthandlung wird bei äußerlich unverfänglichen Anbahnungszuwendungen häufig die Kenntnis voraussetzen, für welche Diensthandlung (oder zumindest für welche Art von Diensthandlungen) der Vorteil angenommen wurde.26 Zumindest bei größeren Zuwendungen hat die gegenwärtige Fassung des Tatbestandes allerdings faktisch eine 22 Bannenberg, in: Dölling/Duttge/Rössner (Hrsg.), Nomos Kommentar, Gesamtes Strafrecht, Kommentar, 2008, § 331 Rn. 25 am Ende; Fischer (Fn. 7), § 331 Rn. 22 ff.; Korte (Fn. 7), § 331 Rn. 97; Kuhlen (Fn. 7), § 331 Rn. 74 f.; ders., JR 2003, 231 (234); Satzger, ZStW 115 (2003), 469 (479); Rudolphi/Stein (Fn. 7), § 331 Rn. 27; diese Auffassung entspricht der Intention der Gesetzesänderung, die auf einen Vorschlag Döllings zurückgeht; siehe dazu Dölling, Gutachten C für den 61. Deutschen Juristentag, S. 65, 111 f. Darin hatte Dölling die Formulierungen „als Gegenleistung für die dienstliche Tätigkeit in der Vergangenheit oder Zukunft“ bzw. „für die bisherige oder künftige Amtsführung“ statt der ursprünglich präferierten Fassung „im Zusammenhang mit seinem Amt“ vorgeschlagen. 23 § 331 lautete: „Ein Beamter, welcher für eine in sein Amt einschlagende, an sich nicht pflichtwidrige Handlung Geschenke oder andere Vort(h)eile annimmt, fordert oder sich versprechen läßt, wird […] bestraft.“; diese Tatbestandsfassung enthielt bereits das RStGB von 1871, in Kraft getreten am 1. Januar 1872 (RGBl. 1871, S. 172 ff.). 24 Exemplarisch: Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 539; Schmidt, Die Bestechungstatbestände in der höchstrichterlichen Rechtsprechung von 1879 bis 1959, 1960, S. 67 Rn. 119, S. 141 Rn. 254. 25 Rudolphi/Stein (Fn. 7), § 331 Rn. 27. 26 Vgl. König, JR 1997, 397 (399); Wolters, JuS 1998, 1100 (1105). STRAFRECHT Beweislastumkehr zur Folge.27 Soweit ein Amtsträger einen Vorteil in Bezug auf seine Dienstausübung gewährt bekommt, macht er sich strafbar – es sei denn, das Gericht gelangt zu der Überzeugung, dass ihm dieser Vorteil nicht als Gegenleistung für dienstliches Verhalten gewährt wurde. Entsprechendes gilt für den Geber unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Strafbarkeit wegen Vorteilsgewährung, § 333 Abs. 1. Die Aktualität der Rechtsfrage, die das OLG Zweibrücken im Jahr 1981 zu entscheiden hatte, wird durch die Absenkung der Beweisanforderungen aber nicht in Frage gestellt. Lediglich die prozessualen Anforderungen an den Nachweis der Unrechtsvereinbarung haben sich, was im Folgenden außer Betracht bleibt, zum Nachteil des Beschuldigten verschärft. III. Kritik der Entscheidung des OLG Zweibrücken Damit sind wir bei der zentralen Frage angelangt, ob dem OLG Zweibrücken und der ihm folgenden Rechtslehre in der Sachfrage beizupflichten ist. Stimmt es, dass zur Ermöglichung der Dienstausübung gewährte Vorteile keine Gegenleistung für die Dienstausübung darstellen? Es bedarf vorab einiger Klarstellungen: 1. Gegenleistung für anderweitiges dienstliches Verhalten Die Gewährung eines Vorteils zur Ermöglichung einer Diensthandlung kann ihrerseits zugleich die Gegenleistung für ein anderweitiges dienstliches Verhalten darstellen. Es ist selbstverständlich, dass in diesen Fällen eine Unrechtsvereinbarung im Sinne der Bestechungsdelikte anzunehmen ist28: Wenn der Kriminalbeamte unseres Ausgangsfalles das Benzin für künftige Ermittlungshandlungen gewährt bekommen hätte, weil er zuvor großzügig über einen vom Geber begangenen Verkehrsverstoß hinweggesehen hat, könnte das Verhalten der Beteiligten nicht etwa deshalb als straflos bewertet werden, weil die Überlassung des Benzins auch die Ermöglichung künftiger Diensthandlungen bezwecken sollte. Der Kriminalbeamte machte sich in dieser Fallkonstellation aufgrund der Pflichtwidrigkeit seines Verhaltens sogar wegen Bestechlichkeit (§ 332 Abs. 1) und der Geber wegen Bestechung (§ 334 Abs. 1) strafbar. Das gilt jedenfalls für das gegenwärtige Recht, das im Gegensatz zur Fassung vor 1997 die Annahme eines Vorteils für einen Dritten (auch den Dienstherren) ausreichen lässt.29 27 Hettinger, NJW 1996, 2263 (2268); Deiters, PVS 2004/05, 424 (433 f.); vorsichtiger Korte (Fn. 7), § 331 Rn. 97: Herabsetzung der Beweisanforderungen. 28 Vgl. Korte (Fn. 7), § 331 Rn. 94; Kindhäuser/Goy, NStZ 2003, 291 (293 f.); Kuhlen, JR 2003, 231 (234). 29 In der Literatur wird allerdings gelegentlich auch für die gegenwärtige Fassung des § 331 Abs. 1 ein eigennütziges Verhalten gefordert, so etwa von Krey/Heinrich, Strafrecht, Besonderer Teil 1, 13. Aufl. 2005, Rn. 669b und Wentzell (Fn. 10), S. 170; ähnlich auch Korte, NStZ 1997, 513 (515). Dem ist jedoch mit der überwiegenden Meinung entgegenzuhalten, dass auch bei einer altruistischen Koppelung des Vorteils mit der Dienstausübung das Vertrauen in die Integrität der Amtsausübung _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 467 AUFSÄTZE Mark Deiters Für eine Strafbarkeit wegen Vorteilsannahme (§ 331 Abs. 1) und Vorteilsgewährung (§ 333 Abs. 1) gilt nichts anderes. Fordert der Kriminalbeamte das Benzin z. B. als Gegenleistung dafür ein, dass er pflichtgemäß eine Strafanzeige entgegennimmt, ist er auch dann wegen Vorteilsannahme zu verurteilen, wenn der Kraftstoff für künftige Dienstfahrten Verwendung finden soll. Das dürfte im Ergebnis unstreitig sein und wird zumeist durch die Formulierung zum Ausdruck gebracht, eine Zuwendung von Vorteilen, die nur30 oder lediglich31 die Ermöglichung der Dienstausübung bezweckt, beruhe nicht auf einer die Strafbarkeit begründenden Unrechtsvereinbarung. Anders formuliert: Vorteile, die eine Diensthandlung erst ermöglichen, sollen nicht zugleich als Gegenleistung für eben diese Diensthandlung begriffen werden können. 2. Kostenerstattung als Gegenleistung für dienstliches Verhalten Die Tragfähigkeit dieser Annahme hängt davon ab, ob es sachgerecht ist, der aus dem Zivilrecht geläufigen Unterscheidung zwischen einem bloßen Aufwendungsersatz bei unentgeltlicher Auftragserteilung einerseits und dem darüber hinaus im Rahmen eines Geschäftsbesorgungsvertrages zu leistenden Entgelts andererseits im Rahmen der Unrechtsvereinbarung der Bestechungsdelikte normative Relevanz zuzugestehen. Diese Frage wird, soweit ersichtlich, bislang kaum problematisiert. Sie lässt sich nur unter Rückgriff auf den Strafgrund der §§ 331 Abs. 1, 333 Abs. 1 beantworten. Die Annahme von Vorteilen für die (nicht pflichtwidrige) Dienstausübung ist zumindest auch deshalb unter Strafe gestellt, weil der Amtsträger hierdurch in Gefahr gerät, sich bei dienstlichen Entscheidungen beeinflussen zu lassen. Bei einer ausschließlich die Ermöglichung künftiger Dienstausübung bezweckenden Zuwendung soll diese Gefahr – so die übliche Sichtweise – nicht bestehen.32 Dabei unterstellt man, dass sich niemand für eine bloße Kostenerstattung in seinem dienstlichen Verhalten beeinflussen lassen wird, weil auch im sonstigen Wirtschaftsleben niemand seine Dienstleistungen allein gegen Ersatz seiner Aufwendungen anbiete. So meint Kuhlen33, in der freien Wirtschaft finde sich wohl kein Spediteur, der die Durchführung eines Umzuges lediglich gegen eine Erstattung der Kosten statt eines darüber hinausgehenden Entgeltes übernehme. Schon im Tatsächlichen ist diese Erwägung nicht frei von Zweifeln. Dass Marktteilnehmer ihre Preise gelegentlich ausschließlich an den Kosten orientieren, ist nichts Ungewöhnliches. So kann es im Wirtschaftsleben eine erfolgsträchtige Strategie sein, die Preise unter Inkaufnahme vorübergehender Verluste niedrig zu halten, um sich ein bestimmtes Marktsegment zu erschließen. Auch wenn das Beispiel lebensfremd sein mag: Aus der Sicht des überobligatorisch ermittelnden Kriminalbeamten könnte es wirtschaftlich klug sein, seine Dienste allein gegen Kostenerstattung anzubieten, wenn ihm beispielsweise daran gelegen ist, sein Können unter Beweis zu stellen, um sich künftig als Privater auf dem Markt der Ermittlungsdiensthandlungen zu behaupten. In dem vom OLG Zweibrücken 1981 entschiedenen Fall war die Antriebsfeder des preiswerten Angebots wohl eine andere – auch wenn im Urteil eindeutige Festlegungen vermieden werden. Naheliegend erschien dem Gericht, dass sich der Angeklagte von seinem Chef ungerecht behandelt und gegenüber anderen Kollegen benachteiligt fühlte. Er hatte immer wieder Schwierigkeiten, ein Fahrzeug für dienstliche Tätigkeit nach Dienstschluss zu bekommen, und es im konkreten Fall für aussichtslos gehalten, ein solches überhaupt anzufordern. Wohl deshalb trat er an den Geschädigten heran und bot ihm gegen die in der unentgeltlichen Benzinüberlassung liegende Erstattung des Aufwandes Ermittlungen nach Dienstschluss an.34 Sein Eigeninteresse bestand bei dieser Sichtweise darin, sich durch gesteigerte Ermittlungserfolge Lob und Anerkennung seines Vorgesetzten zu verdienen.35 Sollte sich der Sachverhalt so zugetragen haben, ist verständlich, warum der Kriminalbeamte seine Dienstausübung so günstig anbot. Zugleich wird deutlich: Die kostenfreie Überlassung des Benzins war wirtschaftlich betrachtet der Preis, den der Geschädigte zu entrichten hatte, wenn er in den Genuss der überobligatorischen Dienstausübung kommen wollte.36 Dass dieser Preis zivilrechtlich als Aufwendungsersatz einzuordnen ist, muss für die strafrechtliche Bewertung im Kontext der Bestechungsdelikte nicht notwendig von Bedeutung sein. Fordert nicht auch ein Amtsträger, der sein dienstliches Verhalten, wie hier, regelwidrig von einer Erstattung der Kosten abhängig macht, diesen Aufwendungsersatz im Ergebnis als Gegenleistung für sein dienstliches Verhalten? Die Frage würde wohl allgemein bejaht, wenn der Kriminalbeamte eine Ermittlungshandlung, zu der er von seinem Vorgesetzten dienstlich beauftragt wurde, von einem Ersatz der Aufwendung seitens des Geschädigten abhängig machte.37 Der Beamte kommerzialisiert dann eine Dienstausübung, die er von Rechts wegen ohne Gebühr erbringen muss. Das Vertrauen in die Unkäuflichkeit und Integrität staatlichen Handelns wird dadurch beschädigt. Nichts anderes gilt aber für den Fall einer in der Freizeit erfolgenden überobligatorischen Dienstausübung. Auch hier macht der Amtsträger sein 34 OLG Zweibrücken JR 1982, 381. OLG Zweibrücken JR 1982, 382. Darüber hinaus erwog das OLG Zweibrücken, dass die in der Freizeit vorgenommenen Ermittlungshandlungen durch das freundschaftliche Verhältnis zu einem Mitgesellschafter des geschädigten Unternehmens motiviert gewesen sein könnten. 36 Folgerichtig werden Aufwendungsersatz und Entgelt, soweit man sie als wirtschaftliche Kategorien versteht, auch im Zivilrecht nicht stets auseinandergehalten. Die Vergütung beim Dienst- oder Werkvertrag umfasst regelmäßig beides. 37 So auch Kindhäuser/Goy, NStZ 2003, 291 (293). 35 beeinträchtigt wird, vgl. statt vieler Knauer/Casper, GA 2005, 385 (391 f.) Heine (Fn. 10), § 331 Rn. 20 m.w.N. 30 Heine (Fn. 7), § 331 Rn. 28; Rudolphi/Stein (Fn. 7), § 331 Rn. 27. 31 Kuhlen (Fn. 7), § 331 Rn. 80. 32 Kindhäuser/Goy, NStZ 2003, 291 (293); Kuhlen, JR 2003, 231 (234); Rudolphi/Stein (Fn. 7), § 331 Rn. 27. 33 Kuhlen, NStZ 1988, 433 (439). _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 468 Ermöglichung der Dienstausübung als strafbare Korruption ? dienstliches Verhalten – regelwidrig – zur käuflichen Ware und beeinträchtigt damit das von § 331 Abs. 1 geschützte Rechtsgut. Zwar wird die Dienstausübung von ihm nicht vollständig von der Kostenerstattung abhängig gemacht. Er bevorzugt aber denjenigen, der die Mittel aufzubringen vermag, einen Teil der Kosten ihn interessierender Strafverfolgung selbst zu tragen. Auch die Hilfserwägung des OLG Zweibrücken, dem Kriminalbeamten sei selbst kein Vorteil zugeflossen, vermag dessen Straflosigkeit nicht zu begründen. Die kostenfreie Überlassung des Benzins stellt den Kriminalbeamten materiell besser; einen Rechtsanspruch auf diese Besserstellung kann er nicht geltend machen. Damit erhält er durch die Überlassung des Kraftstoffes einen Vorteil i.S.d. § 331 Abs. 1.38 Die Ermöglichung überobligatorischer Dienstausübung ist lediglich der Zweck der Vorteilszuwendung. Die Besonderheit der vorliegenden Fallgestaltung besteht freilich darin, dass der Vorteil nach dem Willen der Beteiligten zur Verwirklichung dieses Zweckes eingesetzt werden soll. Soweit dies, wie hier, auch im persönlichen Interesse des Amtsträgers liegt, nimmt er den Vorteil gleichwohl zumindest auch für sich, also als Eigenvorteil, an. Nur wenn der Vorteil eine nicht freiwillige, sondern vom Dienstherren verlangte überobligatorische Dienstausübung ermöglichen soll, erfolgt die Annahme nicht für den Amtsträger selbst, sondern für seinen Dienstherrn. In einer solchen Fallkonstellation fehlte es auf der Grundlage des im Jahr 1981 geltenden Rechts in der Tat an einem Vorteil i.S.d. §§ 331 Abs. 1, 333 Abs. 1. Weil das geltende Recht für die Strafbarkeit wegen Vorteilsannahme und -gewährung hingegen bereits ausreichen lässt, dass der Vorteil für einen Dritten angenommen wird, wäre heute die Bejahung einer Strafbarkeit auch in diesem Fall unausweichlich. Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden: Auch geldwerte Zuwendungen, die ausschließlich die Ermöglichung einer Diensthandlung bezwecken, stellen Vorteile i.S.d. §§ 331 Abs. 1, 333 Abs. 1. dar und sind im Kontext der Bestechungsdelikte als Gegenleistung des durch sie ermöglichten dienstlichen Verhaltens anzusehen. Wenngleich dem Kriminalbeamten in dem der Entscheidung des OLG Zweibrücken zugrunde liegenden Fall gewiss kein besonders schwerwiegendes Unrecht vorgeworfen werden kann: Den Vorwurf einer strafbaren Vorteilsannahme kann man ihm – entgegen der gängigen Sichtweise – nicht ersparen. Das gilt sowohl für das heute wie auch für das vor 1997 geltende Recht. STRAFRECHT IV. Ermöglichung repräsentativer Dienstausübung Wenn die Ermöglichung der Dienstausübung im Kontext der Bestechungsdelikte eine Gegenleistung derselben sein kann, muss dies selbstverständlich auch für die Ermöglichung repräsentativer Dienstausübung gelten. Damit scheint eine Strafbarkeit der Beteiligten auch in diesen Fällen prima vista unvermeidbar. Diese Schlussfolgerung wäre allerdings voreilig. Nach den bisherigen Überlegungen steht lediglich fest, dass der Vorwurf strafbarer Korruption nicht allein deshalb unbegründet ist, weil die materielle Besserstellung ausschließlich mit dem Ziel der Ermöglichung der Dienstausübung gewährt wird. Damit ist noch nicht entschieden, ob eine Vorteilsgewährung zum Zwecke der Ermöglichung künftiger Dienstausübung nicht möglicherweise bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen als straflos bewertet werden muss. In diesem Zusammenhang erweist sich die DrittmittelEntscheidung des BGH als weiterführend. Der 1. Strafsenat hat in dieser Entscheidung Voraussetzungen formuliert, bei deren Vorliegen die Annahme von Vorteilen zur Förderung von Forschung und Wissenschaft keine strafbare Vorteilsannahme darstellen kann. Wörtlich heißt es in der Entscheidung: „Die hochschulrechtlich verankerte Dienstaufgabe […], zur Förderung von Forschung und Lehre Drittmittel einzuwerben, gebietet eine Einschränkung des Anwendungsbereichs der Strafvorschrift […]. Voraussetzung für eine solche Einschränkung […] ist […], daß es sich bei den einzuwerbenden Drittmitteln nicht nur […] um Fördermittel für Forschung und Lehre handelt, sondern daß diese auch dem im Drittmittelrecht vorgeschriebenen Verfahren unterworfen werden“.39 Betrachtet man die Entscheidung vor dem Hintergrund der – vom 1. Senat selbst mit keinem Wort erwähnten – Entscheidung des OLG Zweibrücken aus dem Jahr 1981, so ist für die Straflosigkeit der Drittmittel-Einwerbung nicht ausreichend, dass diese Mittel die Dienstausübung der begünstigten Hochschullehrer ermöglichen. Zusätzlich muss das rechtlich vorgeschriebene Verfahren eingehalten werden. Und interessanterweise heißt es an einer anderen Stelle der Entscheidung zur Begründung dieser Voraussetzung: „Regelt […] das Landeshochschulrecht […] die Einwerbung von zweckbestimmten Mitteln durch einen Amtsträger, […] bei denen ein Beziehungsverhältnis zu einer Diensthandlung besteht, so ist das […] Vertrauen in die Sachgerechtigkeit und ‚Nicht-Käuflichkeit‘ dienstlichen Handelns […] dann nicht in dem vom Gesetzgeber vorausgesetzten Maße strafrechtlich schutzbedürftig, wenn das in jenem Gesetz vorgesehene Verfahren eingehalten [wurde].“40 Wenn sich das Vertrauen in die Sachgerechtigkeit und Nichtkäuflichkeit, wie der BGH hier formuliert, nur nicht in dem vom Gesetzgeber vorausgesetzten Maße als schutzwürdig erweist, ist es offenbar gleichwohl betroffen. Entscheidend ist also nach Ansicht des 1. Strafsenats nicht etwa, dass bei der Einwerbung von Drittmitteln durch die Einhaltung des hochschulrechtlichen Verfahrens der Anschein der Käuflichkeit von Forschung und Lehre nicht entstehen könnte. Maßgeblich ist, dass der Gesetzgeber die Einwerbung von Drittmitteln als Dienstaufgabe ausgestaltet hat und damit das Interesse an der Vereinnahmung dieser Mittel höher bewertet als das Interesse an der Vermeidung des korruptiven Anscheins. Dem Amtsträger kann dies freilich nur zugute gehalten werden, wenn er sich bei Wahrnehmung seiner Dienstaufgabe pflichtgemäß verhält, indem er die einschlägigen Verfahrensvorschriften einhält. Damit lässt sich aus der Entscheidung des 1. Senats ein verallgemeinerungsfähiger Gedanke ableiten: Wird ein Vor- 38 39 Zum Begriff des Vorteils statt vieler Lackner/Kühl (Fn. 7), § 331 Rn. 4 m.w.N. 40 BGHSt 47, 295 (306). BGHSt 47, 295 (303). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 469 AUFSÄTZE Mark Deiters teil zum Zwecke der Ermöglichung der Dienstausübung gewährt und stellt die Annahme dieses Vorteils für den Amtsträger eine pflichtgemäße Diensthandlung dar, fehlt es an der für eine Strafbarkeit wegen Vorteilsannahme oder -gewährung erforderlichen Unrechtsvereinbarung: Der Vorteil wird nicht regelwidrig41 als Gegenleistung für dienstliches Verhalten gewährt. Diese Erwägungen müssen nicht nur im Fall der Drittmitteleinwerbung, sondern auch im Fall der Ermöglichung repräsentativer Dienstausübung zur Verneinung einer Unrechtsvereinbarung führen, sofern die Repräsentation zu den Dienstaufgaben des betreffenden Amtsträgers zählt. Unter dieser Voraussetzung befindet sich der zur Repräsentation berufene Amtsträger in einer vergleichbaren Pflichtenkollision wie der zur Drittmitteleinwerbung verpflichtete Hochschullehrer. Gelegentlich scheint man freilich davon auszugehen, dass Repräsentation, auch wenn sie zur sachgerechten Dienstausübung gehört, nicht zwingend eine „echte“ Amtspflicht darstellt, weshalb eine dem Hochschullehrer vergleichbare Pflichtenkollision nicht bestehe.42 Gehört die Wahrnehmung repräsentativer Aufgaben bei bestimmten Amtsträgern aber unbestritten zu deren sachgerechter Dienstausübung, so sind diese auch zur entsprechenden Dienstausübung verpflichtet. Sie müssen deshalb im Fall der Einladung zu einer Veranstaltung stets sorgfältig prüfen, ob die Annahme der Einladung im dienstlichen Interesse liegt. Bejahen sie dies in pflichtgemäßer Ausübung ihres Ermessens – konkrete Rechtsregeln werden häufig fehlen und sind im Fall von Regierungsmitgliedern auch nicht opportun –, so ist schon die Annahme des Vorteils eine pflichtgemäße Diensthandlung. Sie kann deshalb ebenso wenig wie die unter Einhaltung des hochschulrechtlichen Verfahrens erfolgende Vereinnahmung von Drittmitteln als regelwidrige Gegenleistung für die Dienstausübung betrachtet werden. Man mag einwenden, der den betroffenen Amtsträgern hier zugebilligte Ermessensspielraum sei mangels gesetzlicher oder anderweitiger dienstrechtlicher Kriterien so groß, dass er zu einem missbräuchlichen Verhalten geradezu einlade. Das ist richtig, und doch kein durchgreifender Einwand, weil dieser Spielraum die Kehrseite rechtlich gewollter Freiheit des betreffenden Amtsträgers ist. In anderen Zusammenhängen, etwa bei der Frage, wann die unternehmensleitenden Organe einer Aktiengesellschaft unter dem Gesichtspunkt der Untreue (§ 266 Abs. 1) pflichtwidrig handeln, stellt sich – wie der Fall Mannesmann für unternehmerische Entscheidungen von Aufsichtsräten in Erinnerung gerufen hat – dasselbe Problem. Auch hier ist der mögliche Missbrauch die Kehrseite der gesetzlich gewollten Freiheit von Entscheidungsträgern. Die Leitlinie, die der 3. Strafsenat für unternehmerische Entscheidungen vorgegeben hat, kann deshalb auch für die Praxis der Annahme von Einladungen zum Zwecke repräsentativer Dienstausübung als Richtschnur gelten: So wie die Pflichtwidrigkeit einer unternehmerischen Entscheidung erst dann angenommen werden kann, wenn sie offenkundig ohne jeden Nutzen für das Unternehmen ist43, darf die Annahme einer Einladung durch den betreffenden Amtsträger nur unter der Voraussetzung als strafbare Vorteilsannahme bewertet werden, dass sie sich eindeutig nicht mehr als repräsentative Dienstausübung betrachten lässt. V. Zusammenfassung Die allein zur Ermöglichung der Dienstausübung erfolgende Zuwendung von Vorteilen ist, entgegen der heute einhelligen Auffassung in der Literatur, unter dem Gesichtspunkt einer Strafbarkeit wegen Vorteilsannahme und -gewährung nicht ohne Weiteres unproblematisch. Zwar besteht der Vorteil in diesen Fällen allein in der Kostenerstattung. Die Dienstausübung wird aber auch durch eine rechtlich nicht zulässige Vereinbarung der Kostenerstattung regelwidrig kommerzialisiert. Eine solche Vereinbarung beeinträchtigt damit das Vertrauen in die Nichtkäuflichkeit und Sachgerechtigkeit als Rechtsgut der §§ 331 Abs. 1, 333 Abs. 1. Die Gewährung und Annahme eines Vorteils zur Ermöglichung der Dienstausübung ist deshalb unter dem Gesichtspunkt einer Strafbarkeit wegen Vorteilsannahme und -gewährung nur unter der weiteren Voraussetzung unbedenklich, dass die Annahme des Vorteils selbst eine pflichtgemäße Diensthandlung des betreffenden Amtsträgers darstellt. Im Fall des Drittmittel einwerbenden Hochschullehrers ist diese Voraussetzung entsprechend den Leitlinien der Drittmittel-Entscheidung des 1. Strafsenats erfüllt, soweit er die hochschulrechtlich vorgesehenen Verfahrensvorschriften beachtet. Bei der Annahme einer Einladung durch einen Amtsträger gilt Entsprechendes, wenn sie unter dem Gesichtspunkt einer ihm obliegenden repräsentativen Dienstausübung pflichtgemäß war. Soweit konkretisierende gesetzliche oder dienstrechtliche Vorschriften fehlen, obliegt die Beurteilung dieser Frage dem Ermessen des jeweiligen Amtsträgers. Dieser überschreitet seinen Spielraum erst dann, wenn die Annahme der Einladung unter keinem denkbaren Gesichtspunkt im dienstlichen Interesse liegen kann. Strafverfolgungsorganen ist es hingegen grundsätzlich untersagt, ihr Einschreiten von einer Erstattung der Kosten abhängig zu machen. Die Gewährung und Annahme von sächlichen Mitteln zur Ermöglichung überobligatorischer Ermittlungshandlungen ist deshalb grundsätzlich, anders als das OLG Zweibrücken im Jahr 1981 entschieden hat, eine (regelwidrige) Gegenleistung i.S.d. §§ 331 Abs. 1, 333 Abs. 1. 41 Das Erfordernis der Regelwidrigkeit der Äquivalenzbeziehung ist allgemein anerkannt, vgl. nur Heine (Fn. 10), § 331 Rn. 29 m.w.N. 42 Vgl. Paster/Sättele, NStZ 2008, 366 (371, 372). 43 BGHSt 50, 331 (337 ff.). _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 470 Bezahlung von Geldstrafen durch das Unternehmen − § 258 StGB oder § 266 StGB? Von Ass. iur. Meik Kranz, Hannover I. Einleitung Insbesondere im Rahmen von Wirtschafts- und Unternehmensstraftaten ist die Grenze zwischen rechtmäßigen Handlungen und strafrechtlich relevantem Verhalten oft fließend und eine exakte Abgrenzung nicht eindeutig zu vollziehen. Insoweit verwundert es nicht, wenn etwaige strafrechtliche Schranken hier regelmäßig überschritten werden. Um Arbeitnehmer, die ihre Tätigkeit vor allem in rechtlich sensiblen Bereichen von Unternehmen haben, vor denkbaren strafrechtlichen Konsequenzen zu sichern,1 aber auch um Interessen des Unternehmens zu wahren, hat sich die Praxis herausgebildet, dass verhängte Geldstrafen für begangene Wirtschaftsstraftaten der Mitarbeiter regelmäßig von den Unternehmen selbst übernommen werden.2 In strafrechtlicher Hinsicht aber ist eine solche Übernahme von Geldstrafen durch das Unternehmen nicht unproblematisch und wird daher in Rechtsprechung und Lehre kontrovers diskutiert. Im Folgenden soll deshalb dieser Frage näher nachgegangen und aufgezeigt werden, wann und inwieweit die Erstattung von Geldstrafen durch Unternehmen strafrechtliche Relevanz erfährt. II. Tatbestandliche Anknüpfungspunkte einer Strafbarkeit für die Übernahme von Geldstrafen durch Unternehmen Anknüpfungspunkte einer Strafbarkeit für das Einstehen eines Unternehmens für die Geldstrafen von Mitarbeitern bilden insbesondere zweierlei Tatbestände des StGB. Zum einen ist immer an eine Strafbarkeit der Strafvereitelung in Gestalt der Strafvollstreckungsvereitelung gem. § 258 Abs. 2 StGB zu denken. Zum anderen ist stets auch der Tatbestand der Untreue gem. § 266 StGB von strafrechtlicher Relevanz. Inmitten steht vor allem die Frage, welcher der genannten Tatbestände die Bezahlung von Geldstrafen durch Unternehmen erfasst. 1. Strafbarkeit wegen Strafvereitelung gem. § 258 Abs. 2 StGB Nach wohl herrschender Auffassung3 dient § 258 StGB dem Schutz der staatlichen Rechtspflege in ihrer speziellen Aufgabe, den Täter einer rechtswidrigen Tat zu bestrafen oder einer Maßnahme zu unterwerfen.4 Wer das vereitelt, verletzt das durch § 258 StGB geschützte Rechtsgut. Dabei behandelt § 258 StGB unter der Bezeichnung Strafvereitelung die sog. persönliche Begünstigung5 und zwar in Abs. 1 die Verfolgungs- und in Abs. 2 die Vollstreckungsvereitelung. Während § 258 Abs. 1 StGB von einer „rechtswidrigen Vortat“ 1 Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249. Kapp, NJW 1992, 2796. 3 BGHSt 43, 82 (84); 45, 97 (101); BGH JR 2000, 377 (379); Neumann, StV 2000, 425. 4 Altenhain, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2005, Bd. 2, § 258 Rn. 3 m.w.N. 5 Altenhain (Fn. 4), § 258 Rn. 1. 2 spricht, heißt es dagegen in § 258 Abs. 2 StGB „verhängte Strafe“ bzw. Maßnahme. Das maßgebliche Abgrenzungskriterium zwischen diesen beiden Varianten ist, dass es für eine Vollstreckungsvereitelung allein darauf ankommt, ob die begangene Vortat rechtskräftig abgeurteilt und damit vollstreckbar ist.6 Übernimmt nun ein Unternehmen die Bezahlung einer rechtskräftig verhängten Geldstrafe für die Tat eines seiner Arbeitnehmer, die dieser in Ausübung seiner Tätigkeit für den Betrieb begangen hat oder stellt das Unternehmen sogar finanzielle Mittel für die Bezahlung möglicher Geldstrafen zur Verfügung, dann hat dies zur Folge, dass die Wirkung der verhängten Strafe den Verurteilten selbst faktisch nicht trifft, sondern vielmehr umgangen, mithin also vereitelt wird. Bei derartigen Fallkonstellationen erscheint eine Strafbarkeit der Unternehmen, resp. der betreffenden Entscheidungsträger innerhalb der Unternehmen, in Form der Strafvollstreckungsvereitelung i.S.v. § 258 Abs. 2 StGB auf den ersten Blick geradezu als typisch. Bei einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe bzw. zu einer freiheitsentziehenden Maßnahme jedenfalls ist allgemein anerkannt, dass das Verbüßen für einen Anderen den Tatbestand der Vollstreckungsvereitelung erfüllt.7 Man könnte nun schlussfolgern, dass für die Bezahlung einer fremden Geldstrafe dann nichts anderes gelten kann. Allerdings ist die Frage, ob die Bezahlung einer fremden Geldstrafe durch einen Dritten den Tatbestand der Strafvereitelung, in der Variante der Vollstreckungsvereitelung gem. § 258 Abs. 2 StGB erfüllt, seit jeher umstritten.8 Maßgeblicher Gegenstand der Kontroverse ist dabei die essentielle Frage, ob sich jemand, der für einen Anderen eine Geldstrafe bezahlt, überhaupt wegen einer Vollstreckungsvereitelung strafbar macht.9 Teilweise wurde in der älteren Literatur dazu vertreten, dass grundsätzlich jedes Einstehen eines Dritten für eine Geldstrafe den Tatbestand einer Vollstreckungsvereitelung erfüllen soll.10 Begründet wurde dies vor allem damit, dass das Strafübel, welches der Verurteilte erleiden soll, nicht sein Vermögen belastet und insofern auch keine tatsächliche Einbuße darstellt. Sein Vermögen leidet nur formell.11 Allerdings ist anzumerken, dass diese Ansicht noch zu § 257 StGB a.F., dem Vorläufer des heutigen § 258 StGB, entwickelt wurde und nicht ohne weiteres auf den § 258 Abs. 2 6 Vgl. Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 55. Aufl. 2008, § 258 Rn. 29. 7 Haft, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 8. Aufl. 2005, S. 64; Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 9.Aufl. 2007, § 21 Rn. 10; Hoyer, in: Rudolphi u.a. (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 6. Aufl., 52. Lieferung, Stand: August 2006, § 258 Rn. 18. 8 Müller-Christmann, JuS 1992, 379 (380); Hoyer (Fn 7) § 258 Rn. 19. 9 Müller-Christmann, JuS 1992, 379 (381). 10 von der Decken, ZStW 12 (1892), 97 (114 ff.); ähnl. Ansatz bei: Lehmann, GA 1871, 785 (786); Müller-Christmann, JuS 1992, 379 (381). 11 von der Decken, ZStW 12 (1892), 97 (114). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 471 AUFSÄTZE Meik Kranz StGB n.F. übertragbar ist.12 Daher wird diese Auffassung heute so gut wie nicht mehr vertreten, da jedenfalls darüber Einigkeit besteht, dass die „nachträgliche Erstattung“ einer Geldstrafe nicht nach § 258 Abs. 2 StGB strafbar sein kann.13 Denn leistet der Verurteilte zunächst aus seinem eigenen Vermögen, dann vereitelt er den Strafanspruch gegen ihn nicht, sondern erfüllt ihn. Dann besteht aber auch keine staatliche Vollstreckung mehr, die vereitelt werden könnte, selbst wenn er sich die gezahlte Summe später ersetzen lässt.14 Insofern herrscht Einigkeit, dass jedenfalls im Falle einer nachträglichen Erstattung der bezahlten Geldstrafe in keiner Weise eine Strafvereitelung nach § 258 Abs. 2 StGB in Betracht zu ziehen ist. Weiterhin kontrovers diskutiert wird indes die Frage, ob eine direkte Einzahlung der Geldstrafe oder die Schenkung des Geldbetrages vor der Bezahlung eine Vollstreckungsvereitelung i.S.v. § 258 Abs. 2 StGB darstellt.15 Die ältere Auffassung in der Rechtsprechung,16 sowie ein großer Teil in der Literatur17 befürworten im Falle der direkten Bezahlung einer Geldstrafe durch einen Dritten oder der vorherigen Schenkung des betreffenden Geldbetrages eine Strafbarkeit gem. § 258 Abs. 2 StGB. Im Kern begründet diese Auffassung ihre Ansicht mit dem Wesen der Geldstrafe. Demnach statuiert die Verhängung einer Geldstrafe eine höchstpersönliche Leistungspflicht.18 Die Geldstrafe solle den Rechtsbrecher persönlich treffen und für ihn ein fühlbares Übel darstellen. Die Funktion der Geldstrafe erschöpft sich daher nicht bloß in der Begründung einer Geldschuld gegenüber dem Fiskus.19 Für die Höchstpersönlichkeit spreche vor allem, dass die Geldstrafe durch das Tagessatzsystem gem. § 40 StGB gerade auf die persönlichen Einkommensverhältnisse abstellt und außerdem die Möglichkeit einer Vollstreckung in den Nachlass abgeschafft wurde.20 Ließe man es zu, diese höchstpersönliche Verpflichtung stellvertretend zu erfüllen, würde man die Geldstrafe entwerten und sie ihrer spezialpräventiven Wirkung berauben.21 Bezahlt nun ein Dritter die Strafe, würden Sinn und Zweck dieses Strafleidens vereitelt. Um den Sinn der Geldstrafe nicht zu unterlaufen, müsse die Drittzahlung einer Geldstrafe daher als strafbar i.S.v. § 258 Abs. 2 StGB angesehen werden.22 Die neuere Rechtsprechung des BGH23 ist von der dargestellten Rechtsprechung des Reichsgerichts jedoch abgewichen und hat sich der Gegenauffassung in der Literatur24 angeschlossen, nach der die Bezahlung einer Geldstrafe für einen Anderen generell nicht den Tatbestand einer Strafvereitelung erfüllt. Begründet wird dies insbesondere durch eine restriktive Auslegung des Begriffs „Vollstreckung“. Erfasst sei nur, dass der richterliche Urteilsspruch durchgesetzt werde und der Verurteilte seine Pflicht erfüllt, welche darin besteht, einen bestimmten Geldbetrag an die Gerichtskasse zu zahlen. Allein dies ist mittels Vollstreckungsmaßnahmen durchsetzbar. Nicht durchsetzbar sei aber, dass die Zahlung den Betroffenen persönlich treffe.25 Da Geld im Gegensatz zu einer Freiheitsstrafe ein vertretbares Gut sei, sei eine Höchstpersönlichkeit der Vollstreckung beim Verurteilten auch nicht erreichbar.26 Vollstreckungsvereitelung begehe daher nur, wer durch Störung der äußeren Abläufe, wie z.B. Überstellung in den Vollzug oder Beitreibung von Geldstrafen bewirkt, dass eine gegen einen Anderen verhängte Geldstrafe oder Maßnahme nicht verwirklicht werden kann.27 Vereitelt werde damit allenfalls der Strafzweck, deren Strafbarkeit allerdings nicht mehr vom Wortlaut des § 258 Abs. 2 StGB erfasst wird.28 Eine Ausdehnung des Wortlautes auf den Strafzweck würde im Hinblick auf das Analogieverbot gem. Art. 103 Abs. 2 GG i.V.m. § 1 StGB eine Überschreitung der Wortlautgrenze bedeuten, die freilich nur zugunsten eines Angeklagten zulässig ist.29 Des Weiteren könne die Gegenauffassung die Differenzierung zwischen sofortiger Bezahlung der Geldstrafe und nachträglicher Erstattung nicht überzeugend darlegen und fordere eine Umgehung der Strafbarkeit geradezu heraus. Eine Differenzierung mache eine Strafbarkeit von Zufälligkeiten abhängig und treffe nur den ungeschickten Täter, der es nicht verstehe, die Unterstützung des Täters so zu erbringen, dass er straffrei bleibt.30 Daher stellt die Bezahlung einer Geldstrafe aus dem Vermögen eines Dritten im Ergebnis auch keine Strafvereitelung gem. § 258 Abs. 2 StGB dar, sondern hat im Rahmen der Vollstreckung von Geldstrafen keinerlei Bedeutung.31 12 2. Stellungnahme Nach langem Hin und Her der Argumentation in Rechtsprechung und Lehre, welche sich teilweise immer wieder gegenseitig aufhoben, hat der 2. Strafsenat des BGH mit seiner Entscheidung vom 7.11.1990 jedenfalls für die Praxis klargestellt, dass eine Übernahme von Geldstrafen nicht unter die Engels, Jura 1981, 581 (582). Fischer (Fn. 6), § 258 Rn. 32 m.w.N.; Engels, Jura 1981, 581 (581); Hillenkamp, JR 1992, 72 (73); BGHSt 37, 226 (228) m.w.N. 14 Engels, Jura 1981, 581. 15 Hoyer (Fn. 7), § 258 Rn. 20. 16 RGSt, 30, 232 (235); OLG Frankfurt StV 1990, 112. 17 Hillenkamp, JR 1992, 74 ; ders., in: Küper (Hrsg.), Festschrift für Karl Lackner zum siebzigsten Geburtstag am 18. Februar 1987, 1987, S. 455 ff.; Krey/Heinrich, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 13. Aufl. 2005, Rn. 620; Stree, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Auflage 2006, § 258 Rn. 28a m.w.N.; 18 Müller-Christmann, JuS 1992, 379 (381). 19 OLG Frankfurt StV 1990, 112; Scholl, NStZ 1999, 599 (601). 20 Müller-Christmann, JuS 1992, 379 (381); Fischer (Fn. 6). 21 OLG Frankfurt StV 1990, 112. 22 Wodicka, NStZ 1991, 486 (488). 13 23 BGHSt 37, 226. Engels, Jura 1981, 581 (585); Noack, StV 1990, 113. 25 BGHSt 37, 226 (230). 26 Müller-Christmann, JuS 1992, 379, (381). 27 Krey/Heinrich (Fn. 17); BGHSt 37, 226 (230); Noack, StV 1990, 113. 28 Hoffman/Wißmann, StV 2001, 249. 29 Krey/Heinrich (Fn. 17), Rn. 620b; Müller-Christmann, JuS 1992, 379 (381); Noack, StV 1990, 113; BGHSt 37, 226 (230). 30 Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249; Krey/Heinrich (Fn. 17). 31 BGHSt 37, 226 (229); Engels, Jura 1981, 581 (585). 24 _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 472 Bezahlung von Geldstrafen durch das Unternehmen Strafbarkeit einer Vollstreckungsvereitelung gem. § 258 Abs. 2 StGB fällt.32 In der Tat ist den Kritikern dieser Entscheidung zuzugeben, dass es auf den ersten Blick kriminalpolitische Bedenken aufwirft, würde man ein Einstehen für die Geldstrafe eines Anderen nicht durch § 258 Abs. 2 StGB erfasst sehen.33 Dies gilt insbesondere für Unternehmen, die aus Profitmotiven eventuelle Straftaten in ihre Kalkulation mit einbeziehen34 und mit den ausführenden Mitarbeitern Freistellungsvereinbarungen treffen oder sich im Nachhinein dazu bereit erklären, die Strafen zu übernehmen. Ebenfalls ist einzugestehen, dass mit der Bezahlung der Geldstrafe durch einen Dritten ein bedeutsamer Zweck des Strafvereitelungstatbestandes umgangen wird. Dabei hat die Strafe vor allem den Sinn auf den Verurteilten erzieherisch einzuwirken. Mithin vereitelt das Einstehen eines Dritten für die Geldstrafe eben diesen Zweck. Von einer Strafzweckvereitelung ist aber im Wortlaut des § 258 Abs. 2 StGB nicht die Rede und es darf diese auch nicht ohne weiteres in die Norm hinein interpretiert werden. Daher begibt sich diese Auffassung stark in die Nähe eines Verstoßes gegen das verfassungsrechtlich verankerte Analogieverbot, will sie eine Strafzweckvereitelung noch von § 258 Abs. 2 StGB erfasst sehen. Einer extensiven Auslegung des Vollstreckungsbegriffs, worauf es bei der Gegenauffassung des BGH hinaus läuft, hin zu einer Erfassung des Strafzwecks werden insoweit durch die Wortlautgrenze unüberwindbare Schranken gesetzt. Unterstützend kann angeführt werden, dass im Einzelfall der Nachweis, zu welchem Zweck der Verurteilte Gelder, Darlehen oder andere Zuwendungen vom Dritten erhalten hat, nicht immer zu führen sein wird. Ein generelles Schenkungs- oder Zuwendungsverbot für verurteilte Straftäter wird dabei wohl nicht ernsthaft in Erwägung zu ziehen sein. Daher bietet eine Erfassung der Übernahme von Geldstrafen durch Dritte mannigfaltige Umgehungsmöglichkeiten. Ein dahingehendes Verständnis der Norm kann nicht im Sinne des Gesetzgebers sein. Übernimmt somit ein Unternehmen die Geldstrafe eines seiner Mitarbeiter oder wird durch eine Vereinbarung im Voraus zwischen dem Unternehmen und dem Arbeitnehmer eine Freistellung von etwaigen Strafen vereinbart, dann kommt eine Strafbarkeit jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der Strafvereitelung gem. § 258 StGB nicht in Betracht. III. Strafbarkeit wegen Untreue gem. § 266 StGB Eine mögliche Strafbarkeit wegen der Übernahme von Geldstrafen durch Unternehmen für ihre Arbeitnehmer ergibt sich darüber hinaus unter dem Aspekt der Untreue gem. § 266 StGB. Im Gegensatz zur Strafvereitelung ist eine mögliche Untreuestrafbarkeit der Beteiligten in der höchstrichterlichen Rechtsprechung noch nicht endgültig geklärt, sondern allenfalls nebenbei erwähnt worden und bedarf daher einer näheren Betrachtung.35 32 Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249. Krey/Heinrich (Fn. 17), Rn. 620 b. 34 Man denke dabei vor allem an Taten aus dem Umweltstrafrecht. 35 Kapp, NJW 1992, 2796 (2797); BGH NJW 1991, 991. 33 STRAFRECHT Dabei enthält § 266 Abs. 1 StGB zwei von einander zu unterscheidende Tatbestände, den Missbrauchstatbestand gem. § 266 Abs. 1 Alt. 1 StGB und den Treubruchtatbestand gem. § 266 Abs. 1 Alt. 2 StGB. Nach ganz h.M.36setzt die Untreuestrafbarkeit nach beiden Varianten das Vorliegen einer Vermögensbetreuungspflicht voraus. Bezahlt ein Unternehmen die Geldstrafe seiner Mitarbeiter, geht es dabei im Kern um die Frage, ob die Unternehmensverantwortlichen damit ihre dem Unternehmen gegenüber obliegende Vermögensbetreuungspflicht verletzen und dem Unternehmen einen finanziellen Schaden zugefügt haben. Schließlich zahlt das Unternehmen hier einen Geldbetrag, ohne eine ersichtliche Gegenleistung zu erhalten. Insofern erscheint eine Strafbarkeit nach beiden Varianten zumindest möglich. Gegenstand der Vermögensbetreuungspflicht muss dabei die Geschäftsbesorgung für einen Anderen in einer nicht ganz unbedeutenden Angelegenheit mit einem Aufgabenkreis von einigem Gewicht und einem gewissen Grad an Selbständigkeit sein.37 In Fällen der Freistellung von Arbeitnehmern für verhängte Geldstrafen kommen als Täter in erster Linie die maßgeblichen Entscheidungsträger eines Betriebes, namentlich der Geschäftsführer, der Vorstand, der Aufsichtsrat oder andere Mitarbeiter des Unternehmens, die einen gewissen Grad an eigener Entscheidungskraft und Selbständigkeit haben, in Betracht.38 Bei der Führung von Unternehmen sind die o.g. Unternehmensverantwortlichen in der Regel frei und entscheiden innerhalb ihres „unternehmerischen Ermessens“.39 Allerdings ergeben sich Schranken der Entscheidungsfreiheit aus den vom Betrieb verfolgten Unternehmensinteressen. Dieser dürfen sich die verantwortlichen Organe des Unternehmens nicht veräußern. Insbesondere sind die Entscheidungsträger dabei den Grundsätzen einer ordnungsgemäßen Geschäftsführung unterworfen, was bereits aus den §§ 43 Abs. 1 GmbHG, 93 Abs. 1 AktG, wonach Geschäftsführer bzw. Vorstände die Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes anzuwenden und damit ermessensfehlerfrei zu entscheiden haben, zu folgern ist.40 Ausgeschlossen ist daher eine Vermögenspflichtverletzung, soweit triftige Gründe bestehen, die die Übernahme von Geldstrafen durch das Unternehmen rechtfertigen. Solche liegen jedenfalls dann vor, wenn das Unternehmen zur Bezahlung der Geldstrafe verpflichtet ist oder ein Einstehen für die Strafe innerhalb des unternehmerischen Ermessens lag 36 Seier, in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 2004, Kapitel V, Abschnitt 2, F. I., Rn. 158; Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 26. Aufl. 2007, § 266 Rn. 4, 21 m.w.N. 37 Wessels/Hillenkamp, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 30. Aufl. 2007, Rn. 752 m.w.N. 38 Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249, (250); Aufzählung bei Kindhäuser, in: ders./Neumann/Paeffgen (Fn. 4); § 266 Rn. 58. 39 Ignor/Rixen, wistra 2000, 448 (450). 40 Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249 (250); Ignor/Rixen, wistra 2000, 448 (449); Kapp, NJW 1992, 2796 (2797). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 473 AUFSÄTZE Meik Kranz und insoweit auch den Grundsätzen ordnungsgemäßer Geschäftsführung entsprach.41 1. Verpflichtung zur Übernahme von Geldstrafen Zahlt ein Unternehmen Betriebszugehörigen für unternehmensbezogene Verfehlungen Geldstrafen, dann verletzen die beschlussfassenden Personen ihre Vermögensbetreuungspflicht freilich dann nicht, wenn der betroffene Mitarbeiter aus dem Arbeits- oder Dienstverhältnis Ansprüche für den Ersatz von Aufwendungen gem. § 670 BGB oder Fürsorgepflichten geltend machen kann. Der BGH hat jedenfalls die Übernahme von Verfahrenskosten (Gerichts- und Anwaltskosten) aus § 670 BGB oder der Fürsorgepflicht nicht als Vermögenspflichtverletzung angesehen und eine etwaige Untreuestrafbarkeit diesbezüglich verneint.42 Danach kann der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber den Ersatz von Aufwendungen verlangen, welche er zum Zwecke des Auftrags gemacht hat und die er den Umständen nach auch für erforderlich halten durfte.43 Gleichzeitig ist diese Sicht für die Übernahme von Geldstrafen sowohl von der Rechtsprechung als auch von der wohl h.M. in der Literatur44 verneint worden, da sich die für die Bezahlung der Verfahrenskosten verfolgte Argumentation auf die Übernahme von Geldstrafen nicht übertragen lässt. Begründet wird dies damit, dass die Geldstrafe die Folge eigenen Verschuldens darstellt und ein Arbeitnehmer, der seine Berufspflichten verletzt, einen dahingehenden Ersatz nicht mehr verlangen könne. Schließlich habe es der Arbeitnehmer selbst in der Hand, Strafen zu vermeiden und sich innerhalb der Rechtsordnung zu bewegen.45 Mag eine solche Verpflichtung für die Bezahlung von Verfahrenskosten für den Arbeitgeber noch bestehen, kann diese für Geldstrafen jedenfalls nicht mehr begründet werden. Die Entscheidung, eine Geldstrafe für einen Mitarbeiter zu übernehmen, kann daher regelmäßig nicht durch eine Pflicht zum Ersatz von Aufwendungen oder Fürsorgepflichten gegenüber dem Arbeitnehmer gerechtfertigt werden. 2. Ermessen der Unternehmensverantwortlichen Wie oben erwähnt obliegt der Unternehmensführung bei unternehmensrelevanten Entscheidungen ein umfangreiches Ermessen. Wird nun dahingehend eine Entscheidung gefällt, die Geldstrafe eines Betriebszugehörigen zu übernehmen, dann entfällt eine Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht ledig- lich dann, wenn die Grenzen des Ermessens eingehalten worden sind, d.h. die Verantwortlichen sich an den Grundsätzen einer ordnungsgemäßen Wirtschaftsführung orientiert haben.46 Allerdings ist dabei zu beachten, dass hier bei privatwirtschaftlichen und öffentlich-rechtlichen Unternehmen kein einheitlicher Maßstab zugrunde gelegt werden kann.47 Vielmehr ist zwischen diesen beiden Prägungen hinsichtlich des Ermessensspielraums und dem damit verbundenen Rahmen der Vermögensbetreuungspflicht zu differenzieren. a) Privatwirtschaftliche Unternehmen Für privatwirtschaftliche Unternehmen ist anerkannt, dass die Bezahlung von Geldstrafen durchaus möglich oder sogar erforderlich sein kann.48 Unternehmen der Privatwirtschaft orientieren sich dabei zuvörderst an der Erwirtschaftung von Profiten. Daher wird eine Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht vor allem dann angenommen, wenn die Entscheidung die Geldstrafe für den Mitarbeiter zu übernehmen nicht im ökonomischen Interesse des Unternehmens liegt, mithin also wirtschaftlich sinnlos ist und daher auch nicht mehr den Grundsätzen ordnungsgemäßer Wirtschaftsführung entspricht.49 Da sich derartige Entscheidungen regelmäßig aus einem Abwägungsprozess heraus ergeben, besteht hier nur ein beschränkter gerichtlicher Überprüfungsspielraum.50 Grundsätzlich sind die Maßstäbe hieran nicht zu hoch anzusetzen, da sogar Risikogeschäfte nicht von vornherein als pflichtwidrig zu bewerten sind, sondern sogar zum geschäftlichen Alltag gehören. Strafbewehrt werden solche Geschäfte erst dann, wenn der Täter, bewusst entgegen der kaufmännischen Sorgfalt, eine überhöhte Verlustgefahr akzeptiert.51 Überträgt man diese Argumentation auf die Bezahlung von Geldstrafen durch das Unternehmen, dann ergibt sich daraus, dass ein pflichtwidriges Verhalten nicht festzustellen ist, solange sich die Disposition am Unternehmenswohl orientiert. Besonders im Bereich der Privatwirtschaft gibt es eine Vielzahl von möglichen Fallgestaltungen in denen die Bezahlung von Geldstrafen im Interesse eines Unternehmens liegen kann. Dies wird in der Regel bereits dann anzunehmen sein, wenn die Übernahme der Geldstrafe der Vermeidung von negativer Publizität und Imageschäden für das Unternehmen dient oder das Vertrauen aktueller und potentieller Kunden bewahrt werden soll.52 Ein weiterer Grund ist darin zu erblicken, dass durch die Freistellung von Geldstrafen bewährte Mitarbeiter auch künftig an das Unternehmen gebunden werden und nicht mit ihren erworbenen Kenntnissen zu Konkurrenzbetrieben abwandern.53 41 Voß, in: Rönnau/Samson (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht aus der Sicht der Strafverteidigung, 2003, S. 287 ff. (294); Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249 (250); Kapp, NJW 1992, 2796 (2797). 42 BGH NJW 1991, 990 (991); Hassemer, JuS 1991, 694 (695); Seier (Fn. 36), Rn. 209. 43 Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249 (250); Voß (Fn. 41), Fn. 43, S. 295. 44 BGH NJW 1991, 990 (991); Seier (Fn. 36), Rn. 209; Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249 (250); Müller-Christmann, JuS 1992, 379 m.w.N. 45 Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249 (250) m.w.N. 46 Nachweise vgl. Fn. 39. Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249 (250); ähnl. Kapp, NJW 1992, 2796 (2797). 48 Hoffman/Wißmann, StV 2001, 249; Ignor/Rixen, wistra 2000, 448 (449); Kapp, NJW 1992, 2796. 49 Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249 (251). 50 Voß (Fn. 41), S. 296. 51 Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249 (250 f.) m.w.N. 52 Seier (Fn. 36), Rn. 209; Ignor/Rixen, wistra 2000, 448 (451). 53 Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249 (251). 47 _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 474 Bezahlung von Geldstrafen durch das Unternehmen Insoweit verletzt die Entscheidung Geldstrafen von Betriebszugehörigen für strafrechtliche Verfehlungen zu übernehmen nicht ohne weiteres die Vermögensbetreuungspflicht der Unternehmensverantwortlichen gegenüber ihrem Unternehmen. Grundsätzlich ist daher auf die Umstände des Einzelfalles abzustellen und die Situation in ihrer Gesamtheit zu würdigen. b) Öffentlich-rechtliche Unternehmen Fraglich ist indes, ob die gleichen Maximen, wie sie bei privatwirtschaftlichen Unternehmen zu Grunde gelegt werden, auch für öffentlich-rechtliche Unternehmen Geltung beanspruchen können. Insbesondere ist hier zu berücksichtigen, dass öffentlich-rechtliche Unternehmen zu großen, wenn nicht sogar zu überwiegenden Teilen aus öffentlichen Geldern finanziert werden. Darüber hinaus orientieren sie sich in der Hauptsache nicht lediglich an Gewinnerzielung,54 sondern zumindest auch an gemeinnützigen Zielen. Inwieweit dieser Aspekt bei der Beurteilung einer Pflichtverletzung durch die Übernahme von Geldstrafen eine Rolle spielt, wird hingegen unterschiedlich bewertet. Teilweise werden die gleichen Grundsätze, wie sie bei privaten Unternehmen angenommen werden, auch für öffentlich-rechtliche Unternehmen angenommen. Danach müssen sich öffentlich-rechtlich verfasste Unternehmen in der Regel auch in der freien Wirtschaft gegen Mitbewerber durchsetzen. Auch hier könnte im Einzelfall durch die Übernahme von Geldstrafen für Mitarbeiter Schaden für das Unternehmen abgewendet werden. Dem steht auch nicht entgegen, dass der Hauptzweck nicht in der Gewinnerwirtschaftung liegt, da Gewinne jedenfalls erwirtschaftet werden dürfen und dadurch die Stellung am Markt gestärkt und gemeinnützige Aufgaben erleichtert werden.55 Eine generelle Annahme der Verletzung von Vermögensbetreuungspflichten durch die Bezahlung von Geldstrafen von Unternehmenszugehörigen könne insoweit nicht angenommen werden. Herrschend in Rechtsprechung und in der Literatur56 ist indessen, dass die Bezahlung von Geldstrafen für Betriebszugehörige eines öffentlich-rechtlichen Unternehmens grundsätzlich als eine Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht und damit einhergehend auch als strafbare Untreue i.S.v. § 266 StGB anzusehen ist. Dies wird damit legitimiert, dass die den öffentlich-rechtlichen Unternehmen zur Verfügung gestellten Finanzmittel zumeist bzw. zu einem großen Teil aus öffentlichen Geldern stammen und nur zur Erledigung der satzungsgemäßen Aufgaben verwendet werden dürfen. Die Bezahlungen von Geldstrafen für Verfehlungen dort Beschäftigter fallen allerdings prinzipiell nicht unter die dort kodifizierten Aufgaben. Demgemäß ist die Verletzung einer Vermögens54 Ignor/Rixen, wistra 2000, 448 (451) m.w.N. Ignor/Rixen, wistra 2000, 448 (450), bezogen auf Landesbanken. Die angeführten Argumente lassen sich aber uneingeschränkt auch bei anderen öffentlich-rechtlichen Unternehmen anführen, wie z.B. Theatern, Öffentlicher Rundfunk usw. 56 BGH NJW 1991, 990 (991); Hassemer, JuS 1991, 694 (695); Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249 (250); MüllerChristmann, JuS 1992, 379. 55 STRAFRECHT betreuungspflicht anzunehmen, soweit die öffentlichen Gelder nicht den haushaltsrechtlichen Vorschriften entsprechend verwendet werden.57 c) Stellungnahme Der oben dargestellten Mindermeinung ist zuzugeben, dass zumindest in manchen Märkten oder Marktsegmenten öffentlich-rechtlich verfasste Unternehmen ebenso wie Unternehmen der Privatwirtschaft den Gesetzen und dem Druck der freien Marktwirtschaft unterworfen sind. Diesbezüglich ist nicht abzustreiten, dass hier durch Aufsehen erregende strafrechtliche Prozesse Image beeinträchtigende Schlussfolgerungen in der Öffentlichkeit getroffen werden, welche sich durch wirtschaftliche Einbußen bemerkbar machen könnten. Maßgeblich ist jedoch, dass öffentlich-rechtliche Unternehmen neben den eigenen erwirtschafteten Geldern auch auf öffentliche Zuschüsse zurückgreifen können. Dabei erfolgt die Vergabe von öffentlichen Mitteln nach strengen haushaltsrechtlichen Vorgaben, um sicherzustellen, dass die knappen finanziellen Ressourcen des Staates gezielt und vernünftig verwendet werden. Bei deren Verwendung haben öffentlich-rechtliche Unternehmen neben rein ökonomischen Aspekten vor allem Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu beachten. Bezahlt nun ein öffentlich-rechtliches Unternehmen die Geldstrafe eines seiner Mitarbeiter, dann werden hier auch öffentliche Gelder zu Zwecken verwendet, die nicht in der satzungsgemäßen Zielsetzung des öffentlichen Unternehmens liegen. Ein dahingehender Gebrauch der staatlichen Zuschüsse stellt sich dann auch nicht mehr als gezielt und vernünftig dar und entspricht deshalb auch nicht mehr den haushaltsrechtlich vorgegebenen Vorschriften der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit. Beachten die betreffenden Entscheidungsträger eines öffentlich-rechtlichen Unternehmens diese Aspekte nicht, dann verletzen sie damit ihre dem Unternehmen gegenüber obliegende Vermögensbetreuungspflicht. Demgemäß verdient die h.M.58, wonach die Bezahlung von Geldstrafen durch öffentlich-rechtliche Unternehmen grundsätzlich eine Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht darstellt, den Vorzug. IV. Resümee und Fazit Schlussendlich bleibt festzuhalten, dass die Bezahlung von Geldstrafen durch das Unternehmen für strafrechtliche Verfehlungen von Mitarbeitern jedenfalls wegen einer Strafvollstreckungsvereitelung gem. § 258 Abs. 2 StGB im Ergebnis unter keinem Aspekt in Betracht kommt. Eine mögliche Strafbarkeit unter dem Aspekt der Untreue gem. § 266 StGB ist zumindest bei privatwirtschaftlichen Unternehmen nur durch eine Gesamtwürdigung des Sachverhaltes im Einzelfall zu begründen. In der Praxis allerdings wird hier der Beweis, im Unternehmenswohl gehandelt zu haben, relativ schnell erbracht werden können, da diesbezüglich keine hohen Anforderungen gestellt werden. Gelingt eine 57 58 Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249 (250). Vgl. Fn. 57. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 475 AUFSÄTZE Meik Kranz plausible Begründung für die Freistellung des Mitarbeiters von der Geldstrafe hingegen nicht, dann ist auch eine Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht und eine damit verbundene Untreuestrafbarkeit nicht auszuschließen. Bei öffentlich-rechtlich verfassten Unternehmen kommt eine Untreuestrafbarkeit wegen der Übernahme von Geldstrafen für Unternehmenszugehörige nur dann in Betracht, wenn die zur Verfügung gestellten öffentlichen Gelder eine zweckwidrige Verwendung erfahren haben. Eine solche ist bei der Bezahlung von Geldstrafen für Mitarbeiter generell anzunehmen, da die Satzungen öffentlich-rechtlicher Unternehmen eine diesbezügliche Mittelverwendung prinzipiell nicht vorsehen und somit auch eine an haushaltsrechtlichen Vorschriften orientierte Verwendung nicht mehr gegeben ist. Als Fazit ist festzustellen, dass bei Übernahme einer Geldstrafe durch das Unternehmen nach gegenwärtiger Rechtslage eine Strafbarkeit im Ergebnis nur für öffentlichrechtliche Unternehmen in Betracht kommt. Die strafrechtliche Erfassung privat verfasster Unternehmen wird unter dem Gesichtspunkt einer Untreuestrafbarkeit nur schwer und im Hinblick auf eine mögliche Strafvollstreckungsvereitelung gar nicht zu erfassen sein. Sollten sich diesbezüglich kriminalpolitische Bedenken ergeben, dann ist der Gesetzgeber aufgerufen, hier bestehende Mängel zu beseitigen. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 476 Eigentumsvorbehalt und Anwartschaftsrecht Von Prof. Dr. Johann Kindl, Münster Eigentumsvorbehalt und Anwartschaftsrecht spielen in Ausbildung und Praxis eine große Rolle. Der nachfolgende, an Examenskandidaten und Studierende fortgeschrittener Semester gerichtete Beitrag gibt einen Überblick über die Erscheinungsformen des Eigentumsvorbehalts und die wesentlichen damit einhergehenden sachen-, schuld- sowie vollstreckungsrechtlichen Fragen. I. Begriff, Bedeutung und Arten 1. Begriff und Bedeutung Beim Kauf unter Eigentumsvorbehalt schließen die Parteien einen Kaufvertrag über eine bewegliche Sache, bei dem sich der Verkäufer – abweichend von § 433 Abs. 1 BGB – nur dazu verpflichtet, dem Käufer die Sache zu übergeben und ihm aufschiebend bedingtes Eigentum an der Sache zu verschaffen. Dementsprechend machen die Parteien die Wirksamkeit der Einigung über den Eigentumsübergang (§ 929 S. 1 BGB) vom Eintritt einer aufschiebenden Bedingung (§ 158 Abs. 1 BGB) abhängig.1 Aufschiebend bedingt ist die Übereignung gem. § 449 Abs. 1 BGB im Zweifel durch die vollständige Bezahlung des Kaufpreises.2 Beim Kauf von unbeweglichen Sachen kommt ein Eigentumsvorbehalt wegen § 925 Abs. 2 BGB nicht in Frage. Ein Kauf unter Eigentumsvorbehalt bietet sich an, wenn der Käufer nicht in der Lage ist, gem. § 320 BGB den vollständigen Kaufpreis Zug um Zug gegen Übereignung und Übergabe der Sache zu begleichen, er den unmittelbaren Besitz an der Kaufsache aber sogleich benötigt. Geht das Eigentum erst mit der Bezahlung der letzten Kaufpreisrate auf den Käufer über, dann behält der Verkäufer bis zu diesem Zeitpunkt das im Eigentum enthaltene Sicherungs- und Verwertungsrecht, während der unmittelbare Besitz und das Nutzungsrecht sogleich mit der Übergabe auf den Käufer übergehen.3 Für den Fall, dass es zu einer Rückabwicklung des Vertrages kommen sollte, bevor die letzte Kaufpreisrate bezahlt ist, ist der Vorbehaltsverkäufer durch den dinglichen Herausgabeanspruch aus § 985 BGB gesichert. Auf den Vorbehaltskäufer, der volles Eigentum ja erst mit der vollständigen Bezahlung des Kaufpreises erwirbt, übt der Vorbehalt einen gewissen Druck aus, seinen Verpflichtungen nachzukommen.4 Der Eigen- tumsvorbehalt ist das gebräuchlichste Sicherungsmittel des Warenkreditgebers. 2. Arten a) Einfacher Eigentumsvorbehalt Der Vorbehaltskäufer behält die Sache in seinem Besitz und erwirbt das Eigentum mit der Bezahlung der letzten Kaufpreisrate. Hauptanwendungsfall ist der Vorbehaltsverkauf an den Endverbraucher. In der Praxis wird der Eigentumsvorbehalt üblicherweise formularmäßig vereinbart. Eine einfache Vorbehaltsklausel in den AGB des Verkäufers begegnet auch dann keinen Bedenken im Hinblick auf § 307 BGB, wenn der Käufer Verbraucher ist.5 b) Verlängerter Eigentumsvorbehalt Die Vereinbarung eines verlängerten Eigentumsvorbehalts liegt nahe, wenn der Vorbehaltskäufer selbst Gewerbetreibender ist und die Sache erworben hat, um sie – ggf. nach einer Weiterverarbeitung – an seine Kunden weiterzuveräußern. Der Vorbehaltsverkäufer muss in derartigen Fällen befürchten, dass er sein Eigentum gem. § 950 BGB an den Vorbehaltskäufer oder nach §§ 932 ff. BGB, 366 Abs. 1 HGB an dessen gutgläubige Abnehmer verliert. Es liegt allerdings nicht im Interesse des Vorbehaltsverkäufers, dem Vorbehaltskäufer den Weiterverkauf und die Verarbeitung der Sache zu verbieten. Der Vorbehaltskäufer muss ja mit der Sache wirtschaften können, um sich die Mittel zur Begleichung des Kaufpreises zu beschaffen. Die Lösung suchen die Parteien in der Verlängerung – die Rede ist auch von einer vertikalen Erweiterung6 – des Eigentumsvorbehalts: Der Vorbehaltsverkäufer ermächtigt gem. § 185 Abs. 1 BGB den Vorbehaltskäufer zur Weiterveräußerung der Sache, lässt sich aber die aus dem Weiterverkauf resultierenden Forderungen des Vorbehaltskäufers gegen seine Abnehmer im Voraus abtreten und sichert sich somit den Zugriff auf das Surrogat aus der Weiterveräußerung.7 Zugleich ermächtigt der Vorbehaltsverkäufer den Vorbehaltskäufer nach § 185 Abs. 1 BGB zur Einziehung der im Voraus abgetretenen Forderungen, damit dieser die Abtretung gegenüber seinen Abnehmern nicht offenlegen muss. Der Vorbehaltskäufer darf die Vorbehaltsware nur im ordnungsgemäßen Geschäftsbetrieb weiterveräußern; ein Weiterverkauf unter dem Einstandspreis ist z.B. von der Ermächtigung 1 Der Kaufvertrag wird dagegen in der Regel unbedingt geschlossen; Weidenkaff, in: Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 449 Rn. 8. 2 Zur Bedeutung des § 449 Abs. 1 BGB für die Auslegung des Kaufvertrages siehe Faust, in: Bamberger/Roth, Kommentar zum BGB, 2. Aufl. 2007, § 449 Rn. 10 f. 3 Baur/Stürner, Sachenrecht, 17. Aufl. 1999, § 59 Rn. 1 sprechen daher von Rechtsteilung; vgl auch Wiegand, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, Neubearbeitung 2004, Anh. §§ 929 ff. Rn. 26. 4 Damit dient der Eigentumsvorbehalt mittelbar auch der Sicherung der Kaufpreisforderung; vgl. BGHZ 70, 96 (98 f., 101); Schwab, ZIP 2000, 609 (610 ff.). 5 Vgl Faust (Fn. 2), § 449 Rn. 12. Wiegand (Fn. 3), Anh. §§ 929 ff. Rn. 15 ff.; vgl auch Westermann, Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2008, § 449 Rn. 87; Beckmann, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, Neubearbeitung 2004, § 449 Rn. 99. 7 Verarbeitungsklauseln, die mit Rücksicht auf § 950 BGB vereinbart werden, sind hier nicht erörtert; siehe hierzu Kindl, in: Bamberger/Roth, Kommentar zum BGB, 2. Aufl. 2007, § 950 Rn. 9 f. und 13 f. Nicht angesprochen sind ferner der weitergeleitete und der nachgeschaltete Eigentumsvorbehalt; hierzu Kindl, a.a.O., § 929 Rn. 45-47. 6 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 477 DIDAKTISCHE BEITRÄGE Johann Kindl nicht gedeckt.8 Darüber hinaus gilt die Ermächtigung zur Weiterveräußerung nicht in dem Fall, dass der Vorbehaltskäufer und sein Abnehmer ein Abtretungsverbot i.S.d. § 399 Alt. 2 BGB vereinbaren.9 Gegen die Wirksamkeit von Weiterveräußerungsklauseln und Vorausabtretungsklauseln mit Einziehungsermächtigung in den AGB des Verkäufers bestehen jedenfalls dann keine Bedenken, wenn der Käufer zu dem in § 310 Abs. 1 S. 1 BGB bezeichneten Personenkreis gehört, also ein Unternehmer, eine juristische Person des öffentlichen Rechts oder ein öffentlich-rechtliches Sondervermögen ist.10 c) Der erweiterte Eigentumsvorbehalt Der erweiterte Eigentumsvorbehalt – man spricht auch von einer horizontalen Erweiterung – betrifft den Inhalt der aufschiebenden Bedingung. Beim Kontokorrentvorbehalt besteht diese in der Begleichung sämtlicher (auch künftiger) Forderungen des Lieferanten aus der Geschäftsverbindung mit dem Vorbehaltskäufer (Geschäftsverbindungsklausel). Der Vorbehaltskäufer erwirbt demnach auch an längst bezahlten Waren erst Eigentum, wenn sämtliche Forderungen aus der Geschäftsverbindung mit dem Vorbehaltsverkäufer erfüllt sind;11 in dem Fall, dass er während der laufenden Geschäftsverbindung nie ganz schuldenfrei ist, also erst mit deren Beendigung. Die Verwendung einer Geschäftsverbindungsklausel gegenüber dem in § 310 Abs. 1 S. 1 BGB bezeichneten Personenkreis ist unbedenklich, zumal der Kontokorrentvorbehalt den im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuchen entspricht, auf die gem. § 310 Abs. 1 S. 2 HS. 2 BGB Rücksicht zu nehmen ist.12 Möglich und in der Praxis verbreitet ist auch eine Kombination zwischen verlängertem und erweitertem Eigentumsvorbehalt.13 Um eine Form des erweiterten Eigentumsvorbehalts handelt es sich auch beim Konzernvorbehalt, bei dem der Eigentumsübergang davon abhängig gemacht wird, dass der Käufer auch noch die gegen ihn gerichteten Forderungen von mit dem Vorbehaltsverkäufer verbundenen Unternehmen (vgl. § 15 AktG) erfüllt. Der Konzernvorbehalt ist gem. § 449 Abs. 3 BGB insoweit nichtig, als er den Eigentumsübergang 8 BGH WM 1969, 1452. Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen die Weiterveräußerung im ordnungsgemäßen Geschäftsbetrieb erfolgt, siehe i.Ü. Kindl (Fn. 7), § 929 Rn. 44. 9 BGHZ 27, 306 (309 f.); 106, 1 (4); 109, 297 (300). 10 Vgl. BGHZ 94, 105 (112) = NJW 1985, 1836; BGHZ 98, 303 (307) = NJW 1987, 487, beide zum verlängerten und erweiterten Eigentumsvorbehalt; vgl. ferner BGHZ 125, 83 (87) = NJW 1994, 1154, zum erweiterten Eigentumsvorbehalt. Die mit einer möglichen Übersicherung des Vorbehaltsverkäufers verbundenen Probleme werden hier nicht erörtert; hierzu Kindl (Fn. 7), § 929 Rn. 52 - 54. 11 Vgl. BGH NJW 1978, 632 (633); zur Auslegung einer Geschäftsverbindungsklausel siehe BGH NJW 1968, 885. 12 Siehe oben Fn. 10. 13 Eingehend Serick, Eigentumsvorbehalt und Sicherungsübertragung, Bd. IV, 1976, S. 74 ff.; Bd. V, 1982, S. 261 ff.; Neue Rechtsentwicklungen, 2. Aufl. 1993, S. 105 ff. davon abhängig macht, dass die Forderungen Dritter erfüllt werden; soweit der Vorbehalt dagegen die Forderungen des Lieferanten betrifft, ist er wirksam.14 Der Zweck des mit der Insolvenzrechtsreform am 1.1.1999 in Kraft getretenen § 449 Abs. 3 BGB besteht zum einen darin, den Käufer vor einer unangemessenen Beschränkung seiner wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit zu schützen,15 zum anderen darin, im Falle einer Insolvenz des Käufers eine Schmälerung der Masse durch Absonderungsrechte zu verhindern.16 Von diesem Zweck her liegt eine analoge Anwendung des § 449 Abs. 3 BGB auf den so genannten umgekehrten Konzernvorbehalt nahe, bei dem der Eigentumserwerb durch den Käufer davon abhängt, dass die mit dem Käufer verbundenen Unternehmen ihre Verbindlichkeiten gegenüber dem Lieferanten erfüllen.17 Nach § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB unwirksam ist jedenfalls die formularmäßige Vereinbarung eines umgekehrten Konzernvorbehalts.18 II. Die bedingte Einigung über den Übergang des Eigentums 1. Zustandekommen der Einigung a) Kauf mit Eigentumsvorbehalt Der Eigentumsvorbehalt wird sachenrechtlich dadurch umgesetzt, dass die Einigung über den Eigentumsübergang unter einer aufschiebenden Bedingung vorgenommen wird. Für die Übereignung wird regelmäßig die Form des § 929 S. 1 BGB gewählt, da dort vorgesehen ist, dass dem Erwerber der unmittelbare Besitz an der Sache verschafft wird.19 Wenn die Parteien bereits im Kaufvertrag einen Eigentumsvorbehalt vereinbart haben, dann liegt in der nachfolgenden Lieferung der Sache ein Angebot des Verkäufers auf bedingte Übereignung, das der Käufer durch die Entgegennahme der Sache annimmt. Eine ausdrückliche Erklärung des Verkäufers, nur bedingt übereignen zu wollen, ist entbehrlich. Denn mangels anderweitiger Anhaltspunkte ist davon auszugehen, dass die Parteien die dingliche Einigung so vollziehen möchten, wie sie es im schuldrechtlichen Grundgeschäft vorgesehen haben. Ein Eigentumsvorbehalt kann i.Ü. auch durch konkludentes Verhalten in den Kaufvertrag aufgenommen werden. Auf eine ausdrückliche Vereinbarung wird man z.B. verzichten können, wenn es sich bei den Parteien einer laufenden Geschäftsverbindung eingebürgert hat, die Gewährung von Ratenzahlungen mit der Vereinbarung eines Eigentumsvorbehalts zu verbinden. Zu weit gehend erscheint 14 Zum Umfang der Nichtigkeit siehe Habersack/Schürnbrand, JuS 2002, 833 (837 f.); vgl. auch Faust (Fn. 2), § 449 Rn. 36. 15 Begr. RegE., BT-Drs. 12/3803, S. 77 f. 16 Faust (Fn. 2), § 449 Rn. 37; Habersack/Schürnbrand, JuS 2002, 833 (837 f.). 17 Str. wie hier Faust (Fn. 2), § 449 Rn. 37; Habersack/Schürnbrand, JuS 2002, 833 (838 f.); Leible/Sosnitza, JuS 2001, 556 (558); a.A. Weidenkaff (Fn. 1), § 449 Rn. 22. 18 Faust (Fn. 2), § 449 Rn. 37; Habersack/Schürnbrand, JuS 2002, 833 (838 f.). 19 Wenn der Vorbehaltskäufer bereits im unmittelbaren Besitz der Sache ist, wird die Form des § 929 S. 2 BGB gewählt. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 478 Eigentumsvorbehalt und Anwartschaftsrecht es aber, immer dann die stillschweigende Vereinbarung eines Eigentumsvorbehalts anzunehmen, wenn die Sache übergeben werden soll, bevor sie bezahlt wird.20 b) Kauf ohne Eigentumsvorbehalt Ist der Kaufvertrag ohne Eigentumsvorbehalt abgeschlossen worden, dann muss der Käufer nicht damit rechnen, dass ihm der Verkäufer später – vertragswidrig – nur eine bedingte Übereignung anbietet.21 Eine nach Abschluss des Kaufvertrages erfolgende Lieferung stellt sich aus Sicht des Käufers daher als Angebot auf unbedingte Übereignung dar, wenn der Verkäufer nicht deutlich genug zum Ausdruck bringt, dass er entgegen seiner im Kaufvertrag übernommenen Verpflichtung nur unter Vorbehalt übereignen möchte. Als bedingtes Einigungsangebot muss der Käufer die Übergabe nur dann auffassen, wenn er den Vorbehalt kennt oder zumindest in zumutbarer Weise von ihm Kenntnis nehmen kann.22 Die Rspr. wendet hier zu Recht einen strengen Maßstab an und fordert eine deutlich erkennbare Erklärung des Eigentumsvorbehalts.23 So ist es dem Käufer z.B. nicht zuzumuten, von einem erst auf dem Lieferschein enthaltenen Eigentumsvorbehalt Kenntnis zu nehmen.24 Dagegen ist es deutlich genug, wenn der Verkäufer eines Kfz dem Käufer den Kfz-Brief nicht aushändigt.25 Dem Käufer steht es frei, ein ihm zugegangenes bedingtes Einigungsangebot anzunehmen oder abzulehnen. Im Falle einer Ablehnung erwirbt er kein – auch kein aufschiebend bedingtes – Eigentum.26 Nimmt er die bedingte Einigungsofferte durch widerspruchslose Entgegennahme der Lieferung an, dann erwirbt er aufschiebend bedingtes Eigentum.27 2. Wirkung Haben sich die Parteien über den Eigentumsübergang aufschiebend bedingt geeinigt, dann wird der Käufer mit Eintritt der Bedingung ohne weiteres Zutun des Verkäufers Eigentümer der Sache.28 Dies gilt auch dann, wenn der Verkäufer später in seiner Verfügungsbefugnis beschränkt wird oder sie 20 So aber Faust (Fn. 2), § 449 Rn. 12; offen gelassen von BGH NJW 2006, 3488 Rn. 12. 21 Vgl. BGH NJW 1979, 2199 (2200); NJW 1979, 213 (214). 22 BGH NJW 1979, 2199; NJW 1982, 1749 (1750); NJW 1982, 1751. 23 BGH NJW 1953, 217 (218); BGHZ 64, 395 (397); BGH NJW 2006, 3488 (3489). 24 BGH NJW 1953, 217; NJW 1979, 213; NJW 1979, 2199. 25 BGH NJW 2006, 3488 (3489). 26 BGH NJW 1953, 217; BGHZ 64, 395. 27 Ob die widerspruchslose Entgegennahme der Sache auch als Zustimmung zu einer nachträglichen Änderung des Kaufvertrags aufgefasst werden kann, ist umstritten; ablehnend Faust (Fn. 2), § 449 Rn. 15; vgl. auch Grunewald, in: Erman, BGB, 12. Aufl. 2008, § 449 Rn. 2; a.A. Baur/Stürner (Fn. 3), § 59 Rn. 10, 12; vgl. auch Beckmann (Fn. 6), § 449 Rn. 23. 28 Jauernig, in: Jauernig, Kommentar zum BGB, 12. Aufl. 2007, § 929 Rn. 38. ZIVILRECHT verliert oder wenn er seinen Willen ändert.29 Hat sich der Käufer mit einem Nichteigentümer bedingt geeinigt, dann reicht es, wenn der für einen redlichen Erwerb erforderliche gute Glaube zu dem Zeitpunkt vorliegt, zu dem der Tatbestand des bedingten Rechtserwerbs vollendet ist. Der Käufer muss also bei einer Veräußerung nach §§ 929 S. 1, 932 Abs. 1 S. 1 BGB zum Zeitpunkt der Übergabe, bei einer Veräußerung nach §§ 929 S. 2, 932 Abs. 1 S. 2 BGB zum Zeitpunkt der der Übergabe nachfolgenden Einigung gutgläubig sein.30 Wird er nach dem maßgeblichen Zeitpunkt bösgläubig, so schadet ihm dies nicht:31 Er erwirbt das Eigentum mit der Zahlung der letzten Kaufpreisrate. III. Die Rechtsstellung des Vorbehaltsverkäufers 1. Rechte bei pflichtwidrigem Verhalten des Käufers a) Allgemeines Für den Vorbehaltsverkäufer stellt sich die Frage, welche Rechte er hat, wenn der Vorbehaltskäufer seine Pflichten verletzt, also z.B. die Sache nicht sorgfältig behandelt, sie ohne Erlaubnis an Dritte weitergibt oder ganz einfach seine Raten nicht pünktlich bezahlt. Bis zum Bedingungseintritt ist er zwar noch Eigentümer der Sache, er kann sie aber vom Käufer nicht nach § 985 BGB herausverlangen, solange dieser ihm gegenüber aus dem Kaufvertrag zum Besitz berechtigt ist (§ 986 Abs. 1 S. 1 BGB; siehe unten IV. 3. a)). Nach § 985 BGB herausverlangen kann der Vorbehaltsverkäufer die Sache aber, nachdem er das Besitzrecht des Käufers durch einen Rücktritt vom Kaufvertrag beseitigt hat. Hierzu benötigt der Verkäufer einen Rücktrittsgrund nach den allgemeinen Vorschriften der §§ 323 f. BGB. Das BGB enthält nämlich seit dem Inkrafttreten der Schuldrechtsreform am 1.1.2002 keine Vermutung mehr dahin gehend, dass der Vorbehaltsverkäufer zum Rücktritt berechtigt ist, wenn der Käufer mit der Zahlung in Verzug gerät (so noch § 455 Abs. 1 BGB a.F.).32 Nach § 323 Abs. 1 BGB zum Rücktritt berechtigt ist der Vorbehaltsverkäufer dann, wenn er dem säumigen Käufer erfolglos eine angemessene Frist zur Leistung gesetzt hat. Dass der Käufer seiner fälligen Leistungspflicht schuldhaft nicht nachkommt, also in Verzug gerät, setzt § 323 BGB nicht voraus.33 In den Fällen des § 323 Abs. 2 BGB ist die Fristsetzung entbehrlich; von Bedeutung dürfte hier vor allem der in § 323 Abs. 2 Nr. 1 BGB geregelte Fall sein, dass der Käufer die Erfüllung ernsthaft und endgültig verweigert. Das Fristsetzungserfordernis kann zwar individualvertraglich abbedungen werden. Da der Fristsetzung aber eine wesentliche Warnfunktion für den Vorbehaltskäufer zukommt, verstößt ein 29 BGHZ 30, 374 (377). Jauernig (Fn. 28), § 929 Rn. 38. 31 BGHZ 10, 69 (73); 30, 374 (377). 32 Zur Abschaffung der in § 455 BGB a.F. geregelten Vermutung siehe Begr. RegE., BT-Drs. 14/6040 S. 241; SchmidtRecla, JuS 2002, 759 (763). 33 Freilich gerät der Käufer als Schuldner einer Geldschuld auch dann in Verzug, wenn ihn an seinem finanziellen Unvermögen kein Verschulden trifft; siehe Habersack/Schürnbrand, JuS 2002, 833 (835) m.w.N. 30 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 479 DIDAKTISCHE BEITRÄGE Johann Kindl formularmäßiger Verzicht auf die Fristsetzung auch im unternehmerischen Geschäftsverkehr gegen § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB und ist daher unwirksam.34 Ein Rücktrittsrecht des Vorbehaltsverkäufers kann sich auch aus § 324 BGB ergeben, etwa in dem Fall, dass der Käufer mit der Sache nicht sorgfältig umgeht oder sie pflichtwidrig weiterveräußert. Die Verjährung des Kaufpreisanspruchs hindert den Verkäufer nicht daran, vom Vertrag zurückzutreten und die Vorbehaltsware herauszuverlangen. Dies bestimmt § 216 Abs. 2 S. 2 BGB ausdrücklich, der für den Eigentumsvorbehalt eine Ausnahme zu der in § 218 Abs. 1 S. 1 BGB enthaltenen allgemeinen Regelung macht,35 auf die in § 218 Abs. 1 S. 3 BGB hingewiesen ist. Durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz vom 26.11.2001 wurde die in § 449 Abs. 2 BGB enthaltene Regelung ins BGB eingefügt, der zufolge der Verkäufer die Sache auf Grund des Eigentumsvorbehalts nur herausverlangen kann, wenn er vom Vertrag zurückgetreten ist. Die Kodifizierung des – von der h.M.36 i.Ü. schon vor Inkrafttreten des § 449 Abs. 2 BGB am 1.1.2002 vertretenen – Grundsatzes „Keine Rücknahme ohne Rücktritt“ stellt klar, dass der Vorbehaltsverkäufer bei pflichtwidrigem Verhalten des Käufers nicht berechtigt ist, die Sache unter Berufung auf sein Vorbehaltseigentum vorübergehend zurückzunehmen, um Druck auf den Käufer auszuüben und ihn zur Zahlung zu bewegen. Solange der Vorbehaltsverkäufer vom Vertrag nicht zurücktritt, muss er dem Käufer die Sache also belassen. Dadurch wird verhindert, dass der Käufer den Besitz der Sache verliert, aber weiterhin zur Zahlung verpflichtet bleibt.37 Ist der Vorbehaltsverkäufer zurückgetreten, dann kann er die Sache nach § 985 BGB und nach § 346 Abs. 1 BGB herausverlangen. Ferner ist ihm der Vorbehaltskäufer nach § 346 Abs. 1 BGB zur Herausgabe der gezogenen Nutzungen verpflichtet. Auf der anderen Seite muss der Vorbehaltskäufer keine Raten mehr bezahlen und erhält die geleisteten Anzahlungen nach§ 346 Abs. 1 BGB zurück.38 Der Nutzungsersatzanspruch des Verkäufers kann mit dem Rückzahlungsanspruch des Käufers verrechnet werden. § 449 Abs. 2 BGB ist dispositives Recht, von dem durch Individualvereinbarung abgewichen werden kann. Eine formularmäßige Abbedingung der Bestimmung dürfte allerdings auch im Geschäftsverkehr mit Unternehmern gegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB verstoßen. Da der Gesetzgeber durch die Festschreibung des Grundsatzes „Keine Rücknahme ohne Rücktritt“ einem wesentlichen Schutzbedürfnis des Käufers Rechnung tragen wollte,39 spricht viel dafür, dass er diesen Grundsatz als wesentlichen Grundgedanken einer gesetzlichen Regelung i.S.d. § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB angesehen hat.40 b) Besonderheiten des Verbraucherschutzrechts Besonderheiten sind zu beachten, wenn der Vorbehaltsverkäufer Unternehmer (§ 14 Abs. 1 BGB) und der Vorbehaltskäufer Verbraucher (§ 13 BGB) ist und ersterer dem letzteren einen entgeltlichen Zahlungsaufschub von mehr als drei Monaten gewährt (§ 499 Abs. 1 BGB). Sofern der Barzahlungspreis 200 Euro übersteigt (§§ 499 Abs. 3, 492 Abs. 2 Nr. 1 BGB), gelten die in § 499 Abs. 2 BGB aufgeführten Vorschriften zum Schutz des Vorbehaltskäufers/Verbrauchers. Hinzuweisen ist zum einen auf § 503 Abs. 2 S. 1 BGB, der im Hinblick auf den verzugsbedingten Rücktritt des Vorbehaltsverkäufers/Unternehmers auf § 498 Abs. 1 BGB verweist und dadurch das Rücktrittsrecht an die verschärften Voraussetzungen dieser Bestimmung knüpft.41 Hinzuweisen ist zum anderen und insbesondere auf § 503 Abs. 2 S. 4 BGB, der bestimmt, dass es als Ausübung des Rücktrittsrechts gilt, wenn der Unternehmer die auf Grund des Teilzahlungsgeschäfts gelieferte Sache wieder an sich nimmt. Die Bestimmung soll den Verbraucher davor schützen, dass er Besitz und Nutzung der gelieferten Sache verliert, aber gleichwohl zur Ratenzahlung verpflichtet bleibt.42 Dieser Schutzzweck rechtfertigt eine weite Auslegung der Vorschrift: Für eine Rücknahme der Sache i.S.d. § 502 Abs. 2 S. 4 BGB reicht es aus, wenn der Vorbehaltskäufer auf Veranlassung des Verkäufers Besitz und Nutzungsmöglichkeit verliert.43 Von den soeben dargestellten Vorschriften darf gem. § 506 S. 1 BGB nicht zum Nachteil des Verbrauchers abgewichen werden. Bei Teilzahlungsgeschäften i.S.d. § 499 Abs. 2 BGB stellt sich damit auch die oben angesprochene Frage nach der Abdingbarkeit des § 449 Abs. 2 BGB nicht: Da die Rücknahme der gelieferten Sache zwingend als Rücktritt zu werten ist, ist eine Vereinbarung der Parteien, die dem Verkäufer die Rücknahme unter Aufrechterhaltung des Kaufvertrages gestattet, bereits gem. § 506 S. 1 BGB i.V.m. § 134 BGB unwirksam.44 Bei Verbrauchsgüterkäufen unter Eigentumsvorbehalt, die nicht zugleich Teilzahlungsgeschäfte i.S.d. § 499 Abs. 2 BGB 34 Habersack/Schürnbrand, JuS 2002, 833 (834 f.); vgl. auch BGH 1986, 842 (843 f.) (noch zu § 9 AGBG und zu dem in § 326 BGB a.F. geregelten Fristsetzungserfordernis); a.A. Schulze/Kienle, NJW 2002, 2842 (2843 f.) Im nicht unternehmerischen Geschäftsverkehr folgt die Unwirksamkeit eines formularmäßigen Verzichts auf das Fristsetzungserfordernis aus § 309 Nr. 4 BGB. 35 Begr. RegE., BT-Drs. 14/6040, S. 123. 36 Vgl. BGHZ 54, 214 (219 f.); BGH NJW 1989, 895 (897); NJW-RR 1998, 1065 (1067); NJW 2007, 2485 (2487 Rn. 15). 37 Westermann (Fn. 6), § 449 Rn. 33; zum Zweck des § 449 Abs. 2 BGB siehe ferner BGH NJW-RR 2008, 818 (821 Rn. 41); OLG Frankfurt/Main NJW-RR 2005, 1170 (1173). 38 Zur Rückabwicklung nach Rücktritt vom Vorbehaltskauf siehe BGH NJW 2007, 2485 (2487 Rn. 16 f.). 39 BGH NJW-RR 2008, 818 (821 Rn. 41) m.w.N. So auch Habersack/Schürnbrand, JuS 2002, 833 (836 f.); zumindest im Geschäftsverkehr mit Verbrauchern hat § 449 Abs. 2 BGB eine Leitbildfunktion i.S.d. § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB, BGH NJW-RR 2008, 818 (821 Rn. 42); OLG Frankfurt/Main NJW-RR 2005, 1170 (1173). 41 Kurzer Überblick bei Habersack/Schürnbrand, JuS 2002, 833 (835). 42 BGH NJW 2002, 133 (135) (noch zu § 13 Abs. 3 VerbrKrG). 43 Schürnbrand, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 503 Rn. 45. 44 BGH NJW-RR 2008, 818 (821 Rn. 40). 40 _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 480 Eigentumsvorbehalt und Anwartschaftsrecht sind,45 kann § 449 Abs. 2 BGB dagegen durch Individualvereinbarung abbedungen werden. Die Vorschrift gehört nämlich nicht zu den in § 475 Abs 1 BGB genannten Bestimmungen, von denen die Parteien nicht zum Nachteil des Verbrauchers/Käufers abweichen können.46 Eine formularmäßige Abweichung von § 449 Abs. 2 BGB verstößt – jedenfalls im Geschäftsverkehr mit Verbrauchern – allerdings gegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB und ist unwirksam.47 2. Vollstreckung durch Gläubiger des Vorbehaltskäufers, Insolvenz des Vorbehaltskäufers a) Pfändung der Sache durch Gläubiger des Vorbehaltskäufers Wenn sich die Sache – wie in der Regel – im Gewahrsam des Vorbehaltskäufers befindet, dann kann der Vorbehaltsverkäufer einer Pfändung durch Gläubiger des Vorbehaltskäufers nicht nach § 809 ZPO widersprechen. Die Pfändung erfolgt in diesem Fall nämlich gem. § 808 ZPO beim Schuldner. Nur wenn der Vorbehaltverkäufer die Sache in Gewahrsam hat, verhindert seine fehlende Herausgabebereitschaft die Pfändung durch Gläubiger des Käufers. Der Vorbehaltsverkäufer hat aber ein Widerspruchsrecht nach § 771 ZPO,48 das der Vollstreckungsgläubiger dadurch beseitigen kann, dass er den Restkaufpreis begleicht (vgl. § 267 Abs. 1 BGB) und so seinem Schuldner, dem Vorbehaltskäufer, zum Erwerb des Eigentums verhilft.49 Nach der Verwertung der Sache kann der Verkäufer nicht mehr Drittwiderspruchsklage nach § 771 ZPO erheben; er hat aber einen Bereicherungsanspruch gegen den Vollstreckungsgläubiger.50 b) Insolvenz des Vorbehaltskäufers Beim einfachen Eigentumsvorbehalt kann der Vorbehaltsverkäufer in der Insolvenz des Vorbehaltskäufers die Sache nach § 47 InsO aussondern, nachdem er wirksam vom Kaufvertrag zurückgetreten ist und dadurch das Besitzrecht des Käufers zerstört hat. Ansprüche auf Schadensersatz statt der Leistung und auf Nutzungsersatz kann der Verkäufer als einfache Insolvenzforderung51 geltend machen. Der bereits gezahlte Kaufpreis ist an die Masse zurückzugewähren. Im Hinblick auf das Recht des Verkäufers zum Rücktritt ist zu unterscheiden: Hat der Insolvenzverwalter nach § 103 Abs. 1 InsO Erfüllung des Kaufvertrages gewählt, dann sind die noch ausstehenden Kaufpreisraten als Masseschulden (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 InsO) vorweg zu berichtigen; der Verkäufer kann grds. erst zurücktreten, nachdem eine dem Verwalter gesetzte angemessene Zahlungsfrist fruchtlos verstri- ZIVILRECHT chen ist (vgl. § 323 Abs. 1 BGB).52 Dagegen ist der Verkäufer unmittelbar zum Rücktritt berechtigt, wenn der Insolvenzverwalter die Erfüllung nach § 103 Abs. 2 InsO ablehnt oder sein Wahlrecht nicht fristgemäß ausübt (vgl. § 107 Abs. 2 S. 1 InsO).53 Beim verlängerten Eigentumsvorbehalt hat der Verkäufer in der Insolvenz des Käufers an den Forderungen, die aus der Weiterveräußerung der Sache resultieren und an deren Stelle getreten sind (siehe oben I. 2. b)), nur ein Absonderungsrecht nach § 51 Nr. 2 InsO.54 Beim erweiterten Eigentumsvorbehalt kann der Verkäufer die Ware, die schon voll bezahlt ist und daher nur noch der Sicherung anderer Forderungen des Verkäufers dient, ebenfalls nur absondern.55 3. Verlust des Vorbehaltseigentums a) Bedingungseintritt Der Käufer erwirbt nach § 158 Abs. 1 BGB Eigentum, wenn mit der Bezahlung des vollständigen Kaufpreises die Bedingung eintritt. Das Vorbehaltseigentum des Verkäufers geht unter. Auch Gläubiger des Käufers können ein Interesse daran haben, die Restkaufpreisschuld zu begleichen (siehe oben I. 2. a) und unten VI. 1). b) Veräußerung der Sache an einen Dritten aa) Weiterveräußerung im Rahmen des verlängerten Eigentumsvorbehalts Ferner verliert der Verkäufer sein Vorbehaltseigentum, wenn der nach § 185 Abs. 1 BGB zur Veräußerung der Sache ermächtigte Verkäufer die Sache im eigenen Namen weiterveräußert. Der Verkäufer erwirbt aber die aus dem Weiterkauf resultierenden Forderung gegen den dritten Erwerber (siehe oben I. 2. b)). bb) Gutgläubiger Erwerb Glaubt der dritte Erwerber, dass der veräußernde Vorbehaltskäufer Eigentümer der Sache ist, dann kommt ein gutgläubiger Erwerb nach §§ 932 ff. BGB in Betracht. Wenn der Vorbehaltskäufer Kaufmann ist, dann ist nach Maßgabe des § 366 Abs. 1 HGB auch der gute Glaube an die Befugnis des Vorbehaltskäufers, über die Sache zu verfügen, geschützt.56 In Anbetracht der weiten Verbreitung des Eigentumsvorbehalts stellt die Rspr. hohe Anforderungen an den guten Glauben. Vor allem, wenn es um den Erwerb fabrikneuer Güter geht, können den Erwerber Erkundigungspflichten treffen, deren Nichtbeachtung den Vorwurf grober Fahrlässigkeit begründet und einen gutgläubiger Erwerb verhindert (vgl. § 932 Abs. 2 BGB).57 Ggf. muss der Erwerber auch mit einem verlänger- 45 Zu denken ist etwa an den Fall, dass der Barzahlungspreis 200 Euro nicht übersteigt (vgl. §§ 499 Abs. 3, 491 Abs. 2 Nr. 1 BGB). 46 BGH NJW-RR 2008, 818 (821 Rn. 40). 47 Nachweise in Fn. 40. 48 BGHZ 54, 214 (218); Westermann (Fn. 6), § 449 Rn. 75. 49 Beckmann (Fn. 6), § 449 Rn. 86. 50 BGHZ 32, 240 (244). 51 Zu Schadensersatzansprüchen nach Ablehnung der Erfüllung durch den Verwalter siehe § 103 Abs. 2 S. 1 InsO. 52 BGH NJW-RR 2008, 818 (821 Rn. 43); ausführlich Huber, NZI 2004, 57 (62). 53 Nachweise in Fn. 52. 54 Vgl. BGH JZ 1971, 505; Leible/Sosnitza, JuS 2001, 449 (456). 55 BGH NJW 1971, 799; BGHZ 98, 160 (170). 56 Siehe z.B. BGH NJW 1991, 2285 (2286). 57 Vgl. RGZ 143, 14 (18); BGHZ 10, 14 (17); BGH NJW 1989, 895 (897); w.N. bei Beckmann (Fn. 6), § 449 Rn. 38; _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 481 DIDAKTISCHE BEITRÄGE Johann Kindl ten Eigentumsvorbehalt rechnen, vor allem dann, wenn ein solcher in der betreffenden Branche üblich ist. Die Annahme des Erwerbers, der veräußernde Vorbehaltskäufer sei verfügungsbefugt (§ 366 Abs. 1 HGB), beruht in einem solchen Fall auf grober Fahrlässigkeit, wenn der Erwerber weiß, dass die Vorausabtretung der gegen ihn gerichteten Forderung an den Lieferanten des Vorbehaltskäufers ins Leere läuft. Grobe Fahrlässigkeit muss sich der Erwerber z.B. dann vorwerfen lassen, wenn er seine Leistung an seinen abtretungspflichtigen Vertragspartner schon im Voraus erbracht hat58 oder wenn er mit diesem ein Abtretungsverbot gemäß § 399 Alt. 2 BGB vereinbart.59 Wenn das mit dem Vorbehaltskäufer getätigte Geschäft allerdings in den Anwendungsbereich des § 354a HGB fällt und ein Abtretungsverbot die Forderung aus der Weiterveräußerung daher nicht ergreift, zerstört die Vereinbarung eines Abtretungsverbotes den guten Glauben des Erwerbers nicht.60 Scheitert ein gutgläubiger Erwerb der Sache (z.B. weil der Erwerber nicht gutgläubig ist oder weil ihm bei einer Sicherungsübereignung nach § 930 BGB die Sache nicht übergeben worden ist (§ 933 BGB)), dann wird immerhin die Anwartschaft (hierzu sogleich IV. 1) vom – insoweit ja berechtigten – Vorbehaltskäufer erworben.61 c) Sonstiges Des Weiteren erlischt das Vorbehaltseigentum des Verkäufers, wenn der Käufer durch Verbindung, Vermischung oder Verarbeitung, also nach §§ 946 ff. BGB, das Eigentum an der Sache erwirbt. Schließlich hält die h.M.62 in Rspr. und Literatur auch einen einseitigen Verzicht des Verkäufers auf sein Vorbehaltseigentum für möglich, der dazu führt, dass der Käufer das Eigentum erwirbt. IV. Die Rechtsstellung des Vorbehaltskäufers 1. Anwartschaftsrecht Der Vorbehaltskäufer hat es in der Hand, durch die vollständige Bezahlung des Kaufpreises den Bedingungseintritt herbeizuführen. Zwischenverfügungen des Verkäufers muss er nicht fürchten (siehe sogleich 2.). Allerdings verliert er die Aussicht auf den Erwerb des Volleigentums, wenn die Bedingung nicht mehr eintreten kann, etwa weil der Verkäufer vom Kaufvertrag zurückgetreten ist oder der Vertrag wirksam angefochten worden ist. Diese „schuldrechtliche Schwäche“ weniger streng als die Rspr. Baur/Stürner (Fn. 3), § 59 Rn. 13. 58 BGH NJW-RR 2004, 555f. 59 Vgl. BGH NJW 1999, 425 (426) (hierzu Masloff, JA 2000, 503); BGHZ 77, 274 (278). 60 Schmidt, NJW 1999, 400 f.; a.A. Faust (Fn. 2), § 449 Rn. 26. 61 Vgl. BGHZ 20, 88 (101); 35, 85 (91); 50, 45 (48). 62 Vgl. BGH NJW 1958, 1231 f.; BGHZ 127, 129 (133); aus der Literatur Westermann (Fn. 6), § 449 Rn. 22; Bassenge, in: Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 929 Rn. 32; Beckmann (Fn. 6), § 449 Rn. 43; Baur/Stürner (Fn. 3), § 59 Rn. 14; a.A. Grunewald (Fn. 27), § 449 Rn. 41; Jauernig (Fn. 28), § 929 Rn. 63; Pohlmann, NJW 1999, 190 (191 f.). seiner Rechtsposition wirkt sich aber nur dann nachteilig für ihn aus, wenn er dem Verkäufer durch eigene Vertragsuntreue einen Rücktrittsgrund liefert oder der Kaufvertrag anfechtbar ist. Da der Verkäufer ansonsten die Aussicht des Käufers auf Erwerb des Volleigentums durch einseitige Erklärung nicht mehr zerstören kann, wird die Rechtsposition des Käufers als Anwartschaftsrecht bezeichnet. Allgemein spricht man von einem Anwartschaftsrecht, wenn von dem mehraktigen Entstehungstatbestand eines Rechts schon so viele Erfordernisse erfüllt sind, dass der Veräußerer die Rechtsposition des Erwerbers nicht mehr durch einseitige Erklärung zerstören kann.63 Die wohl h.M. in der Literatur qualifiziert das Anwartschaftsrecht des Vorbehaltskäufers als dingliches Recht.64 In der Rspr. ist das Anwartschaftsrecht des Vorbehaltskäufers als Vorstufe zum Eigentum bezeichnet worden, das im Vergleich zum Eigentum kein aliud, sondern ein wesensgleiches minus sei.65 Freilich lassen sich aus der Qualifizierung der Rechtsstellung des Käufers als Anwartschaftsrecht und dessen Umschreibung als Vorstufe zum Eigentum keine konkreten Rechtsfolgen ableiten.66 2. Schutz vor Zwischenverfügungen des Vorbehaltsverkäufers Der Vorbehaltsverkäufer, der bis zum Eintritt der Bedingung Eigentümer bleibt, ist nicht gehindert, während der Schwebezeit anderweitig über die Sache zu verfügen. Derartige Zwischenverfügungen erfolgen regelmäßig nach § 931 BGB durch Einigung und Abtretung des Herausgabeanspruchs gegen den Vorbehaltskäufer, in dessen Besitz sich die Sache befindet. Vor einer Beeinträchtigung seiner Rechtsposition ist der Vorbehaltskäufer aber durch §§ 160-162 BGB geschützt. Hervorhebung verdient insofern § 161 Abs. 1 BGB, demzufolge Verfügungen, die getroffen werden, nachdem über den Gegenstand unter einer aufschiebenden Bedingung verfügt worden ist, im Falle des Bedingungseintritts insoweit unwirksam sind, als sie die von der Bedingung abhängige Wirkung vereiteln oder beeinträchtigen würden. Kurz: Mit der Zahlung des Restkaufpreises wird eine zwischenzeitlich erfolgte Veräußerung der Sache unwirksam und der Vorbehaltskäufer erwirbt das Volleigentum.67 Wenn der dritte Erwerber, der ja 63 Vgl. BGHZ 45, 186 (189 f.); 49, 197 (201); 83, 395 (399); vgl. auch Lux, Jura 2004, 145 (146); Medicus, Bürgerliches Recht, 21. Aufl. 2007, Rn. 456, hält solche Definitionen schon vom Ansatz her bedenklich. 64 Zur Rechtsnatur des Anwartschaftsrechts siehe etwa Westermann (Fn. 6), § 449 Rn. 40 ff.; die Rechtsfigur des Anwartschaftsrechts ablehnend Mülbert, AcP 202 (2002), 912 (936 ff.); nach Harke, JuS 2006, 385, ist das Anwartschaftsrecht nicht dem Eigentum ähnlich, sondern dem Pfandrecht. 65 BGHZ 28, 16 (21); BGH NJW 1984, 1184 (1185); weitere Formulierungen der Rspr. finden sich bei Beckmann (Fn. 6), § 449 Rn. 61; siehe auch Baur/Stürner (Fn. 3), § 59 Rn. 33; Schmidt-Recla, JuS 2002, 759 (760). 66 Insoweit besteht Einigkeit; siehe etwa Grunewald (Fn. 27), § 449 Rn. 27; Jauernig (Fn. 28), § 929 Rn. 43; Bassenge (Fn. 62), § 929 Rn. 37; Beckmann (Fn. 6), § 449 Rn. 62. 67 Die in § 161 angeordnete Unwirksamkeit ist eine absolute, siehe etwa Armbrüster, in: Erman, BGB, 12. Aufl. 2008, § 161 _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 482 Eigentumsvorbehalt und Anwartschaftsrecht bis zum Bedingungseintritt Eigentümer ist, die Sache vom Vorbehaltskäufer herausverlangt, so kann dieser jenem nach § 986 Abs. 2 BGB sein Recht zum Besitz gegenüber dem Vorbehaltskäufer entgegenhalten. Allerdings finden nach § 161 Abs. 3 BGB die Vorschriften zugunsten derjenigen, die Rechte von einem Nichtberechtigten herleiten, entsprechende Anwendung. Es fragt sich daher, ob der Dritte kraft guten Glaubens endgültiges, nicht von § 161 Abs. 1 BGB bedrohtes Eigentum erwirbt, wenn er im Hinblick auf die bedingte Veräußerung redlich ist. In Betracht kommt ein gutgläubiger Erwerb nach § 934 Alt. 1 BGB, der mittelbaren Besitz des Veräußerers voraussetzt. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt: Er ist mittelbarer (Eigen)Besitzer, dem gegenüber der Vorbehaltskäufer als unmittelbarer Fremdbesitzer auf Zeit – nämlich bis zum Eintritt oder bis zum Ausfall der aufschiebenden Bedingung – zum Besitz berechtigt ist (siehe § 868 BGB).68 Gleichwohl nützt dem dritter Erwerber sein guter Glaube nichts, da § 936 Abs. 3 BGB entsprechend angewendet wird: Das Anwartschaftsrecht des besitzenden Vorbehaltskäufers erlischt auch gegenüber dem gutgläubigen Erwerber nicht.69 3. Recht zum Besitz a) Obligatorisches Recht zum Besitz Der Vorbehaltskäufer ist aus der Vorbehaltsabrede im Kaufvertrag gegenüber dem Vorbehaltsverkäufer zum Besitz berechtigt. Er kann daher die Herausgabe der Sache nach § 986 Abs. 1 S. 1 BGB verweigern, wenn sie vom Verkäufer nach § 985 BGB herausverlangt wird. Gegenüber dritten Erwerbern ist er durch § 986 Abs. 2 BGB geschützt (siehe soeben 2.). b) Dingliches Recht zum Besitz Die umstrittene Frage, ob das Anwartschaftsrecht ein gegenüber jedermann wirkendes dingliches Recht zum Besitz gewährt, ist von Bedeutung in dem Fall, dass ein Nichtberechtigter eine Sache bedingt übereignet hat. Da der Erwerber in diesem Fall mit der Zahlung des Restkaufpreises das Volleigentum auch dann erwirbt, wenn er während der Schwebezeit bösgläubig wird (siehe oben II. 2.), kann man hier von einem gutgläubigen Erwerb des Anwartschaftsrechts sprechen.70 Wäre der gutgläubige Erwerber aus dem Anwartschaftsrecht nicht gegenüber jedermann zum Besitz berechtigt, dann müsste er die Sache zunächst an den Eigentümer herausgeben, dem er sein nur obligatorisches Besitzrecht aus dem KaufRn. 5; Jauernig (Fn. 28), §§ 160, 161 Rn. 3; anders offenbar Westermann, in: Westermann (Begr.), Sachenrecht, 6. Aufl. 1990, § 39 III 2a. 68 Vgl. BGHZ 10, 69 (71); Lux, Jura 2004, 145 (150). 69 Ganz h.M.; vgl. Beckmann (Fn. 6), § 449 Rn. 64; Baur/Stürner (Fn. 3), § 59 Rn. 46; Brox, JuS 1984, 657 (659); im Ergebnis auch Döring, NJW 1996, 1443 (1445 ff.); eingehend Zeranski, AcP 203 (2003), 693 (695 ff.); unentschieden Lux, Jura 2004, 145 (150). 70 Ein gutgläubiger Zweiterwerb ist nach der hier vertretenen Auffassung nicht möglich, siehe unten V. 2. b). ZIVILRECHT vertrag mit dem nichtberechtigten Veräußerer nicht entgegensetzen könnte. Er bekäme sie erst zurück, wenn er mit Zahlung der letzten Rate das Eigentum erworben hätte. Während der Schwebezeit müsste er auf die Nutzung der Sache verzichten und wäre zudem der Gefahr ausgesetzt, dass der Eigentümer mit der Sache nicht sorgfältig umgeht oder anderweitig wirksam (vgl. §§ 161 Abs. 3, 932) über sie verfügt. Da dies nicht hinnehmbar erscheint, ist die Auffassung vorzugswürdig, die dem Anwärter ein dingliches Besitzrecht einräumt.71 4. Abwehr- und Schadensersatzansprüche Der Anwärter hat Besitzschutzansprüche aus §§ 858 ff., 1007 BGB72 und kann neben dem Eigentümer die Ansprüche aus §§ 985, 1004 BGB geltend machen.73 Darüber hinaus ist anerkannt, dass die Anwartschaft ein sonstiges Recht i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB ist.74 Einigkeit besteht darüber, dass Ansprüche auf Ersatz des Nutzungsschadens, die z.B. aus einer Besitzentziehung oder Beschädigung der Sache resultieren können, allein dem Vorbehaltskäufer gebühren.75 Unsicherheit herrscht dagegen im Hinblick auf die rechtliche Behandlung des Substanzschadens. Insoweit gilt es zu berücksichtigen, dass der Käufer bereits einen – von der Höhe der geleisteten Anzahlung abhängigen – wirtschaftlichen Wert geschaffen hat und dass er wegen § 446 S. 1 BGB zur Bezahlung des Restkaufpreises verpflichtet bleibt. Auf der anderen Seite muss auf das Sicherungsinteresse des Verkäufers Rücksicht genommen werden. Dieser Interessenlage wird am ehesten die Auffassung76 gerecht, die für eine entsprechende Anwendung des § 432 BGB plädiert.77 Demnach können Käufer und Verkäufer nur Leistung an beide gemeinsam fordern. Leistet der Schädiger in Unkenntnis des Vorbehaltseigentums an den Anwärter, der die Sache in seinem Besitz hatte, dann wird er nach Maßgabe des § 851 BGB von seiner Verpflichtung frei. 71 OLG Karlsruhe NJW 1966, 885; Jauernig (Fn. 28), § 929 Rn. 60; Baur/Stürner (Fn. 3), § 59 Rn. 47; Westermann (Fn. 67), § 39 IV 1 c; Kindl, JA 1996, 23 (28); im Ergebnis auch Harke, JuS 2006, 385 (389); a.A. Lux, Jura 2004, 145 (151); Schmidt-Recla, JuS 2002, 759 (761); Zeranski, AcP 203 (2003), 693 (706 ff.); ferner BGHZ 10, 69 (72, 74 f.), wo dem Käufer mit der Einrede der Arglist geholfen wird. 72 Lux, Jura 2004, 145 (151). 73 Müller-Laube, JuS 1993, 529; skeptisch Lux, Jura 2004, 145 (151 f.). 74 RGZ 170, 1 (6 f.); BGHZ 50, 20 (25 f.); OLG Koblenz WM 1989, 535. 75 Siehe etwa Westermann (Fn. 6), § 449 Rn. 51. 76 Eine ausführliche Darstellung der unterschiedlichen Meinungen findet sich bei Müller-Laube, JuS 1993, 529 (531 ff.); einen Überblick gibt Lux, Jura 2004, 145 (152). 77 Für eine entsprechende Anwendung des § 432 BGB Grunewald (Fn. 27), § 449 Rn. 37; Bassenge (Fn. 62), § 929 Rn. 43; Baur/Stürner (Fn. 3), § 59 Rn. 45; Brox, JuS 1984, 657 (660); Eichenhofer, AcP 185 (1985), 162 (190); Schreiber, Jura 2001, 623 (627). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 483 DIDAKTISCHE BEITRÄGE Johann Kindl 5. Vollstreckung durch Gläubiger der Vorbehaltsverkäufers, Insolvenz des Vorbehaltsverkäufers a) Widerspruchsrecht des Anwärters nach § 771 ZPO Gegen eine Pfändung der Sache durch Gläubiger des Vorbehaltsverkäufers kann sich der Vorbehaltskäufer im Wege der Drittwiderspruchsklage nach § 771 ZPO zur Wehr setzen.78 Zu einer derartigen Pfändung wird es in der Praxis allerdings selten kommen: Wenn der Vorbehaltskäufer die Sache in seinem Gewahrsam hat – und dies ist regelmäßig der Fall –, dann können Gläubiger des Verkäufers sie gem. § 809 ZPO nur unter der Voraussetzung pfänden, dass der Vorbehaltskäufer zur Herausgabe bereit ist. Von größerer praktischer Bedeutung ist das Widerspruchsrecht des Anwartschaftsberechtigten nach § 771 ZPO in dem Fall, dass Gläubiger des Vorbehaltskäufers die Sache pfänden, nachdem dieser das Anwartschaftsrecht bereits auf einen Dritten übertragen hat.79 Dem Anwärter, der die Widerspruchsklage nicht rechtzeitig vor der Verwertung der Sache erhoben hat, stehen Schadensersatz- und Bereicherungsansprüche gegen den Vollstreckungsgläubiger zu.80 b) Insolvenz des Vorbehaltsverkäufers In der Insolvenz des Vorbehaltsverkäufers hat der Insolvenzverwalter kein Wahlrecht nach § 103 InsO.81 Dies ergibt sich aus § 107 Abs. 1 S. 1 InsO, dem zufolge der Käufer Erfüllung des Kaufvertrages verlangen kann, wenn der Insolvenzschuldner vor Eröffnung des Verfahrens eine bewegliche Sache unter Eigentumsvorbehalt verkauft und dem Käufer den Besitz an der Sache übertragen hat. Der Käufer erwirbt durch Zahlung des Restkaufpreises Eigentum und kann aussondern (§ 47 InsO). Das Anwartschaftsrecht ist also insolvenzfest. 6. Erlöschen des Anwartschaftsrechts Das Anwartschaftsrecht erstarkt zum Volleigentum, wenn mit Bezahlung des Restkaufpreises die aufschiebende Bedingung eintritt oder wenn der Verkäufer auf sein Vorbehaltseigentum verzichtet (hierzu oben III. 3 c)). Ferner erlischt das Anwartschaftsrecht, wenn die aufschiebende Bedingung ausfällt, etwa weil nach Rücktritt vom Kaufvertrag die Zahlungspflicht des Käufers entfallen ist. Des Weiteren können Vorbehaltsverkäufer und Vorbehaltskäufer das Anwartschaftsrecht einvernehmlich aufheben.82 Die Aufhebung eines schon übertragenen Anwartschaftsrechts durch Vertrag zwischen Verkäufer und Käufer ist nur wirksam, wenn der dritte Erwerber der Verfügung des Käufers gem. § 185 Abs. 1 BGB 78 BGHZ 55, 20 (27); Jauernig (Fn. 28), § 929 Rn. 53; Beckmann (Fn. 6), § 449 Rn. 86. 79 Vgl. Baur/Stürner (Fn. 3), § 59 Rn. 48. 80 Vgl. BGHZ 32, 240 ff.; Westermann (Fn. 6), § 449 Rn. 46. 81 Vgl. Jauernig (Fn. 28), § 929 Rn. 56; Bassenge (Fn. 62), § 929 Rn. 59; Prütting, Sachenrecht, 33. Aufl. 2008, Rn. 397; zur Kritik an der wenig klaren Regelung des § 107 Abs. 1 InsO Marotzke, JZ 1995, 803 (806 ff.). 82 BGHZ 92, 280 (288 f.); BGH NJW-RR 1998, 1065 (1067). zustimmt.83 Ist das Anwartschaftsrecht in den Haftungsverband eines Grundpfandrechts gefallen (siehe unten VI. 2.), kann es von den Parteien nicht ohne Zustimmung des Pfandgläubigers aufgehoben werden.84 Schließlich erlischt das Pfandrecht, wenn die Sache von einem Dritten rechtsgeschäftlich erworben wird, sowie dann, wenn einer der gesetzlichen Erwerbstatbestände der §§ 946 ff. BGB vorliegt. V. Die Übertragung des Anwartschaftsrechts 1. Erwerb der Anwartschaft vom Berechtigten Das Anwartschaftsrecht, dessen Übertragbarkeit heute allgemein anerkannt ist,85 wird wie das Eigentum übertragen, also nach §§ 929 ff. BGB durch Einigung und Übergabe (surrogat), nicht nach §§ 413, 398 BGB durch Abtretung.86 Veräußert der Vorbehaltskäufer seine Anwartschaft, dann verfügt er als Berechtigter. Der Verkäufer muss der Übertragung daher nicht nach § 185 Abs. 1 BGB zustimmen, auch wenn der Erwerber bei Bedingungseintritt unmittelbar von ihm Eigentum erwerben soll (siehe auch unten 3.).87 Die Parteien können zwar vereinbaren, dass der Vorbehaltskäufer nur mit Zustimmung des Verkäufers über das Anwartschaftsrecht verfügen darf; eine derartige Vereinbarung hat aber gem. § 137 BGB nur schuldrechtliche Wirkung.88 Da das Anwartschaftsrecht übertragbar ist, ist es auch verpfändbar. Die Verpfändung erfolgt nach den Vorschriften über die Verpfändung von beweglichen Sachen, also nach §§ 1204 ff. BGB.89 Erwirbt der Käufer mit Eintritt der aufschiebenden Bedingung das Eigentum an der Sache, dann setzt sich das Pfandrecht an der Anwartschaft analog § 1287 BGB als Pfandrecht an der Sache fort. 2. Gutgläubiger Erwerb vom Nichtberechtigten a) Bedingte Einigung mit Nichtberechtigtem Dass durch eine bedingte Einigung mit einem Nichtberechtigten ein Anwartschaftsrecht erworben werden kann, folgt ganz einfach daraus, dass ein gutgläubiger Erwerb nach §§ 932 ff. BGB nicht daran scheitert, dass der Erwerber in dem Zeit83 Flume, AcP 161 (1962), 385 (393 f.); Grunewald (Fn. 27), § 449 Rn. 29; a.A. BGHZ 35, 85 (94); zurückhaltend auch BGHZ 75, 221 (226), wonach der Erwerber immerhin eine vertragliche Erweiterung des Eigentumsvorbehalts nicht hinnehmen muss. 84 Anders die Rspr., BGHZ 92, 280 (290 f.); Kritik an dieser Rspr. üben Kollhosser, JZ 1985, 370; Tiedtke, NJW 1985, 1305; Ludwig, NJW 1989, 1458; eingehend Mand, Jura 2004, 221 (223 ff.). 85 Siehe bereits RGZ 101, 185 (187) (zur Anwartschaft des Nacherben). 86 BGH NJW 1984, 1184 (1185). 87 Grundlegend BGHZ 20, 88 (98 ff.), unter Abweichung von RGZ 140, 223; ebenso BGHZ 28, 16 (22); 30, 374 (377); 35, 85 (87); 50, 45 (49). 88 Vgl. BGHZ 56, 123 (126); BGH NJW 1970, 699; Jauernig (Fn. 28), § 929 Rn. 47. 89 BGHZ 35, 85 (93); zum Schutz des Pfandrechts am Anwartschaftsrecht Frank, NJW 1974, 2211. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 484 Eigentumsvorbehalt und Anwartschaftsrecht raum zwischen bedingter Übereignung und Bedingungseintritt bösgläubig wird (siehe oben II. 2.). b) Gutgläubiger Zweiterwerb Heftig umstritten ist die Frage nach der Möglichkeit eines gutgläubigen Zweiterwerbs des Anwartschaftsrechts, der in Betracht kommt, wenn der nicht berechtigte Veräußerer behauptet, er sei zwar nicht Eigentümer der in seinem Besitz befindlichen Sache, habe aber ein Anwartschaftsrecht an ihr. Die wohl h.M. hält einen gutgläubigen Erwerb grds. für möglich, etwa in dem Fall, dass der Anwärter die Sache einem Dritten überlassen hat, der dann die angeblich ihm zustehende Anwartschaft weiterveräußert.90 Teilweise wird ein redlicher Erwerb bereits für möglich gehalten, wenn nur die zugrunde liegende Kaufpreisforderung existiert, ohne dass jemals ein Anwartschaftsrecht entstanden ist. Denkbar ist dies etwa in dem Fall, dass der Kaufvertrag zwar wirksam ist, die bedingte dingliche Einigung aber an einem Mangel leidet.91 Zutreffend erscheint es dem gegenüber, die Möglichkeit eines gutgläubigen Zweiterwerbs der Anwartschaft rundweg abzulehnen:92 Wer der Behauptung des Veräußerers, er sei Inhaber eines Anwartschaftsrechts, Glauben schenkt, vertraut auf dessen bloßes Gerede und nicht auf einen vom Gesetz anerkannten Rechtsscheinträger. Es fehlt also an der Grundlage für einen redlichen Erwerb. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der angebliche Anwärter die Sache in seinem Besitz hat. Vom Besitz strahlt nämlich nur ein Rechtsschein auf das Eigentum aus, nicht auf die Anwartschaft. Einig ist man sich immerhin darüber, dass ein Gutglaubensschutz im Hinblick auf die schuldrechtliche Grundlage der Anwartschaft nicht in Betracht kommt.93 Ein gutgläubiger Erwerb ist daher jedenfalls ausgeschlossen, wenn die aufschiebende Bedingung infolge anfänglichen Fehlens oder späteren Wegfalls der Kaufpreisforderung gar nicht eintreten kann.94 Nicht geschützt wird darüber hinaus der gute Glaube in den Wert des Anwartschaftsrechts,95 der mit jeder Rate, die zur Tilgung der Kaufpreisforderung gezahlt wird, ansteigt. ZIVILRECHT 3. Die Rechtsstellung des Erwerbers Der Erwerber der Anwartschaft rückt in vollem Umfang in die Rechtsstellung des Veräußerers ein. Mit Eintritt der aufschiebenden Bedingung erwirbt er unmittelbar vom Vorbehaltsverkäufer das Eigentum.96 Es findet also ein Direkterwerb vom Vorbehaltseigentümer statt. Der veräußernde Vorbehaltskäufer wird nicht einmal für eine juristische Sekunde Durchgangseigentümer. Die Anwartschaft wird nicht unabhängig von ihrer schuldrechtlichen Grundlage erworben,97 so dass der Erwerber das Risiko trägt, seine Anwartschaft wegen Ausfalls der Bedingung zu verlieren. Zu einem Bedingungsausfall kommt es z.B., wenn der Vorbehaltsverkäufer vom Kaufvertrag zurücktritt oder ihn anficht. Einen Rücktritt des Verkäufers wegen Zahlungsverzugs kann der Erwerber der Anwartschaft aber abwenden, indem er die Restkaufpreisforderung begleicht.98 Bis zu ihrem Eintritt oder Ausfall können die Parteien des Kaufvertrags die aufschiebende Bedingung zwar ändern.99 Nach der Übertragung des Anwartschaftsrechts auf einen Dritten können sie aber nicht mehr die Begleichung anderer als der ursprünglich gesicherten Forderungen zur Bedingung für den Erwerb des Vollrechts machen.100 Vereinbarungen der Parteien über die Aufhebung der Anwartschaft ohne Zustimmung des Erwerbers sind unwirksam (siehe oben IV. 6.). VI. Die Verwertung des Anwartschaftsrechts 1. Zugriff durch Gläubiger des Vorbehaltskäufers Wenn – wie dies regelmäßig der Fall ist – der Vorbehaltskäufer die Sache in seinem Gewahrsam hat, dann stehen einer Pfändung der Sache durch seine Gläubiger zwar keine vollstreckungsrechtlichen Hindernisse im Wege (siehe oben III. 2. a)). Da der Käufer aber erst Anwärter und noch nicht Eigentümer ist, wird die Sache durch die Pfändung nur verstrickt, ohne dass ein Pfändungspfandrecht an ihr entsteht.101 Ein Pfändungspfandrecht entsteht nach § 185 Abs. 2 BGB erst zu dem Zeitpunkt, zu dem der Vorbehaltskäufer das Eigentum erwirbt. Während der Schwebezeit ist der Vollstreckungsgläubiger unterschiedlichen Gefahren ausgesetzt: Er 96 BGHZ 56, 123 (126 f.). Westermann (Fn. 6), § 449 Rn. 53 f.; siehe auch BGHZ 75, 221, 225 f. 98 BGHZ 35, 85 (94). 99 BGHZ 42, 53 (58); 75, 221. 100 BGHZ 75, 221 (226 f.); zur Rechtsstellung des Vorbehaltskäufers nach Übertragung des Anwartschaftsrechts Gernhuber, in: Grunsky (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 1981, S. 31 ff. 101 So jedenfalls die herrschende gemischt privat-öffentlichrechtliche Theorie; vgl. Gruber, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 3. Aufl. 2007, § 804 Rn. 11; Rosenberg/ Gaul/Schilken, Zwangsvollstreckungsrecht, 11. Aufl. 1997, § 50 III 3 a) (S. 777 ff.); zu dieser Auffassung tendierend auch BGH NJW 1992, 2570 (2573 f.). Demgegenüber entsteht nach der zutreffenden öffentlichrechtlichen Theorie mit jeder wirksamen Pfändung ein Pfändungspfandrecht, statt aller Münzberg, in: Stein/Jonas, Kommentar zur ZPO, 22. Aufl. 2002, § 804 Rn. 1 (siehe auch Rn. 7 ff. und 16 ff.). 97 90 Jauernig (Fn. 28), § 929 Rn. 45; Baur/Stürner (Fn. 3), § 59 Rn. 39; die Möglichkeit eines gutgläubigen Erwerbs bejahen ferner BGHZ 75, 221 (225); Prütting (Fn. 81), Rn. 393. 91 Vgl. etwa Serick, Eigentumsvorbehalt und Sicherungsübertragung, Bd. I, 1963, S. 271; Bassenge (Fn. 62), § 929 Rn. 46. 92 Ebenso Westermann (Fn. 6), § 449 Rn. 64; Gursky, in: Westermann (Begr.), Sachenrecht, 6. Aufl. 1990, § 45 III 1d; Brox, JuS 1984, 657 (662); Flume, AcP 161 (1962), 385 (394 ff.); Schreiber, Jura 2001, 623 (627); skeptisch auch Lux, Jura 2004, 145 (149). 93 BGHZ 75, 75 (221, 225). 94 Baur/Stürner (Fn. 3), § 59 Rn. 40; Gursky (Fn. 92), § 45 III 1d. 95 Westermann (Fn. 6), § 449 Rn. 64; Bassenge (Fn. 62), § 929 Rn. 46. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 485 DIDAKTISCHE BEITRÄGE Johann Kindl muss befürchten, dass der Vorbehaltsverkäufer Drittwiderspruchsklage nach § 771 ZPO erhebt. Er kann zwar das Widerspruchsrecht des Verkäufers durch Zahlung des Restkaufpreises nach § 267 Abs. 1 BGB beseitigen; der Verkäufer kann aber die Zahlung zurückweisen, wenn der Käufer widerspricht (§ 267 Abs. 2 BGB). Darüber hinaus muss der Vollstreckungsgläubiger befürchten, dass der Vorbehaltskäufer während der Schwebezeit sein Anwartschaftsrecht auf einen Dritten überträgt. Da in diesem Fall der Vorbehaltskäufer zu keinem Zeitpunkt Eigentümer der Sache wird (siehe oben V. 3.), kann der Vollstreckungsgläubiger nicht nach § 185 Abs. 2 BGB mit Bedingungseintritt auch ein Pfändungspfandrecht erwerben. Schließlich besteht die Gefahr, dass die Anwartschaft in den Haftungsverband eines Grundpfandrechts fällt oder einem gesetzlichen Pfandrecht unterliegt, das sich bei Bedingungseintritt an der Sache fortsetzt und dem – nach § 185 Abs. 2 BGB nur mit Wirkung ex nunc entstehenden Pfändungspfandrecht – im Rang vorgeht (siehe unten 2.). Alles in allem ist die Pfändung allein der Sache(??) aus Sicht des Vollstreckungsgläubigers mit erheblichen Unsicherheiten belastet. Wenig gedient ist einem Gläubiger des Vorbehaltskäufers auch mit der alleinigen Pfändung des Anwartschaftsrechts. Eine derartige Pfändung erfolgt als Rechtspfändung nach §§ 829, 857 Abs. 1 ZPO;102 sie wird bewirkt durch Zustellung des Pfändungsbeschlusses an den Vorbehaltsverkäufer als Drittschuldner (vgl. § 829 Abs. 3 ZPO).103 Durch die Pfändung wird das Anwartschaftsrecht, dessen Inhaber der Vorbehaltskäufer ja tatsächlich ist, mit einem Pfändungspfandrecht belastet. Dies nützt dem Vollstreckungsgläubiger aber wenig, da nach h.M.104 das Pfandrecht an der Anwartschaft erlischt, wenn der Käufer mit der Zahlung des Restkaufpreises Volleigentum erwirbt. Mangels Publizität der Pfändung (kein Besitz des Gerichtsvollziehers, kein Pfandsiegel!) scheidet danach ein Fortbestand des Pfandrechts nach Bedingungseintritt kraft dinglicher Surrogation analog §§ 1287 BGB, 847 ZPO als Pfandrecht an der Sache aus. Nötig ist daher eine Pfändung sowohl der Sache als auch der Anwartschaft. Die Pfändung der Sache ist erforderlich, damit der Vollstreckungsgläubiger nach § 185 Abs. 2 BGB mit Eintritt der Bedingung ein Pfändungspfandrecht an ihr erwirbt. Durch die Pfändung der Anwartschaft beugt der Vollstreckungsgläubiger den oben dargestellten Gefahren vor, die ihm während der Schwebezeit drohen: Das Vollstreckungsgericht erlässt nach § 829 Abs. 1 S. 2 ZPO ein Verfügungsverbot, das nicht nur Verfügungen des Vorbehaltskäufers über die Anwartschaft verhindert, sondern auch dessen 102 BGH NJW 1954, 1325; Baur/Stürner (Fn. 3), § 59 Rn. 41; a.A. Eichenhofer, AcP 185 (1985), 162 (179 ff.). 103 BGH NJW 1954, 1325; die Drittschuldnerstellung des Vorbehaltsverkäufers bezweifelnd BGHZ 49, 197 (205). 104 BGH NJW 1954, 1325; OLG Hamburg MDR 1959, 398; Bassenge (Fn. 62), § 929 Rn. 55.Vorzugswürdig ist freilich die Gegenauffassung, der zufolge sich das Pfandrecht an der Anwartschaft in analoger Anwendung der §§ 1287 BGB, 847 ZPO nach Bedingungseintritt fortsetzt; vgl. Baur/Stürner (Fn. 3), § 59 Rn. 41; Medicus (Fn. 63), Rn. 486. Widerspruchsrecht nach § 267 Abs. 2 BGB beseitigt. Ferner bestimmt sich der Rang des Pfändungspfandrechts an der Sache, das der Gläubiger mit Zahlung des Restkaufpreises erwirbt, nach dem Zeitpunkt der Pfändung des Anwartschaftsrechts.105 2. Haftungsverband/gesetzliche Pfandrechte Bereits die von einem Grundstückseigentümer erworbene Anwartschaft an einem Zubehörstück fällt in den Haftungsverband eines Grundpfandrechts nach § 1120 BGB.106 Ebenso erstrecken sich gesetzliche Pfandrechte auch schon auf das Anwartschaftsrecht, also z.B. das Pfandrecht des Vermieters (§ 562 BGB) auf das Anwartschaftsrecht, das der Mieter an den von ihm eingebrachten Sachen hat.107 Mit Bedingungseintritt erstarkt das Pfandrecht an der Anwartschaft in analoger Anwendung des § 1287 BGB zum Pfandrecht an der Sache.108 Wenn die mit einem Pfandrecht belastete Anwartschaft einem Dritten nach § 930 BGB zur Sicherung übertragen wird, dann setzt sich die Belastung an dem Sicherungseigentum fort, das der Dritte mit Bedingungseintritt erwirbt.109 Dass der Sicherungsnehmer das Eigentum – ohne den Umweg über den Vorbehaltskäufer – unmittelbar vom Vorbehaltsverkäufer erwirbt, nützt ihm also nichts. Dieses Ergebnis ist auch deswegen gerechtfertigt, weil ansonsten der Sicherungsnehmer, dem vom Sicherungsgeber nur die Anwartschaft nach § 930 BGB übertragen wird, besser stünde als derjenige, dem sogleich das Volleigentum übertragen wird.110 Der Pfandgläubiger muss es nach Auffassung der Rspr. allerdings hinnehmen, wenn Verkäufer und Käufer das mit seinem Pfandrecht belastete Anwartschaftsrecht einvernehmlich aufheben.111 3. Pfändung der Sache durch den Vorbehaltsverkäufer Kurz angesprochen sei abschließend die für den Vorbehaltsverkäufer bestehende Möglichkeit, wegen der Kaufpreisforderung seine eigene Sache zu pfänden und sie verwerten zu lassen.112 Es handelt sich hierbei zwar um die Pfändung einer dem Käufer nicht gehörenden, also einer schuldnerfremden Sache, so dass nach h.M.113 kein Pfändungspfandrecht entsteht; eine Verwertung der Sache ist aber aufgrund der öffent105 Vgl. Reinicke, MDR 1959, 613 (616 f.); Tiedtke, NJW 1972, 1404 (1405). 106 Dies ist seit langem anerkannt, vgl. BGHZ 35, 85 (88 ff.); 92, 280 (289); zum Inventarpfandrecht nach dem PachtkredG BGHZ 54, 319 (330 f.); Mand, Jura 2004, 221. 107 BGH NJW 1965, 1475; OLG Düsseldorf NJW-RR 1998, 559 (560). 108 BGHZ 35, 85 (94 f.); OLG Düsseldorf NJW-RR 1998, 559 (560). 109 OLG Düsseldorf NJW-RR 1998, 559 (560); vgl. auch BGH NJW 1992, 1156 (1157). 110 BGH NJW 1992, 1156 (1157). 111 Siehe oben IV. 6. mit Nachweisen in Fn. 84. 112 Vgl. BGH NJW 2007, 2485 (2486) Rn. 14; Westermann (Fn. 6), § 449 Rn. 37. 113 Nachweise in Fn. 101. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 486 Eigentumsvorbehalt und Anwartschaftsrecht ZIVILRECHT lichrechtlichen Verstrickung gleichwohl möglich.114 Vor einer Drittwiderspruchsklage nach § 771 ZPO, die ja nur er selbst erheben könnte, muss sich der Vorbehaltsverkäufer nicht fürchten. Unter den Voraussetzungen des § 811 Abs. 2 ZPO sind für den Vorbehaltseigentümer auch Gegenstände pfändbar, für die ansonsten nach § 811 Abs. 1 Nr. 1, 4, 5 bis 7 ZPO Pfändungsschutz bestünde. Wenn der Gerichtsvollzieher die Sache nicht im Gewahrsam des Schuldners belässt, sondern sie ihm wegnimmt (siehe § 808 Abs. 1 und 2 ZPO), dann liegt bereits darin – und nicht erst in der Verwertung115 – ein Wiederansichnehmen i.S.d. § 503 Abs. 2 S. 4 BGB (siehe oben III. 1. b)).116 114 RGZ 156, 395. So noch die h.M. zu § 5 AbzG; vgl. BGHZ 39, 97; 55, 59. 116 H.M.; siehe Schürnbrand (Fn. 43), § 503 Rn. 56 m.w.N. 115 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 487 Die Lehre von der objektiven Zurechnung und ihre Anwendung – Teil 1 Von Prof. Dr. Ingeborg Puppe, Bonn I. Verstehen, Lernen, Anwenden „So sind wir an unser Jurastudium gegangen: Erst einmal müssen wir lernen, verstehen können wir dann später.“ Das erklärte mir unlängst eine junge Juristin. So lernen moderne Studenten Begriffsdefinitionen, Aufbauschemata und sog. Formeln zur Lösung einzelner Rechtsprobleme auswendig, in der Meinung, dass sie zum Verstehen keine Zeit haben. Das nötige Verständnis, so hoffen sie, werde ihnen schon zuwachsen, wenn ihnen in der Klausur das einschlägige Stichwort eingefallen ist und sie es anwenden sollen. Nichts ist verkehrter als dies, und nichts ist zeitraubender, als eine falsche Methode des Lernens. Die Ergebnisse dieses Lernens bekommen wir Rechtslehrer in jeder Unterrichtsstunde und jedem Klausurtermin vorgeführt. Uns fliegen Stichworte an den Kopf, z.B. Schutzzweck der Norm oder Realisierung des unerlaubten Risikos, und dann erwartet der Stichwortgeber, für sein gutes Wissen gelobt zu werden. Wenn ich ihn stattdessen frage, ob das bezeichnete Erfordernis im gerade besprochenen Fall erfüllt ist, bekomme ich meistens die Antwort „ja“. Bin ich jetzt immer noch nicht zufrieden, weil ich wissen möchte, durch welche Tatsachen des gegebenen Sachverhalts der Begriff denn erfüllt ist oder was der Stichwortgeber unter diesem Begriff versteht, herrscht Funkstille. Der Glaube, die Lösung des Falles werde herausspringen, wenn man nur das Zauberwort oder die Zauberformel kennt, erweist sich also als Aberglaube. Aber die wenigsten Studenten ziehen aus dieser Erfahrung die Konsequenz, dass nicht das Lernen, sondern das Verstehen am Anfang des Studiums eines jeden Rechtsproblems steht. Was sie nicht verstanden haben, werden sie sich auch nicht merken, und selbst wenn sie es sich gemerkt haben, werden sie es nicht anzuwenden wissen. Aber darin liegt die besondere Schwierigkeit des juristischen Studiums, dass man vom Studenten nicht nur die Wiedergabe seines Wissens, sondern dessen Anwendung auf einen Einzelfall verlangt. Mit den Begriffen im Recht verhält es sich ähnlich wie mit Werkzeugen. Man kann sie nur dann richtig anwenden, wenn man verstanden hat, wozu sie gebraucht werden, d.h. wenn man das Problem verstanden hat, dass durch die Anwendung dieser Begriffe auf einen Fall gelöst werden soll. Die Jurisprudenz ist eine praktische Wissenschaft, deshalb sind zum Verständnis ihrer Probleme Beispiele unerlässlich. In modernen Lehrbüchern finden sich reichlich Beispiele, meist besonders hervorgehoben. Die Erörterung eines jeden Rechtsproblems beginnt mit einem oder einer Reihe von Beispielen. Aber es ist nun auch nicht damit getan, sich diese Beispiele zu merken. In der Klausur werden Sie das Problem in ein anderes Beispiel eingekleidet finden und man erwartet von Ihnen, dass Sie es wiedererkennen. Deshalb müssen Sie das Problem aus den Beispielen heraus abstrahieren. Versuchen Sie es abstrakt zu formulieren, indem Sie erklären, warum es gerade in Ihrem Fall einschlägig ist. Erst die Frage, dann die Antwort. Das bedeutet der Ausdruck Gutachtenstil, nicht die stereotype Verwendung von Satzeinleitungen wie „es fragt sich, ob …“ oder „es ist zu prüfen, ob …“. Die Auswendiglerner platzen meist mit der Antwort heraus, ehe sie die Frage gestellt haben. Beim Lernen sollten Sie erst einmal versuchen, die Rechtsfrage selbst zu beantworten, ehe Sie die Ihnen von der Rechtsprechung oder Literatur reichlich dargebotenen Antworten zur Kenntnis nehmen. Das gilt für jeden Studierenden, auch für den blutigsten Anfänger. Denn nur wenn Sie die Beantwortung der Frage selbst versucht haben, haben Sie die Frage verstanden und können sich eine Vorstellung und ein Urteil über die Antworten bilden, die die Rechtsprechung und die Literatur Ihnen anbietet. Dabei müssen Sie bedenken, dass Ihre Antwort, also die Regel, die Sie zur Lösung des Problems anwenden, nicht nur auf Ihren Einzelfall „passen“ muss, d.h. den Fall zu einem das Gefühl befriedigenden Ergebnis führen muss, sondern auch auf andere Fälle, d.h. in diesen nicht ein inakzeptables Ergebnis erzeugen darf. Zwar kann man von jeder Regel eine Ausnahme machen und von dieser Ausnahme wenn nötig wieder eine Gegenausnahme, aber je mehr Ausnahmen man von einer Regel machen muss, desto schlechter ist diese Regel, nicht nur deshalb, weil der Rechtskandidat sich außer der Regel noch all die Ausnahmen merken muss, sondern vor allem deshalb, weil eine solche Regel eben nichts regelt und deshalb weder Klarheit noch Gleichheit, noch Rechtssicherheit garantiert. Aber jede Regel ist nur zur Beantwortung einer Rechtsfrage da. Also hüten Sie sich vor Universalformeln, die Ihnen deshalb angepriesen werden, weil Sie zur Lösung vieler Probleme, etwa aller Probleme der objektiven Zurechnung, geeignet sein sollen. Die universale Anwendbarkeit solcher Formeln hat nämlich ihren Grund nur darin, dass diese Formeln nichts aussagen. Mit einem Satz, der nichts aussagt, kann man alles begründen, was man begründen will. Eine solche Formel lautet z.B.: „in dem Erfolg muss sich eine unerlaubte Gefahr realisiert haben“. Dieser Satz sagt nichts aus, solange nicht erklärt wird, was eine unerlaubte Gefahr ist und welche Beziehung zwischen einer unerlaubten Gefahr und einem Erfolg bestehen muss, wenn sich diese Gefahr in dem Erfolg „realisiert“ hat. Mit dem Ausdruck Schutzzweck der Norm steht es nicht viel besser, solange nicht klar ist, auf welche Normen sich der Schutzzweck beziehen soll und mit welchen Methoden man ihn ermittelt, vor allem aber, zur Lösung welchen Problems der Begriff des Schutzzwecks der Norm überhaupt nötig ist. Wir werden darauf noch zurückkommen. Ob ein Bearbeiter die Regel oder den Begriff, die er für die Lösung seines Falles in Anspruch nimmt, verstanden oder nur auswendig gelernt hat, zeigt sich erst, wenn er ihn auf seinen Fall anwenden soll. Die meisten Kandidaten unterschätzen diese Aufgabe und meinen, sie hätten den Fall eigentlich schon gelöst, sobald sie die einschlägigen Stichworte erkannt haben. Aber hier ist der Ort, wo eine gewisse denkerische Eigenleistung vom Fallbearbeiter verlangt wird. Er soll die Elemente des Sachverhalts mit den Rechtsbegriffen dergestalt verknüpfen, dass klar wird, durch welche Tatsachen der Begriff erfüllt wird. Die Hilflosigkeit auch fortgeschrittener Rechtskandidaten bei der Erfüllung dieser Aufgabe, gerade wenn es um Erfordernisse der objektiven Zurechnung geht, _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 488 Die Lehre von der objektiven Zurechnung und ihre Anwendung – Teil 1 die ich so oft beobachtet habe, hat mich bewogen, diesen Artikel zu verfassen. II. Die Kausalität zwischen Handlung und Erfolg als grundlegende Beziehung der Zurechnung 1. Der Fall: Der gefährliche Patient In der Entscheidung BGHSt 49, 1 ff. ging es um zwei leitende Ärzte einer psychiatrischen Klinik, in der ein wegen schwerer Gewaltdelikte und Sexualdelikte verurteilter Patient, der von ihnen nach wie vor als hochgradig gefährlich und nicht therapierbar beurteilt wurde, zur Sicherung untergebracht war. Schon zwei Mal war dieser Patient aus der Klinik ausgebrochen, indem er die Stäbe eines unter Denkmalschutz stehenden schwachen Fenstergitters auseinander gebogen hatte. Diesem Patienten hatten die Angeklagten unbeaufsichtigten Ausgang genehmigt, den er dazu ausnutzte, zwei alte Frauen zu töten und mehrere sexuelle Nötigungen zu begehen. Das Landgericht sprach die beiden Ärzte vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei, weil der Patient sich die Freiheit durch einen erneuten Ausbruch hätte verschaffen können, wenn sie ihm nicht durch den Ausgang zuteil geworden wäre. Deshalb fehle es jedenfalls an der Kausalität des Verhaltens der Ärzte für die von ihrem Patienten begangenen Verbrechen. Damit hat das LG genau die Methode zur Bestimmung und Feststellung der Kausalität angewandt, die die ganz h.L. und auch der BGH propagiert. Danach ist ein Verhalten nur dann kausal für einen Erfolg, wenn es nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele1, oder, um das etwas weniger schülerhaft auszudrücken, wenn es notwendige Bedingung für dessen Eintritt war. 2. Das Problem: Welches Bedingungsverhältnis besteht zwischen dem Erfolg und dem Verhalten eines Täters, wenn er für den Erfolg verantwortlich sein soll Diese Bestimmung der Kausalität als erste Voraussetzung der Erfolgszurechnung leuchtet auf den ersten Blick auch ein. Nur wenn es vom falschen Verhalten des Täters abhing, ob der Erfolg eintritt oder nicht, soll er für ihn verantwortlich sein. Vom falschen Verhalten des Täters hängt das aber nur dann ab, wenn dieses notwendige Bedingung für den Eintritt des Erfolges war. Aber die Konsequenzen für den Rechtsgüterschutz wären verheerend, wenn man mit der Bestimmung der Ursache als notwendige Bedingung des Erfolgseintritts wirklich ernst machen würde, sofern der Erfolg im Einzelfall auf verschiedene Weise hätte eintreten können. Haben mehrere an einem Unfall beteiligte Fahrer sich jeweils so sorgfaltswidrig verhalten, dass jeder Fahrfehler für die Erklärung des Unfalls ausreicht, so könnte sich jeder von ihnen damit entlasten, dass es dem Opfer nichts genützt hätte, wenn er sich richtig verhalten hätte, da das Fehlverhalten des anderen zur Herbeiführung des Unfalls ja genügte. (Auf diese Konstellation werden wir noch zu sprechen kommen). STRAFRECHT Ein weiterer Fall, in dem sich jeder Beteiligte zu seiner Entlastung auf die Pflichtverletzung eines anderen berufen könnte ist der, dass das Fehlverhalten des Täters eine Gefahr herbeigeführt hat, die durch einen anderen im Fall bereits angelegten Umstand, eine sog. Ersatzursache, herbeigeführt worden wäre, wenn der Täter sich richtig verhalten hätte. So liegt der Fall hier. Hätten die Angeklagten, wie es ihre Pflicht gewesen wäre, dem Patienten den Ausgang verweigert, so hätte er sich die Freiheit erneut durch Verbiegen der denkmalgeschützten Gitterstäbe verschaffen können. Nach dem Zweifelsgrundsatz muss der Richter davon ausgehen, dass er dies auch getan hätte. Dann wären die beiden alten Frauen ebenfalls umgebracht worden. Ihr Schicksal hing also nicht vom Fehlverhalten der Ärzte ab. Aber es hing ja auch nicht vom maroden Zustand der denkmalgeschützten Gitterstäbe ab, weil der Patient sie gar nicht durchbiegen musste, um die Freiheit zu gewinnen. Die Konsequenz der Lehre von der Ursache als notwendige Bedingung wäre auch in dieser Fallkonstellationen also die, dass keiner der Beteiligten für das Unglück der Opfer verantwortlich wäre, weder die behandelnden Ärzte noch die für die Sicherheit der Klinik zuständigen Personen. Dieses Ergebnis ist nicht akzeptabel und der BGH hat es denn auch nicht akzeptiert. Zur Begründung dafür, dass die Ärzte für die Straftaten ihres Patienten verantwortlich sind, führt der BGH folgendes aus: „Dass die hypothetische Möglichkeit eines gewaltsamen Entweichens des S nicht die Kausalität des von dem Angeklagten zu verantwortenden Ausgangs beseitigen kann, belegt auch die Verantwortung Dritter für die Sicherheit des Klinikgebäudes […]. Im Fall einer Erfolgsverursachung nach einem Ausbruch hätten anstelle der Angeklagten […] nämlich diejenigen Personen S (dem Patienten) die Freiheit verschafft, die für die infolge pflichtwidrigen Unterlassens fehlenden Sicherungen der geschlossen Station der psychiatrischen Klinik die Verantwortung trugen. Demnach durfte der von den Angeklagten gewährte Ausgang als Ursache nicht ausgeschlossen werden.“2 Aber wie hätte das Instanzgericht das fertig bringen sollen, hat doch der BGH selbst kurz zuvor die Lehre, dass Ursache nur eine notwendige Bedingung des Erfolges sein kann mit den folgenden Worten erneut bestätigt: „Nach ständiger Rechtsprechung ist als haftungsbegründende Ursache eines strafrechtlich bedeutsamen Erfolges jede Bedingung anzusehen, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele.“3 Denkt man aber die falsche Handlung der Angeklagten, also die Ausgangsgewährung hinweg, so entfiele der Erfolg, die vom Patienten begangenen Tötungsdelikte eben nicht, sofern es ihm leicht möglich war, aus der Anstalt auszubrechen. Das LG hat also das Fehlverhalten der Ärzte als Ursache der Tötungsdelikte nicht, wie der BGH sich ausdrückt, ausgeschlossen, es ist an der Aufgabe gescheitert, seine Ursächlichkeit unter Anwendung der Formel von der notwendigen Bedingung, also der „ständigen Rechtsprechung“, erst einmal zu begründen. 1 BGHSt 1, 332; 2, 24; 3, 69; 7, 114; 24, 34; 31, 98; 37, 106; OGH 1, 330 (367); 2, 286; OLG Stuttgart JZ 1980, 618; aber auch BGHZ 86, 157 (170). 2 3 BGHSt 49, 1 (5). BGHSt 49, 1 (3). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 489 DIDAKTISCHE BEITRÄGE Ingeborg Puppe 3. Die Lösung des BGH In der Entscheidungsbegründung rügt nun der BGH die Anwendung seiner Formel durch das LG mit folgenden Worten: „Das LG hätte deshalb das pflichtgemäße Verhalten der Angeklagten, die Untersagung des Ausgangs, nur mit solchen gedachten alternativen Geschehen in Verbindung setzen dürfen, die der konkreten Tatsituation zuzurechnen wären. Dazu zählt aber die von der Strafkammer herangezogene Möglichkeit eines gewaltsamen Ausbruchs nicht. Dieser hätte einer völlig außerhalb des Tatgeschehens liegenden autonomen Willensbildung des S bedurft, für dessen Umsetzung nach dem vom LG getroffenen Feststellungen, auch nach den zwei länger zurückliegenden Ausbrüchen keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte bestanden.“4 Aber warum ist die Möglichkeit eines gewaltsamen Ausbruchs nicht „der konkreten Tatsituation“ zuzurechnen? Schließlich bestand sie in der konkreten Tatsituation, die Gitterstäbe waren nach wie vor marode und denkmalgeschützt und der Patient hatte nach wie vor das Zeug zum ausbrechen. Bestanden deshalb „keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte“ dafür, dass der Patient erneut ausbrechen könnte, weil seine letzten beiden Ausbrüche „länger zurücklagen“? Eine Regel darüber, was sich der Richter bei der Entscheidung der Frage, ob der Erfolg ohne die Handlung des Täters entfiele, hinzudenken darf und was nicht, ist aus diesem Text nicht zu entnehmen. Vor allem aber verstößt jedes Hinzudenkverbot gegen die nach wie vor vom BGH festgehaltene Bestimmung der Ursache als notwendige Bedingung. Ein Verhalten ist eben nur dann notwendige Bedingung des Erfolges, wenn der Erfolg nicht eingetreten wäre, sofern das Verhalten nicht stattgefunden hätte. Um das festzustellen, muss man sich Ereignisse hinzudenken, die tatsächlich nicht stattgefunden haben. 4. Der ganz unbedeutende Unterschied zwischen falsch und richtig bei der Kausalitätsbestimmung Die Lösung des Problems besteht darin, die Frage, was geschehen wäre, wenn der Täter nicht oder nicht so wie geschehen gehandelt hätte, erst gar nicht zu stellen, sondern sich an das Geschehen zu halten, das wirklich stattgefunden hat. Man muss also auf die Forderung, dass nur dasjenige Verhalten eine Ursache des Erfolges ist, das notwendige Bedingung für seinen Eintritt war, dergestalt, dass das Schicksal des verletzten Rechtsguts vom Verhalten des Täters abhing, verzichten, wenn man nicht akzeptieren will, dass mehrere wirklich oder hypothetisch Beteiligte sich gegenseitig entlasten. Aber welche Bedingungsbeziehung soll nun an die Stelle der notwendigen Bedingung treten? Da der Erfolg tatsächlich eingetreten ist, muss es in Wirklichkeit eine Bedingung gegeben haben, die für seinen Eintritt hinreichend war. Hinreichend ist die Bedingung für den Erfolg dann, wenn wir allgemeine Gesetze, sog. Kausalgesetze angeben können von der Form: immer dann, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, tritt ein Erfolg der betreffenden Art ein. Eine Handlung ist dann kausal für einen Erfolg, 4 BGHSt 49, 1 (4 f.). wenn sie in einer solchen nach allgemeinen Gesetzen hinreichenden Bedingung des Erfolges als notwendiger Bestandteil vorkommt und diese Bedingung in Wirklichkeit auch gegeben war.5 Wenden wir dieses Verfahren der Bestimmung von Kausalität auf unseren Beispielsfall an, so müssen wir fragen, wie es dazu gekommen ist, dass dieser Täter, obwohl er in einer geschlossenen Anstalt verwahrt war, außerhalb der Anstalt Tötungsdelikte begehen konnte. Das war deshalb möglich, weil er die Anstalt verlassen hat. Er konnte die Anstalt durch die Tür verlassen, weil er dem Pförtner einen Erlaubnisschein der Ärzte für einen unbeaufsichtigten Ausgang vorlegen konnte. In der kausalen Erklärung der vom Patienten begangenen Tötungsdelikte kommt also die Tatsache, dass die Angeklagten Ärzte ihm Ausgang gewährt hatten vor, die Tatsache, dass die Fenstergitter zu schwach waren, um einen Ausbruch dieses Patienten zu verhindern, aber nicht. Sie erweist sich damit als sog. Ersatzursache. Die Erlaubniserteilung durch die angeklagten Ärzte aber ist ein notwendiger Bestandteil derjenigen hinreichenden Bedingung für die von dem Patienten begangenen Tötungsdelikte, die tatsächlich wahr ist. Würden wir aus dieser hinreichenden Bedingung die Erlaubniserteilung der Ärzte streichen (hinweg denken), so wäre sie nicht mehr hinreichend. Es wäre nicht mehr zu erklären, wie der Patient durch die Ausgangstür gekommen ist. Dies ist nicht nur der Kausalbegriff, der in der Technik und in den Naturwissenschaften, soweit sie überhaupt noch mit einem Kausalbegriff arbeiten, Anwendung findet, sondern im Gegensatz zu der Formel von der notwendigen Bedingung auch derjenige, der eine Zurechnung des Erfolges zu einer Handlung ermöglicht, auch wenn eine sog. Ersatzursache im konkreten Fall angelegt ist oder es mehrere Verursacher gibt, deren Beiträge sich gegenseitig ersetzen können, sog. Mehrfachkausalität oder alternative Kausalität. Nur so ist das Ziel des BGH zu erreichen, dass sich die mehreren Beteiligten in solchen Fällen nicht mit der Berufung auf wirkliche oder gar bloß hypothetische Pflichtverletzungen der anderen Beteiligten entlasten können. Trotz dieses augenfälligen Unterschiedes in den Ergebnissen zwischen der Bestimmung der Ursache als notwendiger Bestandteil einer hinreichenden Erfolgsbedingung und als schlechthin notwendige Bedingung finden manche Autoren, dass zwischen diesen beiden Formeln entweder überhaupt kein6 oder nur ein geringer7 Unterschied besteht, oder dass die Conditio-sine-qua-non-Formel, obwohl sie zur Ermittlung von Kausalität im Einzelfall „entweder unbrauchbar oder überflüssig ist“, gleichwohl eine „normativ fundierte begrifflich5 Puppe, Strafrecht, Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung, 2002, § 2 Rn. 62 ff., insbesondere Rn. 68; dies., in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2005, vor § 13 Rn. 163 f. 6 Samson, in: Rogall/Puppe/Stein/Wolter (Hrsg.), Festschrift für Hans-Joachim Rudolphi zum 70. Geburtstag, 2004, 259 (265 f.). 7 Röckrath, Kollegialentscheidung und Kausalitätsdogmatik – Zurechnung überbestimmter Erfolge in Straf- und Haftungsrecht in ZStW 115 (2003), 641 (646). _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 490 Die Lehre von der objektiven Zurechnung und ihre Anwendung – Teil 1 definitorische Aussage zur Kausalität“ sei.8 Der Unterschied, der zwischen beiden Formeln besteht, ist der ganz unbedeutende Unterschied zwischen einer logisch richtigen und einer logisch falschen Bestimmung des Bedingungszusammenhangs zwischen einer Ursache und einem Erfolg im Strafrecht. Dass die Conditio-sine-qua-non-Formel gerade auch normativ falsch ist, zeigt sich ja eben daran, dass sie bei Mehrfachkausalität und bei Vorhandensein einer Ersatzursache zu dem normativ inakzeptablen Ergebnis führt, dass sich jeder mit dem Fehlverhalten des anderen entlasten kann. Das weiß im Prinzip jeder ausgebildete Strafrechtler. Trotzdem hält, wie wir gesehen haben, der BGH und ihm folgend der größte Teil der Kurzlehrbuchliteratur an der Conditio-sine-qua-non-Formel fest.9 Sobald man nun intuitiv erkennt, dass das Ergebnis, zu dem diese Formel führt, im Einzelfall falsch ist, wird sie eben solange modifiziert, bis man durch Wegdenken und Hinzudenken zu dem Ergebnis kommt, das man intuitiv als richtig erkannt hat, sog. „modifizierte Conditio-sine-qua-nonTheorie“.10 Der Grund dafür, dass kein Beweis ihrer Unrichtigkeit die Herrschaft der Conditio-sine-qua-non-Formel zu erschüttern vermag, besteht in ihrer Bequemlichkeit in den Fällen, in denen die Kausalität offensichtlich gegeben ist11. Was soll man auch groß über die Kausalität schreiben, wenn der Täter seinem Opfer 23 Hammerschläge auf den Kopf ver- 8 Frisch, in: Dölling/Erb (Hrsg.), Festschrift für Gössel zum 70. Geburtstag, 2002, S. 51 (56 ff.). 9 Kindhäuser, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2008, § 10 Rn. 1 ff.; Frister, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2008, § 9 Rn. 5 ff.; Wessels/Beulke, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 37. Aufl. 2007, Rn. 156; Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2008, § 4 Rn. 9; Weber, in: Baumann/ders./Mitsch (Hrsg.), 11. Aufl. 2003, § 14 Rn. 19. 10 Kindhäuser (Fn. 9), § 10 Rn. 15 f; Kühl nennt diese Modifikationen „Anwendungsregel der Formel“, (Fn. 9) § 4 Rn. 11 ff.; die wichtigste dieser Modifikationen/Anwendungsregeln ist die sog. Alternativenformel. Sie lautet: Von mehreren Handlungen, die alternativ, aber nicht kumulativ hinweggedacht werden können, ohne dass der Erfolg entfiele, ist jede kausal. Diese Methode weist drei Fehler auf: Erstens wäre nach dieser Methode auch jede Ersatzursache eine Ursache. Zweitens ist diese Methode nur dann anwendbar, wenn es nur zwei konkurrierende Ursachen gibt. Versuchen sie doch einmal diese Alternativenformel auf den Fall anzuwenden, dass bei einer illegalen standrechtlichen Erschießung zwölf Schützen gleichzeitig auf das Opfer schießen und alle das Herz treffen. Drittens, und das ist das Schlimmste, diese Formel setzt voraus, dass man bereits erkannt hat, dass ein Fall von Mehrfachkausalität vorliegt und welche Ursachen miteinander konkurrieren. Erkennt man das nicht, so bleibt es eben bei der Anwendung der ursprünglichen Conditio-sine-qua-nonFormel mit dem Ergebnis, dass der Angeklagte freigesprochen wird, weil seine Handlung hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele. Wir werden einen solchen Fall noch kennen lernen. 11 Kühl (Fn. 9), § 4 Rn. 9; Frisch (Fn. 8), S. 66 f.; Röckrath (Fn. 7), S. 646. STRAFRECHT setzt und dieses daraufhin stirbt?12 Da aber der Jurist und zumal der Rechtskandidat jede Behauptung, die er aufstellt, begründen muss, schreibt man eben hin: Die 23 Hammerschläge können nicht hinweggedacht werden, ohne dass der Erfolg, der Tod des Opfers, entfiele. 5. Was tun in der Klausur? Die Conditio-sine-qua-non-Formel ist zwar falsch, ihre Anwendung wird aber vom Kandidaten immer noch erwartet, es wird erwartet, dass er die Kausalität einer Handlung dadurch prüft, dass er sie hinweg denkt. Nun kann man auch die Lehre von der gesetzmäßigen Mindestbedingung so anwenden, dass man die zu prüfende Handlung irgendwo hinweg denkt, nur nicht aus der Welt, um zu fragen, was ohne sie (hypothetisch) geschehen wäre, sondern nur aus einer bereits projektierten kausalen Erklärung des Erfolges, um zu fragen, ob diese ohne die Handlung noch schlüssig ist.13 Man beschreibt also zunächst den Kausalverlauf, der wirklich abgelaufen ist und schließlich zum Erfolg geführt hat. Das kann, je nachdem wie trivial oder komplex die kausale Erklärung des Erfolgseintritts ist, mehr oder weniger ausführlich geschehen. In einem trivialen Fall wie etwa dem Hammerschlagbeispiel genügt dazu die folgende Feststellung: Der Tod des Opfers ist durch zahlreiche Hammerschläge auf seinen Kopf eingetreten. Dann kann man hinschreiben, aus diesem Kausalverlauf sind die Schläge des Täters nicht hinwegzudenken ohne dass der Erfolg entfiele. In unserem Ausgangsfall ist die Kausalerklärung nicht ganz so trivial, da das Verhalten eines Dritten, nämlich des Patienten, dabei eine Rolle spielt. Sie könnte etwa wie folgt lauten: Der Täter befand sich vor den Tötungsdelikten in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik. Er hat seine Freiheit dadurch erlangt, dass ihm ein Pfleger die Haustür geöffnet hat. Dies hat der Pfleger getan, weil der Patient ihm einen Erlaubnisschein der behandelnden Ärzte vorgewiesen hat. Da er dann keiner Aufsicht mehr unterlag, konnte er mehrere Tötungsdelikte begehen. Dann kann man hinschreiben: Aus diesem Kausalverlauf kann die Erteilung der Ausgangserlaubnis durch die behandelnden Ärzte nicht hinweggedacht werden, ohne dass der Erfolg entfiele. Wenn sie dann noch ein Übriges tun wollen schreiben Sie: Die Tatsache, dass die unter Denkmalschutz stehenden Fenstergitter der Anstalt leicht auseinander zu biegen waren und der Patient bewiesen hatte, dass er dazu in der Lage war, auf diese Weise aus der Anstalt auszubrechen, spielt für die kausale Erklärung des Erfolges keine Rolle, sondern war lediglich eine Ersatzursache, denn der Ausbruch ist ja nicht erfolgt. Ist der Beurteiler ihrer Arbeit ein Anhänger der Conditiosine-qua-non-Theorie, so wird er entweder gar nicht merken, dass sie diese Theorie nicht angewandt haben oder er wird ihnen attestieren, dass sie sie ganz korrekt angewandt haben, weil sie nichts hinzugedacht haben, was nicht tatsächlich 12 Fall BGH StV 1987, 92. Puppe (Fn. 5), § 2 Rn. 68; dies., in: NK (Fn. 5), vor § 13 Rn. 109. 13 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 491 DIDAKTISCHE BEITRÄGE Ingeborg Puppe geschehen ist. Ist ihr Prüfer kein Anhänger der Conditio-sinequa-non-Formel, so wird er ihnen ein gründliches Verständnis der Kausalität bescheinigen. 6. Die praktischen Vorteile Dieses Vorgehen hat im Vergleich zur sog. Conditio-sinequa-non-Formel drei Vorteile: Erstens ist das Wegdenken der Handlung aus einer bereits aufgestellten wahren und schlüssigen Kausalerklärung des Erfolges im Gegensatz zur Formel von der notwendigen Bedingung eine logisch und methodisch korrekte Weise der Ermittlung von Kausalität im Einzelfall. Zweitens führt dieses Vorgehen, wiederum im Gegensatz zur Conditio-sine-qua-non-Formel, auch dann ohne weiteres zum richtigen Ergebnis, wenn ein Fall der Mehrfachkausalität vorliegt oder im Sachverhalt eine Ersatzursache angelegt ist. Man braucht sich also nicht zu fragen, was man sich im Einzelfall hinzudenken oder nicht hinzudenken muss, um auch in solchen Fällen zu richtigen Ergebnissen zu kommen. Man braucht auch nicht weitere Anwendungsregeln der Formel zu lernen, die die h.L. für diese Fälle entwickelt hat, inklusive der allgemein bekannten Alternativen-Formel. Drittens lenkt dieses Vorgehen die Aufmerksamkeit des Juristen von vornherein auf den Kausalverlauf, der wirklich abgelaufen ist und nicht auf einen fiktiven, der ohne die Handlung des Täters abgelaufen wäre. So kann er sofort erkennen, ob der Kausalverlauf Besonderheiten aufweist, die der Zurechnung des Erfolges zur Handlung des Täters entgegen stehen könnten, obwohl diese für den Erfolg kausal war. Wir werden solche Besonderheiten noch ausführlich besprechen. Hierher gehört z.B. ein Kausalverlauf, der nach der pflichtwidrigen Handlung des Täters zunächst in ein erlaubtes Risiko übergegangen ist, das sich dann durch Zufall im Erfolg realisiert hat oder sich durch das Fehlverhalten eines anderen wieder in ein unerlaubtes Risiko verwandelt hat, sog. Erfordernis der Realisierung des Schutzzwecks der Sorgfaltsnorm. Hierher gehört weiter der Fall, dass der Verletzte sich bewusst an seiner Gefährdung selbst beteiligt hat, sog. freiverantwortliche Selbstgefährdung. Auch unser Beispielfall wirft ein solches Problem auf, das sog. Regressverbot. Der Kausalverlauf zum Tod der Verbrechensopfer verlief nämlich über eine vorsätzliche Tötungshandlung des Patienten. Sie müssten also ausführen, dass das sog. Regressverbot, wonach der Kausalverlauf, abgesehen von den Fällen der Beteiligung an fremder Vorsatztat, nicht hinter die vorsätzliche Handlung eines anderen Verursachers zurückverfolgt werden darf, im vorliegenden Fall nicht einschlägig ist, weil der vorsätzlich Handelnde nicht voll verantwortungsfähig war und weil es die Aufgabe der Angeklagten war, potentielle Opfer gerade vor der Gefahr zu schützen, die von dessen vorsätzlichen Handlungen ausging. Im Gegensatz zur Kausalität, die die Grundvoraussetzung jeder Zurechnung ist, sind diese Fragen nur dann bei einer Fallprüfung anzusprechen, wenn der Sachverhalt dazu Anlass gibt. Wenn sie aber die Prüfung der Kausalität dadurch erledigen, dass sie einfach die Conditio-sine-qua-non-Formel herunter beten, werden sie unter Umständen gar nicht merken, ob das der Fall ist. Schildern Sie dagegen kurz den wirklichen Kausalverlauf, so haben sie eine etwa einschlägige Prüfung weiterer Zurechnungsprobleme bereits vorbereitet. III. Die Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung, auch Rechtswidrigkeitszusammenhang oder Pflichtwidrigkeitszusammenhang oder Realisierung des unerlaubten Risikos genannt 1. Der Blinkerfall Als A des Morgens mit seinem Auto in sein Büro fahren will, stellt er fest, dass der linke Blinker nicht leuchtet. Offenbar ist die Birne oder die Sicherung durchgebrannt. Obwohl er eine Birne und eine Sicherung griffbereit hat, fährt er mit dem defekten Blinker los, um nicht zu spät zur Arbeit zu kommen. Als er an einer roten Ampel halten muss, fährt ein anderes Auto von hinten auf das seine auf, dessen Fahrer erstens zu schnell und zweitens unaufmerksam gefahren ist. Obwohl A sich sorgfaltswidrig verhalten hat, weil er mit einem kaputten Blinker gefahren ist, und obwohl er durch eben dieses Fahren und das Halten an der Ampel auch kausal für den Unfall geworden ist (zu einem Zusammenstoß gehören zwei), ist er für den Personenschaden des anderen Fahrers nicht verantwortlich, wenn er ihn nicht, wie es in § 222 StGB heißt „durch Fahrlässigkeit verursacht“ hat. Es genügt eben offenbar nicht, dass eine Handlung pflichtwidrig war und die gleiche Handlung für einen Schaden kausal geworden ist. Es muss vielmehr gerade diejenige Eigenschaft der Handlung, die ihre Pflichtwidrigkeit ausmacht, ursächlich für den Schaden sein, in dem Sinne, dass sie notwendiger Bestandteil der hinreichenden Bedingung für dessen Eintritt war.14 Um diesen Unfall zu erklären, brauche ich aber keine Angaben über den Zustand der Blinkanlage des Fahrzeugs, weil A vor dem Unfallgeschehen die Blinkanlage gar nicht zu betätigen hatte. Ich könnte also die Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung ohne weiteres mit der Begründung ablehnen, dass eine Angabe über den defekten linken Blinker in der hinreichenden Bedingung für den Unfall gar nicht vorkommt. Man könnte das, der h.L. zuliebe, auch so ausdrücken: man kann den defekten Blinker hinweg denken, ohne dass der Erfolg entfiele. 2. Einige überflüssige Schwierigkeiten Der BGH bezeichnet im Kern ganz richtig diese Zurechnungsbeziehung als „Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung“.15 Mit einem gewissen Recht hat dieser Ausdruck allerdings in der Wissenschaft Anstoß erregt, weil eine Pflichtverletzung als solche keine Ursache sein kann, denn sie ist der Widerspruch zwischen einem Verhalten und einer Sorgfaltsnorm. Dieser Ausdrucksfehler wäre allerdings leicht zu 14 Puppe (Fn. 5) § 3 Rn. 2 ff.; dies., in: NK (Fn. 5), vor § 13 Rn. 206 ff. 15 BGHSt 11, 1 (7); 21, 59; 33, 61 (64); VRS 21, 6; JR 1982, 382; OLG Thüringen VRS 111, 180 (184); Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 55. Aufl. 2008, vor § 13 Rn. 35 m.w.N.; Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, § 7 Rn. 78; Puppe (Fn. 5), § 3 Rn. 3 ff.; dies., in: NK (Fn. 5), vor § 13 Rn. 206. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 492 Die Lehre von der objektiven Zurechnung und ihre Anwendung – Teil 1 korrigieren gewesen, wenn man statt von der Sorgfaltspflichtverletzung von der sorgfaltswidrigen Eigenschaft der Handlung gesprochen hätte. Statt aber diese einfache Korrektur vorzunehmen, zieht es die Lehre vor, den erforderlichen Zusammenhang nicht als Kausalzusammenhang zu bezeichnen, sondern als Rechtwidrigkeitszusammenhang, Pflichtwidrigkeitszusammenhang oder Realisierung des unerlaubten Risikos.16 Diese Ausdrücke sind nicht falsch, aber sie haben den Mangel, über die Art des erforderlichen Zusammenhangs zwischen der Sorgfaltswidrigkeit der Handlung und dem Erfolg gar nichts auszusagen. Wer nichts sagt, der sagt auch nichts Falsches. Eine weitere überflüssige Schwierigkeit handelt sich nicht nur die Lehre, sondern auch die Rechtsprechung ein. Beide sträuben sich nämlich dagegen, eine Angabe im Sachverhalt unbestimmt zu lassen, die man bestimmt machen kann. Deshalb lehnen sie es ab, bei der Feststellung der Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung die Angaben über die sorgfaltswidrigen Eigenschaften der Handlung einfach unbestimmt zu lassen, sondern verlangen stattdessen, dass an die Stelle des sorgfaltswidrigen Verhaltens ein sorgfaltsgemäßes gesetzt wird, das sog. „korrespondierende sorgfaltsgemäße Alternativverhalten“.17 Aber diese Operation ist nicht nur völlig überflüssig, sie macht den erforderlichen Zurechnungszusammenhang auch mehrdeutig, weil nicht bestimmt ist, welche sorgfaltsgemäße Verhaltensweise der tatsächlich vom Täter vorgenommenen sorgfaltswidrigen denn „korrespondiert“.18 In unserem Fall hätte der Täter z.B. den defekten Blinker reparieren können, er hätte aber auch mit der Straßenbahn, dem Fahrrad oder dem Taxi zur Arbeit fahren können. Denkt man sich als sorgfaltsgemäßes Verhalten das Fahren mit repariertem Blinker hinzu, so entfällt der Erfolg nicht, denkt man sich das Fahren mit dem Fahrrad oder mit der Straßenbahn hinzu, so entfällt er. Denkt man sich das Fahren mit einem Taxi hinzu, so weiß man nicht, ob der Erfolg entfallen würde, man weiß ja schließlich nicht, ob der Taxifahrer genau so gefahren wäre wie der Angeklagte oder etwas anders. Welche dieser Verhaltensweisen soll also die korrespondierende sein? Hängt die Frage, ob es das Fahren mit repariertem Blinker sein kann, etwa davon ab, ob der Täter im Einzelfall eine Ersatzbirne oder Ersatzsicherung zur Hand hatte und die Blinkanlage selbst hätte reparieren können oder ob er diese Möglichkeit de facto nicht hatte? Dieses Kriterium ist abzulehnen, denn das Fahren mit repariertem Blinker wäre erlaubt gewesen, mit der Folge, dass andere Verkehrsteilnehmer das damit verbundene Risiko als erlaubtes Risiko hätten tragen müssen. Aus der Tatsache, dass es 16 Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Aufl. 2006, § 15 Rn. 42; Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Aufl. 2006, vor § 13 Rn. 99; Wessels/Beulke (Fn. 9), Rn. 197; Kindhäuser (Fn. 9), § 33 Rn. 34 f; Kühl (Fn. 9), § 17 Rn. 47 ff.; Frisch GA 2003, 719 (728). 17 Kindhäuser (Fn. 9), § 33 Rn. 34 ff.; Wessels/Beulke (Fn. 9), Rn. 676; Weber (Fn. 9), § 22 Rn. 40 f.; Cramer/SternbergLieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 16), § 15 Rn. 174 ff. 18 Puppe (Fn. 5), § 3 Rn. 7 ff.; dies., in: NK (Fn. 5), vor § 13 Rn. 202, 212. STRAFRECHT diesem Fahrer im Einzelfall nicht möglich war, den Blinker sofort zu reparieren, erwächst den anderen Verkehrsteilnehmern kein Anspruch darauf, von dieser Gefahr verschont zu bleiben.19 3. Was tun in der Klausur? Unter Berufung auf die Formulierung des BGH von der Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung kann der Kandidat riskieren, sich nur die sorgfaltswidrigen Eigenschaften der Täterhandlung hinwegzudenken und sich nichts an deren Stelle hinzuzudenken, um festzustellen, dass der Unfall sich auch dann ereignet hätte, bzw. dass er auch dann kausal erklärbar ist.20 Wer das nicht riskieren will, mag sich an Stelle der sorgfaltswidrigen Handlung des Täters als korrespondierendes sorgfaltsgemäßes Alternativverhalten ein solches hinzudenken, das den Erfolg auch verursacht hätte. Das lässt sich immerhin damit begründen, dass die anderen Unfallbeteiligten keinen Anspruch darauf haben, dass der Täter unter den mehreren sorgfaltsgemäßen Verhaltensweisen eine bestimmte wählt, nämlich diejenige, die den Erfolg verhindert hätte. Das gilt, wie eben gezeigt, auch dann, wenn das sorgfaltsgemäße Verhalten, das den Erfolg mit Gewissheit ebenfalls herbeigeführt hätte, dem Täter im Einzelfall aus irgendwelchen technischen Gründen nicht möglich war. Wir können also z.B. schreiben: Autofahrer A hat den Unfall dadurch verursacht, dass er zu dem Zeitpunkt, als der andere Autofahrer auf die Kreuzung zufuhr, an dieser gestanden hat. Sein Verhalten war deshalb sorgfaltswidrig, weil er mit einem nicht funktionsfähigen linken Blinker gefahren ist. Der Unfall wäre dem Täter nur dann zuzurechnen, wenn gerade die sorgfaltswidrigen Eigenschaften seines Verhaltens, also der Defekt des Blinkers während der Fahrt für den Unfall kausal waren. Nach § 222 StGB muss der Täter den Tod des Opfers „durch Fahrlässigkeit verursacht“ haben. Nun kann man sich aber nicht die Fahrt des Angeklagten bis zur Ampel, wohl aber den Defekt des Blinkers hinweg denken, ohne dass der Erfolg entfiele. Der Täter hat also den Unfall nicht durch Fahrlässigkeit verursacht. IV. Doppelkausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen 1. Der Bushaltestellenfall, BGH VRS 25, 262 Der Angeklagte passierte einen haltenden Linienbus und überfuhr dabei ein hinter diesem Bus hervorkommendes Kind. Nach der Rechtsprechung des BGH ist ein Kraftfahrer, der einen haltenden Bus passiert, verpflichtet, entweder Schrittgeschwindigkeit zu fahren, so dass er auf der Stelle anhalten kann, oder einen Mindestabstand von 2 Metern von diesem Bus einzuhalten. Der Grund für diese Verpflichtung besteht darin, dass Fußgänger, die ein paar Schritte hinter dem Bus hervortreten, um sich zu überzeugen, ob die Straße frei ist, ehe sie sie überqueren, nicht durch vorbeifahrende Kraftfahrer gefährdet werden sollen. Der Angeklagte Autofahrer fuhr schneller als Anhaltegeschwindigkeit und in ei19 Jakobs (Fn. 15), § 7 Rn. 86; Puppe, in: NK (Fn. 5), vor § 13 Rn. 213. 20 Puppe, in: NK (Fn. 5), vor § 13 Rn. 214. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 493 DIDAKTISCHE BEITRÄGE Ingeborg Puppe nem geringeren Abstand als 2 Metern und überfuhr das Kind tödlich. Er verteidigte sich mit dem Vorbringen, das Kind sei so plötzlich und kopflos auf die Straße gerannt, dass er es auch dann mit tödlichen Folgen erfasst hätte, wenn er den Mindestabstand von 2 Metern von dem Bus eingehalten hätte. Da das Kind tot und kein weiterer Unfallzeuge verfügbar war, unterstellte der BGH nach dem Grundsatz in dubio pro reo die Richtigkeit dieses Vorbringens und hob die Verurteilung des Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung mit der Begründung auf, dass eine solche Verurteilung nur dann möglich sei, „wenn sicher ist, dass es beim verkehrsgerechten Verhalten nicht zu dem Erfolg gekommen wäre“.21 2. Das Problem Stellen Sie sich vor, das Kind hätte überlebt und würde nun den Richter fragen, wer ist denn nun für meinen Unfall verantwortlich? Wenn der Angeklagte es nicht ist, weil er den Unfall nicht vermeiden konnte, so muss ich verantwortlich sein. Aber auch ich hätte den Unfall durch das von mir erwartete Verhalten nicht vermeiden können, denn der Angeklagte hat mich ja innerhalb der 2 Meter-Schutzzone angefahren. Er hätte mich also auch dann angefahren, wenn ich nicht, wie er behauptet, kopflos auf die Straße gerannt wäre, sondern, wie von mit erwartet, lediglich ein paar Schritte hinter dem Bus hervorgetreten wäre. Wer ist also nun für das Unglück verantwortlich? 3. Die Lösung In diesem Fall hat sich genau die Gefahr realisiert, die in der Anwendung der Conditio-sine-qua-non-Formel im Fall einer Doppelkausalität steckt. Diese ist deshalb nicht ganz leicht zu erkennen, weil es nicht die Doppelkausalität von Handlungen ist, denn zur Erklärung eines Zusammenstoßes sind die Handlungen beider beteiligten Verkehrsteilnehmer erforderlich, sondern um einen Fall der Doppelkausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen. Gerade deshalb, weil zu einem Zusammenstoß zwei gehören, tritt das Phänomen der Doppelkausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen im Straßenverkehr recht häufig auf, im Gegensatz zu dem Phänomen der Doppelkausalität von Handlungen, das in der Praxis selten ist. Bei einer Doppelkausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen kann man sich die Sorgfaltspflichtverletzung des einen Beteiligten hinweg denken, weil schon die des anderen für sich alleine zur Erklärung des Unfalls hinreicht. Verlangt man nun gemäß der Formel von der notwendigen Bedingung, dass die Sorgfaltspflichtverletzung des Täters nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele, so kommt man in diesen Fällen zur Ablehnung der Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung. Ebenso ist das Gericht im vorliegenden Fall verfahren, indem es den Angeklagten mit der Begründung freigesprochen hat, die, nach dem Grundsatz in dubio pro reo unterstellte, Sorgfaltspflichtverletzung des Kindes hätte für sich allein genügt, den Zusammenstoß zu erklären, selbst wenn der Angeklagte sich sorgfaltsgemäß verhalten hätte. Aber was dem einen Beteiligten recht ist, müsste dem anderen 21 BGH VRS 25, 262 (263). billig sein, mit der Konsequenz, dass der Unfall keinem der Beteiligten zugerechnet werden dürfte, wenn die Sorgfaltspflichtverletzungen beider Beteiligten so schwer waren, dass sie je für sich zur Erklärung des Unfalls ausreichen, ein inakzeptables Ergebnis. Um aber nun zu prüfen, ob außer der Sorgfaltspflichtverletzung des Opfers auch die des Täters eine hinreichende Bedingung für den Unfall war, dürfen wir nicht fragen, ob dieser auch dann passiert wäre, wenn der Täter sich sorgfaltsgemäß verhalten hätte, sondern, ob er auch dann passiert wäre, wenn sich das Opfer sorgfaltsgemäß verhalten hätte.22 Ergibt sich, dass der Erfolg auch unter diesen Voraussetzungen eingetreten wäre, so kann sich der Täter nicht mit dem Hinweis auf das gleichzeitige für den Erfolgseintritt hinreichende sorgfaltswidrige Verhalten des Opfers entlasten.23 Aus diesem Grunde ist auch die sog. Vermeidbarkeitstheorie, so wie sie üblicherweise formuliert wird, nicht haltbar. Sie wird dahin formuliert, dass der Täter nicht für einen Unfall verantwortlich ist, den er durch sorgfaltsgemäßes Verhalten nicht hätte vermeiden können.24 Dieses Vermeidbarkeitserfordernis führt dazu, dass gerade bei besonders schwerwiegenden Sorgfaltspflichtverletzungen eines oder gar beider Beteiligten sich jeder unter Berufung auf die Sorgfaltspflichtverletzung des anderen entlasten kann. Richtig ist das Vermeidbarkeitserfordernis allenfalls in dem Sinne, dass der Erfolg hätte vermieden werden können, wenn sich alle Beteiligten sorgfältig verhalten hätten.25 4. Was tun in der Klausur? Wenn Sie in der Klausur das Verteidigungsvorbringen unseres Angeklagten zu würdigen hätten, so könnten Sie etwa wie folgt formulieren: Nach dem Grundsatz in dubio pro reo ist als richtig zu unterstellen, dass das Kind derart kopflos und plötzlich auf die Straße gerannt ist, dass es auch dann vom Angeklagten überfahren worden wäre, wenn er den vorgeschriebenen 2 Meterabstand vom haltenden Bus eingehalten hätte. Damit ist aber noch nicht dargetan, dass der Angeklagte nicht durch seine Sorgfaltspflichtverletzung für den Unfall verantwortlich ist. Er wäre dies jedenfalls dann, wenn auch seine Sorgfaltspflichtverletzung, ebenso wie die des Opfers ein notwendiger Bestandteil einer hinreichenden Bedingung des Erfolges wäre. Dann läge ein Fall von Doppelkausalität von Sorgfaltspflichtverletzung vor. Um dies zu prüfen, muss nicht von der Sorgfaltspflichtverletzung des Täters, sondern von der des Opfers abgesehen werden. Es ist also zu unterstellen, dass das Kind lediglich ein paar Schritte hinter dem Bus hervorgetreten wäre, wobei es sich innerhalb der Schutzzone von 2 Metern gehalten hätte, wie es die für den Angeklagten in dieser Situation geltende Sorgfaltsregel unterstellt. Dann wäre der Unfall aber ebenfalls eingetreten, denn der Angeklagte hatte das Kind ja innerhalb der Schutz22 Ranft, NJW 1984, 1425 (1429); Puppe, in: NK (Fn. 5), vor § 13 Rn. 217. 23 Puppe (Fn. 5), § 3 Rn. 23 f. 24 Vgl. die Nachweise in Fn. 17. 25 Kindhäuser (Fn. 9), § 33 Rn. 40 f. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 494 Die Lehre von der objektiven Zurechnung und ihre Anwendung – Teil 1 zone von 2 Metern angefahren. Innerhalb dieser hinreichenden Bedingung des Erfolgeintritts war das Fehlverhalten des Angeklagten, das darin bestand, innerhalb der Schutzzone schneller als Anhaltegeschwindigkeit zu fahren, ein notwendiger Bestandteil. Deshalb ist der Angeklagte unabhängig davon, dass auch das unterstellte sorgfaltswidrige Verhalten des Kindes eine hinreichende Erfolgsbedingung war, für den Unfall verantwortlich. V. Der Lastzug-Radfahrer-Fall für Fortgeschrittene 1. Der Fall Die Entscheidung BGHSt 11, 1 ist vielleicht die berühmteste, sicher aber die am häufigsten besprochene Entscheidung des BGH überhaupt. Sie wird in jedem Lehrbuch behandelt und soll deshalb auch hier behandelt werden, obwohl der Fall für eine Klausur wohl zu schwierig ist. Der Angeklagte überholte mit seinem Sattelschlepper mit Anhänger einen Radfahrer im Abstand von 0,75 Meter, statt, wie vorgeschrieben einen Abstand von 1,50 bis 2,00 Meter einzuhalten. Der Radfahrer geriet unter die Vorderräder des Anhängers. Er war angetrunken. Ein Gutachter erklärte dem Gericht, dass es für angetrunkene Radfahrer typisch sei, ihr Rad in die Richtung einer sich nähernden Geräuschquelle zu ziehen. Zugunsten des Angeklagten LKW-Fahrers nahm der BGH dies als gegeben an. Er hätte aber auch bedenken müssen, dass der Radfahrer nicht unter die Vorderräder der Zugmaschine, sondern unter die des Anhängers geraten war, der Überholvorgang also in dem Moment, als er stürzte, bereits eingesetzt hatte. Aus Anlass dieses Falles entwickelte der BGH das Erfordernis der Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung26 und erklärte dieses Kausalitätserfordernis für nicht erfüllt, weil der Unfall möglicherweise auch eingetreten wäre, wenn der Täter einen Mindestabstand von 1,50 bis 2,00 Meter eingehalten hätte. Denn der Radfahrer war angetrunken. 2. Das Problem Nach dem Beweisergebnis war es nicht sicher, ob der angetrunkene Fahrer den Überholvorgang gemeistert hätte, wenn der LKW-Fahrer den Mindestabstand von 1,50 bis 2,00 Metern eingehalten hätte. Diese Ungewissheit beseitigte der BGH unter Anwendung des Zweifelsgrundsatzes, indem er davon ausging, dass der Radfahrer wegen seiner Trunkenheit auch bei diesem Überholabstand unter die Räder gekommen wäre. Deshalb sprach er den Angeklagten mangels Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung frei. Der größte Teil der Lehre ist ihm darin gefolgt.27 Roxin nahm an diesem Ergebnis Anstoß, weil es darauf hinausläuft, dass gerade denjenigen Rechtsgutsträgern, die sich zur Zeit der Täterhandlung bereits in Gefahr befinden, der Rechtsschutz entzogen wird. Deshalb entwickelte er aus Anlass dieser Entscheidung seine berühmte Risikoerhöhungstheorie.28 STRAFRECHT 3. Die Lösung Weder der BGH noch Roxin, noch seine Gegner haben erkannt, dass hier ein Problem der Doppelkausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen vorliegt. Nach dem Beweisergebnis steht fest, dass die Sorgfaltspflichtverletzung beider Beteiligter zusammen, also Trunkenheit des Radfahrers in Verbindung mit dem zu knappen Überholabstand des LKWs, eine hinreichende Bedingung für den Unfall darstellt, denn schließlich ist dieser ja eingetreten. Zweifelhaft ist nach dem Beweisergebnis aber, ob die Sorgfaltspflichtverletzung des Lastzugfahrers für sich allein betrachtet einen notwendigen Bestandteil dieser hinreichenden Bedingung darstellt. Sie wäre dann kein notwendiger Bestandteil der Erfolgsbedingung, wenn die Trunkenheit des Radfahrers allein hinreichend wäre, den Unfall zu erklären, auch wenn der Lastzugfahrer sich an den Mindestabstand von 1,50 bis 2,00 Meter beim Überholen gehalten hätte. Das ist nun zweifelhaft, und nicht etwa deshalb, weil der Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt werden kann, sondern weil es objektiv nicht feststeht, ob der Radfahrer in seiner Trunkenheit die Situation gerade noch gemeistert hätte oder eben nicht. Es könnte aber ein Fall von Mehrfachkausalität vorliegen. Das wäre dann der Fall, wenn der Unfall auch bei sorgfaltsgemäßem Verhalten des Radfahrers, also Fahren im nüchternen Zustand, allein aufgrund der Sorgfaltspflichtverletzung des Autofahrers, des zu knappen Überholabstandes, erklärbar wäre. Auch das steht nun objektiv nicht fest, denn niemand kann sagen, ob ein Radfahrer oder dieser individuelle Radfahrer in nüchternem Zustand einen Überholvorgang im Abstand von 0,75 m durch einen langen Lastzug überstanden hätte. Das ist keine Frage des Beweises, sondern eine prinzipielle Ungewissheit.29 Das Beweisergebnis stellt sich also wie folgt dar: Die Sorgfaltspflichtverletzung des Radfahrers, also seine Trunkenheit, ergibt ohne die Sorgfaltspflichtverletzung des LKWFahrers eine Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts von weniger als 100%. Die Sorgfaltspflichtverletzung des LKW-Fahrers, also das zu knappe Überholen, ergibt ohne die Sorgfaltspflichtverletzung des Radfahrers ebenfalls eine Erfolgswahrscheinlichkeit von weniger als 100%. Auf das genaue Zahlenverhältnis kommt es im Weiteren gar nicht an. Entscheidend ist, dass nach dem Beweisergebnis nur beide Sorgfaltspflichtverletzungen zusammen eine Wahrscheinlichkeitserklärung von 100% ergeben. Deshalb sind beide Sorgfaltspflichtverletzungen notwendiger Bestandteil der wahren und hinreichenden Bedingung des Unfalls. Und eben weil beide Sorgfaltspflichtverletzungen für eine 100%ige Kausalerklärung notwendig sind, brauchen wir zur Entscheidung dieses Falles nicht die Risikoerhöhungstheorie. Keine der Beteiligten kann sich mit der Sorgfaltspflichtverletzung des anderen entlasten. 26 BGHSt 11, 1 (6 f.); dazu Puppe (Fn. 5), § 3 Rn. 44 ff. Etwa Kühl (Fn. 9), § 4 Rn. 58; Wessels/Beulke (Fn. 9), Rn. 197; Weber (Fn. 9), § 22 Rn. 95 f. 28 Roxin ZStW 74 (1962), 411 (430 ff.). 27 29 Puppe (Fn. 5), § 3 Rn. 46. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 495 DIDAKTISCHE BEITRÄGE Ingeborg Puppe 4. Was tun in der Klausur? Der Fall wird Ihnen vermutlich in der Form gegeben, dass nach dem Beweisergebnis nicht feststeht, ob der Unfall auch eingetreten wäre, wenn der Lastzugfahrer beim Überholen den Mindestabstand eingehalten hätte. Darüber, ob der Unfall mit Sicherheit oder nur möglicherweise eingetreten wäre, wenn bei gegebenem zu geringen Überholabstand der Radfahrer nüchtern gewesen wäre, wird der Sachverhalt wahrscheinlich keine Aussagen machen. Sie können nun wie folgt argumentieren: Nach dem Sachverhalt steht fest, dass die Sorgfaltspflichtverletzungen beider Beteiligten zusammengenommen eine hinreichende Bedingung für den Eintritt des Unfalls darstellen. Nach dem Beweisergebnis steht nicht fest, ob die Sorgfaltspflichtverletzung des Lastzug-Fahrers auch für sich allein betrachtet eine notwendige Erfolgsbedingung darstellt, denn es ist offen, ob der angetrunkene Radfahrer den Überholvorgang überstanden hätte, wenn der Lastzugfahrer sich an den Mindestabstand von 1,50 bis 2,00 Meter gehalten hätte. Es steht nun aber ebenso wenig fest, dass die Sorgfaltspflichtverletzung des Radfahrers für sich allein eine hinreichende Erfolgsbedingung darstellt, denn niemand kann wissen, ob gerade dieser Radfahrer im nüchternen Zustand einen Überholvorgang im Abstand von 0,75 m gemeistert hätte. Da aber beide Sorgfaltspflichtverletzungen zusammen eine 100%ige Erfolgserklärung ergeben, so ist jede von ihnen für diese Erfolgserklärung notwendig. Der Lastzugfahrer kann sich also zu seiner Entlastung nicht darauf berufen, dass eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Radfahrer auch bei ordnungsgemäßem Überholabstand unter die Räder geraten wäre.30 30 Teil 2 des Beitrages erscheint in der nächsten Ausgabe. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 496 Übungsfall: Die falsche Frau Von Ass. iur. Dr. Gregor Roth, Rechtsanwältin Silke Warmer, Hamburg* Schwerpunkte: Eigentumsübertragung, Stellvertretung, Probleme bei Bruchteilsgemeinschaft (Miteigentümerschaft), GoA, Bereicherungsrecht. Sachverhalt V und „seine Frau“ L erscheinen vor dem Notar N und erklären, sie wollten das ihnen jeweils zu hälftigem Miteigentum gehörende Hausgrundstück Bachstr. 13 in Hamburg-Ohlsdorf an K verkaufen. K beabsichtigt, das Haus sobald wie möglich grundlegend umzubauen. Als Eigentümer des Grundstücks sind V und seine Ehefrau entsprechend im Grundbuch eingetragen. Grundstück und Haus sind für noch 5 Jahre an die Familie W verpachtet. Nach Beurkundung des Vertrages und der Auflassung wird der Eigentumswechsel im Grundbuch eingetragen. K überweist den vereinbarten Kaufpreis in Höhe von jeweils 200.000 € auf die Konten von V bzw. L. Die Benachrichtigung über die Eigentumsumschreibung wird auch an Vs Ehefrau F geschickt, die „aus allen Wolken fällt“, als sie erfährt, dass ihr Haus verkauft sein soll. Die seit längerer Zeit von ihrem Ehemann getrennt lebende F fährt sofort zum Notar N, den sie zur Rede stellt: sie habe ihr Haus gar nicht verkauft und wolle dies auch niemals tun. Im Angesicht von F bemerkt N seinen Irrtum: er hatte bei der Beurkundung des Kaufvertrages und der Auflassung die L als Frau von V angesehen, da V diese seit Jahren als seine Frau ausgegeben hatte. Tatsächlich aber war sie nur seine Lebensgefährtin. Da L und V dem N von Person bekannt waren, hatte er zudem auf eine Überprüfung der Personalien verzichtet. Vorsorglich erkundigt sich F zudem beim zuständigen Grundbuchamt, ob V und L noch die anderen V und F zu Miteigentum gehörenden, wertvolleren Grundstücke verkauft haben. Dem ist aber zum Glück nicht so. F wendet sich an Sie als Rechtsanwalt. Sie bittet um Auskunft, welche Ansprüche sie gegen K, V und L geltend machen sollte, um ihre Interessen in Bezug auf das Grundstück am besten zu wahren. Eventuelle Ansprüche wegen des Pachtzinses sind nicht zu prüfen. Nicht zu beachten sind etwaige Kosten einer Rechtsverfolgung Ansprüche der F gegen K I. §§ 985, 1011, 432 BGB auf Herausgabe des Grundstücks an sich selbst und V gemeinsam F könnte einen Anspruch gegen K auf Herausgabe des Grundstücks an sich selbst und V gemeinsam aus §§ 985, 1011, 432 BGB haben. 1. Miteigentum von F und V1 * Ass. iur. Dr. Gregor Roth ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Steuerrecht der Bucerius Law School Hamburg. Silke Warmer ist Rechtsanwältin in der Kanzlei Happ Luther und Partner, Hamburg. 1 Wenn man mit der Prüfung beginnt, ob K Besitz an dem Grundstück hat, muss man im Rahmen der Prüfung, ob K mittelbarer Besitzer ist und F einen Anspruch auf Abtretung Dazu müsste das Grundstück Bachstr. 13 weiterhin im Gesamteigentum von F und V stehen. Ursprünglich stand das Eigentum am Grundstück V und F zu je hälftigen Bruchteilen zu und damit in ihrem Miteigentum, § 1008 BGB. F und V könnten ihr Eigentum an K verloren haben. Dies könnte durch die Erklärungen von V und L gegenüber K beim Notar geschehen sein, das Grundstück auf K übertragen zu wollen. Insoweit ist fraglich, ob und in welchem Umfang eine Eigentumsübertragung an K statt gefunden hat. Miteigentum ist ein Unterfall einer Bruchteilsgemeinschaft. Somit ist bei der Übertragung des Bruchteilseigentums nach § 747 BGB zwischen der des Gesamteigentums (S. 2) und jener eines Miteigentumsanteils (S. 1) zu unterscheiden. a) Verfügung über das Gemeinschaftseigentum V und F könnten zunächst ihr Miteigentum durch gemeinschaftliche Verfügung gem. §§ 873 Abs. 1, 925 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. § 747 S. 2 BGB an K verloren haben. Voraussetzung dafür ist, dass sich K, V und F über den Eigentumsübergang auf K einig waren. Dazu müssten drei inhaltlich übereinstimmende und korrespondierende Willenserklärungen vorliegen. aa) Erklärungen von K und V K hat eine wirksame Einigungserklärung abgegeben. Auch V könnte erklärt haben, das gemeinschaftliche Eigentum an dem Grundstück auf K übertragen zu wollen. Die Erklärung gegenüber K und dem Notar, seinen Miteigentumsanteil zeitgleich mit dem seiner Ehefrau an K übertragen zu wollen, ist nach §§ 133, 157 BGB dahin auszulegen, dass er gemeinsam mit seiner Ehefrau über das Grundstück verfügen will. Es liegt damit eine entsprechende Erklärung des V vor. bb) Erklärung von F Schließlich müsste auch F eine Auflassungserklärung abgegeben haben. Die F wusste bis zur Benachrichtigung über die Eigentumsumschreibung von den Vorgängen nichts. Sie hat auch keine eigene Willenserklärung abgegeben. F könnte jedoch durch V oder L wirksam vertreten worden sein mit der Wirkung, dass sie durch die Erklärung von V bzw. L berechtigt und verpflichtet worden ist (vgl. § 164 Abs. 1 BGB). Dazu müssten die Voraussetzungen einer wirksamen Stellvertretung vorliegen. (1) Vertretung durch V F könnte durch ihren Ehemann V vertreten worden sein. Er müsste dafür eine eigene Willenserklärung im fremden Namen und mit Vertretungsmacht abgegeben haben (§ 164 seines Herausgabeanspruchs gegen W hat, bei dem (möglichen) Eintritt des K in den Pachtvertrag nach §§ 566 Abs. 1, 578 Abs. 1 BGB prüfen, ob das Grundstück wirksam übereignet worden ist (da das Voraussetzung von § 566 BGB ist); um diese Verschachtelung zu vermeiden, wird mit dem Punkt „Eigentum von F und L“ begonnen. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 497 ÜBUNGSFALL Gregor Roth/Silke Warmer Abs. 1 BGB). Hier hat V im eigenen Namen gehandelt. Ein Handeln für F war nicht erkennbar. Damit scheitert eine Vertretung schon an der notwendigen Offenkundigkeit. V hat damit F nicht wirksam vertreten. Etwas anderes folgt vorliegend auch nicht aus § 1357 Abs. 1 BGB, da V und F getrennt lebten und somit die Vorschrift gemäß § 1357 Abs. 3 BGB von vornherein keine Anwendung findet. (2) Vertretung durch L F könnte aber durch L vertreten worden sein, da L gegenüber K als die Ehefrau des V, mithin als F, aufgetreten ist. In Abgrenzung zur Botenstellung müsste L eine eigene Willenserklärung abgegeben haben, was der Fall ist. Des Weiteren müsste L die Erklärung in fremdem Namen – nämlich im Namen der F – abgegeben haben. Neben einem ausdrücklichen Handeln in fremdem Namen ist dazu nach § 164 Abs. 1 S. 2 BGB auch ausreichend, wenn sich aus den Umständen ergibt, dass für einen anderen gehandelt wird. Bei lebensnaher Auslegung des Sachverhalts hat die L bei Abgabe der Auflassungserklärung den Namen der F benutzt. Davon ist auszugehen, da F im Grundbuch eingetragen war und weder K den Vertrag mit einer anderen Person als Vertragspartner geschlossen, noch N diesen Vertrag beurkundet hätte. L hat jedoch nicht offen gelegt, dass es sich bei dem verwendeten Namen um einen fremden handelt. Vielmehr ist sie unter diesem Namen aufgetreten. Es liegt damit kein Handeln in fremden Namen, sondern ein sogenanntes Handeln unter fremdem Namen vor,2 auf das die §§ 164 ff. BGB nicht direkt anzuwenden sind. Fraglich ist, welche Rechtsfolgen ein Handeln unter fremdem Namen hat. In Betracht kommt zum einen ein Eigengeschäft des Handelnden, wenn es sich um einen Fall der bloßen Namenstäuschung handelt. Zum anderen sind die §§ 164 ff. BGB entsprechend anwendbar, wenn es sich um einen Fall der Identitätstäuschung handelt. Eine bloße Namenstäuschung liegt vor, wenn der Handelnde sich selbst verpflichten will und dem Vertragspartner die Identität des Handelnden gleichgültig ist. Dagegen liegt ein Fall der Identitätstäuschung vor, wenn der Handelnde das Geschäft für den Namensträger abschließen will und es dem Geschäftsgegner gerade auf die Identität seines Geschäftspartners ankommt. Gleiches gilt auch, wenn der Handelnde das Geschäft zwar für sich selbst abschließen will, aber weiß oder damit rechnet, dass der Geschäftsgegner nur mit dem Namensträger kontrahieren will.3 Entscheidend für die vorzunehmende Abgrenzung ist damit nicht allein die innere Willensrichtung des Handelnden, sondern ob der Erklärungsempfänger den Vertrag mit dem wirklichen Namensträger abschließen will.4 K kam es darauf an, 2 Es war ein Schwerpunkt der Klausur, die Rolle der L bei der Übereignung richtig einzuordnen. Das Handeln unter fremdem Namen wurde jedoch von den wenigsten Bearbeitern erkannt. 3 Vgl. dazu Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, 9. Aufl. 2004, § 46 Rn. 97 ff. 4 BGHZ 45, 193 (195 f.); Brox/Walker, Allgemeiner Teil des BGB, 32. Aufl. 2008, Rn. 528 ff.; Heinrichs, in: Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 164 Rn. 10. sich mit V und F über den Eigentumsübergang zu einigen. Denn nur die tatsächlichen Eigentümer5 konnten K Eigentum verschaffen. Die Person seines Vertragspartners war dem K folglich nicht gleichgültig, so dass es sich nicht bloß um eine Namens-, sondern um eine Identitätstäuschung handelt. Infolgedessen sind die §§ 164 ff. BGB entsprechend anzuwenden.6 Damit F wirksam verpflichtet worden ist, müsste L weiterhin mit Vertretungsmacht gehandelt haben. Gesetzliche Vertretungsmacht hatte L nicht, außerdem hat F der L keine Vollmacht erteilt. L handelte somit als Vertreterin ohne Vertretungsmacht und ihre Einigungserklärung war somit analog § 177 Abs. 1 BGB schwebend unwirksam. Die Wirksamkeit des Einigungsvertrages hängt damit von einer Genehmigung der F ab. F hat gegenüber dem N erklärt, das Grundstück niemals verkaufen zu wol-len. Dies kann nur dahin verstanden werden, dass F das Geschäft nicht genehmigen möchte, so dass von der endgültigen Unwirksam-keit des Geschäfts auszugehen ist. Damit liegt seitens der F keine Einigungserklärung vor. Da V und F gem. § 747 S. 2 BGB nur gemeinsam über das Grundstück im Ganzen verfügen können, fehlt es damit an einer wirksamen Einigung bezüglich der Eigentumsübertragung an K. b) Verfügung über den Miteigentumsanteil7 Unbeschadet der gescheiterten Eigentumsübertragung des ganzen Grundstückes an K könnten die Erklärungen von K und V wenigstens die Einigung über die Übertragung des Miteigentumsanteils des V an K gem. §§ 873 Abs. 1, 925 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 747 S. 1 BGB enthalten. 5 Abgesehen von einem gutgläubigen Erwerb vom Bucheigentümer. 6 Vgl. BGH NJW 1985, 2484 zur Veräußerung eines Pkw, bei der der Veräußerer vorgab, die im Kfz-Brief eingetragene Person zu sein. 7 Da es schon an einer Auflassungserklärung seitens der F fehlt und auch keine Erklärung der L vorliegt (auf die von ihr abgegebene Erklärung finden die §§ 164 ff. BGB Anwendung), sind weitere Punkte bezüglich der Verfügung über den Anteil der F nicht zu prüfen. Insbesondere ist die Prüfung eines gutgläubigen Erwerbs hier aus zwei Gründen fehl am Platz. Zum einen ersetzt der gute Glaube nicht die Willenserklärung, sondern hilft nur über eine fehlende Verfügungsbefugnis hinweg (vgl. BGH NJW 1985, 2484, wo das Vorliegen einer Willenserklärung beim Handeln unter fremdem Namen verneint und gutgläubiger Erwerb als nicht einschlägig angesehen wird; eine Vorinstanz hatte allerdings das Problem auch über gutgläubigen Erwerb gelöst). Zum anderen schützt der öffentliche Glaube des Grundbuchs nach § 892 Abs. 1 BGB nicht das Vertrauen in die Identität des Verfügenden (RGZ 128, 276 [279]; Gursky, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2008, § 892 Rn. 64; inzident Krause, in: DaunerLieb u.a. (Hrsg.), Anwaltkommentar zum BGB, 2004, § 892 Rn. 20). Selbst wenn man (fälschlicherweise) ein Eigengeschäft der L annimmt, kommt man mit dem gutgläubigen Erwerb nicht zu einer wirksamen Eigentumsübertragung. L ist nämlich nicht im Grundbuch eingetragen, weshalb ein gutgläubiger Erwerb von ihr nicht möglich ist. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 498 ZIVILRECHT Die falsche Frau Die Einigungserklärung des V, das Gesamteigentum an dem Grundstück Bachstr. 13 an K übertragen zu wollen, kann möglicherweise nach § 140 BGB dahin umgedeutet werden, an K wenigstens seinen Miteigentumsanteil zu übertragen.8 Der Wirksamkeit der umgedeuteten Willenserklärung steht § 1365 Abs. 1 S. 2 BGB nicht entgegen. Diese Vorschrift könnte zwar einschlägig sein, da V auch den Kaufvertrag ohne Wissen und folglich ohne Einwilligung seiner Ehefrau F geschlossen hat. Die Eheleute haben aber noch weitere wertvollere Grund-stücke in ihrem Miteigentum, so dass es sich bei dem fraglichen Miteigentumsanteil weder um das Vermögen im Ganzen noch um einen wesentlichen Teil des Vermögens des V handelte. Eine Einwilligung der F war damit nicht erforderlich. Eine entsprechende Umdeutung müsste auch hinsichtlich der Einigungserklärung des K möglich sein. Dies ist der Fall, wenn anzunehmen wäre, dass K bei Kenntnis der Unwirksamkeit der Einigung über die Verfügung des ganzen Grundstücks wenigstens den Miteigentumsanteil des V hätte erwerben wollen. Gegen einen solchen Willen des K spricht, dass dieser beabsichtigt, das Haus so schnell wie möglich grundlegend umzubauen. Dieses Vorhaben kann er sicher nur realisieren, wenn er Alleineigentümer des Grundstücks ist. Es ist folglich nicht anzunehmen, dass er eine Erklärung nur hinsichtlich des Erwerbs des Miteigentumsanteils des V abgegeben hätte. Da jedenfalls die Erklärung des K nicht umgedeutet werden kann, fehlt es an der Einigungserklärung des K bezüglich des Erwerbs nur des Miteigentumsanteils des V. Es ist somit auch keine wirksame Verfügung allein über den Miteigentumsanteil des V erfolgt. Hinweis für eine alternative Lösung: Es herrscht Streit über die Frage, welche Vorschrift im Fall einer unwirksamen Verfügung über einen Miteigentumsanteil zur Anwendung kommt. Während die obige Lösung der Meinung folgt, die § 140 BGB anwenden möchte, plädieren die Vertreter der Gegenauffassung für die Anwendung von § 139 BGB. Hintergrund dieses Streits ist die unterschiedliche Beurteilung der Verfügung über Miteigentum. Während die Vertreter der ersten Meinung die Miteigentumsübertragung als ein einheitliches Rechtsgeschäft (zusammengesetzt aus der Übertragung der verschiedenen Miteigentumsanteile) ansehen und deshalb § 140 BGB anwenden, verstehen die Anhänger der zweiten Auffassung die Verfügung über das Miteigentum im Ganzen nur als koordinierte Verfügung über die einzelnen Miteigentumsanteile. Folgerichtig wenden sie § 139 BGB an. Eine Lösung über diesen Weg kommt zum gleichen Ergebnis. Der Lösungsweg stellt sich dann wie folgt dar: Die Verfügung des V über seinen Miteigentumsanteil könnte aber wirksam sein. Dazu müssten die weiteren Voraussetzungen einer Eigentumsübertragung vorliegen, insbesondere müsste K im Grundbuch eingetragen worden und V verfügungsbefugt gewesen sein. K ist 8 Vgl. BGH WM 1964, 913; NJW 1994, 1470 (1471); Langhein, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2002, § 747 Rn. 74. im Grundbuch eingetragen worden. Der Verstoß des N gegen § 10 Abs. 2 S. 1 BeurkG dadurch, dass N sich keine Gewissheit über die Personen der Beteiligten verschafft hat, führt nicht dazu, dass die Erklärungen nicht in der von § 29 Abs. 1 S. 1 GBO geforderten Form nachgewiesen sind, da ein Verstoß gegen § 10 Abs. 2 S. 1 BeurkG nicht zur Nichtigkeit der Beurkundung führt9. Außerdem wird § 29 GBO nur als bloße Ordnungsvorschrift angesehen, so dass ein Verstoß nicht zur Unwirksamkeit der Eintragung führen würde.10 Die Eintragung des K ist damit wirksam vorgenommen worden. Des Weiteren müsste V verfügungsbefugt gewesen sein. Dies ist bezüglich seines eigenen Miteigentumsanteils – und nur über diesen hat V verfügt – unproblematisch (vgl. § 747 S. 1 BGB). Damit war die Verfügung des V über seinen Miteigentumsanteil zunächst wirksam. Fraglich ist allerdings, wie sich die Unwirksamkeit der Verfügung über den Miteigentumsanteil der F auf die Verfügung über den Anteil des V auswirkt. Die Verfügung über den gemeinschaftlichen Gegenstand im Ganzen stellt eine koordinierte Verfügung der einzelnen Miteigentümer über ihre Anteile dar, so dass § 139 BGB Anwendung findet, wenn eine Verfügung unwirksam ist.11 Die anderen Verfügungen sind somit ebenfalls unwirksam, wenn nicht anzunehmen ist, dass sie auch ohne den nichtigen Teil (die unwirksame Verfügung) vorgenommen sein würden. Im vorliegenden Fall plante K, das Haus schnellstmöglich grundlegend umzubauen. Da er dieses Vorhaben sicher nur dann verwirklichen kann, wenn er Alleineigentümer ist, ist davon auszugehen, dass K kein Interesse daran hat, Miteigentum gemeinsam mit F zu erhalten. Es ist folglich nicht anzunehmen, dass die Verfügung auch ohne eine Verfügung über den Miteigentumsanteil der F vorgenommen worden wäre. Demzufolge ist hiernach das ganze Rechtsgeschäft, also auch die Übertragung nur des Anteils des V, nichtig. c) Ergebnis F und V sind nach wie vor hälftige Miteigentümer des Grundstücks Bachstr. 13. 2. Besitz des K Weiterhin müsste K Besitzer des Grundstücks sein. Unmittelbarer Besitzer ist Familie W als Pächter des Grundstücks (§ 854 BGB). 9 Limmer, in: Eylmann/Vaasen, BNotO/BeurkG, 2. Aufl. 2004, § 10 BeurkG Rn. 1; Huhn/v. Schuckmann, BeurkG, 3. Aufl. 2001, § 10 Rn. 4; Winkler, BeurkG, 16. Aufl. 2008, § 10 Rn. 36. 10 Demharter, GBO, 26. Aufl. 2008, § 29 Rn. 2; Bassenge, in: Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 873 Rn. 13. 11 RG JW 1910, 473; K. Schmidt, in: Münchener Kommentar zum BGB, 4. Aufl. 2004, § 747 Rn. 30; dagegen Sprau, in: Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 747 Rn. 4. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 499 ÜBUNGSFALL Gregor Roth/Silke Warmer a) Mittelbarer Besitz K könnte aber mittelbarer Besitzer sein. Dem Eigentümer steht auch gegen den mittelbaren Besitzer ein Anspruch aus § 985 BGB zu und zwar wahlweise auf Abtretung seines Herausgabeanspruchs gegen den unmittelbaren Besitzer oder auf Herausgabe.12 Aufgrund des Pachtvertrages könnte die Familie W dem K Besitz im Sinne des § 868 BGB mitteln. Ein solches Pachtverhältnis zwischen K und W mit dem Herausgabeanspruch aus §§ 581 Abs. 2, 546 Abs. 1 BGB kommt jedoch nur dann in Betracht, wenn K gemäß §§ 581 Abs. 2, 578 Abs. 1, 566 Abs. 1 BGB in den Pachtvertrag eingetreten ist. Ein Eintritt nach § 566 Abs. 1 BGB setzt voraus, dass die Mietsache an einen Dritten veräußert wird. Der Begriff der „Veräußerung“ erfordert hier eine wirksame Verfügung.13 Die Eigentumsübertragung des Grundstücks an K war jedoch gerade nicht wirksam. Damit ist K nicht kraft Rechtsnachfolge im Eigentum in den Pachtvertrag eingetreten. Der Pachtvertrag begründet somit kein Besitzmittlungsverhältnis zwischen K und der Familie W. Der unwirksame Eintritt in den Pachtvertrag könnte gleichwohl zur Begründung eines entsprechenden Besitzmittlungsverhältnisses geführt haben. Es ist allgemein anerkannt, dass die Rechtsunwirksamkeit eines Besitzmittlungsverhältnisses unschädlich ist, sofern der mittelbare Besitzer irgendeinen Herausgabeanspruch gegen den unmittelbaren Besitzer hat, den dieser anerkennt.14 Vorliegend hat K allein aufgrund der Grundbucheintragung gegen die Familie W keinen Herausgabeanspruch durch dessen Anerkennung Familie W ihren Besitzmittlungswillen gegenüber K zum Ausdruck bringt. K ist somit nicht mittelbarer Besitzer des Grundstücks geworden. b) Buchbesitz K könnte jedoch aufgrund seiner zwischenzeitlichen Eintragung im Grundbuch als sogenannter Buchbesitzer Besitzer i.S.v. § 985 BGB sein. Der bloße Buchbesitz genügt jedoch nicht für den Anspruch aus § 985. § 894 BGB ist insoweit gewissermaßen ein „auf Herausgabe des Buchbesitzes“ gerichtetes Pendant zu § 985 BGB.15 K ist damit nicht Besitzer des Grundstücks Bachstr. 13. 3. Ergebnis F hat gegen K keinen Anspruch auf Herausgabe des Grundstücks gem. §§ 985, 1011, 432 BGB an sich und V gemeinsam. II. § 894 BGB (in Verbindung mit § 1011 BGB) auf Zustimmung zur Grundbuchberichtigung 16 F könnte gegen K einen Anspruch auf Zustimmung zur Grundbuchberichtigung gem. § 894 BGB haben. 1. Anspruch entstanden Dazu müsste der Anspruch auf Grundbuchberichtigung zunächst einmal entstanden sein. a) Diskrepanz zwischen formeller und materieller Rechtslage Das setzt zunächst die Unrichtigkeit des Grundbuchs, also eine Diskrepanz zwischen formeller und materieller Rechtslage voraus. Formell ist K Eigentümer des Grundstücks, während tatsächlich weiterhin V und F Bruchteilseigentümer sind. Damit ist das Grundbuch unrichtig. Durch eine Berichtigung des Grundbuches wäre die formelle Rechtsposition des K betroffen. K ist damit der richtige Anspruchsgegner. Schließlich ist ein Recht der F nicht eingetragen. Daneben ist auch das Recht des V nicht eingetragen. Somit ist ein Anspruch auf Grundbuchberichtigung zunächst entstanden. b) Umfang des Anspruchs Fraglich ist, welche Auswirkungen es auf den Umfang des Grundbuchberichtigungsanspruchs der F hat, dass sowohl ihr Recht als auch das des V nicht eingetragen ist. Aus eigenem Recht kann F nur die Berichtigung ihres Miteigentumsanteils verlangen. Darüber hinaus ordnet § 1011 BGB einen Fall der gesetzlichen Prozessstandschaft an.17 Danach kann jeder Miteigentümer die Ansprüche aus dem (gesamten) Eigentum Dritten gegenüber geltend machen. Damit besteht für F die Möglichkeit, sowohl ihren als auch den Anspruch des V gegenüber K geltend zu machen. Allerdings muss F nicht von § 1011 BGB Gebrauch machen. Es steht jedem Miteigentümer frei, auch nur sein eigenes Recht geltend zu machen.18 F kann auch nur ihr Miteigentum geltend machen und deshalb von K die Zustimmung zur Eintragung als Miteigentümerin verlangen. Der F steht demzufolge ein Grundbuchberichtigungsanspruch gegenüber K aus § 894 BGB zu, wobei sie wahlweise nur ihr Miteigentum oder zusätzlich auch das Miteigentum des V geltend machen kann. 2. Anspruch durchsetzbar Fraglich ist jedoch, ob der Grundbuchberichtungsanspruch auch durchsetzbar ist. K könnte nämlich ein Zurückbehaltungsrecht aus § 273 BGB wegen eventueller Gegenansprüche zustehen. In Betracht kommen allerdings nur Ansprüche des K gegenüber V, nicht gegenüber der F. Besteht ein Gegenan16 12 Bassenge (Fn. 10), § 985 Rn. 9. Weidenkaff, in: Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 566 Rn. 8. 14 Bassenge (Fn. 10), § 868 Rn. 6. 15 Wacke, in: Münchener Kommentar zum BGB, 4. Aufl. 2004, § 894 Rn. 2. 13 Man kann auch mit der Prüfung dieses Anspruchs beginnen. Die Eigentumsproblematik ist dann im Rahmen dieses Anspruchs anzusprechen. 17 BGHZ 79, 245 (247); Bassenge (Fn.10), § 1011 Rn. 2; Gursky, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2006, § 1011 Rn. 7. 18 OLG München NJW 1955, 637; Gursky (Fn. 17), § 1011 Rn. 5. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 500 Die falsche Frau spruch jedoch nur gegenüber einem Mitgläubiger (§ 432 BGB), kommt ein Zurückbehaltungsrecht nicht in Betracht.19 K kann daher gegen den Anspruch kein Zurückbehaltungsrecht geltend machen. Ebenso wenig sind andere Gründe ersichtlich, an denen die Durchsetzbarkeit des Anspruchs scheitern könnte. 3. Ergebnis F hat gegen K einen Anspruch auf Grundbuchberichtigung gem. § 894 BGB i.V.m. § 1011 BGB, wobei sie wahlweise nur ihr Miteigentum oder zusätzlich das Miteigentum des V geltend machen kann. III. § 899 Abs. 1 BGB i.V.m. § 1011 BGB auf Eintragung eines Widerspruchs Neben dem Anspruch auf Berichtigung des Grundbuchs hat F gegen K gem. § 899 Abs. 1 BGB auch einen Anspruch auf Eintragung eines Widerspruchs, um den gutgläubigen Erwerb Dritter von K (§ 892 BGB) zu verhindern. Dabei steht es ihr wiederum frei, den Anspruch nur hinsichtlich ihres Miteigentumsanteils oder auch bezüglich des Anteils von V über § 1011 BGB geltend zu machen. IV. §§ 989, 990, 249 BGB auf Berichtigung des Grundbuches F könnte gegen K als Bucheigentümer einen Anspruch auf Grundbuchberichtigung aus §§ 989, 990, 249 BGB haben. 1. Vindikationslage Dazu müsste zunächst zwischen F und K eine Vindikationslage bestehen. Da K mangels Eigentumserwerb nicht mittelbarer Besitzer geworden ist, besteht keine Vindikationslage gem. § 985 BGB. Gleichwohl wendet die ganz h.M. die §§ 987 ff. BGB auf das Verhältnis wahrer Eigentümer – Bucheigentümer entsprechend an.20 Da K Bucheigentümer und F wahre Eigentümerin des Grundstücks ist, finden daher die §§ 987 ff. BGB Anwendung. 2. Voraussetzungen §§ 989, 990 BGB Weiterhin müssten die Voraussetzungen des § 989 BGB erfüllt sein. Da K bisher nicht verklagt ist, müsste K zum Zeitpunkt des Erwerbs – also der Eintragung – nicht im guten Glauben gewesen sein bzw. nachträglich positive Kenntnis erlangt haben. Laut Sachverhalt war K zum Zeitpunkt der Eintragung gutgläubig, da er von der Identitätstäuschung durch die L nichts wusste. Mithin kommt nur positive Kenntnis nach Eintragung in Betracht. Insoweit ergibt sich aus dem Sachverhalt aber nichts. Es fehlt somit am Merkmal der Bösgläubigkeit des K.21 19 Krüger, in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2007, § 273 Rn. 9; Heinrichs (Fn. 4), § 273 Rn. 6; jeweils unter Hinweis auf BGH DNotZ 1985, 551. 20 Vgl. dazu Gursky (Fn. 7), § 894 Rn. 158 m.w.N. 21 Nimmt man Kenntnis des K an, ändert dies am Ergebnis nichts, da der einzige Schaden der F – der Verlust ihrer ZIVILRECHT 3. Ergebnis F hat gegen K keinen Anspruch auf Grundbuchberichtigung aus §§ 989, 990, 249 BGB. V. § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB auf Wiedereinräumung der Buchposition Ein Anspruch der F aus § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB auf Beseitigung der Störung, also Wiedereinräumung des Buchbesitzes, besteht nicht, weil § 894 BGB spezieller ist und dem Anspruch aus § 1004 BGB in seinem Anwendungsbereich vorgeht.22 VI. § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. BGB auf Herausgabe der Grundbuchposition hinsichtlich des Miteigentumsanteils des F F könnte gegen K einen Anspruch auf Herausgabe der Buchposition aus § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. BGB hinsichtlich ihres Miteigentumsanteils haben. Dazu müsste K etwas ohne Rechtsgrund durch Leistung der F erlangt haben. K hat die Grundbuchposition hinsichtlich des Miteigentumsanteils der F erlangt. Dieses „etwas“ müsste K durch Leistung der F erlangt haben. 1. Leistung der L? Leistung ist jede bewusste und zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens.23 F müsste also das Vermögen des K bewusst und zweckgerichtet um die Grundbuchposition gemehrt haben. F hat selbst nicht gehandelt, sondern vielmehr L in „Erfüllung“ der Verpflichtung aus einem vermeintlichen Kaufvertrag. Betrachtet man allein die Beziehung K – L liegt danach in diesem Verhältnis scheinbar eine Leistung vor, die eine Leistung der F ausschließt. Dabei bliebe aber unbeachtet, dass die Personen des Leistenden und des Leistungsempfängers nach Ansicht der Rechtsprechung in erster Linie nach der Zweckbestimmung der Zuwendung, also dem Zweck, den die Beteiligten im Zeitpunkt der Zuwendung nach ihrem zum Ausdruck gekommenen Willen mit dieser verfolgt haben, zu bestimmen sind.24 Dieses Kriterium wird freilich vorwiegend nur dann herangezogen, wenn mehr als zwei Personen beteiligt sind.25 Denn in aller Regel besteht nur in diesen Fällen Unsicherheit über die Beteiligten der Leistungsbeziehung. Ist eine übereinstimmende Zweckbestimmung der Zuwendung nicht festzustellen, so ist zur Bestimmung der Person des Leistenden auf eine objektive Betrachtungsweise aus Sicht Grundbuchposition – bereits vor Kenntniserlangung entstanden ist und zudem von K nicht zu vertreten ist. 22 Bassenge (Fn. 10), § 1004 Rn. 3. 23 H.M.; BGHZ 105, 365 (369); BGH NJW 1999, 1393 (1394); Sprau (Fn. 11), § 812 Rn. 3; vgl. zur Kritik am modernen Leistungsbegriff nur Lieb, in: Münchener Kommentar zum BGB, 4. Aufl. 2004, § 812 Rn. 26 ff; Schall, Leistungskondiktion und Sonstige Kondiktion, 2003, S. 41 ff.; grundlegend Canaris, in: Paulus (Hrsg.), Festschrift für Karl Larenz zum 70. Geburtstag, 1973, S. 799 ff. 24 BGHZ 82, 28 (30); BGH NJW 2002, 2871. 25 BGHZ 82, 28 (30); BGH NJW 2002, 2871. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 501 ÜBUNGSFALL Gregor Roth/Silke Warmer des Empfängers abzustellen.26 Zwar ist Hintergrund auch hierfür in aller Regel der Fall, dass mehrere Beteiligte als Leistende in Frage kommen und nicht die Situation, dass Unklarheit bzw. ein Irrtum über die Identität einer Person besteht. Nichtsdestotrotz ist diese allgemeine Regel auch auf andere Situationen anzuwenden, in denen aufgrund der faktischen Beteiligung von mehr als zwei Personen Unklarheit über die Person des Leistenden besteht. Dies gilt insbesondere für Vertretungsfälle.27 Wendet man daher aufgrund der entsprechenden Anwendbarkeit der Vertretungsregeln auf den Fall des Handelns unter fremden Namen die allgemeinen Wertungskriterien des BGH zur Bestimmung der Person des Leistenden an, ist hier auf die Sicht des K abzustellen. Da L unter dem Namen der F auftrat und dies für K nicht erkennbar war, leistete aus seiner Sicht F als „Vertretene“. Damit wäre unter Zugrundelegung des Empfängerhorizonts die Leistung von F erbracht worden. 2. Leistung der F? Dieses Ergebnis könnte allerdings vor dem Hintergrund zu korrigieren sein, dass die F die „Leistung“ der L weder veranlasst noch davon etwas gewusst hat. Die Bestimmung des Leistenden aus der Sicht des Empfängers ist nur der erste Schritt zur Konkretisierung der Leistungsbeziehungen. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH ist anhand weiterer wertender Kriterien das gefundene Ergebnis in einem weiteren Schritt auf seine „Richtigkeit“ zu überprüfen; eine schematische Beurteilung verbietet sich insoweit.28 Das Ergebnis, dass die Leistung der F zugerechnet wird, obwohl diese von den Vorgängen keine Kenntnis hatte, ist unter dem Gesichtspunkt der Veranlassung fragwürdig. Insoweit verhält es sich im vorliegenden Fall ähnlich wie bei Anweisungsfällen.29 In ständiger Rechtsprechung hält der BGH den scheinbar Anweisenden aus der Rückabwicklung heraus, wenn dieser die fehlerhafte Überweisung der Bank nicht veranlasst hat.30 Anderenfalls bliebe der in der Rechtsscheinslehre allgemein anerkannte Grundsatz außer Acht, dass der gutgläubige Vertragsgegner nur dann geschützt werden kann, wenn der andere Vertragsteil den Rechtsschein in zurechenbarer Weise hervorgerufen hat. Der so genannte Empfängerhorizont des Zahlungsempfängers vermag deshalb in diesen Fällen die 26 BGHZ 105, 365 (369);122, 46, (50); BGH NJW 1999, 1393 (1394). 27 Allgemein dazu Westermann, in: Erman, BGB, 12. Aufl. 2008, § 812 Rn. 18; Lieb (Fn. 23), § 812 Rn. 105; HeimannTrosien, in: RGRK, Kommentar zum BGB, 12. Aufl. 1989, § 812 Rn. 24; Mühl/Hadding, in: Soergel, Kommentar zum BGB, 12. Aufl. 2007, § 812 Rn. 24f, 122; Lorenz, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2007, § 812 Rn. 34. 28 BGHZ 122, 46 (51); BGH NJW 1999, 1393 (1394). 29 So allgemein Lieb (Fn. 23), § 812 Rn. 105 zu Fällen fehlerhafter Vertretung/Botenschaft; Westermann (Fn. 27), § 812 Rn. 18. 30 BGH NJW, 2003, 582 (583); das Problem stellt sich nicht, wenn man auf den Willen des Leistenden abstellt, so etwa Flume, AcP 199 (1999), 1, 28 ff.; Schall (Fn. 23), S. 52 ff. und 99 f. fehlende Tilgungs- und Zweckbestimmung des – vermeintlich – Anweisenden nicht zu ersetzen. Allein der gute Glaube des Empfängers ist also nicht ausreichend. Nichts anderes kann aus Wertungsgründen in Fällen des Vertreters ohne Vertretungsmacht und damit auch in Fällen des Handelns unter fremden Namen gelten. Es fehlt damit an einer Leistung des „Vertretenen“, wenn er durch einen vollmachtlosen Dritten vertreten worden ist.31 L handelte vergleichbar einem Vertreter ohne Vertretungsmacht, wobei F keine Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis davon hatte. Es fehlt daher in der Person der F an jeglichem Anknüpfungspunkt für eine Zurechnung des Verhaltens der L.32 Unter dem Wertungsgesichtspunkt der Veranlassung ist daher das bisher gefundene Ergebnis dahin zu korrigieren, dass auch eine Leistung der F nicht vorliegt. Mangels Leistung steht der F kein Anspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. BGB hinsichtlich ihres Miteigentumsanteils zu. VII. § 812 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. BGB auf Herausgabe der Grundbuchposition hinsichtlich des Miteigentumsanteils des F F könnte gegen K aber einen Anspruch auf Herausgabe der Grundbuchposition aus § 812 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. BGB (Nichtleistungskondiktion) haben. 1. Etwas erlangt in sonstiger Weise Dazu müsste K die Grundbuchposition hinsichtlich des Miteigentumsanteils der F in sonstiger Weise auf Kosten der F erlangt haben. a) Nicht durch Leistung Eine Bereicherung in sonstiger Weise ist nach h.M. gegeben, wenn der Anspruchsgegner das erlangte „etwas“ nicht durch eine Leistung erhalten hat.33 Eine der F zurechenbare Leistung lag nicht vor. K könnte aber die Grundbuchposition durch Leistung der L zugeflossen sein.34 Da jede Leistung aufgrund 31 So ausdrücklich Heimann-Trosien (Fn. 27), § 812 Rn. 24; i.E. wohl ebenso Westermann (Fn. 27), § 812 Rn. 18; Lieb (Fn. 23), § 812 Rn. 105. 32 Man kann hier auch die Ansicht vertreten, dass die Vertrauensschutzgesichtspunkte nicht zu einer Einschränkung führen, weil es nur um die Bestimmung einer für diejenige, der der Rechtsschein zugerechnet werden soll, günstigen Position geht. Dann ist ein Anspruch der F aus Leistungskondiktion zu bejahen, da die Leistung ohne Rechtsgrund erfolgt ist (zur Prüfung des Rechtsgrundes siehe unten). 33 BGHZ 40, 272 (278); BGH NJW 2005, 60; Sprau (Fn. 11), § 812 Rn. 10; gegen die Vorrangregel etwa Larenz/Canaris, Schuldrecht, Besonderer Teil, II/2, 13. Aufl. 1994, § 67 IV 3 (S. 144 f.) und § 70 III 2 d (S. 215 f.); Schall (Fn. 23), S. 92 ff. 34 Die Grundbuchposition insgesamt ist dem K allenfalls durch eine Leistung von V und L gemeinsam zugeflossen. Hier ist jedoch nur von Bedeutung, von wem der Teil der Position kam, der sich auf den Miteigentumsanteil der F be- _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 502 Die falsche Frau des Vorrangs der Leistungskondiktion einen Anspruch aus Nichtleistungskondiktion ausschließt, würde auch eine Leistung der L einem Anspruch der F entgegenstehen. Wie unter VI. 2. ausgeführt, liegt bei objektiver Betrachtungsweise aus der maßgeblichen Sicht des K als Leistungsempfänger keine Leistung der L, sondern eine der F vor. Zwar ist die Leistung mangels Rechtsscheinssetzung der F nicht zuzurechnen. Das führt aber nicht dazu, dass nunmehr eine Leistung der L anzunehmen ist. Vielmehr fehlt es gänzlich an einer Leistung. Eine die Nichtleistungskondiktion der F sperrende Leistung (von anderer Seite) liegt somit nicht vor. b) In sonstiger Weise Ein Bereicherungsanspruch in Form der Eingriffskondiktion liegt dann vor, wenn durch die Handlung eines Dritten in einen fremden Rechtskreis eingegriffen worden ist.35 L als Dritte hat durch die vermeintliche Verfügung über den Miteigentumsanteil der F in deren Rechtskreis eingegriffen. Hierdurch ist K die Grundbuchposition zugeflossen. K hat somit die Grundbuchposition in sonstiger Weise erlangt. 2. Auf dessen Kosten Die Bereicherung des K müsste auch auf Kosten der F erfolgt sein. Dies ist der Fall, wenn dem Vermögensvorteil des K unmittelbar ein Vermögensnachteil der F gegenüber steht. Vorliegend ist dies durch den Verlust der Buchposition auf Seiten der F und den spiegelbildlichen Zufluss der Buchposition bei K der Fall. Es liegt somit auch eine Bereicherung auf Kosten der F vor. 3. Ohne rechtlichen Grund Schließlich müsste die Bereicherung ohne rechtlichen Grund erfolgt sein. Als rechtlicher Grund kommt der Kaufvertrag zwischen K und L über den Miteigentumsanteil der F in Betracht. Dieser Kaufvertrag könnte aber unwirksam sein. Wie die Auflassung hat L auch die für den Kaufvertragsschluss erforderliche Willenserklärung unter dem Namen der F abgegeben. Da es sich um eine Identitätstäuschung handelte, sind auch diesbezüglich die §§ 164 ff. BGB analog anzuwenden. Mangels Vertretungsmacht der L war der Kaufvertrag zunächst schwebend unwirksam (§ 177 Abs. 1 BGB). Da F keine Genehmigung erteilen wird, ist der Vertrag auch endgültig unwirksam. Damit liegt kein Rechtsgrund für die Bereicherung des K vor. 4. Herausgabe des erlangten etwas K ist daher gem. § 818 Abs. 1 BGB zur Herausgabe der Grundbuchposition verpflichtet. Dem Anspruch der F kann er im Rahmen des § 818 Abs. 3 BGB nicht die Kaufpreiszahlung an L als Entreicherung entgegen halten. Anderenfalls würde F im Rahmen des § 818 BGB doch so gestellt, als ob sie zieht. Da V nur über seinen Anteil verfügt hat, kommt insofern nur eine Leistung der L in Betracht. 35 Vgl. nur Westermann (Fn. 27), § 812 Rn. 74 ff.; Lieb (Fn. 23), § 812 Rn. 228; kritisch zum Konzept der Eingriffskondiktion aber Schall (Fn. 23), S. 76 ff. ZIVILRECHT selbst eine Leistung an K erbracht hätte. Dies widerspräche aber der vorzunehmenden Risikozuweisung an K.36 5. Ergebnis F hat gegen K einen Anspruch auf Herausgabe der Grundbuchposition bezüglich ihres Miteigentumsanteils aus § 812 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. BGB. VIII. §§ 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt., 1011 BGB auf Herausgabe der Grundbuchposition hinsichtlich des Miteigentumsanteils des V Darüber hinaus kann F möglicherweise neben ihrem eigenen Anspruch auf Herausgabe der Grundbuchposition bezüglich ihres Miteigentumsanteils aufgrund von § 1011 BGB einen möglichen Anspruch des V auf Herausgabe der Grundbuchposition aus § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. BGB mit geltend machen. Sie kann dann Zustimmung zur Eintragung von V und sich selbst als Miteigentümer verlangen. 1. Anwendbarkeit von § 1011 BGB Es stellt sich zunächst die Frage, ob F auch diesen Anspruch nach § 1011 BGB allein geltend machen kann. Seinem Wortlaut nach erfasst § 1011 BGB nur Ansprüche „aus dem Eigentum“. Hiervon sollen aber nicht nur die sachenrechtlichen, sondern auch die auf Verletzung des Eigentums beruhenden schuldrechtlichen Ansprüche, namentlich solche aus Bereicherung erfasst sein.37 Somit ist F nach § 1011 BGB befugt, im Wege der Prozessstandschaft einen etwaigen Anspruch des Miteigentümers V gegen K im eigenen Namen geltend zu machen. 2. Anspruch des V gegenüber K aus § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. BGB a) Voraussetzungen Die Grundbuchposition im Hinblick auf den Miteigentumsanteil des V könnte dem K durch Leistung des V zugeflossen sein. V hatte die Absicht, dem K bewusst und zweckgerichtet – nämlich zur Erfüllung seiner Verbindlichkeit aus dem Kaufvertrag – das Eigentum an dem Grundstück zu verschaffen. Zwar war seine Absicht nicht darauf gerichtet, dem K allein die Grundbuchposition zukommen zu lassen, jedoch ist eine Grundbucheintragung zwingende Voraussetzung für den Übergang des Eigentums und muss deshalb als weniger von der Leistung des V als mit umfasst angesehen werden. Die erforderliche Mitwirkung des Notars und des Grundbuchamtes stehen dieser Annahme nicht entgegen. Die Leistung müsste auch ohne Rechtsgrund erfolgt sein. Diese wäre der Fall, wenn zwischen K und V kein Kaufvertrag über den Miteigentumsanteil des V zustande gekommen wäre. V und K haben sich zwar geeinigt. Diese Einigung bezog sich jedoch nur auf die Verpflichtung zur Übertragung 36 Vgl. zur Bedeutung der Risikoverteilung im Rahmen des Entreicherungseinwands nur Westermann (Fn. 27), § 812 Rn. 31 ff. 37 BGH NJW 1993, 727; Bassenge (Fn. 10), § 1011 Rn. 2; Gursky (Fn. 17), § 1011 Rn. 2. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 503 ÜBUNGSFALL Gregor Roth/Silke Warmer des Grundstücks im Ganzen, deren Wirksamkeit daran scheitert, dass eine Erklärung der F fehlt. Es könnte aber ein Kaufvertrag zwischen V und K nur über den Miteigentumsanteil des V zustande gekommen sein. Dazu müssten die Erklärungen von V und K gem. § 140 BGB umgedeutet werden. Aufgrund der bereits unter I. 1. b) geschilderten Interessenlage kann jedenfalls die Erklärung des K nicht entsprechend umgedeutet werden. Ein Kaufvertrag nur über den Miteigentumsanteils des V ist damit nicht zustande gekommen. Es fehlt somit an einem Rechtsgrund für die Leistung des V. Hinweis für eine alternative Lösung: Hat man unter I. 1. b) den Lösungsweg über § 139 BGB gewählt, ist dieser konsequent auch an dieser Stelle fortzuführen. Die Lösung könnte dann wie folgt formuliert sein: Die Leistung müsste auch ohne Rechtsgrund erfolgt sein. Diese wäre der Fall, wenn der Kaufvertrag zwischen V und K nichtig ist. V hat für sich selbst gehandelt, weshalb eine Nichtigkeit aus den Gründen, die bei F einschlägig sind, nicht in Frage kommt. Der Kaufvertrag über den Miteigentumsanteil des V könnte aber gemäß § 139 BGB deshalb nichtig sein, weil der Vertrag über den Miteigentumsanteil der F nichtig war. § 139 BGB ist auch anwendbar, wenn bei einem Rechtsgeschäft auf der einen Seite mehrere Personen stehen und das Geschäft im Verhältnis zu einer von ihnen nichtig ist.38 Es kommt – genau wie bei der Auflassung – darauf an, ob anzunehmen ist, dass das Geschäft auch ohne den nichtigen Teil vorgenommen worden wäre. Hier gelten die gleichen Erwägungen wie in Bezug auf die Auflassung. Es ist nicht anzunehmen, dass K einen Kaufvertrag nur über den Erwerb des Miteigentumsanteils des V geschlossen hätten. Daher ist auch der Kaufvertrag zwischen V und K nichtig und bildet keinen Rechtsgrund für die Leistung. b) Umfang des Bereicherungsanspruchs Der Anspruch des V gegen K richtet sich damit gem. § 818 Abs. 1 BGB auf Herausgabe der Grundbuchposition. V hat damit einen Anspruch gegen K auf Herausgabe der Grundbuchposition aus § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. BGB. c) Durchsetzbarkeit des Anspruchs Fraglich ist allerdings, ob F diesen Anspruch des V gegenüber K durchsetzen kann. K steht aufgrund der Unwirksamkeit des Kaufvertrages mit V seinerseits ein Bereicherungsanspruch in Höhe von 200.000 € bezüglich des gezahlten Kaufpreises zu. Von daher könnte K ein Zurückbehaltungsrecht gegen V nach § 273 BGB zustehen mit der Folge, dass der Anspruch nur Zug um Zug durchsetzbar ist. Allerdings ist eine Berufung auf das Zurück-behaltungsrecht wiederum ausgeschlossen, da V und F hinsichtlich der Herausgabe der Grundbuchposition im Ganzen Gesamtgläubiger sind.39 38 39 BGH NJW 1994, 1470 (1471). Vgl. dazu schon unter II. 2. 3. Ergebnis F kann gegen K auch einen Anspruch auf Grundbuchberichtigung aus § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. i.V.m. § 1011 BGB hinsichtlich des Miteigentumsanteils von V geltend machen. IX. Ergebnis F hat gegen K einen Anspruch auf Zustimmung zur Grundbuchberichtigung aus § 894 i.V.m. § 1011 BGB, auf Eintragung eines Widerspruchs gem. § 899 BGB und auf Herausgabe der Grundbuchposition hinsichtlich ihres Miteigentumsanteils aus § 812 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. BGB, hinsichtlich des Miteigentumsanteils des V aus § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. BGB.Soweit der Miteigentumsanteil des V betroffen ist, kann F gem. § 1011 BGB entsprechende Ansprüche geltend machen, verpflichtet ist sie dazu nicht. Ansprüche der F gegen V I. §§ 280 Abs. 1, 249 Abs. 1 BGB auf Schadenersatz F könnte gegen V ein Schadenersatzanspruch aus §§ 744 Abs. 1, 741, 747 S. 2, 280 Abs. 1 BGB zustehen. 1. Schuldverhältnis i.S.d. § 280 Abs. 1 BGB Dazu müsste zunächst zwischen F und V ein Schuldverhältnis bestehen. Ein solches könnte sich zum einen aufgrund gemeinschaftlichen Miteigentums und zum anderen aus der Ehegemeinschaft ergeben. Ersteres wäre der Fall, wenn die dadurch begründete Bruchteilsgemeinschaft nach §§ 741 ff. BGB ein Schuldverhältnis im Sinne des § 280 Abs. 1 BGB darstellt. Die Bruchteilsgemeinschaft selbst ist kein Schuldverhältnis zwischen den Beteiligten.40 Allerdings ist sie als vorgegebene Tatsache Grundlage gesetzlicher Schuldverhältnisse, die in §§ 743 ff. BGB geregelt sind.41 Deren schuldhafte Verletzung kann Schadenersatzansprüche nach sich ziehen.42 2. Pflichtverletzung aus Miteigentum Als möglicherweise durch V verletzte Pflichten kommen § 744 Abs. 1 und § 747 S. 2 BGB in Betracht. a) § 744 Abs. 1 BGB Nach § 744 Abs. 1 steht die Verwaltung des gemeinschaftlichen Gegenstandes den Teilhabern gemeinschaftlich zu. Verfügungen über den gemeinschaftlichen Gegenstand stel- 40 BGHZ 62, 243 (246); Aderhold, in: Erman, BGB, 12. Aufl. 2008, § 741 Rn. 3; Langhein (Fn. 8), § 741 Rn. 260. 41 BGHZ 62, 243 (246); Gehrlein, in: Bamberger/Roth, Kommentar zum BGB, 2. Aufl. 2008, § 741 Rn. 12; Aderhold (Fn. 40) § 741 Rn. 3; K. Schmidt (Fn. 11), § 741 Rn. 33; Sprau (Fn. 11), § 741 Rn. 8 f; Langhein (Fn. 8), § 741 Rn. 260; Hadding, in: Soergel, Kommentar zum BGB, 12. Aufl. 2007, Vor § 741 Rn. 7; a.A. v. Gamm, in: RGRK, Kommentar zum BGB,12. Aufl. 1978, § 741 Rn. 12. 42 BGHZ 62, 243 (246); Gehrlein (Fn. 41), § 741 Rn. 12; Aderhold (Fn. 40), § 741 Rn. 3; Sprau (Fn. 11), § 741 Rn. 9. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 504 Die falsche Frau len jedoch keine Verwaltungsmaßnahmen mehr dar.43 Damit liegt kein Verstoß gegen § 744 Abs. 1 BGB vor. b) § 747 S. 2 BGB In Betracht kommt darüber hinaus ein Verstoß gegen § 747 S. 2 BGB, wonach die Teilhaber über den Gegenstand im Ganzen nur gemeinschaftlich verfügen können. Diese Vorschrift begründet jedoch keine Verpflichtung zwischen den Teilhabern der Gemeinschaft. Die Vorschrift betrifft Verfügungen und regelt ihre (Un-)Wirksamkeit. Damit begründet sie keine obligatorische Verpflichtung, die verletzt werden könnte. 3. Pflichtverletzung aus Ehe Daneben könnte die Verfügung über das Grundstück auch eine Pflichtverletzung der noch bestehenden Ehe darstellen. Die vermögensrechtliche Schädigung des Ehegatten fällt allerdings nicht in den speziellen Schutzbereich der Ehegemeinschaft und stellt folglich keine Pflichtverletzung dar. Speziell in Bezug auf Miteigentum begründet die Ehe keine weitergehenden Pflicht als in den §§ 743 ff. BGB geregelt. 4. Ergebnis Da keine Pflichten der §§ 743 ff. BGB und der Ehegemeinschaft durch V verletzt worden sind, hat F gegen V keinen Anspruch auf Schadensersatz aus §§ 280 Abs. 1, 249 Abs. 1 BGB. II. §§ 687 Abs. 2 S. 1, 681 S. 2, 667 BGB auf Herausgabe des Kaufpreises in Höhe von 200.000 € F könnte gegen V einen Anspruch auf Herausgabe des von K gezahlten Kaufpreises gem. §§ 687 Abs. 2 S. 1, 681 S. 2, 667 BGB haben. Dazu müsste V ein fremdes Geschäft – und zwar ein solches der F – geführt haben. Als Geschäft kommt nur die Verfügung über den Miteigentumsanteil an dem Grundstück in Betracht. V hat allerdings nur über seinen eigenen Anteil verfügt; über den Anteil der F hat die L verfügt. Die Verfügung über einen eigenen Miteigentumsanteil ist jedoch objektiv kein fremdes Geschäft. Auch wollte V nicht subjektiv dieses Geschäft als fremdes führen. Damit handelte es sich nicht um ein fremdes Geschäft, weshalb der Anspruch aus §§ 687 Abs. 2 S. 1, 681 S. 2, 667 BGB auf Herausgabe des Kaufpreises nicht besteht. III. §§ 989, 990 Abs. 1 BGB auf Schadenersatz bzw. §§ 987, 990 Abs. 1 BGB auf Herausgabe des Kaufpreises in Höhe von 200.000 € Ansprüche der F gegen V aus den §§ 987 ff. BGB kommen nicht in Betracht, da zwischen F und V zu keinem Zeitpunkt eine Vindikationslage oder eine Situation nach § 894 BGB, bei der eine analoge Anwendbarkeit der §§ 987 ff. BGB anzunehmen ist44, vorgelegen hat.45 43 Langhein (Fn. 8), § 744 Rn. 10. Bassenge (Fn. 10), § 894 Rn. 10. 45 § 1011 BGB sperrt die Anwendbarkeit der §§ 987 ff. BGB im Verhältnis der Miteigentümer untereinander nicht, wenn 44 ZIVILRECHT IV. §§ 823 Abs. 1, 830 Abs. 1 S. 1, 840 Abs. 1 auf Schadenersatz Möglicherweise hat F aber einen deliktischen Schadenersatzanspruch aus §§ 823 Abs. 1, 830 Abs. 1 S. 1, 840 Abs. 1 BGB gegen V. Dazu müsste V rechtswidrig und schuldhaft ein durch § 823 Abs. 1 BGB geschütztes Rechtsgut der F verletzt haben. 1. Haftungsbegründender Tatbestand a) Rechtsgutsverletzung Durch die Verfügung über den Miteigentumsanteil könnte V in das (Mit-)Eigentum der F eingegriffen haben. aa) Handlung des V Dazu ist zunächst ein Tun oder Unterlassen des V erforderlich. Das besteht hier in der Täuschung von N und K über die Identität der L und in der Verfügung des V über seinen Miteigentumsanteil. bb) Rechtsgutsverletzung Darüber hinaus müsste eine Rechtsgutsverletzung vorliegen. Vorliegend könnte das Eigentum der F durch die Eintragung des K ins Grundbuch verletzt sein. Eine Eigentumsverletzung ist gegeben, wenn in die durch § 903 BGB zum Ausdruck kommende Herrschaftsbefugnis des Berechtigten eingegriffen wird. Neben der Entziehung und Belastung liegt daher in sonstigen Störungen der Nutzbarkeit der Sache eine Eigentumsverletzung.46 Durch die Eintragung des K hat sich die materielle Rechtslage nicht geändert. F ist weiterhin Miteigentümerin des Grundstücks. Durch seine Eintragung ins Grundbuch kann K zwar nicht selbst (gutgläubig) Eigentum am Grundstück erwerben. Allerdings können aufgrund der Rechtsscheinswirkung nach § 892 BGB Dritte von K gutgläubig Eigentum erwerben mit der Folge, dass F ihr Eigentum an dem Grundstück verlieren würde. Insoweit liegt zumindest eine Eigentumsgefährdung vor. Außerdem wurde F die zum Eigentum gehörende Möglichkeit genommen, über ihr Recht zu verfügen. Eine Verfügung durch F ist nicht mehr möglich, weil sie nicht im Grundbuch eingetragen ist und deshalb keine Bewilligung nach § 19 GBO erteilen kann. Eine solche ist jedoch notwendig, um die Eintragung eines Erwerbers im Grundbuch (vgl. § 873 Abs. 1 BGB) herbeizuführen. Aufgrund der Gefährdungslage und des faktischen Verlustes der Verfügungsmöglichkeit liegt allein im Entzug der Buchposition eine Eigentumsverletzung.47 Es liegt somit eine Rechtsgutverletzung vor. einem Miteigentümer unberechtigt sein Mitbesitz entzogen worden ist (Gursky [Fn. 17], § 1011 Rn. 9 f.; Stürner, in: Soergel, Kommentar zum BGB, 13. Aufl. 2007,§ 1011 Rn. 3; K.Schmidt [Fn. 11], § 1011 Rn. 1). 46 Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, 4. Aufl. 2004, § 823 Rn. 95. 47 I.E. so auch Bassenge (Fn. 10), § 894 Rn. 15; Gursky (Fn. 7), § 894 Rn. 155. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 505 ÜBUNGSFALL Gregor Roth/Silke Warmer cc) Haftungsbegründende Kausalität Das Verhalten des V müsste kausal für die Rechtsgutsverletzung der F sein. Die Kausalität ist im Zivilrecht nach der Adäquanztheorie zu beurteilen.48 Adäquat kausal ist ein Verursachungsbeitrag dann, wenn das Ereignis im allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf außer Betracht zu lassenden Umständen geeignet ist, einen Erfolg der eingetretenen Art herbeizuführen.49 Tatfolgen, die vom Vorsatz mit umfasst sind, sind immer adäquat.50 Hier war für V vorhersehbar und auch von seinem Vorsatz umfasst, dass durch die Täuschung von N und K über die Identität der L und die Abgabe der Auflassungserklärung letztendlich der K im Grundbuch eingetragen werden würde. Die weiteren Zwischenschritte, insbesondere die Mitwirkung durch N und das Grundbuchamt, unterbrechen die Kausalität nicht. Fraglich ist allerdings, wie es sich auswirkt, dass außerdem die Mitwirkung der L erforderlich war, um die vermeintliche Eigentumsübertragung durchzuführen. Ohne die von L abgegebene Erklärung hätte auch K die Auflassung nicht erklärt, so dass es nicht zu der Rechtsgutsverletzung gekommen wäre. Die notwendige Beteiligung der L könnte V allerdings im Wege der Mittäterschaft zugerechnet werden. V und L haben aufgrund eines gemeinsamen Tatplans bei der Tatausführung zusammengewirkt, wobei der jeweilige Tatbeitrag essentiell für die Herbeiführung des Taterfolges war. Sie handelten somit als Mittäter mit der Folge, dass ihre Tatbeiträge nach § 830 Abs. 1 S. 1 BGB gegenseitig zugerechnet werden.51 Die Handlung des V war daher auch kausal.52 b) Rechtswidrigkeit/Verschulden Die Verfügung des V über seinen Miteigentumsanteil war nicht rechtswidrig, da eine solche Verfügung nach § 747 S. 1 BGB erlaubt ist. Zusammen mit der Täuschung über die Identität der L stellt sich das Verhalten allerdings sehr wohl in Bezug auf den Miteigentumsanteil der F als rechtswidrig dar. V handelte vorsätzlich und damit schuldhaft. 2. Haftungsausfüllender Tatbestand Damit liegen die Voraussetzungen eines deliktischen Schadenersatzanspruchs der F gegenüber V vor. Rechtsfolge ist eine Verpflichtung zum Schadenersatz, weshalb ein durch die Rechtsgutsverletzung adäquat kausal verursachter Schaden 48 Heinrichs (Fn. 4), Vor § 249 Rn. 58 ff. BGHZ 7, 204; 57, 141; BGH NJW 1995, 127; NJW 1998, 140. 50 BGHZ 79, 259 (262); BAG NJW 1990, 3228; Heinrichs (Fn. 4), Vor § 249 Rn. 60. 51 Zur Wertung des § 830 Abs. 1 S. 1 als Zurechnungsregelung Wagner (Fn. 46), § 830 Rn. 5. Mit einer weit verbreiteten Meinung hätte § 830 Abs. 1 S. 1 BGB nach Verneinung der Kausalität auch als selbständige Anspruchsgrundlage geprüft werden können. 52 Vgl. zur Zurechnung allein auf Ebene des § 823 Abs. 1 BGB in derartigen Fällen BGH LM § 830 BGB Nr. 15; Benicke, Jura 1996, 127 (128, Fn. 13). 49 festgestellt werden muss. Dieser ist durch einen Vergleich der hypothetischen Vermögenssituation des Anspruchstellers und seiner Vermögenssituation nach dem schädigenden Ereignis zu ermitteln (sogenannte Differenzhypothese).53 Vor der Verfügung des V über seinen Miteigentumsanteil und der Eintragung des K im Grundbuch hatte die F in ihrem Vermögen neben dem Miteigentumsanteil an dem Grundstück auch die Eintragung im Grundbuch. Ohne das schädigende Ereignis wäre es auch bei diesem Zustand geblieben. Nach der Eintragung des K ist F zwar weiterhin Miteigentümerin des Grundstücks, jedoch hat sie die Grundbuchposition nicht mehr in ihrem Vermögen. Damit ist der jetzige Wert des Vermögens der F geringer als er ohne das schädigende Ereignis wäre. Grundsätzlich ist ein Schadenersatzanspruch auf Naturalrestitution gerichtet, § 249 Abs. 1 BGB. Das würde im vorliegenden Fall bedeuten, dass V dafür sorgen müsste, dass F wieder im Grundbuch eingetragen wird. Nach § 19 GBO wird eine Grundbucheintragung jedoch nur dann vorgenommen, wenn sie von demjenigen bewilligt wird, dessen Recht von ihr betroffen wird. Das ist zwar – wenn Buchberechtigter und wahrer Berechtigter auseinander fallen – der wahre Berechtigte. Jedoch gilt für das Grundbuchamt die Vermutung des § 891 Abs. 1 BGB; nur bei Kenntnis des Grundbuchamtes von der Nichtidentität ist deshalb eine Bewilligung des wahren Berechtigten erforderlich. Ansonsten bedarf es einer Bewilligung des Buchberechtigten.54 Infolgedessen ist eine Bewilligung des K erforderlich, da er im Grundbuch eingetragen ist. V ist es nicht möglich, diese Bewilligung zu erteilen und damit den Eintrag von F im Grundbuch herbeizuführen. Die Leistung von Schadenersatz in Form von Naturalrestitution scheidet folglich aus. V ist insoweit allerdings verpflichtet, auf die Bewilligung des K hinzuwirken. Nach § 251 Abs. 1 BGB ist für den Fall, dass die Wiederherstellung (auch nur subjektiv) nicht möglich ist, eine Entschädigung in Geld vorgesehen. Fraglich ist, wie diese Entschädigung zu berechnen ist. Die Grundbuchposition als solche hat keinen Wert, der sich in einem Geldbetrag ausdrücken ließe. Ihr Wert besteht nur darin, die Verfügungsmöglichkeit über das Grundstück und dadurch die Möglichkeit zu haben, durch Veräußerung einen Preis zu erzielen. Die F kann deshalb, solange das Eigentum an dem Grundstück noch nicht von einem Dritten gutgläubig erworben worden ist, einen Schaden noch nicht beziffern. Der Anspruch entfällt außerdem bereits in dem Moment, in dem entweder F wieder im Grundbuch oder zumindest ein Widerspruch gegen dessen Richtigkeit eingetragen ist. Sollte das Eigentum von einem Dritten gutgläubig erworben werden, hätte F einen Anspruch auf Entschädigung in Höhe des Wertes ihres Miteigentumsanteils.55 Sie kann sich selbst bei zusätzlich bestehender Ver53 Heinrichs (Fn. 4), Vor § 249 Rn. 8. Demharter (Fn. 10), § 19 Rn. 46 f.; Lichtenberger, in: Meikel u.a. (Hrsg.), Grundbuchrecht, 1999, § 19 Rn. 364. 55 Für den Fall, dass F dann von V Entschädigung fordert, steht V allerdings ein Zurückbehaltungsrecht nach § 273 BGB zu. Er hat nämlich nach § 255 BGB gegen F einen Anspruch auf Abtretung der Ansprüche, die ihr gegenüber K 54 _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 506 Die falsche Frau ZIVILRECHT antwortlichkeit der L aus Delikt allein an V halten, da dieser nach § 840 Abs. 1 BGB jedenfalls als Gesamtschuldner haftet. Getäuschten unerheblich.58 Ohne die Täuschung des V wäre N dem Irrtum nicht unterlegen, so dass die Anforderungen der Äquivalenztheorie erfüllt sind. 3. Ergebnis F hat dem Grunde nach einen Schadenersatzanspruch aus §§ 823 Abs. 1, 840 Abs. 1 BGB gegen V. Da sie jedoch bislang keinen bezifferbaren Schaden erlitten hat, kann sie einen Leistungsanspruch noch nicht geltend machen.56 c) Irrtumsbedingte Vermögensverfügung Aufgrund dieses Irrtums müsste N eine Vermögensverfügung getätigt haben. Eine Vermögensverfügung ist jedes Tun, Dulden oder Unterlassen, das sich unmittelbar vermögensmindernd auswirkt.59 Hier kommt als Vermögensverfügung die Beurkundung der Auflassungserklärungen durch N in Betracht. Hierdurch könnte das Vermögen der F gemindert worden sein. Fraglich ist insofern die Unmittelbarkeit, da durch die Beurkundung die Eintragung des K im Grundbuch nicht unmittelbar bewirkt wurde. Unmittelbarkeit ist dann zu bejahen, wenn keine weiteren Zwischenschritte erforderlich sind, damit die Vermögensminderung eintritt. Zur Eintragung des K im Grundbuch und damit dem Verlust der Grundbuchposition der F waren nach der Beurkundung noch die Stellung des Eintragungsantrags beim Grundbuchamt und die Eintragung durch das Grundbuchamt erforderlich. Fraglich ist, ob diese Zwischenschritte die Unmittelbarkeit ausschließen. Dies ist zweifelhaft. Für die Bejahung einer Unmittelbarkeit könnte sprechen, dass die weiteren notwendigen Zwischenschritte lediglich formaler Natur und insoweit bedeutungslos für das Merkmal der Unmittelbarkeit sind. Im Ergebnis kann dies aber dahinstehen, wenn es an der für einen Dreiecksbetrug notwendigen „Verfügungsbefugnis“ des Getäuschten über das Vermögen des letztlich Geschädigten fehlt. Dafür ist keine rechtliche Verfügungsmacht erforderlich, es genügt vielmehr eine tatsächliche Beziehung zu dem Geschädigten, die es dem Getäuschten ermöglicht, über das fremde Vermögen zu disponieren.60 Allein der Umstand, dass N von F nicht beauftragt worden ist oder sonst wie „im Lager“ der F steht, könnte aufgrund seiner Amtsstellung unbeachtlich sein. In Fällen des sogenannten Prozessbetrugs ist anerkannt, dass das entscheidende Gericht trotz fehlender Nähebeziehung zur geschädigten Partei „verfügungsbefugt“ i.S.v. § 263 Abs. 1 StGB ist.61 Zur Begründung wird angeführt, dass der Getäuschte kraft seiner hoheitlichen Stellung Anordnungen unmittelbar zum Nachteil des fremden Vermögens treffen kann.62 Der vorliegende Fall unterscheidet sich davon jedoch insoweit, als ein Notar zwar auch im gewissen Umfang mit staatlicher Macht ausgestattet ist. Diese reicht aber nicht soweit, dass er verbindlich für völlig Unbeteiligte Rechtsänderungen vornehmen kann. Die von ihm vorliegend getätigte Beurkundung ermöglicht vielmehr nur eine Änderung des Grundbuchs durch das Grundbuchamt. Von daher V. §§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. einem Schutzgesetz auf Schadenersatz F könnte gegen V einen Anspruch auf Schadenersatz aus §§ 823 Abs. 2, 249 BGB in Verbindung mit einem Schutzgesetz haben. 1. § 263 StGB als Schutzgesetz Dann müsste V gegen ein Schutzgesetz verstoßen haben. In Betracht kommt zunächst ein Betrug des V nach § 263 Abs. 1 StGB gegenüber N und zum Nachteil der F. § 263 Abs. 1 StGB ist als Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB anerkannt.57 Es müssten weiterhin die Voraussetzungen des § 263 StGB erfüllt sein. a) Täuschung Indem V gegenüber N die L seit Jahren als seine Frau, also als F, ausgegeben hat, hat er ihm eine unwahre Tatsache vorgespiegelt. Aufgrund dessen war er zudem aus Ingerenz verpflichtet, N spätestens zum Zeitpunkt der Auflassungserklärung über die wahre Identität der L aufzuklären. Dies hat er nicht getan. Somit liegt eine Täuschung des V vor. b) Täuschungsbedingter Irrtum Aufgrund dieser Täuschung müsste N sich geirrt haben. N unterlag dem Irrtum, dass es sich bei der L um die F handelte. Die Täuschung müsste kausal im Sinne der Äquivalenztheorie für diesen Irrtum gewesen sein. Hier beruhte der Irrtum des N auf der falschen Identitätsangabe des V. Zwar hat N es auch pflichtwidrig unterlassen, sich Gewissheit über die Person der L zu verschaffen. Hierzu wäre er nach § 10 Abs. 2 S. 1 BeurkG verpflichtet gewesen. Allerdings beruhte dieses Unterlassen des N zum einen kausal auf der Täuschung des V, da N irrtümlich davon ausging, die Identität der L zu kennen. Zum anderen ist eine mitwirkende Fahrlässigkeit des zustehen. Gegen K hat F bei entgeltlicher Verfügung einen Anspruch aus § 816 Abs. 1 S. 1 BGB auf Herausgabe des durch die Verfügung Erlangten, also die Hälfte eines eventuellen Kaufpreises. Bei unentgeltlicher Verfügung des K hat F einen Anspruch gegen den Dritten aus § 816 Abs. 1 S. 2 BGB, den sie dem V abtreten muss. 56 F könnte bereits Feststellungsklage erheben mit dem Ziel, feststellen zu lassen, dass V zum Ersatz aller in Zukunft entstehenden Schäden aus der Verfügung verpflichtet ist. 57 Sprau (Fn. 11), § 823 Rn. 69. 58 Tiedemann, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 12. Aufl. 2007, § 263 Rn. 93. 59 BGHSt 14, 170 (171); Cramer, in: Schönke/Schröder (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Aufl. 2007, § 263 Rn. 55. 60 Vgl. nur Cramer (Fn. 59), § 263 Rn. 65. 61 Dazu nur Cramer (Fn. 59), § 263 Rn. 69 ff. 62 Cramer (Fn. 59), § 263 Rn. 68. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 507 ÜBUNGSFALL Gregor Roth/Silke Warmer ist das Vorliegen einer Verfügungsbefugnis abzulehnen mit der Folge, dass N nicht wirksam zulasten von F verfügt hat. d) Ergebnis Der Betrugstatbestand ist nicht erfüllt. 2. §§ 267 Abs. 1, 271 Abs. 1, 25 Abs. 1, 2. Alt., Abs. 2 StGB als Schutzgesetz Eine Schutzgesetzverletzung gem. §§ 267 Abs. 1, 271 Abs. 1, 25 Abs. 1, 2. Alt., Abs. 2 StGB könnte in Zusammenhang mit der Bewirkung der Beurkundung der vermeintlichen Auflassungserklärung der F durch N und die Eintragung der Eigentumsübertragung ins Grundbuch erfolgt sein. Dazu müsste es sich bei §§ 267 bzw. 271 StGB um Schutzgesetze i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB handeln. Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB ist eine Norm, die nach Zweck und Inhalt wenigstens auch auf den Schutz von Individualinteressen vor einer näher bestimmten Art ihrer Verletzung ausgerichtet ist.63 Es genügt nicht, dass der Individualschutz durch Befolgen der Norm als ihr Reflex objektiv erreicht werden kann; er muss im Aufgabenbereich der Norm liegen.64 Andererseits muss sich das Schutzgesetz auch nicht in der Gewährleistung von Individualschutz erschöpfen; es reicht aus, dass dieser eines der gesetzgeberischen Anliegen der Norm ist, selbst wenn auf die Allgemeinheit gerichtete Schutzzwecke ganz im Vordergrund stehen.65 Weder bei § 267 StGB noch bei § 271 StGB ist das Vermögen als Verletzungsobjekt oder als Objekt konkreter Gefährdung genannt.66 § 267 StGB schützt allein die Echtheit von Urkunden,67 während § 271 StGB die Wahrheit von Urkunden schützt.68 Beide Normen schützen damit auf ihre jeweils spezifische Art und Weise die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Rechtsverkehrs mit Urkunden. Sie schützen damit – auch nicht mittelbar – vermögensrechtliche Individualinteressen einzelner.69 §§ 267 und 271 StGB sind damit keine Schutzgesetze i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB. 3. § 246 StGB als Schutzgesetz Schließlich könnte in der Verfügung über das Gemeinschaftseigentum mit der Folge, dass K Buchbesitz an dem Grundstück erlangt, auch ein Verstoß gegen § 246 StGB liegen. Der Unterschlagungstatbestand erfasst allerdings nur bewegliche Sachen, so dass eine Schutzgesetzverletzung insoweit von vornherein ausscheidet. 63 BGHZ 22, 293 (297); 40, 306 (307); 46, 17 (23); 64, 232 (237); 100, 13 (14 f). 64 BGHZ 66, 388 (389 f); 100, 13 (15). 65 St. Rspr.; vgl. BGHZ 12, 146 (148); 29, 344 (350 f); 40, (305); 46, 17 (23); 63, 176 (179); 66, 388 (390); 69, 1 (16); 84, 312 (314); 100, 13 (15). 66 BGHZ 100, 13 (15) zu § 267 StGB. 67 Cramer/Heine (Fn. 59), § 267 Rn. 1. 68 Cramer/Heine (Fn. 59), § 267 Rn. 1. 69 Vgl. BGHZ 100, 13 (16 f.) zu § 267 StGB; Cramer/Heine, (Fn. 59), § 267 Rn. 1a. 4. Ergebnis F stehen gegen V keine Ansprüche gem. § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. einem Schutzgesetz zu. VI. §§ 826, 840 Abs. 1 BGB auf Schadenersatz F könnte gegenüber V einen Anspruch auf Schadenersatz aus §§ 826, 840 Abs. 1 BGB haben. 1. Sittenverstoß Ein solcher Anspruch setzt einen Sittenverstoß des Schuldners, also des V, voraus. V könnte durch die Täuschung von N und K und die Ausnutzung ihres Irrtums zum Abschluss des Kaufvertrages und zur Beurkundung der Auflassungen gegen die guten Sitten verstoßen haben. Ein Verhalten ist dann sittenwidrig, wenn es besonders verwerflich ist, wobei die Verwerflichkeit sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage tretenden Gesinnung oder den eintretenden Folgen ergeben kann.70 Hier hat V mit seinem Handeln das Ziel verfolgt, für sich und L den Kaufpreis für das Grundstück zu erlangen und die Miteigentümerin F in Unkenntnis zu lassen, das Grundstück also hinter ihrem Rücken zu veräußern. Dieses Ziel erscheint als besonders verwerflich, so dass Sittenwidrigkeit zu bejahen ist. 2. Schaden Der Schaden, der durch das Verhalten des V eingetreten ist, ist der Verlust der Grundbuchposition auf Seiten der F, der einen Verlust der Verfügungsmöglichkeit über den Miteigentumsanteil und die Gefahr des Eigentumsverlustes zur Folge hatte. Wie bereits unter IV. 2. dargestellt, lässt sich dieser Schaden jedoch derzeit nicht in Geld beziffern. 3. Vorsatz Der Vorsatz des V müsste sich sowohl auf sein Verhalten als auch auf die Art und Richtung des eingetretenen Schadens beziehen. V hatte beabsichtigt, der F das Miteigentum an dem Grundstück zu entziehen; das eingetretene Ergebnis ist als weniger von seinem Vorsatz umfasst. 4. Ergebnis Die Voraussetzungen für einen Schadenersatzanspruch nach §§ 826, 840 Abs. 1 liegen dem Grunde nach vor. F kann allerdings aus o.g. Gründen noch keinen Leistungsanspruch geltend machen. VII. § 812 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. BGB auf Herausgabe des Kaufpreises F könnte gegen V einen Anspruch auf Herausgabe des Kaufpreises aus § 812 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. BGB haben. Mit dem Eigentum an dem Geld bzw. der Guthabenforderung gegen seine Bank hat V etwas erlangt. Dies müsste in sonstiger Weise, also nicht durch Leistung, geschehen sein. Hier hat aber K bewusst und zweckgerichtet dem V das Geld zukommen lassen, um seine Verbindlichkeit aus dem Kauf70 BGH NJW 2004, 2668 (2670); Sprau (Fn. 11), § 826 Rn. 4. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 508 Die falsche Frau vertrag zu erfüllen. Damit liegt eine Leistung vor. Die Nichtleistungskondiktion der F ist damit ausgeschlossen. VIII. Ergebnis F hat gegen V dem Grunde nach Schadenersatzansprüche aus §§ 823 Abs. 1, 830 Abs. 1 S. 1, 840 Abs. 1 und §§ 826, 830 Abs. 1 S. 1, 840 Abs. 1 BGB. Da ein Schaden noch nicht bezifferbar ist, kann F einen Leistungsanspruch derzeit noch nicht geltend machen. Ansprüche der F gegen L I. §§ 687 Abs. 2 S. 1, 681 S. 2, 667 BGB auf Herausgabe des Kaufpreises/§§ 678, 687 Abs. 2 S. 1 BGB auf Schadenersatz F könnte gegenüber L einen Anspruch auf Herausgabe des Kaufpreises in Höhe von 200.000 € aus §§ 687 Abs. 2 S. 1, 681 S. 2, 667 BGB zustehen. 1. Fremdes Geschäft Ein solcher Anspruch setzt zunächst voraus, dass L ein fremdes Geschäft vorgenommen hat. Als Geschäft kommt die Abgabe der Auflassungserklärung der L hinsichtlich des Miteigentumsanteils der F in Betracht. Da es sich um den Miteigentumsanteil der F handelte, wäre es auch ihre Sache gewesen, über diesen Anteil zu verfügen. Damit war das Geschäft für L objektiv fremd. 2. Behandlung als eigenes Geschäft, § 687 Abs. 2 S. 1 BGB L könnte dieses Geschäft als eigenes behandelt haben. § 687 Abs. 2 S. 1 BGB setzt subjektiv neben einem Fremdgeschäftsführungsbewusstsein die Kenntnis des Geschäftsführers von seiner fehlenden Berechtigung und ein Handeln in eigennütziger Absicht voraus. Letzteres könnte aufgrund des Handelns unter fremdem Namen fraglich sein. L hat das Geschäft selbst vorgenommen, obwohl der Anteil der F betroffen war und es sich damit um ein Geschäft der F gehandelt hätte. Sie hat also nach außen hin nicht als dritte Person ein Geschäft einer anderen Person vorgenommen, sondern ist als diese dritte Person aufgetreten und hat dann ein eigenes Geschäft als diese Person vorgenommen. Will der Geschäftsführer durch Handeln unter fremdem Namen erst einen Geschäftsabschluss ermöglichen, handelt er in eigennütziger Absicht, da er nicht den Geschäftsherrn, sondern sich selbst einen Vorteil verschaffen will.71 Dies gilt auch in Fällen der vorliegenden Art, wenn der Geschäftsführer weiß oder damit rechnet, dass es dem Vertragsgegner auf die Identität seines Vertragspartners ankommt. L behandelt daher das Geschäft der F als eigenes, obwohl sie weiß, dass sie dazu nicht berechtigt ist. Damit sind auch die subjektiven Voraussetzungen gegeben. Die Voraussetzungen des § 687 Abs. 2 S. 1 BGB sind damit erfüllt. 71 Bergmann, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2006, § 687 Rn. 31. ZIVILRECHT 3. Rechtsfolge F könnte gegen L sowohl einen Anspruch auf Herausgabe des Erlangten nach §§ 681 S. 2, 667 BGB als auch einen Anspruch auf Schadensersatz nach §§ 678, 687 Abs. 2 S. 1, 249 ff. BGB haben. a) Herausgabeanspruch Hinsichtlich des Herausgabeanspruchs könnte fraglich sein, ob dieser die Kaufpreiszahlung des K an L erfasst. Maßgeblich ist insoweit, ob die 200.000 € durch die Geschäftsbesorgung erlangt worden sind. Erlangt i.S.v. § 667 BGB ist nicht alles, was der Geschäftsführer kausal aufgrund der Geschäftsbesorgung erhalten hat. Vielmehr kommt es zusätzlich darauf an, dass das Erlangte wertungsmäßig dem Geschäftsherrn gebührt. Dies ist nicht der Fall bei Sachen, die nur bei Gelegenheit der Geschäftsführung erlangt worden sind.72 Hier hat L aufgrund des Geschäftsabschlusses den Kaufpreis erlangt. Dieser stellt die wirtschaftliche Kompensation für die Übertragung des Miteigentumsanteils an K dar. Insoweit gebührt der Kaufpreis eigentlich der F. Dabei bliebe aber unberücksichtigt, dass K zunächst kein Eigentum erworben und F kein Miteigentum verloren hat, da die Auflassungserklärungen unwirksam waren. Einer wirtschaftlichen Kompensation zugunsten der F bedurfte es daher nicht. Vielmehr steht K gegen L aus § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. BGB ein Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises in Höhe von 200.000 € zu. L hätte somit den Kaufpreis auch nicht dauerhaft erlangt. Dieses Ergebnis könnte sich jedoch ändern, wenn in dem Herausgabeverlangen nach §§ 681 S. 2, 667 BGB konkludent die Genehmigungserklärung der F hinsichtlich der Auflassungserklärung der L (§ 177 Abs. 1 BGB analog) liegen würde mit der Folge, dass die Auflassungserklärung der F nunmehr wirksam und damit K Eigentümer des gesamten Grundstücks würde.73 Ein Herausgabeverlangen der F könnte entsprechend ausgelegt werden. Problematisch ist insoweit allein, ob die darin enthaltene Genehmigung der Vertretung ohne Vertretungsmacht dem Formerfordernis des § 311b Abs. 1 BGB unterliegt. Nach § 167 Abs. 2 BGB bedarf die Erteilung einer Vollmacht nicht der Form des Rechtsgeschäfts, auf welches sich die Vollmacht bezieht. Da für die 72 Beuthien, in: Soergel, Kommentar zum BGB, 12. Aufl. 2000, § 667 Rn. 7. 73 Bei der Wirkung einer konkludenten Genehmigung musste die Besonderheit des Falles beachtet werden: Die Genehmigung bezöge sich nicht wie beim Normalfall einer Verfügung Dritter allein auf die Verfügungsberechtigung (§ 185 BGB), sondern hätte auch Wirkung auf das Zustandekommen des Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäftes, da ein „Vertretungsfall“ in Form des Handelns unter fremden Namen vorlag. Mithin bezöge sich die Genehmigung auch auf die Vertretererklärung mit der Folge, dass durch die Genehmigung das Geschäft insgesamt mit Wirkung von Beginn gem. § 184 BGB für und gegen F wirksam würde (vgl. dazu Leptien, in: Soergel, Kommentar zum BGB, 13. Aufl. 1999, § 177 Rn. 28). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 509 ÜBUNGSFALL Gregor Roth/Silke Warmer Genehmigung nach § 177 Abs. 1 BGB als eine Art „nachträgliche“ Vollmachtserteilung nichts anderes gelten kann, bedarf diese ebenfalls nicht der Form. Die Genehmigung war somit formfrei möglicht. Macht F gegen L die Herausgabe des Kaufpreises geltend, liegt darin eine konkludente Genehmigung analog § 177 Abs. 1 BGB mit der Folge, dass L den Kaufpreis durch die Geschäftsführung erlangt hat.74 Der Herausgabeanspruch umfasst dann auch die Kaufpreiszahlung von K an L. F möchte ausweislich des Sachverhalts jedoch ihr Miteigentum am Grundstück nicht verlieren. Von daher kann ihr nicht geraten werden, einen Anspruch auf Herausgabe des Kaufpreises gegen L geltend zu machen. b) Schadenersatzanspruch75 F könnte gegen L allerdings ein Schadenersatzanspruch aus § 678 BGB zustehen. Dieser richtet sich zunächst auf die Berichtigung des Grundbuches. Diese kann L jedoch ebenso wenig wie V selbst bewirken. Insoweit schuldet sie nur Geldersatz nach § 251 Abs. 1 BGB. Sollte das Eigentum von einem Dritten von K gutgläubig erworben werden, hätte F einen Anspruch auf Entschädigung in Höhe des Wertes ihres Miteigentumsanteils.76 4. Durchsetzbarkeit Die Ansprüche gegen L müssten auch durchsetzbar sein. Daran könnte es aufgrund eines Zurückbehaltungsrechts der L nach § 273 BGB fehlen. Vorliegend kommt als Grundlage für ein Zurückbehaltungsrecht der L nur ein Anspruch aus § 255 BGB in Betracht. § 255 BGB müsste sowohl auf den Herausgabe- als auch den Schadenersatzanspruch anwendbar sein. Für den Schadenersatzanspruch der F ist dies der Fall, da dieser ihr im Falle eines gutgläubigen Erwerbs von K zustehen würde mit der Folge des Eigentumsverlustes. F müsste etwaige Ansprüche gegen K (vor allem aus § 816 BGB) an L abtreten. Macht F hingegen den Herausgabeanspruch geltend, greift § 255 BGB nicht. § 255 BGB gibt nur dem Schuldner eines 74 Die Genehmigung analog § 177 BGB führt nicht dazu, dass V nunmehr im Verhältnis zu F als Vertreterin gehandelt hat mit der Folge, dass sie ein fremdes Geschäft in fremden Namen ausgeführt hat und damit die Voraussetzungen des § 687 Abs. 2 nachträglich entfallen. Die Genehmigung würde nur Wirkung für das Verhältnis F – K entfalten (vgl. Bergmann [Fn. 71], § 687 Rn. 32). 75 Vgl. dazu bereits ausführlich unter IV. 2. 76 Für den Fall, dass F dann von V Entschädigung fordert, steht V allerdings ein Zurückbehaltungsrecht nach § 273 BGB zu. Er hat nämlich nach § 255 BGB gegen F einen Anspruch auf Abtretung der Ansprüche, die ihr gegenüber K zustehen. Gegen K hat F bei entgeltlicher Verfügung einen Anspruch aus § 816 Abs. 1 S. 1 BGB auf Herausgabe des durch die Verfügung Erlangten, also die Hälfte eines eventuellen Kaufpreises. Bei unentgeltlicher Verfügung des K hat F einen Anspruch gegen den Dritten aus § 816 Abs. 1 S. 2 BGB, den sie dem V abtreten muss. Schadenersatzanspruchs einen Anspruch auf Abtretung.77 Zudem stünde F gegen einen Dritten (also K) auch kein Ersatzanspruch zu, den sie an L abtreten könnte. 5. Ergebnis F hat gegen L alternativ einen Anspruch auf Herausgabe des Kaufpreises aus §§ 687 Abs. 2 S. 1, 681 S. 2, 667 BGB oder Schadenersatz nach §§ 687, 678, 249 BGB. Letzterer wäre nur gegen Abtretung etwaiger Ansprüche der F gegen K nach § 255 BGB durchsetzbar. Da die Geltendmachung des Anspruchs auf Herausgabe des Kaufpreises aus §§ 687 Abs. 2 S. 1, 681 S. 2, 667 BGB aufgrund der konkludenten Genehmigungserklärung mit dem Verlust des Eigentums verbunden wäre, kann F ein dahingehendes Vorgehen nicht empfohlen werden. II. §§ 823 Abs. 1 und 2, 826, 830 Abs. 1 S. 1, 840 Abs. 1 BGB auf Schadenersatz Im Hinblick auf einen deliktischen Schadenersatzanspruch der F gegen L aus §§ 823 Abs. 1, und 2, 826, 830 Abs. 1. S. 1, 840 Abs. 1 BGB gilt das beim Anspruch gegenüber V Gesagte. Deliktisches Verhalten der L ist die Täuschung über die Identität und die vermeintliche Verfügung über den Miteigentumsanteil der F. III. § 812 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. BGB auf Herausgabe des Kaufpreises Ein Anspruch gegen L auf Herausgabe des Kaufpreises aus § 812 Abs.1 S. 1, 2. Alt. BGB ist aus denselben Gründen abzulehnen wie ein Anspruch gegenüber V (s.o.). IV. § 816 Abs. 1 S. 1 BGB auf Herausgabe des Kaufpreises F könnte schließlich einen Anspruch gegen L auf Herausgabe des Kaufpreises aus § 816 Abs. 1 S. 1 BGB haben. Dazu müsste L als Nichtberechtigte wirksam über den Miteigentumsanteil verfügt haben. L hat nicht wirksam über den Miteigentumsanteil der F verfügt. Allein die Möglichkeit eines späteren gut-gläubigen Erwerbs eines Dritten von K aufgrund dessen formeller Buchposition stellt ebenso wenig eine Verfügung dar wie die bloße Einräumung der Buchposition. Es fehlt somit derzeit an einer wirksamen Verfügung. Allerdings könnte wie bereits unter I. 3. a) in der Geltendmachung des Anspruchs eine konkludente Genehmigung der Auflassungserklärung nach § 177 Abs. 1 BGB analog liegen mit der Folge, dass die Verfügung wirksam wird.78 Fraglich ist insoweit allerdings, ob es sich in diesem Fall noch um eine Verfügung der L und nicht eine solche der F handelt. Die Wirkung der Genehmigung nach § 177 BGB wäre, dass F selbst Vertragspartnerin des Verfügungsgeschäfts wird und nicht L.79 § 816 Abs. 1 S. 1 BGB regelt 77 Oetker, in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2007, § 255 Rn. 7; Heinrichs (Fn. 4), § 255 Rn. 4. 78 In der Wirkung einer konkludenten Genehmigung (vgl. dazu bereits Fn. 73) lag ein weiteres Problem des Falles. 79 Vgl. dazu Lieb (Fn. 23), § 816 Rn. 14, 20. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 510 Die falsche Frau ZIVILRECHT hingegen den Fall, dass ein Dritter in eigenem Namen einen Verfügungsvertrag schließt, zur Verfügung über den Vertragsgegenstand jedoch nicht berechtigt ist. Direkt ist § 816 Abs. 1 S. 1 BGB mangels Verfügung somit nicht anwendbar. In Betracht käme eine analoge Anwendung. Es fehlt insoweit jedoch an einer Regelungslücke, zumal F durch den Anspruch aus §§ 681 S. 1, 667 BGB gegen L hinreichend geschützt ist, wenn man einen Anspruch aus § 433 Abs. 2 BGB gegen K aufgrund der Erfüllungswirkung der Kaufpreiszahlung an L verneint. F hat gegen L keinen Anspruch auf Herausgabe des Kaufpreises aus § 816 Abs. 1 S. 1 BGB. V. § 816 Abs. 2 BGB auf Herausgabe des Kaufpreises F könnte allerdings gegen L aus § 816 Abs. 2 BGB einen Anspruch auf Herausgabe des Kaufpreises haben. Dazu müsste die Kaufpreiszahlung des K an L eine gegenüber F wirksame Leistung an einen Nichtberechtigten sein. Dies käme allenfalls dann in Betracht, wenn F (konkludent) durch das Herausgabeverlangen die Verpflichtungserklärung bezüglich des Kaufvertrages der L unter dem Namen der F nach § 177 Abs. 1 BGB genehmigen würde. In der Folge wäre F als Berechtigte aus dem Vertrag mit K Forderungsinhaberin des Kaufpreisanspruches (§ 433 Abs. 2 BGB). Dieser Anspruch könnte untergegangen sein, indem K an L gezahlt hat. Nach § 362 Abs. 1 BGB würde Erfüllung unmittelbar gegenüber F eintreten, wenn sich die nachträgliche Zustimmung (§ 177 Abs. 1 BGB) auch auf den Empfang der Gegenleistung erstreckt.80 Einen dahingehenden Willen der F wird man jedoch verneinen müssen.81 In Betracht kommt vielmehr eine Erfüllung gem. § 362 Abs. 2 i.V.m. § 185 BGB; insoweit liegt in der Geltendmachung des Anspruchs aus § 816 Abs. 2 gegen L zugleich eine entsprechende Erklärung. Damit hätte L als Nichtberechtigte wirksam über das Forderungsrecht der F verfügt mit der Folge, dass F ein Anspruch auf Herausgabe des erlangten Kaufpreises zustünde. Den Anspruch auf Herausgabe des Kaufpreises könnte F allerdings nur um den Preis des Eigentumsverlustes an dem Grundstück geltend machen. Da F nach eigenem Bekunden das Eigentum an dem Grundstück jedoch nicht verlieren will, kann ihr nicht geraten werden, den Anspruch auf Herausgabe des Kaufpreises geltend zu machen. VI. Ergebnis F hat gegen L Schadenersatzansprüche aus §§ 687 Abs. 2, 678, 823 Abs. 1 und 826 i.V.m. 830, 249 BGB. Für den Fall des gutgläubigen Dritterwerbs von K stehen F aus den gleichen Anspruchsgrundlagen zudem Schadenersatzansprüche gegen L für den Eigentumsverlust zu. 80 Vgl. zur Erfüllung gegenüber einem Vertreter allgemein Taupitz, JuS 1992, 449 ff. 81 Darin ließe sich auch eine Teilgenehmigung erblicken, deren Zulässigkeit allgemein abgelehnt wird (vgl. nur Leptien [Fn. 73] § 177 Rn. 26). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 511 Übungsfall: Eile mit Weile – die verspätete vorläufige Amtsenthebung Von Rechtsanwältin Anja Mayer, lic. en droit., Rechtsreferendar Alexander Sperlich, LL.M. (Cornell) Düsseldorf* Die nachfolgende Falllösung behandelt im Schwerpunkt Probleme des Staatshaftungsrechts. Verletzt ein Notar vorsätzlich seine Pflichten und führt dies zu Schäden, stellt sich regelmäßig die Frage, wer für diese einzustehen hat. Wenn der Notar selbst nicht solvent ist, kommen auch Amtshaftungsansprüche für eine mangelhafte staatliche Aufsicht über den Notar in Betracht. Diese anspruchsvolle Fallgestaltung beschäftigt sich mit Inhalt und Umfang von Amtspflichten an der Schnittstelle zwischen Zivil- und Verwaltungsrecht, der Drittbezogenheit von Amtspflichten sowie der Subsidiarität von Amtshaftungsansprüchen. Daneben werden auch allgemeine Fragen des Schadensrechts behandelt. Aufgrund der Vielzahl unbekannter Normen und Probleme ist dieser Übungsfall als sehr schwierig einzustufen. A. Sachverhalt1 Die Geschäfte des Düsseldorfer Notars Josef Nollmann (N) laufen schlecht. Er braucht dringend einige lukrative Aufträge. Da kommt es wie gerufen, dass sein alter Freund Willi Fuchs (F) ebenso dringend Geld braucht. F hatte schon vor einiger Zeit sein Gespür dafür bewiesen, neue Geldströme zu erschließen: Er hatte es nach historischem Vorbild ohne juristisches Staatsexamen2 als Prominentenanwalt „Dr. Neu“ zu einigem Vermögen gebracht. Mit diesem erwarb „Dr. Neu“ alias F unter anderem drei Grundstücke (X, Y und Z) in der Umgebung, die er aber nahezu vollständig mit durch erstrangige Hypotheken gesicherten Darlehen finanzierte. Da sein aufwendiger Lebensstil jedoch Unsummen verschlang, wurde das Geld im Laufe der Zeit wieder knapper. F will daher aus den drei Grundstücken Geld ziehen. Hierfür braucht er allerdings die Mithilfe des N. Dieser ist in Anbetracht seiner Geldnot gern zur Hilfe bereit. Anfang Februar wendet sich N im Namen des F an die B-Bank (B) in Düsseldorf und beantragt ein Darlehen in Höhe von EUR 1 Million. Als Sicherheit bietet er die Eintragung einer erstrangigen Hypothek an dem Grundstück X zugunsten der B an. B ist einverstanden. N erstellt am 21. Februar die Urkunde über die Bestellung der Hypothek. Zusätzlich bestätigt er entgegen den Angaben im Grundbuch die Erstrangigkeit der Hypothek. Beide Urkunden versieht er mit seinem Siegel und versendet sie an die B. Die B zahlt daraufhin am 22. Februar die Darlehenssumme an N aus, ohne sich einen aktuellen Grundbuchauszug vorlegen zu lassen. N leitet das Geld an F weiter, der es verschwenderisch ausgibt. * Anja Mayer ist Rechtsanwältin in der Kanzlei Clifford Chance im Bereich Litigation & Dispute Resolution in Düsseldorf, Alexander Sperlich war dort wissenschaftlicher Mitarbeiter und ist derzeit Rechtsreferendar im Bezirk des Oberlandesgerichts Düsseldorf. 1 Der Sachverhalt ist an eine tatsächliche Begebenheit angelehnt. 2 Gaserow, Die Zeit Nr. 22/1998, Zeitmagazin. Auf Grund einer Beschwerde der G-Bank AG über die Amtsführung des N in einer anderen Angelegenheit findet am 22. Februar eine Überprüfung der Amtsgeschäfte des N durch einen Revisor des Landgerichts (LG) Düsseldorf statt. Auf dessen Nachfragen gesteht N, dass ein auf einem seiner Treuhandkonten befindlicher Darlehensbetrag der G-Bank in Höhe von EUR 2 Millionen verschwunden ist, nachdem er dem F unterschriebene Blanko-Überweisungsträger für dieses Konto zur Verfügung gestellt hatte. Auch über den Verbleib anderer Geldbeträge kann N keine Auskunft geben. Zudem ist die Aktenführung des N lückenhaft. Der Revisor erstattet noch am selben Tag dem Präsidenten des LG Düsseldorf Bericht. Am 27. Februar berichtet dieser dem Präsidenten des Oberlandesgerichts (OLG) Düsseldorf davon und regt an, N vorläufig des Amtes zu entheben. Am 5. März bittet der Präsident des OLG um eine Stellungnahme der Notarkammer. In der Folgezeit allerdings tritt N im Auftrag des F erneut an die B heran, die von der Überprüfung des N nichts weiß. Unter der gleichen Vorgehensweise soll N ein weiteres Darlehen in Höhe von EUR 3 Millionen für F gegen Eintragung einer erstrangigen Hypothek am Grundstück Y als Sicherheit erhalten. Nachdem N die Bestätigung über die Erstrangigkeit der Hypothek am 18. März vorgelegt hat, wird der Betrag am 22. März, ohne Vorlage eines aktuellen Grundbuchauszugs und trotz der negativen Bonitätsmitteilung einer Kreditauskunftei, von B an N ausgezahlt. Auch diese EUR 3 Millionen werden nach Weiterleitung an F von diesem alsbald verbraucht. Am 25. März spricht sich die Notarkammer für die Amtsenthebung des N aus. Daraufhin enthebt der Präsident des OLG am 4. April N vorläufig seines Amtes. Die Amtsenthebung wird am 10. April wirksam. Das Siegel des N wird daraufhin eingezogen. Im folgenden Oktober wiederholt sich das Ganze ein drittes Mal. Gegen Sicherung durch eine erstrangige Hypothek am Grundstück Z gewährt die B, die nichts von der Amtsenthebung des N weiß, ein weiteres Darlehen in Höhe von EUR 1 Million. Diesmal fabriziert N – in Ermangelung seines eingezogenen Siegels – die Hypothekenbestellungsurkunde sowie die Rangbestätigung mit Hilfe von Siegeln, die er von alten Urkunden ablöst. Die Idee dazu stammt von F, der die Alturkunden aufgrund früherer Transaktionen mit N besitzt, und diese dem N zur „Wiederverwendung“ der Siegel zur Verfügung stellt. Erneut vertraut die B allein der Rangbestätigung. Der von N an F weitergeleitete Betrag wird alsbald von diesem verbraucht. Als F kurze Zeit später nicht mit der vertraglich vorgesehenen Tilgung der drei Darlehen beginnt, erfährt die B von dem ganzen Schwindel. Sie kündigt die Darlehen und versucht erfolglos gegen die mittellosen F und N vorzugehen. Auch die Hypotheken sind wertlos: Für die Grundstücke X und Y stehen sie nur im zweiten Rang, beide Grundstücke sind bereits durch die erstrangig gesicherten Hypotheken vollständig verwertet worden. Für das Grundstück Z wurde mangels wirksamer Beurkundung der Bestellungsurkunde _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 512 Eile mit Weile überhaupt keine Hypothek zugunsten der B eingetragen. Daraufhin versucht die B zu retten, was zu retten ist. Sie erhebt wegen des Ausfalls der drei Darlehen Klage vor dem Landgericht Düsseldorf gegen das Land Nordrhein-Westfalen auf Schadensersatz in Höhe von EUR 5 Millionen wegen mangelhafter Dienstaufsicht durch verspätete Amtsenthebung des N. Hat die Klage der B gegen das Land Nordrhein-Westfalen Aussicht auf Erfolg? B. Bearbeitervermerk Auf die Bedeutung von Ansprüchen gegen den Vertrauensschadensfond nach § 67 Abs. 4 Nr. 3 Bundesnotarordnung (BNotO) soll nicht eingegangen werden. Es soll davon ausgegangen werden, dass eine endgültige Amtsenthebung nach § 50 BNotO in der Kürze der Zeit nicht durchführbar gewesen wäre. Zudem besteht keine Deckung für wissentliche Amtspflichtverletzungen durch den Notar im Rahmen der Haftpflichtversicherung nach § 19a BNotO, die Haftung der Versicherung nach § 67 Abs. 3 Nr. 3 BNotO ist auf die Mindestsumme beschränkt. Auf folgende Vorschriften der BNotO und der Allgemeinverfügung des Justizministeriums Nordrhein-Westfalen über die Angelegenheiten der Notarinnen und Notare (AVNot NRW) wird hingewiesen: Bundesnotarordnung § 19 (Auszug) (1) 1Verletzt der Notar vorsätzlich oder fahrlässig die ihm einem anderen gegenüber obliegende Amtspflicht, so hat er diesem den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. 2Fällt dem Notar nur Fahrlässigkeit zur Last, so kann er nur dann in Anspruch genommen werden, wenn der Verletzte nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermag; das gilt jedoch nicht bei Amtsgeschäften der in §§ 23, 24 bezeichneten Art im Verhältnis zwischen dem Notar und dem Auftraggeber. 3 Im übrigen sind die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs über die Schadensersatzpflicht im Fall einer von einem Beamten begangenen Amtspflichtverletzung entsprechend anwendbar.4 Eine Haftung des Staates an Stelle des Notars besteht nicht. § 19a (Auszug) (1) 1Der Notar ist verpflichtet, eine Berufshaftpflichtversicherung zu unterhalten [...] (2) Vom Versicherungsschutz können ausgeschlossen werden 1. Ersatzansprüche wegen wissentlicher Pflichtverletzung § 50 (Auszug) (1) Der Notar ist seines Amtes zu entheben, 8. wenn seine wirtschaftlichen Verhältnisse, die Art seiner Wirtschaftsführung oder der Durchführung von Verwahrungsgeschäften die Interessen der Rechtssuchenden gefährden; (3) 1Die Amtsenthebung geschieht durch die Landesjustizverwaltung nach Anhörung der Notarkammer. 2Der Notar ist vorher zu hören. [...] ÖFFENTLICHES RECHT § 54 (Auszug) (1) Der Notar kann von der Aufsichtsbehörde vorläufig seines Amtes enthoben werden, 1. wenn sie die Voraussetzungen des § 50 für gegeben hält; § 55 (Auszug) (1) 1Im Fall der vorläufigen Amtsenthebung hat das Amtsgericht, wenn dem Notar kein Vertreter bestellt ist, seine Akten und Bücher sowie Siegel, Stempel und Amtsschild für die Dauer der vorläufigen Amtsenthebung in Verwahrung zu nehmen. […] § 67 (Auszug) (3) Außer den der Notarkammer durch Gesetz zugewiesenen Aufgaben obliegt ihr, 1. Versicherungsverträge zur Ergänzung der Haftpflichtversicherung nach § 19a abzuschließen, um auch Gefahren aus solchen Pflichtverletzungen zu versichern, die nicht durch Versicherungsverträge nach § 19a gedeckt sind, [...] oder weil sie als vorsätzliche Handlungen durch die allgemeinen Versicherungsbedingungen vom Versicherungsschutz ausgenommen sind. Für diese Versicherungsverträge gilt, dass die Versicherungssumme für jeden versicherten Notar und für jeden Versicherungsfall mindestens 250.000 Euro für Schäden aus wissentlichen Pflichtverletzungen [...] betragen muss § 92 Das Recht der Aufsicht steht zu 1. dem Präsidenten des Landgerichts über die Notare und Notarassessoren des Landgerichtsbezirks 2. dem Präsidenten des Oberlandesgerichts über die Notare und Notarassessoren des Oberlandesgerichtsbezirks 3. der Landesjustizverwaltung über sämtliche Notare und Notarassessoren des Landes. § 93 (Auszug) (1) 1Den Aufsichtsbehörden obliegt die regelmäßige Prüfung und Überwachung der Amtsführung der Notare und des Dienstes der Notarassessoren. (2) 1Gegenstand der Prüfung ist die ordnungsmäßige Erledigung der Amtsgeschäfte des Notars. AVNot NRW § 37 (Auszug) (1) 1Zur vorläufigen Amtsenthebung (§ 54 BNotO) sind die Präsidentinnen oder Präsidenten der Oberlandesgerichte zuständig. 2Sie sollen vor der Entscheidung die Notarkammer hören. [...] Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen § 57 (Auszug) (1) 1Die Landesregierung vertritt das Land Nordrhein-Westfalen nach außen. 2Sie kann diese Befugnis auf den Ministerpräsidenten, auf ein anderes Mitglied der Landesregierung oder auf nachgeordnete Stellen übertragen. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 513 ÜBUNGSFALL Anja Mayer/Alexander Sperlich Anordnung über die Vertretung des Landes NordrheinWestfalen im Geschäftsbereich des Justizministeriums (VertretungsO JM NRW) A. Vertretung (Auszug) Das Land Nordrhein-Westfalen wird, wenn nicht durch Gesetz oder Verordnung etwas anderes bestimmt ist, im Geschäftsbereich des Justizministeriums nach Maßgabe der folgenden Regelung vertreten: I. Vertretung in gerichtlichen Verfahren 1. Allgemeine Bestimmungen In gerichtlichen Verfahren wird das Land – vorbehaltlich der besonderen Bestimmungen nach Nr. 2 – jeweils für ihren Geschäftsbereich vertreten durch […] c) die Präsidentinnen, die Präsidenten der Oberlandesgerichte; vor den ordentlichen Gerichten jedoch an ihrer Stelle durch die Generalstaatsanwältin oder den Generalstaatsanwalt bei dem jeweiligen Oberlandesgericht, das sachlich zuständig ist, C. Lösungsvorschlag Die Klage der B hat Aussicht auf Erfolg, wenn ihre Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen und sie begründet ist. I. Sachentscheidungsvoraussetzungen 1. Rechtswegeröffnung Möglicherweise ist der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten eröffnet. Mangels aufdrängender Sonderzuweisung richtet sich der Rechtsweg nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO. Es müsste eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art vorliegen. Außerdem dürfte keine abdrängende Sonderzuweisung zu einer anderen Gerichtsbarkeit bestehen. a) Öffentlich-rechtliche Streitigkeit Eine Streitigkeit ist öffentlich-rechtlich, wenn sich das Begehren des Klägers als unmittelbare Folge des öffentlichen Rechts darstellt, sich der zugrundeliegende Sachverhalt also nach einer Norm beurteilt, die öffentlich-rechtlich ist.3 B macht einen Schadensersatzanspruch aus Staatshaftung für eine mangelnde Dienstaufsicht über den Notar N geltend. Streitentscheidende Normen sind § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG. Eine Norm ist dann öffentlich-rechtlicher Natur, wenn sie auf einer Seite ausschließlich einen Träger öffentlicher Gewalt berechtigt oder verpflichtet (Sonderrechtstheorie).4 § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG verpflichtet infolge der durch Art. 34 GG bewirkten Haftungsüberleitung den Staat. Hier geht es um die Verletzung der Dienstaufsichtspflicht des Staates über Notare. Diese Pflicht trägt dafür Sorge, dass die Notare das ihnen übertragene öffentliche Amt ordnungsgemäß erfüllen.5 Sie ist mithin öffentlich-rechtlich. Folglich sind auch die Normen, die für ihre Verletzung Rechtsfolgen vorsehen und die nach ihnen zu beurteilende vorliegende Streitigkeit öffentlich-rechtlich. b) Nichtverfassungsrechtlicher Art Die Streitigkeit muss nichtverfassungsrechtlicher Art sein. Nach herrschender Ansicht ist eine Streitigkeit verfassungsrechtlicher Art, wenn Verfassungsrechtssubjekte um materielles Verfassungsrecht streiten (doppelte Verfassungsunmittelbarkeit).6 Die genaue Abgrenzung dieses Kriteriums im Einzelnen ist umstritten.7 Hier stehen sich jedenfalls keine Verfassungsrechtssubjekte gegenüber, so dass die Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art ist. c) Keine abdrängende Sonderzuweisung Gemäß § 40 Abs. 2 S. 1 Var. 3 VwGO könnte die Streitigkeit durch eine abdrängende Sonderzuweisung der Verwaltungsgerichtsbarkeit entzogen sein. Danach ist für Schadensersatzansprüche aus der Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten, die nicht auf einem öffentlich-rechtlichen Vertrag beruhen, der ordentliche Rechtsweg eröffnet. Die B macht Schadensersatz wegen der Verletzung der öffentlich-rechtlichen Pflicht, die Dienstaufsicht über die Notare ordnungsgemäß auszuüben, geltend. Daher ist hier abweichend von § 40 Abs. 1 VwGO der ordentliche Rechtsweg eröffnet. Dies korrespondiert mit Art. 34 S. 3 GG, der für Amtshaftungsklagen den Ausschluss des ordentlichen Rechtswegs verbietet. d) Ergebnis Für die Klage der B ist der ordentliche Rechtsweg eröffnet. 2. Zuständigkeit des Gerichts a) Sachliche Zuständigkeit Nach § 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG ist das Landgericht für Ansprüche gegen Beamte wegen Überschreitung ihrer amtlichen Befugnisse oder wegen pflichtwidriger Unterlassung von Amtshandlungen sachlich ausschließlich zuständig. b) Örtliche Zuständigkeit Der allgemeine Gerichtsstand des Landes NordrheinWestfalen gemäß § 18 ZPO richtet sich nach dem Sitz der vertretungsberechtigten Behörde. Grundsätzlich wird das Land Nordrhein-Westfalen gemäß § 57 S. 1 Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen8 (Land NRW) durch die Landesregierung, diese durch den Ministerpräsidenten und dieser wiederum durch den jeweils zuständigen Ressortminister ver- 5 3 Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 15. Aufl. 2007, § 40 Rn. 6; Rennert, in: Eyermann (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 12. Aufl. 2006, § 40 Rn. 31. 4 Kopp/Schenke (Fn. 3), § 40 Rn. 7; Rennert (Fn. 3), § 40 Rn. 44; GmSOGB BGHZ 108, 284 (287). Lemke, in: Schippel/Bracker (Hrsg.), Bundesnotarordnung, Kommentar, 8. Aufl. 2006, § 92 Rn. 1. 6 Z.B. von Nicolai, in: Redeker/von Oertzen (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 14. Aufl. 2004, § 40 Rn. 3, Kopp/Schenke (Fn. 3), § 40 Rn. 32 m.w.N. 7 Vgl. Rennert (Fn. 3), § 40 Rn. 21. 8 GV NRW 1950, S. 127. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 514 ÖFFENTLICHES RECHT Eile mit Weile treten. Gemäß Art. 1c) VertretungsO JM NRW9 wird das Land NRW im Ressort des Justizministeriums im Geschäftsbereich der Präsidenten der Oberlandesgerichte vor den ordentlichen Gerichten durch den Generalstaatsanwalt bei dem Oberlandesgericht, das sachlich zuständig ist, vertreten. Da die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts nur nach dem für die Ansprüche aus Amtpflichtverletzung örtlich ausschließlich zuständigen Landgericht bestimmt werden kann, ist die Zuständigkeitsbestimmung in diesem Fall zirkulär. Der Zirkelschluss ließe sich auf verschiedene Arten lösen. Zum einen könnte auf den Sitz der Landesregierung als hierarchisch höher gelegener vertretungsberechtigter Behörde abgestellt werden. Deren Sitz liegt in Düsseldorf. Zum anderen könnte auf die örtliche Zuständigkeit für die geltend gemachte Verletzung der deliktischen Amtspflichten abgestellt werden. B macht eine Verletzung der Dienstaufsicht über den Düsseldorfer Notar N durch den Präsidenten des OLG Düsseldorf zu ihrem Nachteil geltend. Die Pflicht wurde mithin in Düsseldorf verletzt. Auch der Schaden trat am Sitz der B in Düsseldorf ein. Damit hat sich der Vorfall vollständig im Gerichtsbezirk des OLG Düsseldorf zugetragen. Einer Streitentscheidung bedarf es daher nicht. Jedenfalls ist das Landgericht Düsseldorf örtlich zuständig. 3. Partei- und Prozessfähigkeit B ist nach § 50 Abs. 1 ZPO, § 1 Abs. 1 S. 1 AktG parteifähig und wird durch ihren Vorstand vertreten, § 78 Abs. 1 AktG. Das beklagte Land ist als Körperschaft des öffentlichen Rechts nach § 50 Abs. 1 ZPO parteifähig und wird gemäß Art. 1c) VertretungsO JM NW durch den Generalstaatsanwalt beim OLG Düsseldorf vertreten.10 4. Ergebnis Alle Sachentscheidungsvoraussetzungen liegen vor. Die Klage vor dem Landgericht Düsseldorf ist damit zulässig. II. Begründetheit Die Klage ist begründet, wenn B ein Anspruch gemäß § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG gegen das Land Nordrhein-Westfalen zusteht. Dies ist der Fall, wenn jemand, für den das Land NRW haftungsrechtlich einzustehen hat, in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes eine ihm gegenüber der B als Dritter obliegende Amtspflicht verletzt hat, der B hierdurch ein Schaden entstanden und der Anspruch nicht nach § 839 Abs. 1 S. 2, Abs. 2, 3 BGB ausgeschlossen ist. Ein solcher Anspruch könnte sich vorliegend daraus ergeben, dass der Präsident des Oberlandesgerichts Düsseldorf den N nicht sofort vorläufig des Amtes enthob, sondern hiermit mehrere Wochen zuwartete. 1. Passivlegitimation des Landes Nordrhein-Westfalen Gemäß Art. 34 S. 1 GG wird die Haftung des pflichtwidrig handelnden Amtsträgers auf die Körperschaft übergeleitet, in deren Dienst dieser steht. Dies ist die Körperschaft, die den Amtsträger angestellt hat und ihn besoldet (Anstellungstheorie).11 Der Präsident des OLG Düsseldorf ist vom Land NRW angestellt und wird von diesem besoldet. Daher geht die Haftung für Amtspflichtverletzungen des Präsidenten des OLG Düsseldorf nach Art. 34 S. 1 GG auf das Land NRW über. Das Land NRW ist folglich für die Klage der B passivlegitimiert. 2. Handeln in Ausübung eines ihnen anvertrauten öffentlichen Amtes Der Präsident des OLG Düsseldorf müsste in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes gehandelt haben. Ihm ist nach § 92 BNotO die Dienstaufsicht über die Notare, die gemäß § 1 BNotO Träger eines öffentlichen Amtes sind, anvertraut. Damit stellt auch die Aufsicht über die Notare ein öffentliches Amt dar. Die verspätete Amtsenthebung des N fand in Ausübung der Dienstaufsicht statt und nicht nur bei Gelegenheit. 3. Amtspflichtverletzung Fraglich ist, ob der Präsident des OLG Düsseldorf durch die verspätete Amtsenthebung des N eine Amtspflicht verletzt hat. a) Vorläufige Amtsenthebung als Amtspflicht Jede persönliche Verhaltenspflicht eines Amtsträgers bezüglich seiner Amtsführung stellt eine Amtspflicht dar.12 Daher müsste dem Gerichtspräsidenten im Rahmen der Dienstaufsicht zunächst die Pflicht oblägen haben, den N sofort vorläufig seines Amtes zu entheben. Innenrechtlich ist er gemäß § 37 Abs. 1 S. 1 AVNot NRW i.V.m. § 92 Abs. 2 BNotO für die vorläufige Amtsenthebung zuständig. Darüber hinaus müsste gemäß § 50 BNotO ein Amtsenthebungsgrund vorgelegen haben, der ihn auch zur sofortigen vorläufigen Amtsenthebung gemäß § 54 BNotO verpflichtet hätte. aa) Amtsenthebungsgrund Nach § 50 Abs. 1 Nr. 8 BNotO ist ein Notar seines Amtes zu entheben, wenn seine wirtschaftlichen Verhältnisse, die Art seiner Wirtschaftsführung oder der Durchführung von Verwahrungsgeschäften die Interessen der Rechtssuchenden gefährden. Ein typisches Verwahrungsgeschäft ist die Verwahrung fremder Gelder als Treuhänder. Hier könnte die Art und Weise wie N mit den Geldern der G-Bank umgegangen ist, die Interessen der Rechtssuchenden gefährdet haben. Für den Notar besteht eine grundlegende Pflicht, Verwahrungsgeschäfte äußerst sorgfältig und genau durchzuführen.13 Begründet der Umgang mit fremden Treuhandgeldern erheb11 9 Ausführungsvorschrift des Justizministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 25. April 2000, 5002 – I B. 10. 10 Vgl. oben unter I. 2. b). Papier, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 5, 4. Aufl. 2004, § 839 Rn. 361; Reinert, in: Bamberger/Roth (Hrsg.), Beck'scher Online-Kommentar, 8. Edition 2007, § 839 Rn. 104. 12 Sprau, in: Palandt, BGB, 66. Aufl. 2007, § 839 Rn. 31. 13 Püls, in: Schippel/Bracker (Fn. 5), § 50 Rn. 33. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 515 ÜBUNGSFALL Anja Mayer/Alexander Sperlich liche Bedenken gegen die Zuverlässigkeit des Notars, so reicht dies für eine Gefährdung der Interessen der Rechtssuchenden aus.14 Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn weisungswidrig über Fremdgelder verfügt wird.15 Auch die Ausstellung von Blankoschecks und -überweisungsträgern an Dritte, ohne deren weitere Benutzung zu überwachen, stellt eine Interessengefährdung der Rechtssuchenden dar, da zwangsläufig die Verletzung von Treuhandauflagen die Folge sein kann.16 Der Revisor des Landgerichts Düsseldorf stellte bei N fest, dass dieser dem F Blanko-Überweisungsträger für ein Treuhandkonto ausgestellt hatte und dadurch treuhänderisch verwahrte Gelder in Höhe von EUR 2 Millionen verschwunden waren. Somit lag nicht nur eine bloße Gefährdung der Rechtssuchenden vor, sondern war bereits ein tatsächlicher Schaden bei diesen eingetreten. Darüber hinaus sind auch andere Geldbeträge, die dem N anvertraut waren, verschwunden. Dies zeigt, dass die Art der Durchführung der Verwahrungsgeschäfte durch B die Interessen der Rechtssuchenden erheblich gefährdete. Ein Amtsenthebungsgrund lag damit vor. bb) Voraussetzungen der vorläufigen Amtsenthebung Der Amtsenthebungsgrund müsste auch eine vorläufige Amtsenthebung des N rechtfertigen. Gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 2 BNotO kann ein Notar vorläufig seines Amtes enthoben werden, wenn ein Amtsenthebungsgrund nach § 50 BNotO vorliegt. Dies ist hier der Fall. Da jedoch die vorläufige Amtsenthebung auf das Verfahren nach § 50 Abs. 3 BNotO verzichtet, bedarf sie einer weiteren Rechtfertigung. Mangels einer konkreten Regelung der Voraussetzungen für die vorläufige Amtsenthebung in der BNotO wendet die Rechtsprechung die zu § 150 BRAO entwickelten Grundsätze entsprechend an.17 Die vorläufige Amtsenthebung ist mithin zulässig, wenn mit einer dauernden oder zeitlich begrenzten Amtsenthebung in der Hauptsache zu rechnen ist; zudem muss die Maßnahme zum Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter vor konkreten Gefahren geboten sein und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen.18 Verstöße gegen Treuhandauflagen sind für die Entscheidung über eine dauerhafte Amtsenthebung von besonderem Gewicht.19 Verstößt ein Notar mehrfach gegen Treuhandauflagen, so besteht nämlich die Gefahr, dass er dies auch künftig tun wird und dadurch Treugebern erhebliche Schäden zufügt.20 Zudem wird durch ein derartiges Verhalten des Notars das Vertrauen der Bevölkerung in das wichtige Gemeinschaftsgut der Funktionsfähigkeit der vorsorgenden Rechtspflege erschüttert.21 Je schwerer das Fehlverhalten des Notars gewesen ist, desto eher kann auch die Verhältnismäßigkeit der vorläufigen Amtsenthebung be- 14 BGH DNotZ 1991, 94. OLG Schleswig DNotZ 1999, 726 (729). 16 BGH DNotZ 1986, 310 (311). 17 Bracker, in: Schippel/Bracker (Fn. 5), § 54 Rn. 6. 18 OLG Schleswig DNotZ 1999, 726 (728). 19 BGHZ 135, 354 (364). 20 OLG Schleswig DNotZ 1999, 726 (729). 21 OLG Schleswig DNotZ 1999, 726 (729). 15 jaht werden.22 Ein mögliches Verschulden ist dabei nicht zu berücksichtigen, da die vorläufige Amtsenthebung eine rein präventive Maßnahme zum Schutz des Rechtsverkehrs darstellt.23 N hat hier gegen Treuhandauflagen verstoßen und damit der G-Bank und anderen erhebliche Schäden zugefügt. Daher lag bereits ein Grund für eine endgültige Amtsenthebung des N vor. Das Verhalten des N war auch geeignet, das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der vorsorgenden Rechtspflege zu erschüttern. Schließlich bestand zu befürchten, dass F immer noch im Besitz von Blanko-Überweisungsträgern für das betroffene Konto des N war. Dadurch bestand die konkrete Gefahr weiterer Schäden. Damit bestanden auch unter Gesichtspunkten der Verhältnismäßigkeit keine Bedenken gegen eine vorläufige Amtsenthebung des N, deren Voraussetzungen damit vorlagen. cc) Pflicht zur vorläufigen Amtsenthebung Fraglich ist allerdings, ob auch eine Pflicht bestand, N vorläufig des Amtes zu entheben. § 54 Abs. 1 BNotO stellt die Entscheidung über die vorläufige Amtsenthebung durch die Verwendung des Wortes „kann“ in das Ermessen der Aufsichtsbehörde. Vorliegend könnte dieses Ermessen jedoch auf Null reduziert worden sein, so dass sogar eine Pflicht zur vorläufigen Amtsenthebung bestand. Eine Ermessensreduzierung auf Null liegt dann vor, wenn von den eingeräumten Handlungsmöglichkeiten alle bis auf eine ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig wären.24 Aufgrund der Ermittlungen des Revisors des Landgerichts Düsseldorf und des Geständnisses des N bestanden keine Zweifel daran, dass der Amtsenthebungsgrund des § 50 Abs. 1 Nr. 8 BNotO vorliegt. Damit bestand nicht nur ein bloßer Verdacht gegen N, sondern die konkrete Gefahr weiterer erheblicher Schäden. Wie der zwingende Charakter des § 50 Abs. 1 BNotO zeigt, der – anders als § 54 Abs. 1 BNotO – den Aufsichtsbehörden keinen Ermessensspielraum lässt, war nur die Entscheidung, N vorläufig des Amtes zu entheben, richtig. Das Ermessen der Aufsichtsbehörden, einen Notar in einem solchen Fall des Amtes zu entheben, ist daher auf Null reduziert. Damit bestand eine Pflicht zur vorläufigen Amtsenthebung des N. dd) Ergebnis Es bestand für den Präsidenten des OLG Düsseldorf eine Amtspflicht, N vorläufig des Amtes zu entheben. b) Verletzung der Amtspflicht Fraglich ist, ob trotz der am 4. April ausgesprochenen vorläufigen Amtsenthebung eine Amtspflichtverletzung vorliegt. Die Verletzung der Amtspflicht kann sowohl in der Vornahme einer unzulässigen Handlung als auch im Unterlassen 22 BGH DNotZ 1985, 487 (488 f.). Bracker (Fn. 17), § 54 Rn. 7. 24 Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensgesetz, 6. Aufl. 2001, § 40 Rn. 56. 23 _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 516 ÖFFENTLICHES RECHT Eile mit Weile einer gebotenen Handlung liegen.25 Sie liegt insbesondere auch dann vor, wenn der Präsident des OLG Düsseldorf die Grenzen des ihm eingeräumten Ermessens überschritten hat.26 Hier könnte eine Amtspflichtverletzung darin liegen, dass der Präsident des OLG Düsseldorf es unterlassen hat, die Amtsenthebung unverzüglich auszusprechen, sondern vielmehr vorher die Notarkammer um Stellungnahme bat. Zunächst dauerte es nach der Revision vom 22. Februar bereits fünf Tage, bis der Bericht des Revisors mit der Empfehlung des Präsidenten des LG Düsseldorf an den Präsidenten des OLG Düsseldorf weitergeleitet wurde. Der Präsident des OLG leitete den Bericht mit der Bitte um Stellungnahme nach weiteren sechs Tagen an die Notarkammer weiter. Die Stellungnahme der Notarkammer traf erst drei Wochen später, am 25. März, beim Präsidenten des OLG Düsseldorf ein. Schließlich dauerte es noch einmal zehn Tage, bis die vorläufige Amtsenthebung endlich ausgesprochen wurde. Gemäß § 37 Abs. 1 S. 2 AVNot NRW „soll“ die Notarkammer angehört werden. Damit handelt es sich bei der Frage, welches Verfahren zur vorläufigen Amtsenthebung angewendet wird, ebenso wie bei der Frage nach dem „Ob“ und „Wann“ der Amtsenthebung, um eine Entscheidung im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens. Da das Ermessen rechtsfehlerfrei auszuüben ist und die fehlerhafte Ausübung des Ermessens der gerichtlichen Kontrolle unterliegt (vgl. § 114 VwGO), kommt eine von den Zivilgerichten zu überprüfende Amtspflichtverletzung dann in Betracht, wenn die Grenzen des fehlerfreien Ermessens überschritten werden.27 Hier könnte das Ermessen des OLG-Präsidenten, N unverzüglich des Amtes zu entheben, auf Null reduziert gewesen sein. Die Anhörung der Notarkammer nach § 37 Abs. 1 S. 2 AVNot NRW stellt den Regelfall dar. Sie ermöglicht die Nutzung des bei der Notarkammer konzentrierten Sachverstandes in notariellen Fragen und ermöglicht u.a. die Einbeziehung von Umständen, die nur der Kammer aus Beschwerdevorgängen bekannt sind. Unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hätte aber von diesem Verfahren abgewichen werden müssen, wenn durch eine Beteiligung der Notarkammer der Zweck der vorläufigen Maßnahme gefährdet würde.28 Die Überprüfung Ns als auch dessen Geständnis belegten deutlich, dass N nachlässig, eventuell sogar in strafrechtlich relevanter Weise mit Fremdgeldern umgeht. Durch die Aushändigung der Blankoüberweisungsaufträge an F hatte N diesem eine nicht kontrollierbare Verfügungsmöglichkeit für ein Treuhandkonto eingeräumt, von dem bereits mehrfach Gelder verschwunden waren. Aufgrund der Höhe der verschwundenen Beträge und der Möglichkeit, dass sich ähnliche Vorfälle auch in Zukunft wiederholen könnten, war die dem rechtsuchenden Publikum drohende Gefahr als sehr hoch einzuschätzen. Aus der maßgeblichen ex-ante-Sicht lagen daher bereits zum Zeitpunkt der Berichterstattung des Revisors an das LG Düsseldorf gravierende notarielle Pflichtverlet- zungen des N vor. Aufgrund der mit diesen Pflichtverletzungen einhergehenden Gefahr des Eintritts weiterer Schäden war eine Amtsenthebung des N äußerst eilbedürftig und daher unverzüglich durchzuführen.29 Eine vorherige Anhörung des N war nach § 54 BNotO nicht erforderlich. Selbst wenn man diese aufgrund einer entsprechenden Anwendung von Art. 103 Abs. 1 GG bzw. des Rechtsgedankens des Art. 6 Abs. 1 EMRK und der besonderen Bedeutung der Berufsfreiheit grundsätzlich für geboten hält, hätte sie wegen der Eilbedürftigkeit nachträglich erfolgen können und müssen. Anderenfalls wäre der Zweck der Entscheidung gefährdet gewesen.30 Das Ermessen des OLG-Präsidenten hinsichtlich des Verfahrens war daher auf Null reduziert. Er hätte auf die Anhörung der Notarkammer verzichten und N unverzüglich des Amtes entheben müssen. Selbst wenn man annimmt, dass die Weiterleitung des Berichts durch den Präsidenten des LG Düsseldorf an den Präsidenten des OLG Düsseldorf angemessen schnell erfolgte, so hätte die vorläufige Amtsenthebung deutlich eher, namentlich in der ersten Märzhälfte erfolgen müssen. Durch die Unterlassung der rechtzeitigen Amtsenthebung hat der Präsident des OLG Düsseldorf somit seine Amtspflicht verletzt. c) Ergebnis Eine Amtspflichtverletzung durch den Präsidenten des OLG Düsseldorf liegt vor. 4. Drittbezogenheit der verletzten Amtspflicht Um nicht jede Amtspflichtverletzung dem Amtshaftungsanspruch zu unterstellen, begrenzen § 839 Abs. 1 S. 1 BGB und Art. 34 S. 1 GG den Anspruch auf die Verletzung von Amtspflichten, die dem Amtsträger einem Dritten gegenüber obliegen.31 Die Amtspflicht des OLG-Präsidenten müsste diesem daher auch gegenüber der B oblegen haben. Die staatliche Aufsicht dient grundsätzlich zunächst den Interessen der Allgemeinheit und des Staates.32 Staatlichen Behörden obliegen daher prinzipiell bei der Ausübung der Dienstaufsicht keine Amtspflichten gegenüber dritten Personen.33 Auch die tatsächliche Beeinträchtigung von Drittinteressen durch die Amtshandlung oder ihre Unterlassung begründet nur dann eine Haftung, wenn die Amtspflicht auch gerade diesen dritten Personen gegenüber bestand. Diese Grundsätze gelten auch für die staatliche Dienstaufsicht über die Notare.34 Möglicherweise ist hier aber aufgrund einer besonderen Beziehung zwischen der Amtspflicht und den Interessen der B eine Ausnahme geboten. Ist nämlich eine Amtshandlung mit den Interessen einzelner Betroffener oder eines bestimmten Personenkreises dergestalt verknüpft, dass ihr überwiegender Zweck nicht mehr bloß die Wahrung der 29 OLG Hamm, Urt. v. 21. März 2003 – 11 U 121/02. OLG Hamm, Urt. v. 21. März 2003 – 11 U 121/02. 31 Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl. 1998, 2. Teil III. 3. a). 32 BGHZ 35, 44 (46); Reinert (Fn. 11), § 839 Rn. 65. 33 BGHZ 35, 44 (46). 34 BGHZ 35, 44 (49). 30 25 Sprau (Fn. 12), § 839 Rn. 31. Vgl. Sachs (Fn. 24), § 40 Rn. 55. 27 BGH NJW 1979, 1354 (1356). 28 OLG Hamm, Urt. v. 21. März 2003 – 11 U 121/02 (unveröffentlicht). 26 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 517 ÜBUNGSFALL Anja Mayer/Alexander Sperlich Interessen der Allgemeinheit ist, so ergibt sich eine Drittbezogenheit der Amtspflicht.35 Eine Amtsenthebung gemäß § 50 Abs. 1 Nr. 8 BNotO verfolgt ausdrücklich schon nach dem Wortlaut der Vorschrift den Zweck, die Interessen der Rechtssuchenden zu schützen, die sich in ihren Angelegenheiten an einen Notar wenden. Da der Notar gegenüber dem rechtssuchenden Publikum ein erhebliches Vertrauen genießt und er mit für den Einzelnen bedeutenden Vermögensangelegenheiten betraut wird, schützt die Aufsichtspflicht die Interessen der Rechtssuchenden. Sie ist damit ausnahmsweise als drittschützend einzuordnen.36 Zum geschützten Personenkreis ge-hört auch die B, die sich in ihren vermögensrechtlichen Angelegenheiten auf die neutrale Vertrauensstellung des N verlassen hat. Fraglich ist, zu welchem Zeitpunkt die Amtspflicht zur Amtsenthebung des N gegenüber der B entstand. Dieser ist grundsätzlich dann gekommen, wenn die Voraussetzungen der Amtsenthebung nach § 50 Abs. 1 Nr. 8 BNotO feststehen oder wenn die Behörde einen Verdacht von gewisser Stärke hegt, dass diese vorliegen.37 Dem Präsidenten des Oberlandesgerichts Düsseldorf wurde am 27. Februar, d.h. fünf Tage nach der Prüfung durch den Revisor, der Bericht des Revisors vorgelegt. Ab diesem Zeitpunkt wusste er, dass die Gründe für eine zwingende Amtsenthebung nach § 50 Abs. 1 Nr. 8 BNotO vorlagen. Daher bestand die Amtspflicht zur vorläufigen Amtsenthebung des B von diesem Zeitpunkt an auch der B gegenüber. 5. Verschulden Der Präsident des OLG Düsseldorf müsste als Aufsichtsbehörde die Amtspflichtverletzung auch schuldhaft begangen haben. Gemäß § 276 Abs. 1 S. 1 BGB hat er sowohl Vorsatz als auch Fahrlässigkeit zu vertreten. Hier kommt ein fahrlässiges Handeln in Betracht. Fahrlässig handelt gemäß § 276 Abs. 2 BGB, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Unter Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte der Präsident des OLG aufgrund des ihm vorgelegten Sachverhalts erkennen müssen, dass infolge des Verhaltens des N erhebliche Gefahren einer weiteren Schädigung von rechtssuchenden Personen bestanden und der N daher unverzüglich vorläufig des Amtes hätte enthoben werden müssen. Durch das Unterlassen dieser gebotenen Amtshandlung handelte er mithin fahrlässig. 6. Ausschluss der Haftung nach § 839 Abs. 1 S. 2, Abs. 2, 3 BGB Die Haftung des Landes NRW dürfte auch nicht ausgeschlossen sein. Möglicherweise greift hier die Subsidiaritätsklausel des § 839 Abs. 1 S. 2 BGB ein. Danach ist eine Haftung des Landes ausgeschlossen, wenn dem die Amtspflicht verletzenden Amtsträger nur Fahrlässigkeit zur Last fällt und der Verletzte auf andere Weise Ersatz erlangen kann als durch Inanspruchnahme des Staates. Die anderweitige Ersatzmöglich- keit muss im Zusammenhang mit dem schädigenden Ereignis erworben worden sein, die rechtlich oder tatsächlich begründete Aussicht auf Erfolg bieten und durchsetzbar sein.38 Da die Amtspflichtverletzung fahrlässig erfolgte39, könnte die Haftung des Landes NRW ausgeschlossen sein, wenn der B Ansprüche gegen N, die Berufshaftpflichtversicherung (§ 19a BNotO) oder die Vertrauensschadensversicherung (§ 67 Abs. 3 Nr. 3 BNotO) zuständen. a) Anspruch gegen N N hat durch Ausstellung falscher Rangbestätigungen wissentlich seine Amtspflichten verletzt und haftet daher der B nach § 19 Abs. 1 S. 1 BNotO. N ist jedoch mittellos, ein Anspruch gegen ihn wäre daher tatsächlich nicht durchsetzbar. Auf die Frage, ob ein Anspruch gegen ihn dem Grunde nach eine anderweitige Ersatzmöglichkeit darstellen würde, kommt es hier daher nicht an.40 b) Anspruch gegen die Berufshaftpflichtversicherung Die Berufshaftpflichtversicherung des N hat gemäß § 19a BNotO die Haftung für wissentlich pflichtwidriges Handeln des N ausgeschlossen41 und haftet daher nicht. c) Anspruch gegen die Vertrauensschadensversicherung Daher könnte eine Haftung des Landes NRW vorliegend nur durch einen Anspruch gegen die Vertrauensschadensversicherung nach § 67 Abs. 3 Nr. 3 BNotO ausgeschlossen sein. Diese sichert bis zu einer gewissen Höhe Schäden ab, die von der Berufshaftpflichtversicherung – wie zum Beispiel Schäden aus wissentlichen Pflichtverletzungen – nicht umfasst sind. Ob ein Anspruch gegen die Vertrauensschadensversicherung von der Subsidiaritätsklausel umfasst wird, ist allerdings doppelt zweifelhaft. Die allgemeine Subsidiaritätsregel des § 839 Abs. 1 S. 2 BGB hat aus teleologischen Gründen viele Ausnahmen erfahren. Zum einen werden Ansprüche gegen die haftende öffentliche Körperschaft nicht ausgeschlossen, wenn sich der Ersatzanspruch des Geschädigten gegen eine Versicherung richtet. Zum anderen stellen auch Ansprüche gegen andere Hoheitsträger keine anderweitigen Ersatzansprüche im Sinne des § 839 Abs. 1 S. 2 BGB dar. Problematisch ist hier folglich, dass es sich bei der Vertrauensschadensversicherung um eine Versicherung handelt, die zudem an die Stelle des eigentlich haftenden Notars tritt, der als Träger eines öffentlichen Amtes ebenfalls Hoheitsträger ist. aa) Ausschluss der Subsidiarität aufgrund der Versicherungseigenschaft Die Subsidiaritätsklausel des § 839 Abs. 1 S. 2 BGB greift nicht, wenn sich der Ersatzanspruch des Geschädigten gegen eine Versicherung richtet, die sich der Geschädigte selbst durch seine Beiträge erkauft hat. Von dieser Eigenleistung 35 38 36 39 BGHZ 35, 44 (50 f.); Papier (Fn. 11), § 839 Rn. 258. Vgl. BGHZ 35, 44 (52); BGHZ 135, 354 (358 f.); Reinert (Fn. 11), § 839 Rn. 65. 37 BGHZ 35, 44 (52); BGHZ 135, 354 (358). Sprau (Fn. 12), § 839 Rn. 58 f. Vgl. oben unter II. 5. 40 Vgl. dazu unten II. 7. c) bb). 41 Vgl. Bearbeitervermerk. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 518 ÖFFENTLICHES RECHT Eile mit Weile des Geschädigten soll der Staat nicht profitieren.42 Bei der Vertrauensschadensversicherung liegt der Fall jedoch anders. Diese ist gerade nicht vom Geschädigten erkauft, sondern von der Notarkammer zugunsten des Geschädigten abgeschlossen worden, so dass die B auf ihren Anspruch gegen die Versicherung verwiesen werden kann.43 Die Haftung des Landes NRW ist damit nach § 839 Abs. 1 S. 2 BGB grundsätzlich subsidiär. bb) Ausschluss der Subsidiarität wegen der primären Haftung eines anderen Hoheitsträgers Die Subsidiaritätsklausel greift dann nicht, wenn sich der anderweitige Ersatzanspruch gegen einen anderen Hoheitsträger richtet. Einerseits kann der Zweck der Subsidiaritätsklausel, die öffentliche Hand als „wirtschaftliches Ganzes“44 zu entlasten, bei Verweisung auf einen anderen staatlichen Rechtsträger nicht erreicht werden.45 Andererseits soll sich der Geschädigte nicht zwischen verschiedenen Hoheitsträgern aufgrund wechselseitiger Subsidiarität hin und her verweisen lassen müssen.46 Die Haftung der Vertrauensschadensversicherung tritt an die Stelle des haftenden Notars. Ein Anspruch gegen N nach § 19 Abs. 1 BNotO als Haftung eines anderen Hoheitsträgers würde grundsätzlich keine anderweitige Ersatzmöglichkeit darstellen.47 Allerdings ist hier die Besonderheit zu beachten, dass eine Fahrlässigkeitshaftung des Landes mit einer Vorsatzhaftung des Notars N zusammentrifft. § 839 Abs. 1 S. 2 BGB wie auch der gleichlautende § 19 Abs. 1 S. 2 BNotO, die beide die Subsidiarität auf Ansprüche wegen fahrlässigen Handelns beschränken, bringen zum Ausdruck, dass bei einem Zusammentreffen zweier Ansprüche der vorsätzlich handelnde Teil vorrangig für den Schaden aufkommen soll.48 Damit wäre vorliegend ein gegenseitiges Verweisen verschiedener Hoheitsträger auf den Ersatzanspruch gegen den jeweils anderen zu Lasten des Geschädigten ausgeschlossen, da dem N nach § 19 Abs. 1 S. 2 BNotO die Subsidiaritätsklausel nicht zu Gute kommt. Darüber hinaus wird der Notar auch nicht als wirtschaftlicher Teil der ansonsten haftenden öffentlichen Hand angesehen, wie dies etwa im Verhältnis zwischen anderen Hoheitsträgern der mittelbaren und unmittelbaren Staatsverwaltung der Fall ist.49 Die Vertrauensschadensversicherung tritt an die Stelle der Haftung des Notars, auf dessen vorrangiges Einstehen sich das aus Amtshaftung in Anspruch genommene Land berufen könnte, wenn er nicht mittellos wäre. Wenn schon die Verweisung auf den Notar hier entgegen der Grundregel möglich wäre, so muss dies erst Recht für die Verweisung auf die für diesen eintretende Versicherung gelten. Damit stellt die Inanspruchnahme der Ver- 42 BGHZ 79, 35 (37). Vgl. BGHZ 135, 354 (366 f.). 44 Papier (Fn. 11), § 839 Rn. 310. 45 BGHZ 13, 88 (104 f.). 46 Ossenbühl, JZ 1998, 45, Anm. zu BGHZ 135, 354. 47 BGHZ 123, 1 (7). 48 Ossenbühl, JZ 1998, 45 (47). 49 BGHZ 135, 354 (368). 43 trauensschadensversicherung nach § 67 Abs. 3 Nr. 3 BNotO eine anderweitige Ersatzmöglichkeit dar. cc) Anspruchsumfang Die Einstandspflicht der Vertrauensschadensversicherung ist auf die Haftungssumme von EUR 250.000 je Versicherungsfall begrenzt. Fraglich ist, wie sich ein Mitverschulden der B an der Schadensentstehung auswirkt. Ob ein Mitverschulden der B vorliegt, kann hier noch dahinstehen. B hätte allenfalls fahrlässig gehandelt, während die Versicherung an die Stelle des vorsätzlich handelnden N tritt. Treffen eine Vorsatzhaftung des Schädigers und ein fahrlässiges Mitverschulden des Geschädigten zusammen, findet grundsätzlich keine Anrechnung des Mitverschuldens statt.50 Damit steht der B pro Versicherungsfall ein Ersatzanspruch gegen die Vertrauensschadensversicherung in Höhe von EUR 250.000 zu. In dieser Höhe muss sich die B also vorrangig an die Versicherung halten. dd) Ergebnis Die Haftung des Landes NRW ist aufgrund der vorrangig eingreifenden Haftung der Vertrauensschadensversicherung nach § 67 Abs. 3 Nr. 3 BNotO in Höhe von EUR 250.000 je Versicherungsfall subsidiär. 7. Mitverschulden Fraglich ist, ob sich die B gemäß § 254 Abs. 1 BGB ein anspruchsminderndes Mitverschulden an der Schadensentstehung anrechnen lassen muss. Ein Mitverschulden trifft denjenigen, der diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt.51 Dies lässt sich auf eine Bank übertragen und bedeutet, dass diese die im Bankgewerbe üblichen Standards bei Darlehensvergaben einzuhalten hat. Im vorliegenden Fall hat sich die B in allen drei Fällen der Darlehensvergabe ausschließlich auf die Rangbestätigung durch N verlassen, ohne ansonsten die Bonität des F zu prüfen oder sich aktuelle Grundbuchauszüge vorlegen zu lassen. Sogar die negative Mitteilung über die Kreditwürdigkeit des Darlehensnehmers F durch eine Kreditauskunft wurde ignoriert. Hätte die B diese Maßnahmen ergriffen, wäre mit einiger Wahrscheinlichkeit der Schaden nicht oder nicht in dieser Höhe entstanden. Daher muss sich die B ein erhebliches Mitverschulden anrechnen lassen, um das ein Anspruch wegen Amtspflichtverletzung gegen das Land NRW zu kürzen ist. 8. Rechtsfolge Als Folge der schuldhaften Amtspflichtverletzung seines Amtsträgers muss das Land NRW der B den aus der verspäteten Amtsenthebung des N entstandenen Schaden, gekürzt um den Anspruch gegen die Vertrauensschadensversicherung sowie den Mitverschuldensteil der B, ersetzen. 50 Oetker, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 2, 5. Aufl. 2007, § 254 Rn. 112; BGH NJW 1992, 310 (311). 51 BGH VersR 1979, 532; Ossenbühl (Fn. 31), 2. Teil IV. 2. a). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 519 ÜBUNGSFALL Anja Mayer/Alexander Sperlich a) Schaden Insgesamt hat die B aufgrund der amtswidrigen Handlungen des N dreimalig Darlehenssummen an F ausbezahlt, ohne dass als Auszahlungsvoraussetzung eine Absicherung der Darlehen in Form einer wertgleichen erstrangigen Hypothek auf den Grundstücken des F eingetragen wurden. Am 22. Februar zahlte sie EUR 1 Million, am 22. März EUR 3 Millionen und im Oktober nochmals EUR 1 Million an F aus. Aufgrund der fehlenden wertgleichen Sicherung ist der B durch die Handlungen des N damit ein Schaden in Höhe von EUR 5 Millionen entstanden. b) Kausalität Die Amtspflichtverletzung des Präsidenten des OLG Düsseldorf müsste diesen Schaden der B auch adäquat kausal verursacht haben.52 Eine Amtspflichtverletzung ist dann nicht kausal für den Schaden, wenn dieser auch bei amtspflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre.53 Besteht die Amtspflichtverletzung wie hier in einem pflichtwidrigen Unterlassen, reicht es zur Begründung einer hypothetischen Kausalität aus, wenn sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellen lässt, dass der Schaden bei pflichtgemäßem Verhalten des Amtsträgers nicht oder nicht in der eingetretenen Höhe entstanden wäre.54 Fraglich ist, ob der Schaden der B dann nicht eingetreten wäre, wenn der Präsident des OLG den N unverzüglich des Amtes enthoben hätte. aa) EUR 1 Million durch das am 22. Februar ausgezahlte Darlehen Die Aufsichtsbehörde erfuhr erst am 22. Februar vom Verhalten des N. Zu diesem Zeitpunkt hatte N bereits eine Rangbestätigung sowie die Hypothekenbestellungsurkunde ausgefertigt. Das Darlehen wurde bereits an diesem Tag valutiert. Daher hätte selbst eine umgehende vorläufige Amtsenthebung den Schaden der B nicht mehr verhindert. Die Amtspflichtverletzung ist daher für den Schaden der B in Höhe von EUR 1 Million augrund der ersten Darlehensgewährung an F nicht kausal geworden. bb) EUR 3 Millionen durch das am 22. März ausgezahlte Darlehen Fraglich ist, ob die Amtspflichtverletzung für die Ausbezahlung des Darlehens in Höhe von EUR 3 Millionen kausal war. Dies hängt davon ab, ob der Schaden dann nicht eingetreten wäre, wenn der Präsident des OLG Düsseldorf seinen Amtspflichten unverzüglich nachgekommen wäre. Hätte der Präsident des OLG Düsseldorf den N spätestens Anfang März des Amtes enthoben, dann wären gemäß § 55 BNotO seine Akten, Bücher, Siegel, Stempel sowie sein Amtsschild in Verwahrung genommen worden, wenn kein Vertreter bestellt worden wäre. Aufgrund der Eilbedürftigkeit der Angelegenheit dürfte es überwiegend wahrscheinlich sein, dass 52 Vgl. Papier (Fn. 11), § 839 Rn. 276. Papier (Fn. 11), § 839 Rn. 278; BGH, LM Nr. 2, 5 (D) zu § 839 BGB. 54 Papier (Fn. 11), § 839 Rn. 279. kein Vertreter bestellt, sondern sofort die Verwahrung angeordnet worden wäre. In diesem Fall hätte N mangels Siegel am 18. März keine notarielle Rangbestätigung und Hypothekenbestellungsurkunde mehr erstellen können, so dass die Unterlassung der unverzüglichen Amtsenthebung insoweit für den Schaden der B kausal geworden ist. Fraglich ist, ob es sich insoweit auf die Kausalität auswirkt, dass N noch im Oktober, obwohl längst des Amtes enthoben, weitere notarielle Urkunden ausstellte, indem er alte Siegel verwendete. Möglicherweise hätte er im März genauso gehandelt. Die bloße Möglichkeit reicht hierzu nicht aus. Es muss vielmehr mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen, dass der Schaden auch ohne die Amtspflichtverletzung eingetreten wäre.55 Einerseits besteht Grund zu der Annahme, dass N, der immerhin im Oktober die kriminelle Energie besaß, Urkunden mit falschen Siegeln zu versehen, auch im März davor nicht zurückgeschreckt wäre. Andererseits mangelt es aber an genügenden Anhaltspunkten, die es erlauben davon auszugehen, dass N auch im März schon Fälschungen begangen hätte. Insbesondere war es nicht die Idee des N, sondern die des F, die alten Siegel zu benutzen. Ob F mit dieser Idee bereits im März an N herangetreten wäre, kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht bejaht werden.56 Die Kausalität der durch den Präsidenten des OLG Düsseldorf begangenen Amtspflichtverletzung für einen Schaden der B in Höhe von EUR 3 Millionen liegt damit vor. cc) EUR 1 Million durch das im Oktober ausgezahlte Darlehen Zur Zeit der Gewährung des dritten Darlehens im Oktober war B längst nicht mehr Notar. Selbst wenn er rechtzeitig des Amtes enthoben worden wäre, so hätte dies nichts daran geändert, dass er im Oktober „notarielle“ Urkunden mittels Siegeln von alten Urkunden fabriziert hätte. Hier scheidet eine Kausalität der Amtspflichtverletzung für den Schaden aus. dd) Ergebnis Das amtspflichtwidrige Handeln des Präsidenten des OLG Düsseldorf ist nur für einen Schaden der B in Höhe von EUR 3 Millionen kausal geworden. d) Anspruchsumfang Der B steht gegen das Land NRW ein Schadensersatzanspruch gemäß § 839 Abs.1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG zu. Dieser beläuft sich aufgrund der der B zustehenden anderweitigen Ersatzmöglichkeit gegen die Vertrauensschadensversicherung in Höhe von EUR 250.000 nach § 839 Abs. 1 S. 2 BGB auf EUR 2,75 Millionen, die um den Mitverschuldensanteil der B an der Schadensentstehung zu kürzen sind. III. Gesamtergebnis Die Sachentscheidungsvoraussetzungen liegen vor. Die Klage der B gegen das Land NRW ist auch teilweise begründet, so dass sie auch teilweise Aussicht auf Erfolg hat. 53 55 56 Papier (Fn. 11), § 839 Rn. 279. A.A. vertretbar. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 520 Übungsfall: Straftaten gegen Kraftfahrzeuge Von Rechtsreferendar Dr. Niclas Börgers, Köln, Rechtsanwalt Dr. Ralph Grunewald, LL.M. (UWMadison), Düsseldorf* Sachverhalt C parkt sein Auto regelmäßig in der unmittelbaren Nähe eines sehr großen Kindergartens. Jeden Tag verlassen Horden von Kleinkindern den Hort. Einmal sieht er, wie ein Fünfjähriger seinen Mercedes mit einem Schlüssel verkratzt. C ist entsetzt. Gerade noch hat er den Kotflügel für mehr als tausend Euro reparieren lassen. Um den Jungen nicht im Getümmel zu verlieren – für C sehen die Kinder alle gleich aus – und ihn der Polizei übergeben zu können, rennt er ihm sofort hinterher und schnappt ihn sich. C will den Übeltäter an der Hand zur nächsten Polizeidienststelle führen, kann ihn jedoch nur einen Augenblick festhalten. F beißt C in dessen Hand und läuft davon. C sucht noch einige Minuten nach dem Jungen, vermag ihn aber in der Menschenmenge nicht zu finden. In der Zwischenzeit ist der maskierte Bankräuber B herangebraust. Er stellt sein Fahrzeug mitten auf die Straße und stürmt mit gezogener Waffe in die gegenüberliegende Sparkasse. C bemerkt in seinem Ärger davon nichts. Er explodiert endgültig, als er sieht, dass sein Fahrzeug zugeparkt wurde und er nun zu Fuß gehen muss. Damit der Fahrer des anderen Fahrzeugs etwas dazu lernt, entlüftet C auf Vorschlag des Kioskinhabers K mit einem Schlüssel alle vier Reifen und macht sich auf den Weg. K hatte das gesamte Geschehen von seinem Büdchen aus beobachtet, wollte aber aus Angst vor dem Bankräuber nicht selbst eingreifen, sondern lieber den unwissenden C „den Helden spielen“ lassen. Sekunden später rennt Bankräuber B aus der gegenüberliegenden Sparkasse mit gezogener Waffe und Beute zu dem Wagen, den er kurz zuvor geklaut hatte. Trotz seiner detaillierten Planung muss er nun feststellen, dass sein Fluchtmittel völlig unbrauchbar ist. Nur aus diesem Grund kann ihn die Polizei kurz darauf festnehmen und die Beute sicherstellen. Die Beamten klären den gesamten Vorgang auf. Es stellt sich auch heraus, dass der vom Bankräuber benutzte Wagen Cs Arbeitskollegen A gehört. Die beiden können sich nicht leiden. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass A Strafantrag stellt. Als sie sich auf dem Werksgelände in ihren Fahrzeugen begegnen, rammt C den A, um ihm einmal zu zeigen, wann ein Auto wirklich beschädigt ist. Wie von C erwartet, wird niemand verletzt. Die Reparatur von As Fahrzeug wird aber sehr teuer. Die Straße, auf der das Geschehen stattfand, ist nur über ein Tor zugänglich, das durch einen Pförtner bedient wird. Es dürfen nur Firmenangehörige mit Berechtigungsausweis auf das Gelände. Strafbarkeit von C und K nach dem StGB? Lösung Erster Tatkomplex: Der flüchtige Fünfjährige A. Strafbarkeit wegen Freiheitsberaubung, § 239 Abs. 1 2. Fall1 C könnte sich gemäß § 239 Abs. 1 2. Fall wegen Freiheitsberaubung strafbar gemacht haben, indem er sich F schnappte. Dazu müsste C einen Menschen auf andere Weise der Freiheit beraubt haben. Der Freiheit beraubt ist jeder, der daran gehindert wird, seinen Aufenthaltsort zu verlassen.2 Eine Beschränkung auf bestimmte Tatmittel ist in § 239 Abs. 1 2. Fall nicht vorgesehen.3 Insbesondere ist eine Ähnlichkeit zum Einsperren nicht erforderlich,4 so dass auch bloßes Festhalten erfasst wird.5 Als Tatopfer kommen Kleinkinder jedenfalls dann in Betracht, wenn sie einen auf Ortsveränderung gerichteten Willen bilden können.6 Wie er durch den Biss in Cs Hand eindrucksvoll demonstriert, ist diese Voraussetzung bei dem fünfjährigen F erfüllt. Indem er ihn sich schnappte, hat C den F an der Fortbewegung gehindert und so seiner Freiheit beraubt. Er konnte den Übeltäter jedoch nur einen Augenblick festhalten. Sehr kurze Freiheitsberaubungen sind wegen ihres Bagatellcharakters nicht von § 239 Abs. 1 erfasst.7 Als Orientierung wird üblicherweise eine Entscheidung des Reichsgerichts herangezogen, die zumindest die Dauer eines „Vaterunsers“ fordert.8 Das Festhalten für einen Augenblick ist jedenfalls zu unerheblich für eine tatbestandsmäßige Frei- * Dr. Niclas Börgers absolviert gegenwärtig die Wahlstation in der Kanzlei strafverteidiger|büro, Köln. Dr. Ralph Grunewald arbeitet als Strafverteidiger in der Kanzlei Wessing Rechtsanwälte, Düsseldorf. 1 §§ ohne Gesetzesangabe sind solche des StGB. Der vorliegende Fall wurde an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf als Hausarbeit gestellt. Er hat einen hohen Schwierigkeitsgrad. Die Lösung soll der Herstellung eines vertieften systematischen Verständnisses der enthaltenen strafrechtlichen Probleme dienen. Sie geht deshalb in Ausmaß und Tiefe über das hinaus, was selbst von weit überdurchschnittlichen Bearbeitungen erwartet wurde. 2 Küper, Strafrecht, Besonderer Teil, 7. Aufl. 2008, S. 144 ff.; Wieck-Noodt, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003 ff., § 239 Rn. 21. 3 BGH NJW 1993, 1807; Träger/Altvater, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 11. Aufl. 2003 ff., § 239 Rn. 14. 4 Kindhäuser, Strafgesetzbuch, Lehr- und Praxiskommentar, 3. Aufl. 2006, § 239 Rn. 7. 5 BGH NStZ 2003, 371; Schroeder, in: Maurach/ders./Maiwald, Strafrecht, Besonderer Teil, Teilbd. 1, 9. Aufl. 2003, § 14 Rn. 6. 6 BGHSt 32, 183 (187 f.); Wieck-Nood (Fn. 2). 7 BGH NStZ 2003, 371; Fahl, JuS 2003, 472 (475) m.w.N. 8 RGSt 7, 259 (260). Vgl. Träger/Altvater (Fn. 3), § 239 Rn. 18 m.w.N. zur Rechtsprechung, die vereinzelt auf eine sonstige Eingriffsintensität abstellt. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 521 ÜBUNGSFALL Niclas Börgers/Ralph Grunewald heitsberaubung.9 C hat sich daher nicht gemäß § 239 Abs. 1 2. Fall strafbar gemacht. B. Strafbarkeit wegen versuchter Freiheitsberaubung, §§ 239 Abs. 1 2. Fall, Abs. 2, 22, 23 Abs. 1 Durch dieselbe Handlung könnte C sich wegen versuchter Freiheitsberaubung gemäß §§ 239 Abs. 1 2. Fall, Abs. 2, 22, 23 Abs. 1 strafbar gemacht haben. Hinweis: Bei Vergehen ergibt sich die Versuchsstrafbarkeit bereits aus der Gesetzesangabe im Obersatz. Ausnahmsweise kann sie (vgl. etwa § 353b Abs. 1 S. 2, Abs. 3)10 ebenso wie der Verbrechenscharakter gemäß §§ 23 Abs. 1, 12 zweifelhaft sein und einige erläuternde Sätze innerhalb eines eigenen Prüfungspunktes erforderlich machen.11 Die Nichtvollendung ist nach Verneinung des vollendeten Delikts offensichtlich, ihre Vorprüfung daher überflüssig.12 Da sich diese Einsicht noch nicht in den gängigen Lehrbüchern durchgesetzt hat, wird empfohlen,13 sie mit einem Satz festzustellen. Man begründet die Nichtvollendung inhaltlich zum Teil ausschließlich anhand der Nichterfüllung des objektiven Tatbestandes, teils zusätzlich mit dem objektiven Vorliegen von Rechtfertigungsgründen oder dem Fehlen der Schuld. Hierbei wird die konkurrenzrechtliche Frage thematisiert, ob der subsidiären Versuchsbestrafung eine Bestrafung wegen vollendeten Delikts entgegensteht. Das Fehlen einer beliebigen materiellrechtlichen oder prozessualen Bestrafungsvoraussetzung könnte demnach zur Nichtvollendung führen.14 Im Ergebnis kommt jedoch nur die fehlende Übereinstimmung von objektivem und subjektivem Unrecht in Betracht. Alle anderen Gründe wie etwa das Fehlen einer objektiven Bedingung der Strafbarkeit, eines Strafantrages oder der Verjährungseintritt betreffen die Bestrafung eines Verhaltens wegen Vollendung und Versuch gleichermaßen. liegt vor, wenn der Täter die Verwirklichung eines tatbestandlichen Umstands als End- oder notwendiges Zwischenziel erstrebt.16 C wollte den Jungen zur Polizei bringen. Er wusste, dass es dazu erforderlich war, F für eine längere Zeit festzuhalten. Weil es ihm zur Verwirklichung seines Zieles gerade darauf ankam, handelte er in Freiheitsberaubungsabsicht und hatte sich somit zur Tat entschlossen. II. Unmittelbares Ansetzen C müsste nach seiner Vorstellung von der Tat zu ihrer Verwirklichung unmittelbar angesetzt haben, § 22. Er stellte sich vor, F bis zur Übergabe an die Polizei festzuhalten. Mit Überschreiten der zeitlichen Grenze zur Erheblichkeit wäre der Tatbestand von ihm verwirklicht worden. C hatte sich den Jungen bereits geschnappt und so eine Handlung teilweise vorgenommen, die, wäre sie vollständig durchgeführt, eine Freiheitsberaubung darstellte. Damit hat C nach seiner Vorstellung von der Tat zu ihrer Verwirklichung unmittelbar angesetzt. III. Rechtfertigung Die versuchte Freiheitsberaubung dürfte nicht gerechtfertigt sein. Dies ist jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn weder tatsächlich noch in der Vorstellung des Täters Umstände vorliegen, die einen Rechtfertigungsgrund erfüllen. Hinweis: An dieser Stelle ergibt sich ein in der Ausbildungsliteratur selten besprochenes Problem. Einige Autoren17 nehmen an, dass die Rechtfertigung des Versuchs keine Unterschiede zum vollendeten Vorsatzdelikt aufweist.18 Demzufolge müsste zunächst erörtert werden, ob tatsächlich und nicht bloß in der Tätervorstellung Umstände vorliegen, die zu einer Rechtfertigung führen. Das ist zumindest dann widersprüchlich, wenn Vertreter dieser Auffassung zugleich davon ausgehen, dass bei Unkenntnis rechtfertigender Umstände (ausführlicher zu diesem Problem im zweiten Tatkomplex) nicht wegen vollendeten, sondern wegen versuchten Delikts bestraft werden soll.19 Danach kann es für die Versuchsstrafbarkeit nicht auf die objektive Seite der Rechtfertigung ankommen. Herzberg20 schließt zu Recht aus §§ 22, 23 Abs. 3, dass das Versuchsunrecht sich aus der Tätervorstellung ergibt und objektive Umstände wie etwa eine tatsächliche Rechtsgutsgefährdung insoweit keine Bedeutung haben. Bei der Rechtfertigung eines Versuchs ist daher lediglich zu prüfen, ob der Täter sich Umstände vorgestellt hat, die ihn bei ihrem tatsächlichen Vorliegen I. Tatentschluss C müsste den Entschluss zur Begehung einer Freiheitsberaubung gefasst haben. Der Tatentschluss umfasst den Vorsatz hinsichtlich aller Umstände, die den objektiven Tatbestand verwirklichen, einschließlich besonderer subjektiver Merkmale.15 C könnte die Absicht gehabt haben, F gemäß § 239 Abs. 1 2. Fall auf andere Weise seiner Freiheit zu berauben. Wie oben festgestellt, erfüllt das Festhalten über einen nicht unerheblichen Zeitraum diese Tatbestandsvariante. Absicht 9 BGH NStZ 2003, 371. Hardtung, Versuch und Rücktritt bei den Teilvorsatzdelikten, 2002, S. 193 ff. 11 Vgl. Hardtung, Jura 1996, 293 (299 ff.). 12 Eingehend dazu Hardtung, Jura 1996, 293 (295 ff.). 13 Meurer/Kahle/Dietmeier, Übungskriminalität, 2000, S. 25. 14 Hardtung, Jura 1996, 293 (296 ff.) mit Einschränkungen in Fn. 37 und Nachweisen zum Meinungsspektrum. 15 Vgl. Kindhäuser (Fn. 4), § 22 Rn. 12. 10 16 Kindhäuser (Fn. 4), § 15 Rn. 20 m.w.N. Zum Beispiel Eser, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Aufl. 2006, § 22 Rn. 59. 18 Wessels/Beulke, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 37. Aufl. 2007, Rn. 610. 19 So auch Eser/Burkhardt, Strafrecht I, 4. Aufl. 1992, S. 132 und Wessels/Beulke (Fn. 18), Rn. 279. 20 In: Joecks/Miebach (Fn. 2), § 22 Rn. 174 ff. 17 _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 522 Straftaten gegen Kraftfahrzeuge rechtfertigen würden.21 Der Erlaubnistatbestandsirrtum führt also zur Rechtfertigung des versuchten Delikts. Eine Streitdarstellung ist hier verzichtbar, da es auf die Unterschiede zwischen den Meinungen im Ergebnis nicht ankommt. In solchen Fällen kann es sich empfehlen, mit Ausdrücken wie „zumindest“ oder „unstreitig“ eine Definition einzuleiten, die als kleinstes gemeinsames Vielfaches alle vertretenen Auffassungen zusammenfasst. Man zeigt so, dass man den Streit kennt, ohne ihn unnötig breit darzustellen. 1. Privates Festnahmerecht, § 127 Abs. 1 S. 1 StPO C könnte aus § 127 Abs. 1 S. 1 StPO ein Recht zur vorläufigen Festnahme des F gehabt haben. Dazu müsste F von ihm auf frischer Tat betroffen oder verfolgt worden sein. Taten sind jedenfalls alle verfolgbaren,22 schuldhaft begangenen, rechtswidrigen Taten im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 5. Als F mit einem Schlüssel den Mercedes von C zerkratzte, beschädigte er vorsätzlich und rechtswidrig eine fremde Sache, § 303 Abs. 1. Problematisch ist, dass F erst fünf Jahre alt und deshalb gemäß § 19 nicht strafmündig war. Nach einer Ansicht können Kinder keine Tat im Sinne von § 127 Abs. 1 StPO begehen,23 so dass eine Rechtfertigung des C ausgeschlossen wäre. Die Gegenauffassung sieht keinen Grund, das Festnahmerecht Privater in diesem Sinne zu beschränken.24 Sie geht davon aus, dass ein solches Verständnis keine Stütze im Wortlaut findet. Dieser beziehe sich auf die Betroffenheit von irgendjemandem und verzichte gerade auf die „übliche strafprozessuale Kategorisierung als Verdächtiger oder Beschuldigter“.25 Eindeutigere Anhaltspunkte für die Auslegung bietet die Systematik der strafprozessualen Festnahme- und Festhalterechte. STRAFRECHT a) Delegation eines repressiven Amtsrechts aa) Eine private Festnahme erfolgt pro magistratu, d.h. der Bürger unterstützt damit die staatlichen Strafverfolgungsorgane.26 Da es sich um eine delegierte Befugnis handelt, lassen sich Systematik und Umfang aus dem originären Amtsrecht entwickeln.27 Die Offizialfestnahme gemäß § 127 Abs. 2 StPO kann der Untersuchungshaft (§§ 112 ff. StPO) oder einstweiligen Unterbringung (§ 126a StPO) dienen. Ersteres würde eine schuldhaft begangene und verfolgbare Straftat voraussetzen,28 Zweiteres eine im Zustand verminderter oder fehlender Schuldfähigkeit (§§ 20 f.) begangene rechtswidrige Straftat. Die §§ 112 Abs. 1, 126a Abs. 1 StPO begrenzen also die amtliche Festnahme auf solche Taten, die strafrechtliche Folgen im Sinne der §§ 38-76a nach sich ziehen. Ein Kind kann solche Taten nicht begehen.29 Die Festnahme bezweckt jedoch nicht nur die Sicherstellung der Anwesenheit des Beschuldigten für das strafrechtliche Verfahren und die Vollstreckung der dabei angeordneten Rechtsfolgen. Gemäß §§ 127 Abs. 1 S. 2, 163b StPO dürfen StA und Polizei Personen zur Identitätsfeststellung festhalten, wenn sie einer Straftat verdächtigt werden oder dies zur Aufklärung der Straftat eines anderen geboten ist. Das amtliche Festhalterecht richtet sich also nicht nur auf Tatverdächtige, sondern auch auf Zeugen und (menschliche) Augenscheinsobjekte.30 Der Begriff der Straftat wird untechnisch dahingehend verstanden, dass er ebenso die im Zustand der Schuldunfähigkeit begangene rechtswidrige Tat erfasst, sofern sie Maßregeln der Besserung und Sicherung nach sich ziehen kann.31 Einziger Anlass bleiben jedoch Taten, die Gegenstand eines strafrechtlichen Verfahrens sein können. Es sind aber vorliegend ersichtlich keine strafmündigen Personen beteiligt, gegen die ein Strafverfahren geführt werden könnte. 21 Samson, Strafrecht, Bd. 1, 7. Aufl. 1988, S. 167. Vgl. zu den Verfolgungshindernissen § 127 Abs. 3 StPO und Hilger, in: Rieß (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 26. Aufl. 2006 ff., § 127 Rn. 4. 23 Frehsee, ZStW 100 (1988), 290 (303); Hilger (Fn. 22), Rn. 8; Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, Kommentar, 51. Aufl. 2008, § 127 Rn. 3a; Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz, 7. Aufl. 2007, § 1 JGG Rn. 1 f.; Paeffgen, in: Rudolphi u.a. (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Lieferung, Stand: Dezember 1992, § 127 Rn. 6; Pfeiffer, in: Strafprozessordnung, Kommentar, 5. Aufl. 2005, § 127 Rn. 2, alle m.w.N. 24 RGSt 17, 127; KG JR 1971, 30; Bottke, in: Schlüchter (Hrsg.), Festschrift für Friedrich Geerds, 1995, S. 278 f.; Brunner/Dölling, Kommentar zum Jugendgerichtsgesetz, 11. Aufl. 2002, § 1 JGG Rn. 13; Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, § 16 Rn. 17; Schoene, DRiZ 1999, 321 (323 f.); Streng, in: Dölling (Hrsg.), Festschrift für Karl Heinz Gössel zum 70. Geburtstag, 2002, S. 503; Verrel, NStZ 2001, 284 (286 f.). 25 Verrel, NStZ 2001, 284 (287); Bottke (Fn. 24), Fn. 58. Kritisch dazu Ostendorf, in: Wassermann (Hrsg.), Alternativkommentare, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 1990, § 19 Rn. 11. 22 26 RGSt 17, 127 (128); Boujong, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 5. Aufl. 2003, § 127 Rn. 6; Jescheck/Weigend, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 397 f. 27 Vgl. Paeffgen (Fn. 23), § 127 Rn. 5. Das abgeleitete Amtsrecht kann aber wegen der Delegation eingeschränkt sein, Jakobs (Fn. 24), § 16 Rn. 16. Während ein Polizist schon bei einem dringenden Tatverdacht gemäß §§ 127 Abs. 2, 112 StPO festnehmen darf, setzt § 127 Abs. 1 StPO eine wirklich begangene Tat voraus (materiell-rechtliche Theorie). Nach der prozessualen Theorie soll diese Voraussetzung anhand der eingeschränkten Sachverhaltskenntnis eines – wie auch immer zu bestimmenden – objektiven Dritten geprüft werden. Vgl. zum Streitstand Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2005, § 9 Rn. 83 ff. m.w.N. auch zur Übungsfall-Literatur. 28 Hilger (Fn. 22), § 127 Rn. 8. 29 Seine Schuldunfähigkeit ist zugleich ein Prozesshindernis; Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder (Fn. 17), § 19 Rn. 5. Es ist lediglich eine Sicherungseinziehung möglich; a.a.O., Rn. 4. 30 Wolter, in: Rudolphi u.a. (Fn. 23), 16. Lieferung, Stand: Mai 1997, § 163b StPO Rn. 47; siehe zum Inhalt des Begriffs „Augenschein“ Meyer-Goßner (Fn. 23), § 86 StPO Rn. 1, 7. 31 Wolter (Fn. 30), Rn. 20 m.w.N. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 523 ÜBUNGSFALL Niclas Börgers/Ralph Grunewald Mangels verfolgbarer Tat dürfte F weder als Beschuldigter noch als Zeuge seiner eigenen Tat32 festgehalten werden. bb) Dagegen wird mit der Funktion des Strafverfahrens argumentiert. Die StPO weist den Strafverfolgungsbehörden repressive Aufgaben und Befugnisse zu, die bei einem engen Verständnis ein Festnahmerecht von Kindern mangels Verantwortlichkeit ausschließen würden.33 Zur Repression gehören jedoch ebenso Maßnahmen, die der Beweisbeschaffung für künftige Strafverfahren dienen.34 So wird vorgebracht, dass in einem späteren Jugendstrafverfahren etwa Informationen über die bisherige Entwicklung für die Sanktionsbestimmung von Bedeutung seien.35 Dieses Verständnis lässt sich jedoch nur schwerlich mit dem Wortlaut der §§ 127 Abs. 1 und Abs. 2, 163b StPO in Einklang bringen. Die Plausibilität des Arguments hängt im Übrigen vom Alter des Kindes ab. Informationen über das in Rede stehende Verhalten des fünfjährigen F dürften in einem Jugendstrafverfahren (vgl. § 19) kaum von Relevanz sein. Ein Festhalten so junger Täter lässt sich mit dieser Überlegung nicht legitimieren. cc) Ein weiterer Zusammenhang mit den Zwecken des Strafrechts, deren Verwirklichung das Strafverfahren dient, wird bei der Festnahme in flagranti in der „spezialpräventiv wertvolle[n] Botschaft für das Kind“ gesehen. Dieses dürfe nicht davon ausgehen, sich in einem rechtsfreien Raum zu bewegen und immun gegenüber hoheitlichen sowie pro magistratu vorgenommenen Maßnahmen zur Klärung seiner Tatzuständigkeit zu sein. Es wäre dem Rechtsbewusstsein des Kindes sehr abträglich, wenn sich das festnahmebereite Opfer seiner Straftat von ihm nicht nur im übertragenen Sinne eine Nase drehen lassen müsste.36 Auf Einübung von Legalverhalten abzielende staatliche Einwirkungen sind den Jugendgerichten frühestens mit dem Eintritt der Strafmündigkeit erlaubt, §§ 19 StGB, 1, 3 JGG. Bis zur Vollendung des 14. Lebensjahrs ist die Erziehung des Kindes das alleinige Vorrecht der Eltern (Art. 6 Abs. 2 GG). Eine Beschränkung des elterlichen Erziehungsrechts durch Maßnahmen des Familiengerichtes kommt gemäß § 1666 BGB nur bei einer Gefährdung des Kindeswohls in Betracht. Diese klare Kompetenzverteilung lässt keinen Spielraum für eine Interpretation des strafprozessualen Festnahme- und Festhalterechts als verkappte Erziehungshilfe (vgl. §§ 27 ff. SGB VIII). Im Übrigen setzt die Konzeption voraus, es gäbe eine strafverfahrensrechtliche Aufgabe zur Klärung kindlicher „Tatzuständigkeit“,37 was aber noch zu begründen wäre. dd) Schließlich wird argumentiert, das Rechtsbewusstsein von festnahmebereiten Personen und Opfern kindlicher Straf32 Vgl. Frehsee, ZStW 100 (1988), 290 (304). Ostendorf (Fn. 23); ders. (Fn. 25). 34 Rogall, in: Rudolphi u.a. (Fn. 23), 25. Lieferung, Stand: Oktober 2001, § 81b StPO, Rn. 9 f. Daher sind erkennungsdienstliche Maßnahmen nach § 81b 2. Alt. StPO entgegen der h.M. nicht der Gefahrenabwehr zuzuordnen; vgl. aaO sowie Frister, in: Lisken/Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 4. Aufl. 2007, G 261. 35 Verrel, NStZ 2001, 284 (287). 36 Verrel, NStZ 2001, 284 (287) . 37 Bottke (Fn. 24), S. 278. 33 taten könne leiden, wenn sie eine Anzeige wegen Freiheitsberaubung erwarten müssen.38 Die Folgen eines so weit getriebenen Kinderschutzes seien möglicherweise öffentlicher Unmut und der Ruf nach einem schärferen Jugendstrafrecht.39 Den Respekt vor der Rechtsordnung verliert nach der Theorie der positiven Generalprävention, wer Kenntnis von nicht geahndeten Straftaten erhält. Voraussetzung ist dabei, dass der Normadressat die Tat mit seinem eigenen Verhalten vergleichen und so als Orientierungsmuster wahrnehmen kann. Kinder werden jedoch erfahrungsgemäß nicht als Gleiche gesehen und sind daher nicht fähig, die Normgeltung in Frage zu stellen.40 In den Augen Erwachsener vermögen ihre Taten kaum, das allgemeine Rechtsbewusstsein zu erschüttern.41 Tatsächlich möglich erscheint dies lediglich im Alter kurz vor Erreichen der Schuldfähigkeit. Das unrechtmäßige Verhalten dieser Kinder kann ausnahmsweise Vorbildwirkung auch für Erwachsene haben. Das Gesetz schließt diese Wirkung jedoch durch die Fiktion in § 19 aus. Wer diese Wertung ignoriert und die §§ 127 Abs. 1 und Abs. 2, 163b StPO in ein vorgelagertes Sanktionsinstrument umwidmet, missbraucht das Recht für nicht vom Gesetzgeber bestimmte Zwecke.42 b) Übertragung sonstiger Aufgaben der Strafverfolgungsbehörden? Eine Rechtfertigung käme aber in Betracht, wenn durch die StPO den Strafverfolgungsorganen nicht ausschließlich repressive Funktionen zugewiesen und gemäß § 127 Abs.1 S. 1 auf den Bürger übertragen werden. aa) Der Polizei wird etwa durch § 163 Abs. 1 S. 1 StPO die Aufgabe gestellt, Straftaten zu erforschen. Eine Auffassung geht davon aus, dieser Auftrag könne sich nicht darauf beschränken, die Sanktionierung strafrechtlich verantwortlicher Täter zu ermöglichen. Jedenfalls bei gewichtigen Taten sei die Aufklärung eines strafrechtlich relevanten Sachverhalts beziehungsweise der Tatzuständigkeit43 und nicht die Bestrafung des Schuldigen das allgemeine Ziel eines Ermittlungsverfahrens. Als Beispiel werden der sexuelle Missbrauch und die Tötung eines jüngeren Mädchens durch einen 13Jährigen genannt. „Nähme man die These eines bei Strafunmündigen fehlenden Ermittlungsinteresses ernst, wären jegliche strafprozessualen Maßnahmen zur Aufklärung des Sachverhalts“ unzulässig.44 Aber auch wenn sich die Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden darauf beschränkt, Rechtsfolgen gemäß §§ 38 ff. herbeizuführen, können sie dafür immer nur an den dort geforderten Sachverhalt anknüpfen. Sofern dieser unklar ist und lediglich der Verdacht eines entsprechenden Verhaltens besteht, müssen sie ermitteln, bis er sich bestätigt oder als 38 A.a.O., Fn. 58. Verrel, NStZ 2001, 284 (287). 40 Jakobs (Fn. 24), § 18 Rn. 1. 41 Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 20 Rn. 50. 42 Vgl. Walter, DRiZ 1999, 325 (326). 43 Bottke (Fn. 24), S. 278 f. 44 Verrel, NStZ 2001, 284 (287). 39 _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 524 Straftaten gegen Kraftfahrzeuge falsch herausstellt. Ist wie vorliegend ein Kind beteiligt, sind strafprozessuale Aufklärungsmaßnahmen demnach nur so lange geboten und zulässig, bis feststeht, dass der Täter strafunmündig war und alleine handelte, weil dann keine Rechtsfolgen gemäß §§ 38 ff. eintreten. Was darüber hinaus den „strafrechtlich relevante[n] Sachverhalt“ kennzeichnen soll, dürfte sich kaum positiv benennen lassen. Aus der Polizeiaufgabe in § 163 StPO lässt sich deshalb keine Rechtfertigung ableiten. bb) Ferner wird angenommen, die vorläufige Festnahme von Kindern sei Strafverfolgungsbehörden erlaubt, um weitere Straftaten zu verhindern und die Personalien der Aufsichtspflichtigen festzustellen.45 Die Aufgabe, Straftaten zu verhüten, hat die Polizei jedoch als Gefahrenabwehr- und nicht als Strafverfolgungsbehörde, vgl. § 1 Abs. 1 S. 2 PolG NW. Die Feststellung der Identität des Aufsichtspflichtigen wird insbesondere drei Zwecken dienen. Soweit die Polizei bestrebt ist, Straftaten etwa eines mittelbaren Täters aufzuklären,46 fällt dies unter ihre bereits genannte repressive Aufgabenstellung. Dafür fehlen jedoch Hinweise im Sachverhalt. Die Identitätsfeststellung ist zudem eine typische Eingriffsmaßnahme zum Schutz der privatrechtlichen Ansprüche des Geschädigten.47 Ginge es also um die Sicherung der Haftung des Aufsichtspflichtigen gemäß § 832 BGB, wäre die Polizei als allgemeine Gefahrenabwehrbehörde eilzuständig, vgl. §§ 1 Abs. 2, 35 Abs. 1 Nr. 5 PolG NW.48 Drittens kommt die Vorbereitung und Sicherung von Maßnahmen der Kinderund Jugendhilfe in Betracht.49 Dabei würde die Polizei eine Notkompetenz an Stelle des Jugendamtes als Sonderordnungsbehörde wahrnehmen (vgl. §§ 42 SGB VIII, 1 Abs. 1 S. 3, 35 Abs. 2 PolG NW), so dass insgesamt kein Platz für eine Beauftragung durch die Strafprozessordnung bleibt. Folglich kann eine solche Befugnis auch nicht auf Private übertragen werden und nicht zu einer Rechtfertigung führen. c) Schlussfolgerung Der Strafprozessordnung lassen sich weder Auftrag noch Befugnis zur Aufklärung solcher „Straftaten“ entnehmen, die keine strafrechtlichen Folgen haben. Offizielle und private Festnahme eines Kindes sind insofern nicht durch §§ 127, 163b StPO gedeckt. Weil C davon ausging, dass es sich bei F um ein Kindergartenkind handelt, war sein Verhalten weder objektiv noch subjektiv durch § 127 Abs. 1 StPO gerechtfertigt. 2. Selbsthilfe, §§ 229 f. BGB In Betracht kommt jedoch ein Selbsthilferecht gemäß §§ 229 f. BGB. Dazu müsste das Festhalten zur Sicherung der Ver45 Schoene, DRiZ 1999, 321 (323). Schoene, DRiZ 1999, 321 (323); Verrel, NStZ 2001, 284 (287). 47 Denninger, in: Lisken/ders. (Fn. 34), E 247. 48 Vgl. Denninger (Fn. 47), E 246 m.N. zu den jeweiligen landesrechtlichen Regelungen. 49 Jakobs (Fn. 24), § 16 Rn. 17; Streng (Fn. 24), S. 504; vgl. auch Verrel, NStZ 2001, 284 (287). 46 STRAFRECHT wirklichung eines Anspruches geeignet und erforderlich gewesen sein. Da F den Mercedes von C mit einem Schlüssel zerkratzte, kommt eine Schadensersatzverpflichtung in Betracht, § 823 Abs. 1 BGB. Dies wird jedoch durch § 828 Abs. 1 BGB ausgeschlossen, da F als Kindergartenkind noch nicht deliktsfähig ist. Für eine Ersatzpflicht aus Billigkeitsgründen gemäß § 829 BGB fehlen Hinweise. Es besteht allenfalls eine Haftung der aufsichtspflichtigen Eltern oder Kindergärtner, § 832 BGB. Selbsthilfemaßnahmen sind jedoch nur gegen den Verpflichteten möglich.50 Man könnte erwägen, ob C gegenüber F einen Anspruch auf Auskunft über die Person des Aufsichtspflichtigen hat. Zur Selbsthilfe berechtigende Auskunftsansprüche nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) wurden durch die Rechtsprechung bereits innerhalb bestehender vertraglicher Schuldverhältnisse anerkannt.51 Eine vergleichbare besondere rechtliche Beziehung kann durch ein gesetzliches Schuldverhältnis etwa aus unerlaubter Handlung begründet werden.52 Bislang ungeklärt ist, ob auch eine unerlaubte Handlung genügt, die eine Verpflichtung nicht gegen den Schädiger, sondern gegen Dritte begründet.53 Zur Sicherung eines solchen Auskunftsanspruchs müsste das Festhalten aber erforderlich gewesen sein, § 230 Abs. 1 BGB. C hätte F direkt um Auskunft bitten können. Zudem befanden sich beide in unmittelbarer Nähe des Kindergartens. Die Identität des Aufsichtspflichtigen wäre dort viel schneller festzustellen gewesen als in einer Polizeiinspektion. Die geplante Übergabe ist daher nicht durch § 229 BGB zu rechtfertigen. 50 Wagner, in: Erman, Handkommentar zum BGB, 12. Aufl. 2008, § 229 Rn. 6. 51 BayObLG NJW 1991, 934 (Gänsebrust-Fall); für Studenten eingehend besprochen von Duttge, Jura 1993, 416. 52 BGHZ 95, 274 (278 f.); 149, 165 (174 f.). 53 Nur ausnahmsweise kann sich aus § 242 BGB eine Auskunftspflicht von Dritten ergeben, die nicht Schuldner des Hauptanspruches sind; Heinrichs, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 67. Aufl. 2008, § 261 Rn. 14 m.N. zur Rechtsprechung. Die Sicherung einer Auskunftsverpflichtung durch vorläufige Festnahme ist aber ihrerseits problematisch. Eine Auffassung folgert aus § 230 Abs. 3, dass sie nur unter den zusätzlichen Voraussetzungen des persönlichen Sicherheitsarrestes nach §§ 916, 918 ZPO zulässig sei; Hefermehl, in: Erman (Fn. 50), 10. Aufl. 2000, § 229 Rn. 8; Heinrichs, a.a.O., § 229 Rn. 7. Arrestanspruch im Sinne des § 916 Abs. 1 ZPO ist jedoch eine Geldforderung oder eine Forderung, die darin übergehen kann. Ein Auskunftsanspruch dürfte demnach nicht durch Festnahme gesichert werden; Duttge, Jura 1993, 416 (419 f.); Laubenthal, JR 1991, 519 (520). Die Gegenauffassung verneint zusätzliche Voraussetzungen aus §§ 916, 918 ZPO; BayObLG NJW 1991, 934; Schauer/Wittig, JuS 2004, 107 (109 f.); Wagner (Fn. 50), § 229 Rn. 7. Problematisch ist darüber hinaus, das die Selbsthilfe in Bezug auf den Auskunftsanspruch nicht zur Sicherung, sondern durch Erhalt der Informationen zu seiner Befriedigung führt; vgl. W. Schünemann, Selbsthilfe im Rechtssystem, 1985, S. 83 m.w.N. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 525 ÜBUNGSFALL Niclas Börgers/Ralph Grunewald 3. Zwischenergebnis Da sonstige tatsächliche oder vorgestellte Gefahren nicht ersichtlich sind, kommen andere Rechtfertigungsgründe nicht in Betracht. C verhielt sich rechtswidrig. III. Schuld, Rücktritt und Ergebnis C handelte schuldhaft. Hinweis: Wenn die Erforderlichkeit des Festhaltens angenommen, aber dennoch eine Rechtfertigung als Selbsthilfe aus den zuvor (in Fn. 53) genannten Gründen verneint wird, kommt noch ein gemäß § 17 S. 1 schuldausschließender Erlaubnisirrtum in Betracht. Mangels Rücktritts (§ 24 Abs. 1)54 hat er sich gemäß §§ 239 Abs. 1 2. Fall, Abs. 2, 22, 23 Abs. 1 wegen versuchter Freiheitsberaubung strafbar gemacht. C. Strafbarkeit wegen Nötigung, § 240 Abs.1, Abs. 2 Durch dieselbe Handlung könnte C sich gemäß § 240 Abs. 1, Abs. 2 wegen Nötigung strafbar gemacht haben. Möglicherweise hat er F durch Gewalt zu einem Handeln, Dulden oder Unterlassen genötigt. Gewalt ist zumindest jede Kraftentfaltung, die unmittelbar zu einer körperlichen Zwangseinwirkung auf das Opfer führt und seine Willensentschließungsfreiheit nicht ausschließt.55 C hielt den fünfjährigen F für einen Augenblick fest, bis dieser davon lief. Er hat somit Gewalt angewendet. Da er den Jungen jedoch nicht zur Polizei führen konnte, bestehen Zweifel an der Tatbestandsmäßigkeit der Opferreaktion. Bei der Auslegung strafrechtlicher Tatbestände müssen geringfügige Beeinträchtigungen ausgeschieden werden, um die Funktion des Strafrechts als ultima ratio des Staates zu sichern (so genanntes Geringfügigkeitsoder Bagatellprinzip).56 Hinweis: In einer Übungshausarbeit sollten solche Hervorhebungen im Haupttext vermieden werden. Minimale Freiheitsverluste auf der Opferseite sollen keine Kriminalstrafen nach sich ziehen, weswegen Zwangseinwirkungen von geringer Dauer und mit geringen Folgen nicht den Tatbestand der Nötigung erfüllen.57 F wurde lediglich für 54 Wie man § 24 Abs. 1 anhand seiner Merkmale und unter Verzicht auf die herkömmlichen strafrechtsdogmatischen Figuren prüft, beschreibt Scheinfeld, JuS 2002, 250. 55 Gropp/Sinn in: Joecks/Miebach (Fn. 2), § 240 Rn. 60. 56 OLG Hamm NJW 1980, 2537; Ostendorf, GA 1982, 333, (338 ff.) und Roxin (Fn. 41), § 10 Rn. 40, Fn. 79 verstehen es zu Recht als Auslegungsregel für alle Straftatbestände. Anerkannt ist das Prinzip jedoch nur bei einzelnen Delikten wie etwa §§ 239, 240 (vgl. N.w. in Fn. 7 ff.; Gropp/Sinn [Fn. 55], § 240 Rn. 136 m.w.N.). 57 Üblicherweise wird das Geringfügigkeitsprinzip bei der Verwerflichkeitsprüfung berücksichtigt, vgl. Gropp/Sinn (Fn. 56), und zur Reduktion des Tatbestandes BGHSt 41, 231 (240). einen Augenblick davon abgehalten, davon zu laufen. Diese nur bagatellartige Beschränkung seiner Willensbetätigungsfreiheit beinhaltet keinen hinreichenden Taterfolg. C hat sich daher nicht gemäß § 240 Abs. 1, Abs. 2 wegen Nötigung strafbar gemacht. D. Strafbarkeit wegen versuchter Nötigung, §§ 240 Abs. 1-3, 22, 23 Abs. 1 Durch dieselbe Handlung könnte sich C gemäß §§ 240 Abs. 1-3, 22, 23 Abs. 1 wegen versuchter Nötigung strafbar gemacht haben. I. Tatentschluss Dazu müsste er einen Tatentschluss gefasst haben. Tatentschluss gemäß § 240 Abs. 1 liegt jedenfalls vor, wenn der Täter beabsichtigt,58 einen Menschen mit Gewalt zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu nötigen. Fraglich ist, ob der Nötigungserfolg nur in einem menschlichen Verhalten bestehen kann, das vom Willen des Opfers beherrscht wird oder beherrschbar ist. Die Minderheitsansicht unterscheidet in diesem engeren Sinne zwischen Gewalt, die ein vom Täter erstrebtes Verhalten bewirkt (vis compulsiva), sowie körperlichen Zwangseinwirkungen, die eine Bildung oder Betätigung des Willens unmöglich machen (vis absoluta).59 Letztere Art von Gewalt sei ungeeignet, eine menschliche Handlung, Duldung oder Unterlassung hervorzurufen.60 C beabsichtigte, F an der Hand zu halten, damit dieser nicht fortläuft und stattdessen mit ihm zur Polizei geht. Nach seiner Vorstellung war F das Fortlaufen absolut unmöglich, so dass das Festhalten nach der Minderheitsansicht keine nötigende Gewalt darstellt. Das Ziehen am Arm des Jungen sollte diesen aber zugleich dazu veranlassen, mit ihm zur Polizei zu laufen. Weil die Anwendung des körperlich wirkenden Zwanges insofern nicht die Willensentschließungsfreiheit des F ausschloss, stellt sie nötigende Gewalt dar. Die herrschende 58 Umstritten ist, ob der Nötigungserfolg beabsichtigt werden muss; zum Meinungsstand Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 55. Aufl. 2008, § 240 Rn. 53. Bejaht wird dies mit einem Argument aus § 240 Abs. 2, der mit dem Merkmal „Zweck“ die tatbestandliche Opferreaktion meine; Gropp/Sinn (Fn. 55), § 240 Rn. 103 m.w.N. Die Verwerflichkeit wird üblicherweise durch eine umfassende „Abwägung unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls“ bestimmt; Eser (Fn. 17), § 240 Rn. 17 m.N. zur Rechtsprechung von BVerfG und BGH. Zumindest muss man Mittel und Zweck in Beziehung zueinander setzen; Gropp/Sinn (Fn. 55), § 240 Rn. 124. Da in § 240 Abs. 2 als Rechtsfolge nur objektive Rechtswidrigkeit gemeint sein kann, würde aber über das Verständnis des Zwecks als beabsichtigter Nötigungserfolg ein innerpsychischer Umstand auf die objektive Verhaltensberechtigung Einfluss nehmen. Vgl. dagegen für eine systemkonforme Interpretation Fn. 98. 59 Gropp/Sinn (Fn. 55), § 240 Rn. 29. 60 Gropp/Sinn (Fn. 55), § 240 Rn. 59; Hruschka, NJW 1996, 160 (162 ff.); Sinn, Nötigung im System des heutigen Strafrechts, 2000, S. 195 ff. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 526 Straftaten gegen Kraftfahrzeuge Meinung lässt zusätzlich vis absoluta etwa durch Festhalten als nötigende Gewalt genügen.61 C wollte somit nach beiden Auffassungen Gewalt im Sinne des § 240 Abs. 1 anwenden, um den Jungen zu einem Verhalten zu veranlassen.62 Er hatte den geforderten Tatentschluss. II. Unmittelbares Ansetzen C müsste nach seiner Vorstellung von der Tat zu ihrer Verwirklichung unmittelbar angesetzt haben, § 22. Ein Nötigungsversuch beginnt spätestens mit dem bewussten Einsatz des Nötigungsmittels.63 Indem er sich den Jungen gewaltsam schnappte, um ihn zur Polizei zu bringen, setzte er nach seiner Vorstellung unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung an. III. Rechtswidrigkeit und Schuld Wie bereits festgestellt scheidet eine Rechtfertigung gemäß §§ 127 Abs. 1 StPO, 229 BGB aus. C handelte aber nur rechtswidrig, wenn die vorgestellte Gewaltanwendung zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist,64 § 240 Abs. 2. Nach gängigem Verständnis kann sich die Verwerflichkeit aus dem Zweck, dem angewandten Mittel oder aus der Relation zwischen beiden ergeben.65 Vor allem die sonstige Strafbarkeit eines Nötigungsmittels wird dabei als Indiz für seine Verwerflichkeit gesehen.66 Das geplante Mittel war eine Freiheitsberaubung auf andere Weise, § 239 Abs. 1 2. Fall. C wollte den kleinen Jungen der Polizei übergegeben. Die angestrebte Gewaltanwendung war zwar geeignet, die Durchsetzung eines Schadensersatzanspruchs gegen die Eltern oder andere Aufsichtspersonen abzusichern. Weil dies aber auch durch mildere Mittel [siehe oben B. III. 2.] hätte geschehen können, ist die geplante Gewaltanwendung als verwerflich anzusehen. C handelte daher rechtswidrig und im Übrigen auch schuldhaft. 61 Eser (Fn. 17), Vorbem §§ 234 ff. Rn. 13; Träger/Altvater (Fn. 3), § 240 Rn. 38 ff. (beide) m.w.N. zur „heute nahezu uneingeschränkt herrschende[n] Meinung“. 62 Die Unterscheidung hat ebenfalls keine konkurrenzrechtlichen Auswirkungen auf das Gesamtergebnis; vgl. dort. 63 Träger/Altvater (Fn. 3), § 240 Rn. 118. 64 Es ist umstritten, ob es sich hierbei um ein Merkmal des Tatbestandes oder der Rechtfertigung handelt. Nach der Lehre von der eingeschränkten Schuldtheorie (ausführlicher dazu im 2. Tatkomplex A. II. 4.) lassen sich diese jedoch nicht inhaltlich, sondern nur formell unterscheiden; vgl. Schlehofer, Vorsatz und Tatabweichung, 1996, S. 69. Sofern man nicht schon der Formulierung des § 240 Abs. 2 eine formelle Zuweisung zur Rechtswidrigkeit entnehmen möchte, spricht dafür zumindest ein pragmatischen Grund. Sie ermöglicht es, zuvor die konkreter gefassten allgemeinen Rechtfertigungsgründe zu prüfen, so dass man sich teilweise die schwierigere Abwägung nach § 240 Abs. 2 erspart. 65 Kindhäuser (Fn. 4), § 240 Rn. 48 ff. 66 BGHSt 44, 34 (42); Eser (Fn. 17), § 240 Rn. 19; Gropp/Sinn (Fn. 55), § 240 Rn. 127. STRAFRECHT IV. Rücktritt und Ergebnis Mangels Rücktritts hat sich C gemäß §§ 240 Abs. 1-3, 22, 23 Abs. 1 wegen versuchter Nötigung strafbar gemacht. Hinweis: Mit entsprechender Begründung ist hier eine andere Ansicht vertretbar. 2. Tatkomplex: Die Reifenentlüftung A. Strafbarkeit wegen Sachbeschädigung, § 303 Abs. 1 Indem C mit einem Schlüssel alle vier Reifen des geklauten Wagens entlüftete, könnte er sich gemäß § 303 Abs. 1 wegen Sachbeschädigung strafbar gemacht haben. I. Tatbestand Möglicherweise hat C damit eine fremde Sache beschädigt. Der Wagen ist ein körperlicher Gegenstand, der im Eigentum eines Dritten steht, also eine fremde Sache. Eine Beschädigung erfordert nach ganz herrschender Meinung67 keine Substanzverletzung, sondern ist auch bei einer nicht unerheblichen Minderung der bestimmungsgemäßen Brauchbarkeit gegeben.68 Das Ablassen von Luft aus Autoreifen bei Fehlen einer schnellen und einfachen Reparaturmöglichkeit ist dafür ein typisches Beispiel.69 C hat daher eine fremde Sache beschädigt. Hinweis: Aus prüfungstaktischen Erwägungen sollte der objektive Tatbestand des § 303 Abs. 1 zumindest dann angenommen werden, wenn man mit diesem Lösungsvorschlag nachfolgend eine Nötigung verneint. Andernfalls entfällt die Möglichkeit, den umgekehrten Erlaubnistatbestandsirrtum zu erörtern. Weil C diese Umstände bekannt waren und es ihm auf ihre Verwirklichung gerade ankam, um dem Fahrer eine Lektion zu erteilen, handelte er absichtlich. II. Rechtswidrigkeit Da C durch die Reifenentlüftung zugleich die Festnahme eines Bankräubers und die Sicherstellung seiner Beute be67 So die Einschätzung von Kindhäuser (Fn. 4), § 303 Rn. 5 ff., 8 m.w.N. 68 Auf die Erörterung der Gegenansicht durfte hier verzichtet werden. Kargl, JZ 1997, 283 fordert allerdings mit gewichtigen Argumenten eine Begrenzung auf das klar konturierte Kriterium der Substanzverletzungen. Wer mit der h.M. zusätzlich die perspektivisch zu bestimmenden Brauchbarkeitsbeeinträchtigungen erfasst, muss mit dem Bagatellprinzip korrigierend eingreifen. Andernfalls kommt man dazu, „das Zuschlagen eines Buches, in dem der Leser nach langer Suche die ersehnte Stelle gefunden hat“ (Schroeder [Fn. 5], § 36 Rn. 17 mit weiteren Beispielen), oder das Luftablassen aus einem Fahrradreifen ohne Entfernung des Ventils und trotz vorhandener Pumpe (BayObLG JR 1988, 217) als Sachbeschädigung zu bestrafen. 69 BGHSt 13, 207; Kindhäuser (Fn. 4), § 303 Rn. 8; Klug, JZ 1960, 226. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 527 ÜBUNGSFALL Niclas Börgers/Ralph Grunewald wirkte, ist ihre Rechtswidrigkeit fraglich. Nothilfe darf sich gemäß § 32 nur gegen den Angreifer richten. Die Sachbeschädigung belastet aber den unbeteiligten Autoeigentümer. In Betracht kommt deshalb nur eine Rechtfertigung durch § 34. Voraussetzung ist, dass die Reifenentlüftung erforderlich und angemessen war, um ein gegenwärtig gefährdetes und wesentlich überwiegendes Rechtsgut zu schützen. Zum Zeitpunkt der Sachbeschädigung wurde durch den Bankräuber das Eigentum der Sparkasse gegenwärtig gefährdet. Das Entlüften der Reifen war im Zusammenspiel mit dem Eingreifen der Polizei geeignet, die Gefahr zu beseitigen, und als mildestes Mittel dazu erforderlich. Sowohl auf Seiten der Sparkasse als auch auf der des Autoinhabers ist das Rechtsgut Eigentum betroffen. Weil der Bank ein sehr viel höherer Schaden drohte, überwiegen ihre Interessen wesentlich. Das Entlüften der Reifen war zudem sozialadäquat und daher angemessen.70 Diese rechtfertigenden Umstände waren dem C jedoch nicht bekannt. Welche Folgen ein solcher umgekehrter Erlaubnistatbestandsirrtum hat, wird unterschiedlich beurteilt.71 1. Straflosigkeit Nach einer rein objektiven Unrechtsauffassung begründen nicht Vorsatz oder Fahrlässigkeit in erster Linie das rechtliche Unwerturteil, sondern die Gefährlichkeit oder Schädlichkeit des Verhaltens.72 Dementsprechend sei die subjektive Zielstrebigkeit wie etwa ein Hilfewille des Handelnden unerheblich im Gegensatz zur objektiven Zweckmäßigkeit der Handlung.73 Weil die äußere Tendenz zur (Gefahren-)Abwehr über die Rechtmäßigkeit entscheide, finden subjektive Rechtfertigungselemente wie etwa das Bewusstsein einer Notstands- oder Notwehrlage auf der Unrechtsebene keine Berücksichtigung. Die innere Haltung des Täters bilde vielmehr den Gegenstand eines anderen Unwerturteils und qualifiziere sich als Schuld.74 Die Vorstellung des Fehlens von Rechtfertigungsgründen steht danach einer vollständigen Rechtfertigung nicht im Wege.75 Nach dieser Ansicht hätte sich C nicht wegen vollendeter oder versuchter Sachbeschädigung strafbar gemacht. 70 Die Angemessenheit wird überwiegend als zweite Wertungsstufe nach der Interessenabwägung verstanden, während die Gegenauffassung in ihr keine unabhängige Notstandsvoraussetzung sieht; vgl. Erb, in: Joecks/Miebach (Fn. 2), § 34 Rn. 66 ff. 71 Vgl. zum Sonderfall einer fehlenden Verteidigungs- oder Hilfeleistungsabsicht Staudinger, in: Frister (Hrsg.), Die strafrechtliche Klausur, 1998, S. 25 ff. und zum reinen Erlaubnistatbestandsirrtum Deiters, in: Frister, a.a.O., S. 1 ff. 72 Spendel, in: Kaufmann (Hrsg.), Festschrift für Paul Bockelmann zum 70. Geburtstag, 1978, S. 251. 73 Spendel, in: Herzberg (Hrsg.), Festschrift für Dietrich Oehler zum 70. Geburtstag, 1985, S. 203. 74 Spendel (Fn. 72), S. 252. 75 Spendel, in: Jähnke/Odersky/Laufhütte (Fn. 3), § 32 Rn. 138 ff. m.w.N.; Rohrer, JA 1986, 364 mit kritischer Anmerkung von Herzberg, JA 1986, 541. 2. Vollendetes Vorsatzdelikt Die Gegenauffassung nimmt an, Umstände, die die Motivation des Täters nicht bestimmen, könnten ihm auch nicht zugute kommen.76 Ohne Vorliegen ihrer gesetzlich vorausgesetzten subjektiven Merkmale sollen Erlaubnissätze deshalb nicht eingreifen.77 Fehlten sie, sei folglich insgesamt eine Rechtfertigung abzulehnen. Wer etwa in Unkenntnis der Voraussetzungen einer Erlaubnisnorm einen Menschen verletzt, verwirkliche eine vollständige Beeinträchtigung des Guts Gesundheit und habe allein deshalb normwidrig gehandelt, ohne dass der zusätzliche Kollisionssachverhalt daran etwas ändere.78 Im Falle des umgekehrten Erlaubnistatbestandsirrtums sei daher eine vollendete rechtswidrige Tat anzunehmen.79 Vereinzelt wird dem Täter wegen der aus dem Fehlen objektiver Unrechtmerkmale folgenden Unrechtsminderung aber eine Strafmilderung nach § 49 Abs. 1 zugestanden.80 C wäre dieser Auffassung zufolge wegen Sachbeschädigung gemäß § 303 Abs. 1 zu bestrafen, sofern er schuldhaft handelte. 3. Versuch Die herrschende Auffassung geht davon aus, dass man zwischen einem objektiven und einem subjektiven Teil des Unrechts (so genanntes Erfolgs- und Handlungsunrecht)81 eines Vorsatzdeliktes unterscheiden muss. Die Bestrafung wegen vollendeten Vorsatzdeliktes erfordert das Vorliegen beider Komponenten. Für den Versuch genüge hingegen der subjektive Anteil. In den Fällen des umgekehrten Erlaubnistatbestandsirrtums schließe das Vorliegen der objektiven Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes objektives Unrecht und damit das vollendete Delikt aus. Es verbleibe subjektives Unrecht, so dass eine Bestrafung wegen Versuchs in Betracht komme. Wenn der Versuch nicht mit Strafe bedroht ist, führt dies zur Straflosigkeit.82 C könnte demnach nur wegen ver76 B. Heinrich, Jura 1997, 366 (374). Triffterer, in: Herzberg (Fn. 73), S. 225. 78 Gössel, in: Schmoller (Hrsg.), Festschrift für Otto Triffterer zum 65. Geburtstag, 1998, S. 99. 79 Alwart, GA 1983, 433 (454 f.); Hirsch, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Fn. 3), vor § 32 Rn. 59; Tröndle, in: ders./Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 49. Aufl. 1999, § 32 Rn. 14. 80 Hirsch, a.a.O. 81 Vgl. etwa Graul, JuS 2000, L 41 (42 f.); weil diese Begriffe jedoch sehr uneinheitlich verwendet werden und nicht nur die Abgrenzung zwischen objektiv und subjektiv beschreiben (vgl. Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 5. Aufl. 2004, § 8 Rn. 60), ist es insgesamt einfacher, auf sie zu verzichten. 82 BGHSt 38, 144 (155); Wessels/Beulke (Fn. 18), Rn. 279; Fischer (Fn. 58), § 16 Rn. 23; Graul, JuS 2000, L 41 (42 f.); Hardtung, Jura 1996, 293 (296); Joecks, Strafgesetzbuch, Studienkommentar, 7. Aufl. 2007, vor § 32 Rn. 12 f.; Kindhäuser (Fn. 4), vor §§ 32-35 Rn. 19; Mitsch, in: Baumann/Weber/ders., Strafrecht, Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2003, § 16 Rn. 68; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 81), § 9 Rn. 153, jeweils m.w.N. 77 _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 528 Straftaten gegen Kraftfahrzeuge suchter Sachbeschädigung gemäß §§ 303, 22, 23 Abs. 1 bestraft werden. 4. Diskussion Das Modell der objektiven Unrechtsauffassung bekommt erste Risse, wenn man die Behandlung des „normalen“ Erlaubnistatbestandsirrtums betrachtet. Geht der Täter von Umständen aus, die ihn bei ihrem wirklichen Vorliegen rechtfertigen würden, will ihr Hauptvertreter § 16 Abs. 1 S. 1 analog anwenden, weil dieser Tatsachenirrtum genau dem vorsatzausschließenden (Delikts-)Tatbestandsirrtum entspricht.83 Das ist zwar nach der noch darzustellenden eingeschränkten Schuldtheorie richtig, lässt sich aber nicht anhand der rein objektiven Unrechtslehre entwickeln. Stellt man bei der Prüfung des Erlaubnistatbestandes lediglich auf Umstände außerhalb der Täterpsyche ab, kann eine Vorstellung von deren Vorliegen insofern keine privilegierende Wirkung haben.84 Gegen eine anhand der objektiven Unrechtsauffassung begründete Straflosigkeit wird zudem mit der Strafbarkeit des untauglichen Versuchs (§ 23 Abs. 3) argumentiert. Ihr zufolge würde der Täter im Falle eines umgekehrten Erlaubnistatbestandsirrtums wegen der objektiven Rechtfertigungslage trotz eines vollständigen – das Vorliegen der den Tatbestand erfüllenden und das Fehlen rechtfertiger Umstände umfassenden – Deliktsvorsatzes nicht wegen Versuchs bestraft werden. Nach § 23 Abs. 3 können dafür jedoch keine außerpsychischen Umstände, sondern nur Tätervorstellungen entscheidend sein.85 Mit der Gewährung einer Strafmilderung für die Fälle des untauglichen Versuchs gibt diese Norm zu erkennen, dass dessen Strafbarkeit gesetzlich vorgesehen ist. Allerdings bezieht sich § 23 Abs. 3 nur auf die Ungeeignet der Tatobjekte oder -werkzeuge. Man könnte daher annehmen, strafbare untaugliche Versuche sind nur diese Fälle, in denen der objektive Tatbestand nicht erfüllt ist, während hingegen das Vorliegen des objektiven Rechtfertigungstatbestandes die Strafbarkeit gänzlich ausschließt.86 Hier wird deutlich, dass sich die Rechtsfolge bei Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements genau so wie beim „normalen“ Erlaubnistatbestandsirrtum87 in erster Linie nach dem Verhältnis von Tatbestand und Rechtswidrigkeit bestimmt.88 Nach der einge- 83 Spendel (Fn. 75), § 32 Rn. 343. Rinck, Der zweistufige Deliktsaufbau, 2000, S. 211 f. 85 Frisch, in: Küper (Hrsg.), Festschrift für Karl Lackner zum 70. Geburtstag, 1987, S. 126 ff.; Roxin (Fn. 41), § 14 Rn. 96. 86 Wer die Nichtvollendung lediglich aus dem Fehlen objektiver Tatbestandsmerkmale ableitet, kann die Versuchsregeln beim umgekehrten Erlaubnistatbestandsirrtum nur analog (Kühl [Fn. 27], § Rn. 15 f.) oder entsprechend Wessels/Beulke (Fn. 18), Rn. 279 anwenden; dagegen mit Recht Hardtung, Jura 1996, 297 f. und Rönnau, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Fn. 3), 12. Aufl. 2006 ff., vor § 32 Rn. 90. 87 Eingehende Darstellung bei Rinck (Fn. 84), S. 74 ff. 88 Triffterer (Fn. 77), S. 214 ff.; vgl. auch Alwart, GA 1983, 454, die jedoch beide von einem inhaltlichen Unterschied ausgehen. 84 STRAFRECHT schränkten Schuldtheorie89 haben beide als einheitliche Wertungsstufe die gleiche sachliche Bedeutung für das Unrecht der Tat.90 Um einen für das Strafrecht relevanten inhaltlichen Unterschied zwischen unrechtsbegründenden und -ausschließenden Merkmalen zu belegen, müsste man strafrechtliche Vorschriften anführen, die in ihren Rechtsfolgen nach dem Vorliegen von Tatbestand und Rechtswidrigkeit unterscheiden. Solche Normen gibt es jedoch nicht.91 Die Strafmilderung in § 23 Abs. 3 setzt voraus, dass das Fehlen der den Tatbestand erfüllenden Umstände die Versuchsstrafbarkeit nicht hindert. Wenn aber der das objektive Unrecht begründende Tatbestand unerheblich ist, dann kann es ebenso auf die Rechtfertigung nicht ankommen, weil sie wesensgleiche (der Sache nach negative Tatbestands-) Merkmale beinhaltet. Der Versuch enthält somit ein lediglich subjektives Unrecht,92 das in den Fällen des umgekehrten Erlaubnistatbestandsirrtums gegeben ist. Es liegen deshalb entgegen der objektiven Unrechtslehre die Voraussetzungen für eine Versuchsbestrafung vor. Fraglich bleibt, ob zusätzlich ein deckungsgleiches objektives Unrecht gegeben ist, das eine Bestrafung wegen Vollendung stützen könnte. Die Vertreter der Vollendungslösung berufen sich darauf, dass ein 89 Ihre Bezeichnung erläutern Roxin (Fn. 41), § 14 Rn. 56 und Rinck (Fn. 84), S. 145 ff. Sie wird im Hinblick auf den Erlaubnistatbestandsirrtum häufig durch das Attribut „vorsatzunrechtverneinend“ präzisiert; vgl. Kühl (Fn. 27), § 13 Rn. 73. 90 Herzberg, JA 1989, 243 (245); Rinck (Fn. 84), passim; Roxin (Fn. 41), § 14 Rn. 55 f., 64 ff. m.w.N. Das schließt es nicht aus, aus Gründen der Tradition (Samson, in: Rudolphi u.a. [Hrsg.], Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 5. Aufl. 1992, 19. Lieferung, Stand: Dezember 1992, vor § 32 Rn. 30) weiterhin den anerkannten und auch gesetzlich vorgesehenen dreistufige Verbrechensaufbau zu verwenden; Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 26. Aufl. 2007, vor § 13 Rn. 17 m.w.N. Angedeutet wird die Einheitlichkeit der Wertungsstufe „Unrecht“ durch die umstrittene Einordnung mancher formell nicht gekennzeichneter Deliktsmerkmale als tatbestandlich oder die Rechtswidrigkeit betreffend; Puppe, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2005, vor § 13 Rn. 13 f. und Rinck (Fn. 84), S. 459 f. Tradition hat etwa die bereits angesprochene Diskussion um die Einordnung der Verwerflichkeit in § 240 Abs. 2 (Fn. 64). Würden sich Tatbestand und Rechtswidrigkeit in strafrechtlich relevanter Weise unterscheiden, ließen sich solche Merkmale leichter einordnen. 91 Die eingeschränkte Schuldtheorie lässt sich zudem nicht durch die begriffliche Unterscheidungen im StGB widerlegen. Diese dient der Übersichtlichkeit und gesetzestechnischen Ökonomie; Hassemer, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Fn. 90), Vor § 1 Rn. 252. 92 Es ist daher entgegen verbreiteter Auffassung (Wessels/Beulke [Fn. 18], Rn. 599; Kühl [Fn. 27], § 15 Rn. 7a) unpassend, das unmittelbare Ansetzen als objektiven Tatbestand des Versuchs zu bezeichnen; siehe Frister, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2007, § 23 Rn. 16 und Herzberg, in: Joecks/Miebach (Fn. 2), § 22 Rn. 30 ff. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 529 ÜBUNGSFALL Niclas Börgers/Ralph Grunewald Rechtfertigungsgrund nur eingreifen kann, wenn alle, auch die subjektiven Voraussetzungen vorliegen. Widersprüchlich ist es jedenfalls, wenn Vertreter dieser Auffassung eine Unrechtsminderung sehen, die zwar nicht für die Versuchsbestrafung, wohl aber für die obligatorische Anwendung von § 49 Abs. 1 genügt. Der Versuch würde gemäß §§ 23 Abs. 2, 49 lediglich eine fakultative Strafmilderung eröffnen. Die These der Vollendungslösung lautet, dass es keine nur objektiv wirkenden Rechtfertigungsgründe gibt. Dies hätte zur Konsequenz, dass jeder, der eine bestehende Rechtfertigungslage kennt, zunächst Notwehr gegen einen unwissenden Helfer üben und danach dessen Handlung selbst vornehmen kann. Man stelle sich etwa vor, jemand merkt nicht, dass er durch das Aufbrechen der Türe zu einer fremden Wohnung eine rechtswidrig eingesperrte Person befreit. Weil der Eindringling die Notwehr- oder Notstandslage nicht kennt, könnte sie ihn nicht objektiv rechtfertigen. Sein Verhalten dürfte also vom informierten Dritten abgewehrt und danach selbst vorgenommen werden.93 Dieses unsinnige Ergebnis lässt sich mit der eingeschränkten Schuldtheorie vermeiden. Da Tatbestands- und Rechtfertigungsmerkmale keinen inhaltlichen Unterschied aufweisen, kann ein objektiv tatbestandsloses Verhalten nicht richtiger beziehungsweise rechtmäßiger sein als ein objektiv tatbestandsmäßiges Verhalten bei Eingreifen objektiver Rechtfertigungsmerkmale. Das durch den objektiven Tatbestand begründete Unrecht wird somit durch das Vorliegen objektiver Rechtfertigungsumstände beseitigt. Der Täter kann daher bei Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselementes nicht wegen vollendeten Vorsatzdeliktes, sondern nur wegen Versuchs bestraft werden. III. Ergebnis C hat sich nicht gemäß § 303 Abs. 1 wegen Sachbeschädigung strafbar gemacht. B. Strafbarkeit wegen versuchter Sachbeschädigung, §§ 303 Abs. 1, Abs. 2, 22, 23 Abs. 1 Durch dieselbe Handlung könnte C sich gemäß §§ 303 Abs. 1, Abs. 2, 22, 23 Abs. 1 wegen versuchter Sachbeschädigung strafbar gemacht haben. Er handelte in Sachbeschädigungsabsicht und hatte daher den erforderlichen Tatentschluss. Als C die Reifen entlüftete, glaubte er, alles zur Verwirklichung des Tatbestandes Erforderliche getan zu haben, so dass er gemäß § 22 nach seiner Vorstellung von der Tat zu ihrer Verwirklichung unmittelbar ansetzte. Seine Unkenntnis der rechtfertigenden Umstände begründet – nach den Überlegungen zum umgekehrten Erlaubnistatbestandsirrtum – die subjektive Rechtswidrigkeit des Versuchs. Da er schuldhaft handelte und nicht gemäß § 24 Abs. 1 zurückgetreten ist, hat sich C gemäß §§ 303 Abs. 1, Abs. 2, 22, 23 Abs.1 wegen versuchter Sachbeschädigung strafbar gemacht. 93 Jakobs (Fn. 24), § 11 Rn. 22 mit einem weiteren Argument zu Fällen der Teilnahme. C. Strafbarkeit wegen Nötigung, § 240 Abs. 1, Abs. 2 Durch dieselbe Handlung hat sich C möglicherweise gemäß §§ 240 Abs. 1, Abs. 2 wegen Nötigung strafbar gemacht. C müsste B durch Gewalt zu einem Handeln, Dulden oder Unterlassen genötigt haben. Der Gewaltbegriff ist sehr umstritten. Das BVerfG hat klargestellt, dass eine lediglich psychische Zwangseinwirkung beim Opfer nicht genügt.94 Dem folgend verlangen der BGH und die herrschende Meinung in der Literatur eine körperliche Einwirkung, wobei deren Inhalt bislang ungeklärt ist.95 Die Einstufung der Beschränkung von Handlungsmöglichkeiten durch Beschädigung oder Zerstörung einer Sache als nötigende Gewalt bedarf dabei besonderer Zurückhaltung. Andernfalls würde jede Sachbeschädigung, die eine genutzte Funktion beeinträchtigt oder aufhebt, zugleich den Tatbestand der Nötigung erfüllen.96 Wer so genannte Gewalt gegen Sachen anwendet, der vermeidet im Gegenteil typischerweise eine unmittelbare physische Konfrontation mit dem Opfer.97 Nötigende Gewalt wäre vorliegend jedenfalls auszuschließen, wenn die Reifenentlüftung als vis absoluta eine Bildung oder Betätigung des Willens unmöglich macht und diese Gewaltform nicht den Nötigungstatbestand erfüllt. Damit eine körperliche Zwangseinwirkung demgegenüber als vis compulsiva ein – vom Willen des Opfers beherrschtes oder beherrschbares – Verhalten bewirken kann, muss sie entsprechend der Drohung eine zusätzliche kommunikative Steuerungsfunktion haben und dem Opfer zumindest konkludent vorgeben, wie es handeln, dulden oder unterlassen soll.98 94 E 92, 1, 17; zu deren Bindungswirkung Altvater, NStZ 1995, 278 (280) und Sinn (Fn. 60), S. 181 f. 95 Das OLG Köln (NZV 1995, 405) hat etwa die durch dichtes Auffahren im Straßenverkehr beim Vordermann hervorgerufene Einwirkung auf dessen Nervensystem für hinreichend erachtet. Das Abstellen auf die Nervenerregung ist indes kein neuer Ansatz und schon vor 30 Jahren mit Recht abgelehnt worden, Jakobs, in: Wasserburg (Hrsg.), Festschrift für Karl Peters zum 80. Geburtstages, 1984, S. 77. Da jede Sinneswahrnehmung (z.B. Tasten, Sehen oder Hören) über Nervenerregungen weitergeleitet wird, erlaubt das Kriterium keine Unterscheidung zwischen physischer und psychischer Einwirkung. Es ist daher zur Umsetzung der verfassungsgerichtlichen Vorgaben ungeeignet. Der Bundesgerichtshof hat stattdessen in seiner Entscheidung zur Straßenblockade durch Kraftfahrzeuge auf die körperliche Unüberwindbarkeit eines durch geringe Kraftentfaltung verursachten Hindernisses abgestellt; BGHSt 41, 182 (183 ff.); ablehnend Hruschka, NJW 1996, 160 und Amelung, NStZ 1996, 230. 96 Träger/Altvater (Fn. 3), § 240 Rn. 50 m.w.N. in Fn. 329. Daher fordern viele Autoren Absicht hinsichtlich des Nötigungserfolges, a.a.O. und Rn. 115 m.w.N. 97 Vgl. Gropp/Sinn (Fn. 55), § 240 Rn. 63; Hruschka, NJW 1996, 160 (161 f.). 98 Vgl. Weber, in: Arzt/ders., Strafrecht, Besonderer Teil, 2000, § 9 Rn. 61. Haben alle Nötigungsmittel eine kommunikative Wirkung, liegt es nahe, dass der angestrebte Zweck (§ 240 Abs. 2) das Verhalten meint so wie der Täter es von seinem Opfer ausdrücklich oder konkludent verlangt hat. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 530 Straftaten gegen Kraftfahrzeuge Ihm muss klar gemacht werden, welches Verhalten erwartet wird. Nur dann kann es sich gezwungenermaßen dafür oder dagegen entscheiden. Da alle vier Reifen entlüftet wurden, konnte B von einem Menschen und nicht vom Zufall als Urheber ausgehen. Allerdings wird ihm durch die Gewaltanwendung lediglich vermittelt, dass er das Fahrzeug erst einmal nicht benutzen soll. Weil B die Nutzung des Wagens sowieso physisch unmöglich ist, war dieser Nichtgebrauch jedoch nicht von seinem Willen abhängig. Die Reifentlüftung stellt sich daher als vis absoluta dar. Ob der Nötigungstatbestand diese Gewaltform erfasst, ist umstritten. Die Minderheitsansicht verneint dies und argumentiert mit dem Wortlaut des § 240 Abs. 1, der als tatbestandsmäßige Opferreaktion eine Handlung, Duldung oder Unterlassung verlangt. Der Nötigungserfolg bestehe somit aus einem menschlichen Verhalten,99 das nach allgemeinem Verständnis vom Willen beherrscht werden oder zumindest beherrschbar sein muss.100 Körperliche Zwangseinwirkungen, die eine Bildung oder Betätigung des Willens unmöglich machen, können daher keine Handlung, Duldung oder Unterlassung verursachen, weswegen der Begriff der nötigenden Gewalt auf die vis compulsiva zu beschränken sei. Die herrschende Meinung will hingegen auch die vis absoluta dem Nötigungstatbestand subsumieren.101 Dies ist ihr nur möglich, indem sie beim Merkmal der tatbestandsmäßigen Opferreaktion auf eine „Handlung im Rechtssinne“ verzichtet und demgegenüber Handlungen, Duldungen oder Unterlassungen im uneigentlichen, untechnischen Sinne genügen lässt.102 Unklar bleibt dabei, wie sich eine solche uneigentliche Handlung, Duldung oder Unterlassung positiv definiert. Wenn sie keine Handlung, Duldung oder Unterlassung im eigentlichen Sinne sein soll, liegt die Vermutung nahe, dass sie überhaupt keine Handlung, Duldung oder Unterlassung ist.103 Dessen ungeachtet weicht diese Interpretation des Nötigungserfolges vom allgemein anerkannten Verständnis ab, wonach eine willentliche Steuerung beziehungsweise Beeinflussbarkeit Mindestvoraussetzung menschlichen Verhaltens ist.104 Geduldet werden demzufolge etwa nur solche Ereignis- Entnimmt man den Zweck einem Kommunikationsakt, handelt es sich grundsätzlich um ein außerpsychisches und daher objektives Merkmal; vgl. Fn. 58. 99 Vgl. Kindhäuser (Fn. 4), § 240 Rn. 37, der jedoch nicht die Schlussfolgerung der m.M. zieht. 100 Otto, Grundkurs Strafrecht, Allgemeine Strafrechtslehre, 7. Aufl. 2004, § 5 Rn. 37 ff.; Freund, in: Joecks/Miebach (Fn. 2), vor §§ 13 ff., Rn. 124; vgl. auch zum insofern unerheblichen Streit um das Wesen menschlichen Verhaltens Roxin (Fn. 41), § 8 Rn. 7 ff. 101 Vgl. N.w. in Fn. 60 f. 102 Eser (Fn. 17), Vorbem §§ 234 ff. Rn. 13 und § 240 Rn. 12; Horn, in: Rudolphi u.a. (Fn. 90), 7. Aufl., 59. Lieferung, Stand: Oktober 2003, § 240 Rn. 23; Wolter, NStZ 1985, 245 (248). 103 Hruschka, NJW 1996, 160 (162). 104 Vgl. Kargl, in: Schünemann (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag, 2001, S. 908. STRAFRECHT se, die man auch verhindern kann.105 Die gleichzeitige Behauptung dieses anerkannten Grundsatzes und einer unbegründeten Ausnahme wäre widersprüchlich. Wer von ihm abweichen möchte, den trifft daher zugleich die argumentative Beweislast für das Vorliegen einer sich entziehenden Besonderheit.106 Das gängige argumentum a fortiori lautet:107 Wenn bereits vis compulsiva den Nötigungstatbestand erfüllt, dann muss dies vis absoluta erst recht können.108 Jedoch ist bereits die allgemeine Aussage falsch, dass ein Tatbestand, der bestimmte Verhaltensweisen unter Strafe stellt, auch strafwürdigere Fälle erfassen muss.109 In vielen der dazu gebildeten konkreten Fällen verdient der härter und radikaler gegen sein Opfer vorgehende Täter zudem nicht wegen der Erzwingung einer uneigentlichen – weil unwillkürlichen – Duldung die höhere Strafe, sondern wegen der dazu benutzten Körperverletzung, §§ 223 ff.110 Vergleichbar sind stattdessen nur Fälle, in denen der absolute Zwang keinen zusätzlichen Straftatbestand erfüllt, etwa wenn das Opfer vom Beckenrand ins eiskalte Wasser gestoßen wird oder wegen Androhung von Prügel selbst springt. Hier erscheint es widersprüchlich, nur das zweite Verhalten als Nötigung zu bewerten, obwohl es dem Opfer doch wenigstens eine Wahlmöglichkeit ließ.111 Die herrschende Meinung würde dementsprechend im Stoß die intensivere Beschränkung der ihr zufolge geschützten Freiheit der Willensbildung und -betätigung sehen.112 Damit setzte man jedoch etwas noch zu beweisendes voraus, dass nämlich im Falle der vis absoluta überhaupt der von § 240 sanktionierte Unwert gegeben ist. Das geschützte Rechtsgut lässt sich lediglich anhand des Normtextes entwickeln, der aber der herrschenden Meinung keine Stütze liefert. Ihre rechtsgutsbezogene Auslegung kann daher nur zur Umdeutung des Nötigungstatbestandes führen.113 Entsprechend der Minderheitsansicht stellt somit vis absoluta keine nötigende Gewalt dar. 105 Hruschka, NJW 1996, 160. Vgl. Puppe, GA 1981, 1 (4); Angioni, Il pericolo concreto, 2. Aufl. 1994, S. 66; Hardtung, Jura 1996, 293. 107 Vgl. zur Fragwürdigkeit dieser Argumentationsform Schneider, Logik für Juristen, 5. Aufl. 1999, S. 158 ff. 108 Vgl. Krey, Was ist Gewalt? 1986, Bd. 1, Rn. 143 ff.; Träger/Altvater (Fn. 3), § 240 Rn. 2, 39; Tröndle (Fn. 79), § 240 Rn. 13. 109 Hruschka, NJW 1996, 160 mit Beispiel. 110 Kargl (Fn. 104), S. 909 f. 111 Vgl. Kargl (Fn. 104), S. 910. 112 Vgl. Träger/Altvater (Fn. 3), § 240 Rn. 1 f., 39 m.w.N. 113 Hruschka, JZ 1995, 737 (743). Man könnte noch argumentieren, dass die beiden Begriffe Duldung und Unterlassung inhaltlich nicht zu unterscheiden sind, wenn sie als Unterfall des Verhaltens im eigentlichen Sinne verstanden werden und daher jeweils die Möglichkeit voraussetzten, eine Handlungsalternative zu ergreifen; vgl. dazu auch Kindhäuser (Fn. 4), § 240 Rn. 39. Sofern aber schon schlichtes Erleiden einen Nötigungserfolgt darstellte, wären umgekehrt sogar die Tatbestandsmerkmale Handlung, Duldung oder Unterlassung gänzlich überflüssig, Kargl (Fn. 104), S. 909. 106 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 531 ÜBUNGSFALL Niclas Börgers/Ralph Grunewald C hat sich nicht gemäß § 240 Abs. 1, Abs. 2 wegen Nötigung strafbar gemacht.114 D. Strafbarkeit des K wegen Anstiftung zur versuchten Sachbeschädigung, §§ 303, 22, 23 Abs. 1, 26 K könnte sich gemäß §§ 303 Abs. 1, Abs. 2, 22, 23 Abs. 1, 26 wegen Anstiftung zur versuchten Sachbeschädigung strafbar gemacht haben, indem er C vorschlug, die vier Autoreifen zu entlüften. Der objektive Tatbestand verlangt, dass K den C zu einer vorsätzlichen rechtswidrigen Tat bestimmt hat. C hat sich gemäß §§ 303 Abs. 1, Abs. 2, 22, 23 Abs. 1 wegen versuchter Sachbeschädigung strafbar gemacht. Ohne seinen Rat, mit einem Schlüssel alle vier Reifen des Fluchtautos zu entlüften, wäre C nicht zu diesem Entschluss gelangt. K hat C damit zu einer vorsätzlichen rechtswidrigen Tat bestimmt. Er hat den objektiven Tatbestand erfüllt, müsste dies aber auch mit Vorsatz hinsichtlich aller zugrunde liegenden Umstände getan haben.115 K ging davon aus, dass er durch seine Anregung bei C einen entsprechenden Tatentschluss hervorrufen und dieser die Reifen ohne Kenntnis der rechtfertigenden Umstände entlüften würde. Er hatte somit den Vorsatz, C zum Versuch einer Sachbeschädigung zu bestimmen. Da er C zu einem objektiv rechtmäßigen Verhalten veranlasst hat, stellt sich die Frage, ob diese ausdrücklichen Merkmale des Tatbestandes das Anstiftungsunrecht abschließend beschreiben.116 Die Notwendigkeit seiner Reduktion könnte sich aus dem Strafgrund der Anstiftung ergeben, den die akzessorietätsorientierte Verursachungstheorie zu Recht in der mittelbaren – durch die vorsätzlich rechtswidrige Haupttat bewirkten – Gefährdung oder Verletzung des straftatbestandlich geschützten Rechtsgutes sieht.117 Entscheidend 114 Eine andere Beurteilung ist vor allem auch in Anbetracht der obergerichtlichen Rechtsprechung natürlich sehr gut vertretbar. Nach dem Beschluss des BVerfG (Fn. 94) wurden etwa das Ausräumen einer Wohnung (OLG Köln NJW 1996, 472) oder die Verursachung einer Gefahrenlage, die geeignet ist, einen durchschnittlich empfindenden Verkehrsteilnehmer in unüberwindbare Furcht zu versetzen (OLG Karlsruhe NStZ-RR 1998, 58), als nötigende Gewalt angesehen. Das Verhalten ist hier aber in objektiver Hinsicht als Nothilfe (§ 32) zum Schutze des Eigentums der Sparkasse gerechtfertigt. 115 Bei der Beteiligung wird häufig von einem doppelten Teilnehmervorsatz gesprochen. Diese Bezeichnung hat allein deskriptive Bedeutung; der Vorsatz des Gehilfen muss sich nach §§ 26 f. auf Umstände beziehen, die zwei Tatbestandsmerkmale erfüllen. Aus diesem Grund ist der Begriff verzichtbar; siehe Frister (Fn. 92), § 28 Rn. 28 und Samson, in: Rudolphi u.a. (Fn. 90), 22. Lieferung, Stand: September 1993, vor § 26 Rn. 37. 116 Dieses Problem wird üblicherweise am Beispiel des agent provocateur diskutiert; vgl. dazu Deiters, JuS 2006, 302. 117 Roxin, Strafrecht, Allgemeiner, Bd. 2, 2003, § 26 Rn. 26 ff. Die Schuld- und Unrechtsteilnahmetheorien deuten die Anstiftung als Delikt gegen den Täter, das ihn in Schuld und Strafe verstrickt beziehungsweise sonstiger sozialer Desinteg- ist, dass sich das mit der Haupttat verursachte Unrecht auch in der Person des Teilnehmers als Rechtsgutsangriff darstellt.118 Ungeschriebene Merkmale des Anstiftungstatbestandes sind daher die Voraussetzungen dieser Überleitung des Haupttatunrechts auf den Teilnehmer. Das zugerechnete Unrecht vermag sich – wegen der Akzessorietätslockerung in § 28 Abs. 2 – in seinem Umfang zu vergrößern oder verkleinern, ist aber im Grunde an das Haupttatunrecht gebunden.119 Den Anknüpfungspunkt bildet hier das subjektive Unrecht eines versuchten Delikts. Dieses ist nach herrschender Eindruckstheorie in der Gefährdung der Normanerkennung durch die Betätigung eines rechtsfeindlichen Willens, der auf andere Normadressaten eine negative Vorbildwirkung haben kann, zu sehen.120 Selbst wenn formell objektive Tatbestandsmerkmale geprüft werden, kann die Anstiftung zum Versuch folglich materiell nur ein solches subjektives Unrecht darstellen. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass der Anstifter durch das Hervorrufen des Tatentschlusses beim Haupttäter seinerseits die (sekundär geschützte)121 Normanerkennung gefährdet. Stellt er sich Umstände vor, nach denen das Verhalten, zu dem er einen anderen bestimmt, nicht tatbestandsmäßig oder aber gerechtfertigt ist, demonstriert er damit jedoch nicht, dass die strafrechtliche Norm für ihn nicht gelten soll. Wenn er von einem die Versuchsstrafbarkeit begründenden Unrechtsvorsatz des anderen ausgeht, bringt er nur zum Ausdruck, dass dieser die Norm nicht befolgen will.122 Während im objektiven Tatbestand der Anstiftung eine ausschließlich subjektiv rechtswidrige Tat wie das versuchte Delikt genügt, muss daher der Anstiftervorsatz eine subjektiv und objektiv ration aussetzt; vgl. Darstellung und Kritik bei Jakobs (Fn. 24), § 22 Rn. 1 ff.; Roxin, a.a.O., § 26 Rn. 16 ff. 118 Roxin (Fn. 117), § 26 Rn. 27. 119 Vgl. Kindhäuser, NStZ 1997, 273. Die Darstellung beinhaltet Abweichungen von der ursprünglichen akzessorietätsorentierten Verursachungstheorie, die zum Teil als eigene Auffassungen beschrieben werden; vgl. Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Begehung, 1997, S. 34 ff. Auf diese Differenzierungen kommt es hier aber nicht an. 120 Eser (Fn. 17), Vorbem § 22 Rn. 22 m.w.N. Es handelt es sich dabei um die Anwendung der Theorie positiver Generalprävention und damit um den Strafgrund nicht nur des Versuchs, sondern aller Delikte; vgl. Kindhäuser (Fn. 4), vor §§ 22-24 Rn. 4. 121 Vgl. zur Unterscheidung von primärem und sekundärem Rechtsgüterschutz Freund, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1998, § 1 Rn. 5 ff., § 2 Rn. 10 ff. 122 Man könnte noch erwägen, dem Anstifter bereits eine fremde Gefährdung der Normanerkennung zum Vorwurf zu machen. Voraussetzung dafür wäre zunächst ein vorwerfbarer Verstoß gegen strafrechtliche Verhaltensnormen, also schuldhaftes Verhalten in der Person des Angestifteten. Dagegen spricht, dass der Gesetzgeber bei der Neuformulierung der §§ 26 f. das Schulderfordernis abschaffen wollte; vgl. Jakobs (Fn. 24), § 23 Rn. 16. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 532 Straftaten gegen Kraftfahrzeuge rechtswidrige Haupttat umfassen.123 Weil K eine entsprechende Vorstellung fehlt, ist der subjektive Tatbestand der Anstiftung nicht erfüllt. Er hat sich nicht wegen Anstiftung zu einer versuchten Sachbeschädigung gemäß §§ 303 Abs. 1, Abs. 2, 22, 23 Abs. 1, 26 strafbar gemacht. 3.Tatkomplex: Auf dem Werksgelände A. Strafbarkeit wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, § 315b Abs. 1 Nr. 3 C könnte sich gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 3 wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr strafbar gemacht haben, indem er den Wagen des A rammte. In Betracht kommt die Vornahme eines unbenannten gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, durch den die Sicherheit des Straßenverkehrs beeinträchtigt wurde.124 Dies setzt zunächst voraus, dass die Kollision auch im Straßenverkehr stattfand. Den Gesetzgebungsmaterialien ist zu entnehmen, dass der Begriff im Strafgesetzbuch wie in der Straßenverkehrsordnung auf den öffentlichen Straßenverkehr beschränkt werden sollte.125 Diese Zielsetzung bestätigt sich durch die Einordnung des § 315b in die gemeingefährlichen Straftaten des 28. Abschnitts, weshalb lediglich für die allgemeine Verkehrssicherheit riskante Vorgänge im öffentlichen Verkehrsraum gemeint sein können.126 Rechtlich-öffentlich nennt man Wege, die nach Bundes- oder Landeswegerecht dem allgemeinen Straßenverkehr gewidmet sind.127 Der Zusammenstoß erfolgte hier jedoch auf einer Straße im Werksgelände. Erfasst wird nach ständiger Rechtsprechung des BGH auch ein tatsächlich-öffentlicher Verkehrsraum, der durch ausdrückliche Gestattung oder stillschweigende Duldung einer verfügungsberechtigten Privatperson zur Benutzung zumindest für eine allgemein bestimmte größere Personengruppe zur Benutzung zugelassen ist und entsprechend genutzt 123 Da der Versuch ein um das objektive Unrecht gekürztes vollendetes Delikt darstellt und sich davon in subjektiver Hinsicht nicht unterscheidet, bildet dieser so genannte Vollendungsvorsatz ein allgemeines Anstiftungserfordernis; vgl. Jakobs (Fn. 24), § 23 Rn. 16 ff.; Roxin (Fn. 117), § 26 Rn. 150 ff. 124 Zwar richtet sich § 315b nicht wie § 315c an die Teilnehmer des Straßenverkehrs, sondern verbietet von außen kommende, verkehrsfremde Einwirkungen. Weil jedenfalls die Rechtsprechung beim Zufahren auf einen anderen Autofahrer in verkehrsfeindlicher Absicht einen „verkehrsfremden Inneneingriff“ und daher § 315b annimmt (vgl. dazu Küper [Fn. 2], S. 126 ff. m.w.N.), lag seine Prüfung hier nahe. Im Ergebnis kommt es jedoch nicht darauf an, da beide Normen ausschließlich Gefährdungen des öffentlichen Straßenverkehrs thematisieren. 125 BT-Drs. I/2674, S. 15. 126 Geppert, Jura 1996, 639 (640); Kudlich, JuS 2004, 832 (833). 127 König, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Fn. 3), § 315b Rn. 6. STRAFRECHT wird.128 Durch die Einfriedung eines Geländes, die Zuteilung von Berechtigungsausweisen und Einlasskontrollen gibt ein Verfügungsberechtigter hingegen zu erkennen, dass er den Zugang auf einen durch persönliche Beziehung miteinander verbundenen Personenkreis beschränken und die Öffentlichkeit ausschließen will.129 Der Unfallort war eine Straße im Werksgelände, die nur über ein Tor zugänglich ist. Ein Pförtner kontrolliert, dass ausschließlich Firmenangehörige mit einem Berechtigungsausweis Zufahrt erhalten. Der Verfügungsberechtigte will also keine Benutzung durch eine allgemein bestimmte Personengruppe, weswegen die Straße nicht öffentlich war. Indem C den A auf der Werksstraße rammte, konnte er somit keinen ähnlichen, ebenso gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr vornehmen und dadurch dessen Sicherheit beeinträchtigen. Er hat sich nicht gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 3 strafbar gemacht. B. Strafbarkeit wegen Sachbeschädigung, § 303 Abs. 1 Durch die genannte Handlung hat sich C wegen Sachbeschädigung (§ 303 Abs. 1) strafbar gemacht. Gesamtergebnis Im ersten Tatkomplex hat C, indem er sich F schnappte, eine versuchte Freiheitsberaubung (§§ 239 Abs. 1 2. Fall, Abs. 2, 22, 23 Abs. 1) und eine versuchte Nötigung (§§ 240 Abs. 1-3, 22, 23 Abs. 1) begangen. Eine versuchte Nötigung tritt hinter die insofern speziellere versuchte Freiheitsberaubung zurück, wenn der Täter mit ihr nicht mehr als den Freiheitsentzug erreichen will.130 Das Festhalten des Opfers, um es ausschließlich am Weglaufen zu hindern, kann daher nur als versuchte Freiheitsberaubung bestraft werden.131 Es ist dagegen Tateinheit anzunehmen, wenn der Täter neben der Freiheitsberaubung ein weitergehendes Verhalten bezweckt. Als typisches Beispiel dafür gelten eine Festnahme und der Zwang zum Mitgehen zur Polizeiwache.132 C wollte den Jungen jedoch nicht nur dazu bringen, das Fortlaufen zu unterlassen, sondern auch, mit zur Polizei zu kommen. Er hat sich daher gemäß §§ 239 Abs. 1 2. Fall, Abs. 2, 240 Abs. 1-3, 22, 23 Abs. 1, 52 strafbar gemacht. Durch die Reifenentlüftung im zweiten Tatkomplex beging C eine versuchte Sachbeschädigung (§§ 303 Abs. 1, Abs. 2, 22, 23 Abs. 1). Im dritten Tatkomplex rammte C ein Auto und machte sich wegen Sachbeschädigung (§ 303 Abs. 1) strafbar. Sie steht zu den in den ersten beiden Tatkomplexen begangenen Delikten jeweils in Tatmehrheit, §§ 53 f. K hat sich nicht strafbar gemacht. 128 BGH NJW 1961, 1124 (1125); 2004, 1965; für Studenten besprochen von Kudlich, JuS 2004, 832; König (Fn. 127), § 315b Rn. 6. 129 BGH NJW 1963, 152; 2004, 1965. 130 Vgl. Träger/Altvater (Fn. 3), § 240 Rn. 124 m.w.N. 131 Nach der hier vertretenen Auffassung ist schon der Nötigungstatbestand nicht erfüllt; vgl. zur Untauglichkeit von vis absoluta als Nötigungsmittel im zweiten Tatkomplex unter C. 132 Gropp/Sinn (Fn. 55), § 240 Rn. 164 m.w.N. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 533 BGH, Urt. v. 24.4.2008 – III ZR 252/06 Cornils _____________________________________________________________________________________ E nt s ch ei d ung s be sp rec h u ng Vertrauensschutz und Mitverschulden im Rahmen des Amtshaftungsanspruchs Eine Einschränkung des Amtshaftungsanspruchs des Bauherrn bei rechtswidrig erteilter Baugenehmigung wegen Mitverschuldens kommt erst ab Kenntnis von dem eingelegten Nachbarwiderspruch in Betracht, auch dann aber nur, wenn der Bauherr nach den Umständen dem Widerspruch Erfolgsaussichten beimessen musste (nicht amtlicher Leitsatz). BGB § 839, GG Art. 34; VwVfG § 48 Abs. 2, Abs. 3 § 50 BGH, Urteil vom 24.4.2008 – III ZR 252/061 I. Rechtsgebiet, Problemstellung und Examensrelevanz Die Entscheidung des für Staatshaftungssachen zuständigen 3. Senats des BGH betrifft ein schwieriges, in der jüngeren Rechtsprechung schon wiederholt behandeltes Problem aus dem Themenkreis der Einschränkungen des Amtshaftungsanspruchs, wie sie durch die Judikatur im Laufe der Zeit herausgebildet worden sind. Diese gegebenenfalls sogar zum völligen Wegfall des Haftungsanspruchs führenden Einschränkungen knüpfen zwar an die tatbestands- und rechtsfolgenprägenden Merkmale des § 839 BGB an, insbesondere an die (Merkmale der) Amtspflichtverletzung, die Drittgerichtetheit der Amtspflicht, die Schadenskausalität und schließlich das (anspruchsmindernd wirkende) Mitverschulden (§ 254 BGB). Sie sind aber über die textlichen Anhaltspunkte der Vorschrift hinaus in der Rechtsprechung zu derartiger Komplexität ausdifferenziert und richterrechtlich aufgeladen worden, dass ohne Kenntnis dieser Rechtsprechung oder jedenfalls entsprechendes Problembewusstsein Amtshaftungsfälle allein aus dem Gesetz kaum erfolgreich bewältigt werden können. Die Dogmatik der Amtshaftung, aber auch der anderen staatshaftungsrechtlichen Ansprüche (insbesondere des enteignungsgleichen Anspruchs und der Aufopferung) ist wesentlich eine Dogmatik der Begrenzung dieser Haftung. Ausschlaggebend dafür sind vor allem Schutzzwecküberlegungen, die danach fragen, unter welchen Umständen und inwieweit Haftungsrisiken dem Staat oder aber dem Schadensbetroffenen zu seiner Eigenverantwortung zugeordnet sein sollen. Zur Bestürzung vieler Kläger und entgegen dem, was man vielleicht zunächst annehmen könnte, ergibt sich aus der Bejahung einer Amtspflichtverletzung eben noch lange nicht auch schon der Haftungsanspruch. Dieser kann noch an vielen kaum als solchen aus dem Gesetzestext erkennbaren Hürden scheitern. Zwar gehört das Staatshaftungsrecht regelmäßig nur „im Überblick“ zu den Pflichtgegenständen der juristischen Staatsprüfung. Und so kann gewiss nicht die Kenntnis einer jeden (regelmäßig in der Literatur heftig umstrittenen) kasuistischen Pirouette der Rechtsprechung verlangt werden. Jedenfalls grundsätzliche Vorstellungen von den Intentionen und rechtstech1 Download auf der website des Bundesgerichtshofs (www.bundesgerichtshof.de) und bei juris.de. nischen Umsetzungen der richterrechtlich entwickelten „Haftungsbremsen“ im Recht der öffentlichen Ersatzleistungen sollten aber doch vorhanden sein. Die vorliegende Entscheidung des Bundesgerichtshofs begreift sich selbst als präzisierendes und ergänzendes Folgejudikat zu älteren Entscheidungen von 20012 und 20033, in denen die Grundzüge einer Dogmatik des „amtshaftungsrechtlichen Vertrauensschutzes“ (und vor allem von dessen Grenzen) des Bauherrn in der Fallgruppe rechtswidrig erteilter, indes von Dritten angefochtener und später aufgehobener Baugenehmigungen entwickelt worden sind. II. Die Entscheidung 1. Der dem Urteil zu Grunde liegende Sachverhalt ist leicht zu fassen: Der klagenden Grundeigentümerin war die Baugenehmigung für die Errichtung eines Mehrfamilienhauses erteilt worden. Schon während des Baugenehmigungsverfahrens waren Einwände des Eigentümers eines landwirtschaftlich genutzten Nachbargrundstücks, der die Unverträglichkeit der beabsichtigten Wohnnutzung mit seinem Landwirtschaftsbetrieb geltend machte, geprüft, jedoch von der Genehmigungsbehörde als nicht durchgreifend verworfen worden. Wenige Tage nach Erteilung der Baugenehmigung legte der Landwirt Widerspruch ein, von dem die Klägerin indessen erst knapp zwei Wochen später Kenntnis erlangte. Wiederum einige Zeit später ordnete das Verwaltungsgericht auf Antrag des Landwirts die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs (§ 80 Abs. 5 VwGO) an. Auch in der Hauptsache war der Landwirt erfolgreich: Das Verwaltungsgericht hob die Baugenehmigung wegen der Unverträglichkeit des geplanten Mehrfamilienhauses mit dem landwirtschaftlichen Betrieb infolge der von diesem ausgehenden Immissionen als rechtswidrig auf. Die Klägerin begehrte vom Träger der Genehmigungsbehörde Schadensersatz in Höhe ihrer fehlgeschlagenen Aufwendungen von mehr als 350.000 € zuzüglich Zinsen. 2. Der BGH gab der gegen das klageabweisende Urteil des Berufungsgerichts gerichteten Revision der Klägerin statt und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung zurück. Die Vorinstanzen hatten einen völligen Ausschluss des Schadensersatzanspruchs wegen überwiegenden Mitverschuldens der Klägerin angenommen, eine Bewertung, der sich der BGH nicht anschließen mochte. a) Am Vorliegen der Haftungsvoraussetzungen des § 839 Abs. 1 BGB war indes kein Zweifel: Die Baugenehmigung war wegen von den Verwaltungsgerichten festgestellten Verstoßes gegen öffentlich-rechtliche Genehmigungsvoraussetzungen4 objektiv rechtswidrig und hätte nie erteilt werden 2 BGH, Urt. v. 11.10.2001, III ZR 63/00 (juris) = BGHZ 149, 50. 3 BGH, Urt. v. 9.10.2003, III ZR 414/02 (juris) = NVwZ 2004, 638. 4 Vermutlich – die Entscheidung verhält sich nicht im genaueren zu den Gründen der Rechtswidrigkeit des Vorhabens – des Bauplanungsrechts (etwa: § 15 BauNVO: rücksichtsloses, das heißt mit existierender Bebauung unvereinbares Hinzutreten einer Neubebauung). _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 534 BGH, Urt. v. 24.4.2008 – III ZR 252 /06 Cornils _____________________________________________________________________________________ dürfen. Die Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung begründet den Vorwurf der Amtspflichtverletzung, da die allererste Amtspflicht der Baugenehmigungsbehörde darin besteht, keine rechtswidrigen Baugenehmigungen zu erlassen. Geklärt ist auch, dass diese Amtspflicht auch im Interesse des Bauherrn besteht,5 dieser also „Dritter“ im Sinne des Haftungstatbestandes ist und sich auf die Pflichtverletzung berufen kann. Das durch § 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG geforderte Verschulden des die Genehmigung erteilenden Amtswalters wird in dem Revisionsurteil nicht mehr thematisiert, sondern vorausgesetzt. Insoweit bleibt anzumerken, dass es für das Fahrlässigkeitsurteil wie auch sonst bei § 246 BGB nicht auf die tatsächlichen individuellen Fähigkeiten des Amtswalters ankommt, sondern auf die einem durchschnittlichen pflichtbewussten Amtswalter obliegende Sorgfalt (objektiviertes Verschulden).6 Auch reicht der Nachweis aus, dass innerhalb der Behörde ein Sorgfaltsverstoß im Hinblick auf die Amtspflicht stattgefunden hat, ohne dass dem Geschädigten auch der handelnde Amtswalter in Person bekannt sein muss („entindividualisiertes“ Verschulden).7 b) Die Problematik und auch die Divergenz in der Beurteilung durch die Vorinstanzen und den BGH konzentrierte sich mithin auf die Einschätzung und Bedeutung eines etwaigen Mitverschuldens der Klägerin nach dem Maßstab des § 254 BGB. Ansatzpunkt für ein solches vom Berufungsgericht angenommenes Mitverschulden war der Umstand, dass der benachbarte Landwirt gegen die Baugenehmigung verwaltungsgerichtliche Rechtsbehelfe (Widerspruch und später Klage sowie Aussetzungsantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO) eingelegt hatte. Dies hätte die Klägerin, so das Berufungsgericht, veranlassen müssen, bis zur verwaltungsgerichtlichen Klärung der Rechtsbeständigkeit der Baugenehmigung soweit als möglich alle Aufwendungen auf das Bauvorhaben zu vermeiden. Der BGH wies diese Einschätzung zurück und sah ein überwiegendes Mitverschulden, das den Entfall des gesamten Ersatzanspruchs hätte rechtfertigen können, nicht als erwiesen an. Rückgrat seiner Argumentation ist eine schon in dem grundlegenden Urteil aus dem Jahr 2001 begründete „mittlere Linie“ eines haftungsrechtlichen Vertrauensschutzes, der zwar großzügiger ausfällt als im Verwaltungsrecht (§ 48 i.V.m. § 50 VwVfG), andererseits aber dem Genehmigungsempfänger durchaus eine eigene Verantwortung und Prüfpflichten zuweist, sobald die Genehmigung durch Dritte angefochten und ihr Bestand mithin ungewiss ist.8 Nach diesem mittleren Maßstab kommt einerseits die Baugenehmigung als „Vertrauensgrundlage“ (oder auch: „Verlässlichkeitsgrundlage“, beide Begriffe werden vom BGH verwandt) nicht schon allein deshalb in Wegfall, weil sie durch einen Dritten angefochten wird, solange sie vollziehbar ist und also noch ihre Rechtswirkungen (Feststellungs- und Gestattungswirkung) 5 BGHZ 60, 112; 109, 380; 144, 394. Näher Baldus/Grzeszick/Wienhus, Staatshaftungsrecht, 2005, Rn. 116 ff. 7 RGZ 100, 102; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl. 1998, S. 77. 8 BGHZ 149, 50, Rn. 13. 6 entfaltet.9 Insofern gewährt die (wenngleich angefochtene) Baugenehmigung dem Genehmigungsinhaber haftungsrechtlich einen weitergehenden Vertrauensschutz als das Verwaltungsrecht hinsichtlich des Bestandes der Baugenehmigung:10 § 50 VwVfG schließt den durch § 48 Abs. 3 VwVfG sonst gewährten, freilich nur auf Vermögensausgleich gerichteten Vertrauensschutz bei Drittanfechtung ja aus. Der Genehmigungsinhaber darf demgegenüber haftungsrechtlich grundsätzlich auch bei Drittanfechtung damit rechnen, aus § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG seinen Ersatzanspruch auf die Aufwendungen für bereits begonnene Bauarbeiten zu behalten, wenn sich später die Drittanfechtung als erfolgreich herausstellt und die Genehmigung aufgehoben wird. Andererseits sieht der BGH11 aber unter dem Gesichtspunkt des § 254 BGB ab dem Vorliegen von Drittanfechtungen sehr wohl eine „größere Eigenverantwortung“ des Bauherrn. Dies äußert sich darin, dass der Bauherr die „Möglichkeit der Rechtswidrigkeit der ihm erteilten Genehmigung jedenfalls dann ernsthaft in Betracht ziehen muss, wenn Anfechtungsgründe vorgebracht werden, deren Richtigkeit nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen ist“.12 Ist dies der Fall und hat der Nachbar zudem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gestellt, so fällt das haftungsrechtliche Risiko einer gleichwohl betriebenen Fortsetzung der Bauarbeiten dem Bauherrn zur Last; dieser nimmt dann „das in der Drittanfechtung liegende Risiko bewusst auf sich“.13 Diese Eigenverantwortung und Risikozurechnung zum Bauherrn geht erheblich weiter als dies in der Literatur14 (und von der Klägerin in unserem Fall) angenommen worden ist; sie greift keineswegs nur in Ausnahmefällen, in denen sich die Richtigkeit der Anfechtungsgründe (und damit die Rechtswidrigkeit der Baugenehmi9 Wegen § 212a BauGB haben der Widerspruch und die Anfechtungsklage des Nachbarn gegen die Baugenehmigung keine aufschiebende Wirkung und hemmen mithin ihre Vollziehbarkeit nicht, das heißt insbesondere nicht das Recht des Bauherrn, von der Genehmigung Gebrauch zu machen. Erst die (in unserem Fall einige Wochen später ergangene) verwaltungsgerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 5 VwGO) suspendiert die innere Wirksamkeit der Baugenehmigung, die von diesem Zeitpunkt an selbstverständlich keine Grundlage für eine Fortsetzung von Bauarbeiten und also auch nicht für Ersatzansprüche für Aufwendungen für derartige Arbeiten sein kann. 10 Strenger insoweit de Witt/Burmeister, NVwZ 1992, 1039 (1041 f.): tatbestandlicher Ausschluss des Vertrauensschutzes und damit der Haftung bei jeder Drittanfechtung (entspr. § 50 VwVfG), es sei denn, in einem Aussetzungsverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO ist der Antrag des Nachbarn auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung wegen prognostizierter Erfolglosigkeit der Hauptsacheklage zurückgewiesen worden. 11 Dieser (den Geschädigten verpflichtende) Teil der Risikozurechnungsformel stammt schon aus der wichtigen Entscheidung BGH, Urt. v. 16.1.1997, III ZR 117/95 – Mülheim-Kärlich, Rn. 119 = BGHZ 134, 268. 12 BGH (Fn. 1), Rn. 11; BGHZ 149, 50, Rn. 13. 13 BGHZ 149, 50, Rn. 13; BGHZ 134, 268, Rn. 119. 14 Gallois, BauR 2002, 884 (885). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium– www.zjs-online.com 535 BGH, Urt. v. 24.4.2008 – III ZR 252/06 Cornils _____________________________________________________________________________________ gung) „jedermann in der gleichen Situation geradezu aufdrängen muss“, sondern schon bei ernst zu nehmenden Anfechtungsgründen, mit anderen Worten also nicht erst bei Wahrscheinlichkeit, sondern schon bei Möglichkeit eines Erfolges der Drittanfechtung. Die „mittlere Linie“ entpuppt sich daher bei Licht besehen doch als ziemlich strenge, dem Bauherrn bei Drittanfechtung kaum Raum für eine risikolose Fortsetzung der Bautätigkeit lassende Position. c) Diese dem Genehmigungsinhaber ungünstige Schärfe des Maßstabs, der ja immerhin die Vorinstanzen auch zur Klageabweisung geführt hatte, wird nun freilich vom BGH im Rahmen der Subsumtion des konkreten Falls wieder in bemerkenswerter Weise relativiert – darin liegt wohl die wichtigste Bedeutung gerade dieser Entscheidung in Ergänzung der älteren Urteile. Wenig spektakulär und völlig einleuchtend ist dabei zunächst die Aussage, dass der Risikoübergang auf den Bauherrn und also ein Mitverschulden überhaupt erst ab Kenntnis von der Drittanfechtung in Betracht kommt. Bis zu diesem Zeitpunkt durfte die Klägerin also unbekümmert bauen und den angefallenen Bauaufwand als Schaden in Rechnung stellen. Zu präzisieren wäre allenfalls, dass es natürlich auch hier15 nicht auf die tatsächliche Kenntnis, sondern auf die Kenntnisnahmemöglichkeit (potentielle Kenntnis) ankommen kann. Weniger selbstverständlich, dafür aber um so wichtiger ist dann aber die Annahme des BGH, dass der Klägerin auch nach Kenntnis von der Drittanfechtung nicht die gleichwohl weiterbetriebenen Bauinvestitionen ohne weiteres zu ihrer eigenen Risikosphäre hätten zugerechnet werden dürfen (so aber das Berufungsgericht). Entscheidende Bedeutung kam hier aus Sicht des BGH dem Umstand zu, dass die rechtlichen Bedenken gegen die Errichtung des Mehrfamilienhauses der Genehmigungsbehörde im Verfahren bereits vorgetragen worden waren. Vor diesem Hintergrund könne sich der Bauherr auf den allgemeinen Grundsatz berufen, dass er nicht klüger zu sein brauche als die mit der Bearbeitung des Verwaltungsvorgangs betrauten sachkundigen Beamten. Wenn diese also die Genehmigung in Kenntnis der Einwände erteilten, durfte auch die Klägerin davon ausgehen, dass der Drittanfechtung keine Erfolgsaussichten beschieden sein würden. Im Ergebnis wird die aus BGHZ 134, 268 (Mülheim-Kärlich) und BGHZ 149, 50 kombinierte alte Risikozurechnungsformel des BGH für die Baugenehmigungsfälle jetzt durch die neue Entscheidung ganz wesentlich zu Gunsten des Bauherrn entschärft: Jedenfalls dann, wenn die Behörde schon bei Genehmigungserteilung die Tatsachen und rechtlichen Erwägungen, auf die sich die Drittanfechtung stützt, genauso gut kannte wie der Genehmigungsinhaber ab Kenntnis von der Drittanfechtung, geht das Haftungsrisiko nicht ab diesem Zeitpunkt auf diesen über und darf ihm kein anspruchsausschließendes Mitverschulden attestiert werden. 15 Wie auch etwa bei der Verwirkung des Anfechtungsrechts des Nachbarn, dem die Genehmigung nicht bekannt gegeben worden ist (in Anwendung der Frist des § 58 Abs. 2 VwGO), BVerwGE 44, 294 (300); Czybulka, in: Sodan/Ziekow (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, 2. Aufl. 2006, § 58 Rn. 76. III. Einordnung in den Zusammenhang der Rechtsprechung und Bewertung Das Urteil stärkt die Position der Haftungskläger in den Fällen rechtswidrig erteilter Baugenehmigungen und schneidet die in der bisherigen Rechtsprechung entwickelten Mechanismen einer Haftungsbegrenzung aus Gründen (angeblich) nicht schutzwürdigen Vertrauens in die ordnungsrechtliche Genehmigung deutlich zurück – zumindest für die Fälle drittangefochtener Baugenehmigungen. Diese wichtige Bedeutung des Urteils wird in ihrer vollen Tragweite erst erkennbar, wenn man sie in den größeren Zusammenhang der Rechtsprechung zum schutzwürdigen Vertrauen des Geschädigten als entscheidendem Faktor für den Amtshaftungsanspruch stellt. Man kann insoweit zwei Stufen unterscheiden. 1. Auf der ersten – hoch umstrittenen16 – Stufe, von der in der hier behandelten Entscheidung nicht mehr die Rede war, wird das schutzwürdige Vertrauen des Genehmigungsempfängers in die Rechtmäßigkeit und damit den Fortbestand der Genehmigung als Verlässlichkeitsgrundlage für Investitionen als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Amtshaftung behandelt, also (anders als noch in der älteren Rechtsprechung)17 nicht erst als Umstand, der im Rahmen des Mitverschuldens zum Tragen kommt. Diese Fälle sind dadurch gekennzeichnet, dass trotz gegebener Amtspflichtverletzung überhaupt kein Haftungsgrund angenommen wird; die Amtspflichtverletzung also haftungsrechtlich folgenlos bleibt („Alles-oder-Nichts-Lösung“): Die Amtshaftung ist nicht nur teilweise oder im Hinblick auf bestimmte Schadensfolgen, sondern schon tatbestandlich und daher ganz ausgeschlossen, weil die Zurechnung der Rechtsgutsverletzung, aus der der Schaden entsteht, zur haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit der Behörde, die die Amtspflichtverletzung begangen hat, schlechthin verneint wird. Das amtshaftungsrechtliche Vertrauensschutzerfordernis bedeutet mithin, dass auch dann, wenn die verletzte Amtspflicht grundsätzlich den Schutzzweck hat, den Bauherrn vor Vermögensschäden aus ihm erteilter rechtswidriger Baugenehmigung zu schützen, dieser Schutz doch dann entfällt, wenn der Bauherr auf die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung nach den konkreten Umständen des Schadensfalles nicht vertrauen durfte. Der ohnehin begrenzte sachliche und persönliche (nur „Dritte“ sind geschützt!) Schutzzweck der Amtspflicht steht mithin unter dem zusätzlichen Vorbehalt, dass der Geschädigte auf das amtspflichtwidrige Verhalten auch subjektiv-individuell vertrauen und darauf seine Vermögensdispositionen aufbauen durfte. Fehlt es an diesem Vertrauen, ist die Schadensfolge nicht der Amtspflichtverletzung, sondern dem eigenen Verhalten des Geschädigten zuzurechnen. Man kann insoweit 16 Insbesondere im Hinblick auf das Mülheim-Kärlich-Urteil (BGHZ 134, 268), vgl. Ossenbühl (Fn. 7), S. 52; Bömer, NVwZ 1996, 749; eingehend zum Vertrauensschutz als haftungsbegründendem und -begrenzendem Element der Amtshaftung Florian Küch, Vertrauensschutz durch Staatshaftung, 2003. 17 Dazu im Überblick Grzeszick, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl. 2006, § 43 Rn. 22 m. Fn. 79. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 536 BGH, Urt. v. 24.4.2008 – III ZR 252 /06 Cornils _____________________________________________________________________________________ zwei Gruppen fehlender Schutzwürdigkeit des Vertrauens unterscheiden. a) In der ersten Gruppe geht es darum, dass nach dem Schutzzweck der Genehmigungsvorschriften die Behörde nicht in jeder Hinsicht für die Vereinbarkeit des genehmigten Vorhabens mit der Rechtsordnung verantwortlich ist, sondern nur für solche Fehler des Vorhabens, die sie im Genehmigungsverfahren hätte aufdecken können und müssen, die also in ihr Prüfprogramm fielen.18 Es gibt also Gründe für die Rechtswidrigkeit von Genehmigungen, die objektiv nicht in die haftungsrechtliche Verantwortung der Behörde fallen. Insoweit darf sich der Genehmigungsinhaber von vornherein nicht auf die Genehmigung verlassen, weil die Genehmigung dieses Risiko gar nicht abdeckt. b) Die andere – problematischere – Fallgruppe19 ist dadurch gekennzeichnet, dass die Behörde zwar grundsätzlich für den konkreten Grund der Amtspflichtverletzung durchaus verantwortlich wäre (auch haftungsrechtlich), insbesondere weil sie den Rechtswidrigkeits-Grund hätte vermeiden können, dass gleichwohl aber keine Zurechnung des Schadens zur Behörde stattfindet, weil der Geschädigte aus in seiner Person liegenden Gründen (insbesondere: Bösgläubigkeit, überlegenes Wissen) auf die Rechtmäßigkeit des Handelns der Behörde nicht vertrauen durfte. Als Gesichtspunkte, die der Annahme haftungsrechtlich schutzwürdigen Vertrauens auf einen begünstigenden Verwaltungsakt – in bereits den Tatbestand des § 839 Abs. 1 S. 1 BGB ausschließender Weise – entgegenstehen können, kommen mithin „nicht nur objektive Umstände“ (wie oben in der ersten Fallgruppe), sondern auch „subjektive Kenntnisse und sich aufdrängende Erkenntnismöglichkeiten des Empfängers in Betracht“.20 Solche Situationen liegen insbesondere dann vor, wenn der betroffene Verwaltungsakt entschädigungslos zurückgenommen werden dürfte, weil der Betroffene den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung, Bestechung oder durch unrichtige Angaben erwirkt hat, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig waren oder wenn er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (§ 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1-3 VwVfG). Der verwaltungsrechtliche Ausschluss der Schutzwürdigkeit eines Vertrauens nach dieser Vorschrift ist mithin hier auch haftungsrechtlich beachtlich: Vom haftungsrechtlichen Schutzzweck der verletzten Amtspflicht ist jedenfalls der Schutz vor solchen Schäden nicht umfasst, die auf ein Verwaltungshandeln zurückgehen, hinsichtlich dessen Rechtmäßigkeit oder 18 Anschauliches Beispiel aus jüngerer Zeit: ThürOLG LKV 2005, 566: keine Haftung des Trägers der Baugenehmigungsbehörde für unerkannte materialbedingte statische Mängel des Bauwerks, weil sich darauf die Prüfpflicht der Genehmigungsbehörde nicht erstreckt; klassisch dazu die Altlastenrechtsprechung des BGH, vgl. BGH, Urt. v. 19.3.1992, III ZR 16/90 (BGHZ 117, 363), Rn. 24; BGHZ 123, 191 (199 f.). 19 Grundlegend BGHZ 134, 268 – Mülheim-Kärlich, Rn. 38 ff. 20 BGHZ 134, 268, 3. Leitsatz; BGH NVwZ 2004, 638, Rn. 9. Bestand der Geschädigte aufgrund eigenen Verhaltens kein schutzwürdiges Vertrauen entwickeln durfte. c) Ein so (im Sinne der soeben dargestellten zweiten Fallgruppe) begründeter Ausschluss der Schutzwürdigkeit der Vertrauens, der auch zum Totalverlust des Haftungsanspruchs führen würde, ist, wie der BGH schon in dem Urteil von 2001 entschieden hat,21 jedoch nicht schon dann anzunehmen, wenn der Rechtsanwendungsfehler der Behörde (insbesondere in Anwendung des § 15 BauNVO) auch – und angesichts seiner besseren Kenntnis des Bauvorhabens vielleicht sogar besser – vom Bauherrn hätte erkannt werden können. Die sachgemäße Handhabung der baurechtlichen Vorschriften fällt in erster Linie in den Verantwortungsbereich der Bauaufsichtsbehörde. Ebenfalls schon in dem Urteil von 2001 ist entschieden worden, dass auch die Anfechtung durch einen Dritten (Nachbarn) nicht kategorisch die Schutzwürdigkeit des Vertrauens und damit den Amtshaftungstatbestand entfallen lässt. Insoweit (anders also als bei § 48 Abs. 2 S. 3 VwVfG) nimmt der BGH keine Akzessorietät der haftungsrechtlichen gegenüber der verwaltungsrechtlichen Vertrauensschutzbetrachtung an. Wenn und soweit eine Genehmigung geeignet ist, schutzwürdiges Vertrauen des Adressaten in ihren Bestand zu begründen, fällt diese Vertrauensbasis im Falle der Anfechtung des Bescheids durch einen Dritten danach jedenfalls dann nicht ohne weiteres gänzlich weg, wenn der Verwaltungsakt sofort vollziehbar ist. Diese haftungsrechtliche „Großzügigkeit“ erscheint in der Tat sachlich gerechtfertigt:22 Auch wenn der Genehmigungsempfänger verwaltungsrechtlich (im rechtlich geschützten Interesse des Nachbarn) mit der durchaus harten Konsequenz leben muss, dass eine ihm erteilte fehlerhafte, durch einen Nachbarn angefochtene Genehmigung ohne Vermögensausgleich gem. § 48 Abs. 3 VwVfG aufgehoben wird, so rechtfertigt dies doch nicht gleichermaßen auch den Verlust des Anspruchs auf Schäden, die ihm durch schuldhaftes Fehlverhalten der Genehmigungsbehörde aufgrund seines Vertrauens in den Bestand der Genehmigung entstanden sind. 2. Schied also schon nach den Grundsätzen des Urteils von 2001 ein totaler Anspruchsverlust wegen Verneinung des Haftungstatbestandes (also auf der ersten Stufe) mangels schutzwürdigen Vertrauens aus, so kommt jedoch immer noch eine Anspruchsminderung oder gar ein Anspruchsverlust aus dem Gesichtspunkt des Mitverschuldens, also auf der zweiten Stufe, auf der Vertrauensschutzerwägungen Platz greifen können, in Betracht. Hier findet die aktuelle Entscheidung nunmehr zu wichtigen Klarstellungen, die den haftungsrechtlichen Vertrauensschutz des Bauherrn auch nach der Flanke des Mitverschuldens hin absichern und so im Zusammenhang mit den älteren Entscheidungen wirksam stärken. Der BGH tritt dem Vorgehen der Vorinstanzen entgegen, die Drittanfechtung der Baugenehmigung zwar nicht im Haftungstatbestand (erste Stufe), jedoch ohne sachlichen Unterschied beim Mitverschulden (zweite Stufe) als vertrauenszerstörende und damit haftungsausschließende Tatsache zu werten. Dies erscheint konsequent. Wenn die Risikozurech21 22 BGHZ 149, 50, Rn. 12. Anders de Witt/Burmeister (Fn. 10), 1041. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium– www.zjs-online.com 537 BGH, Urt. v. 24.4.2008 – III ZR 252/06 Cornils _____________________________________________________________________________________ nung aus guten Gründen (s.o.) so ausfällt, dass die Drittanfechtung allein den amtshaftungsrechtlichen Vertrauensschutz nicht ausschließt – weil sie keinen Grund dafür abgibt, die Behörde von ihrem (schuldhaften!) Sorgfaltsverstoß zu entlasten –, dann muss diese Zurechnung zu Lasten der Behörde sich auch im Rahmen des § 254 BGB durchsetzen können. Dies bedingt aber dann auch, dass keine zu scharfen Sorgfaltsanforderungen hinsichtlich der Prüfung der Erfolgsaussichten des Anfechtungsrechtsbehelfs des Nachbarn an den Bauherrn gerichtet werden dürfen. Würde man dem Bauherrn immer schon dann, wenn der Erfolg der Drittanfechtung nicht von vornherein sicher ausgeschlossen werden kann (wann ist das schon der Fall?), das Haftungsrisiko für eine gleichwohl weiterbetriebene Ausnutzung der Baugenehmigung auferlegen, so liefe das in der Sache doch auf einen weit gehenden Haftungsausschluss bei eingelegtem Nachbarwiderspruch hinaus. Das Risiko der rechtlichen Beurteilung wäre von der Genehmigungsbehörde auf den Bauherrn verlagert, die immerhin sofort vollziehbare Genehmigung in ihrer Wirkung jedenfalls wirtschaftlich entwertet, § 212a BauGB konterkariert. Es ist richtig, dass der BGH hier den Blick wieder auf die Behörde und deren Verantwortung für die von ihr erteilte Genehmigung gerichtet hat, insbesondere auch in Betonung des Grundsatzes, dass der Bürger nicht klüger sein muss als die Behörde. Privatdozent Dr. Matthias Cornils, Mainz _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 538 BGH, Urt. v. 16.7.2008 – VIII ZR 348/06 Artz _____________________________________________________________________________________ E nt s ch ei d ung s a n me r ku ng „Opt-out“-Erklärung in „Payback-Karten-Rabattvertrag“ In Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die der Betreiber eines Kundenbindungs- und Rabattsystems für Verträge mit Verbrauchern über die Teilnahme an dem System verwendet, hält die Klausel Mit meiner Unterschrift erkläre ich mich einverstanden, dass die von mir oben angegebenen Daten sowie die Rabattdaten (Waren/Dienstleistungen, Preis, Rabattbetrag, Ort und Datum des Vorgangs) für an mich gerichtete Werbung (z.B. Informationen über Sonderangebote, Rabattaktionen) per Post und mittels ggfs. von mir beantragter Services (SMS oder E-Mail-Newsletter) sowie zu Zwecken der Marktforschung ausschließlich von der L. GmbH und den Partnerunternehmen gemäß Nummer 2 der beiliegenden Hinweise zum Datenschutz gespeichert und genutzt werden. □ Hier ankreuzen, falls die Einwilligung nicht erteilt wird. der Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB nicht stand, soweit sie die Einwilligung in die Speicherung und Nutzung der Daten für die Zusendung von Werbung per SMS oder E-Mail-Newsletter betrifft. Soweit die Klausel die Einwilligung in die Speicherung und Nutzung der Daten für die Zusendung von Werbung per Post sowie zu Zwecken der Marktforschung betrifft, unterliegt sie gemäß § 307 Abs. 3 S. 1 BGB nicht der Inhaltskontrolle. (Amtlicher Leitsatz Teil a ohne Hervorgebungen) BGB §§ 307 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3 BGH, Urt. v. 16.7.2008 – VIII ZR 348/06 (OLG München)1 I. Rechtsgebiet, Problemstellung und Examensrelevanz 1. Die Entscheidung ist angesiedelt an der Schnittstelle von AGB-Recht und UWG. Geprüft werden könnten die auftretenden Probleme in erster Linie im Rahmen des mündlichen Teils der Examensprüfung, da anhand des Falls in einem Prüfungsgespräch zum einen sehr anschaulich das Zusammenspiel von Wettbewerbsrecht und AGB-Recht dargestellt und zum anderen einige Besonderheiten der Voraussetzungen und Rechtsfolgen der AGB-rechtlichen Klauselkontrolle erarbeitet werden können. 2. Es geht in dem hier vorgestellten Teil der Entscheidung um Folgendes: Das in dem Verfahren beklagte Unternehmen bietet Verbrauchern die Möglichkeit, mit ihm einen auf Rabattgewährung gerichteten Vertrag abzuschließen, und verpflichtet sich dabei, den Teilnehmern eine Kundenkarte („PaybackKarte“) zur Legitimation bei einem der angeschlossenen Wirtschaftsunternehmen („Partnerunternehmen“) und zur Erfassung der Rabattansprüche zu erteilen, ein Bonuskonto einzurichten und nach Erwerb einer Ware oder Inanspruchnahme 1 http://www.bundesgerichtshof.de/ (23.09.2008). einer Dienstleistung darauf eingehende Bonuspunkte gutzuschreiben. Die Teilnehmer können die gesammelten Punkte gegen Prämien einlösen oder sich Bargeld auszahlen lassen. Mit der Abwicklung des Systems und der Verwaltung dabei anfallender Daten wurde eine „L. GmbH“ beauftragt. In dem – papiergebundenen – Anmeldeformular („Ihre Payback Anmeldung“), welches vor Ausstellung der Kundenkarte auszufüllen ist, heißt es dazu: „Die Verwaltung Ihrer Daten (Basisdaten, freiwillige Angaben und Rabattdaten) erfolgt durch die Payback Betreibergesellschaft L. GmbH gemäß Ziffer 1 der beiliegenden Hinweise zum Datenschutz.“ Das Anmeldeformular ist in fünf Abschnitte unterteilt. Zunächst wird im Abschnitt „Persönliche Angaben“ nach Name, Geburtsdatum, Anschrift und Telefonnummer des Teilnehmers gefragt. Daran schließt sich der Abschnitt „Freiwillige Angaben“ an, in dem der Teilnehmer Angaben über seinen Familienstand, das monatliche Haushaltsnettoeinkommen, den Besitz eines PC sowie Anzahl und Geburtsjahr der Kinder machen kann. In einem weiteren Abschnitt wird angeboten, eine Zweitkarte ausstellen zu lassen. Der vierte Abschnitt sieht unter der Überschrift „Profitieren Sie von zusätzlichen exklusiven Angeboten und Einkaufsvorteilen!“ die Möglichkeit vor, durch Angabe der Mobiltelefonnummer und/oder der E-Mail-Adresse des Teilnehmers Mitteilungen über den erreichten Punktestand sowie Informationen über „Extra-Punktechancen, TopAktionen und Neuigkeiten zu Payback“ per SMS bzw. „E-MailNewsletter“ zu erhalten. Den Schluss bildet der hier näher zu betrachtende Abschnitt mit der Überschrift „Ihre Unterschrift“. Dieser enthält unter dieser Überschrift und oberhalb der in gelber Farbe gehaltenen Unterschriftszeile eine zusätzlich schwarz umrandete und durch Fettdruck hervorgehobene „Einwilligung in Werbung und Marktforschung“, die mit nachstehend kenntlich gemachten Hervorhebungen durch Fettdruck/Unterstreichung wie folgt lautet, wobei das zum Ankreuzen vorgesehene Kästchen rechts neben dem übrigen Text der Klausel angeordnet ist: „Mit meiner Unterschrift erkläre ich mich einverstanden, dass die von mir oben angegebenen Daten sowie die Rabattdaten (Waren/Dienstleistungen, Preis, Rabattbetrag, Ort und Datum des Vorgangs) für an mich gerichtete Werbung (z. B. Informationen über Sonderangebote, Rabattaktionen) per Post und mittels ggfs. von mir beantragter Services (SMS oder E-Mail-Newsletter) sowie zu Zwecken der Marktforschung ausschließlich von der L. GmbH und den Partnerunternehmen gemäß Nummer 2 der beiliegenden Hinweise zum Datenschutz gespeichert und genutzt werden. [...] Hier ankreuzen, falls die Einwilligung nicht erteilt wird.“ Die entscheidende Frage bestand nun darin, ob in der durch die vorstehende Formulierung gewählte sog. „opt-out-Erklärung“ ein Verstoß gegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB liegt. II. Kernaussagen 1. Vorliegen von AGB Zunächst stellt der 8. Senat fest, dass die beanstandete Klausel eine Allgemeine Geschäftsbedingung im Sinne des § 305 Abs. 1 S. 1 BGB ist. Dies hätte man insoweit in Zweifel ziehen können, als es sich bei der Bestimmung nicht um eine vertragliche Vereinbarung im engeren Sinne, sondern um eine _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium– www.zjs-online.com 539 BGH, Urt. v. 16.7.2008 – VIII ZR 348/06 Artz _____________________________________________________________________________________ vorformulierte einseitige Erklärung handelt, die im gegebenen Fall wiederum die andere Partei abgibt. Mit Rücksicht auf ihren Schutzzweck sind die §§ 305 ff. BGB nach Auffassung des BGH aber auch auf eine vom Verwender vorformulierte einseitige Erklärung des anderen Teils anzuwenden, die im Zusammenhang mit dem Vertragsverhältnis steht.2 2. Verstoß gegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB Ein Verstoß gegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB kommt nur in Betracht, soweit eine Rechtsvorschrift existiert, von der zu Lasten des Verbrauchers abgewichen werden kann. Eine solche enthält das UWG jedenfalls insoweit, als es darum geht, dass die Werbung nicht per Post, sondern mittels SMS oder EMail zugehen soll. Nach § 7 Abs. 2 Nr. 3 Var. 3 UWG stellt Werbung unter Verwendung elektronischer Post, insbesondere E-Mail und SMS, eine unzumutbare Belästigung dar, sofern keine Einwilligung des Adressaten vorliegt. Einwilligungsklauseln, die so gestaltet sind, dass der Kunde tätig werden und ein Kästchen ankreuzen muss, wenn er seine Einwilligung in die Zusendung von Werbung unter Verwendung von elektronischer Post nicht erteilen will („Opt-out“-Erklärung), sind von dieser Vorschrift nicht gedeckt. § 7 Abs. 2 Nr. 3 UWG verlangt vielmehr, dass die Einwilligung mittels einer gesonderten Erklärung erteilt wird („Opt-in“-Erklärung). Es bedarf einer ausdrücklichen Einwilligung des Verbrauchers. Dem werden Allgemeine Geschäftsbedingungen nicht gerecht, wenn die Einwilligung in Textpassagen enthalten ist, die auch andere Erklärungen oder Hinweise enthalten. Es fehlt bei derart vorformulierten Erklärungen an der geforderten spezifischen Einwilligungserklärung, wenn der Kunde weder ein bestimmtes Kästchen anzukreuzen hat noch sonst eine vergleichbar eindeutige Erklärung seiner Zustimmung abzugeben braucht. Eine solche Erklärung liegt insbesondere nicht allein schon in der Unterschrift, mit der der Kunde das auf Rabattgewährung gerichtete Vertragsangebot annimmt. Die geforderte spezifische Angabe verlangt vielmehr eine gesonderte Erklärung durch zusätzliche Unterschrift oder individuelles Markieren eines entsprechenden Feldes („Opt-in“-Erklärung). Der Inhaltskontrolle hält die Klausel daher nicht stand. Soweit sie sich bei der Einwilligung in Werbung per E-Mail oder SMS auf eine „Opt-out“-Erklärung beschränkt, ist sie mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von denen sie abweicht, nicht zu vereinbaren und benachteiligt die Vertragspartner des Beklagten damit unangemessen, weil hierin die Einwilligung nicht mit der geforderten spezifischen Angabe, sich gerade auch auf eine Werbung per EMail oder SMS einlassen zu wollen, zum Ausdruck kommt (§ 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB). 3. Übereinstimmung mit dem 1. Zivilsenat des BGH Der 8. Zivilsenat hat sich erfolgreich bemüht, insofern eine übereinstimmende Würdigung mit der wettbewerbsrechtlichen Rechtsprechung des 1. Zivilsenats zu erzielen3: „Dem steht die Rechtsprechung des für Rechtsstreitigkeiten über Ansprüche aus dem Gesetz über den unlauteren Wettbewerb zuständigen 1. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs nicht entgegen, soweit dort zur belästigenden Werbung im Sinne von § 1 UWG a.F. bzw. nunmehr § 7 Abs. 2 Nr. 3 UWG ausgeführt ist, dass durch die Zusendung von E-Mails zu Werbezwecken eine Belästigung für den Empfänger entstehe, die dieser nicht hinzunehmen brauche, wenn er nicht ausdrücklich oder konkludent sein Einverständnis erklärt habe (Urteile vom 11. März 2004 - I ZR 81/01, GRUR 2004, 517, unter II 2 b aa E-Mail-Werbung; vom 1. Juni 2006 - I ZR 167/03, GRUR 2007, 164, Tz. 8 - Telefax-Werbung II). Der 1. Zivilsenat hat auf Anfrage erklärt, dass dem von § 7 Abs. 2 Nr. 3 UWG geforderten bewussten Einverständnis („Opt-in“) auch nach seiner Auffassung in Allgemeinen Geschäftsbedingungen nur durch eine ausdrückliche Erklärung Rechnung getragen werden könne und eine „Opt-out“-Klausel der hier zu beurteilenden Art von der gesetzlichen Regelung abweiche. Mangels zureichender Einverständniserklärung würde es sich deshalb bei Werbung, die auf Grund der Klausel per SMS oder E-Mail versandt wird, um unverlangte Werbung handeln. Eine solche Werbung stellt nach § 7 Abs. 2 UWG eine unzumutbare Belästigung dar. Diese belästigende Wirkung geht nicht nur von einer Versendung von Werbe-E-Mails ohne Einwilligung des Empfängers aus („Spam“; vgl. Köhler in: Hefermehl/Köhler/Bornkamm, UWG, 26. Aufl., § 7 Rn. 81). Der unverlangte Versand von Werbung mittels SMS greift ähnlich stark in die Privatsphäre des Adressaten ein (Koch in: Ullmann, jurisPK-UWG, Stand: 4. Oktober 2007, § 7 Rn. 284).“ 4. Keine Gesamtnichtigkeit der Klausel AGB-rechtlich beachtlich ist, dass der BGH vorliegend eine fein differenzierte Betrachtungsweise anstellt und die Klausel trotz ihrer äußerlichen Einheitlichkeit teilweise bestehen lässt. Die Unangemessenheit des dargestellten Regelungsteils führt nach Auffassung des Senats nicht zur Unwirksamkeit der gesamten Klausel (§ 306 Abs. 1 BGB): „Lässt sich eine komplexe Formularbestimmung inhaltlich und nach ihrem Wortlaut aus sich heraus verständlich und sinnvoll in einen zulässigen und in einen unzulässigen Regelungsteil trennen, so ist die Aufrechterhaltung des zulässigen Teils nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs rechtlich unbedenklich (siehe nur Senatsurteil vom 25.3.1998 - VIII ZR 244/97, WM 1998, 1452 unter II 1 a cc m.w.N.). So ist es hier. Sprachlich und gegenständlich verbleibt nach Streichung des unwirksamen Regelungsteils „ […] mittels von mir beantragter Services (SMS oder E-Mail-Newsletter […])“ ein aus sich heraus verständlicher, selbständiger Klauseltext, der die Einwilligung in Werbung per Post betrifft und – wie aufgezeigt – Gegenstand einer gesonderten Wirksamkeitsprüfung sein kann.“ 2 Rn. 18 des vorliegenden Urteils und BGH GRUR 2000, 818 = WRP 2000, 722, unter II 3 a (Telefonwerbung VI). 3 Rn. 33 f. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 540 BGH, Urt. v. 16.7.2008 – VIII ZR 348/06 Artz _____________________________________________________________________________________ III. Würdigung 1. Unerbetene E-Mail-Werbung nervt! Ebenso wie bei der Inanspruchnahme eines Telefonanschlusses bricht der Werbende in die Intimsphäre des Verbrauchers ein und zwingt ihn, hier oftmals mit unterdrückter Telefonnummer, zu einer Reaktion, sei es auch nur, das Gespräch anzunehmen oder die eingegangene E-Mail zu löschen. Allein darin und unabhängig von dem transportierten Inhalt liegt eine unzumutbare Belästigung des Verbrauchers (§ 7 UWG). Daher ist dem BGH umfänglich zuzustimmen, dass der Empfänger derartige Marketingmethoden nur ertragen muss, wenn er ihnen ausdrücklich zustimmt und an diese Zustimmung hohe Anforderungen zu stellen sind. Es reicht weder aus, dass der Verbraucher einen Ausschluss nicht ankreuzt, noch, dass er einen Vertag als solchen unterzeichnet. Es bedarf vielmehr der ausdrücklichen, separaten Einwilligung des Adressaten mit dem Empfang derartiger Werbung (§ 7 Abs. 2 Nr. 3 UWG). 2. AGB-rechtlich führt das Urteil zwei Grundsätze ganz deutlich vor Augen. Ein Verstoß gegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB kommt nur in Betracht, wenn es eine entsprechende Vorschrift gibt, von der abgewichen werden kann. Mangelt es an einer solchen, wie vorliegend hinsichtlich der Anforderungen an eine Einwilligung des Empfängers betreffend die Werbung per Post, ist stets zu überprüfen, ob die infizierte Klausel nach Streichung des unwirksamen Teils einen überlebensfähigen Stamm behält. Dies kann, wie vorliegend, sogar der Fall sein, wenn die Klausel überwiegend unwirksam ist. Privatdozent Dr. Markus Artz, Trier/Heidelberg/Bielefeld _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium– www.zjs-online.com 541 BGH, Urt. v. 15.7.2008 – VIII ZR 211/07 Gsell _____________________________________________________________________________________ E nt s ch ei d ung s a n me r ku ng ten auslöste. Das aber hing davon ab, ob die Nacherfüllungspflicht überhaupt den Einbau umfasste. Nachlieferungsanspruch des Käufers erstreckt sich nicht auf Einbau der mangelfreien Ersatzsache 1. Der Verkäufer mangelhafter Parkettstäbe schuldet im Zuge der Nacherfüllung durch Ersatzlieferung (§ 439 Abs. 1 BGB) nur die Lieferung mangelfreier Parkettstäbe, das heißt die Verschaffung von Besitz und Eigentum an einer mangelfreien Kaufsache (§ 433 Abs. 1 BGB); zur Verlegung ersatzweise gelieferter Parkettstäbe ist der Verkäufer im Wege der Nacherfüllung auch dann nicht verpflichtet, wenn der Käufer die mangelhaften Parkettstäbe bereits verlegt hatte. 2. Eine Haftung des Verkäufers mangelhafter Parkettstäbe, die der Käufer vor der Entdeckung des Mangels auf seine Kosten hat verlegen lassen, für die Kosten der Neuverlegung mangelfreier Parkettstäbe kommt nur unter dem Gesichtspunkt des Schadensersatzes statt der Leistung (§ 437 Nr. 3, § 280 Abs. 1, 3, §§ 281 ff. BGB) in Betracht. Der Verkäufer haftet nicht, wenn er die in der mangelhaften Lieferung liegende Pflichtverletzung (§ 280 Abs. 1 S. 1, § 433 Abs. 1 S. 2 BGB) nicht zu vertreten hat (§ 280 Abs. 1 S. 2 BGB). (Amtliche Leitsätze) BGB §§ 280, 437, 439 BGH, Urt. v. 15.7.2008 – VIII ZR 211/07 (LG Osnabrück)1 I. Rechtsgebiet, Problemstellung und Examensrelevanz 1. Die Entscheidung bringt ein Stück Klarheit in einer viel diskutierten und damit besonders examensrelevanten Frage des neuen Kaufgewährleistungsrechts: Ist der Käufer einer mangelhaften Sache im Rahmen seines Anspruches auf Nachlieferung nach § 439 Abs. 1 BGB berechtigt, den Einbau der mangelfreien Ersatzsache zu verlangen, wenn er die mangelhafte Sache zuvor eingebaut hatte? Oder allgemeiner formuliert: Ist für die geschuldete Beschaffenheit der Ersatzsache der ursprüngliche Leistungszeitpunkt maßgeblich oder muss der Verkäufer Veränderungen nachvollziehen, die der Käufer an der mangelhaften Sache vorgenommen hat, die Ersatzsache also in denjenigen Zustand versetzen, in dem sich die Kaufsache im Nacherfüllungszeitpunkt befände, wenn sie sogleich mangelfrei geliefert worden wäre? 2. Im Streitfall ging es um Parkettstäbe, die der Käufer vom Händler erworben und dann von einem Dritten hatte verlegen lassen. Die Parkettstäbe erwiesen sich später wegen eines Produktionsfehlers als irreparabel mangelhaft. Der Käufer, der den Kaufpreis noch nicht bezahlt hatte, forderte den Verkäufer unter Fristsetzung zum Austausch des Parkettbodens auf und verlangte nach fruchtlosem Fristablauf Ersatz der Kosten für die Neuverlegung. Fraglich war, ob in der Weigerung des Verkäufers, neues Parkett zu verlegen, eine schuldhafte Verletzung seiner Nacherfüllungspflicht lag, die nach §§ 437 Nr. 3, 280, 281 BGB eine Pflicht zum Ersatz der Einbaukos- 1 http://www.bundesgerichtshof.de/ [23.09.2008]. II. Kernaussagen 1. Der BGH sieht die Nachlieferungspflicht des Verkäufers in Übereinstimmung mit der herrschenden Auffassung2 dahin begrenzt, dass nur Übergabe und Übereignung einer mangelfreien Ersatzsache geschuldet werden, in casu also die Lieferung mangelfreier Parkettstäbe, nicht dagegen Neuverlegung oder Übernahme der Kosten der Neuverlegung. Die Modifikation, die der Nacherfüllungsanspruch gegenüber dem ursprünglichen Erfüllungsanspruch aufweist, reicht nach Ansicht des BGH nur soweit, wie dies durch die Mangelhaftigkeit der Sache bedingt sei. Bei der Ersatzlieferung deckten sich Nacherfüllungsanspruch und ursprünglicher Leistungsanspruch hinsichtlich der geschuldeten Leistungen und sei demnach eine vollständige Wiederholung der Leistung erforderlich. Der Verkäufer schulde nochmals Übergabe des Besitzes und Verschaffung des Eigentums an einer mangelfreien Sache – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Vermögensschäden, die dem Käufer daraus entstünden, dass nicht bereits beim ersten Erfüllungsversuch eine mangelfreie Sache geliefert werde, seien nicht im Zuge der Nacherfüllung zu beseitigen, sondern nur im Rahmen eines Schadens- oder Aufwendungsersatzanspruchs nach §§ 280 ff. BGB, was nicht nur für einen etwaigen Nutzungsausfall3 gelte, sondern auch für zusätzlich entstehende oder vergeblich aufgewendete Kosten wie etwa nutzlos gewordene Zulassungs- und Überführungskosten beim KfzKauf4. 2. Ein abweichendes Ergebnis zum Umfang der Nacherfüllungspflicht wird nach Ansicht des BGH auch nicht durch § 439 Abs. 2 BGB gerechtfertigt, wonach der Verkäufer die zum Zwecke der Nacherfüllung erforderlichen Aufwendungen, insbesondere Transport-, Wege-, Arbeits- und Materialkosten zu tragen hat. Gegenstand der Bestimmung seien nur die zur Nacherfüllung erforderlichen Aufwendungen, ohne dass der Leistungsumfang gegenüber § 439 Abs. 1 BGB erweitert werde. Genauso legt der Senat die – allerdings auf das vereinbarte Nachbesserungsrecht beschränkte – Vorläu- 2 Vgl. OLG Köln NJW-RR 2006, 677; OLG Stuttgart, Urt. v. 8.11.2007 – 19 U 52/07; OLG Frankfurt, Urt. v. 14.2.2008 – 15 U 5/07 (verfügbar in Juris, http://www.juris.de, unter: http://www.juris.de/jportal/portal/t/109y/page/jurisw.psml?doc.h l=1&doc.id=KORE210702008%3Ajurisr00&showdoccase=1&documentnumber=1&numberofresults=1 &doc.part=K&doc.price=0.0¶mfromHL=true#focuspoint [23.09.2008]); Lorenz, ZGS 2004, 408; Thürmann, NJW 2006, 3457; Schneider/Katerndahl, NJW 2007, 2215; für Erstreckung des Nacherfüllungsanspruchs auf Einbau der Ersatzsache aber OLG Köln ZGS 2004, 432; Faust, in: Beck´scher Online-Kommentar zum BGB, Stand 1.2. 2007, § 439 Rn. 18; Weidenkaff, in: Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 439 Rn. 11. 3 Dazu BGHZ 174, 290, dazu Gsell, NJW 2008, 912. 4 Dazu BGHZ 163, 381. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 542 BGH, Urt. v. 15.7.2008 – VIII ZR 211/07 Gsell _____________________________________________________________________________________ ferregelung in § 476a S. 1 BGB a.F.5 aus sowie die europäische Vorgaben für den Verbrauchsgüterkauf in Art. 3 Abs. 2-4 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie6, die mit § 439 Abs. 2 BGB umgesetzt wurden. 3. Weiter lehnt es der Senat ab, aus der sog. DachziegelEntscheidung7 zu § 467 S. 2 BGB a.F.8 Schlussfolgerungen zu ziehen für den Umfang der Nacherfüllungspflicht. Zwar habe der Senat seinerzeit die nutzlos aufgewendeten Kosten für die Verlegung mangelhafter Dachziegel als ersatzfähige Vertragskosten anerkannt. Jedoch sei die Vorschrift im Zuge der Schuldrechtsmodernisierung gestrichen worden. Seither seien Vertragskosten nicht mehr verschuldensunabhängig, sondern nur noch unter den Voraussetzungen des § 284 BGB ersatzfähig. 4. Schließlich will der BGH nicht Abweichendes aus der für das neue Recht übernommenen9 Rechtsprechung zum Werkvertrag herleiten, nach der als Erfüllungsort der Nacherfüllung der Ort anzusehen ist, an dem sich die Sache zum Zeitpunkt der Gewährleistung bestimmungsgemäß befindet. Ob beim Kauf beweglicher Sachen ohne Einschränkung dasselbe gelte, könne offen bleiben, da aus der Bestimmung des Erfüllungsortes nicht folge, dass an diesem Ort mehr geschuldet werde als die Verschaffung von Besitz und Eigentum. 5. Da somit in casu aufgrund der Ablehnung einer Einbaupflicht des Verkäufers die Kosten der (erneuten) Parkettverlegung keinen Schaden aus der schuldhaften Verletzung der 5 § 476a BGB a.F. lautete: „[…] Ist an Stelle des Rechts des Käufers auf Wandlung oder Minderung ein Recht auf Nachbesserung vereinbart, so hat der zur Nachbesserung verpflichtete Verkäufer auch die zum Zwecke der Nachbesserung erforderlichen Aufwendungen, insbesondere Transport-, Wege-, Arbeits- und Materialkosten, zu tragen.“ 6 Die Vorschrift lautet: „Artikel 3 Rechte des Verbrauchers (1) […]. (2) Bei Vertragswidrigkeit hat der Verbraucher entweder Anspruch auf die unentgeltliche Herstellung des vertragsgemäßen Zustands des Verbrauchsgutes durch Nachbesserung oder Ersatzlieferung nach Maßgabe des Abs. 3 oder auf angemessene Minderung des Kaufpreises oder auf Vertragsauflösung in Bezug auf das betreffende Verbrauchsgut nach Maßgabe der Abs. 5 und 6. (3) Zunächst kann der Verbraucher vom Verkäufer die unentgeltliche Nachbesserung des Verbrauchsgutes oder eine unentgeltliche Ersatzlieferung verlangen, sofern dies nicht unmöglich oder unverhältnismäßig ist. […]. (4) Der Begriff "unentgeltlich" in den Absätzen 2 und 3 umfasst die für die Herstellung des vertragsgemäßen Zustands des Verbrauchsgutes notwendigen Kosten, insbesondere Versand-, Arbeits- und Materialkosten. […].“ 7 BGHZ 87, 104. 8 § 467 BGB a.F. lautete: „Auf die Wandelung finden die für das vertragsmäßige Rücktrittsrecht geltenden Vorschriften der §§ 346 bis 348, 350 bis 354, 356 entsprechende Anwendung; […]. Der Verkäufer hat dem Käufer auch die Vertragskosten zu ersetzen.“ 9 BGH NJW-RR 2008, 724 Rn. 13. Nacherfüllungspflicht darstellten, kam ein Schadensersatzanspruch nur noch unter dem Gesichtspunkt in Betracht, dass bereits in der Lieferung des mangelhaften Parketts eine zu vertretende Pflichtverletzung lag. Jedoch traf den Verkäufer als Händler hinsichtlich des Produktionsfehlers kein Verschulden und war dieser Fehler für ihn auch nicht erkennbar. Folgerichtig verneint der BGH ein Vertretenmüssen der Mängellieferung, wobei er die ständige Rechtsprechung10 bestätigt, nach welcher der Hersteller nicht Erfüllungsgehilfe des Verkäufers ist. III. Würdigung 1. Die Entscheidung erscheint schlüssig, soweit sie § 439 Abs. 2 BGB und seiner Genese keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür zu entnehmen vermag, dass der Ersatzlieferungsanspruch auf nachträgliche Veränderungen der Kaufsache Rücksicht nimmt. Auch erscheint es in einem Haftungssystem, das wie das BGB den Schadensersatz grundsätzlich an das Verschulden knüpft, durchaus folgerichtig, wenn die Nacherfüllung als verschuldensunabhängiger Rechtsbehelf nicht sämtliche vom Käufer erlittenen nachteiligen Folgen beseitigt.11 Obwohl der BGH auf den Ausbau des mangelhaften Parketts nicht einzugehen brauchte, da der Verkäufer die Ausbaukosten bereits erstattet hatte, wird man der strikten Begrenzung des Ersatzlieferungsanspruchs auf Übereignung und Übergabe entnehmen müssen, dass der Ausbau der mangelhaften Sache ebenfalls jenseits der geschuldeten Ersatzlieferung liegt.12 Auch dies erscheint konsequent. 2. Was das Urteil aber leider nicht leistet, ist ein übergreifender Blick auf den Vorrang der Nacherfüllung. Vor allem 10 Vgl. nur BGHZ 48, 118. Dass der Käufer, wie Faust (Fn. 2), § 439 Rn. 18 annimmt, durch die Nacherfüllung in die Lage versetzt werden soll, mit der Kaufsache so zu verfahren, als wäre diese mangelfrei gewesen, ist zwar richtig, sagt aber nichts darüber, in welchem Maße der Nacherfüllungsanspruch diesem Interesse Rechnung trägt. War etwa der vom Käufer erworbene Pflanzendünger verunreinigt und sind deshalb dessen Balkonpflanzen eingegangen, so ist offensichtlich, dass er ersatzweise gelieferten mangelfreien Pflanzendünger erst wieder verwenden kann, wenn er auch neue Pflanzen erhält. Trotzdem sind die Pflanzen auch nach Ansicht von Faust (Fn. 2), § 439 Rn. 17 nicht im Wege der Nacherfüllung zu ersetzen. 12 Ebenso Thürmann, NJW 2006, 3457 (3460); abw. OLG Frankfurt, Urt. v. 14.2.2008 – 15 U 5/07 Rn. 34 ff. (verfügbar in Juris, http://www.juris.de, unter: http://www.juris.de/jportal/portal/t/109y/page/jurisw.psml?do c.hl=1&doc.id=KORE210702008%3Ajurisr00&showdoccase=1&documentnumber=1&numberofresults =1&doc.part=K&doc.price=0.0¶mfromHL=true#focusp oint [23.09.2008]); OLG Köln NJW-RR 2006, 677; Lorenz, ZGS 2004, 408 (410 f.), der die altrechtliche Dachziegelrechtsprechung (BGHZ 87, 104 [109]) insoweit für weiterhin relevant hält, als angenommen wurde, dass mit dem Rückforderungsrecht des Verkäufers nach vollzogener Wandelung ein Rücknahmeanspruch des Käufers korrespondiere; i.E. ebenso Schneider/Katerndahl, NJW 2007, 2215 (2216). 11 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 543 BGH, Urt. v. 15.7.2008 – VIII ZR 211/07 Gsell _____________________________________________________________________________________ wird nicht diskutiert13, was bei Nachbesserung hinsichtlich eventueller Aus- und Einbaukosten gilt14 und ob sich aus dem Umfang des Nachbesserungsrechts nicht Konsequenzen auch für die Reichweite der Ersatzlieferung ergeben müssen oder umgekehrt. Die gesetzliche Konzeption der beiden Nacherfüllungsvarianten als gleichwertig legt dies – in die eine oder andere Richtung – durchaus nahe.15 Prof. Dr. Beate Gsell, Augsburg 13 Vgl. Rn. 20 der Entscheidungsgründe, wo eine Orientierung der Nacherfüllung am hypothetischen Zustand, den eine anfänglich mangelfreie Sache aktuell hätte, „jedenfalls für die hier zu beurteilende Ersatzlieferung“ verworfen wird. 14 Für das Werkvertragsrecht nahm die Rechtsprechung zum alten Recht an, dass die Mängelbeseitigung auch die erforderlichen Vor- und Nacharbeiten umfasst einschließlich der Beseitigung der aus der Nachbesserung resultierenden Schäden am sonstigen Eigentum des Bestellers, vgl. BGH NJW 1963, 805 (806): Malerarbeiten bei Nachbesserung einer Abflussleitung; BGHZ 58, 332 (339): Aufreißen und Wiederherstellung der Straßendecke, Erdarbeiten, Entfernung und Wiederanbringung der Isolierung bei Nachbesserung einer Rohrleitung. Dagegen waren mängelbedingte Schäden am sonstigen Eigentum des Bestellers, die sich nicht erst aus der Nachbesserung ergaben, nicht von der Mängelbeseitigungspflicht gedeckt, vgl. BGHZ 96, 221 (225 f.): Mängelbedingte Schäden an einer Spundwand aufgrund unzureichender Erdarbeiten. 15 Konsequent insofern Faust (Fn. 2), § 439 Rn. 18; für eine auf die Nachbesserung beschränkte Einbaupflicht des Käufers hingegen Lorenz, ZGS 2004, 408 (409); Thürmann, NJW 2006, 3457 (3459). _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 544 BGH, Urt. v. 29.4.2008 – XI ZR 371/07 Langenbucher _____________________________________________________________________________________ E nt s ch ei d ung s a n me r ku ng Die Bank kann von dem gutgläubigen Zahlungsempfänger die irrtümliche Zuvielüberweisung nicht im Wege der Nichtleistungskondiktion (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB) herausverlangen (im Anschluss und in Ergänzung zu BGH WM 1986, 1381). (Amtlicher Leitsatz) BGB § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGH, Urt. v. 29.4.2008 – XI ZR 371/07 (LG Bonn)1 I. Bedeutung für Studenten, Fallkonstellation Das private Bankrecht bietet eine Fülle klassischer privatrechtlicher Fragestellungen schuld- und bereicherungsrechtlicher Herkunft, die sich wegen ihrer ungewohnten Einkleidung besonders zur Wiederholung im Rahmen der Examensvorbereitung eignen. Vereinfacht man den vorliegenden Fall, geht es im Kern um einen Bereicherungsausgleich im Dreipersonenverhältnis: Ein Käufer wies die klagende Bank an, den „Teilbetrag einer Schlussrate“ des der Verkäuferin geschuldeten Kaufpreises zu überweisen. Die Bank, die das Geschäft auch finanziert und wohl deshalb Kenntnis von der Höhe der insgesamt geschuldeten Raten hatte, überwies versehentlich die volle Schlussrate. Erst nach der Gutschrift auf ihrem Konto erhielt die beklagte Verkäuferin ein Schreiben des Käufers, in welchem dieser ankündigte, den – aus seiner Sicht noch offenen – Teilbetrag wegen Mängeln zurückzuhalten. Die Bank forderte den zuviel überwiesenen Betrag auf der Grundlage einer Nichtleistungskondiktion direkt von der Verkäuferin zurück. Das LG Bonn und der BGH haben die Klage abgewiesen. Sie meinen, der Bereicherungsausgleich habe sich entlang der Leistungsbeziehungen zu vollziehen. II. Wiederholung: Der Bereicherungsausgleich im Dreieck Ein bereicherungsrechtliches Dreipersonenverhältnis ist typischerweise dadurch gekennzeichnet, dass ein Anweisender (hier: der Käufer) einem Anweisungsempfänger (hier: die beklagte Verkäuferin) vermittelt durch den Angewiesenen (hier: die klagende Bank) etwas zukommen lässt.2 Es entspricht inzwischen herrschender Lehre und Rechtsprechung, den Bereicherungsausgleich in einem solchen Dreieck auf der Basis der jeweiligen Leistungsbeziehung abzuwickeln.3 Das bedeutet, Rückforderungsansprüche existieren nur zwischen Anweisendem und Anweisungsempfänger bzw. zwischen Anweisendem und Angewiesenem. Dafür spricht, dass bei dieser Lösung jede Partei ausschließlich mit den Einwendungen und mit dem Insolvenzrisiko desjenigen Partners belastet ist, mit welchem sie freiwillig in ein Vertragsverhältnis getreten ist. Auf den vorliegenden Fall angewandt hieße das: Die Bank könnte nicht gegen die Verkäuferin vorgehen, weil diese Parteien nicht in einer Leistungsbeziehung stehen. Stattdessen wäre es an dem Käufer, von seiner Bank die Stornierung der Überweisung zu verlangen. Der Bank stünde im Gegenzug ein Bereicherungsanspruch gegen ihren Kunden, den Käufer, zu. Dieser wäre auf Herausgabe etwa erlangter Vorteile aus dem Zahlungsvorgang gerichtet.4 Dieser Grundsatz gilt freilich nicht ohne Ausnahme. Hat der Anweisende überhaupt keine Anweisung erklärt oder lässt sich ihm diese jedenfalls nicht zurechnen, etwa weil er minderjährig ist, steht dem Angewiesenen eine sogenannte Direktkondiktion gegen den Anweisungsempfänger zu. Er darf mithin das Geleistete auf der Grundlage einer Nichtleistungskondiktion unmittelbar von dem Empfänger der Leistung zurückfordern. Davon war wohl die klagende Bank ausgegangen, als sie einen Prozess gegen die Verkäuferin anstrengte. Eine Direktkondiktion ist immer dann vorzugswürdig, wenn der nur angeblich Anweisende davor geschützt werden soll, sich mit dem von ihm nicht zurechenbar veranlassten Zahlungsvorgang auseinandersetzen zu müssen.5 Eine solche Auseinandersetzung ist für den Anweisenden nämlich mitunter aufwendig: Kann die Bank von ihrem Kunden die Herausgabe von Vorteilen aus dem irrtümlich durchgeführten Zahlungsvorgang verlangen, wird sie nicht nur einen solchen Anspruch im Regelfall im Kontokorrent6 mit dem Stornoverlangen des Kunden verrechnen, sodass dieser die Last der Klage gegen seine Bank trägt. Hinzu kommt, dass der anweisende Kunde sich in der prozessual ungünstigen Situation befindet, über die Einzelheiten des Valutaverhältnisses mit dem Anweisungsempfänger (im vorliegenden Fall: über etwaige Mängel des Kaufvertrages) mit einer außen stehenden Partei streiten zu müssen. III. Der Argumentationsgang des Gerichts Der BGH hat die typischen Fallkonstellationen durchgemustert, in welchen man die Direktkondiktion des Angewiesenen gegen den Anweisungsempfänger zulässt: das Fehlen einer Anweisung, ihre Fälschung oder Verfälschung, die Geschäftsunfähigkeit oder die fehlende Vertretungsmacht des Anweisenden. Für diese Fälle folgt das Gericht der überwiegenden Ansicht, wonach ein etwa entstandener Rechtsschein auf der Seite des Überweisungsempfängers dem angeblich Anweisenden nicht zugerechnet werden kann. Dem stellt das Gericht den Widerruf einer Überweisung entgegen. In diesem Fall lehnt die herrschende Meinung eine Direktkondiktion zu Recht ab, wenn dem Anweisenden der einmal in Gang gebrachte Zahlungsvorgang analog §§ 170173 BGB zugerechnet werden kann.7 Die im vorliegenden Fall gegebene Zuvielüberweisung setzt der BGH in eins mit dem Widerruf der Überweisung. In beiden Fällen habe der Überweisende immerhin einen Zah4 1 http://www.bundesgerichtshof.de/ [23.09.2008]. 2 Hierzu demnächst Grigoleit/Auer, Beck’sches Examinatorium, Bereicherungsrecht. 3 Zum Folgenden statt aller Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994, § 70 II. Hierzu im Einzelnen unten V. Larenz/Canaris (Fn. 3), § 70 IV 2b. 6 Hierzu Langenbucher, in: Münchener Kommentar zum HGB, 2. Aufl. 2009, § 355 Rn. 3 ff. 7 Zu den Einzelheiten Canaris, JZ 1987, 201; Lorenz, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2007, § 812 Rn. 51. 5 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 545 BGH, Urt. v. 29.4.2008 – XI ZR 371/07 Langenbucher _____________________________________________________________________________________ lungsvorgang angestoßen. Ergänzend weist das Gericht darauf hin, bei Zulassung einer Direktkondiktion werde das schutzwürdige Vertrauen des Empfängers beeinträchtigt, der sich darauf verlasse, eingehende Zahlungen endgültig behalten zu dürfen. Die Belange der überweisenden Bank hätten demgegenüber zurückzutreten. IV. Kritik Die Entscheidung greift zu kurz. Auf die Interessen des Empfängers kann die Ablehnung einer Direktkondiktion der Bank schon deshalb nicht gestützt werden, weil sich dessen Schutz über § 818 Abs. 3 BGB verwirklichen lässt.8 Durfte er sich gutgläubig darauf verlassen, den eingehenden Betrag behalten zu dürfen, ist er entreichert. Ist der Empfänger dagegen im Sinne des § 819 Abs. 1 BGB bösgläubig, ist nicht einzusehen, warum er der Bank das empfangene Buchgeld nicht herausgeben soll. Zu wenig Gewicht misst die Entscheidung den Belangen des angeblich Anweisenden zu. Mit dem farblosen Hinweis auf das „Veranlassungsprinzip“9 und eine „näher-dran-Betrachtung“10 werden dessen Interessen denjenigen des Zahlungsempfängers untergeordnet. Das belastet den angeblich Anweisenden unabhängig von der Schutzwürdigkeit des Zahlungsempfängers mit der Last, die Zahlung von der Bank zurückzuholen (s. o. II. am Ende), obgleich die Zulassung der Direktkondiktion mit Blick auf den durch § 818 Abs. 3 BGB gewährleisteten konkreten Vertrauensschutz die viel flexiblere Lösung bietet.11 Mit dem Entreicherungseinwand aus § 818 Abs. 3 BGB hat sich das Gericht freilich überhaupt nicht auseinandergesetzt.12 Das Veranlassungsprinzip, auf welches der BGH seine Entscheidung stützt, ist viel zu radikal, an seine Stelle hat die zutreffende Ansicht in der Literatur längst das Risikoprinzip gesetzt.13 Wer nämlich nichts weiter tut, als ein korrektes Angebot zum Abschluss eines Überweisungsvertrages abzugeben, hat das Risiko einer Fehlüberweisung nicht zurechenbar erhöht.14 Anders ist es, wenn der Überweisende einen eigenständigen Rechtsscheintatbestand gesetzt, beispielsweise seine Überweisung angekündigt hat. Ob im vorliegenden Fall davon auszugehen war, etwa weil infol- ge des Eingangs von Raten in stets gleicher Höhe mit der Ankündigung einer Minderzahlung zu rechnen gewesen wäre,15 ist Tatfrage. V. Zum Weiterdenken Schwierige Fragen stellen sich, wenn es um die praktischen Folgen der Ansicht der Rechtsprechung für das Verhältnis des angeblich Anweisenden zu seiner Bank geht. Das Gericht geht davon aus, diese könne nur die Abtretung eines Bereicherungsanspruchs des angeblich Überweisenden gegen den Zahlungsempfänger verlangen.16 Immerhin, so der Gedankengang, hat der Zahlungsempfänger die Schlussrate vollständig erhalten, die – möglicherweise – darauf gerichtete Forderung des Zahlungsempfängers gegenüber dem Überweisenden ist mithin erloschen. Den Wert dieses Erlangten kann der angeblich Überweisende kondizieren, wenn für diesen Empfang kein Rechtsgrund bestand. Im vorliegenden Fall hieße das: wenn tatsächlich Mängel vorlägen, welche den Käufer zur Minderung der Schlussrate berechtigt hätten. Canaris hat dem entgegengehalten, der Anspruch der Bank gegen den Anweisenden richte sich mitnichten auf die Abtretung eines etwaigen Bereicherungsanspruchs. Stattdessen geht Canaris von einer Rückgriffskondiktion der Bank gegenüber ihrem Kunden aus: Ist im Valutaverhältnis zwischen Zahlungsempfänger und Anweisendem eine Forderung erloschen, hat der Anweisende zunächst einmal die Befreiung von einer Verbindlichkeit erlangt. Das führt nach § 818 Abs. 2 BGB nicht zu einem Anspruch auf Abtretung, sondern zu Wertersatz in Höhe der getilgten Forderung.17 Zu einer Kondiktion der Kondiktion, von welcher das Gericht als Regelfall ausgeht, kommt es nur, wenn die Forderung im Valutaverhältnis nicht bestand. Über diese Frage, ob mithin die Forderung im Valutaverhältnis bestand und ob ihr Einreden entgegengehalten werden können, sollte sich der Schuldner aber mit dem Zahlungsempfänger auseinandersetzen dürfen, nicht mit seiner Bank. Prof. Dr. Katja Langenbucher, Frankfurt a.M. 8 Canaris, JZ 1987, 201 (202); Langenbucher, in: Lorenz (Hrsg.), Festschrift für Andreas Heldrich, 2005, S. 285 (290); Lorenz (Fn. 7), § 812 Rn. 51. 9 Rn. 14 der Entscheidung. 10 Rn. 17, 24 der Entscheidung. 11 Hierzu bereits Canaris, JZ 1987, 201 (202); s. a. Lieb, in: Feschrift 50 Jahre BGH, S. 547 (552); Lorenz (Fn. 7), § 812 Rn. 51; Wendehorst, in: Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2008, § 812 Rn. 166; wie der BGH aber Hopt, in: Baumbach/Hopt, HGB, 33. Aufl. 2008, (7) BankGesch C/19; Nobbe, WM Sonderbeilage 4/01, 8; Schimansky, in: Schimansky u.a. (Hrsg.), Bankrechtshandbuch, 3. Aufl. 2007, § 50 Rn. 19. 12 Fernliegend deshalb die Erwägungen in Rn. 25: Typischerweise wäre der Empfänger hier entreichert und deshalb gerade keiner Direktkondiktion ausgesetzt. 13 Lorenz (Fn. 7), § 812 Rn. 51. 14 Zu Recht krit. Lorenz, LMK 264831. 15 So Lorenz, LMK 264831. Rn. 26 der Entscheidung. 17 Canaris, JZ 1987, 201 (202); so auch Lorenz, LMK 264831. 16 _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 546 BGH, Urt. v. 16.4.2008 – XII ZR 144/06 Heiderhoff _____________________________________________________________________________________ E nt s ch ei d ung s a n me r ku ng 1. Die Rechtsausübungssperre des § 1600d Abs. 4 BGB kann im Regressprozess des Scheinvaters gegen den mutmaßlichen Erzeuger des Kindes in besonders gelagerten Einzelfällen mit der Folge durchbrochen werden, dass die Vaterschaft des Beklagten inzident festgestellt werden kann. 2. Nach Abschaffung der gesetzlichen Amtspflegschaft für nichteheliche Kinder zum 1. Juli 1998 kommt dies in Betracht, wenn der Kläger andernfalls rechtlos gestellt wäre, weil weder die Kindesmutter noch der mutmaßliche Erzeuger bereit sind, dessen Vaterschaft gerichtlich feststellen zu lassen (Abgrenzung zu Senatsurteil BGHZ 121, 299). (Amtliche Leitsätze) BGB §§ 1607 Abs. 3 Satz 2, 1600d Abs. 4, 1600e Abs. 1, 1629 Abs. 2 Satz 3, 1712 Abs. 1 Nr. 1 BGH, Urt. v.16.4.2008 – XII ZR 144/06 ( OLG Celle)1 I. Rechtliche Ausgangslage Nach § 1601 BGB ist der rechtliche Vater – als Verwandter in gerader Linie – den Kindern zum Unterhalt verpflichtet. Die rechtliche Vaterschaft muss aber nicht immer die richtige (biologische) Vaterschaft sein. Nicht selten gilt ein Mann als rechtlicher Vater, der in Wirklichkeit nicht der Erzeuger der Kinder ist. So ist es insbesondere, wenn eine verheiratete Frau Kinder von einem anderen Mann bekommt. Dann wird nach § 1592 Nr. 1 BGB der Ehemann zum rechtlichen Vater und damit zum Unterhaltsverpflichteten, obwohl ein anderer Mann der Erzeuger der Kinder ist. So war es auch im vorliegenden Fall. Der BGH spricht von dem falschen rechtlichen Vater als „Scheinvater“. Der Scheinvater hatte hier erfahren, dass die Kinder nicht von ihm abstammen, und daraufhin nach § 1600 Abs. 1 Nr. 1 BGB die Vaterschaft angefochten. Gemäß § 1599 BGB gilt die Vaterschaft nach der Anfechtung als nie begründet – die Unterhaltspflicht erlischt also rückwirkend. Fraglich ist aber, was mit den bereits erfolgten Unterhaltsleistungen geschieht. Nach § 1607 Abs. 3 S. 2 BGB geht der Unterhaltsanspruch des Kindes auf den Scheinvater über, soweit dieser zu Unrecht anstelle des wirklichen Vaters Unterhalt an das Kind bezahlt hat. Aus dieser Norm geht auch hier der ehemalige Scheinvater gegen den Erzeuger der Kinder vor. Nun stand dem Erfolg seiner Klage jedoch § 1600d Abs. 4 BGB entgegen. Denn nach § 1600d Abs. 4 BGB dürfen die Rechtswirkungen der Vaterschaft erst vom Zeitpunkt der gerichtlichen Feststellung an geltend gemacht werden. Diese Norm sagt deutlich, dass gegen den Erzeuger der Kinder ein Anspruch, der sich aus dessen Vaterstellung ergibt, erst geltend gemacht werden kann, wenn die Vaterschaft gerichtlich festgestellt ist. Problematisch war dies, weil der Erzeuger im vorliegenden Fall zwar feststand und auch gar keinen Hehl daraus machte, 1 http://www.bundesgerichtshof.de [23.09.2008]. dass es sich bei den drei betroffenen Kindern um seine leiblichen Kinder handelte. Jedoch gab es niemanden, der zur Erhebung der Vaterschaftsfeststellungsklage gleichzeitig bereit und berechtigt war. Nach § 1600e Abs. 1 BGB können der Vater, die Mutter und das Kind die Vaterschaft feststellen lassen. Diese hatten hier jedoch überhaupt kein Interesse an einer solchen Feststellung. Der Scheinvater, der als einziger auf die Feststellung angewiesen war, ist dagegen nicht klagebefugt. Somit saß der Scheinvater in einer Art rechtlichen Falle: Er hatte zwar seine Vaterstellung wirksam beseitigt. Er kannte auch den Erzeuger der Kinder. Er konnte daraus aber – nach Auffassung des Berufungsgerichts – keine Regressansprüche ableiten, weil die Vaterschaft des Erzeugers nicht festgestellt werden konnte. II. Entscheidung des BGH Mit dieser Lage war der BGH konfrontiert. Dabei hatte der BGH selbst gerade für die vorliegende Fallkonstellation schon ausdrücklich entschieden, dass Regress vor einer Feststellung der Vaterschaft in der Tat nicht möglich sei. Dennoch entschied er vorliegend gerade umgekehrt. Er ließ die inzidente Feststellung der Vaterschaft ausnahmsweise zu. Einen Anker im Gesetz konnte er dafür allerdings nicht finden. So heißt es denn auch im Leitsatz, § 1600d Abs. 4 BGB könne „in besonders gelagerten Einzelfällen“ durchbrochen werden. Für die Änderung seiner Rechtsprechung konnte der BGH aber immerhin mit einer einfachen Begründung aufwarten, denn die Rechtslage hatte sich seit dem letzten Urteil entscheidend verändert. Bis 1998 hatte nämlich jedes uneheliche geborene Kind einen Amtspfleger, der insbesondere für die Feststellung der Vaterschaft zuständig war. Der Amtspfleger konnte als gesetzlicher Vertreter des Kindes die Vaterschaft feststellen lassen (§ 1706 BGB a.F.). III. Nachteile der Inzidentfeststellung der Vaterschaft Von Inzidentfeststellung der Vaterschaft spricht man, wenn die Vaterschaft nicht der eigentliche Gegenstand des Verfahrens ist, sondern wenn über das Bestehen der Vaterschaft nur als Vorfrage für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch mit entschieden wird. In Rechtskraft erwächst die Entscheidung über eine solche Vorfrage nicht. Da die rechtliche Vaterschaft Voraussetzung für viele Ansprüche und Rechte ist, ist ihr Bestehen eine häufige Vorfrage. Würde die Vaterschaft jedes Mal inzident geklärt, hätte das zum einen den Nachteil, dass die Gerichte sich immer wieder mit derselben Frage beschäftigen müssten. Das wäre wenig effizient. Vor allem aber könnte es sein, dass die Gerichte zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen würden. Dann würde für ein und dasselbe Kind im einen Fall A, im anderen B und in einem dritten Fall vielleicht C als Vater gelten. Denn im Inzidentverfahren wird die Vaterschaft nicht immer direkt, sondern auch indirekt aufgrund der Abstammungsvermutung festgestellt. Eine Inzidentfeststellung der Vaterschaft hat also erhebliche Nachteile. Es ist daher grundsätzlich richtig, dass sie in § 1600d Abs. 4 BGB ausgeschlossen ist. Will jemand An- _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 547 BGH, Urt. v. 16.4.2008 – XII ZR 144/06 Heiderhoff _____________________________________________________________________________________ sprüche durchsetzen, die das Bestehen der rechtlichen Vaterschaft voraussetzen, so muss er zunächst das Feststellungsverfahren betreiben, bevor er den eigentlichen Anspruch gerichtlich geltend machen kann. IV. Inzidentfeststellung der Vaterschaft beim Unterhaltsregress Nun hat sich im vorliegenden Fall gezeigt, dass es für den Inhaber von Ansprüchen gegen den rechtlichen Vater nicht immer möglich ist, zuerst die Vaterschaftsfeststellung zu betreiben. Handelt es sich nämlich nicht um Ansprüche von Mutter oder Kind, sondern um Ansprüche eines Dritten, hat dieser gar keine Klagebefugnis für das Feststellungsverfahren. So ergeht es stets dem Scheinvater im Unterhaltsregressverfahren. De lege lata sah der BGH nur die Möglichkeit, von § 1600d Abs. 4 BGB für diese „besonders gelagerten Einzelfälle“ eine Ausnahme zuzulassen. Er nimmt allerdings eine gründliche Interessenabwägung vor und zeigt dabei insbesondere auf, dass weder Vater noch Kind ein geschütztes Interesse daran haben, dass die Vaterschaft „offen“ bleibt. Zugleich verneint der BGH die Möglichkeit für den Scheinvater, „ins Blaue hinein“ einen Erzeuger zu benennen. Er verlangt vielmehr, dass der Scheinvater wenigstens substantiiert darlegt und, wenn dies streitig ist, beweist, dass der Beklagte der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt hat (§ 1600 d Abs. 2 BGB). Im Ergebnis muss das richtig sein.2 Anhand des geltenden Rechts begründen lässt sich diese Rechtsprechung aber wohl nicht. Der BGH jedenfalls fand keine Begründung – außer der unbedingten Notwendigkeit, dem Scheinvater zu helfen. De facto ist das Problem damit weitgehend gelöst. Es lohnt wohl auch nicht der Ruf nach dem Gesetzgeber. Denn die Klagebefugnis für die Vaterschaftsfeststellung zu erweitern, kann nicht richtig sein. Anders als bei der Inzidentfeststellung, die nicht in Rechtskraft erwächst und nur zwischen den Parteien wirkt, würde dann nämlich ein Außenstehender darüber entscheiden können, ob ein Kind einen Vater bekommt, und ob ein Erzeuger zum rechtlichen Vater wird. Damit würde in der Tat erheblich in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Betroffenen eingegriffen. Insofern könnte der Gesetzgeber nur versuchen, die Entscheidung des BGH in Gesetzesworte zu fassen: § 1600d Abs. 4 BGB ist nicht anzuwenden, wenn ein Scheinvater den nach § 1607 Abs. 3 S. 2 BGB auf ihn übergegangenen Unterhaltsanspruch gegenüber dem nach § 1600d Abs. 2 BGB zu vermutenden Erzeuger der Kinder geltend macht. Prof. Dr. Bettina Heiderhoff, Hamburg 2 So auch Wellenhofer, FamRZ 2008, 1427. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 548 BGH, Urt. v. 28.4.2008 – II ZR 264/06 Geibel _____________________________________________________________________________________ E nt s ch ei d ung s a n me r ku ng Zur Durchgriffshaftung wegen materieller Unterkapitalisierung einer GmbH Unterlässt der Gesellschafter einer GmbH es, die Gesellschaft im Hinblick auf ihren Unternehmensgegenstand mit hinreichend Kapital auszustatten, haftet der Gesellschafter weder unter dem Gesichtspunkt der in § 826 BGB einzuordnenden Haftung wegen „existenzvernichtenden Eingriffs“ noch aufgrund eines Haftungsdurchgriffs wegen materieller Unterkapitalisierung abweichend von § 13 Abs. 2 GmbHG. Individuelle Ansprüche Dritter aus § 826 BGB, die sich gegen den Gesellschafter auf Ersatz des negativen Interesses richten, weil der Gesellschafter den Dritten die unterlassenen Sicherungsmaßnahmen verschwiegen hat, kann der Insolvenzverwalter über das Vermögen der GmbH nicht geltend machen. (Redaktioneller Leitsatz) GmbHG § 13 Abs. 2, BGB § 826 BGH, Urt. v. 28.4.2008 – II ZR 264/06 (OLG Düsseldorf)1 I. Rechtsgebiet und Problemstellung 1. Das Urteil betrifft Kerngebiete des GmbH-Rechts sowie des Deliktsrechts und streift Fragen des Insolvenzrechts. Es geht um das Problem, ob und unter welchen Voraussetzungen der Gesellschafter einer GmbH abweichend von § 13 Abs. 2 GmbHG mit seinem persönlichen Vermögen einem Gläubiger der GmbH im Fall einer materiellen Unterkapitalisierung der GmbH haftet. Eine solche Unterkapitalisierung liegt vor, wenn der Gesellschafter es unterlassen hat, die GmbH ausreichend mit soviel Kapital auszustatten, das notwendig ist, damit die GmbH ihrem Unternehmensgegenstand nachgehen kann. Insbesondere war bislang umstritten, inwieweit sich ein Haftungsdurchgriff auf den Gesellschafter rechtfertigen lässt und auf welche Anspruchsgrundlage er zu stützen ist. Zu klären war zudem das Verhältnis eines solchen Haftungsdurchgriffs zu der jüngst im Trihotel-Urteil entwickelten „Existenzvernichtungshaftung“ des BGH.2 2. Im Streitfall (Gamma) ging es um die Klage eines Insolvenzverwalters in dem Insolvenzverfahren über das Vermögen einer GmbH, die als Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft („BQG“) zur Sanierung einer in der Krise befindlichen Gesellschaft, der B-KG, fungierte und eigens dafür (mit dem Mindeststammkapital von 25.000 €) gegründet wurde. Zwischen der GmbH und der B-KG wurde zu diesem Zweck ein Vertrag geschlossen, in dem sich die GmbH verpflichtete, einige Arbeitnehmer der B-KG zu übernehmen, anzustellen, zu qualifizieren und weiterzuvermitteln. Die GmbH sollte sich vorwiegend aus öffentlichen Geldern 1 BGH NJW 2008, 2437. Das Urteil kann auch auf www.bundesgerichtshof.de oder auf www.juris.de abgerufen werden. 2 BGHZ 173, 246 = BGH NJW 2007, 2689 = ZJS 2008, 90 (m. Anm. Geibel). wie Kurzarbeitergeld und Qualifizierungsmittel finanzieren. Den restlichen Teil der Arbeitskosten für die Arbeitnehmer – die so genannten Remanenzkosten – sollte die B-KG monatlich bezahlen. Eine Zeit lang ging dies gut, dann jedoch meldete die B-KG Insolvenz an. Dies führte auch zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der GmbH, weil die Remanenzkosten nicht mehr überwiesen wurden. Der Insolvenzverwalter klagte nun gegen die Gesellschafter der GmbH, weil die GmbH wegen ihres eingeschränkten Unternehmensgegenstands als BQG auf die Deckung der Remanenzkosten angewiesen war und weil unterlassen wurde, die Remanenzkostenansprüche der GmbH in branchenüblicher Weise z.B. durch eine Bankbürgschaft abzusichern. Deshalb würden die Gesellschafter wegen „existenzvernichtenden Eingriffs“ und wegen materieller Unterkapitalisierung haften. II. Kernaussagen des Urteils 1. Der BGH lehnt zunächst eine Haftung wegen „existenzvernichtenden Eingriffs“ ab. An seinen Ausführungen zur „Existenzvernichtungshaftung“ im Trihotel-Urteil hält der BGH fest. Hiernach rechtfertigt er die Haftung des Gesellschafters einer GmbH im Fall missbräuchlicher kompensationsloser und insolvenzverursachender bzw. -vertiefender Ein-griffe in das zweckgebundene Gesellschaftsvermögen der GmbH nicht mehr mit einer Durchgriffsaußenhaftung abweichend von § 13 Abs. 2 GmbHG. Vielmehr stütze sich die Haftung auf § 826 BGB und sei eine Innenhaftung gegenüber der GmbH. Dass unterlassen worden sei, die GmbH mit hinreichenden Mitteln auszustatten, damit die Remanenzkosten gedeckt sind, stelle schon begrifflich keinen „Eingriff“ in das Gesellschaftsvermögen dar. Ein solches Unterlassen sei einem Eingriff auch nicht gleich zu stellen, weil durch das Unterlassen „das Stammkapital [...] nicht angetastet“3 worden sei. Schon „im Ansatz“4 lehnt der BGH es ab, die Fälle einer materiellen Unterkapitalisierung der „Existenzvernichtungshaftung“ zuzuordnen. 2. Der BGH verneint auch einen Haftungsdurchgriff wegen materieller Unterkapitalisierung. Er lässt die Rechtsprechung zum Thema „piercing the corporate veil“ Revue passieren und stellt fest, dass sich in der höchstrichterlichen Rechtsprechung (von BGH, BAG und BSG) kein spezielles Haftungsinstitut bei materieller Unterkapitalisierung herausgebildet habe. Auch in den Motiven zur Novelle des GmbHG von 1980 sowie in den Motiven zum MoMiG 2008 sei die Normierung einer allgemeinen Haftung in diesen Fällen abgelehnt worden.5 Ein GmbH-Gesellschafter habe keine „Finanzausstattungspflicht“.6 Eine richterliche Rechtsfortbildung scheitere an der fehlenden Regelungslücke. Ob die materielle Unterkapitalisierung eine sittenwidrige Schädigung nach § 826 BGB darstellen kann, lässt der BGH ausdrücklich offen. 3 BGH NJW 2008, 2437 (2438 Rn. 12 a.E.). BGH NJW 2008, 2437 (2438 Rn. 13 a.E.). 5 BGH NJW 2008, 2437 (2439 Rn. 19, 20), unter Verweis auf BT-Drs. 8/1347, S. 39, und auf BR-Drs. 354/07, S. 66. 6 BGH NJW 2008, 2437 (2439 Rn. 23). 4 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 549 BGH, Urt. v. 28.4.2008 – II ZR 264/06 Geibel _____________________________________________________________________________________ 3. Am Ende seines Urteils erwägt der BGH, ob die Gesellschafter den Arbeitnehmern direkt aus §§ 826, 830 BGB haften, weil sie die fehlende Absicherung der Remanenzkosten arglistig verschwiegen hätten, bevor die dreiseitigen Übernahme- und Anstellungsverträge zwischen der GmbH, der BKG und den Arbeitnehmern geschlossen wurden.7 Die aus einer solchen Haftung resultierenden Ansprüche könne jedoch der Insolvenzverwalter weder nach § 92 InsO noch nach § 93 InsO geltend machen. III. Würdigung 1. Das Urteil bildet den vorläufigen Schlussstein einer langen Reihe von Entscheidungen zu möglichen Fällen einer Durchgriffshaftung. Die Entwicklung in der Rechtsprechung des BGH war keineswegs geradlinig.8 In jüngerer Zeit können zwei Tendenzen beobachtet werden: erstens eine Tendenz weg von einer Zustandshaftung (analog § 302 AktG, „qualifiziert faktischer Konzern“) hin zu einer Verhaltenshaftung9 und noch weiter zu einer Verschuldenshaftung; zweitens die Tendenz weg von dem Argument, eine Durchgriffshaftung sei allein schon durch einen Rechtsmissbrauch gerechtfertigt, hin zur Anwendung der einschlägigen gesetzlichen Vorschriften. Beide Tendenzen treffen sich in der Anwendung von § 826 BGB. Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage, ob allein durch ein Unterlassen eine sittenwidrige Schädigung begangen werden kann. Das setzt voraus, dass die unterlassene Handlung sittlich gefordert ist; allein die fehlende Erfüllung einer rechtlichen oder vertraglichen Pflicht genügt nicht.10 Die jederzeit ausreichende Ausstattung der GmbH mit Kapital und Liquidität wird von den Gesellschaftern der GmbH rechtlich nicht gefordert, erst recht nicht entspringt diese Ausstattung einem sittlichen Gebot. Auf § 826 BGB kann mithin eine Haftung allein wegen unterlassener ausreichender Kapitalisierung ohne Hinzutreten weiterer Umstände nicht gestützt werden. 2. Die Begründung des BGH, dass eine „Existenzvernichtung“ durch Unterlassen mangels eines „Eingriffs“ in das Gesellschaftsvermögen begrifflich zu verneinen sei, überzeugt dagegen nicht. Denn der Anknüpfungspunkt für ein Fehlverhalten der Gesellschafter kann im entschiedenen Fall auch in einem Tun gesehen werden, nämlich dass sie die GmbH zu einem nachteiligen Rechtsgeschäft veranlasst haben. Entscheidend ist aber nicht die Qualifizierung als Tun oder Unterlassen, sondern dass es sich bei dem Abschluss der dreiseitigen Verträge ohne Insolvenzabsicherung der Remanenzkosten um einen „Managementfehler“ handelte, den die Gesellschafter nicht vorsätzlich begangen haben. Eine sittenwidrige Schädigung der GmbH scheidet daher aus. Vielmehr haften u.U. diejenigen Gesellschafter, die zugleich Geschäftsführer sind,11 gemäß § 43 Abs. 2 GmbHG. Diese Geschäftsführerhaftung ist eine Innenhaftung gegenüber der Gesellschaft und setzt nicht wie § 826 BGB ein vorsätzliches Verhalten voraus. 3. Der Schlussteil der Entscheidung zeigt, dass neben einer Innenhaftung der Gesellschafter gegenüber der GmbH auch eine Außenhaftung gegenüber Gläubigern der Gesellschaft in Betracht kommt. Gründen die Ansprüche der Arbeitnehmer auf einem persönlichen Verhalten der Gesellschafter, nämlich auf dem arglistigen Verschweigen eines wichtigen Umstandes, richten sie sich nicht gegen die GmbH, sondern an der Masse vorbei gegen die Gesellschafter persönlich. Dass der Insolvenzverwalter solche Ansprüche nicht geltend machen darf, versteht sich von selbst. Wäre ein dolus in contrahendo bewiesen, würden die Arbeitnehmer nach § 826 BGB im Wege des Schadensersatzes so zu stellen sein, als wenn der dreiseitige Vertrag nicht geschlossen worden wäre. In diesem Fall hätte aber mit hoher Wahrscheinlichkeit die B-KG sofort den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt. Es ist daher fraglich, ob den Arbeitnehmern ein Schaden entstanden ist. Dies konnte aber im vorliegenden Urteil offen gelassen werden, weil nicht die Arbeitnehmer geklagt hatten, sondern der Insolvenzverwalter über das Vermögen der GmbH. Privatdozent Dr. Stefan J. Geibel, Tübingen/Konstanz 7 BGH NJW 2008, 2437 (2440 Rn. 26 ff.). Vgl. z.B. Hueck/Fastrich, in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 13 Rn. 16. 9 Vgl. z.B. für die Durchgriffshaftung wegen Vermögensvermischung BGH ZIP 2006, 467. 10 Vgl. z.B. BGH NJW 2001, 3702; Schiemann, in: Erman, BGB, 12. Aufl. 2008, § 826 Rn. 13. 8 11 In dem entschiedenen Fall war einer der Gesellschafter, der Beklagte zu 1, zugleich Geschäftsführer. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 550 EuGH, Urt. v. 3.9.2008, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 Rossi _____________________________________________________________________________________ E nt s ch ei d ung s a n me r ku ng Gemeinschaftsrechtlicher Grundrechtsschutz gegen europarechtlich umgesetzte VN-Sanktionen Gemeinschaftsgerichte sind zuständig für die Prüfung von Maßnahmen, die von der Gemeinschaft zur Umsetzung von Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen erlassen werden. (nicht amtlicher Leitsatz) EGV Art. 60, 301, 308; VO (EG) 881/2002; VO (EG) 467/2001 EuGH, Urt. v. 3.9.2008, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/051 I. Rechtsgebiet, Problemstellung und Examensrelevanz Das Urteil setzt einen (vorläufigen) Schlussstrich unter einen Rechtsstreit, der materiell in der internationalen Terrorismusbekämpfung und damit in der Schnittmenge zwischen Völkerrecht, Europarecht und nationalem Recht spielt und prozedural zunächst das Europäische Gericht 1. Instanz befasst hat.2 Das EuG war mit Nichtigkeitsklagen gegen zwei Verordnungen angerufen worden, die ihrerseits zur Umsetzung mehrerer Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen erlassen worden waren. Mit diesen Resolutionen reagierte der Sicherheitsrat auf Terrorakte durch die Taliban und später auch durch Al-Qaida: Als „intelligente Sanktion“ („smart sanctions“) sehen diese Resolutionen vor, sämtliche Gelder der Taliban und der Al-Qaida einzufrieren. Wer zum Umfeld dieser Terrororganisationen zu zählen ist, ergibt sich aus einer vom Sanktionsausschuss des VN-Sicherheitsrats geführten Liste, die ständig aktualisiert wird. An diese Liste wird wiederum auf EG-Ebene der Anhang zu den entsprechenden Verordnungen angepasst. Als die Kläger, der saudische Staatsangehörige Yassin Abdullah Kadi und die in Schweden ansässige Al Barakaat International Foundation, sich auf dieser Liste wieder- und ihre Gelder eingefroren fanden, riefen sie das EuG an. Dieses sah sich dem Problem ausgesetzt, zwei Verordnungen am Maßstab des Gemeinschaftsrechts überprüfen zu müssen, die eins zu eins den Resolutionen des Sicherheitsrates entsprechen und damit zwar formell als Sekundärrecht der Europäischen Gemeinschaft zu qualifizieren sind, materiell aber solches der Vereinten Nationen wiedergeben. Das EuG scheute den Konflikt mit dem Völkerrecht und wies die Klagen ab: In formeller Hinsicht seien die Verordnungen von der Rechtsetzungszuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft gedeckt, und in materieller Hinsicht verbiete sich eine Prüfung am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte, da die Mitgliedstaaten nach dem Wortlaut der Charta der Vereinten Nationen den Resolutionen des Sicherheitsrats nachkommen müssten und diese Norm Vorrang vor dem Gemeinschafts1 Das Urteil ist auf den Seiten des EuGH abrufbar: http://curia.europa.eu/ 2 Vgl. EuG, Urt. v. 21.9.2005, Rs. T-315/01, Slg. 2005, II3649 (Kadi/Rat und Kommission) sowie EuG, Urt. v. 21.9.2005, Rs. T-306/01, Slg. 2005, II-3533 (Yusuf u.a./Rat und Kommission). recht habe. Gegen dieses im deutschen Schrifttum viel beachtete Urteil3 legten die beiden Kläger vor dem Europäischen Gerichtshof Rechtsmittel ein, der daraufhin nun die Nichtigkeit der relevanten Verordnung feststellte, soweit sie die Kläger betrifft. II. Die Entscheidung Dem Urteil ist im Grundansatz und im Ergebnis, nicht jedoch in der konkreten Begründung zuzustimmen. Denn die Nichtigkeit der streitbefangenen Verordnung ergibt sich schon aus der fehlenden Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft (1) und nicht erst aus ihrer materiellen Unvereinbarkeit mit verschiedenen Grundrechtsgewährleistungen (3). Die Annahme einer grundsätzlichen Prüfungsbefugnis der Gemeinschaftsgerichte zur Prüfung auch solcher sekundärrechtlicher Normen, die der Umsetzung von VN-Resolutionen dienen, ist dagegen zu begrüßen (2). Besondere Beachtung verdient schließlich auch der Rechtsfolgenausspruch (4). 1. Zuständigkeitsverteilung zwischen EU, EG und Mitgliedstaaten Das Recht der Europäischen Union ist geprägt vom Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. EUV, Art. 5 Abs. 1 EGV). Danach bedarf es für das Handeln der Union bzw. der Gemeinschaft einer Rechtsgrundlage in den Verträgen. Ob und in welchen Vorschriften eine solche für den Erlass der streitbefangenen Verordnung der Europäischen Gemeinschaft vorliegt, war schon in dem Verfahren vor dem EuG umstritten. Gestützt ist die Verordnung auf die Art. 60, 301 und 308 EGV. Art. 60 EGV steht systematisch im Kapitel über den freien Kapital- und Zahlungsverkehr und erlaubt dessen Einschränkung auf Grund von Maßnahmen nach Art. 301 EGV. Art. 301 EGV wiederum erlaubt der Gemeinschaft, auf der Grundlage von Beschlüssen im Rahmen der GASP – hier knüpft das Gemeinschaftsrecht an das politische Handeln der Union an – Wirtschaftssanktionen gegenüber Drittstaaten zu erlassen. Die Schwierigkeit im Fall der streitigen Verordnung besteht darin, dass sie abstrakt gegen die Taliban bzw. AlQaida und konkret gegen die im Anhang genannten Personen gerichtet ist, nicht aber gegen dritte Staaten. Das EuG erkannte in Maßnahmen gegen einzelne Personen aber eine notwendige Ergänzung der drittstaatsgerichteten Art. 60 und 301 3 Vgl. v. Arnauld, UN-Sanktionen und gemeinschaftsrechtlicher Grundrechtsschutz, AVR 44 (2006), 201; Steinbarth, Individualrechtsschutz gegen Maßnahmen der EG zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus, ZEuS 2006, 269; Möllers, Das EuG konstitutionalisiert die Vereinten Nationen, EuR 2006, 426; Ohler, Die Verhängung von „smart sanctions“ durch den UN-Sicherheitsrat – eine Herausforderung für das Gemeinschaftsrecht, EuR 2006, 848; Haltern, Gemeinschaftsgrundrechte und Antiterrormaßnahmen der UNO, JZ 2007, 537; Kämmerer, Die Urteile „Kadi“ und „Yusuf“ des EuG und ihre Folgen, EuR 2008, Beiheft 1, 65. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium– www.zjs-online.com 551 EuGH, Urt. v. 3.9.2008, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 Rossi _____________________________________________________________________________________ EGV und stützte diese Ergänzung auf die subsidiäre Rechtsetzungsbefugnis des Art. 308 EGV.4 Wie der EuGH zu diesem Kompetenzmosaik aus Art. 60, 301 und 308 EGV steht, ist aufgrund der stark vom Vorbringen der Parteien im Rechtsmittelverfahren geprägten Argumentationsgliederung und der kaum mehr verständlichen Sprache des Gerichts mit ihrer Mischung aus direkter und indirekter Rede und zahlreichen doppelten Verneinungen nicht leicht zu erkennen. Was bleibt, ist der Eindruck einer vielfältig widersprüchlichen und inkonsistenten Begründung, die das Ergebnis als große Überraschung erscheinen lässt. Zunächst hebt der EuGH hervor, dass die Art. 60 und 301 EGV für sich genommen keine geeignete und hinreichende Rechtsgrundlage für die streitige Verordnung darstellen, da sich die in der Verordnung vorgesehenen Maßnahmen nicht gegen Drittstaaten, sondern gegen Individualpersonen richten (Rn. 167 f.). Begründet wird dies neben Wortlaut und Kontext auch mit dem Ziel der Verordnung: Dieses bestehe darin, den internationalen Terrorismus zu bekämpfen, nicht jedoch darin, auf die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Gemeinschaft und Drittstaaten einzuwirken. Sodann erteilt der EuGH der Konzeption des EuG eine Absage, Art. 308 EGV auf solche Maßnahmen zu erstrecken, mit denen nicht ein Ziel der Gemeinschaft, sondern ein Ziel der Union verfolgt wird. Indem Art. 308 EGV ausschließlich auf die Ziele der Gemeinschaft, nicht jedoch auf diejenigen der Union rekurriert, bildet er keine Rechtsgrundlage für Maßnahmen, die Ziele der Union verwirklichen sollen, wie dies für den Kampf gegen die Finanzierung des internationalen Terrorismus der Fall ist. Dieses enge Verständnis des Gemeinschaftsbezugs des Art. 308 EGV ist zu begrüßen, soll nicht die das geltende Primärrecht prägende Unterscheidung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union zu Lasten der Kompetenzen der Mitgliedstaaten nivelliert werden. Um so erstaunlicher und im Ergebnis nicht nachvollziehbar ist deshalb die Argumentation, mit der der EuGH sich sodann doch für die zulässige Abstützung der streitigen Verordnung auf Art. 60, 301 und 308 EGV ausspricht: „Soweit mit dieser Verordnung wirtschaftliche und finanzielle Restriktionen verhängt werden, fällt sie offenkundig in den sachlichen Anwendungsbereich der Art. 60 und 301 EGV“, heißt es unter Rn. 213. Und weiter differenziert der EuGH – der Ansicht des Vereinigten Königreichs folgend – zwischen dem eigentlichen Ziel, „das unter die GASP falle und die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit betreffe“, und dem der streitigen Verordnung eigenen, „rein instrumentellen Ziel“, das in der Einführung wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen liege (Rn. 221 f.). Mit dieser Erhebung des eigentlichen Mittels zum „instrumentellen Ziel“ geht eine derartige Erweiterung und Aufweichung des final konstruierten Art. 308 EGV einher, dass es sodann nicht mehr wundert, wenn der EuGH ausführt: „Indem die Art. 60 und Art. 301 EGV eine Gemeinschaftsbefugnis zur Verhängung wirt4 Skeptisch schon Rossi, in: Calliess/Ruffert, EGV/EUV, 3. Aufl. 2007, Art. 308 Rn. 28. schaftlicher Restriktionen vorsehen, die der Umsetzung im Rahmen der GASP beschlossener Handlungen dienen, sind sie nämlich Ausdruck eines ihnen zugrunde liegenden impliziten Ziels, nämlich, den Erlass solcher Maßnahmen durch die wirksame Nutzung eines gemeinschaftsrechtlichen Instruments zu ermöglichen.“ (Rn. 226). Diese „instrumentelle“ Interpretation des Zielbegriffs nivelliert nicht nur die zuvor betonte Unterscheidung zwischen der Union und der Gemeinschaft „als integrierte, aber verschiedene Rechtsordnungen“ (Rn. 202), sondern missachtet vor allem die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten: Die Mitgliedstaaten sind für die Durchsetzung der für sie verbindlichen VN-Resolutionen des Sicherheitsrates zuständig, nicht die Europäische Gemeinschaft, die gar nicht Mitglied des Vereinten Nationen ist und als Internationale Organisation nach der geltenden VN-Charta auch nicht werden kann. Sollte der Anwendungsbereich des Art. 308 EGV auch in Zukunft und in anderen Sachbereichen mittels einer instrumentellen Interpretation um implizite Ziele der Gemeinschaft ausgeweitet werden, wäre die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaften und den Mitgliedstaaten erheblich aus dem Gleichgewicht gebracht. Dass Art. 352 Abs. 1 AEUV, so der Lissabonner Vertrag denn in Kraft tritt, nicht mehr zwischen den Zielen der Gemeinschaft und denen der Union unterscheidet, sondern konsequent nur noch von den Zielen der Union und darüber hinaus auch von den Verträgen im Plural spricht, nimmt dieser Kritik nicht die Schärfe. Denn erstens wird die neue, dann als „Flexibilitätsklausel“ bezeichnete subsidiäre Rechtsetzungsbefugnis prozedural flankiert durch die Einbindung der nationalen Parlamente, und zweitens besteht die Gefahr, die tatbestandlich erweiterte Flexibilitätsklausel des Art. 352 Abs. 1 AEUV mittels der nun gefundenen Interpretation noch weiter auszulegen. 2. Prüfungsbefugnis der Gemeinschaftsgerichte Fällt die Verordnung nach Auffassung des EuGH in den Kompetenzbereich der Gemeinschaft, ist es nur konsequent, sie sodann ungeachtet der Tatsache, dass sie materiell Resolutionen des VN-Sicherheitsrates wiedergibt, vorbehaltlos der Rechtmäßigkeitskontrolle durch die Gemeinschaftsgerichte zu unterwerfen. Denn die Gemeinschaft ist eine Rechtsgemeinschaft, in der weder ihre Mitgliedstaaten noch ihre Organe der Rechtmäßigkeitskontrolle entzogen sind (Rn. 281). In diesem Punkt unterscheidet sich der EuGH somit eklatant von dem angegriffenen Urteil des EuG, das die Verordnung in materieller Hinsicht nur insoweit für justiziabel hielt, wie es um die Vereinbarkeit mit den Normen des ius cogens ging. Zugleich hebt der EuGH ausdrücklich hervor, dass sich die den Gemeinschaftsgerichten obliegende Rechtmäßigkeitskontrolle auf den Gemeinschaftsrechtsakt bezieht, mit dem die betreffende internationale Übereinkunft umgesetzt werden soll, und nicht auf diese Übereinkunft als solche (Rn. 286). Sofern eine Maßnahme der Gemeinschaft, die der Umsetzung einer Resolution des VN-Sicherheitsrates dienen soll, wegen Verstoßes gegen höherrangiges Gemeinschaftsrecht von einem Gemeinschaftsgericht für unwirksam erklärt wird, wird deshalb der Vorrang der Resolution als solcher nicht in Frage gestellt. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 552 EuGH, Urt. v. 3.9.2008, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 Rossi _____________________________________________________________________________________ Die volle Justiziabilität sämtlichen Handelns der Gemeinschaft ist dem EuGH aber zu Recht wichtiger als die Völkerrechtskonformität, so dass der Preis, eventuell völkerrechtswidrig zu handeln, für die Einhaltung der Gemeinschaftsrechtsordnung allemal gerechtfertigt erscheint. Der EuGH führt hierzu aus: „Die Kontrolle der Gültigkeit einer jeden Handlung der Gemeinschaft im Hinblick auf die Grundrechte durch den Gerichtshof ist als Ausdruck einer Verfassungsgarantie in einer Rechtsgemeinschaft zu betrachten, einer Garantie, die sich aus dem EG-Vertrag als autonomem Rechtssystem ergibt und durch ein völkerrechtliches Abkommen nicht beeinträchtigt werden kann“ (Rn. 316). 3. Grundrechtliche Gewährleistungen Die nachfolgende materielle Überprüfung der Verordnung nimmt der EuGH vor allem am Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes sowie am Grundrecht der Eigentumsfreiheit vor. Was den aus dem Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes abgeleiteten Anspruch auf rechtliches Gehör betrifft, so geht der EuGH von einer Beschränkbarkeit zu Gunsten der Wirksamkeit der streitigen Maßnahmen sowie aus zwingenden Gründen der Sicherheit oder der Gestaltung der internationalen Beziehungen der Gemeinschaft und ihrer Mitgliedstaaten aus (Rn. 338 ff.). Im konkreten Fall allerdings sieht weder die streitige Verordnung noch der Gemeinsame Standpunkt, auf den die Verordnung verweist, ein Verfahren vor, in dem die Betroffenen über die Umstände und Gründe informiert werden, die zu ihrer Aufnahme in den Anhang geführt haben. Auch dem EuGH sind diese Gründe nicht vorgelegt worden, so dass der Gerichtshof konsequent feststellt, „dass er nicht in der Lage ist, die Rechtmäßigkeit der streitigen Verordnung zu prüfen, sowie sie die Rechtsmittelführer betrifft, woraus der Schluss zu ziehen ist, dass deren Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz auch aus diesem Grund [...] nicht gewahrt worden ist“ (Rn. 351). In Bezug auf das Eigentumsrecht geht der EuGH davon aus, dass das Einfrieren von Geldern angesichts der bedeutenden Ziele des Kampfes gegen die Bedrohungen, die durch terroristische Handlungen auf dem Weltfrieden und der internationalen Sicherheit lasten, für sich genommen nicht als unverhältnismäßig angesehen werden kann (Rn. 363). Im konkreten Fall des Herrn Kadi sei dessen Eigentumsgrundrecht allerdings „ungerechtfertigt beschränkt“, weil die streitige Verordnung erlassen wurde, „ohne ihm irgendeine Garantie zu geben, dass er sein Anliegen den zuständigen Stellen vortragen kann, und dies in einer Situation, in der die Beschränkung seiner Eigentumsrechte im Hinblick auf die umfassende Geltung und effektive Dauer der gegen ihn verhängten Restriktionen als erheblich betrachtet werden muss.“ (Rn. 369). Die Verletzung des materiellen Eigentumsgrundrechts stellt sich im konkreten Urteil somit als unmittelbare Folge der Verletzung des primär prozeduralen Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz dar. 4. Rechtsfolge: Personell beschränkte und aufschiebend befristete Nichtigkeit Beim Ausspruch der Rechtsfolge verlässt den EuGH der Mut, den er mit der grundsätzlichen Eröffnung der Prüfungsbefugnis auch gegenüber solchen Maßnahmen, die inhaltlichgleich Resolutionen des VN-Sicherheitsrates wiedergeben und „umsetzen“, bewiesen hat. Denn obwohl der EuGH jedenfalls in Bezug auf den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes erkannt hat, dass der Verstoß schon in der abstrakten Verordnung und nicht erst in ihrer konkreten Anwendung zu sehen ist, beschränkt er die Nichtigkeit der Verordnung auf die Rechtsmittelführer. Grundsätzlich dagegen wirken Nichtigkeitsurteile nach Art. 231 Abs. 1 EGV dagegen erga omnes.5 Außerdem hat der EuGH von seiner Befugnis nach Art. 231 Abs. 2 EGV Gebrauch gemacht, die Nichtigkeit der Verordnung (soweit sie die Rechtsmittelführer betrifft), aufschiebend zu befristen: Weil die Nichtigkeit allein auf Verfahrensfehlern beruht, so der ductus des EuGH, lasse sich nicht ausschließen, dass sich die Anordnungen gegenüber den Rechtsmittelführern in der Sache gleichwohl als gerechtfertigt erweisen können. Dem Rat steht deshalb nun ein Zeitraum von drei Monaten zur Verfügung, in dem er die festgestellten Verstöße heilen kann. Bis zum Ablauf dieser Frist bleibt die Verordnung auch gegenüber den Rechtsmittelführern gültig. Eine solch weitgehende Heilungsmöglichkeit erscheint unangemessen und wird dem Grundsatz auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz weder abstrakt noch im konkreten Fall gerecht. Eine Heilung innerhalb der Gerichtsverfahren vor dem EuG und dem EuGH mag sinnvollerweise in Betracht kommen; eine Heilungsmöglichkeit darüber hinaus schwächt die praktische Bedeutung des Verfahrensgrundrechts erheblich ab und führt vor allem nicht zur Rechtssicherheit und zum Rechtsfrieden. Denn die nachgetragenen Gründe können ihrerseits zu einem neuen Rechtsstreit führen. Schon deshalb setzt das Urteil des EuGH eben nur einen vorläufigen Schlussstrich unter diesen Rechtsstreit. Prof. Dr. Matthias Rossi, Augsburg 5 Statt vieler Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 4. Aufl. 2007, Art. 231 Rn. 2 m.w.N. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium– www.zjs-online.com 553 BGH, Urt. v. 10.6.2008 – 5 StR 38/08 Brüning _____________________________________________________________________________________ E nt s ch ei d ung s a n me r ku ng Beweisantragsrecht – Zum Konnexitätserfordernis bei fortgeschrittener Beweisaufnahme 1. Ein Beweisantrag i.S.d. § 244 Abs. 6 StPO liegt nur dann vor, wenn die Konnexität zwischen Beweisbehauptung und Beweismittel besteht (nicht-amtlicher Leitsatz). 2. Zum Erfordernis der Konnexität zwischen Beweisbehauptung und Beweismittel in einem Beweisantrag bei fortgeschrittener Beweisaufnahme, welche die Wahrnehmungssituation des benannten Zeugen eingeschlossen hat. 3. Bei fortgeschrittener Beweisaufnahme kann sich der Anspruch auf weitere Beweiserhebung nur auf eine Ausweitung oder Widerlegung, nicht aber auf eine bloße nicht weiter ergiebige Wiederholung des bisher erhobenen Beweisstoffs beziehen. Die Darlegung der Eignung des Begehrens für eine weitere Sachaufklärung hat auf der Grundlage des bisherigen Beweisergebnisses zu erfolgen und kann beim Zeugenbeweis die Darlegung der Wahrnehmungssituation des Zeugen erfordern (nichtamtlicher Leitsatz). StPO § 244 Abs. 3, Abs. 6 BGH, Urt. v. 10.6.2008 – 5 StR 38/08 (LG Berlin) I. Einleitung Die zum Abdruck in der amtlichen Sammlung vorgesehene Entscheidung behandelt ein Problem aus dem in den §§ 244 ff. StPO geregelten Beweisantragsrecht. Im Kern geht es um die Frage, welche Anforderungen an die sog. Konnexitätsvoraussetzungen zu stellen sind. Gem. § 244 Abs. 2 StPO hat das Gericht eine sog. Aufklärungspflicht. Das bedeutet, über alle Tatsachen, die für eine Entscheidung relevant sind, muss Beweis erhoben werden. Trotz der Aufklärungspflicht des Gerichts haben auch die übrigen Verfahrensbeteiligten – insbesondere die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung – das Recht, mit Anträgen und Anregungen Einfluss auf die Beweisaufnahme zu nehmen. Dabei ist der Beweisantrag vom sog. Beweisermittlungsantrag und der Beweisanregung zu unterscheiden. Diese Differenzierung ist deswegen wichtig, weil unterschiedliche Anforderungen an eine Ablehnung eines Beweisantrages einerseits bzw. eines Beweisermittlungsantrages oder einer Beweisanregung andererseits gestellt werden. Während der Vorsitzende über Beweisanregungen oder Beweisermittlungsanträge gem. § 238 Abs. 1 StPO formlos entscheiden kann, können Beweisanträge nur durch einen Gerichtsbeschluss abgelehnt werden und auch nur dann, wenn einer der in §§ 244 Abs. 3 bis 5, 245 StPO abschließend genannten Ablehnungsgründe vorliegt.1 Ein Beweisantrag ist das Verlangen des Antragstellers, über eine bestimmte, die Schuld und Rechtsfolge betreffende 1 Beulke, JuS 2006, 597 (599). Tatsachenbehauptung mit einem gesetzlich bestimmten Beweismittel Beweis zu erheben.2 Die Beweiserhebung darf nicht in das Ermessen des Gerichts gestellt werden. Im Gegensatz dazu wird mit der Beweisanregung dem Gericht lediglich nahegelegt, einen Beweis zu erheben. Die Beweisanregung unterscheidet sich also vom Beweisantrag ausschließlich in der Intensität des Begehrens. In zeitlicher Hinsicht können die Beweisanträge auch noch nach Abschluss der Beweisaufnahme (§ 258 StPO) bis zum Beginn der Urteilsverkündung gestellt werden. Aus diesem Grund darf ein Beweisantrag nach § 246 StPO nicht wegen verspäteten Vorbringens zurückgewiesen werden. Der Beweisantrag muss weiter eine bestimmte Beweisbehauptung enthalten. Dies verlangt zunächst, dass der Antrag eine Tatsachenbehauptung aufstellt, d.h. erkennbar – sei es nur im Wege der Auslegung – auf die Feststellung einer vergangenen oder gegenwärtigen Tatsache gerichtet ist. Ferner muss das Beweisthema bestimmt bezeichnet werden, d.h. es sind stets die konkreten Umstände oder Geschehnisse anzugeben, zu denen das Beweismittel etwas belegen kann. Darüber hinaus muss der Antragsteller die zu beweisende Tatsache als feststehend behaupten. Dies setzt nicht voraus, dass er von der Wahrheit der behaupteten Tatsache überzeugt ist. Ausreichend ist, wenn er diese Tatsache lediglich vermutet oder nur für möglich hält. Nicht genügend sind dagegen sog. Behauptungen ins Blaue, wobei der 3. Senat des BGH vor kurzem diesbezüglich systematische Bedenken erhoben hat, die Problematik allerdings nicht weiter vertiefte, weil sie nicht entscheidungserheblich war.3 Schließlich muss der Beweisantrag ein bestimmtes Beweismittel des Strengbeweisverfahrens bezeichnen. In Betracht kommen folglich nur Zeugen, Sachverständige, Urkunden und Augenschein. Im Unterschied zum Beweisantrag fehlt dem Beweisermittlungsantrag die Behauptung einer bestimmten Beweistatsache oder die Bezeichnung eines bestimmten Beweismittels. Ein Beweisermittlungsantrag liegt demnach vor, wenn der Antragsteller vom Gericht verlangt, in bestimmter Weise ermittelnd tätig zu werden. Der BGH hat in einer Leitentscheidung aus dem Jahr 1993 als weitere Voraussetzung für das Vorliegen eines Beweisantrages das Merkmal der Konnexität entwickelt. Danach liegt ein Beweisantrag nur dann vor, wenn ein Konnex zwischen Beweistatsache und Beweismittel erkennbar ist.4 Dies folge letztlich aus der Notwendigkeit, dem Gericht eine sinnvolle Prüfung der in §§ 244 f. StPO normierten Ableh2 Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, Kommentar, 51. Aufl. 2008, § 244 Rn. 18; vgl. zu den Voraussetzungen Beulke, JuS 2006, 597; Ellenbogen, JA 2007, 880; Beispiel: Zum Beweis der Tatsache, dass sich der Angeklagte am 5.7.2008 in der Wohnung, Jungiusstraße 6, 20355 Hamburg, von 14 bis 16 Uhr aufgehalten hat, beantrage ich die Vernehmung des Zeugen Max Mustermann. 3 BGH StV 2008, 9 (10). 4 BGHSt 40, 3 (6); (genau genommen hat der BGH in dieser Entscheidung nur negativ formuliert, unter welchen Umständen keine Konnexität vorliegt). _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 554 BGH, Urt. v. 10.6.2008 – 5 StR 38/08 Brüning _____________________________________________________________________________________ nungsgründe zu ermöglichen.5 Ist diese Voraussetzung nicht erfüllt, so liegt kein Beweisantrag, sondern lediglich ein formlos zu bescheidender Beweisermittlungsantrag vor. Dieses Kriterium der Konnexität ist im Schrifttum teilweise auf heftige Kritik gestoßen.6 Gleichwohl hat es sich in der Rechtsprechung durchgesetzt und auch in der Literatur viele Anhänger gefunden.7 In Fällen des Zeugenbeweises verlangt das Konnexitätserfordernis, dass das Beweisbegehren erkennen lassen muss, aus welchem Grund der Zeuge etwas zu dem Beweisthema bekunden können soll.8 Dabei soll es ausreichen, wenn der Konnex zwischen Beweismittel und Beweistatsache in Umrissen erkennbar ist.9 Insoweit wurde im Schrifttum darauf hingewiesen, dass sich in den meisten Fällen besondere Ausführungen zu einem solchen Zusammenhang erübrigten, weil schon der Beweisantrag diesen Zusammenhang ersehen ließe.10 Mit der hier zu besprechenden Entscheidung hat der 5. Senat des BGH die Anforderungen an das Konnexitätserfordernis beim Zeugenbeweis allerdings deutlich verschärft. II. Die Entscheidung 1. Sachverhalt Aufgrund eines Streits stach der Angeklagte A dem Nebenkläger mit einem Messer in den Bauch. Dabei hatte ihm der Mitangeklagte H zugerufen: „Steche ihn mit dem Messer.“ Die Verletzung des Nebenklägers machte eine operative Inspektion der Bauchhöhle erforderlich. Der Vater der Angeklagten, I, besuchte den Nebenkläger mehrfach im Krankenhaus und trug die Bitte vor, die Anzeige aufgrund des freundschaftlichen Verhältnisses beider Familien zurückzuziehen. Dieser Bitte hat der Nebenkläger jedoch nicht entsprochen. Bei seinen Besuchen wurde I teilweise von E und L begleitet. Das LG hat zunächst den I und sodann den E als Zeugen vernommen. Im Anschluss an die letzte Vernehmung am dritten Verhandlungstag haben die Verteidiger beantragt, den Zeugen L zu laden. Dieser solle bekunden, den Nebenkläger besucht zu haben, wo ihm dieser „aus freien Stücken gesagt hat, A und H haben ihm nicht die Stichverletzungen zugefügt“. Diesen Antrag hat das LG mit folgender Begründung abgelehnt: I habe den Nebenkläger sowohl in Gegenwart des Zeugen E als auch des Zeugen L besucht, wobei I die in dem Beweisantrag behauptete Äußerung des L nicht bestätigte. Es bestünden daher keine Anhaltspunkte dafür, ob, wann und unter welchen Umständen die in dem Beweisantrag behauptete Äußerung des Nebenklägers gegenüber dem Zeugen L 5 BGHSt 40, 3 (6); Widmaier, NStZ 1994, 248. Vgl. Herdegen, in: Pfeiffer (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz mit Einführungsgesetz, 5. Aufl. 2003, § 244 Rn. 48 m.w.N. 7 Meyer-Goßner (Fn. 2), § 244 Rn. 21; Senge, NStZ 2002, 225 (231). 8 BGH NStZ 2000, 437 (438). 9 Widmaier, NStZ 1994, 248 m.w.N. in Fn. 4. 10 Gollwitzer, in: Rieß (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 25. Aufl. 1998, § 244 Rn. 107. 6 erfolgt ist. Daher handele es sich um ein Beweisverlangen ins Blaue hinein, dem nicht nachzukommen sei. Die Antragsteller hatten zuvor die Gelegenheit zur Ergänzung des Beweisantrages nicht wahrgenommen. 2. Rechtliche Würdigung Der BGH stimmt der Vorinstanz zu und meint, die Ablehnung des Beweisantrages enthalte keine Rechtsfehler. Er nimmt an, dass es an einer bestimmten Beweisbehauptung fehlt, weil keine ausreichende Konnexität dargelegt worden sei. Der BGH konkretisiert seine bisherige Rechtsprechung zur Konnexität dahingehend, dass sich der Anspruch auf eine weitere Beweiserhebung bei fortgeschrittener Beweisaufnahme nur auf eine Ausweitung oder Widerlegung des bisher erhobenen Beweisstoffs beziehen kann, nicht aber auf eine bloße Wiederholung. Die Darlegung der Eignung des Begehrens für die weitere Sachaufklärung müsse auf der Grundlage des bisherigen Beweisergebnisses erfolgen. Der Beweisantragsteller begebe sich dabei in eine Art Dialog über die Eignung und die Notwendigkeit der erstrebten Beweiserhebung. In Abhängigkeit von der bei Antragstellung vorgefundenen und darin einzubeziehenden Beweislage müsse die Wahrnehmungssituation des benannten Zeugen in einem Beweisantrag konkret genug bezeichnet werden. War eine von mehreren möglichen Wahrnehmungssituationen bereits Gegenstand der Beweisaufnahme, so reiche die abstrakte Beschreibung der Wahrnehmungssituation – Krankenhausbesuch – nicht aus. Die Tatsache, dass die Zeugen I und E die behauptete Bekundung nicht bestätigten, obgleich sie bei einem Besuch des L anwesend waren, erfordere, dass der Antragsteller die konkrete Wahrnehmungssituation beschreibe, etwa ob die behauptete Äußerung während eines anderen Besuches erfolgte oder während die anderen Zeugen das Krankenzimmer verließen. III. Bewertung Mit diesem Urteil setzt der BGH seine Rechtsprechung zum Konnexitätserfordernis fort und verschärft die Anforderungen an einen Beweisantrag bei fortgeschrittener Beweisaufnahme. Während es früher ausreichte, dass der Konnex zwischen Beweismittel und Beweistatsache in Umrissen erkennbar ist, verlangt der BGH nunmehr die Darlegung der konkreten Wahrnehmungssituation unter Berücksichtigung des bisherigen Beweisergebnisses. Dieser Tendenz ist mit Skepsis zu begegnen. Auch wenn man auf den ersten Blick mit der Entscheidung sympathisiert, weil nicht recht nachzuvollziehen ist, aus welchem Grund die Verteidigung den Beweisantrag trotz Aufforderung nicht konkretisiert hat, so vermag die Begründung des BGH nicht zu überzeugen. Zum einen kollidiert die Forderung des BGH, dass bei fortgeschrittener Beweisaufnahme die Wahrnehmungssituation des Zeugen geschildert werden muss, mit dem in § 246 Abs. 1 StPO normierten Rechtsgedanken. Zum anderen bewirkt das Urteil letztlich eine Umkehr der Begründungspflicht und verabschiedet sich von der Bindungswirkung der in § 244 Abs. 3 bis 5 StPO normierten gesetzlichen Ablehnungsgründe. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 555 BGH, Urt. v. 10.6.2008 – 5 StR 38/08 Brüning _____________________________________________________________________________________ Nach § 246 StPO darf der Beweisantrag nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass er zu spät gestellt wurde. Das bedeutet, dass der Zeitpunkt der Antragstellung grundsätzlich ohne Relevanz ist. Denn eine Präklusionswirkung verträgt sich nicht mit dem Grundsatz einer erschöpfenden Sachverhaltsaufklärung. Dieser Rechtsgedanke wird aber unterlaufen, wenn an das Vorliegen eines Beweisantrages bei fortgeschrittener Beweisaufnahme – also zu einem späteren Zeitpunkt – strengere Voraussetzungen gestellt werden. Im Übrigen vernachlässigt eine Steigerung der Voraussetzungen der Konnexität bei fortschreitender Beweisaufnahme das Wesen der Hauptverhandlung als eines sich lebendig entwickelnden Prozessgeschehens, das sich der exakten Vorausplanung entziehen muss. „Eine Hauptverhandlung, die in einen derartigen Planungspanzer eingeengt ist, verliert ihren Gehalt als konzentriertes und lebendiges Bemühen um die Wahrheitsfindung.“11 Ferner verlagert das Urteil die Darlegungslast im Beweisantragsrecht. Ein Beweisantrag darf nur aus den in § 244 Abs. 3 bis 5 StPO abschließend normierten Gründen abgelehnt werden. Zwar hat der BGH angedeutet, dass es außerordentliche Fallkonstellationen geben mag, in denen sich die Stellung eines Beweisantrages als grober Missbrauch der verfahrensrechtlichen Befugnis darstellt, mit der Folge, dass der Beweisantrag jenseits der gesetzlichen Ablehnungsgründe als unzulässig zurückgewiesen werden kann.12 Auf diese Rechtsmissbräuchlichkeit hat sich der BGH im vorliegenden Fall aber gar nicht gestützt, sondern dem Antrag vielmehr die Qualität eines Beweisantrages abgesprochen. Dies hat zur Folge, dass es auf das Vorliegen eines Ablehnungsgrundes nicht mehr ankommt, da über einen Beweisermittlungsantrag formlos entschieden werden kann. Indem die Rechtsprechung das Konnexitätserfordernis erfand, hat sie also eine Möglichkeit geschaffen, Anträge ablehnen zu können, ohne das Vorliegen eines Ablehnungsgrundes prüfen zu müssen. Unabhängig davon, ob man die Kritik an dem Konnexitätserfordernis teilt, dürfen jedoch an das Vorliegen dieser ungeschriebenen Voraussetzung keine überspitzten Anforderungen gestellt werden. Insbesondere darf das Konnexitätserfordernis nicht dazu führen, dass die hohen Anforderungen, die das Gesetz an die Ablehnung eines Beweisantrages stellt, unterlaufen werden. Dies gilt vor allem für den Ablehnungsgrund der Prozessverschleppung und der Ungeeignetheit. Will der Antragsteller vermeiden, dass das Gericht seinen Antrag mangels Konnexität zum Beweisermittlungsantrag herabstuft, so muss er letztlich das Nichtvorliegen des Ablehnungsgrundes der Ungeeignetheit vortragen. War bereits eine (von mehreren) der in Betracht kommenden Wahrnehmungssituationen Gegenstand der Beweisaufnahme, so verlangt der BGH, dass der Antragsteller die Eignung des Begehrens für die weitere Sachaufklärung darlegen muss. Damit bürdet der BGH dem Antragsteller die Darlegungslast für das Vorliegen eines Beweisantrages auf. Diese gesteigerte Darlegungspflicht lässt sich im Grunde nur 11 12 Widmaier, NStZ 1994, 414 (417). BGH NStZ 1986, 371. damit erklären, dass das Gericht die Beweisbehauptung eigentlich aufgrund der vorangegangenen Beweisaufnahme schon als widerlegt ansieht und den später beantragten Beweis als „wertlos brandmarkt“13. Dies aber lässt sich nicht mit dem Verbot der Beweisantizipation in Einklang bringen, das eine vorweggenommene Beweiswürdigung untersagt.14 IV. Fazit Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der BGH mit der vorliegenden Entscheidung erneut eine Möglichkeit sucht und findet, um den strengen Anforderungen der gesetzlichen Beweisablehnungsgründe auszuweichen. Vor dem Hintergrund, dass die Befugnis, Beweisanträge zu stellen, Ausfluss des grundgesetzlich geschützten Anspruchs auf rechtliches Gehör ist, bestehen gegenüber dieser Entwicklung der Rechtsprechung erhebliche Vorbehalte. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass der Beschuldigte im Ermittlungsverfahren keine Möglichkeit hat, auf den Gang der Ermittlungen durch Beweisanträge Einfluss zu nehmen.15 Berücksichtigt man die prägende Kraft des Ermittlungsverfahrens für den Ausgang des Hauptverfahrens, so besteht ein starkes Interesse der Verteidigung, jedenfalls in der Hauptverhandlung durch Beweisanträge Einfluss auf die Wahrheitserforschung nehmen zu können. Dieses Recht darf nicht durch gesetzlich nicht festgeschriebene Einschränkungen ausgehöhlt werden. Wiss. Assistentin Dr. Janique Brüning, Hamburg/Greifswald 13 So Eidam, demnächst in JR 2008 (im Erscheinen). Ein Verstoß gegen das Verbot der Beweisantizipation sieht auch Eidam (Fn. 13) und tendenziell auch Eisenberg, in ZIS 9/2008 (im Erscheinen). 15 Vgl. auch Eisenberg (Fn. 14). 14 _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 556 Jakob, Einkommensteuer Meininghaus _____________________________________________________________________________________ B uc hre ze ns io n Wolfgang Jakob, Einkommensteuer, 4. Aufl., Verlag C.H. Beck (Studium und Praxis), München 2008, 512 S., br., € 29.In nunmehr 4. Auflage stellt sich Jakob dem Kampf mit der Hydra des Deutschen Einkommensteuerrechts. Seit der letzten Auflage sind rund 5 Jahre vergangen und zwischenzeitlich hat sich – wie der Verfasser in seinem Vorwort (S. V) trefflich anmerkt – eine wahre „Neuerungsflut“ in Hinblick auf Gesetzgebung und Rechtsprechungsänderungen über das Einkommensteuergesetz gebreitet. Dem ist es wohl geschuldet, dass das Buch deutlich im Umfang (rund 100 S.) gewachsen ist und – nicht immer zur Erhöhung der Lesbarkeit – weitere Ausführungen in den „Kleindruck“ bzw. die Fußnoten verbannt wurden. „Einkommensteuer“ erscheint gewohnt in der Reihe „Studium und Praxis“. Jakob ist schon insofern ein singuläres Werk gelungen, als dass er tatsächlich Wort hält und die Bedürfnisse des Studierenden, der sich erstmals an diese komplexe Materie heranwagt, gleichermaßen befriedigt wie die des schnell ratsuchenden Praktikers. Der Spagat gelingt vor allem wegen der ungemein systematischen Herangehensweise, die dem Leser nach einer jeweils sorgfältigen Aufarbeitung der einkommensteuerrechtlichen Grundfragen auch schwierige Problemstellungen rasch näher bringt. Das alles geschieht mit dem unverkennbar frischen Schreibstil Jakobs. Seine Ausführungen sind durchgängig mit anschaulichen Beispielen durchsetzt. Besonders wichtige Fallkonstellationen oder einprägenswerte Aussagen sind zudem in Kästen hervorgehoben. Nach einer historischen und verfassungsrechtlichen Standortbestimmung (§ 1) sowie einer Schilderung des „Bausystems des Einkommensteuergesetzes“ (§ 2), die von einer sehr eingängigen Darstellung der Einkünftequalifikation dominiert wird, erreicht das Buch seine beiden Hauptkapitel: Der Analyse der Überschusseinkünfte (§ 3) folgt die der Gewinneinkünfte (§ 4). Jakob hat bei den Überschusseinkünften aus Kapitalvermögen (Rn. 376 ff.) ebenso wie bei der Darstellung der Körperschaft im Einkommensteuerrecht (§ 6 C, Rn. 1138 ff.) und anderen relevanten Stellen das Unternehmenssteuerreformgesetz 2008 bereits vollständig berücksichtigt. Sorgfältig werden hier die tief greifenden Änderungen mit der bisherigen Rechtslage verglichen. Diese Stellen sind besonders in Zukunft für Steuerrechtsnovizen interessant, die sich, ohne ein großes Quantum an Lesezeit investieren zu müssen, einen raschen Überblick über die alte Rechtslage verschaffen wollen. Scheinbar stiefmütterlich im Vergleich zu anderen Büchern zum Einkommensteuerrecht wird der doch so relevante § 4 Abs. 3-Rechner (Rn. 930 ff.) knapp am Ende des Kapitels Gewinneinkünfte (§ 4) behandelt. Dieses vermeintliche Paradoxon löst Jakob gleichermaßen bestimmt aber auch richtig – „nur wer § 4 Abs. 1 versteht, versteht auch § 4 Abs. 3“ (Rn. 930). Entsprechend engagiert geht der Verfasser die Darstellung der Gewinnermittlung nach §§ 4 Abs. 1, 5 EStG an. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Der von Jakob in seine Ausführungen integrierte Kurs zur Buchführung und Bilan- zierung ist didaktisch toll gelungen. Lässt man sich nur auf seine Ausführungen ein, ist diese Technik – wie von ihm versprochen (Rn. 624) – tatsächlich viel leichter zu erlernen als man zunächst glaubt. Entsprechend der einkommensteuerrechtlichen Prüfungsreihenfolge schließt sich ein weiteres Kapitel (§ 5) zur Erfassung der subjektiven Leistungsfähigkeit an. Abgerundet wird das Werk durch die bereits erwähnte Darstellung der Gesellschaften im Einkommensteuerrecht (§ 6) und eine Anleitung zur Handhabung internationaler Sachverhalte (§ 7). Schlussendlich kann nur ein uneingeschränkt positives Fazit gezogen werden. Das Buch ist vorzüglich zur Vorbereitung auf den Schwerpunktbereich Steuerrecht geeignet. Jakob gibt mit großer Sachkunde und Gelassenheit bereitwillig zu allen examensrelevanten Problemen des Einkommensteuerrechts Auskunft. Auch dem Kreis derer, die nicht täglich mit diesem Rechtsgebiet konfrontiert sind, sich aber dennoch einen gewisses steuerrechtliches Grundwissen aneignen wollen, ist dieses Werk wärmstens zu empfehlen. Ref. iur. Dr. Florian Meininghaus, Diplom-Jurist (Univ.), Regensburg _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 557 Richard H. Fallon, Jr., The Dynamic Constitution – An Introduction to American Constitutional Law Lange _____________________________________________________________________________________ B uc hre ze ns io n Richard H. Fallon, Jr., The Dynamic Constitution – An Introduction to American Constitutional Law, 1. Aufl., Cambidge University Press, Cambridge 2005, 358 S., br., ca. € 22.Auch die Rechtswissenschaft kommt um einen Blick über den nationalen Tellerrand schon längst nicht mehr herum. Dabei rückt nicht nur zwangsläufig das Völker- und vor allem das Europarecht, welche die deutsche Rechtsordnung in erheblichem Maße mit prägen, in das Blickfeld. Auch ein Seitenblick auf die nationale Rechtsordnung anderer Staaten ist lohnenswert und dementsprechend auch schon in der juristischen Ausbildung erwünscht und gefordert.1 Die Rechtsordnung der Vereinigten Staaten von Amerika bietet sich dabei als Vergleichsobjekt an, da die USA zwar ebenso wie die Bundesrepublik unzweifelhaft zur Gruppe „westlicher“, freiheitlich verfasster Demokratien gehören, sich die kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Vorzeichen aber mitunter deutlich von denen Deutschlands unterscheiden. Richard H. Fallon, Jr., Professor an der Harvard Law School, hat ein Buch vorgelegt, das „intelligenten Lesern“ – so das Vorwort –, die (noch) keine Juristen sind, eine Einführung in das amerikanische Verfassungsrecht bieten soll. Aus diesem Grund ist das Buch vergleichsweise knapp gehalten und in einem nicht-juristischen Stil verfasst. Damit ist das Programm des Buchs umrissen. Es ist klargestellt, dass Fallons Buch keine umfassende Abhandlung sein will, sondern sich bewusst darauf beschränkt, eine Einführung zu geben. Aus dieser Zielsetzung ergibt sich, dass etliche Fragestellungen gänzlich ausgeklammert werden müssen oder lediglich am Rande erwähnt sind. So finden sich etwa keine Ausführungen zum Zweiten Verfassungszusatz und dem damit verbundenen Recht auf Waffenbesitz oder zur Todesstrafe. Derartige Auslassungen sind jedoch keine Schwäche des Buchs. Im Gegenteil, es gelingt Fallon durchgehend, seinem Programm treu zu bleiben und eine prägnante, auf die wesentlichen Strukturen beschränkte Einführung zu geben. Das Buch beginnt mit einem Prolog, in welchem vor dem Hintergrund der Entscheidung des Supreme Court zu den Nachzählungen in Florida anlässlich der Präsidentenwahl im Jahr 20002 einige erste Thesen zum amerikanischen Verfassungsrecht aufgestellt werden. In der folgenden Einführung wird in der jeweils gebotenen Kürze die Entstehungsgeschichte der amerikanischen Verfassung sowie ihr Aufbau, die grundlegende Entscheidung Marbury v. Madison3, in welcher der Supreme Court erstmals für sich ein Normenkontrollrecht in Anspruch nahm, sowie die Geschichte der Rechtsprechung des Supreme 1 So etwa in § 7 Abs. 1 Nr. 3 NWJAG, der für die Zulassung zur staatlichen Pflichtfachprüfung die erfolgreiche Teilnahme an einer fremdsprachigen rechtswissenschaftlichen Veranstaltung oder einem rechtswissenschaftlich ausgerichteten Sprachkurs zur Voraussetzung macht. Auch bieten schon heute etliche Fakultäten besondere fremdsprachliche Programme an. 2 Bush v. Gore, 531 U.S. 98 (2000). 3 5 U.S. 137 (1803). Court beschrieben und zudem erstmals die Frage angerissen, wie denn die Verfassung auszulegen ist und welche Rolle dabei „politische“ Erwägungen spielen (dürfen). Im in drei Abschnitte untergliederten Hauptteil widmet sich Fallon zunächst ausgewählten Grundrechten (Redefreiheit, Religionsfreiheit, Schutz ökonomischer Freiheiten, prozedurale Rechte, „Fundamental Rights“ und „Equal Protection“), beleuchtet anschließend die drei Staatsgewalten und setzt sich daraufhin mit Einzelfragen auseinander, die sich seiner Ansicht nach nicht eindeutig einem der vorangegangenen Abschnitte zuordnen lassen, wie etwa dem Wahlrecht, der Verfassung in Zeiten von Krieg und Notstand oder strukturellen Begrenzungen der Rechte der Bundesstaaten. Das Buch schließt mit einem Abschnitt, in welchem er die vorangegangenen Kapitel in Thesenform zusammenfasst. Im Anhang ist zudem die Verfassung selbst abgedruckt. Zu Fallons oben wiedergegebenem Programm gehört es, die verfassungsrechtliche Praxis darzustellen. Dementsprechend wird nicht der nackte Verfassungstext analysiert, sondern anhand seiner Entstehungsgeschichte und Auslegung durch den Supreme Court erörtert. Bei dabei auftretenden Streitfragen bezieht der Autor zumeist nicht selbst Stellung, sondern zeigt lediglich die dazugehörigen Argumente und Fragestellungen auf. Auch dies gehört zum Programm des Autors, der davon ausgeht, dass es im amerikanischen Verfassungsrecht weit weniger einfache Wahrheiten gibt als gemeinhin angenommen wird und der das Verfassungsrecht dementsprechend als argumentatives Fach begreift und den Leser folgerichtig durch seine neutrale Darstellung zu eigenständiger Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Argumenten und Fragen anregen will. So erklärt es sich auch, dass sich im Abschnitt über die drei Gewalten keine in die technischen Einzelheiten gehenden Ausführungen zu Wahl, Zusammensetzung und Arbeitsweise des Kongresses, der Administration oder der Bundesgerichtsbarkeit finden. Auch hier wendet sich Fallon unmittelbar strukturelleren Fragen zu, etwa den Gesetzgebungskompetenzen des Kongresses unter der „Commerce Clause“ oder den Grundlagen und der Reichweite richterlicher Entscheidungsgewalt. Ebenso stehen im grundrechtlichen Teil die schwierigen und häufig erbittert umstrittenen Fragestellungen im Vordergrund, etwa bei der Frage nach der Reichweite von Rede- oder Religionsfreiheit, den Rechten von Afroamerikanern oder Homosexuellen oder der Anerkennung „fundamentaler Rechte“ wie beispielsweise dem auf Abtreibung. Schon der Titel des Buchs lässt allerdings erahnen, dass Fallon in einer Frage doch von seiner neutralen Darstellungsweise abrückt und Farbe bekennt, nämlich in der umstrittenen Frage, ob bei der Auslegung der Verfassung von einem originalistischen Ansatz auszugehen ist, der allein den Wortlaut der Verfassung und dessen ursprüngliche, ihm von den Verfassungsvätern beigemessene, Bedeutung als maßgeblich ansieht4, oder ob die Auslegung dynamisch sein und auch dem im Verlauf der nunmehr über 200 Jahre währenden Geschichte der US-Verfassung aufgetretenen Wandel der 4 Die derzeit wohl prominentesten Vertreter dieser Auffassung sind die Supreme Court-Richter Antonin Scalia und Clarence Thomas. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 558 Richard H. Fallon, Jr., The Dynamic Constitution – An Introduction to American Constitutional Law Lange _____________________________________________________________________________________ Verhältnisse Rechnung tragen sollte. Fallon bekennt sich zur pragmatischen Auffassung und verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Rolle der durch den Supreme Court geschaffenen Präjudizien. Das Buch ist (wie schon der Titel verrät) auf Englisch geschrieben. Allerdings wird Fallon auch hier seiner Zielsetzung, sich einer verständlichen Sprache zu bedienen, gerecht und schreibt durchgängig in einem eingängigen, narrativen Stil, dem man mit einem belastbaren Schulenglisch ohne weiteres zu folgen vermag. Sollten juristische Fachbegriffe verwendet werden, werden diese erklärt. Das Werk bietet also einen ebenso lesenswerten wie lesbaren, weil gut geschriebenen und auch vom Umfang her leserfreundlichen, Einblick in das amerikanische Verfassungsrecht. Der Reiz der Lektüre liegt für den im deutschen Staatsrecht vorgebildeten Leser zusätzlich darin, dass er viele Fragestellungen des deutschen Staatsrechts wieder erkennt und sie von einer anderen Seite beleuchtet sieht. Das Buch ist, wie erwähnt, bewusst knapp gehalten. Ansprüchen an ein umfassendes Lehrbuch genügt es damit nicht – das will es aber auch gar nicht. Seiner Zielsetzung, eine Einführung zu bieten, wird Fallon jedoch vollends gerecht, denn gerade aufgrund der Beschränkung auf die Grundstrukturen und des damit verbundenen Ver-zichts auf verästelte Detaildarstellungen treten diese umso deutlicher hervor. Tammo Lange, Münster _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 559 Rengier, Strafrecht – Besonderer Teil I, II Kische _____________________________________________________________________________________ B uc hre ze ns io n Rudolf Rengier, Strafrecht – Besonderer Teil I: Vermögensdelikte. Verlag C.H. Beck, München 2008 (Grundrisse des Rechts), 409 S., kart., € 17,90.Rudolf Rengier, Strafrecht – Besonderer Teil II: Delikte gegen die Person und die Allgemeinheit. Verlag C.H. Beck, München 2008 (Grundrisse des Rechts), 522 S., kart., € 19,90.An der Vielzahl und auch Vielfalt strafrechtlicher (Kurz-) Lehrbücher mangelt es sicher nicht. Dass sich unter diesen Werken bereits eine Lehrbuchreihe in der 10. bzw. 9. Auflage befindet, verdient besondere Beachtung. Wenngleich in der Verlagswerbung als Zielgruppe immer noch ausdrücklich Studenten und Referendare angesprochen sind, dürften die Lehrbücher darüber hinaus auch für im strafrechtlichen Bereich tätige Praktiker – Hilfe suchend nach dem Motto: „Wie war das noch gleich?“ – als Nachschlagewerk durchaus von Nutzen sein. Über den Inhalt der beiden Lehrbücher wäre eine ganze Menge anzumerken, was den hier gegebenen Umfang der Rezension jedoch deutlich sprengen würde. Die gegenüber den Vorauflagen aus 2007 zeitnahen Neuerscheinungen waren unter anderem wegen des 41. StrÄndG vom 7.8.2007 erforderlich. Entsprechend konnte zugleich neuere ausbildungsrelevante, aber eben auch praxisbedeutsame Rechtsprechung und Literatur bis Dezember 2007 berücksichtigt und an verschiedenen Stellen eingearbeitet werden. Die Lehrbücher vermitteln daher höchste Aktualität an der höchstrichterlich geprägten Ge-setzeslage im materiellen Strafrecht und dem Meinungsbild im strafrechtswissenschaftlichen Schrifttum. Die nachfolgenden Ausführungen bemühen sich vordergründig um eine Vor-stellung der wesentlichen Grundkonzeption der beiden Werke, um dem einen oder anderen interessierten Leser die „Qual der Wahl“ unter den angebotenen Lehrbüchern zum Besonderen Teil des Strafgesetzbuches etwas abzunehmen. Das Konzept von Rengier ist bereits aus den Vorworten seiner Lehrbücher zu entnehmen. Sein Anliegen ist es nämlich, dem Leser eine didaktisch orientierte Mischung zwischen systematischer und fallorientierter Darstellung „an die Hand zu geben“. Ersteres drückt sich schon dadurch aus, dass die jeweiligen Lehrbücher weitestgehend dem gesetzlichen Vorbild nachgestellt sind und dem Leser in der Tat ein schnelles Nachschlagen ermöglichen. Inhaltlich liegt der Schwerpunkt verständlicherweise auf denjenigen Delikten, die erfahrungsgemäß im Vordergrund sowohl der strafrechtlichen Ausbildung als auch der Rechtsanwendung liegen. Daneben ist es aber die fallmethodische Vorgehensweise von Rengier, die die Lehrbücher zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Vor- und/oder Nachbereitung einer strafrechtlich bedeutsamen Problematik macht. Allein schon durch die jedem Themengebiet bzw. einzelnen Straftatbeständen vorangestellten Fälle sollen gleichermaßen Studienanfänger wie auch Fortgeschrittene dazu ermuntert sein, vorab ihren eigenen Wissensstand (oder auch ihr Rechtsgefühl) zu überprüfen. Dies hat aus Sicht des Rezensenten zugleich den vorteilhaften Effekt, dass die sich anschließenden rechtlichen Ausführungen auf den Leser nicht nur abstrakt, sondern vielmehr lebendiger und durch den auch unbewussten Rückgriff auf die „Fälle im Hinterkopf“ anschaulicher wirken. Wer dies als Leser ernst nimmt, dem ist der Weg zu einem künftig besseren Strafrechtsverständnis bestens geebnet. Ein solches wächst nun einmal zuallererst durch die wiederholte und problemorientierte Auseinandersetzung des Stoffes anhand tatsächlicher Lebenssachverhalte. Im Einzelnen gliedert sich ein Themengebiet bzw. ein vorzustellender Straftatbestand nach einem stets wiederkehrenden und gleichfalls einprägsamen Muster: Nach den Grundlagen und Aufbaufragen mit einem empfohlenen Aufbauschema für das von Studierenden und Referendaren geforderte Gutachten mit vereinzelten wertvollen (Anschluss-)Hinweisen wird regelmäßig der entsprechende Straftatbestand mit den Besonderheiten und einer ausgiebigen Diskussion von Problemfällen – unter umfänglicher Einbeziehung und Darsteerllung der unterschiedlichen Meinungen von Rechtsprechung und Literatur – erörtert. Besonders vorteilhaft sind hierbei vielfache Verweisungen auf speziell ausgewählte Fallbesprechungen in den Ausbildungszeitschriften JA, Jura und JuS, deren Lektüre – um es gleich vorwegzunehmen – neben der dieser Lehrbücher anzuraten ist. Abschließend werden noch Besonderheiten bei Versuch, Täterschaft und Teilnahme sowie Konkurrenzfragen zu anderen Tatbeständen benannt sowie ausgewählte „Empfehlungen zur vertiefenden Lektüre“ gegeben. Der Nutzen der Lehrbücher lässt sich gar nicht genug würdigen. Jedes Kapitel bietet dem gleichsam unerfahrenen wie auch erfahrenen Leser – insbesondere durch den leicht verständlichen Sprachstil – einen auf die wesentlichen Probleme komprimierten Überblick über den jeweiligen Straftatbestand. Gerade die Studierenden in den Anfangssemestern dürfen aber keinesfalls erwarten, die bevorstehende Zwischenprüfung oder Fortgeschrittenenübung allein mit diesen Lehrbüchern bewältigen zu können. So sind es die von Rengier unter didaktischen Gesichtspunkten mitgegebenen Empfehlungen zur vertiefenden Lektüre, die für das weitere Studium (und gerade auch für die Referendarzeit, in der Kenntnisse des materiellen Strafrechts einfach vorausgesetzt sind) befolgt werden sollten. Dies macht die Lehrbücher – so aus Sicht des Rezensenten aus eigener Erfahrung – insbesondere für fortgeschrittene Studierende und Referendare, die sich auf die jeweiligen Examina allein oder in privater Arbeitsgemeinschaft vorbereiten wollen, besonders wertvoll. Auch Praktiker sind hier nicht zu vergessen, denen durch die Werke von Rengier ein Kompendium an Basiswissen zur Seite steht. Sie können daher als ideale Ergänzung zur herkömmlichen Kommentarliteratur herangezogen werden. Die Lehrbücher von Rengier haben in den vergangenen Jahren in unzähligen Rezensionen etliche Lobeshymnen erfahren, denen ich mich nur anschließen kann und möchte. Es fällt hierbei schwer, neues Lob hinzuzufügen und hierdurch neue Begeisterung zu erwecken. In der Juristenausbildung entscheidet bekanntlich der Übungs- bzw. Examensfall über das Bestehen und Weiterkommen. Den Studierenden und Referendaren sei versprochen, dass sie mit dem Rengier dafür bestens gerüstet sind. Allen Lesern können die beiden _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 560 Rengier, Strafrecht – Besonderer Teil I, II Kische _____________________________________________________________________________________ „Lehrbücher“ sehr wohl als profunde und systematisch aufgearbeitete Nachschlagewerke zum materiellen Strafrecht dienen, die eine überzeugende Zusammenstellung der nahezu in jedem Straftatbestand vorkommenden Problemkreise geben und damit auf erfreuliche Art und Weise zum vertieften Selbststudium ermuntern. Wiss. Mitarbeiter Sascha Kische, LL.M., Osnabrück _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 561 Russack, Die Strafrechtliche Assessorklausur Weber _____________________________________________________________________________________ B uc hre ze ns io n Marc Russack, Die Revision in der strafrechtlichen Assessorklausur, 2. Aufl. 2008, C.F. Müller Verlag, Heidelberg, 298 S., br., € 19.Die Suche des Rechtsreferendars nach Büchern ist stets auf „examensrelevante Literatur“ gerichtet. Weil in allen Bundesländern auch revisionsrechtliche Themen im Bereich der strafrechtlichen Klausuren und Aktenvorträge gestellt werden, ist es für jeden Rechtskandidaten unausweichlich sich mit dem Revisionsrecht auseinander zu setzen. Beinahe wie ein Privatrepetitor hat Marc Russack, Richter am OLG Düsseldorf, die revisionsrechtlichen Themen von etwa 65 Nordrheinwestfälischen Examensklausuren ausgewertet und stellt seine Ergebnisse als langjähriger Referendar-Arbeitsgemeinschaftsleiter den Prüflingen in seinem Werk zur Verfügung. Seit nunmehr vier Auflagen erhalten Referendare die Möglichkeit, auf die Erkenntnisse Russacks zurückzugreifen: Die Revision in der strafrechtlichen Assessorklausur ist nunmehr in neu bearbeiteter und aktualisierter Auflage erschienen. In seinem unermüdlichen Streben nach Aktualität berücksichtigt der Autor zuletzt auch diejenigen Klausurinhalte, die seit dem Erscheinen der ersten Ausgabe von den Prüfungsämtern gestellt wurden. Damit seien bis Anfang 2006 alle Strafrechtsklausuren der letzten Jahre in die Darstellung des Buchs eingeflossen. Wie man erfahren konnte, stand einer noch größeren Aktualität einzig der Umstand entgegen, dass diese Klausuren vom Prüfungsamt (LJPA) noch nicht zur Veröffentlichung „freigegeben“ sind. Es scheint hingegen für den Autor schon jetzt festzustehen: Die Analyse-Ergebnisse freigegebener Klausuren werden in die nächste Ausgabe einfließen. Wer Russack kennt, der weiß: Der Mann hält Wort. Das Konzept, auf dem das Buch beruht, überzeugt. Es fußt im Wesentlichen auf zwei Überlegungen: Zum einen, dass dem Prüfling in der Klausursituation nur zwei Kommentare zur Verfügung stehen; zum anderen, dass sich viele Problemfragen wie immerwährende Mosaiksteine in den Klausuren wiederfinden. So unterscheidet sich der Aufbau maßgeblich von vielen anderen Lehrmaterialien. Indem Russack bereits von Prüfungsämtern gestellte Klausuren- und Aktenvorträge auswertet, gelingt es ihm vortrefflich, die maßgeblichen Themenschwerpunkte zu problematisieren und für eine echte Examensrelevanz zu sorgen. Russack gewährt dem Leser/Nutzer sozusagen „Einblicke in die Gewürzküche der Prüfungsämter“. Dort werden in klassischer Manier einschlägige und nutzbare Revisionsfälle mit dem Rückgriff auf bewährte Klausurprobleme gespickt, so dass im Ergebnis ein scharf feuriges Problempotpourri entsteht. Immer mit dem Fingerzeig auf die Taktik der Extraktion und den richtigen Umgang mit gefundenen Problemen, erläutert der Verf. die so auftretenden juristischen Fragestellungen und zeigt Lösungsmöglichkeiten auf, die im Ergebnis zum Klausurerfolg führen müssen. Dabei wird er nicht müde, an vielen Stellen auf die einschlägigen Kommentarstellen von Meyer-Goßner und Fischer zu verweisen. Und das ist auch gut so: Denn einzig diese beiden Kommentare liegen in der Prüfungssituation vor. Wer den richtigen Umgang mit den Kommentaren pflegt, übt nach Russack die Klausur-Probleme zeitnah und zur Zufriedenheit der Prüfer zu lösen. Daher erscheinen die Querverweise doppelt konstruktiv: Sie erleichtern die Einarbeitung in die Lösungen und stärken den Umgang mit den Kommentaren, die inhaltlich offenbar – jedenfalls für die Assessorprüfung und die Korrekturanweisungen – das non plus ultra aus der Sicht der Landesjustizprüfungsämter darstellen. Auflockernd wirken die zuweilen augenzwinkernden Kommentare des Autors: So belegt er beispielsweise in Rn 190a, wie sich das LJPA anstrengte, um eine Kommentierung aus Meyer-Goßners Rn. 15 zu § 275 StPO in den Klausurzusammenhang „einzupflegen“. Im Sachverhalt lief die FünfWochen-Frist am 12. Januar ab. Die Fristproblematik wurde folgendermaßen in den Sachverhalt integriert: Der Berichterstatter erlitt auf dem Weg vom Gericht nach Hause einen Fahrradunfall mit Beinbruch. Ergänzend habe es in einem dem Klausurtext beigefügten Schreiben des Gerichts an die Verteidigerin geheißen: „Das Urteil sei zum Unfallzeitpunkt bereits begonnen, aber noch nicht fertig gestellt gewesen. Unter normalen Umständen wäre die Fertigstellung noch am Abend des 11. Januars erfolgt“. Doch Russack leistet mit dem Buch noch mehr: Ihm gelingt der Spagat zwischen (zuweilen) abstrakt trockenem Thema und einer angenehmen Lektüre, indem er mittels gradliniger Sprache den Leser eine Problemlupe zur Verfügung stellt und mit Verweisen auf die o.g. Kommentare die juristischen Probleme kurz, prägnant und gut verständlich löst. „Die Revision in der strafrechtlichen Assessorklausur“: Ein notwendiger und hilfreicher Begleiter auf dem Weg zum Examen. Neben vielen Aufbau- und Darstellungstipps enthält das Lehrbuch zahlreiche Hinweise auf typische Klausurfehler und Möglichkeiten ihrer Vermeidung. Auch vermitteln die Ausführungen einen Eindruck von den Wahrnehmungen der Prüfer und deren Benotungsprozess. Kauf und Durcharbeit des Buches sind unbedingt empfehlenswert! Rechtsanwalt Roman G. Weber, LL.M., Detmold _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 562 Hellmann/Beckemper, Fälle zum Wirtschaftsstrafrecht Weber _____________________________________________________________________________________ B uc hre ze ns io n Uwe Hellmann, Katharina Beckemper, Fälle zum Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 2008, Kohlhammer Verlag, Stuttgart, 155 S., kart., € 18.Wer die „Fälle zum Wirtschaftsstrafrecht“ von Uwe Hellmann und Katharina Beckemper, erschienen im Kohlhammer-Verlag, zur Hand nimmt, dem offenbaren sich in kurzer Zeit die Parallelen zu einem Klassiker der strafrechtlichen Juristenausbildung: den erfolgreichen Lehrbüchern von Volker Krey. Der für Krey typische Prüfungs- und LehrbuchAufbau-Stil in Gutachtenform zieht sich auch durch die Fälle zum Wirtschaftsstrafrecht. In guter alter Manier wird in elf Episoden das Spektrum des Wirtschaftsstrafrechts beleuchtet. Gleich der erste Fall scheint dem aktuellen Wirtschaftsleben im Süden der Republik entrissen, wenn es in der Sachverhaltsdarstellung darum geht, wie sich Vorstand und Mitarbeiter jeweils strafbar machten: Eine AG möchte im ausländischen Markt ihre Produkte absetzen. Der Vorstand stellt M als Vertriebsleiter ein. Weder im Vorstand, noch in einem Gespräch mit M wird der Umstand problematisiert, dass es in China üblich sei, Geschäftsabschlüsse mit großen Zahlungen zu „fördern“. M geht deshalb davon aus, er habe bei der Entscheidung über solche Zahlungen freie Hand. Um den Geldfluss zu verschleiern, bildet er sodann eine „schwarze Kasse“. Hierzu schließt er mit dem selbständigen Unternehmensberater O einen Vertrag über Beratungstätigkeiten, die O allerdings nicht erbringen soll. Gegen einen Steuernachweis mittels Rechnung erhält O die Summe von 250.000 €, führt Umsatzsteuer ab, und überweist sie nach Abzug einer Provision auf eine Konto, zu dem nur M eine Vollmacht hat. Das Geld wird schließlich zur Bestechung an einen chinesischen Amtsträger überwiesen, der als Gegenleistung unter Verstoß gegen geltende Einfuhrbestimmungen eine notwendige Einfuhrgenehmigung ausstellt. Weiter heißt es: Der Vorstand hatte anfangs von diesen Transaktionen keine Kenntnis. „Im Zuge einer im November 2006 durchgeführten Revision erfuhr er aber von den schwarzen Kassen, unternahm jedoch nichts, da er durchschaute, dass es ohne Zahlung kaum möglich sei, in China Geschäfte zu machen.“ Die Parallelen zu den in der Presse geäußerten Vorwürfen gegenüber Siemens-Managern drängen sich geradezu auf. Ob die von Hellmann/Beckemper vorgestellte Lösung ihren Niederschlag in denkbaren Prozessen finden, wird eine spannende wie zukünftige Frage sein. Der Nutzer wird jedenfalls im realen Fall kaum mehr von staatsanwaltlichen Überlegungen überrascht werden können: Die Verfasser sind insoweit bereits in Vorleistung getreten. Neben Fällen aus Korruption und der Bestechung von Amtsträgern löst das Autorenteam u.a. Fälle zum faktischen Geschäftsführer, den Varianten des Untreuetatbestandes, den Vermögensbetreuungspflichten der Gesellschafter, dem Subventionsbetrug nebst Umweltstrafrecht sowie dem Bankrott und den Marktmanipulationen. Die Verfasser blättern so auf 144 Seiten beinahe das gesamte Spektrum des wirtschaftsstrafrechtlichen Arbeitsbereichs auf. Auch jüngst von den Obergerichten bearbeitete Problematiken wie beispielsweise die Bestechlichkeit von kommunalen Mandatsträgern werden angerissen. Leider bleibt es meist bei einem kurzen Anreißen der streitigen Fragen. Obgleich dies wohl dem Umfang und Aufbaukonzept des Buches (Gutachten-Stil) geschuldet sein mag: Für die nächste Ausgabe wäre eine tiefer gehende Befassung mit den in der Praxis oft so bedeutsamen Streitansätzen wünschenswert. Dann würde auch der Leser, der sich mittels dieses Buches neu in das Thema einlesen resp. einen schnellen Einblick in das Wirtschaftsstrafrecht erhalten möchte, besser nachvollziehen können, dass gerade die Auslegung tatbestandlicher Determinanten mit wirtschaftsstrafrechtlichem Gepräge (Abfallbegriff, Insolvenzvoraussetzungen etc.) zu den zentralen Problemen dieses Rechtsgebietes gehören. Dies wäre umso wichtiger, als gerade die inhaltliche Füllung von Tatbestandsmerkmalen ein Grund für die lange Verfahrensdauern und – im Ergebnis – elementare Beweggründe für den Abschluss eines verfahrensbeendenden Deals sind. Das Buch eignet vor allem als Begleitbuch für wirtschaftsstrafrechtliche Vorlesungen; als Fallsammlung zu einer parallelen Lektüre eines wirtschaftsstrafrechtlichen Lehr- oder Handbuches. Dem erfahrenen Referendar oder Praktiker hilft es sicherlich, Aspekte des Wirtschaftsstrafrechts wieder in das Bewusstsein zurück zu bringen. Rechtsanwalt Roman G. Weber, LL.M., Detmold _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 563 Murmann, Prüfungswissen Strafprozessrecht Paul _____________________________________________________________________________________ B uc hre ze ns io n Uwe Murmann, Prüfungswissen Strafprozessrecht, Verlag C.H. Beck, München 2008, 125 S., kart., € 14,90.Murmann wendet sich mit seines Anfang diesen Jahres in der JuS-Schriftenreihe (C.H. Beck Verlag) unter dem Titel „Prüfungswissen Strafprozessrecht“ erschienenen Buch nicht nur an Examenskandidaten, die im schriftlichen Teil des Ersten Juristischen Staatsexamens ganz regelmäßig mit einer strafprozessualen Zusatzfrage konfrontiert werden, sondern auch an die Hörer der Vorlesung zum Strafprozessrecht sowie diejenigen Studenten, die an Zwischenprüfungsklausuren teilnehmen. Dass der Autor keinerlei Vorkenntnisse des Strafprozessrechts voraussetzt, ist daher konsequent; schon nach Lektüre des Vorwortes ist man gespannt, ob es der Autor schafft, die durchaus nicht ganz homogenen Bedürfnisse innerhalb der angesprochenen Zielgruppe gleichmäßig zu befriedigen. Nach einem kurzen, aber lehrreichen Überblick über das Ziel und den Gang des Strafverfahrens (unter besonderer Berücksichtigung des Ablaufs der Hauptverhandlung) sowie die Grundlagen der Gerichtsverfassung vertieft Murmann das verfassungsrechtliche Postulat des gesetzlichen Richters (Art. 101 GG), indem er die insofern nicht unproblematische Zuständigkeitsregelung des § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG (sog. „bewegliche Zuständigkeit“) auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin untersucht (Kapitel B und C). Im sich anschließenden Kapitel D („Verfassung, EMRK und Prozessgrundsätze“) weist der Autor zunächst auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben für das Strafverfahren, insbesondere die herausragende Bedeutung der Grundrechte, hin und gibt dann einen schönen Überblick über den Einfluss der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg auf das deutsche Strafverfahrensrecht. Dabei versäumt es Murmann nicht, auch die Verzahnung mit dem deutschen Strafprozessrecht (über den Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 6 StPO) im Falle einer erfolgreichen Individualbeschwerde beim EGMR darzustellen. Sodann werden zunächst in knapper, aber durchaus anschaulicher Art die einzelnen Prozessmaximen vorgestellt, um diese – dem Grundkonzept des gesamten Buches folgend – anschließend exemplarisch zu vertiefen. Stets behält der Verfasser dabei das eigentliche Anliegen des Buches, Studierenden die Herangehensweise an strafprozessuale Prüfungsaufgaben zu vermitteln, im Auge; beispielhaft hierfür findet sich in Rn. 37 – durch die gewählte Schriftgröße fast ein wenig versteckt – ein prüfungstechnisch außerordentlich wertvoller Hinweis, worauf bei den häufig vorkommenden strafprozessualen Prüfungsaufgaben, die eine Kollision von Prozessgrundsätzen untereinander oder mit Verfassungsrecht zum Gegenstand haben, zu achten ist. Es würde den Rahmen einer Rezension sprengen, die von Murmann zur Vertiefung des Komplexes „Prozessmaximen“ gewählten Beispiele im Einzelnen darzustellen. Nur soviel: Geschickt versteht es der Autor, im Rahmen der Falllösungen immer wieder auch über die eigentliche Thematik hinausge- hende Fragen mit abzuhandeln. So beleuchtet Murmann im Rahmen der Vertiefung des Legalitätsprinzips am Beispiel der umstrittenen Frage einer Bindung der Staatsanwaltschaft an Präjudizien zugleich die Stellung der Anklagebehörde im Verhältnis zu den Gerichten und zum Gesetzgeber sowie deren innerorganisatorischen Aufbau. Ganz ähnlich streift der Autor bei seinem vertiefenden Fallbeispiel zum Beschleunigungsgrundsatz zugleich die prozessualen Möglichkeiten, die im Falle der Verletzung dieses Prinzips diskutiert werden. Nur auf diese Weise war es möglich, das „Prüfungswissen Strafprozessrecht“ auf so angenehm überschaubarem Raum darzustellen. Kapitel E beschäftigt sich dann schwerpunktmäßig mit den der Staatsanwaltschaft – unter Einbeziehung der Aufgaben und Funktion des Ermittlungsrichters – im Ermittlungsverfahren zur Verfügung stehenden Zwangsmaßnahmen. Nach allgemeinen Ausführungen zum Gesetzlichkeitsprinzip sowie den von der StPO je nach Ermittlungsmaßnahme verlangten, unterschiedlichen Verdachtsgraden wendet sich Murmann zur Vertiefung ausführlich einigen besonders wichtigen Zwangsmaßnahmen (Untersuchungshaft mit anschaulicher Übersicht S. 29, körperliche Untersuchung nach § 81a StPO, Durchsuchung und Beschlagnahme) zu, die wiederum anhand zum Teil klassischer Fallbeispiele (z.B. „Brechmitteleinsatz“ – OLG Frankfurt, NJW 1997, 1647) illustriert werden. Sodann erörtert der Autor die ebenfalls als „Klassiker“ zu bezeichnende Hörfallen-Problematik (BGHSt GS 42, 139) und beleuchtet dabei die vielfältigen insoweit aufgeworfenen Fragen wiederum auf einem Raum, der den ohnehin begrenzten Möglichkeiten der Darstellung in einer Prüfungssituation Rechnung trägt, ohne wesentliche Gesichtspunkte einfach wegzulassen. Kapitel E schließt mit einer prägnanten Darstellung des Rechtsbehelfssystems gegen Maßnahmen im Ermittlungsverfahren – fast überflüssig zu erwähnen ist, dass der Autor hierbei die neuere, zu einer deutlichen Vereinfachung führende Rechtsprechung des BGH hinsichtlich erledigter Zwangsmaßnahmen berücksichtigt. „Nebenbei“ ist in dieses Kapitel auch die Rolle des Verteidigers – den Murmann als „Gegenspieler zur Staatsanwaltschaft“ bezeichnet – im Ermittlungsverfahren eingearbeitet. Am Beispiel des Akteneinsichtsrechts wird eindrucksvoll die besondere Schwierigkeiten aufweisende Stellung des Verteidigers als unabhängiges Organ der Rechtspflege einerseits, Vertrauensperson des Mandanten andererseits aufgezeigt. Nach einem kurzen Überblick über die Möglichkeiten des Abschlusses des Ermittlungsverfahrens beschäftigt sich Murmann in Kapitel F vertiefend mit den beiden besonderen Verfahrensarten Klageerzwingungsverfahren und Privatklageverfahren und beleuchtet abschließend die praktisch außerordentlich bedeutsame Vorschrift des § 153a StPO. Das umfangreichste Kapitel (Kapitel F) ist dann der strafprozessualen Hauptverhandlung gewidmet. Nach Ausführungen zum prozessualen Tatbegriff befasst sich der Autor eingehend mit der gerade in strafprozessualen Zusatzfragen beliebten Problematik des „befangenen Staatsanwaltes“ und zeigt die insoweit vertretenen Lösungsansätze auf. Bei der Falllösung zu Fallfrage b) vermittelt Murmann über einen kleinen „Ausflug“ ins Revisionsrecht wieder einmal en pas- _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 564 Murmann, Prüfungswissen Strafprozessrecht Paul _____________________________________________________________________________________ sant mehr als den bloßen Umgang mit dem gerade behandelten Sachproblem, indem er das in Zusatzfragen häufig benötigte Schema zur Prüfung relativer Revisionsgründe anwendet. Nach kurzen Ausführungen zu einigen Grundbegriffen des Beweisrechts widmet sich der Verfasser ausführlich der vielschichtigen Thematik strafprozessualer Beweisverbote. Nach einer prägnanten Darstellung der Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Verstoß gegen ein sog. Beweiserhebungsverbot auch ein sog. Beweisverwertungsverbot nach sich zieht, vertieft der Verfasser den Gesamtkomplex an einer ganzen Reihe klassischer Fallgestaltungen – etwa der sog. Tagebuchentscheidung des BGH1 oder der V-Mann-Problematik. Besonders gelungen erscheint die Darstellung der Problematik verfahrensbeendender Absprachen (sog. „Deal“), die das Spannungsverhältnis dieser Form der Verfahrenserledigung zu einer Vielzahl strafprozessualer Prinzipien aufzeigt. Murmanns „Prüfungswissen Strafprozessrecht“ endet in Kapitel H mit Ausführungen zur Rechtskraft strafprozessualer Entscheidungen und den damit in Zusammenhang stehenden Themen Strafklageverbrauch, Rechtsmittelverzicht (insbes. beim sog. „Deal“) und Wiederaufnahmeverfahren (als Durchbrechung der Rechtskraft). Wenn Murmann in seinem Vorwort den Versuch, das examensrelevante Wissen im Rahmen eines nur etwas mehr als 120 Seiten starken Büchleins zu vermitteln, selbst als „Gratwanderung“ bezeichnet, kann man nach der Lektüre des Buches eigentlich nur gratulieren: Der Band stellt ein gelungenes, für die Leserschaft unter arbeitsökonomischen Gesichtspunkten außergewöhnlich effizientes Hilfsmittel zur gezielten Aneignung derjenigen Kenntnisse, die zur Bewältigung einer strafprozessualen Prüfungsaufgabe unerlässlich sind, dar. Dass dabei nicht jedes denkbare Einzelproblem behandelt werden kann, versteht sich angesichts der Konzeption des Buches von selbst: durch Vermittlung der verfassungsrechtlichen und strafprozessualen Grundlagen anhand exemplarisch herausgegriffener, typischer Standardprobleme soll der Leser in die Lage versetzt werden, auch unbekannte Fallkonstellationen einer fundierten und argumentativ abgesicherten Lösung zuzuführen. Schließlich ist auf die Aktualität der Neuerscheinung hinzuweisen. Das Buch berücksichtigt nicht nur bereits die zum 1.1.2008 in Kraft getretenen Änderungen der StPO, sondern immer wieder auch wichtige, neuere (und daher für die Prüfungsämter erfahrungsgemäß besonders „interessante“) Entscheidungen der Obergerichte. Angesichts der auch im Ersten Juristischen Staatsexamen nicht zu unterschätzenden Bedeutung des Strafprozessrechts erscheint die Anschaffung des auch für Studierende erschwinglichen Büchleins (Kaufpreis € 14,90,-) als ausgesprochen kluge Investition! Dr. Tobias Paul, Richter beim Amtsgericht Waldshut-Tiengen 1 BGHSt 19, 325. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 565 Corporate Governance in einer monistisch verfassten Societas Europaea deutscher Provenienz Von Fabian Walla, LL.B., Hamburg* Der folgende Beitrag behandelt besondere Aspekte der Europäischen Gesellschaft (Societas Europaea, SE), die seit der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 vom 8. Oktober 2001 als eigenständige Rechtsform (so genannter „28. Weg“) neben den Rechtsformen gewählt werden kann, welche die nationalen Rechtsordnungen ansonsten bereitstellen (in Deutschland z.B. AG, GmbH). Im Studienkanon tauchen diese Aspekte vor allem in den Schwerpunktbereichen auf, welche das Unternehmensrecht, speziell das Kapitalgesellschaftsrecht und das Mitbestimmungsrecht zum Gegenstand haben. In dem Beitrag wird speziell die SE nach dem monistischen System („onetier-system“) untersucht, welche kein Aufsichtsorgan, also keinen Aufsichtsrat, sondern nur Verwaltungsorgane hat und sich mithin von einer Aktiengesellschaft nach deutschem Recht grundlegend unterscheidet. Der Beitrag beleuchtet, wie dennoch eine monistische SE nach ihrer Organisationsverfassung und Mitbestimmung in das deutsche Recht eingepasst werden kann, stellt hinsichtlich der Corporate-Governance-Modelle rechtsökonomische und rechtsvergleichende Überlegungen an und bietet Lösungen an, wie die Kontrolldefizite verringert werden können. I. Einleitung „Größte Innovation“1, „Paradigmenwechsel“2, „revolutionäres Ergebnis“3 – die Stellungnahmen im Schrifttum zu einem Aspekt der neuen Rechtsform Societas Europaea (SE),4 waren geradezu überschwänglich: Nunmehr ist es möglich, eine Aktiengesellschaft (AG) in Deutschland mittels einer monistischen Organisationsverfassung zu führen. Damit wird durch die SE-Verordnung (SE-VO) ein Weg beschritten, von welchem sich das deutsche Aktienrecht bereits im Jahre 1870 abzuwenden begann5 und den es im Folgenden zugunsten eines dualistischen Systems komplett aufgab.6 Die SE-VO * Der Verf. ist Student an der Bucerius Law School in Hamburg. Er ist dort als studentischer Mitarbeiter am Institut für Unternehmens- und Kapitalmarktrecht (geschäftsführender Direktor: Prof. Dr. Rüdiger Veil) tätig. 1 Theisen/Hölzl, in: Theisen/Wenz (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft, 2. Aufl. 2005, S. 298. 2 Teichmann, in: Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), Europäische Gesellschaft, 2005, S. 196. 3 Kallmeyer, ZIP 2003, 1531; ähnlich auch Hommelhoff, AG 2001, 279 (282). 4 Eingeführt wurde die SE durch die Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl. Nr. L 294, S. 1 vom 10. November 2001. 5 Dies geschah durch die erste Aktienrechtsnovelle, welche den Aufsichtsrat als obligatorisches Organ einführte, siehe hierzu Assmann, in: ders. u.a. (Hrsg.), Großkommentar AktG, 4. Aufl. 2004, Einl. Rn. 74 f. 6 Vollendet wurde die Trennung von Leitung und Kontrolle durch die Aktienrechtsreform 1937, siehe hierzu Stier-Somlo, wirkt unmittelbar und bedarf als Verordnung keiner Umsetzung in nationales Recht, wie dies bei einer Richtlinie der Fall wäre. Die SE-VO wird in Deutschland durch das SEAusführungsgesetz (SEAG) ausgeführt. Im Rahmen dieses Beitrags soll auf der Grundlage der weltweit und interdisziplinär geführten Diskussion über Corporate Governance die Unternehmensverfassung der recht jungen Rechtsform der monistischen SE deutschen Rechts analysiert werden. II. Grundbegriffe 1. Dualistische und monistische Unternehmensleitung Monistische und dualistische Unternehmensverfassung unterscheiden sich grundlegend in der Trennung der Ebenen von Unternehmensleitung und Unternehmenskontrolle. Das Paradebeispiel eines dualistischen Systems ist die Unternehmensfassung der deutschen AG mit ihrer Unterscheidung zwischen dem Vorstand, welcher die Geschäfte des Unternehmens in eigener Verantwortung leitet, und dem den Vorstand kontrollierenden Aufsichtsrat. Ein monistisches System überträgt hingegen sämtliche Aufgaben einem einzigen Organ. Ein solches System ist vor allem im angelsächsischen Rechtsraum zu finden. Die Entwicklungen hinsichtlich des monistischen Leitungsmodells sind für den deutschen Gesetzgeber besonders interessant, da sich auf europäischer Ebene Stimmen mehren, die ein allgemeines Wahlrecht für Aktiengesellschaften zwischen monistischer und dualistischer Struktur in den nationalen Gesellschaftsrechtsordnungen fordern.7 2. Corporate Governance – eine Begriffskonkretisierung Corporate Governance ist derzeit weltweit Forschungsgegenstand vieler wissenschaftlicher Disziplinen. Aus juristischem Blickwinkel bezeichnet Hopt die Diskussion um gute Corporate Governance als „letzte[n] Schrei der internationalen juristischen Mode“.8 Der Begriff Corporate Governance beinhaltet die Elemente der Unternehmensführung sowie der Unternehmenskontrolle.9 Aus gesellschaftsrechtlicher Perspektive geht es darum, für den Bereich privatrechtlich organisierter Unternehmen normative Vorgaben für beide Elemente zu entwickeln.10 Ziel guter Corporate Governance ist die Senkung von Transaktionskosten, die Regulierung von Marktversagen sowie ZHR 53 (1903), 20 zur Diskussion um die „Aufsichtsratfrage“. 7 Dies ist mittelfristiges Ziel des Aktionsplanes der EU-Kommission vom 21.5.2004 (Ziff. 3.1.3), abrufbar unter: http://eurlex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2003/com2003_0284de0 1.pdf (zuletzt abgerufen am 8.7.2008). 8 Hopt, in: Hommelhoff/Rowedder/Ulmer/Hachenburg (Hrsg.), Dritte Gedächtnisvorlesung 1998, 2000, S. 9, 10. 9 Du Plessis/McConvill/Bagaric, Principles of Contemporary Corporate Governance, 2005, S. 7; v. Werder, in: DCGKKommentar, 2. Aufl. 2005, Rn. 1. 10 Grundmann/Mülbert, ZGR 2001, 215 (220). _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 566 Corporate Governance teilweise die Durchsetzung von gewissen ideologischen und gesellschaftspolitischen Vorstellungen.11 Die theoretische Grundlage der Corporate Governance besteht in dem von Berle/Means12 herausgearbeiteten principal-agent-conflict zwischen shareholder und management,13 der durch Trennung von Eigentum und Unternehmensleitung entsteht.14 Dieser am shareholder orientierte Ansatz der Corporate Governance erfuhr im Laufe der Zeit eine Erweiterung, indem besonders in der europäischen Diskussion die Interessen anderer stakeholder, hierbei vor allem die der Arbeitnehmer, berücksichtigt wurden.15 Traditionell wird Corporate Governance dabei in zwei Ebenen unterteilt.16 Die Differenzierung erfolgt dabei nach dem Anknüpfungspunkt der Führungs- bzw. Kontrollmechanismen. So kann Unternehmensführung und -kontrolle entweder über Marktkräfte (externe Corporate Governance) oder durch die inneren Strukturen der Unternehmensverfassung (interne Corporate Governance) ausgeübt werden.17 III. Die monistisch verfasste SE deutscher Provenienz de lege lata Die Organisationsverfassung der monistischen SE ist gekennzeichnet durch ein komplexes Zusammenspiel europäischer und deutscher Rechtsquellen. Das Verständnis dieses Normgefüges und der sich hieraus ergebenen Gestaltungsvariationen bildet die Grundlage für die diesen Beitrag abschließende Analyse unter Corporate Governance-Aspekten. 1. Der Rechtsrahmen der SE deutschen Rechts Die Einführung der SE steht am Ende etwa 40-jähriger Bestrebungen, eine gemeinschaftsweit einheitliche Rechtsform zu etablieren.18 Dabei war die Frage der unternehmerischen Mitbestimmung lange Zeit das entscheidende Hindernis einer 11 Baums, Bericht der Regierungskommission, 2001, S. 45. Berle/Means, The Modern Corporation and Private Property, 1932, S. 112 ff. 13 Grundlegend hierzu Jensen/Meckling, 3 J. Fin. Econ. (1976), 305 (308 ff.); siehe ferner für das deutsche Schrifttum Teichmann, ZGR 2001, 645 (646). 14 Hopt (Fn. 8), S. 9, 12; Leyens, RabelsZ 67 (2003), 57 (62 f.); Teichmann, ZGR 2001, 645 (646). 15 Grundmann/Mülbert, ZGR 2001, 215; Hopt (Fn. 8), S. 9, 12 f.; Monks/Minow, Corporate Governance, 3. Aufl. 2004, S. 120; Schneider, DB 2000, 2412 (2414); siehe ferner insbesondere die OECD Principles of Corporate Governance, abgedruckt in AG 1999, 337 (mit Vorbemerkungen von Seibert) sowie deren Besprechung bei Hommelhoff, ZGR 2001, 239. 16 Leyens, RabelsZ 67 (2003), 857 (863 ff.); Teichmann, ZGR 2001, 645 (647 f.). 17 Köklü, Die Beteiligung der Arbeitnehmer und die Corporate Governance in der Europäischen Aktiengesellschaft, 2006, S. 273 ff.; Sokolowski, Überwachung in einer Societas Europaea mit dem monistischen Leitungssystem, 2005, S. 50. 18 Vgl. Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2006, § 12 Rn. 1 ff. für eine Übersicht der Entwicklungsstadien zur SE. 12 VARIA Einigung.19 Der schließlich erzielte politische Minimalkompromiss ließ jedoch den Normengehalt der SE-VO lückenhaft,20 so dass die SE – obgleich als supranationale Rechtsform konzipiert21 – durch die lückenfüllenden Vorschriften des nationalen Rechts eine deutliche Prägung durch den jeweiligen Mitgliedsstaat erfährt, in dem sich ihr satzungsmäßiger Sitz befindet.22 a) Die allgemeine Normenhierarchie in einer SE Diese lückenhafte Struktur spiegelt sich in einer besonders komplexen Normenhierarchie wider, welche in Art. 9 SE-VO ihre normative Verankerung findet. An der Spitze der Rechtsquellenpyramide der SE steht die SE-VO als sekundäres, unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht. Danach folgt die Satzung der Gesellschaft, welche durch die SE-VO den Rang „abgeleiteten Gemeinschaftsrechts“23 einnimmt, solange der Satzungsgeber hierbei von durch die Verordnung erteilten Regelungsermächtigungen Gebrauch macht.24 Erst auf der nächsten Ebene der Rechtsquellenpyramide ist das nationale Ausführungsrecht des Staates anwendbar, in dem die SE ihren satzungsmäßigen Sitz hat. In Deutschland sind dies das SEAusführungsgesetz (SEAG) sowie das die Arbeitnehmermitbestimmung regelnde SE-Beteiligungsgesetz (SEBG),25 welches der Umsetzung einer gesonderten SE-Mitbestimmungsrichtlinie26 dient. Wenn in diesen Rechtsquellen keine Regelung zu finden ist, muss das nationale Aktienrecht, in Deutschland mithin etwa das AktG oder UmwG, angewendet werden. Satzungsbestimmungen der Gesellschaft, welchen nicht durch die SE-VO ein Vorrang vor dem nationalen Recht eingeräumt 19 Habersack (Fn. 18), § 12 Rn. 1; Hopt, in: Due u.a. (Hrsg.), Festschrift für Everling, Bd. 1, 1995, S. 475 ff. (487); Krause, BB 2005, 1221 (1222); Van Hulle, EWS 2000, 521 (522). 20 Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 4. Aufl. 2005, § 59 Rn. 4. 21 Assmann, in: Münchner Kommentar zum Aktiengesetz, 4. Aufl. 2004, Einf. SE Rn. 4; Kuhn, in: Jannott/Frodermann (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 2005, Kap. 2 Rn. 4; vgl. ebenso die sechste Begründungserwägung zur SE-VO. 22 Kalss/Greda, in: Kalss/Hügel (Hrsg.), Europäische Aktiengesellschaft, SE-Kommentar, 2004, Allgemeiner Teil Rn. 11; Raiser/Veil (Fn. 20) § 59 Rn. 4. 23 Raiser, in: Bierich u.a. (Hrsg.), Festschrift für Johannes Semler, 1993, S. 277 ff. (283) (zum SE-Vorschlag von 1991). 24 Hommelhoff, in: Lutter/ders. (Hrsg.), Europäische Gesellschaft, 2005, S. 5, 15; Wagner, NZG 2002, 985 (986); anders jedoch Schäfer, in: Münchner Kommentar zum Aktiengesetz, 2006, Art. 9 SE-VO Rn. 22, welcher die Satzung stets als unterste Rechtsquelle ansieht, was jedoch der Sache nach zu identischen Ergebnissen führt. 25 Eingeführt durch das Gesetz zur Einführung der Europäischen Gesellschaft (SEEG), BGBl. I 2004, S. 3675 ff. 26 Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8.10.2001 zur Ergänzung des Status der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer, ABl. Nr. L 294, S. 22. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 567 VARIA Fabian Walla wird, sind erst auf der letzten Stufe der Normenhierarchie zu berücksichtigen.27 b) Das Normierungssystem hinsichtlich der Unternehmensverfassung Diese komplexe Regelungstechnik findet ihren Niederschlag in der Normierung der Unternehmensverfassung. Hierbei gewährt die SE-VO in Art. 38b dem Satzungsgeber die Freiheit, zwischen dem dualistischen Führungssystem mit seiner organschaftlichen Trennung von Leitung und Aufsicht sowie dem monistischen Ansatz, bei dem Kontrolle und Leitung in einem Verwaltungsorgan vereint sind, zu wählen. Darüber hinaus regelt die SE-VO die Unternehmensverfassung nur kursorisch.28 Um diese Lücken auszufüllen, hat der deutsche Gesetzgeber für das dualistische System in §§ 15 bis 19 SEAG nur vereinzelte Regelungen getroffen, da das AktG ausführliche Regelungen für die dualistische Unternehmensverfassung bereit hält.29 Dagegen trifft der deutsche Gesetzgeber für monistische Systeme in Gestalt der §§ 20 bis 49 SEAG umfangreiche Regelungen. § 20 SEAG stellt hierbei deklaratorisch fest, dass die Regelungen der §§ 76 bis 116 AktG verdrängt werden. Das Ausführungsrecht in Bezug auf die Organisationsverfassung geht der Satzung vor, da die SE-VO hier den Satzungsgeber nicht zum Tätigwerden ermächtigt hat. c) Anwendbarkeit des Deutschen Corporate Governance Kodex Auf die börsennotierte SE findet zudem nach § 161 AktG die Verpflichtung zur Ablegung einer Erklärung zu den Vorgaben des Deutschen Corporate Governance Kodex Anwendung.30 Da im Kodex keine Vorschriften hinsichtlich monistischer Leitungsstrukturen enthalten sind, ist er für die monistische SE nach geltender Rechtslage von untergeordneter Bedeutung. Die Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex hat die zukünftige Aufnahme von Empfehlungen in Bezug auf die monistische SE ausdrücklich unter den Vorbehalt gestellt, dass sich eine praktische Relevanz dieser Führungsstruktur auch tatsächlich abzeichnet.31 2. Die Organisationsverfassung der monistischen SE Bei der folgenden Darstellung der Organisationsverfassung einer monistischen SE nach der deutschen Umsetzungsgesetzgebung soll die Frage im Mittelpunkt stehen, ob diese Umsetzung mit den Vorgaben der SE-VO vereinbar ist. Überdies 27 Teichmann (Fn. 2), S. 195, 198. Austmann, Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 4, Aktiengesellschaft, 3. Aufl. 2007, § 85 Rn. 2. 29 Inhaltlich entspricht die Organisation der dualistischen SE daher nahezu der AG, siehe Teichmann (Fn. 2), S. 195, 199, der von einem déjà-vu-Erlebnis spricht. 30 Hoffmann-Becking, ZGR 2004, 355 (364); Merkt, in: Lutter/Hommelhoff (Fn. 24), Europäische Gesellschaft, 2005, S. 179, 184. 31 Siehe hierzu die Pressemittelung der Regierungskommission vom 14.6.2007, abrufbar unter http://www.corporategovernance-code.de/ger/news/presse-20070614.html (zuletzt abgerufen am 10.9.2007). 28 bietet die monistische SE vielfältige praktische Gestaltungsmöglichkeiten, die im Hinblick auf gute Corporate Governance Beachtung verdienen. Schließlich wird überblicksartig auf die unternehmerische Mitbestimmung eingegangen. a) Das Organgefüge einer monistischen SE Die Grundlage des Organgefüges einer monistischen SE ist gemäß Art. 38b SE-VO die Hauptversammlung als Vertretung der Anteilseigner. Diese wird gemäß Art. 43 Abs. 1 SEVO um ein Verwaltungsorgan ergänzt. Der deutsche Gesetzgeber hat jenes Verwaltungsorgan in § 20 SEAG Verwaltungsrat genannt. Dieser ist ein Kollegialorgan, an dessen Spitze nach § 34 Abs. 1 SEAG ein Vorsitzender steht. Nach § 23 SEAG besteht der Verwaltungsrat aus mindestens drei Mitgliedern, wobei bei einem Grundkapital von weniger als drei Millionen Euro hiervon durch Satzung nach unten abgewichen werden kann. Darüber hinaus legt der deutsche Gesetzgeber in § 40 Abs. 1 SEAG fest, dass zwingend geschäftsführende Direktoren durch den Verwaltungsrat zu bestellen sind. Geschäftsführende Direktoren können sowohl Mitglieder des Verwaltungsrats als auch unternehmens-externe Personen sein. Innerhalb des Verwaltungsrats muss daher gegebenenfalls zwischen geschäftsführenden (internen) und nicht-geschäftsführenden (externen) Mitgliedern unterschieden werden. Das SEAG schränkt in § 40 Abs. 1 S. 2 die Anzahl der möglichen geschäftsführenden Verwaltungsratsmitglieder ein, indem es vorschreibt, dass die Mehrheit des Verwaltungsrats stets aus nicht-geschäftsführenden Mitgliedern bestehen muss. b) Kompetenzabgrenzung zwischen den Organen Im Folgenden wird untersucht, wie sich das Zusammenspiel von Hauptversammlung, Verwaltungsrat und geschäftsführenden Direktoren konkret vollzieht. Ein Spannungsfeld zeigt sich hierbei insbesondere im Verhältnis zwischen Verwaltungsrat und geschäftsführenden Direktoren. aa) Stellung der Hauptversammlung Geringe Schwierigkeiten bereitet zunächst das Verhältnis zwischen Hauptversammlung und Verwaltung. Es bestimmt sich nach Art. 52 SE-VO, wonach die Hauptversammlung zuständig ist, wenn es die SE-VO oder das nationale Aktienrecht vorsehen. Dies beinhaltet nach herrschender Meinung auch ungeschriebene Kompetenzen, insbesondere nach den Grundsätzen der „Holzmüller“ und „Gelatine“-Rechtsprechung32.33 bb) Spannungsfeld zwischen Verwaltungsrat und geschäftsführenden Direktoren Das Kompetenzgefüge zwischen Verwaltungsrat und geschäftsführenden Direktoren verursacht wegen der unklaren Normie32 Vgl. BGHZ 83, 122 (Holzmüller); BGHZ 159, 30 (Gelatine I); BGH ZIP 2004, 1001 (Gelatine II); siehe hierzu Raiser/Veil (Fn. 2), § 16 Rn. 11 ff. m.w.N. 33 Drinhausen, in: Van Hulle/Maul/Drinhausen. (Hrsg.), Handbuch zur Europäischen Gesellschaft, 2007, Abschnitt 5, § 3 Rn. 29; Teichmann (Fn. 2), S. 206; Thümmel, Die Europäische Aktiengesellschaft, 2005, Rn. 258. _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 568 Corporate Governance rung Abgrenzungsschwierigkeiten.34 § 22 Abs. 1 SEAG bestimmt grundlegend, dass dem Verwaltungsrat neben der Bestimmung von Grundlinien für die Tätigkeit der Gesellschaft und deren Überwachung auch die Kontrolle der Umsetzung der strategischen Leitlinien obliegt. Den geschäftsführenden Direktoren hingegen wird durch § 40 Abs. 2 S. 1 SEAG die Geschäftsführung zugewiesen. Ihnen steht nach § 41 Abs. 1 SEAG die gesetzliche Vertretung der Gesellschaft zu. § 44 Abs. 2 SEAG bestimmt jedoch, dass geschäftsführende Direktoren hinsichtlich ihrer Geschäftsführung die Anweisungen und Beschränkungen (unter anderem) von Seiten des Verwaltungsrats zu beachten haben. Hieraus wird nach ganz überwiegender Ansicht im Schrifttum ein umfassendes Weisungsrecht des Verwaltungsrats gegenüber den geschäftsführenden Direktoren in Geschäftsführungsangelegenheiten abgeleitet.35 Geschäftsführende Direktoren können ferner vom Verwaltungsrat gemäß § 40 Abs. 5 SEAG jederzeit, mithin auch ohne wichtigen Grund,36 abberufen werden, sofern die Satzung nichts Abweichendes regelt. Aus dieser systematischen Stellung der geschäftsführenden Direktoren wird gefolgert, dass ihre Geschäftsführungsbefugnis auf die Führung der laufenden Geschäfte beschränkt ist und die strategische Unternehmensleitung von dieser Befugnis ausgeklammert sei.37 Die strategische Ausrichtung des Unternehmens sowie die Kontrolle des Geschäftsverlaufs obliegen exklusiv dem Verwaltungsrat.38 Gegen diese funktionelle Kompetenzabgrenzung wendet sich jedoch Teichmann, der davon ausgeht, dass die Kompetenz der geschäftsführenden Direktoren funktionell unbegrenzt sei und sie stattdessen vielmehr hierarchisch dem Verwaltungsrat nachgeordnet seien.39 Diese Sicht widerspricht jedoch der Intention des Gesetzgebers, der die geschäftsführenden Direktoren mit GmbH-Geschäftsführern vergleicht.40 34 Hoffmann-Becking, ZGR 2004, 355 (369) (zum damaligen Diskussionsentwurf). 35 Austmann (Fn. 28), § 85 Rn. 17; Drinhausen (Fn. 33), Abschnitt 5, § 3 Rn. 23; Frodermann, in: Jannott/Frodermann. (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Gesellschaft, 2005, Kap. 5 Rn. 228; Manz, in: Manz/Meyer/Schröder (Hrsg.), Nomos Kommentar SE, 2005, Art. 43 SE-VO Rn. 161; Teichmann (Fn. 2), S. 743; anderer Ansicht Schönborn, Die monistische SE in Deutschland im Vergleich zum englischen Recht, 2007, S. 94 f., für den § 44 SEAG nur die Grundlage für Beschränkungen der Geschäftsführungsbefugnis ist. 36 Austmann (Fn. 28); Drinhausen (Fn. 33), Abschnitt 5, § 3 Rn. 3; Frodermann (Fn. 35), Kap. 5 Rn. 168. 37 Drinhausen (Fn. 33), Abschnitt 5, § 3 Rn. 18; Frodermann (Fn. 35), Kap. 5 Rn. 139; Köklü (Fn. 17), S. 91 ff.; Reichert/Brandes, in: Münchner Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl. 2006, Art. 38 SE-VO Rn. 6; Schönborn (Fn. 35), S. 62. 38 Drinhausen (Fn. 33), Abschnitt 5, § 3 Rn. 5, 23; HoffmannBecking, ZGR 2004, 355 (368); Köklü (Fn. 17), S. 91 ff.; Reichert/Brandes (Fn. 37), Art. 38 SE-VO Rn. 6. 39 Teichmann (Fn. 2), S. 195, 205 f. 40 RegBegr., BT-Drs. 15/3405, S. 39; dies aufnehmend Frodermann (Fn. 35), Kap. 5 Rn. 141; Köklü (Fn. 17), S. 92; VARIA Rechtsprechung und überwiegende Literatur verwehren GmbHGeschäftsführern im Allgemeinen die Kompetenz, grundlegende Entscheidungen der Unternehmenspolitik zu treffen.41 Somit ist von einer alleinigen Kompetenz des Verwaltungsrats für Maßnahmen der Unternehmensleitung auszugehen. Den geschäftsführenden Direktoren steht lediglich die Kompetenz für Maßnahmen der laufenden Geschäftsführung zu, diese üben sie zudem in Abhängigkeit von Anweisungen des Verwaltungsrats aus. c) Europarechtswidrigkeit der deutschen Umsetzung? Teilweise wird die skizzierte Organisationsverfassung der monistischen SE nach dem SEAG im Schrifttum für europarechtswidrig gehalten, da die deutsche Umsetzungsgesetzgebung im Widerspruch zur SE-VO stehe.42 aa) Unvereinbarkeit des SEAG mit der SE-VO? Insbesondere Hoffmann-Becking wirft dem deutschen Gesetzgeber vor, dass die Schaffung von geschäftsführenden Direktoren, denen anstelle des Verwaltungsrats exklusiv die Vertretung der Gesellschaft sowie – vorbehaltlich der Weisungsabhängigkeit gegenüber dem Verwaltungsrat – auch die Geschäftsführung obliegt, Art. 38b SE-VO missachten würde. Die SE-VO gebiete zwingend, dass eine monistische SE mit nur einem Verwaltungsorgan von Seiten die Mitgliedsstaaten zu ermöglichen sei.43 Die Umsetzung durch das SEAG stelle lediglich ein „versteckt dualistisches System“ dar.44 bb) Entkräftung der Kritik Hiergegen ist einzuwenden, dass Art. 38b SE-VO lediglich fordert, die Möglichkeit der Wahl eines monistischen Systems durch den Satzungsgeber zu gewährleisten. Zur Ausgestaltung der monistisch verfassten SE macht die Norm keine Angaben. Entscheidende Frage für die Stichhaltigkeit des Einwandes ist daher, ob das System des SEAG als „monistisch“ im Sinne der SE-VO zu verstehen ist. Die SE-VO ist hierbei als Gemeinschaftsrecht autonom von nationalen Rechtsordnungen auszulegen.45 Hierfür können insbesondere rechtsverglei- Nagel, NZG 2004, 833 (836); Theisen/Hölzl (Fn. 1), S. 302; P. Schmidt, Die monistische SE in Deutschland, 2006, S. 197. 41 BGH NJW 1991, 1681; Raiser/Veil (Fn. 22), § 31 Rn. 2; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 1069. 42 DAV, NZG 2004, 957 (959); DAV, NZG 2004, 75 (82); Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2006, § 12 Rn. 31; kritisch auch Kallmeyer, ZIP 2003, 1531. 43 Hoffmann-Becking, ZGR 2004, 355 (369 ff.) zum Diskussionsentwurf, der jedoch bezüglich der monistischen Organisationsverfassung nahezu deckungsgleich mit dem SEAG ist. 44 Hoffmann-Becking, ZGR 2004, 355 (369); in Anlehnung an DAV, NZG 2004, 75 (82). 45 EuGH, Rs. 64/81, Slg. 1982 I-13, Rn. 13 (Corman); EuGH, Rs. C-287/98, Slg. 2000 I-6917, Rn. 93 (Linster); Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, 2006, S. 188 f. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 569 VARIA Fabian Walla chende Erwägungen als Erkenntnisquelle bei der Auslegung herangezogen werden.46 Bei einem Blick in das Recht verschiedener Mitgliedstaaten ist zu konstatieren, dass manche monistische Systeme die Möglichkeit kennen, die Geschäftsführungsbefugnisse von Leitungs- und Aufsichtsorganen zu delegieren. So ist in Frankreich ein directeur général zu bestellen, dem umfassende Geschäftsführungskompetenzen sowie Vertretungsmacht zukommen und der dem Verwaltungsrat angehören kann, jedoch nicht muss.47 Auch im britischen Gesellschaftsrecht wird in der Rechtsfigur des company secretary ein Organ neben dem board of directors gesehen.48 Ebenfalls nach schwedischem Recht kann das Verwaltungsorgan ein weiteres Organ zur Führung der laufenden Geschäfte einsetzen.49 Dies lässt darauf schließen, dass die Wortlautgrenze des Begriffs „monistisch“ durch das deutsche System nicht überschritten ist. Zu berücksichtigen ist ferner, dass die Spezialermächtigung in Art. 43 Abs. 1 S. 2 SE-VO zur Schaffung von Geschäftsführern neben dem Verwaltungsorgan auf Drängen Schwedens in den Text der SE-VO aufgenommen wurde,50 um eine monistische SE nach hergebrachter schwedischer Prägung zu ermöglichen. Hieraus lässt sich in historisch-genetischer Auslegung51 ableiten, dass der Verordnungsgeber das schwedische System trotz des Bestehens von zwei Organen als monistisch einstuft. Bezieht man ferner den vierzehnten Erwägungsgrund zur SE-VO in die Auslegung mit ein, in dem es heißt, dass eine klare Abgrenzung zwischen Leitung und Kontrolle wünschenswert ist, erscheint das deutsche System nach teleologischer Auslegung als monistisch im Sinne der SE-VO. Die von manchen geäußerte Sorge einer Europarechtswidrigkeit der deutschen Umsetzungsgesetzgebung ist mithin zu weitgehend. d) Gestaltungsmöglichkeiten in der monistischen SE durch die Satzung Es werden nunmehr die praktischen Gestaltungsmöglichkeiten dargestellt, die dem Satzungsgeber im Rahmen des skizzierten rechtlichen Grundgerüsts zugestanden werden. Hierbei ist eine große Bandbreite an möglichen Ausgestaltungen einer monistischen SE zu konstatieren.52 46 EuGH, Rs. 155/79, Slg. 1982 I-1575, Rn. 19 ff. („AM&S/ Kommission“); siehe ferner P. Schmidt (Fn. 40), 2006, S. 114 f. 47 Siehe Storp, RIW 2002, 409 (411 f.) zur Stellung des directeur général im französischen Recht. 48 Teichmann (Fn. 2), S. 195, 218; vgl. J. Schmidt, „Deutsche“ vs. „britische“ Societas Europaea (SE), 2006. S. 486 ff. für eine ausführliche Darstellung zu den Aufgaben des company secretary. 49 Krage, AG 1998, 226 (229 f.). 50 Neye/Teichmann, AG 2003, 169 (176 [Fn. 38]); Teichmann, ZIP 2002, 1109 (1113 f.). 51 Zur historisch-genetischen Auslegung des Sekundärrechts Casper, in: Beier (Hrsg.), Festschrift für Ulmer, 2003, S. 51 (56). 52 Minuth, Führungssysteme der Europäischen Aktiengesellschaft (SE), 2005, S. 293; Teichmann (Fn. 2), S. 207. Dies liegt zum einen an der Möglichkeit, sowohl Verwaltungsratsmitglieder als auch Außenstehende zu geschäftsführenden Direktoren zu bestellen. Überdies besteht ein hohes Maß an Satzungsfreiheit. Zwar gewährt Art. 9 Abs. 1 b) SEVO ebenso wie das deutsche Aktienrecht durch § 23 Abs. 5 AktG nur in ausdrücklich vorgesehenen Fällen Satzungsautonomie, jedoch sind die Satzungsermächtigungen – anders als im deutschen Recht53 – relativ zahlreich. So kann die Binnenorganisation des Verwaltungsrats weitgehend frei gestaltet werden,54 insbesondere können Einzelfragen der Geschäftsordnung geregelt werden (§ 34 Abs. 2 S. 2 SEAG). Zudem besteht Satzungsautonomie für die Bestellung mehrerer geschäftsführender Direktoren und ihr Verhältnis zum Verwaltungsrat (§ 40 Abs. 1 S. 5 SEAG).55 In der anwaltlichen Praxis wird daher erwartet, dass die monistische SE sowohl als Publikumsgesellschaft als auch als personalistische Gesellschaft praktische Relevanz erlangen wird.56 aa) Die monistische SE als personalistisch geprägte Rechtsform Eine monistische SE ist beispielsweise in Form einer Familiengesellschaft denkbar, wenn Familiengesellschafter den Verwaltungsrat bilden, um ihre Erfahrung in die Gesellschaft einzubringen und die strategischen Leitlinien der Gesellschaft bestimmen zu können.57 Das Tagesgeschäft könnten sie an externe Manager als geschäftsführende Direktoren delegieren und sich auf die Kontrolle von deren Tätigkeit beschränken.58 Dieses Modell bewirkt somit eine größtmögliche Annäherung an das dualistische System, zumal auch der Aufsichtsrat der AG teilweise an der strategischen Ausrichtung des Unternehmens beteiligt ist.59 In der monistischen SE läge die strategische Unternehmensleitung jedoch gänzlich in den Händen des Verwaltungsrats. Zudem könnte von Seiten dieser Familiengesellschafter durch das Weisungsrecht gegenüber den geschäftsführenden Direktoren bei Bedarf direkt Einfluss auf die Geschäftsführung genommen werden. bb) Die monistische SE als börsennotierte Publikumsgesellschaft Allgemein wird davon ausgegangen, dass im Bereich der Großunternehmen die größte Nachfrage nach der Rechtsform der SE besteht.60 Aufgrund der Möglichkeit der Börsennotierung 53 Siehe Hüffer, Aktiengesetz, 7. Aufl. 2006, § 23 Rn. 35 für eine Übersicht der Abweichungen bei der AG. 54 Seibt, in: Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), Europäische Gesellschaft, 2005, S. 67, 81. 55 RegBegr., BT-Drs. 15/3405, S. 39. 56 Seibt/Saame, AnwBl. 2005, 225 (228); Seibt (Fn. 54), S. 67, 92. 57 Seibt (Fn. 54), S. 67, 92. 58 Kallmeyer, ZIP 2003, 1531 (1534); Seibt/Saame, AnwBl. 2005, 225 (228). 59 BGHZ 135, 244 (251 f.), (Arag-Garmenbeck); Raiser/Veil (Fn. 20), § 15 Rn. 11. 60 Brandi, NZG 2003, 889 (890); Hirte, NZG 2002, 1 (9); Teichmann, ZGR 2002, 383 (388). Siehe beispielhaft die in _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 570 Corporate Governance einer monistischen SE sowie ihrer Internationalität bietet sich die monistische SE durchaus auch als Rechtsform für große, in mehreren Mitgliedstaaten tätige, Publikumsgesellschaften an, da für diese der Vorzug der SE interessant sein dürfte, in allen Mitgliedsstaaten unter einer relativ einheitlichen Struktur sowie unter der einheitlichen Firma einer „SE“ auftreten zu können. cc) Die monistische SE mit einem „CEO-Modell“ Im Schrifttum wird – vorwiegend in Bezug auf die SE als Publikumsgesellschaft – unter dem Schlagwort „CEOModell“ diskutiert, wie weit der Einfluss einer einzelnen Person in der monistischen SE reichen kann.61 Gegenstand dieser Debatte ist jedoch nicht so sehr die Ausrichtung der Geschäftsführung an den Kompetenzen eines angloamerikanischen chief executive officer (CEO),62 sondern vielmehr die Übernahme der angloamerikanischen Übung, die Position des CEO und des chairman of the board in Personalunion zu besetzen.63 Übertragen auf die SE entspricht dies der Konstellation, den Vorsitzenden des Verwaltungsrats zum geschäftsführenden Direktor zu bestellen bzw. ihm sogar den Vorsitz der geschäftsführenden Direktoren einzuräumen. Prominente Vertreter des Wirtschaftslebens wie Josef Ackermann64 oder Roland Berger65 haben die Einführung einer „starken“ Persönlichkeit an der Unternehmensspitze stets öffentlich gefordert, weshalb man zumindest von einem Grundinteresse an einer solchen Organisationsform in der Wirtschaft ausgehen kann. Somit ist die Machtfülle einer einzelnen Person in der monistischen SE von besonderer Relevanz. Ein wesentliches Element der Machtkonzentration ist bereits in dem dargelegten Organgefüge gesetzlich angelegt, da der Vorsitzende des Verwaltungsrats zum geschäftsführenden Direktor bestellt werden kann. Auch wenn dies in der Regierungsbegründung zum SEAG ausdrücklich als „nicht sinnvoll“ bezeichnet wird,66 ist eine solche Gestaltung zweifellos zulässig.67 Ergänzend kann die Position des Verwaltungsratsvorsitzenden dadurch gestärkt werden, dass er durch die Satzung zum Vorsitzenden der Geschäftsleitung ernannt wird. Dies ist ausweislich der Regierungsbegründung zum SEAG möglich.68 Satzungsmäßig kann die Stellung des Vorsitzenden der Geschäftsleitung überdies verfestigt werden, indem VARIA ihm Einzelgeschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis zugebilligt wird. Ein Alleinentscheidungsrecht ist jedoch nach überwiegender Ansicht unzulässig.69 Allerdings kann eine Abberufung aus der Geschäftsführung vom Vorliegen eines wichtigen Grundes abhängig gemacht werden.70 Auf Ebene des Verwaltungsrats könnte das Quorum einer Abberufung von Verwaltungsräten durch die Hauptversammlung angehoben sowie die Amtszeit der Verwaltungsräte auf die nach Art. 46 Abs. 1 SE-VO maximal zulässigen sechs Jahre erhöht werden.71 Unzulässig ist jedoch die Einräumung eines Vetorechts im Verwaltungsrat, da der Gesetzgeber in der Regierungsbegründung die Stellung des Verwaltungsrats an die des Aufsichtsrates in der AG angelehnt hat,72 bei dem nach allgemeiner Meinung ein solches Vetorecht unzulässig ist.73 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in der monistischen SE zwar keine Allmacht für einen Verwaltungsratsvorsitzenden und Vorsitzenden der Geschäftsleitung bestehen kann, da die Kontrollelemente durch die Hauptversammlung sowie durch die weiteren Verwaltungsräte nicht dispositiv sind. Dennoch besteht die Möglichkeit, eine Person mit einer Machtfülle auszustatten, die deutlich weiter reicht als etwa die des Vorstandsvorsitzenden einer deutschen Aktiengesellschaft. e) Die Mitbestimmung in der monistischen SE Die unternehmerische Mitbestimmung stellt die Organisation der monistischen SE vor besondere Probleme, die durch das SEBG in Umsetzung der SE-Richtlinie geregelt werden. Aufgrund der erheblichen Komplexität des Mitbestimmungsregimes der monistischen SE deutschen Rechts kann dieser Problemkreis im Folgenden nur skizziert werden. aa) Die Mitbestimmungs-Konzeption nach dem SEBG Das SEBG sieht vor, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber über das Modell der Mitbestimmung prinzipiell in einem detaillierten Verfahren verhandeln (§§ 11 ff. SEBG).74 Scheitert diese Verhandlungsphase, ordnet das Gesetz in den §§ 34 ff. SEBG bei Verschmelzungen als Auffanglösung an, dass die Zahl der Arbeitnehmervertreter sich nach dem höchsten An69 eine dualistische SE umgewandelten Unternehmen Allianz oder BASF. 61 Eder, NZG 2004, 544 (545); Schönborn (Fn. 35), S. 72 ff.; Teichmann, BB 2004, 53 (54). 62 Zur Rezeption des CEO-Systems in Deutschland, vgl. nur v. Hein, ZHR 166 (2003), 465 (493 ff.). 63 Siehe hierzu im Folgenden unter III. 2. b). 64 FAZ vom 26.11.2001. 65 FAZ vom 17.1.2002. 66 RegBegr., BT-Drucks. 15/3405, S. 39. 67 Theisen/Hölzl (Fn. 1), S. 305 f.; Schwarz, SE-Verordnung, 2006, Art. 43 Anh. Rn. 297. 68 RegBegr., BT-Drs. 15/3405, S. 39. Ohne satzungsmäßige Grundlage ist dagegen lediglich eine Ernennung zum Sprecher des Verwaltungsrats möglich, siehe Drinhausen (Fn. 33), Abschnitt 5, § 3 Rn. 38. Kallmeyer, ZIP 2003, 1531 (1534); Schönborn (Fn. 35), S. 87 ff.; P. Schmidt (Fn. 40), S. 199 f.; anderer Ansicht Thümmel, Die Europäische Aktiengesellschaft, 2005, Rn. 236. 70 Aufgrund des Wortlautes von § 40 Abs. 5 S. 1 ist hier jedoch eine Gleichbehandlung der geschäftsführenden Direktoren zwingend, siehe hierzu Schönborn (Fn. 35), S. 84 f. 71 Eder, NZG 2004, 544 (545); dem folgend Seibt (Fn. 54), S. 67, 87. 72 RegBegr., BT-Drs. 15/3405, S. 38. 73 Hüffer (Fn. 53), § 108 Rn. 8; Semler, in: Münchner Kommentar zum Aktiengesetz, 4. Aufl. 2004, § 108 Rn. 48, 119 m.w.N. 74 Siehe zu den Details dieses Verfahrens Güntzel, Die Richtlinie über die Arbeitnehmerbeteiligung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) und ihre Umsetzung in das deutsche Recht, 2006, S. 144 ff. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 571 VARIA Fabian Walla teil der Arbeitnehmervertreter in den Gründungsgesellschaften bemisst („Vorher-Nachher-Prinzip“).75 Berücksichtigt wird hierbei das Mitbestimmungsniveau einer Gesellschaft nur dann, wenn gemäß § 34 SEBG ein je nach Gründungsform variierendes Quorum an Arbeitnehmern im Vergleich zur Gesamtbelegschaft der neu zu gründenden SE erreicht wird. Die eigentliche Brisanz des SEBG liegt jedoch darin, dass dieser Mechanismus nicht nur auf die dualistische, sondern gemäß §§ 34, 35 SEBG auch auf die monistisch verfasste SE Anwendung findet. Der deutsche Gesetzgeber unternahm damit ein Vorhaben, das etwa Lutter als schlechterdings unmöglich einstufte,76 nämlich die Implementierung der Mitbestimmung in ein monistisches Leitungssystem. So ist nach der gesetzlichen Konzeption im Falle des Scheiterns der Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern – etwa bei der Beteiligung einer paritätisch-mitbestimmten deutschen Gesellschaft mit einem hinreichenden Arbeitnehmeranteil – der Verwaltungsrat der neu gegründeten SE gem. § 35 Abs. 1 SEBG hälftig mit Arbeitnehmervertretern zu besetzen. Es wird also die derzeitige Rechtslage in Bezug auf die Mitbestimmung im Aufsichtsrat quantitativ eins zu eins auf die monistische SE übertragen. Ergänzt wird dies durch Mechanismen, welche nach dem Vorbild von § 29 Abs. 2 S.1 MitbestG Mehrheiten der Arbeitnehmervertreter gegenüber den Anteilseignervertretern im Verwaltungsrat verhindern sollen. So sieht die SE-VO in Art. 50 Abs. 2 ein Zweitstimmrecht des Verwaltungsratsvorsitzenden bei Stimmengleichheit vor, wobei diese Position nach Art. 45 S. 2 SE-VO bei paritätischer Mitbestimmung zwingend mit einem Anteilseignervertreter zu besetzen ist. Ein Mehrstimmrecht hat der Verwaltungsratsvorsitzende zudem nach § 35 Abs. 3 SEAG, wenn Verwaltungsratsmitglieder zugleich geschäftsführende Direktoren sind und aus rechtlichen Gründen einem Stimmverbot unterliegen. bb) Vereinbarkeit mit Verfassungs- und Europarecht Diese Umsetzung ist wegen seiner qualitativen Ausweitung der Mitbestimmung77 auf das Leitungsorgan bereits im Gesetzgebungsverfahren Gegenstand kontroverser Diskussionen gewesen.78 Im Schrifttum wird die Vereinbarkeit des Modells mit der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG vor dem Hintergrund eines Verlusts der Befugnis zur Letztentscheidung durch die Vertreter der Anteilseigner79 bei paritätischer Mitbestim75 Problematisch ist hierbei vor allem, dass durch diese Rechtsfolge kein Gleichgewicht in der Verhandlungsposition zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgebern besteht. Dies folgt aus der default rule der Spieltheorie, siehe hierzu Fleischer, AcP 204 (2004), 502 (535) m.w.N. 76 Lutter, ZHR 159 (1995), 287 (297). 77 Jacobs, in: Münchner Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl. 2006, § 36 SEGB Rn. 18; Kämmerer/Veil, ZIP 2005, 369 (370). 78 Siehe hierzu die Stellungnahme der Bundesregierung, BTDrs. 15/3654, S. 1 f. 79 Siehe hierzu grundlegend BVerfGE 50, 290 (350) (zum MitbestG von 1976). mung kontrovers diskutiert, wobei wohl überwiegend von einer Verfassungswidrigkeit der Regelung ausgegangen wird.80 Zudem wird das Mitbestimmungsmodell teilweise für europarechtswidrig gehalten, da das deutsche Modell das in Art. 38b SE-VO normierte Wahlrecht zwischen monistischer und dualistischer Organisationsverfassung faktisch entwerte.81 cc) Die SE als Mittel zur Vermeidung der Mitbestimmung In Bezug auf die Mitbestimmung verdient ein weiterer Aspekt der SE im Allgemeinen besondere Beachtung: Durch die Umwandlung in eine SE eröffnet das geltenden Recht die Möglichkeit, der unternehmerischen Mitbestimmung zu entrinnen bzw. ein niedriges Mitbestimmungsniveau in einer Gesellschaft zu perpetuieren. Als Folge des Vorher-NachherPrinzips ist es nämlich möglich, eine Gesellschaft, die mangels der erforderlichen Zahl von Arbeitnehmern82 noch nicht der Mitbestimmung unterliegt bzw. knapp unter der Schwelle zur obligatorischen paritätischen Mitbestimmung (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 2 MitbestG) liegt, durch die Umwandlung in eine SE auch bei einem zukünftigen Wachstum der Mitarbeiterzahl von der Mitbestimmung frei zu stellen, da eine Änderung eines einmal bestehenden Mitbestimmungsmodells in einer SE weder durch die SE-VO noch durch das SEBG gefordert wird.83 3. Rechtstatsächliche Erkenntnisse Vor allem aufgrund der Schwierigkeiten der Umsetzung der deutschen Mitbestimmung wurde der monistischen SE überwiegend eine Zukunft als „totes Recht“ vorausgesagt.84 Unter 80 So Gruber/Weller, NZG 2003, 297 (299); Henssler, in: Beier (Hrsg.), Festschrift für Ulmer, 2003, S. 193, 202; Jacobs (Fn. 77), § 35 SEBG Rn. 17 ff.; Kämmerer/Veil, ZIP 2005, 369 (370 ff.); Roth, ZfA 2004, 431 (452 ff.); Seibt/ Wilde, in: Hommelhoff/Hopt/v.Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance, 2003, S. 377, 397; Scherer, Die Qual der Wahl: Dualistisches oder monistisches System?, 2006, S. 148. Die Vereinbarkeit mit Art. 14 GG befürwortend Frodermann in: Jannott/Frodermann (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 2005, Rn. 196; Niklas, NZA 2004, 1200 (1204); Scheibe, Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der SE unter besonderer Berücksichtigung des monistischen Systems, 2007, S. 211 f.; Reichert/Brandes, ZGR 2003, 767 (790). 81 Roth, ZfA 2004, 431 (444 f.). 82 Die unternehmerische Mitbestimmung beginnt – vorbehaltlich einiger Sonderfälle – gem. § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 2 DrittelbG in Form der Drittelmitbestimmung bei einer Arbeitnehmerzahl von in der Regel über 500. Die sog. paritätische Mitbestimmung beginnt bei einem Mitarbeiterbestand von in der Regel über 2.000 (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 MitbestG). 83 Zu den möglichen Grenzen wegen eines Verstoßes gegen das Missbrauchverbot siehe Köstler, in: Theisen/Wenz (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft, 2. Aufl. 2005, S. 369 ff. 84 Reichert/Brandes, ZGR 2003, 767 (790); ebenso zweifelnd Blanquet, ZGR 2002, 20 (49); Heinze, ZGR 2002, 67 (94); Lutter, BB 2002, 1 (4); Schiessl, ZHR 167 (2003), 235 (250). _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 572 Corporate Governance rechtstatsächlichen Gesichtspunkten lässt sich jedoch festhalten, dass Anfang 2008 in Deutschland acht monistische SE existierten, die ein operatives Geschäfts betreiben.85 Hierbei ist besonders bemerkenswert, dass die größte Gesellschaft unter ihnen fast 4.000 Mitarbeiter beschäftigt86 und mit der Mensch und Maschine SE bereits eine monistische SE am Kapitalmarkt notiert ist.87 Die monistisch verfasste SE ist somit in der Rechtswirklichkeit „angekommen“. III. Monistische Systeme aus Sicht der Corporate Governance-Debatte Mangels empirischer Erfahrungen mit eingliedrigen Leitungssystemen in Deutschland soll nunmehr auf der Grundlage der monistischen SE die Internationalität und Interdisziplinarität der Corporate Governance-Diskussion genutzt werden. Hierfür erfolgt zunächst eine Analyse monistischer Führungssysteme aus rechtsökonomischer Sicht, um schließlich mittels Erkenntnissen aus der Rechtsvergleichung zu den USA Maßnahmen zur Verbesserung der Corporate Governance in monistischen Führungssystemen zu identifizieren. 1. Rechtsökonomische Perspektive Die Grundfrage nach der Vorzugswürdigkeit des monistischen oder des dualistischen Systems ist in der Rechtsökonomie seit langem viel diskutiert. Mittlerweile scheint sich die Ansicht durchgesetzt zu haben, dass keines der Systeme dem anderen per se überlegen ist.88 Jedoch können durchaus Aussagen über Vorzüge und Defizite monistischer Strukturen gemacht werden. a) Ausgangsmodell Theoretischer Ausgangspunkt dieser Überlegungen sind die Rollen der Unternehmensleitung als agent und der Anteilseigner des Unternehmens als principal. Die Belange anderer stakeholder sind im Rahmen dieses Modells ausgeklammert. Gegenstand guter Unternehmensführung muss es sein, opportunistisches Verhalten des agent zu verhindern.89 Aufgabe der Unternehmensleitung als agent ist es, Entscheidungsprozesse für die Anteilseigner durchzuführen, da dies bei einer großen Anzahl von Anteilseignern durch diese nicht effektiv gesche- 85 Schwimbersky/Kelemen, SE Overview Table, abrufbar unter eu/http://www.workerparticipation-.european_compny/se_companies/overview_table__1/se_overview_table_januar y_2008 (zuletzt abgerufen am 22.3.2008). 86 Schwimbersky/Kelemen (Fn. 86), S. 2. 87 Vgl. hierzu den Geschäftsbericht aus dem Jahr 2008, abrufbar unter http://www.equitystory.com/Download-/Companies /mensch/Annual%20Reports/DE0006580806-JA-2007-EQD-00.pdf (zuletzt abgerufen am 21.3.2008). 88 Berrar, Die Entwicklung der Corporate Governance in Deutschland im internationalen Vergleich, 2001, S. 49 ff.; Roe, 102 Yale L. J. (1992-93), 1927 (1997); Romano, 102 Yale L. J. (1992-93), 2021 (2036); mittels einer empirischen Analyse jüngst Jungmann, ECFR 2006, 426 (441 ff.). 89 Hansmann/Kraakman, The Anatomy of Corporate Law, 2004, S. 22. VARIA hen kann.90 Solche Entscheidungsprozesse laufen nach Fama/Jensen in vier Phasen ab:91 - Vorschlag – Vorlage von Vorschlägen zur Nutzung der Produktionsmittel. - Bestätigung – Beschluss über durchzuführende Entscheidungsvorschläge. - Durchführung – Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen. - Überwachung – Messung der Leistungen der Entscheidungsträger und Festsetzung von Belohungsmechanismen. b) Flexibilitätsvorteile Dadurch, dass alle Stadien dieses viergliedrigen Entscheidungsprozesses in einem Organ vereint sind, besteht die Möglichkeit, auf äußere Einflüsse zu reagieren, indem Ressourcen zwischen den Ebenen des dargestellten Entscheidungsprozesses flexibel verteilt werden, während dies bei organschaftlicher Trennung von Leitung und Kontrolle strukturell erschwert wird. Somit identifiziert die Rechtsökonomie eine größere Flexibilität als Vorteil monistischer Führungsstrukturen.92 c) Informationsvorteile Ferner geht die Rechtsökonomie davon aus, dass das für diesen viergliedrigen Entscheidungsprozess benötigte Wissen in komplexen Organisationsstrukturen wie der eines Unternehmens auf zahlreiche Akteure verteilt ist.93 Daher bietet sich aus Sicht der Institutionenökonomie an, eine Separierung der Akteure in das Entscheidungsmanagement – mithin die ersten drei Stadien des oben beschriebenen Entscheidungsprozesses – einerseits und anderseits der Entscheidungskontrolle als letztes Stadium dieses Prozesses durchzuführen. Die Separierung von Kontrolle und Leitung ist sinnvoll, da beide Teile des Entscheidungsprozesses jeweils spezialisiertes Wissen voraussetzen.94 Hierbei stellen die Akteure des Entscheidungsmanagements, die über einen Vorsprung an Information aus dem Tagesgeschäft verfügen, den Informationsfluss zu den Entscheidungskontrolleuren sicher.95 Durch die organschaftliche Verflechtung in monistischen Systemen, welche sich in der monistischen SE im Verwaltungsrat vollzieht, kann ein besserer Informationsfluss zwischen beiden Akteuren stattfinden, was Transaktionskosten senkt und somit als abstrakter Vorteil monistischer Systeme gewertet werden 90 Adams, Ökonomische Theorie des Rechts, 2. Aufl. 2004, S. 284; Ruffner, Die ökonomischen Grundlagen eines Rechts der Publikumsgesellschaft, 2000, S. 140. 91 Fama/Jensen, 26 Journal of Law and Economics (1983), 301 (303). 92 Albach u.a. (Hrsg.), Deregulierung des Aktienrechts: Das Drei-Stufen-Modell – Ein Entwurf zur Modifizierung des Aktienrechts im Hinblick auf personalistische Gesellschaftsstrukturen und einen erleichterten Börsengang, 1988, S. 107; Bleicher/Paul, DBW 46 (1986), 263 (265). 93 Fama/Jensen, 26 Journal of Law and Economics (1983), 301 (308). 94 Ruffner (Fn. 90), S. 139. 95 Ruffner (Fn. 90), S. 140. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 573 VARIA Fabian Walla kann.96 Abgeschwächt wird dies jedoch durch das in der Verhaltenswissenschaft als agenda setting bekannte Phänomen, nach dem Menschen dazu neigen, den Informationsfluss zu kontrollierenden Akteuren zu manipulieren.97 Dies geschieht, indem Informationen selektiv weitergegeben werden, um Informationsasymmetrien zu kreieren.98 d) Kontrolldefizit Die Kehrseite dieses effizienten Informationsflusses ist jedoch, dass im monistischen System die latente Gefahr besteht, dass die Akteure beider Ebenen des Entscheidungsprozesses, mithin der Entscheidungsfindung und der Entscheidungskontrolle, kollusiv zusammenwirken.99 Nach Erkenntnissen der Verhaltenswissenschaften besteht bei einer solch engen organschaftlichen Bindung zwischen Leitung und Kontrolle die Tendenz zu einer natürlichen Gruppendynamik in Form einer Solidarisierung von Kontrolle und Leitung, welche die Effektivität der Überwachung verringert.100 Ausgelöst wird dies durch einen Gleichlauf der Interessen: Da die Entscheidungskontrolleure im Leitungsorgan auch die Richtlinien des Entscheidungsmanagements bestimmen, ist diese Gruppe nunmehr berufen, auf eigenen Entscheidungen beruhende Maßnahmen zu kontrollieren.101 Letztendlich verfolgen beide Gruppen also das identische Ziel, was opportunistische, mithin lediglich am eigenen Wohl und nicht am Wohl der Gesellschaft ausgerichtete Entscheidungen des Entscheidungsmanagements ermöglicht. Verstärkt wird dieser Effekt der Gruppendynamik dadurch, dass bei Fehlentscheidungen nur selten zwischen jenen Stadien des Entscheidungsprozesses unterschieden werden kann, so dass beide Gruppen von einer Haftung gegenüber dem principal – also bei einer monistischen SE gegenüber den Aktionären – bedroht sind.102 Besonders ausgeprägt können sich solche Solidarisierungseffekte darstellen, wenn ein als stark empfundener Akteur hierarchisch an der Spitze sowohl des 96 Davis, ZGR 2001, 268 (284); Scherer (Fn. 80), S. 113. Jensen, 48 J. Fin. (1993), 831, (864); Langevoort, 89 Geo. L. J. (2000-01), 797, 813. 98 Grundlegend Milgrom/Roberts, 94 Am. J. Soc. Sup. (1988), 154 (156 f.). („decision makers may strongly suspect that individuals or groups may attempt to manipulate their decision“). 99 Ruffner (Fn. 90), S. 140 f. 100 Ezzamel/Watson, in: Keasy/Wright (Hrsg.), Corporate Governance: Economic Management and Financial Issues, 1997, S. 62, 71; dies aus juristischer Perspektive aufnehmend Böckli, in: Hommelhoff/Hopt/v.Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance, 2003, S. 201, 214; Fleischer, AcP 204 (2004), 502 (527); Langevoort, 89 Geo. L. J., 797, 800; Lutter, in: Scheffler (Hrsg.), Corporate Governance, 1995, S. 5, 17. Siehe ferner Bainbridge, 61 Geo. Wash. L. Rev. (1992-93), 1033 (1059 ff.) und Meier-Schatz, in: Schweizer, Festschrift für Jean Nicolas Druey, 2002, S. 470 ff. (493) für eine Erklärung dieser Solidarisierung unter soziologischen Gesichtspunkten. 101 Ezzamel/Watson, in: Keasy/Thompson/Wright (Hrsg.), Corporate Governance, 1997, S. 54, 65. 102 Siehe zu dieser Problematik bei der monistischen SE Merkt, ZGR 2003, 650 (671 ff.). 97 Entscheidungsmanagements als auch der Entscheidungskontrolle steht, sich also „eine monistische Spitze im monistischen System“ bildet.103 Hier entsteht ein besonders starker Interessengleichlauf zwischen Leitung und Überwachung.104 Zudem besteht aus verhaltenswissenschaftlicher Sicht die Gefahr, dass den Kontrolleuren eine Führungsfigur zu ihrer Koordination fehlt.105 Im Ergebnis besteht die Gefahr einer ineffizienten Kontrolle des Entscheidungsmanagements in monistischen Führungssystemen. 2. Rechtsvergleichende Perspektive Nachdem nunmehr in der rechtsökonomischen Theorie ein latentes Kontrolldefizit als Eigenheit monistischer Systeme identifiziert wurde, sollen vor dem Hintergrund dieses Defizits durch einen Blick in die traditionell durch eingliedrige Führungssysteme geprägte US-amerikanische Rechtspraxis mögliche Lösungsmechanismen für die Behebung dieses Kontrolldefizits vorgestellt werden. a) Übertragbarkeit US-amerikanischer Erkenntnisse Zweifel an der Zulässigkeit rechtsvergleichender Lösungen aus den USA ergeben sich zunächst prima facie aus den durchaus signifikanten Unterschieden in den rechtstatsächlichen Rahmenbedingungen zwischen Deutschland und den USA. So ist zunächst die Orientierung am Kapitalmarkt in den USA traditionell wesentlich stärker als in Deutschland106 und stellt den wichtigsten Teil des Kontrollgefüges für US-Unternehmen dar,107 was vor allem darin begründet liegt, dass in den USA der Aktienbesitz stark fragmentiert ist.108 Ferner ist die US-Wirtschaft durch das Phänomen institutioneller Investoren geprägt, die aktiven Einfluss auf die Unternehmensführung nehmen.109 In Deutschland herrscht stattdessen traditionell ein Kontrollsystem vor, das auf Großaktionären beruht, weil der Aktienbesitz tendenziell bei wenigen Anteilseignern konzentriert ist.110 Hierbei kommt insbesondere den Banken durch das Depotstimmrecht besonderes Gewicht zu.111 Zu103 Böckli (Fn. 100), S. 201 (214). Rechner/Dalton, 12 Strategic Management Journal (1991), 155. 105 Jensen, 48 J. Fin. (1993), 831 (866). 106 Escher-Weingart, ZVglRWiss 99 (2000), 387 (390 ff.). 107 Nicklisch, Die Auswirkungen des Sarbanes-Oxley Act auf die deutsche Corporate Governance, 2007, S. 85 f.; Schneider-Lenné, in: Scheffler (Hrsg.), Corporate Governance, 1995, S. 35 (40). 108 Abeltshauser, in: Abeltshauser./Buck (Hrsg.), Corporate Governance, 2004, S. 1, 9. 109 Leyens, RabelsZ 67 (2003), 57 (67); siehe ferner Götz, Managementkontrolle durch institutionelle Investoren in Deutschland und den USA, 2000, S. 143 ff. zu den Mittel der Einflussnahme von institutionellen Investoren in den USA. 110 Holland, Das amerikanische „board of directors“ und die Führungsorganisation einer monistischen SE in Deutschland, 2006, S. 114 f.; Hopt, ZGR 2000, 779 (802 ff.). 111 Holland (Fn. 110), S. 114; Marseguerra, Corporate Financial Decisions and Market Value, 1998, S. 147 ff.; Mülbert, 104 _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 574 Corporate Governance dem haben die Banken auch aufgrund ihres hohen Anteils an der Unternehmensfinanzierung einen weitgehenden Einfluss.112 Schließlich besteht in Deutschland mit der Mitbestimmung eine Corporate Governance-Komponente, die den USA gänzlich unbekannt ist. Betrachtet man jedoch die aktuelle Entwicklung, so ist eine Konvergenzbewegung zwischen Deutschland und den USA auszumachen.113 Der Kapitalmarkt in Deutschland hat in den letzten Jahren deutlich an Bedeutung gewonnen.114 Dies zeigt sich etwa am zunehmenden Einfluss institutioneller Investoren auf das Wirtschaftsleben115 sowie in der Angleichung des regulatorischen Umfelds der Kapitalmärkte an das US-System.116 Zwar gibt es weiterhin fundamentale Systemunterschiede in den für die Corporate Governance relevanten Rahmenbedingungen, etwa den Einfluss der Banken in Deutschland. Dennoch erscheinen Erkenntnisse aus dem US-amerikanischen Recht zunehmend geeignet, Eingang ins deutsche Recht zu finden. Besonders im Bereich der internen Corporate Governance sind die systemimmanenten Unterschiede mit Ausnahme der Mitbestimmung von untergeordneter Natur. Im Ergebnis sind die Erkenntnisse aus den USA also durchaus übertragbar, jedoch sind hierbei stets die Eigenarten des deutschen Corporate Governance-Systems zu berücksichtigen. b) Das board-System im US-amerikanischen Gesellschaftsrecht Betrachtet man die Grundstrukturen der Unternehmensverfassung US-amerikanischer Prägung, erscheinen allgemeine Aussagen über die US-amerikanische Aktiengesellschaft problematisch, da aufgrund der Regelungskompetenz der Bundesstaaten das Gesellschaftsrecht nicht einheitlich geregelt ist. De facto hat sich jedoch eine repräsentative gesellschaftsrechtliche Ordnung durch den Einfluss von Modell-Gesetzen117 soin: Hopt u.a. (Hrsg.), Comparative Corporate Governance – The State of the Art and Emerging Research, 1998, S. 445 (479 ff); Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 4. Aufl. 2005, S. 656 f. 112 Dies empirisch belegend Gerum, Das deutsche Corporate Governance-System – Eine empirische Untersuchung, 2007, S. 87 ff.; siehe ferner Hopt, ZGR 2000, 779 (803 f.). 113 So spricht Seibert, AG 2004, 529 (531) etwa von einer „Auflösung der Deutschland-AG“. 114 Merkt, Gutachten G für den 64. Deutschen Juristentag, 2002, S. 38 f.; Nicklisch (Fn. 107), S. 83. 115 Escher-Weingart, ZVglRWiss 99 (2000), 386 (402 ff.); siehe zu den Formen der Unternehmenskontrolle durch institutionelle Finanzinvestoren Mackensen, Institutionelle Anleger im Unternehmensrecht Deutschlands und der USA, 2000, S. 148 ff. 116 So lässt sich etwa die Einführung des WpHG im Jahre 1994 als Angleichung des deutschen an das US-Kapitalmarktrecht mit seinem Securities Exchange Act 1934 verstehen. 117 Als besonders einflussreich ist hierbei der Revised Model Business Corporation Act von 1984 anzusehen, siehe hierzu Windbichler, ZGR 1985 50 (51 ff.). Zum rechtshistorischen VARIA wie aus der allgemeinen Tendenz der Inkorporierung der meisten Unternehmen im Bundesstaat Delaware herausgebildet.118 So hat sich für die Unternehmensverfassungen ein statuary scheme119 herausgebildet, welches gleichermaßen für die große börsennotierte public corporation, als auch für die nicht-börsennotierte, personalistisch strukturierte closly held corporation gilt: Die Leitung des Unternehmens steht dem board of directors als Kollegialorgan zu.120 Dieses delegiert in der Praxis die Führung der Tagesgeschäfte an executive officers.121 An deren Spitze steht der chief executive officer (CEO), der zumeist weisungsbefugt gegenüber den anderen Mitgliedern der Geschäftsführung ist.122 Gewählt wird ein board von den Aktionären der Gesellschaft. Hierbei besteht durch das System des proxy votings, wonach die in der Hauptversammlung nicht anwesenden Aktionäre den executive officers auf der Basis ihrer Vorschläge die Vollmacht zur Stimmausübung erteilen,123 ein signifikanter Einfluss der executive officers auf die Wahl der board-Mitglieder.124 Ein board besteht in der Praxis bei großen Gesellschaften in der Regel aus zehn bis vierzehn directors.125 Jene directors sind executive directors, soweit sie zugleich Managementaufgaben übernehmen126 und non-executive directors, soweit sie nicht mit Managementaufgaben betraut sind.127 Hierbei ist es weit verbreitet, dass der Vorsitzende des Verwaltungsrats (chairman of the board) in Personalunion ebenfalls den Vorsitz der Geschäftsführung als CEO innehat.128 Hauptaufgaben des board sind die Bestellung und Abberufung des CEO, die strategische Unternehmensplanung, die Beratung der Geschäftsführung, die Etab- Hintergrund, ferner Buxbaum, in: Feddersen/Hommelhoff/ Schneider (Hrsg.), Corporate Governance – Optimierung der Unternehmensführung und der Unternehmenskontrolle im deutschen und amerikanischen Aktienrecht, 1996, S. 65, 71 ff. 118 Cary, 83 Yale L. J. (1973-74), 663 (668 ff.); Merkt/Göthel, US-Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2006, Rn. 270. 119 Merkt/Göthel (Fn. 118), Rn. 566 ff.; Leyens, RabelsZ 67 (2003), 59 (69). 120 V. Hein, RIW 2002, 501 (502). 121 Elsing/Van Alistine, US-Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 603; Merkt/Göthel (Fn. 118), Rn. 575. 122 Schander, Die Europa-AG und ihre Organverfassung vor den Herausforderungen eines modernen Kapitalmarkts, 2003, S. 167; Witt, Corporate Governance-Systeme im Wettbewerb, 2003, S. 65 f. 123 Escher-Weingart, ZVglRWiss 99 (2000), 387 (399); Holland (Fn. 110), S. 58; Merkt/Göthel (Fn. 118), Rn. 784; Werner, 81 Colum. L. R. (1981), 1611 (1635). 124 Fisch, 46 Vand. L. Rev. (1993), 1129 (1163 f.); Holland (Fn. 110), S. 58 f.; Monks/Minow (Fn. 15), S. 203. 125 Holland (Fn. 110), S. 134. 126 Henn/Alexander, Laws of Corporations and Other Business Enterprises, 3. Aufl. 1983, S. 553 ff. 127 Holland (Fn. 110), S. 18. 128 Millstein/MayAvoy, 98 Colum. L. Rev. (1998), 1283, (1287); Monks/Minow (Fn. 15), S. 208. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 575 VARIA Fabian Walla lierung von Kontrollverfahren und das Risikomanagement.129 In der Praxis führt das board seine Aufgaben durch eine Reihe von Ausschüssen (sog. committees) aus. Diesen wird die Entscheidungsbefugnis für ihren Aufgabenbereich übertragen.130 c) Vergleich zur monistischen SE deutschen Rechts Im Vergleich zur monistischen SE deutschen Rechts zeigt sich, dass eine weitgehende Konvergenz der grundlegenden Organisationsstrukturen besteht. Erwähnenswerte Unterschiede bestehen insbesondere in Bezug auf die Entscheidungskompetenz der committees, da in der monistischen SE einzig der Verwaltungsrat Beschlüsse fassen kann und die Ausschüsse diese Beschlüsse nach § 34 Abs. 4 SEAG lediglich vorbereiten bzw. die Ausführung von früheren Beschlüssen überwachen dürfen. Überdies ist es in der monistischen SE nicht möglich, dem Vorsitzenden der Geschäftsführung ein Weisungsbzw. Alleinentscheidungsrecht gegenüber den anderen geschäftsführenden Direktoren zuzugestehen.131 d) Reformbestrebungen in der US-Corporate-GovernanceDebatte Angestoßen durch diverse Unternehmenskrisen,132 die auf jenes unter rechtsökonomischer Perspektive entwickelte Defizit an Kontrolle des Managements zurückgeführt wurden, kam es in der US-amerikanischen Corporate Governance-Debatte zu umfangreichen Reformbemühungen im Bereich interner Corporate Governance.133 Als wesentliche Reformansätze lassen sich hier drei Maßnahmenkreise systematisieren: - Anzahl und Unabhängigkeit der non-executive directors - Trennung der Ämter des CEO und des chairman of the board - Aufstellung von committees aa) Anzahl und Unabhängigkeit der non-executive directors So wurde bereits seit den 1980er Jahren als Reformmaßnahme gefordert, dass eine Stärkung des board gegenüber den executives erfolgen solle.134 Erster Ansatzpunkt hierfür war die Stärkung der Rolle der non-executive directors, um eine effektive Überwachung der Unternehmensführung zu gewähr- 129 Siehe hierzu unter der Nennung weiterer Aufgabenbereiche Holland (Fn. 110), S. 23 f. 130 § 141(c)(2) Delaware General Corporation Law; § 8.25 Revised Model Business Corporation Act; siehe hierzu Schneider-Lenné, in: Scheffler (Hrsg.), Corporate Governance, 1995, S. 27, 35. 131 Siehe hierzu unter III. 1. b) bb). 132 Auslöser waren etwa Betrugsfälle durch das Management, siehe hierzu Goerdeler, ZGR 1987, 219 (220 ff.). In jüngerer Zeit ist ferner an die öffentlichkeitswirksamen Zusammenbrüche von Unternehmen wie Enron oder WorldCom zu denken, siehe Schwarz/Holland, ZIP 2002, 1661. 133 Siehe hierzu übersichtsartig Berrar (Fn. 88), S. 117 ff. 134 So bezeichnete Millstein, 48 Bus. Law. (1993), 1485 das board als „parsley on the fish“. leisten.135 Diese Betonung der Kontrollaufgabe des board wird zurückgehend auf die Arbeiten von Eisenberg als monitoring model136 bezeichnet, welches seinen Ausdruck vor allem in der Forderung nach einer Erhöhung des Anteils von non-executive directors im board sowie in restriktiveren Vorschriften zur Sicherstellung ihrer tatsächlichen Unabhängigkeit fand. Diese Forderungen wurden durch den Einsatz von auf freiwilliger Befolgung basierenden Kodizes oder mittels Änderungen der Börsenzulassungsbestimmungen umgesetzt. Beispielhaft wurde in die Zulassungsbestimmungen der New Yorker Börse (NYSE) aufgenommen, dass die Mehrheit des board aus independent bzw. outside directors, also unabhängigen Mitgliedern bestehen muss. Um diese Qualifikation zu erfüllen, dürfen board-Mitglieder selbst bzw. ihre Familie neben ihrer Vergütung als non-executive director keine signifikanten Zahlungen von der Gesellschaft erhalten haben sowie gegenwärtig oder binnen drei Jahren keine executives der Gesellschaft gewesen sein bzw. nicht in einem sonstigen Dienstverhältnis zu ihr gestanden haben. Ferner schließt eine Tätigkeit als Führungskraft in einem Unternehmen, das wesentliche Geschäfte mit der Gesellschaft unterhält, eine Qualifikation als unabhängig aus.137 Andere Empfehlungen hatten den Kreis der nicht unabhängigen Personen sogar auf sämtliche Mitarbeiter von Unternehmen ausgedehnt, die wesentliche Geschäftsbeziehungen zur Gesellschaft unterhalten.138 Neuere Vorschläge gehen noch weiter und verlangen eine hauptamtliche Tätigkeit der directors139 oder fordern, die Anzahl der executive directors im board pauschal auf zwei zu reduzieren.140 bb) Trennung von CEO und chairman of the board Hieran anknüpfend gab es überdies Versuche, die tradierte Praxis einer Personalunion von chairman of the board und CEO zu beenden,141 da etwa der spektakuläre Zusammenbruch des WorldCom-Konzerns142 maßgeblich auf die Machtfülle der dortigen CEO zurückgeführt wurde.143 In die gleiche 135 Bainbrigde, 61 Geo. Wash. L. Rev. (1992-93), 1035 (1056 f.); Bhagat/Black, 54 Bus. Law. (1999), 1097 (1101). 136 Eisenberg, 63 Cal. L. Rev. (1975), 375 (396); Eisenberg, The Structure of the Corporation – A Legal Analysis, 1976, S. 177 ff.; siehe auch Werner, 81 Colum. L. R. (1981), 1611, (1654 f.). 137 § 303A.01 und § 303A.02 NYSE Listed Company Manual, abrufbar unter http://www.nyse.com/Frameset.html?nyref=http%3A//www.nse.com/regulaton/listed/118250812442 2.html&displayPage=/lcm/lcm_section.html (zuletzt abgerufen am 10.9.2007). 138 ABA, 56 Bus. Law. (2001), 1571 (1590 f.). 139 Kraakman, in: Feddersen/Hommelhoff/U.H.Schneider (Hrsg.), Optimierung der Unternehmensführung und der Unternehmenskontrolle im deutschen und amerikanischen Aktienrecht, 1996, S. 129, 141 f.; Gilson/Kraakman, 43 Stan. L. Rev. (1990-91), 863 (884 ff.). 140 ABA, 56 Bus. Law. (2001), 1571 (1590). 141 ABA, 56 Bus. Law. (2001), 1571 (1592). 142 FAZ vom 9.8.2002. 143 Schwarz/Holland, ZIP 2003, 1661 (1664 f.). _____________________________________________________________________________________ ZJS 5/2008 576 Corporate Governance Richtung gingen Bestrebungen, durch die Schaffung eines lead directors die Macht des CEO and chairman of the board zu begrenzen.144 Diese Funktion soll ein non-executive oder gar independent director übernehmen, der mit Sonderkompetenzen ausgestattet wurde, etwa dem Recht, Sitzungen zu leiten und die Tagesordnung zu bestimmen.145 cc) Aufstellung von committees, insbesondere eines audit committees Schließlich wurde in den Reformbestrebungen der Versuch einer verstärkten Diversifizierung der board-Strukturen durch Ausschüsse unternommen, die ausschließlich oder mehrheitlich mit independent directors besetzt sein sollten.146 Als Höhepunkt dieser Bemühungen erließ der US-Bundesgesetzgeber in Folge des Enron-Skandals147 im Jahr 2002 den Sarbanes-Oxley Act. Dieses Gesetz erhebt seither die Aufstellung eines audit committee,148 also eines Prüfungsausschusses für börsennotierte Unternehmen in den Rang einer gesetzlichen Pflicht.149 Zweck eines solchen Ausschusses ist es, die Finanzangelegenheiten der Gesellschaft zu überwachen sowie insbesondere die Kontrolle der Wirtschaftsprüfer sicherzustellen.150 3. Schlussfolgerungen für die monistische SE deutschen Rechts de lege ferenda Die vorgestellten Maßnahmen aus der amerikanischen Corporate Governance-Debatte erscheinen im Ausgangspunkt grundsätzlich geeignet, das unter rechtsökonomischer Perspektive festgestellte Kontrolldefizit im Rahmen der internen Corporate Governance einer monistischen SE deutschen Rechts zumindest zu verringern. Bei einer möglichen Implementierung der Maßnahmen im Hinblick auf die monistische SE de lege ferenda wird insbesondere darauf zu achten sein, die deutsche Besonderheit der Mitbestimmung zu integrieren, welche dem US-System naturgemäß fremd ist. Als Anknüpfungspunkt für eine solche Umsetzung bietet es sich insbesondere an, ähnliche Regelungen wie in den USA im Wege der Aufnahme von Empfehlungen für eine monistische SE in den Deutschen Corporate Governance Kodex zu schaffen. Hiernach müssten zwar nur die am Kapitalmarkt notierten monistischen SE 144 Eisenberg, 19 Cardozo L. Rev. (1998-99), 237 (239); v. Hein, RIW 2002, 501 (506). 145 v. Hein, RIW 2002, 501 (506). 146 Siehe hierzu etwa § 3A.04 American Law Institute Principles of Corporate Governance, abrufbar unter: http://www.ali.org/ index.cfm?fuseaction=publications.publicationscatalog (zuletzt abgerufen am 10.9.2007). 147 Siehe hierzu insbesondere das Interview mit Hopt, HB vom 21.2.2002. 148 Sec. 301(1) Sarbanes-Oxley Act 2002. 149 Zur Umsetzung und exterritorialen Wirkung dieses Gesetzes, vgl. Kersting, ZIP 2003, 2010. 150 Girnghuber, Das US-amerikanische Audit Committee als Instrument zur Vermeidung bei der Überwachungstätigkeit deutscher Aufsichtsräte, 1998, S. 34 ff.; Goerdeler, ZGR 1987, 219 (223). VARIA gemäß § 161 AktG erklären, ob sie den Empfehlungen des Kodex Folge leisten. Dennoch könnte durch eine Aufnahme von Empfehlungen in den Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) auch für nicht-börsennotierte Gesellschaften erstmals eine best practice in Bezug auf monistische Führungssysteme in Deutschland festgeschrieben werden, welche – anders als etwa die Kodizes in den USA – deutsche Besonderheiten wie etwa das Bestehen der unternehmerischen Mitbestimmung berücksichtigen. Berücksichtigt man die im Rahmen dieses Beitrags genannten rechtstatsächlichen Erkenntnisse, welche eine durchaus gegebene praktische Existenz monistischer SEs erkennen lassen, und bedenkt man zudem, dass gegenwärtig auf europäischer Ebene ein allgemeines Wahlrecht zwischen monistischer und dualistischer Organisation für das nationale Aktienrecht erwogen wird,151 so ist die Aufnahme von Regelungen, welche die Entwicklung der US-amerikanischen Corporate Governance-Diskussion berücksichtigen, ein notwendiger Schritt, um die monistische SE als attraktive Alternative auf dem Markt der Rechtsformen auszugestalten. Selbstverständlich bleibt jedoch auch der deutsche Gesetzgeber gehalten, die Entwicklungen in Bezug auf Kontrolldefizite in monistisch verfassten Gesellschaften zu beobachten, um im Falle negativer Erfahrungen in der Unternehmenspraxis oder bei einer systematischen Nichtbefolgung des DCGK zu reagieren – wie etwa im Beispiel der Offenlegung von Vorstandsvergütungen bei der AG152 – und etwaigen Defiziten in den bestehenden monistischen SE auch gesetzgeberisch zu begegnen. IV. Zusammenfassung in Thesen 1. Die monistische SE deutschen Rechts ist das Produkt eines komplexen Zusammenspiels von europäischem und deutschem Recht. Ihre Binnenverfassung gemäß der Ausführung in deutsches Recht ist mit der SE-Verordnung vereinbar. 2. Inhaltlich orientiert sich die Unternehmensverfassung bis auf wenige Unterschiede an der klassischen boardStruktur aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis, wobei aufgrund der weit reichenden Satzungsautonomie vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der gesetzlichen Rahmenbedingungen bestehen. 3. Die „Ankunft“ der monistischen SE in der Rechtswirklichkeit ist anzuerkennen. Um das Corporate-GovernanceModell der monistischen SE zu verbessern, sollten die den monistischen Leitungssystemen immanenten Kontrolldefizite verringert werden. 4. Hierzu bietet sich rechtspolitisch zuvörderst das Mittel der Aufnahme von Empfehlungen einer best practice in den DCGK an, welche sich an den Entwicklungen der Corporate Governance-Diskussion in den USA orientieren. 151 Siehe hierzu bereits Fn. 7. So wurde der Gesetzgeber durch das VorstOG (BGBl. I 2005, S. 2267 f.) tätig, da die Empfehlung in Ziff. 4. 2. 4. nicht hinreichend beachtet wurde, siehe hierzu Spindler, NZG 2005, 689. 152 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 577