taxifahrer stirbt raubueberfall

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taxifahrer stirbt raubueberfall
Inhalt
AUFSÄTZE
Zivilrecht
Vorsicht – Kinder haften für ihre Eltern!
Zum 10. Geburtstag des
„Minderjährigenhaftungsbeschränkungsgesetzes“
Von Prof. Dr. Diederich Eckardt, Trier
444
Strafrecht
Zu den Voraussetzungen der (sukzessiven)
Beteiligung – zugleich Anmerkung zu BGH,
Urt. v. 18.12.2007 – 1 StR 301/07, NStZ 2008, 280
Von Prof. Dr. Uwe Murmann, Göttingen
456
Ermöglichung der Dienstausübung als strafbare
Korruption
Von Prof. Dr. Mark Deiters, Münster
465
Bezahlung von Geldstrafen durch das Unternehmen –
§ 258 StGB oder § 266 StGB?
Von Ass. iur. Meik Kranz, Hannover
471
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Zivilrecht
Eigentumsvorbehalt und Anwartschaftsrecht
Von Prof. Dr. Johann Kindl, Münster
477
Strafrecht
Die Lehre von der objektiven Zurechnung
und ihre Anwendung – Teil 1
Von Prof. Dr. Ingeborg Puppe, Bonn
488
Inhalt (Forts.)
5/2008
ÜBUNGSFÄLLE
Zivilrecht
Übungsfall: Die falsche Frau
Von Ass. iur. Dr. Gregor Roth, Rechtsanwältin
Silke Warmer, Hamburg
497
Öffentliches Recht
Übungsfall: Eile mit Weile – die verspätete
vorläufige Amtsenthebung
Von Rechtsanwältin Anja Mayer, lic. en droit,
Rechtsreferendar Alexander Sperlich, LL.M. (Cornell),
Düsseldorf
512
Strafrecht
Übungsfall: Straftaten gegen Kraftfahrzeuge
Von Rechtsreferendar Dr. Niclas Börgers, Köln,
Rechtsanwalt Dr. Ralph Grunewald, LL.M. (UW-Madison),
Düsseldorf
521
ENTSCHEIDUNGSBESPRECHUNGEN
Öffentliches Recht
BGH, Urt. v. 24.4.2008 – III ZR 252/06
(Vertrauensschutz und Mitverschulden im Rahmen
des Amtshaftungsanspruchs)
(Privatdozent Dr. Matthias Cornils, Mainz)
534
ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN
Zivilrecht
BGH, Urt. v. 16.7.2008 – VIII ZR 348/06
(„Opt-out“-Erklärung in „Payback-Karten-Rabattvertrag“)
(Privatdozent Dr. Markus Artz, Trier/Heidelberg/Bielefeld)
539
BGH, Urt. v. 15.7.2008 –VIII ZR 211/07
(Nachlieferungsanspruch des Käufers erstreckt sich
nicht auf Einbau der mangelfreien Ersatzsache)
(Prof. Dr. Beate Gsell, Augsburg)
542
BGH, Urt. v. 29.4.2008 –XI ZR 371/07
(Keine Nichtleistungskondiktion bei irrtümlicher
Zuvielüberweisung durch die Bank)
(Prof. Dr. Katja Langenbucher, Frankfurt a.M.)
545
BGH, Urt. v. 16.4.2008 –XII ZR 144/06
(Inzidente Vaterschaftsfeststellung im Regressprozess des Scheinvaters gegen den mutmaßlichen
Erzeuger)
(Prof. Dr. Bettina Heiderhoff, Hamburg)
547
BGH, Urt. v. 28.4.2008 –II ZR 264/06
(Zur Durchgriffshaftung wegen materieller
Unterkapitalisierung einer GmbH)
(Privatdozent Dr. Stefan J. Geibel, Tübingen/Konstanz)
549
Öffentliches Recht
EuGH, Urt. v. 3.9.2008, verb. Rs C-402/05 P
und C-415/05
(Gemeinschaftsrechtlicher Grundrechtsschutz gegen
europarechtlich umgesetzte VN-Sanktionen)
(Prof. Dr. Matthias Rossi, Augsburg)
551
Inhalt (Forts.)
5/2008
ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN (Forts.)
Strafrecht
BGH, Urt. v. 10.6.2008 – 5 StR 38/08
(Beweisantragsrecht – Zum Konnexitätserfordernis
bei fortgeschrittener Beweisaufnahme)
(Wiss. Assistentin Dr. Janique Brüning, Hamburg/Greifswald) 554
BUCHREZENSIONEN
Öffentliches Recht
Wolfgang Jakob, Einkommensteuer, 4. Aufl. 2008
(Ref. iur. Dr. Florian Meininghaus, Diplom-Jurist (Univ.),
Regensburg)
557
Richard H. Fallon, Jr., The Dynamic Constitution –
An Introduction to American Constitutional Law,
2005
(Tammo Lange, Münster)
558
Strafrecht
Rudolf Rengier, Strafrecht – Besonderer Teil I, 2008;
Strafrecht – Besonderer Teil II, 2008
(Wiss. Mitarbeiter Sascha Kische, LL.M., Osnabrück)
560
Marc Russack, Die Revision in der strafrechtlichen
Assessorklausur, 2. Aufl. 2008
(Rechtsanwalt Roman G. Weber, LL.M., Detmold)
562
Uwe Hellmann/Katharina Beckemper, Fälle zum
Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 2008
(Rechtsanwalt Roman G. Weber, LL.M., Detmold)
563
Uwe Murmann, Prüfungswissen Strafprozessrecht
2008
(Richter beim Amtsgericht Dr. Tobias Paul)
564
VARIA
Allgemeines
Corporate Governance in einer monistisch verfassten
Societas Europaea deutscher Provenienz
Von Fabian Walla, Hamburg
566
Vorsicht – Kinder haften für ihre Eltern!
Zum 10. Geburtstag des „Minderjährigenhaftungsbeschränkungsgesetzes“
Von Prof. Dr. Diederich Eckardt, Trier
I. Zur Themenstellung
Die Tatsache, dass unter gewissen Voraussetzungen „Eltern
für ihre Kinder haften“ – technisch natürlich: die auf § 832
Abs. 1 BGB gegründete Haftung der Eltern für (gesetzlich
vermutete) eigene Sorgfaltspflichtverletzungen bei der Belehrung und Beaufsichtigung ihrer Kinder1 –, ist nicht nur den
Juristen in Ausbildung und Praxis wohlvertraut, sondern auch
dem juristischen Laien präsent; moderne Anwendungsfälle
wie etwa die der Urheberrechtsverletzungen durch Minderjährige im Internet2 sind hier an die Stelle der früheren Paradebeispiele wie dem des unvorsichtigen Umgangs von Kindern mit Streichhölzern3 getreten und halten in Fachkreisen
wie in der Allgemeinheit das Interesse an dieser Haftungskonstellation wach.
In diesem Beitrag soll es dagegen um die genau umgekehrte Konstellation der „Haftung von Kindern für ihre Eltern“ gehen. Damit ist nicht die Haftung von Kindern für
mangelhafte Beaufsichtigung ihrer Altvorderen gemeint (die
es natürlich nicht gibt), und auch nicht die unterhaltsrechtliche Einstandspflicht finanziell leistungsfähiger Abkömmlinge für ihre verarmten Eltern (die es sehr wohl gibt).4 Hier
geht es vielmehr um Haftungsfolgen und andere Rechtsnachteile, die minderjährigen Kindern aufgrund von Handlungen
ihrer Eltern als ihrer gesetzlichen Vertreter drohen könnte.
1. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 13.
Mai 1986
Das Problem der „Haftung des Kindes für seine Eltern“ verdankt seinen Eintritt in das Bewusstsein einer breiteren Fachöffentlichkeit einem schon einige Zeit zurückliegenden verfassungsgerichtlichen Paukenschlag. Die damit angesprochene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Mai
19865 betraf ein zwei Jahre zuvor ergangenes Urteil des Bundesgerichtshofs.6 Der BGH hatte darin zwei Schwestern zur
Zahlung von etwa 500.000 € verurteilt, und zwar an einen
Gläubiger des Unternehmens, das die beiden zusammen mit
ihrer Mutter in ungeteilter Erbengemeinschaft nach dem verstorbenen Vater betrieben hatten. Der Gläubiger hatte aus
einem Schuldanerkenntnis geklagt, das die Mutter der beiden
1
,,Kinder“ steht im Folgenden synonym für ,,Minderjährige“,
mit ,,Eltern“ sind der oder die gesetzlichen Vertreter eines
Minderjährigen gemeint.
2
Vgl. jüngst LG München I MIR 2008, Nr. 193 = MMR
2008, 619.
3
Vgl. m.w.N. BGHZ 111, 282 = NJW 1990, 2553; OLG
Zweibrücken NJW-RR 2007, 173; OLG Frankfurt a.M. NJWRR 2005, 1188; OLG Oldenburg NJW-RR 2004, 1671; OLG
Koblenz NJW 2004, 3047; LG Bielefeld NJW-RR 2007, 610;
Berning-Vortmann, JA 1986, 12.
4
Vgl. BVerfG NJW 2005, 1927; BGHZ 169, 59 = NJW 2006,
3344 m. Anm. Koritz, NJW 2007, 270.
5
BVerfGE 72, 155 = NJW 1986, 1859.
6
BGHZ 92, 259 = NJW 1985, 136 = JuS 1985, 316.
im Namen der seinerzeit noch minderjährigen Kinder dem Gläubiger erteilt hatte. Der BGH hatte hieran im Ergebnis nichts
auszusetzen gehabt. Das Schuldanerkenntnis war nach Ansicht des BGH insbesondere auch nicht deswegen kondizierbar, weil die Fortführung des Unternehmens durch eine Erbengemeinschaft unter Einschluss Minderjähriger dem Erfordernis gerichtlicher Genehmigung unterfalle; die einschlägige
Vorschrift des § 1822 Nr. 3 BGB, die u.a. die Gründung einer
unternehmenstragenden Gesellschaft der Genehmigungspflicht unterwirft, sei auf die dauerhafte Fortführung eines
Unternehmens durch eine Erbengemeinschaft weder unmittelbar noch entsprechend anwendbar, da in der Fortführung kein
konkludenter Abschluss eines Gesellschaftsvertrages gesehen
werden könne.
Diese Sachbehandlung entsprach der damals ganz überwiegenden Anschauung, fand aber nicht die Billigung des BVerfG,
das darin einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Kinder erkannte; mit diesem Grundrecht sei es
unvereinbar, wenn Kinder „als Folge der Vertretungsmacht
ihrer Eltern mit erheblichen Schulden in die Volljährigkeit
entlassen würden“.7 Mit der Anordnung des gesetzlichen
Vertretungsrechts der Eltern solle insbesondere verhindert
werden, dass Kinder Verträge abschließen, die nicht in ihrem
wohlverstandenen Interesse liegen. Soweit sich Fremdbestimmung der Kinder durch ihre Eltern danach als Minderjährigenschutz erweise, entspreche dies dem Kindeswohl, so
dass eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts ausscheide.
Mit der Einräumung der gesetzlichen Vertretungsmacht sei aber
gleichzeitig die Gefahr verbunden, dass sich eine unkontrollierte Entscheidungsbefugnis der Eltern nachteilig für die Kinder
auswirke. Insoweit sei der Gesetzgeber aufgerufen, in Wahrnehmung seines verfassungsmäßigen Wächteramts Regelungen
zu treffen, die gewährleisteten, dass der volljährig Gewordene
mehr als nur eine scheinbare Freiheit erreiche.
Die Bindungen, die kraft des elterlichen Vertretungsrechts
geschaffen wurden, seien – so das BVerfG weiter – verfassungsrechtlich zwar noch hinnehmbar, wenn sich die Haftung
des Minderjährigen bei einem ererbten und fortgeführten
Handelsgeschäft auf das im Wege der Erbfolge erworbene
Vermögen beschränke. Wenn aber der Gesetzgeber den Eltern das Recht einräume, ihre Kinder in einem weitergehenden Maße zu verpflichten, müsse er gleichzeitig dafür Sorge
tragen, dass den Volljährigen Raum bleibe, um ihr weiteres
Leben selbst und ohne unzumutbare Belastungen zu gestalten, die sie nicht zu verantworten hätten.
Die Gesetzesbestimmungen über die elterliche Vertretungsmacht (§§ 1629, 1643, 1812, 18121 f. BGB) wurden
deshalb insoweit für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, als „Eltern im Rahmen der Fortführung eines zum Nachlass gehörenden Handelsgeschäfts ohne eine Genehmigung des
Familiengerichts für ihre minderjährigen persönlich haftenden Kinder Verpflichtungen eingehen können, die über die
7
BVerfGE 72, 155 (172 f.) = NJW 1986, 1859 (1860).
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Vorsicht – Kinder haften für ihre Eltern
mit der Erbschaft erworbene Haftungsmasse hinausgehen“.
Dem Gesetzgeber erteilte das BVerfG den üblichen Nachbesserungsauftrag, wobei es ausdrücklich sowohl eine Erweiterung des gesetzlichen Genehmigungskatalogs gemäß § 1643
Abs. 1 i.V.m. §§ 1821 f. BGB in Betracht zog (die in der
späteren Diskussion sog. „Genehmigungslösung“) als auch
eine Beschränkung der Haftung eines minderjährigen Miterben auf das ererbte Vermögen (die sog. „Haftungsbeschränkungslösung“).8
2. Das Gesetz zur Beschränkung der Haftung Minderjähriger
(MHbeG)
Diesem Nachbesserungsauftrag kam der Gesetzgeber nach
einer quälend langwierigen Diskussion mit dem „Gesetz zur
Beschränkung der Haftung Minderjähriger“ (MHbeG) vom
25. August 1998,9 in Kraft getreten am 1. Januar 1999, endlich nach. Um den volljährig Gewordenen auch vor den zukünftigen Risiken einer während der Minderjährigkeit erlangten
Gesellschafterstellung in einer Personengesellschaft zu schützen, wurde durch das MHbeG zunächst das Recht begründet,
sich mit Eintritt der Volljährigkeit aus einer Personengesellschaft zu lösen; dies ist für die GbR im neu gefassten § 723
Abs. 1 S. 3 Nr. 2 BGB ausdrücklich geregelt und ergibt sich
für die Auflösung einer OHG (§ 133 HGB) bzw. Auseinandersetzung einer Erbengemeinschaft (§§ 2044 Abs. 1 S. 2, 749
Abs. 2 S. 1 BGB) durch Auslegung des Tatbestandsmerkmals
„wichtiger Grund“.10
Kernstück des MHbeG war aber die neu eingefügte Bestimmung des § 1629a BGB.11 Die Norm ändert für die Dauer der Minderjährigkeit nichts an der unbeschränkten Haftung
des Kindes auch für die von den gesetzlichen Vertretern zu
verantwortenden Verbindlichkeiten,12 eröffnet aber dem volljährig gewordenen Kind unbefristet die Option, seine Haftung
für solche Verbindlichkeiten auf denjenigen Vermögensbestand zu beschränken, der bei Eintritt der Volljährigkeit noch
8
BVerfGE 72, 155 (173) = NJW 1986, 1859 (1861).
BGBl. I (1998), S. 2487.
10
BT-Drs. 13/5624, S. 10.
11
Vgl. hierzu monographisch insbes. Arnold, Das Minderjährigenhaftungsbeschränkungsgesetz und § 15 HGB, 2002;
Athanasiadis, Die Beschränkung der Haftung Minderjähriger,
2000; Binninger, Minderjährigenhaftungsbeschränkung und
erbrechtliche Haftungsbeschränkung, 2008; Konz, Die Möglichkeit der Haftungsbeschränkung volljährig Gewordener
gemäß 1629a in Verbindung mit §§ 1990, 1991 BGB, 2006;
Malik, Die Grenzen der elterlichen Vermögenssorge, 1999;
Quitzau, Haftungsbeschränkung zugunsten Minderjähriger,
2006; Thiel, Das Gesetz zur Beschränkung der Haftung Minderjähriger, 2002; Waitzmann, Das Eltern-Kind-Verhältnis im
Schadensrecht, Diss. Tübingen 2002; aus der Kommentarliteratur (jeweils zu § 1629a) s. insbes. Coester, in: Staudinger,
Kommentar zum BGB, Stand 2008; Diederichsen, in: Palandt,
BGB, 67. Aufl. 2008; Huber, in: Münchener Kommentar zum
BGB, 4. Aufl. 2002; Kaiser, in: Dauner-Lieb u.a. (Hrsg.),
Anwaltkommentar BGB, 2005.
12
Krit. dazu etwa K. Schmidt, in: Wolf-Rüdiger Bub (Hrsg.),
Festschrift für Peter Derleder, 2005, S. 601 (607).
9
ZIVILRECHT
vorhanden ist. Diese Option gilt – soweit es sich nicht um
Verbindlichkeiten aus Rechtsgeschäften handelt, die allein der
Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse des Kindes dienten (§ 1629a Abs. 2 BGB)13 – namentlich für solche Geschäfte, die entweder unmittelbar durch seine gesetzlichen Vertreter
abgeschlossen worden sind oder mit deren nach dem Gesetz
erforderlichen Einverständnis zustande gekommen sind.
Für sein Haftungsbeschränkungsmodell bedient sich das
Gesetz der Rechtsfigur einer Haftungszäsur:14 Mit Eintritt der
Volljährigkeit wird das Vermögen des Kindes in zwei Haftungsmassen separiert, indem das zu diesem Zeitpunkt vorhandene Kindesvermögen – das sog. „Volljährigkeitsvermögen“
oder auch „Altvermögen“ – den Altgläubigern haftet, während den Neugläubigern exklusiv das danach erworbene Neuvermögen zur Verfügung steht, gegebenenfalls zuzüglich der
durch die Altforderungen nicht aufgezehrten Teile des Altvermögens. Technischer Behelf zur Durchführung der Haftungstrennung ist die dem Recht der Nachlassinsolvenz entnommene „Dürftigkeitseinrede“, mit der zum einen die Befriedigung der Altgläubiger insoweit verweigert werden kann, als
das Volljährigkeitsvermögen nicht ausreicht, zum anderen aber
auch der Zugriff der Neugläubiger auf das Altvermögen abgewehrt werden kann (§ 1629a Abs. 1 S. 2 i.V.m. §§ 1990 f.
BGB). Entgegen verschiedentlichen Forderungen während des
Gesetzgebungsverfahren verzichtet das Gesetz auf ein der
Nachlassverwaltung bzw. Nachlassinsolvenz entsprechendes
Verfahren zur gleichmäßigen Befriedigung der Altgläubiger,15
so dass diese Gläubiger nach dem Prioritätsprinzip selbst Befriedigung suchen, aber auch in Form freiwilliger Leistung
erhalten können.
Gerade mit dem letztgenannten Aspekt ist ein für die Beurteilung des gesetzlichen Lösungskonzepts nicht unwesentliches Detail angesprochen, verdeutlicht es doch, dass gut beratene Dritte seit der Novelle sicherlich in der Regel davon Abstand nehmen werden, mit einem Minderjährigen geschäftliche Beziehungen aufzunehmen – zumindest sofern ihnen
nicht Sicherheiten gestellt werden können, die sie von dem
persönlichen Anspruch gegen den Minderjährigen unabhängig machen. Den Eltern wird praktisch also die Möglichkeit
aus der Hand genommen, ihr minderjähriges Kind mit der
Folge uneingeschränkter Vermögenshaftung zu verpflichten. Dies
sollte man durchaus als eine Beschränkung der elterlichen
Vertretungsmacht auffassen, wenngleich in einer technisch
ganz eigentümlichen Ausgestaltung: Da die Separierung der
Vermögensmassen in Alt- und Neuvermögen zum Zeitpunkt
13
Vgl. dazu sub specie medizinischer Behandlungen AG Leipzig FamRZ 2008, 84 m. Anm. Bischof/Löscher einerseits, AG
Norderstedt MDR 2001, 513 andererseits; allgemein zur Interpretation und Kritik dieser Ausnahmeregel etwa Athanasiadis
(Fn. 11), S. 158 ff.; Malik (Fn. 11), S. 161 ff.; Thiel (Fn. 11),
S. 55 f.; Waas, KritV 2000, 2 (22).
14
Zur rechtspolitischen Kritik vgl. etwa K. Schmidt (Fn. 11),
S. 601 (608, 618 ff.); ders., JuS 2004, 361 (366).
15
Vgl. Behnke, NJW 1998, 3078 (3080); Habersack, FamRZ
1998, 1 (5); Bittner, FamRZ 2000, 325 (327 ff.); Steenbuck,
FamRZ 2007, 1064 (1065); a.A. Schwartze, in: Salje (Hrsg.),
Festschrift für Helmut Pieper, 1998, S. 527 (546 ff.).
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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com
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AUFSÄTZE
Diederich Eckardt
der Verpflichtung noch nicht stattgefunden hat, da sie zudem
nur effektiv wird, wenn das volljährig gewordene Kind sich
darauf später auch durch Einredeerhebung beruft, kann von
einer Beschränkung der Vertretungsmacht auf ein bestimmt
abgegrenztes Sondervermögen an sich nicht die Rede sein.
Weil aber die für das Kind eingegangene Verpflichtung nun
einmal mit dieser außergewöhnlichen unverlierbaren Haftungsbeschränkungsoption behaftet ist, weil die Voraussetzungen
ihrer Ausübung mit Sicherheit eintreten werden und weil sich
dies – abhängig vom gegenwärtigen Alter des Kindes – womöglich in dem Zeitrahmen abspielt, den der Gläubiger für
die Realisierung seiner Ansprüche in Betracht zieht, hat das
Gesetz den rechtlichen Möglichkeiten der Eltern, das Kind
bzw. das Kindesvermögen am Wirtschaftsleben teilhaben zu
lassen, doch spürbare Grenzen gesetzt.
Damit hat der Gesetzgeber das BVerfG aber durchaus
richtiger verstanden als die Befürworter einer „Genehmigungslösung“, insbesondere, soweit diese sich darauf beschränken wollten, den speziellen Fall der Unternehmensfortführung durch Erbengemeinschaften unter Beteiligung Minderjähriger der familiengerichtlichen Genehmigung zu unterwerfen.
Denn zwar hatte das Gericht auch die Genehmigungslösung ausdrücklich als geeignet bezeichnet, die im Entscheidungstenor
festgestellte Unvereinbarkeit zu beheben. Dieser verfügende
Teil der Entscheidung beschränkte sich aber notwendigerweise auf diejenigen Normen, zu deren verfassungsrechtlicher
Überprüfung die zugrundeliegenden Verfassungsbeschwerden unmittelbar Anlass gegeben hatten; nur hierauf konnte
sich deshalb die Nachbesserungsanweisung an den Gesetzgeber
beziehen. Aus den Entscheidungsgründen können sich aber
sehr viel umfassendere verfassungsrechtliche Bedenken gegen den geltenden Rechtszustand ergeben und damit zugleich
die Notwendigkeit einer sehr viel umfassenderen Beschränkung der Minderjährigenhaftung begründen; dies ist aufgrund der
den Entscheidungsgründen durch das Bundesverfassungsgericht) beigelegten Bindungswirkung vom Gesetzgeber ebenso
zu beachten wie von den Gesetzesinterpreten.
Auch jenseits der im Anlassfall gegebenen Konstellation
– also der Unternehmensfortführung durch eine Erbengemeinschaft – ist daher als bindende Vorgabe zu betrachten, dass es,
so das Verfassungsgericht, mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht eines Kindes unvereinbar ist, wenn dieses „als Folge
der Vertretungsmacht seiner Eltern mit erheblichen Schulden
in die Volljährigkeit entlassen“ wird. Dies bedeutet zwar sicherlich keine Anerkennung der These, dass das Institut der
gesetzlichen Vertretungsmacht der Eltern insgesamt, wie man
dies als Konsequenz dieser Verfassungsgerichtsentscheidung
gemeint hat, „überflüssig und verfassungswidrig"“ sei16 – es
ist im Gegenteil verfassungsgemäß und notwendig, ja alternativlos, und zwar schon deswegen, weil wir sonst niemanden
haben, der es übernehmen könnte, 20 Millionen Minderjährige
vor Schaden zu bewahren; indem das BVerfG und im Anschluss daran die Gesetzesnovelle von 1998 Verpflichtungsund Verfügungsgeschäfte der Eltern mit Wirkung für das
16
Ramm, NJW 1989, 1711 (1712); hiergegen bereits K.
Schmidt, NJW 1989, 1712 (1713 ff.): ,,notwendig und verfassungsmäßig“.
vorhandene Vermögen prinzipiell anerkennen, gehen sie mit Recht
hiervon weiter aus.
Aber einen verfassungsrechtlich erzwungenen und gesetzlich ausgeformten Paradigmenwechsel wird man hierin doch
sehen können und müssen: Das ganz bewusst lückenhafte
Konzept der bisherigen Minderjährigenschutzbestimmungen
– insbesondere also des gesetzlichen Genehmigungskatalogs
nach §§ 1821 f. BGB – wird durch ein tendenziell umfassendes Schutzkonzept überlagert, das auch keine Relativierung
durch familiengerichtliche Genehmigungsmöglichkeiten im Einzelfall mehr kennt (§ 1629a Abs. 1 S. 1 BGB a.E.). Dieses
Schutzkonzept ist daher auch nicht mehr Ausdruck eines
gewissen Grundvertrauens des staatlichen „Wächters“ in die
von ihm zu beaufsichtigenden Eltern, sondern bringt im Gegenteil ein verfassungsgerichtlich verordnetes Grundmisstrauen
gegenüber den Eltern zum Ausdruck. Dieses Misstrauen führt
zu dem doch immerhin bemerkenswerten Ergebnis, dass ein
minderjähriges Kind für eigenverantwortete Verbindlichkeiten
– dies sind namentlich die Verbindlichkeiten aus eigenem
deliktischen Handeln (vgl. § 828 Abs. 3 BGB),17 aber auch
Herausgabeansprüche (§§ 985, 861 BGB)18, Bereicherungsansprüche19 sowie etwa auch Unterhaltsansprüche gegen minderjährige nichteheliche Väter20 – strenger haftet, nämlich unbeschränkt und unbeschränkbar,21 als für die von seinen gesetzlichen Vertretern verantworteten Verbindlichkeiten. Auch wenn
man natürlich ergänzen muss, dass das Gesetz eigenverantwortete Verbindlichkeiten des Minderjährigen überhaupt nur in
sehr engem Rahmen zulässt, so desavouiert der Gesetzgeber
damit doch die Einrichtung der gesetzlichen Vertretung, die
an sich doch ganz im umgekehrten Sinne auf dem sehr viel
größeren (und berechtigtermaßen größeren) Misstrauen des
17
Vgl. aber zur Notwendigkeit und den insoweit bestehenden
Möglichkeiten einer Haftungsbeschränkung etwa Ahrens,
VersR 1997, 1064 (1065); Glöckner, FamRZ 2000, 1397 ff;
Goecke, Die unbegrenzte Haftung Minderjähriger im Deliktsrecht, 1997, S. 62 ff., 194 ff.; ders., NJW 1999, 2305 ff; Looschelders, VersR 1999, 141 (148); Rolfs, JZ 1999, 233 (241);
Stürner, in: Haimo Schack (Hrsg.), Gedächtnisschrift für
Alexander Lüderitz, 2000, S. 789 ff.; Waitzmann (Fn. 11),
S. 26 ff., 161 ff. Das BVerfG hat im Beschluss vom 13. 8.
1998, NJW 1998, 3557, dazu nur entschieden, dass aus verfassungsrechtlicher Sicht weder der Wille des vorkonstitutionellen Gesetzgebers noch der Wortlaut des § 828 Abs. 3 BGB
einer Einschränkung der Minderjährigenhaftung aus Billigkeitsgründen gem. § 242 BGB zwingend entgegenstünden (was
seit der Neufassung des § 828 BGB durch das 2. Schadensersatzrechtsänderungsgesetz vom 19.7. 2002 (BGBl. I 2002, S. 2672)
aber womöglich schon nicht mehr zutrifft).
18
Vgl. Coester (Fn. 11), § 1629a Rn. 45.
19
S. dazu noch unten II. 3. d.
20
Vgl. Coester (Fn. 11), § 1629a Rn. 43.
21
Abgesehen natürlich von der auch insoweit offenstehenden
Option, Restschuldbefreiung im (Verbraucher-)Insolvenzverfahren (vgl. §§ 286 ff., 304 ff. InsO) oder einem in Zukunft
möglicherweise an seine Stelle tretenden besonderen „Entschuldungsverfahren“ (s. RegE vom 22.8.2007, BT-Drs. 16/7416,
dazu m.w.N. Ahrens, NZI 2008, 86) zu erlangen.
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ZJS 5/2008
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Vorsicht – Kinder haften für ihre Eltern
Gesetzes gegenüber dem Minderjährigen und seinen Fähigkeit
zu verantwortlichem Verhalten beruht. Auch wer die Haftungsbeschränkung als solche mit Sympathie betrachtet, muss dies
als wertungsmäßiges Defizit ansehen, solange eine parallele
Haftungsbeschränkung für die durch den Minderjährigen eigenverantwortlich begründeten Verbindlichkeiten fehlt. Dies wird
zu beachten sein, wenn es nach dieser Einführung in die
Problematik nun um das eigentliche Thema dieses Aufsatzes
gehen soll, der Haftung des Kindes für seine Eltern im allgemeinen Zivilrecht.
3. Eingrenzung des Themas
Das Gesetz zur Beschränkung der Minderjährigenhaftung hat
nicht nur seinen Anlass, sondern – trotz bislang fehlender
Judikatur – wohl auch seine primäre praktische Bedeutung
auf dem Gebiet des Personengesellschaftsrechts, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass hier das Risiko existenzbedrohender persönlicher Haftung des Minderjährigen deutlich am größten ist; dementsprechend bezieht sich hierauf
auch ein Großteil der zu dem neuen Gesetz erschienenen
Literatur.22 Das Gesellschaftsrecht soll jedoch – auch im Hinblick auf den Adressatenkreis dieser Zeitschrift – hier weitgehend ausgespart werden. Stattdessen soll es darum gehen,
inwieweit die einschlägige neue Rechtsquelle des § 1629a
BGB sich in den verschiedenen ganz alltäglichen Haftungsund Zurechnungssituationen des allgemeinen Zivilrechts auswirkt.
II. Die Haftung des Kindes für seine Eltern im allgemeinen Zivilrecht
Wir sind es gewohnt, in vielen Bereichen, in denen dem Minderjährigen Haftungsgefahren drohen, die Zustimmung seiner
Eltern vorauszusetzen, auf deren Verschulden abzustellen, auf
deren Kenntnisse oder deren Willen statt der Kenntnisse oder
des Willens des Kindes, und zwar zum Wohl und Schutz des
Kindes. Nach allgemeinen Regeln muss sich das Kind aber diese
Umstände dann aber auch mit entsprechenden Haftungsfolgen zurechnen lassen, wenn die Eltern ihre Kenntnisse nicht
in die gebotene Aktion umsetzen, wenn sie durch ihr Verschulden Schäden anrichten usw. Es ist daher der näheren
Betrachtung wert, inwieweit es nach neuem Recht möglich
ist, die entstehenden Verbindlichkeiten unter das Haftungsprivileg des § 1629a BGB zu subsumieren.
1. Primär- und Sekundärverbindlichkeiten aus fremdverantworteten vertraglichen Schuldverhältnissen
Paradigmatisch für den Anwendungsbereich des § 1629a
BGB sind zweifellos die Ansprüche gegen den Minderjährigen aus Verträgen, die die Eltern als dessen gesetzliche Vertreter selbst durch Rechtsgeschäft begründet haben oder deren Begründung durch den Minderjährigen sie ihre Zustim-
22
Lesenswert für Studierende sind hier insbesondere Haertlein, JA 2000, 982; K. Schmidt, JuS 2004, 361; ferner etwa
Bürger, RNotZ 2006, 156.; Rust, DStR 2005, 1942, (1992).
ZIVILRECHT
mung erteilt haben.23 „Durch Rechtsgeschäft (der Eltern) begründet“ sind in diesem Fall unstreitig nicht nur die auf Erfüllung gerichteten Primärverbindlichkeiten, sondern auch die aus
der Verletzung des Leistungsversprechens oder einer Nebenpflicht folgenden Sekundärverbindlichkeiten auf Schadensersatz.24
Streitig ist allerdings, ob dies auch dann gilt, wenn die
den Anspruch letztlich auslösende Pflichtverletzung eine solche des Minderjährigen selbst war.25 Grundlage der Meinungsverschiedenheit ist der Umstand, dass der Anspruch gegen
den Minderjährigen dann nicht mehr, wie § 1629a Abs. 1 S. 1
BGB dies seinem Wortlaut nach voraussetzt, unmittelbar durch
die Eltern begründet worden ist („Verbindlichkeiten, die die
Eltern [...] begründet haben“).
Zur Lösung dieser Streitfrage mag ein kurzer Seitenblick
auf die Anwendbarkeit des § 1629a BGB im Personengesellschaftsrecht hilfreich sein, nämlich auf die Frage, ob die Verpflichtung des Minderjährigen als Gesellschafter einer OHG
oder Partnerschaft oder als Komplementär einer KG noch
von der Haftungsbeschränkung erfasst wird, wenn der Beitritt
zu der Gesellschaft unter Mitwirkung der Eltern vorgenommen wurde: Es findet sich die Ansicht, da es sich hier um
gesetzliche Haftung der Gesellschafter für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft handele und nicht um eine auf Rechtsgeschäft beruhende Mitverpflichtung der Gesellschafter, sei
für die Haftungsbeschränkung kein Raum.26 Damit würde indes
gerade der Fall aus dem Anwendungsbereich des § 1629a
BGB eliminiert, an den die Gesetzesverfasser in erster Linie
gedacht haben. Zugleich ist hiermit die Konstellation bezeichnet, in der ungeachtet einer ggf. erforderlichen familiengerichtlichen Genehmigung nach § 1822 Nr. 3 BGB das Haftungsrisiko für den Minderjährigen am höchsten ist. Denn bei
erwerbswirtschaftlicher Tätigkeit sind am ehesten unvorhersehbare Entwicklungen denkbar, die schnell zur Entstehung
von Verbindlichkeiten in einer für alle Beteiligten existenzbedrohenden Höhe führen können. Mit Recht geht deshalb
die Mehrzahl der einschlägigen Stellungnahmen davon aus,
dass dieser Fall von § 1629a BGB erfasst wird und der Wortlaut der Bestimmung insofern teleologisch zu korrigieren
ist.27 Diese Lösung vermeidet es auch, dass es für die Gesell23
Vgl. die instruktive Darstellung der „Normalfälle“ bei
Brauer/Roßmann, JA 2001, 381.
24
Soweit hierfür eine Pflichtverletzung der Eltern haftungsauslösend war, wird hierfür allerdings teilweise auf diese
(und damit i.S.v. § 1629a Abs. 1 S. 1 BGB auf den Zurechnungstatbestand der „sonstigen Handlung“) abgestellt, vgl. dazu
sogleich II. 2. und die dort genannten Nachweise.
25
So die wohl h.M., vgl. Brauer/Roßmann, JA 2001, 381
(382 f.); Muscheler, WM 1998, 2271 (2281); Coester
(Fn. 11), § 1629a Rn. 43; a.A. Berger, in: Jauernig, Kommentar zum BGB, 12. Aufl. 2008, § 1629a Rn. 4; Thiel
(Fn. 11), S. 38 ff.
26
Z.B. Habersack/Schneider, FamRZ 1997, 649 (653); Klumpp,
ZEV 1998, 411; Reimann, MittBayNot 1998, 326 (327).
27
Kaiser (Fn. 11), § 1629a Rn. 3; Behnke, NJW 1998, 3078
(3079); Brauer/Roßmann, JA 2001, 381 (381 f.); Christmann,
ZEV 2000, 45 (46); Glöckner, FamRZ 2000, 1397 (1402);
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447
AUFSÄTZE
Diederich Eckardt
schaft bürgerlichen Rechts im Ergebnis darauf ankommt, ob
man die Haftung der Gesellschafter nach der Theorie der
Doppelverpflichtung als auf der rechtsgeschäftlichen Vertretung des Gesellschafters durch den Handelnden oder entsprechend der nunmehr ganz h.M. als akzessorische gesetzliche
Haftung des Gesellschafters für die Verbindlichkeiten der
verselbständigten Gesellschaft ansieht.28 Das entscheidende Kriterium ist damit die Mitwirkung und Mitverantwortung der
Eltern beim Zustandekommen der Gesellschaft, während die
Rechtsnatur der Verbindlichkeit selbst unerheblich ist. Von der
Haftungsbeschränkung erfasst werden danach selbstverständlich auch gesetzliche Verbindlichkeiten wie deliktische Ansprüche, die auf einer der Gesellschaft nach § 31 BGB zuzurechnenden Handlung oder Unterlassung eines Mitgesellschafters beruhen, oder z.B. Steuerschulden.29
Dieser kurze Ausflug ins Gesellschaftsrecht hat gezeigt,
dass es nicht entscheidend sein kann, ob der gesetzliche Vertreter auch bei der Begründung des konkreten Anspruchs mitgewirkt hat. Maßgeblich für die Einordnung eines Geschäfts als
„fremdverantwortet“ muss vielmehr sein, ob das Verhalten des
gesetzlichen Vertreters die bei wertender Betrachtung dominierende Ursache für das Entstehen der Verbindlichkeit gesetzt hat; auch in diesem Fall geht es, um erneut das BVerfG
zu zitieren, darum, dass ein Kind „als Folge der Vertretungsmacht seiner Eltern mit erheblichen Schulden in die Volljährigkeit entlassen“ würde.30 Da der elterliche Konsens zum
Vertragsschluss das für die Begründung der vertraglichen
Haftung essentielle und deshalb bei wertender Betrachtung
die Zurechnung jedenfalls dominierende Element darstellt, ist
deshalb der Auffassung zuzustimmen, dass die aus einer Verletzung des Leistungsversprechens oder einer Nebenpflicht
folgenden Sekundärverbindlichkeiten auf Schadensersatz auch
dann unter § 1629a BGB zu subsumieren sind, wenn die den
Anspruch letztlich auslösende Pflichtverletzung eine solche
des Minderjährigen selbst war. Methodisch wird man die
Konstellation wohl noch als einfache Gesetzesanwendung –
bei lediglich dem Normzweck entsprechender „weiter Auslegung“ – einzuordnen haben, da es sich um eine (mittelbar)
„durch Rechtsgeschäft (der Eltern) begründete“ Verbindlichkeit handelt.
2. Zurechnung von Elternverschulden innerhalb bestehender
Schuldverhältnisse
Unproblematisch ist darüber hinaus aber auch die Behandlung schuldhafter Pflichtverletzungen der gesetzlichen Vertreter innerhalb eines bereits bestehenden – vertraglichen, vorvertraglichen oder gesetzlichen – Schuldverhältnisses (§ 278
Abs. 1 BGB): Das Gesetz hat durch die Einbeziehung der
Habersack, FamRZ 1999, 1 (3); Konz (Fn. 11), S. 42 f.; Peschel-Gutzeit, FRP 2006, 455 (456); Rust, DStR 2005, 1992
(1995); Coester (Fn. 11), § 1629a Rn. 20; Thiel (Fn. 11),
S. 35 f.
28
Vgl. Ulmer, in: Münchener Kommentar zum BGB, 4. Aufl.
2002, § 714 Rn. 25 ff.
29
Vgl. – letztlich offen lassend – BFH NJW 2004, 175.
30
Vgl. Peschel-Gutzeit, FRP 2006, 455 (456); Petersen, Jura
2006, 280 (282); Coester (Fn. 11), § 1629a Rn. 5.
durch „sonstige Handlungen“ begründeten Verbindlichkeiten
(§ 1629a Abs. 1 S. 1 BGB) sichergestellt, dass auch die dem
Kind zugerechneten tatsächlichen Handlungen (oder Unterlassungen31) der Eltern keine Haftung über das Volljährigkeitsvermögen hinaus begründen können.32 Die aus einer Verletzung des Leistungsversprechens oder einer Nebenpflicht
folgenden Sekundärverbindlichkeiten auf Schadensersatz fallen
deshalb in den genannten Fällen auch dann unter die Haftungsbeschränkungsnorm, wenn sich dies nicht schon aus der Art
und Weise der Begründung des Schuldverhältnisses ergibt.
3. Zurechnung des Elternverhaltens bei der Begründung
gesetzlicher Ansprüche
Der nächste Aspekt, der hier anzusprechen ist, ist die Zurechnung des Elternverhaltens bei der Begründung gesetzlicher
Ansprüche. Das Elternverhalten kann hier nur darin bestanden haben, die rechtlichen oder tatsächlichen Umstände, an die
das Entstehen des gesetzlichen Anspruchs anknüpft, selbst herbeizuführen oder ihre Herbeiführung durch den Minderjährigen mit ihrer Einwilligung zu versehen; ob dies ausreicht, ist
wiederum bestritten.33
a) Ansprüche wegen Pflichtverletzungen im vorvertraglichen
Schutzpflichtverhältnis (§ 311 Abs. 2 i.V.m. §§ 241 Abs. 2,
280 Abs. 1 BGB, „culpa in contrahendo“)
Einen ersten Beispielsfall aus dem bürgerlichen Recht soll
das vorvertragliche Schutzpflichtverhältnis gem. § 311 Abs. 2
BGB bilden; es entsteht kraft objektiven Rechts unabhängig vom
rechtsgeschäftlichen Willen der Beteiligten, ja sogar gegen
diesen. Anknüpfungspunkt für dieses „vertragsähnliche“34 Schuldverhältnis ist die im rein Tatsächlichen liegende „Aufnahme
des geschäftlichen Kontakts“, die regelmäßig vor dem Stadium
tatsächlicher Vertragsverhandlungen liegt und bei der rechtsgeschäftliche Erklärungen der Partei noch gar nicht abgegeben werden.
Nach h.M. können jedoch nur solche Personen Parteien
des vorvertraglichen Schutzpflichtverhältnisses werden, die
auch den späteren Vertragsschluss hätten vornehmen können,
und zwar allein und ohne Mitwirkung des gesetzlichen Vertreters; hieraus ergibt sich, dass geschäftsunfähige Kinder gar
nicht Partei des vorvertraglichen Schutzpflichtverhältnisses
werden können, beschränkt geschäftsfähige Minderjährige
nur mit Zustimmung des gesetzlichen Vertreters, die sich
31
Muscheler, WM 1998, 2271 (2281); Coester (Fn. 11),
§ 1629a Rn. 23, 26.
32
Vgl. nur Kaiser (Fn. 11), § 1629a Rn. 14; Bittner, FamRZ 2000,
325 (327); Brauer/Roßmann, JA 2001, 381 (382); Habersack,
FamRZ 1999, 1 (4); Habersack/Schneider, FamRZ 1997, 649
(652); Klüsener, Rpfleger 1999, 55 (56); Huber (Fn. 11),
§ 1629a Rn. 9, 11 f.; Quitzau (Fn. 11), S. 202; Coester
(Fn. 11), § 1629a Rn. 23; Thiel (Fn. 11), S. 37 f.
33
Grundsätzlich ablehnend insbes. Athanasiadis (Fn. 11),
S. 132 ff., 144; differenzierend dagegen etwa Brauer/Roßmann,
JA 2001, 381 (383 ff.); Thiel (Fn. 11), S. 34 ff.
34
Vgl. Begr. zum Schuldrechtsmodernisierungsgesetz, BTDrs. 14/6040, S. 161 f.
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Vorsicht – Kinder haften für ihre Eltern
allerdings nur auf die Aufnahme geschäftlichen Kontakts,
nicht bereits zugleich auf einen späteren Vertragsschluss beziehen muss.35 Legt man diese Auffassung zugrunde, dann
setzt der konsentierende Elternteil mit seinem Einverständnis
zugleich die wesentliche Ursache für die Entstehung vertraglicher Schadensansprüche gegen den Minderjährigen, sofern
dieser seinerseits dem po-tentiellen Geschäftspartner schuldhaft einen Schaden zufügt.
Wie bereits oben anhand des Ausflugs ins Gesellschaftsrecht gezeigt wurde, ist in diesem Fall auch nicht entscheidend, ob der gesetzliche Vertreter auch bei der Begründung
des konkreten Anspruchs noch mitgewirkt hat. Maßgeblich
für die Einordnung eines Geschäfts als „fremdverantwortet“
muss vielmehr sein, ob das Verhalten des gesetzlichen Vertreters die bei wertender Betrachtung dominierende Ursache
für das Entstehen der Verbindlichkeit gesetzt hat. Dies ist nach
dem eben Gesagten bei der culpa in contrahendo ebenso der
Fall wie bei der Herstellung vertraglicher Beziehungen; in
beiden Konstellationen ist daher ein eventueller Schadensersatzanspruch auch dann als fremdverantwortet unter § 1629a
BGB zu subsumieren, wenn der Minderjährige den konkreten
Schadenseintritt selbst verschuldet hat.36 Auch hier geht es
methodisch wiederum noch um einfache Gesetzesanwendung
– bei lediglich dem Normzweck entsprechender „extensiver
Auslegung“ –, da es sich um eine (mittelbar) „durch Rechtsgeschäft (der Eltern) begründete“ Verbindlichkeit handelt.
b) Deliktische Ansprüche
Hinsichtlich der nunmehr anzusprechenden deliktischen Verbindlichkeiten ist zunächst festzuhalten, dass die Anwendbarkeit des § 1629a BGB auf Deliktsansprüche, die auf ein
schuldhaftes Handeln der Eltern zurückgehen, weder möglich
noch nötig ist, da schon nach den tatbestandlichen Voraussetzungen eine deliktische Haftung des Minderjährigen für
schädigende Handlungen seiner Eltern – sei es qua Verschuldenszurechnung gem. § 278 BGB, sei es wegen (vermuteter)
Organisationspflichtverletzung nach dem Modell des § 831
35
So Canaris, NJW 1964, 1987 (1988); Dalhoff, Die Einwirkung der Geschäftsfähigkeit auf nichtrechtsgeschäftliche
Willensäußerung, Diss. Münster 1969, S. 168; Flume, Das
Rechtsgeschäft, 4. Aufl. 1992, § 13, 7 e cc ; Medicus, Bürgerliches Recht, 21. Aufl. 2007, Rn. 177; ders., JuS 1965, 209
(215); Emmerich, in: Münchener Kommentar zum BGB,
5. Aufl. 2007, § 311 Rn. 90; Löwisch, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2008, Vor § 275 Rn. 69; vgl. auch BGHZ
66, 51 = NJW 1972, 712 (Gemüseblatt) unter IV. a.E.; str.,
a.A. Krebs, in: Dauner-Lieb u.a. (Hrsg.), Anwaltkommentar
BGB, 2005, § 311 Rn. 54; Klatt, Auftraglose Fremdgeschäftsführung durch Minderjährige, 2000, S. 168 ff.; Küppersbusch, Die Haftung des Minderjährigen für c.i.c., Diss.
München 1973, S. 55 ff. (65 ff.).
36
Zutr. Brauer/Roßmann, JA 2001, 381 (382 f.); Muscheler,
WM 1998, 2271 (2281); Coester (Fn. 11), § 1629a Rn. 43;
a.A. Berger (Fn, 25), § 1629a Rn. 4; Diederichsen (Fn. 11),
§ 1629a Rn. 13; Thiel (Fn. 11), S. 38 ff.
ZIVILRECHT
BGB – grundsätzlich ausscheidet.37 Umgekehrt ist eine Haftung des Minderjährigen für selbstverantwortete deliktische
Schädigungen Dritter in den durch § 828 Abs. 2, Abs. 3 BGB
gesetzten Grenzen zwar möglich; sie wird aber zweifellos
durch § 1629a BGB – der eben nach Wortlaut, Regelungssystematik und Zweck eindeutig nur fremdverantwortete Verbindlichkeiten im Blick hat – nicht erfasst.38
Was in diesem Bereich aber jedenfalls bleibt, sind die Gefährdungshaftungstatbestände. Bei der Begründung eines die
Gefährdungshaftung auslösenden Zustands, insbesondere der
Eigenschaft als Halter eines Luxustiers oder eines Kraftfahrzeugs, geht es ausschließlich um rein tatsächliche Umstände;39
gleichwohl kann die Begründung der Haltereigenschaft eines
Minderjährigen nach ganz h.M. auch oder sogar ausschließlich durch die Eltern bzw. mit deren Einwilligung erfolgen.40
Auch hier entsteht die Haftung aber nicht unmittelbar aufgrund der Handlung der Eltern, sondern kraft Gesetzes; immerhin ist eine Handlung der Eltern vorhanden, wenngleich
im vorgelagerten Bereich. Die Fallkonstellation ähnelt insofern der gleichfalls an sich auf Gesetz beruhenden Gesell37
Vgl. zu § 831 BGB etwa Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, 4. Aufl. 2004, § 831 Rn. 15 m.w.N. Wer
dies, wie es gelegentlich für die deliktischen Verkehrspflichten geschieht, anders sieht und hierfür die Zurechnung von
Gehilfen- und Vertreterverschulden zulässt (vgl. v. Bar, Verkehrspflichten, 1980, S. 269 ff.; Mertens, VersR 1980, 397
(408); ders., in: Münchener Kommentar zum BGB, 3. Aufl.
1997, § 823 Rn. 205, 226; ausf. hierzu Wagner, a.a.O., § 823
Rn. 290 ff.), muss hierauf aber konsequent auch § 1629a
BGB zur Anwendung bringen.
38
So aber – ohne methodisch tragfähige Begründung – Ludyga, FPR 2006, 460. Zu den auf der Grundlage der ganz h.M.
diskutierten Möglichkeiten zur Begrenzung der deliktischen
Minderjährigenhaftung s. bereits die Nachw. oben Fn. 17.
39
,,Tierhalter“ i.S.v. § 833 BGB ist z.B., wer das Tier nicht
nur ganz vorübergehend im eigenen Interesse in seinem
Hausstand oder Wirtschaftsbetrieb hat oder verwendet (vgl.
m.w.N. Sprau, in: Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 833
Rn. 10). Dabei handelt es sich um ein rein tatsächliches Verhältnis; irrelevant sind insbesondere das Eigentum oder der
Besitz an der Sache. "Halter" eines Kraftfahrzeugs nach § 7
StVG ist, wer das Fahrzeug für eigene Rechnung in Gebrauch
hat und die Verfügungsmacht darüber besitzt, die ein solcher
Gebrauch voraussetzt (BGHZ 13, 351 [354 ff.]); auch hier
sind allein die tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnisse
ausschlaggebend.
40
Spindler, in: Bamberger/Roth, Kommentar zum BGB,
2. Aufl. 2007, § 833 Rn. 14; Canaris, NJW 1964, 1987
(1991); Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994,
§ 84 Abs. 1 S. 2 g (S. 609); Eberl-Borges, VersR 1996, 1070
(1073 ff.); dies., in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2008,
§ 833 Rn. 113 ff.; Staudinger/Schmidt, Jura 2000, 347 (349);
Waitzmann (Fn. 11), S. 70 ff.; vgl. auch BGH NJW-RR 1990,
789 (790); a.A. (nur § 828 BGB analog) Borgelt, Das Kind
im Deliktsrecht, 1995, S. 85 ff.; Hofmann, NJW 1964, 228
(229); Deutsch, JuS 1987, 673 (678); Wagner (Fn. 37), § 833
Rn. 30.
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AUFSÄTZE
Diederich Eckardt
schafterhaftung, und ebenso wie dort sollte die Anwendung
des § 1629a BGB auf diese Fälle keinen durchgreifenden Bedenken begegnen.
Was den Betrachter freilich innehalten lässt, ist der Umstand,
dass die Interessen des Geschädigten hier womöglich doch
größere Beachtung verdienen, stehen ihm doch die Möglichkeiten, sich des geschäftlichen Umgangs mit dem Minderjährigen zu enthalten oder sich immerhin ausreichende Sicherheiten auszubedingen, nicht zu Gebote. Durchgreifend ist
dieses Bedenken indessen nicht: Auch im Fall der Zurechnung
der elterlichen Verantwortung wird eine Abdeckung durch Sicherheiten kaum einmal gegeben sein, da diese sich gewöhnlich nur auf die Hauptleistungspflicht erstrecken. Verschaffen
die Eltern dem Kind also die Eigenschaft z.B. als Halter eines
Luxustiers oder billigen sie deren Erwerb durch das Kind, so
fällt der Schaden, der durch den sich als bissig erweisenden
Köter angerichtet wird, deshalb ebenfalls unter § 1629a BGB.41
Aus den gleichen Erwägungen kann dann im Übrigen auch
die Inanspruchnahme des Minderjährigen aus § 831 BGB ausnahmsweise von der Haftungsbeschränkung erfasst werden,
nämlich dann, wenn die elterliche Mitverantwortung darin besteht, der Bestellung eines Verrichtungsgehilfen ihre Zustimmung gegeben zu haben.42 Methodisch wird auch diese Konstellation wiederum noch als einfache Gesetzesanwendung einzuordnen sein; auch hier kann man im Hinblick auf die Zustimmung der Eltern zur Begründung der Haltereigenschaft
bzw. zur Bestellung des Verrichtungsgehilfen noch von einer
(mittelbar) „durch Rechtsgeschäft (der Eltern) begründete“
Verbindlichkeit sprechen.
c) Ansprüche im Eigentümer-Besitzer-Verhältnis
Von Interesse ist auch die Haftung in den anderen gesetzlichen Schuldverhältnissen zuwenden. Beginnen möchte ich mit
dem Eigentümer-Besitzer-Verhältnis gem. §§ 987 ff. BGB.
Dieses gesetzliche Schuldverhältnis entsteht als solches kraft
gesetzlicher Anordnung, nämlich allein aufgrund der Vindikationslage, der Existenz des Eigentumsherausgabeanspruchs
gegen den unberechtigten Besitzer (§ 985 BGB). Die Geschäftsfähigkeit des Besitzers ist für die Entstehung dieses
Anspruchs weder erforderlich noch überhaupt von Bedeutung;
sie ist auch nicht nötig, soweit es um den Schutz des gutgläubigen unverklagten Besitzers geht, der nach dem Gesetz vor
Ansprüchen auf Nutzungsherausgabe und Schadensersatz gerade bewahrt werden soll. Anders ist dies jedoch, soweit der
Besitzer wegen seiner Bösgläubigkeit einer verschärften Schadensersatz- und Nutzungsherausgabehaftung unterworfen werden soll (§ 990 Abs. 1 i.V.m. §§ 987, 989 BGB). Insoweit
wird unstreitig die Bösgläubigkeit des gesetzlichen Vertreters,
der den Besitzerwerb vollzogen hat oder der nachträglich von
der fehlenden Besitzberechtigung Kenntnis erlangt hat, im
Hinblick auf seine „Gesamtverantwortung für den Vertretenen“43 dem Minderjährigen zugerechnet.44
41
Zutr. Waitzmann (Fn. 11), S. 74 ff., 183; a.A. Diederichsen
(Fn. 11), § 1629a Rn. 13; Coester (Fn. 11), § 1629a Rn. 42.
42
Zutr. Brauer/Roßmann, JA 2001, 381 (385).
43
Schilken, Wissenszurechnung im Zivilrecht, 1983, S. 287.
Im Hinblick auf die Anwendbarkeit der Haftungsbeschränkung des § 1629a BGB fragt es sich danach, ob es hierfür ausreicht, dass dem minderjährigen Besitzer der böse Glaube
seines gesetzlichen Vertreters zugerechnet wird, oder ob zusätzlich erforderlich ist, dass auch das Tatbestandsmerkmal
des Verschuldens durch den gesetzlichen Vertreter verwirklich
worden ist. Wäre letzteres der Fall, so ergäbe sich die Anwendbarkeit der Haftungsbeschränkung nach dem eben Gesagten schon aus der Zurechnung des schuldhaften elterlichen
Handelns – als „sonstiges Verhalten“ i.S.v. § 1629a Abs. 1 S. 1
BGB – und die Zurechnung der Bösgläubigkeit wäre ohne
selbständige Bedeutung; sie würde in diesem Fall folgerichtig
auch dann nicht die Anwendbarkeit des § 1629a BGB nach
sich ziehen, wenn das Verschulden, was durchaus möglich
ist, bei dem Minderjährigen lag.
Vorzugswürdig erscheint es jedoch, entscheidend auf die
Zurechnung der Bösgläubigkeit abzustellen. Dem gutgläubigen unverklagten Besitzer kann aus der Beschädigung oder
Zerstörung der Sache kein haftungsrechtlich relevanter Vorwurf gemacht werden. Sein Verschulden gegen sich selbst ist
unerheblich, solange er nicht wusste, dass er die Sache würde
herausgeben müssen. Der Schwerpunkt der Zurechnung und
damit auch das entscheidende Kriterium für die Abgrenzung
von eigen- und fremdverantworteter Haftung muss deshalb
bei der Bösgläubigkeit liegen. Methodisch ist zwar nicht unzweifelhaft, ob diese Fälle noch im Wege einfacher Auslegung unter das Tatbestandsmerkmal der „durch sonstige
Handlung (der Eltern) begründete Verbindlichkeit“ i.S.v.
§ 1629a Abs. 1 S. 1 BGB subsumiert werden können; denn
um eine „Handlung“ der Eltern – also ein Tun oder Unterlassen – handelt es sich bei deren die Bösgläubigkeit begründenden Kenntnissen nicht. Entscheidend muss aber auch
insoweit sein, ob der Minderjährige selbst oder nicht vielmehr sein gesetzlicher Vertreter die bei wertender Betrachtung dominierende Ursache für das Entstehen der Verbindlichkeit gesetzt hat. Hierfür ist unerheblich, ob es sich um
eine „Handlung“ oder eine sonstige Ursache handelt; maßgeblich ist allein, dass es sich um einen in der Person der
Eltern verwirklichten Umstand handelt, der als Folge der elterlichen Vertretungsmacht nachteilige Haftungsfolgen für
das Kind nach sich zieht, denn auch in diesem Fall geht es
darum, dass ein Kind „als Folge der Vertretungsmacht seiner
Eltern mit erheblichen Schulden in die Volljährigkeit entlassen“ würde.45 Das Tatbestandsmerkmal der „durch sonstige
Handlung (der Eltern) begründeten Verbindlichkeit“ ist seinem Zweck nach also nicht im engeren Wortsinne zu verste44
Vgl. Koether/Ruchatz, NJW 1973, 1444 (1446); Medicus,
in: Münchener Kommentar zum BGB, 4. Aufl. 2004, § 990
Rn. 17; Pawlowski, JuS 1967, 302 (307); Pinger, MDR 1974,
184 (187); Schilken (Fn. 43), S. 287 ff., 290; Gursky, in:
Staudinger, Kommentar zum BGB, 2008, § 990 Rn. 38 f.
Umstritten ist lediglich, ob ein Abstellen auf die eigene Bösgläubigkeit des Minderjährigen gänzlich ausgeschlossen ist
oder, wie die h.M. annimmt, analog § 828 Abs. 3 BGB unter
der Voraussetzung entsprechender Einsichtsfähigkeit möglich
sein soll, vgl. z.B. Schilken, Gursky, Pinger aaO.
45
S.o. unter I.1. m. Fn. 7.
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450
Vorsicht – Kinder haften für ihre Eltern
hen; vielmehr bringt es lediglich zum Ausdruck, dass eine
„fremdverantwortete“ Schuldbegründung eben nicht auf elterlichem Rechtsgeschäft beruhen muss, sondern auch „in
sonstiger Weise (durch die Eltern)“ erfolgt sein kann. Wohl
schon im Wege extensiver Auslegung, jedenfalls aber in
analoger Anwendung ist das Merkmal deshalb dahin zu interpretieren, dass hierüber auch bloße Kenntnisse oder auch Willensmomente erfasst werden können.46 Für die Ansprüche gemäß §§ 990, 987, 989 BGB folgt hieraus die Anwendung des
§ 1629a BGB bereits aufgrund der dem Minderjährigen zugerechneten Bösgläubigkeit der Eltern; folgerichtig muss es ebenso ausreichen, wenn prozessordnungsgemäß (vgl. § 170 Abs. 1
ZPO) den Eltern die Herausgabeklage zugestellt worden ist.47
d) Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung
Ähnlich wie im Eigentümer-Besitzer-Verhältnis stellt sich die
Problemlage im Hinblick auf die verschärfte Haftung des
bösgläubigen Bereicherungsschuldners (§§ 819 Abs. 1, 818
Abs. 4 BGB) dar. Sie soll, wenn der Bereicherungsschuldner
minderjährig ist, nach h.M. voraussetzen, dass die Eltern – sei
es sie allein, sei es zugleich mit dem Kind – die erforderliche
Kenntnis von der Rechtsgrundlosigkeit des Erwerbs gehabt
haben; hierüber ist man sich für die Leistungskondiktionen,
die primär der Rückabwicklung fehlgeschlagener Verträge
und vergleichbarer Konstellationen dienen, sogar fast einig.48
Anders sieht es für die Nichtleistungskondiktionen aus; hier
orientiert man sich doch sehr verbreitet am paradigmatischen
Fall des rechtswidrigen Eingriffs in ein absolutes Recht und
stellt deshalb unter Berücksichtigung des altersspezifischen
Verschuldensmaßstabs aus § 828 Abs. 3 BGB auf die Bösgläubigkeit des Minderjährigen selbst ab.49
Damit wird entsprechend dem eben Gesagten zugleich determiniert, ob der Anspruch unter die Haftungsbeschränkung
des § 1629a BGB fällt: Auch hier muss also die Bösgläubigkeit der Eltern das für die Einordnung als fremdverantwortete
Verbindlichkeit entscheidende Zurechnungsmoment bilden. Bei
ZIVILRECHT
der Haftung aufgrund Eingriffskondiktion kommt eine Anwendung des § 1629a BGB mithin nicht in Betracht, da allein
auf die Kenntnis des Minderjährigen abzustellen ist.50 Anders
ist dies dagegen bei der Leistungskondiktion: Die Bestimmung des § 1629a BGB ist anwendbar, wenn die Eltern einen
unwirksamen Vertrag als gesetzliche Vertreter des Minderjährigen abgeschlossen haben und von der Unwirksamkeit
oder Anfechtbarkeit des Vertrages wissen, so dass die Berufung auf Entreicherung gemäß §§ 818 Abs. 4, 819 BGB ausgeschlossen ist.51 Die Bestimmung des § 1629a BGB ist aber
auch dann anwendbar, wenn der Minderjährige den Vertrag,
der rückabzuwickeln ist, ohne Mitwirkung seiner Eltern abgeschlossen hat und diese lediglich vor dem Eintritt der Entreicherung Kenntnis im Sinne von § 819 Abs. 1 BGB erlangt
haben.52
Seinem Sinn und Zweck nach muss § 1629a BGB aber
jedenfalls unanwendbar sein – insoweit also teleologisch reduziert werden – , wenn der Anspruch nicht auf eine Schmälerung des Vermögens des Minderjährigen gerichtet ist, sondern
nur dessen noch vorhandene Bereicherung abschöpft; dies ist
vor allem dann der Fall, wenn der Minderjährige im Umfang
einer noch vorhandenen Bereicherung Wertersatz leisten
muss53 oder wenn es um die Herausgabe eines noch gegenständlich im Vermögen des Minderjährigen vorhandenen Bereicherungsgegenstands geht.54 Dabei ist zu berücksichtigen,
dass die Unanwendbarkeit der Saldotheorie55 davor schützt,
bei der Rückabwicklung eines gescheiterten gegenseitigen Vertrages durch Wegfall oder Minderung seines eigenen Bereicherungsanspruchs hinsichtlich der Gegenleistung Vermögensnachteile zu erleiden.
e) Ansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag
Kommen wir abschließend zur Geschäftsführung ohne Auftrag: Ein Problem der Haftung des Minderjährigen für seine
Eltern kommt bei der Geschäftsführung ohne Auftrag zum einen
50
46
Vgl. bereits Muscheler, WM 1998, 2271 (2281); Quitzau
(Fn. 11), S. 250 f.; Coester (Fn. 11), § 1629a Rn. 44 (jeweils
primär zu §§ 683, 819 BGB, s. dazu weiter unten).
47
A.A. Brauer/Roßmann, JA 2001, 381 (384), da es sich um
einen rein gesetzlichen Anspruch handele.
48
Larenz/Canaris (Fn. 40), § 73 Abs. 2 S. 2a (S. 312 f.);
Reuter/Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, 1983, § 18
Abs. 3 S. 2; Lorenz, in: Staudinger, Kommentar zum BGB,
2008, § 819 Rn. 10; Lieb, in: Münchener Kommentar zum
BGB, 4. Aufl. 2004, § 819 Rn. 7; nach Böhmer, MDR 1959,
705 (706); Koppensteiner/Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, 2. Aufl. 1988, S. 145 f., soll grundsätzlich auf die
den Minderjährigen (d.h. dessen Deliktsfähigkeit) abzustellen
sein, zumindest sofern sich der Bereicherungsanspruch auf
eine Sache richte.
49
Gursky, NJW 1969, 2183 (2184); Larenz/Canaris (Fn. 40),
§ 73 Abs. 2 S. 2a; Pawlowski, JuS 1967, 302.; vgl. auch
BGHZ 55, 128 (136) = NJW 1971, 609 (Flugreise); BGH LM
§ 812 BGB Nr. 5 = MDR 1977, 388; a.A. Lieb (Fn. 48),
§ 819 Rn. 7, Lorenz (Fn. 48), § 819 Rn. 10, die immer auf die
Kenntnis des gesetzlichen Vertreters abstellen wollen.
Coester, Jura 2002, 88 (90); Quitzau (Fn. 11), S. 252 f.;
Muscheler, WM 1998, 2271 (2281).
51
Quitzau (Fn. 11), S. 247 f.; Bittner, FamRZ 2000, 325
(326): Subsumtion unter das Tatbestandsmerkmal der ,,sonstigen Handlung“; im Ergebnis ebenso Coester, Jura 2002, 88
(90); ders. (Fn. 11), § 1629a Rn. 21; Kaiser (Fn. 11), § 1629a
Rn. 15: Tatbestandsmerkmal ,,durch Rechtsgeschäft“; a.A.
Athanasiadis (Fn. 11), S. 143 f.: nicht von § 1629a Abs. 1
BGB erfasst, weil „gesetzliche“ Verbindlichkeit.
52
Muscheler, WM 1998, 2271 (2281); Quitzau (Fn. 11),
S. 250 f.; Coester (Fn. 11), § 1629a Rn. 44.
53
A.A. Brauer/Roßmann, JA 2001, 381 (384); wie hier wohl
Diederichsen (Fn. 11), § 1629a Rn. 13.
54
Vgl. Athanasiadis (Fn. 11), S. 143; Brauer/Roßmann, JA
2001, 381 (384); Quitzau (Fn. 11), S. 246 f.; Coester (Fn. 11),
§ 1629a Rn. 45.
55
Seit Inkrafttreten des § 1629a BGB ist streitig geworden,
ob die bislang zugunsten Minderjähriger anerkannte Ausnahme von der Saldotheorie (BGHZ 126, 105 [108] m.w.N.) nach
wie vor ihre Berechtigung hat, bejahend Konz (Fn. 11),
S. 241 ff.; Quitzau (Fn. 11), S. 245 f.; a.A. Habersack/Schneider,
FamRZ 1997, 649 (655).
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451
AUFSÄTZE
Diederich Eckardt
in denjenigen Fällen in Betracht, in denen ein Geschäft im
Rechtskreis des Minderjährigen durchgeführt wird, dieser also
Geschäftsherr ist; denn für die nach dem Gesetz entscheidende Frage, ob das Geschäft dem primär maßgeblichen tatsächlichen Willen des Geschäftsherrn entspricht, ist nach allgemeiner Meinung auf den Willen der gesetzlichen Vertreter
abzustellen.56
Nun könnte man auf die Idee kommen, dann auch die aus
der Geschäftsführung resultierenden Verpflichtungen des Minderjährigen generell unter die Haftungsbeschränkung aus
§ 1629a BGB fallen zu lassen.57 Für meine Begriffe geht das
zu weit. Es darf nicht pauschal dort, wo die Eltern statt des
Kindes auftauchen, ohne weiteres die Haftungsbeschränkung
angewandt werden. Der Elternwille ist nur dann gewissermaßen tragend für die Legitimität des Geschäfts, wenn er – was
allerdings möglich und beachtlich wäre – unvernünftig oder
unsachgemäß ist. Soweit der Wille der Eltern dem objektiven
Interesse des Kindes konform geht, wäre die Legitimität des
Geschäfts auch dann zu bejahen, wenn man sich den Elternwillen hinweg denkt; in diesem Fall kann deshalb die Übereinstimmung des Geschäftsführerhandelns mit dem Elternwillen auch nicht die Haftungsbeschränkung rechtfertigen.
Was bleibt, ist der wohl eher theoretische Fall, dass der Geschäftsführer eine nicht im objektiven Kindesinteresse liegende Geschäftsführungsmaßnahme vornimmt, damit aber zufällig einem explizit abweichenden Elternwillen entspricht; in
diesem Fall ist der Anspruch des Geschäftsführers allein über
die Eltern zu begründen, so dass es in der Tat gerechtfertigt
erscheint, hierauf § 1629a BGB anzuwenden.
Um die Haftung des Kindes für seine Eltern kann es aber
auch gehen, wenn der Minderjährige gerade umgekehrt selbst
als auftragsloser Geschäftsführer ein Geschäft im Rechtskreis
eines Dritten übernimmt. Das Gesetz bestimmt, dass der
minderjährige Geschäftsführer nur nach Delikts- oder Bereicherungsrecht verantwortlich ist (§ 682 BGB). Wie der Minderjährige aber überhaupt im Rechtssinne Geschäftsführer
werden kann, ob es dafür allein auf sein eigenes Verhalten
ankommt oder ob er der Zustimmung der gesetzlichen Vertreter bedarf, ist streitig. Im Anschluss an Flume58 geht die
wohl h.M. dahin, eine Fremdgeschäftsführung durch den Minderjährigen ohne Zustimmung des gesetzlichen Vertreters für
unbeachtlich zu halten;59 liegt die Zustimmung aber vor, so
bewirkt sie, dass der Minderjährige haftet wie ein Volljähriger, vom altersspezifischen Verschuldensmaßstab einmal abgesehen.60 Folgt man dem, so können die Eltern mit ihrer
Zustimmung den Grund für eine unbegrenzte Schadensersatzhaftung des Minderjährigen wegen schuldhaft schlechter
Ausführung der Geschäftsführung legen. Für diesen Anspruch
sollte dann auch die Haftungsbeschränkung des § 1629a BGB
zur Anwendung gebracht werden: Das gesetzliche Schuldverhältnis der Geschäftsführung ohne Auftrag entsteht auf dieser
Grundlage überhaupt erst mit der elterlichen Zustimmung; ebenso wie in den Fällen, in denen der Minderjährige im Rahmen
eines von seinen Eltern abgeschlossenen Vertrags eine
schuldhafte Pflichtverletzung begeht, ist dies deshalb das die
Zurechnung dominierende Element.
56
59
Vgl. nur BGHZ 55, 128 = NJW 1971, 609 (612); Gehrlein,
in: Bamberger/Roth, Kommentar zum BGB, 2. Aufl. 2007,
§ 682 Rn. 2; Ehmann, in: Erman, BGB, 12. Aufl. 2008, § 682
Rn. 4; Medicus, FamRZ 1971, 250 (251); Seiler, in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2007, § 682 Rn. 7; Wittmann, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2008, § 682
Rn. 5.
57
Vgl. Quitzau (Fn. 11), S. 255 f.; Muscheler, WM 1998,
2271 (2281); Coester (Fn. 11), § 1629a Rn. 44; Waitzmann
(Fn. 11), S. 22; a.A. Bittner, FamRZ 2000, 325 (326 Fn. 19);
generell gegen die Anwendbarkeit des § 1629a BGB auf
Verbindlichkeiten aus Geschäftsführung ohne Auftrag
Glöckner, FamRZ 2000, 1397 (1405 Fn. 94); Klatt (Fn. 35),
S. 178 f.
58
Flume (Fn. 35), § 13 II 11e.
f) Ansprüche aus Rechtsscheinshaftung
Der nächste Punkt, auf den ich eingehen möchte, betrifft die
Haftungsvoraussetzung der zurechenbaren Veranlassung. Den
ersten Beispielsfall hierfür möchte ich ausnahmsweise doch
aus dem Handelsrecht entlehnen, es ist dies die Haftung gemäß § 15 Abs. 3 HGB aufgrund der positiven Publizität des
Handelsregisters, und zwar in den Fällen unrichtig eingetragener oder bekannt gemachter eintragungspflichtiger Tatsachen.
Dabei kommt im vorliegenden Zusammenhang als einzutragende Tatsache insbesondere die Eigenschaft als Inhaber
eines Handelsgeschäfts oder als Gesellschafter einer Personengesellschaft in Betracht, die dann ihrerseits Ansprüche gegen
den Betroffenen nach sich ziehen kann.
Hintergrund des Problems ist der Umstand, dass seit dem
Handelsrechtsreformgesetz des Jahres 1998, das nur wenige
Tage älter ist als das Gesetz zur Beschränkung der Haftung
Minderjähriger, das Geburtsdatum des Einzelkaufmanns sowie
der Gesellschafter der handelsrechtlichen Personengesellschaften
in das Handelsregister einzutragen ist – und zwar, abweichend von früheren Entwürfen, das Geburtsdatum aller, auch
der volljährigen Kaufleute bzw. Gesellschafter. Dies bedeutet
zunächst, dass eine versehentlich ganz unterbliebene Eintragung des Geburtsdatums nicht den Rechtsschein auslösen
kann, der Betreffende sei volljährig; die negative Publizitätswirkung des § 15 Abs. 1 HGB ist deshalb richtiger Ansicht
nach auf diesen Fall nicht anwendbar.61 Aber das GeburtsdaVgl. – gegen LG Aachen NJW 1963, 1252 – mit Unterschieden im Detail etwa Canaris, NJW 1964, 1987; Diederichsen, MDR 1964, 889 (891); Ehmann (Fn. 56), § 682
Rn. 2 f.; Klatt (Fn. 35), S. 66 ff., 172 ff., 210; Knoche, MDR
1964, 193; Köbler, JuS 1979, 789; Wittmann (Fn. 11), § 682
Rn. 2.
60
Nachw. aaO. (Fn. 59); a.A. insoweit aber Klatt (Fn. 35),
S. 210 ff.
61
Athanasiadis (Fn. 11), S. 168; Christmann, ZEV 2000, 45
(47); Glöckner, FamRZ 2000, 1397 (1400 Fn. 28); Muscheler, WM 1998, 2271 (2283); Coester (Fn. 11), § 1629a
Rn. 78; a.A. offenbar Rust, DStR 2005, 1992 (1995); MüllerFeldhammer, FamRZ 2002, 13 (17). Eine andere (und ihrerseits streitige) Frage ist, ob § 15 Abs. 1 HGB überhaupt zu
Lasten Minderjähriger anwendbar ist, bejahend BGHZ 115,
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ZJS 5/2008
452
Vorsicht – Kinder haften für ihre Eltern
tum des Minderjährigen kann, etwa aufgrund eines Schreibversehens bei der Anmeldung, der Eintragung oder der Bekanntmachung, derart unrichtig eingetragen oder bekannt
gemacht worden sein, dass der Minderjährige explizit als Erwachsener erscheint.
In der Begründung zur Novelle von 1998 wird dieses
Problem angesprochen, seine ausdrückliche Einbeziehung in
§ 1629a BGB jedoch als entbehrlich bezeichnet, da die allfälligen Kontrollen solche Fehler weitgehend ausschließen sollten62 – eine etwas eigenartige Begründung, da sie eigentlich
den ganzen § 15 Abs. 3 HGB als entbehrlich erscheinen lassen müsste; auch die Rechtspraxis wird sich der Beantwortung solcher Fragen kaum mit dem Argument entziehen können, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Fragt man sich
deshalb, wie die Rechtspraxis diese Fälle behandeln sollte, so
dürfte entscheidend sein, wie man § 15 Abs. 3 HGB interpretiert: Geht es, wie dies etwa von Karsten Schmidt63 vertreten
wird, um Bindung an den Registerinhalt an sich, um objektivierten Rechtsschein, so dürfte es in der Tat richtig sein, dem
handelsrechtlichen Verkehrsschutz den Vorrang vor dem
Minderjährigenschutz zu geben. Sieht man dagegen, der wohl
h.M.64 entsprechend, in § 15 Abs. 3 HGB eine Haftung für zurechenbar veranlassten Rechtsschein und relativiert insofern
generell den an die Registerpublizität anknüpfenden handelsrechtlichen Verkehrsschutz, so kommt man kaum daran vorbei, für die Zurechnung auf die gesetzlichen Vertreter abzustellen und die hierauf beruhenden Ansprüche dann auch konsequent dem Haftungsregime des § 1629a BGB zu unterstellen.65
Um damit den Ausflug ins Handelsrecht abzubrechen und
ins bürgerliche Recht zurückzukehren: Der angesprochene
Gedanke – nämlich der, dass es für die Anwendung von
§ 1629a BGB ausreichen muss, wenn dem Minderjährigen im
Hinblick auf das Verhalten seiner seine Eltern bestimmte Umstände zugerechnet werden können – , dieser Gedanke muss
auch für die Rechtsscheinstatbestände des bürgerlichen
78 (80) = NJW 1991, 2566; s. Arnold (Fn. 11), S. 152 ff.
m.w.N.
62
BT-Drs. 13/5624, S. 14.
63
Heymann/Sonnenschein/Weitemeyer, HGB, 2. Aufl. 1995, § 15
Rn. 37; Krebs, in: Münchener Kommentar zum HGB, 2.
Aufl. 2005, § 15 Rn. 83 ff.; K. Schmidt, Handelsrecht, 5.
Aufl. 1999, § 14 Abs. 3 S. 3b; ders., JuS 1977, 209 (216 f.);
Hüffer, in: Staub, Kommentar zum HGB, 4. Aufl. 1995, § 15
Rn. 55.
64
Hopt, in: Baumbach/Hopt, HGB, 33. Aufl. 2008, § 15
Rn. 19; Canaris, Handelsrecht, 24. Aufl. 2006, § 5 Rn. 52 f.;
Gehrlein, in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 2. Aufl.
2008, § 15 Rn. 34; Hager, Jura 1992, 57 (65).
65
Zutr. Arnold (Fn. 11), S. 164 ff., 184 ff.; Behnke, NJW
1998, 3078 (3081 f.); Christmann, ZEV 2000, 45 (47);
Eckebrecht, MDR 1999, 1248 (1251); Gehrlein, (Fn. 64),
§ 15 Rn. 34; Glöckner, FamRZ 2000, 1397 (1400, Fn. 28);
Haertlein, JA 2000, 982 (990); Muscheler, WM 1998, 2271
(2283); Coester (Fn. 11), § 1629a Rn. 79; Waitzmann
(Fn. 11), S. 17 ff., 183; a.A. Habersack/Schneider, FamRZ
1997, 649 (651); Krebs (Fn. 63), § 15 Rn. 21, 93.
ZIVILRECHT
Rechts gelten. In teleologischer Hinsicht macht es auch keinen Unterschied, ob die Eltern etwa im Namen des Kindes
eine Vollmacht für einen Dritten ausstellen, der dann seinerseits das Kind rechtsgeschäftlich verpflichtet, oder ob ihr Verhalten lediglich zur Annahme einer Rechtsscheinsvollmacht Anlass gibt. Auch die Fälle der bürgerlich-rechtlichen Rechtsscheinsvollmacht sowie der im Gesetz angesprochenen Konstellationen der Aushändigung oder Mitteilung einer Vollmacht sind daher unabhängig von ihrer streitigen dogmatischen Einordnung jedenfalls entsprechend § 1629a BGB zu
behandeln.
4. Mögliche Weiterungen: Einschränkung der Anrechnung
elterlichen Mitverschuldens?
Wer für die hier vorgeschlagene extensive Handhabung des
§ 1629a BGB plädiert, kommt an der Frage nicht vorbei, ob
die maßgeblichen telelogischen Erwägungen nicht auch in
anderen, von § 1629a BGB nicht mehr erfassten Fällen einer
„Haftung von Kindern für ihre Eltern“ Geltung beanspruchen,
insbesondere im Fall der anspruchsmindernden Anrechnung
elterlicher Verantwortungsbeiträge.
Angesprochen sind damit alle Fälle des elterlichen Mitverschuldens bei der Abwendung oder Minderung des Schadens aus einem Verletzungsereignis, das Ansprüche des Kindes begründet hat (§ 254 Abs. 2 S. 1, S. 2 i.V.m. § 278 BGB).
Soweit sich das Mitverschulden schon auf das Verletzungsereignis selbst bezog, sind immerhin alle diejenigen Fälle betroffen, in denen zwischen Kind und Schädiger bereits eine Sonderverbindung bestand, einschließlich des zu Ansprüchen aus
culpa in contrahendo gesteigerten sozialen Kontakts und der
Ansprüche aus Vertrags mit Schutzwirkung für Dritte.66 Fehlt
es an einer solchen Sonderverbindung, ist immer noch an die
Fallgestaltungen zu denken, bei denen, ein geringes eigenes Mitverschulden des Kindes vorausgesetzt, im Rahmen der sog. Zurechnungseinheiten eine Addition der Verantwortungsbeiträge von Kind und Elternteil stattfindet; hierbei wird dem Kind
zum Zweck der Bildung einer einheitlichen Mitverursachungsquote der Verursachungsbeitrag der Eltern zugerechnet und
der Anspruch des Kindes um die addierte Quote gemindert.67
Prima facie scheinen nun die zur Behandlung des haftungsbegründenden Elternverhaltens nach § 1629a BGB geltenden
Grundsätze nicht auch für das elterliche Mitverschulden anwendbar zu sein.68 Dafür spricht, dass die Konstellation, in
der das elterliche Mitverschulden relevant wird – nämlich bei
der Abwehr oder zur Minderung eines Anspruchs, den der
Minderjährige in der Position des anspruchstellenden Gläubi66
Vgl. BGH NJW 1964, 1670 (1671); BGH NJW 1980,
2080; BGH NJW 1988, 2667 (2668); Oetker, in: Münchener
Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2007, § 254 Rn. 128; Waitzmann (Fn. 11), S. 120 ff., jeweils m.w.N.
67
Vgl. BGHZ 54, 283; BGHZ 61, 213 (218); BGHZ 103, 338
(344); BGH NJW 1996, 2023; Roth, Haftungseinheiten bei
§ 254 BGB, 1982, S. 51 ff; Looschelders, Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht, 1999, S. 546 ff.; für
das Eltern-Kind-Verhältnis abl. Waitzmann (Fn. 11), S. 145 ff.,
150.
68
Vgl. Thiel (Fn. 11) S. 21 ff.; Quitzau (Fn. 11) S. 121 ff.
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453
AUFSÄTZE
Diederich Eckardt
gers geltend macht – , von der bislang vorausgesetzten Situation völlig verschieden ist: Bisher ging es nämlich genau
umgekehrt um die Abwehr von gegen den Minderjährigen
gerichteten Ansprüchen, um zu verhindern, dass dessen Start
ins Leben gleich mit übermäßiger Verschuldung beginnt; das
ist etwas ganz anderes als die Kürzung eigener Ansprüche
des Minderjährigen, die gleichsam auf der Habenseite seiner
privaten Vermögensbilanz stattfindet. An dieser Aussage ist
und bleibt für den Normalfall auch nichts zu korrigieren, und
so ist es auch kein Wunder, dass die einschlägige Literatur zumeist kein Wort zum elterlichen Mitverschulden verliert.69
Trotzdem stellt sich die Frage, ob es nicht Fallgestaltungen gibt – und zwar praktisch häufige und wirtschaftlich
bedeutsame Fallgestaltungen – , die man unter diesem Aspekt
überdenken sollte. Dies sind die in der Rechtswirklichkeit
leider nicht seltenen Fälle, in denen das Kind einen Unfall
erleidet, an dessen Zustandekommen neben einem familienexternen Dritten auch ein Elternteil ein Verschulden trifft, sei
es unmittelbar, sei es durch Verletzung der Aufsichtspflicht,
und in denen das Kind sich dieses Mitverschulden der Eltern
anspruchsmindernd anrechnen lassen muss. Zu denken ist
dabei insbesondere an solche Unfälle, die zu einer lebenslangen Schädigung des Kindes führen, mit einem lebenslang
erheblich erhöhten finanziellen Bedarf für Therapie und Rehabilitation, Betreuung und technische Hilfsmittel, die dem
Kind und später dem Volljährigen ein angemessenes, vielleicht
sogar überhaupt erst ein menschenwürdiges Leben ermöglichen sollen. In diesen Fällen ist das Kind zwar nicht mit einer
Verbindlichkeit belastet. Es scheint mir aber durchaus unerheblich zu sein, ob die Einbuße an Optionen zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung in der Belastung mit einer
Verbindlichkeit besteht oder darin, dass eigene Ansprüche
des Minderjährigen, die ihm diese Option eröffnen oder wiedereröffnen sollen, durch ein dem Minderjährigen als Mitverschulden anzulastendes elterliches Handeln oder Unterlassen
zunichte gemacht werden.
Eine unmittelbare oder entsprechende Anwendung des
§ 1629a BGB scheidet hier zwar offensichtlich aus, schon
weil die angeordnete Rechtsfolge – Haftungsbeschränkung –
hier nicht passt; es geht ja gerade umgekehrt darum, dem
Minderjährigen einen Anspruch ungeschmälert zu erhalten,
den er durch das Fehlverhalten seiner Eltern ganz oder teilweise verlieren würde. Jedoch haben wir nun einmal die
bindenden Entscheidungsgründe des BVerfG, wonach der
Minderjährige von Verfassungswegen nicht mit erheblichen
auf seine Eltern zurückzuführenden Verbindlichkeiten in die
Volljährigkeit entlassen werden darf; diese Aussage kann und
muss wohl auch auf die vorliegende Konstellation entsprechend angewandt werden. Unter der weiteren Prämisse, dass
diese Feststellung wenigstens als mittelbare Drittwirkung der
Grundrechte bei der Auslegung der zivilrechtlichen Generalklauseln zu berücksichtigen ist,70 erscheint es deshalb ange-
69
Vgl. zu einem ähnlichen Gedankengang bereits Hertwig,
FamRZ 1987, 124 (127).
70
St. Rspr. seit BVerfGE 7, 198 (207) (Lüth); s. BVerfGE 73, 261
(269); BVerfGE 81, 242 (255 f.); BVerfGE 89, 214 (229);
bracht, dem Minderjährigen eine Einwendung aus § 242 BGB
gegen die Anrechnung des elterlichen Mitverschuldens zu
gewähren, wenn und soweit er anderenfalls in die beschriebene
Situation käme, den erlittenen Schaden nicht in dem Maße
kompensieren zu können, wie es für eine angemessene Lebensführung erforderlich ist.
Dass diese Lösung insofern, als sie das elterliche Mitverschulden unter Umständen zu Lasten des Drittschädigers ausblendet, nicht ohne anerkanntes Vorbild ist, zeigen die häufig
unter dem Terminus der „gestörten Gesamtschuld“ geführten
Fälle der Regressbehinderung gemäß §§ 1664 Abs. 1, 277
BGB.71 In der Situation, dass sowohl den gesetzlichen Vertreter wie einen Dritten ein Verschulden an einer Schädigung
des Minderjährigen trifft, müsste nach der Lehre von der
„gestörten Gesamtschuld“ der Anspruch des Minderjährigen
gegen den Geschädigten immer dann um den Verursachungsbeitrag des Elternteils gekürzt werden, wenn der Gesamtschuldregress des Dritten gegen den Elternteil durch eine Haftungsprivilegierung verhindert wird. Dies gilt seit einer Entscheidung des BGH aus dem Jahr 198872 aber grundsätzlich – mit
einer allerdings praktisch bedeutsamen Ausnahme für die Teilnahme am Straßenverkehr – gerade nicht in den Fällen der
elterlichen Haftungsprivilegierung nach § 1664 Abs. 1 BGB;
hier muss der nicht privilegierte Zweitschädiger also den gesamten Schaden tragen, ohne dass dem Minderjährigen hier
Nachteile durch den Verursachungsbeitrag seiner Eltern entstünden.
III. Resümee
Kinder haften für ihre Eltern – nicht generell, aber bei Lichte
besehen doch überraschend häufig: Neben dem Hauptfall der
Verbindlichkeiten aus Rechtsgeschäften, die die Eltern im
Namen ihrer Kinder abgeschlossen haben, besteht eine Haftung des Kindes für Handlungen seiner Eltern auch im Rahmen
der Verschuldenszurechnung innerhalb bestehender Schuldverhältnisse (§ 278 BGB), bei der Gefährdungshaftung (wenn
etwa die die Haftung auslösende Halter-Eigenschaft durch die
Eltern begründet worden ist) oder auch in Gestalt der Zurechnung der Kenntnis oder des Willens der Eltern im Eigentümer-Besitzer-Verhältnis, im Bereicherungsrecht oder bei
der Geschäftsführung ohne Auftrag. Von einer „Haftung“ des
Kindes für Fehlverhalten seiner Eltern kann man schließlich
auch dann sprechen, wenn dem Kind als Geschädigten Rechts-
BVerfGE 103, 89 (100); s. m.w.N. Guckelberger, JuS 2003,
1151; Hager, JZ 1994, 373.
71
Zur „gestörten Gesamtschuld“ vgl. etwa BGHZ 61, 51 (53);
BGHZ 94, 173; BGH NJW 1996, 2023; BGHZ 155, 204;
Bydlinski, in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl.
2007, § 426 Rn. 7 ff., 54 ff.; Burkert/Kirchdörfer, JuS 1988,
341; Christensen, MDR 1989, 948; Hager, NJW 1989, 1640;
Muscheler, JR 1994, 441.
72
BGHZ 103, 338 (346) = NJW 1988, 2667; zust. Noack, in:
Staudinger, Kommentar zum BGB, 2008, § 426 Rn. 156
m.w.N.; a.A. z.B. Lange, JZ 1989, 41 (49 m.w.N. in Fn. 10);
Luckey, VersR 2002, 1213 (1216 f.); Mäsch, JZ 2003, 420
(421).
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ZJS 5/2008
454
Vorsicht – Kinder haften für ihre Eltern
ZIVILRECHT
nachteile aus der Tatsache erwachsen sollen, dass seine Eltern
eine Mitverantwortung an dem Schädigungsereignis tragen.
Die elterliche Vermögenssorge wird deshalb mit Recht
zunehmend als ambivalent gesehen: Sah man diese früher nur
unter dem Aspekt des Schutzes des Minderjährigen durch die
Eltern, so rückt nun verstärkt der Aspekt des Schutzes des
Minderjährigen vor den Eltern ins Zentrum der Betrachtung.
Auch wenn die neuere Rechtsentwicklung, markiert insbesondere durch die Entscheidung des BVerfG vom 13.5. 1986
und das MHbeG, insoweit keinen Paradigmenwechsel bedeuten kann, sind damit die Bausteine für eine angemessene
Limitierung der „Haftung des Kindes für seine Eltern“ vorhanden. Von praktischer Bedeutung ist dies vor allem für die zahlreichen Fälle einer außerrechtsgeschäftlichen „Haftung des Kindes für seine Eltern“; hier stellt sich die Frage, ob die Haftung des Minderjährigen durch extensive oder entsprechende
Anwendung des § 1629a BGB oder auf andere konstruktive
Weise ebenso beschränkt werden muss wie für die ausdrücklich gesetzlich geregelten Fälle.
Als Ergebnis meiner Rundreise durch das bürgerliche Recht
lässt sich m.E. konstatieren, dass sich für die entsprechend
§ 1629a BGB zu gewährende Option der Haftungsbeschränkung einige zusätzliche Anwendungsfelder ergeben haben.
Diese Anwendungsfälle einer fremdverantworteten Minderjährigenhaftung werden die Praxis zweifellos noch beschäftigen – nicht unbedingt, weil anzunehmen wäre, dass Minderjährige in der Zukunft häufig gerade wegen dieser Ansprüche
in die Überschuldung geraten werden, sondern vor allem deshalb, weil der Minderjährige, der aus anderen Gründen, etwa
aufgrund der hier paradigmatischen Unternehmensfortführung,
in die Überschuldung geraten ist, den Versuch unternehmen
wird, seine Haftung für alle anderen Verbindlichkeiten gleich
mit zu beschränken. Nach der hier vertretenen Auffassung, die
die Haftungsbeschränkungsmöglichkeit im Hinblick auf die verfassungsgerichtlichen Vorgaben extensiv interpretiert, hat er
dafür gute Aussichten.
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455
Zu den Voraussetzungen der (sukzessiven) Beteiligung – zugleich Anmerkung zu
BGH, Urt. v. 18.12.2007 – 1 StR 301/07, NStZ 2008, 280*
Von Prof. Dr. Uwe Murmann, Göttingen
Täterschaft und Teilnahme gehören wegen den mit diesen
Rechtsfiguren verbundenen Sach- und Aufbauproblemen zu
den bei Studierenden unbeliebten Examensthemen. Besondere Schwierigkeiten bereiten solche Fälle, in denen für die
Beteiligten „nicht alles nach Plan läuft“, sondern es in der
Tatsituation zu Modifikationen im Geschehensverlauf kommt.
Unter den Stichworten „sukzessive Mittäterschaft“ und „sukzessive Beihilfe“ werden Konstellationen erörtert, in denen
entweder ein zunächst noch Unbeteiligter in ein bereits im
Gange befindliches deliktisches Geschehen eintritt oder aber
ein bereits Tatbeteiligter nach einem exzesshaften Verhalten
eines anderen Beteiligten im weiteren Verlauf mitwirkt. Eine
neue Entscheidung des BGH gibt Anlass zur kritischen Auseinandersetzung mit den Grundsätzen der sukzessiven Beteiligung und deren Anwendung auf den Einzelfall.
I. Zur Begründung und Begrenzung sukzessiver Beteiligung
1. Die Anwendung der allgemeinen Beteiligungsregeln
Unproblematische Fälle sukzessiver Beteiligung sind solche,
bei denen die allgemeinen Regeln zu Mittäterschaft oder Beihilfe eine Strafbarkeit ohne Weiteres tragen.1 Beispielsfälle
hierfür sind etwa:
Fall 1: Berufsdieb A will eine wertvolle steinerne Skulptur vom Grundstück des O entwenden. Als er die Figur gerade davontragen will, kommt sein Kollege B hinzu. Beide
einigen sich über eine Teilung des Erlöses und tragen daraufhin die Skulptur gemeinsam davon.
Fall 2: In der gleichen Ausgangssituation reicht B dem A
aus alter Freundschaft ein Seil, um A den Transport der Beute
zu erleichtern.
In Fall 1 sind A und B Mittäter eines Diebstahls (§§ 242,
25 Abs. 2 StGB). Die Besonderheit liegt lediglich darin, dass
A und B den gemeinsamen Tatentschluss erst fassen, als A
sich bereits im Versuchsstadium befindet. Diese Besonderheit
ändert aber nichts daran, dass ein gemeinsamer Tatentschluss
bezogen auf die Ausführungshandlung, also die Wegnahme,
noch möglich ist.
In Fall 2 ist allein A Täter eines Diebstahls (§ 242 StGB).
B dagegen leistet nur einen untergeordneten Tatbeitrag, der
keine Täterschaft begründet. Die bloße Erleichterung der
Tatausführung begründet keine Tatherrschaft. Aber auch nach
* Manuskriptschluss: 24.9.2008. Ich danke meinem Mitarbeiter, Herrn Dipl.-Jurist Christian Breuer, für seine Unterstützung.
1
Teilweise wird der Begriff der „sukzessiven Beteiligung“
auf die im Text unter 2. behandelten Fälle beschränkt und
hinsichtlich der unter 1. behandelten Fälle von einer sukzessiven Beteiligung in einem weiten Sinn gesprochen; so
Schmoller, Kansai Univ. Rev. L. & Pol. 2002, 35.
der von der Rechtsprechung vertretenen Gesamtbetrachtungslehre, wonach sich die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme nach einer umfassenden, auch subjektive Gesichtspunkte wie das Interesse an der Tat berücksichtigenden wertenden Gesamtbetrachtung richtet,2 ist der nur aus alter
Freundschaft handelnde B richtigerweise nicht als Täter anzusehen. B leistet aber zur Tat des A Hilfe. Der Umstand,
dass diese Hilfeleistung spontan zu einem Zeitpunkt erfolgt,
zu dem A sich bereits im Versuchsstadium befindet, steht
dem nicht entgegen. In Fall 2 ist B also nach §§ 242, 27
StGB strafbar.
2. Besondere Regeln für eine sukzessive Beteiligung?
In den beiden vorstehenden Beispielen richtet sich die Strafbarkeit der Tatbeteiligten also nach den allgemeinen Regeln
und bereitet keine besonderen Schwierigkeiten. Probleme der
sukzessiven Beteiligung treten erst dann auf, wenn diese
Rechtsfigur dazu herangezogen wird, über die nach den allgemeinen Beteiligungsregeln unproblematisch erfassten Fälle
hinaus eine strafrechtliche Haftung zu begründen. Es geht
dann stets um die Frage, inwieweit der Hinzutretende für
bereits zuvor realisiertes Verhalten haften kann. In der Diskussion werden insoweit zwei Fallgruppen unterschieden. Zum
einen stellt sich die Frage, ob eine solche Haftungserweiterung sogar über den Vollendungszeitpunkt hinaus möglich ist
(dazu a). Zum anderen ist zu klären, ob der vor Tatvollendung Hinzutretende für bereits vorgenommene Ausführungshandlungen haften kann (dazu b).
a) Die zeitliche Grenze sukzessiver Beteiligung
aa) Beteiligung nach Beendigung?
Zur Erinnerung: Eine Tat ist (formell) vollendet, wenn alle
Voraussetzungen der Tatbestandsverwirklichung vorliegen.
Eine Tat ist (materiell) beendet, wenn das rechtsgutsverletzende Verhalten seinen Abschluss gefunden hat.3 Beliebte Beispiele hierfür sind Delikte mit überschießender Innentendenz:
Ein Diebstahl nach § 242 StGB ist bereits mit der Wegnahme
einer fremden beweglichen Sache in der Absicht rechtswidriger Zueignung vollendet; die Beendigung soll dagegen erst
eintreten, wenn der Täter den Gewahrsam gesichert hat, so
dass er auch tatsächlich wie ein Eigentümer mit der gestohlenen Sache verfahren kann.4
Eine Haftung für bereits realisierte Handlungen ist nach
einhelliger Auffassung ausgeschlossen, wenn ein Geschehen
2
BGHSt 36, 363 (367); BGH NStZ 1987, 364; NStZ 1988,
406; StV 1998, 540; wistra 2001, 420 (421).
3
Einzelheiten zu diesem umstrittenen Problemkreis Hillenkamp, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Strafgesetzbuch,
Leipziger Kommentar, 12. Aufl. 2007, Vor § 22 Rn. 19 ff.
4
Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 55. Aufl. 2008,
§ 242 Rn. 54.
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456
Zu den Voraussetzungen der (sukzessiven) Beihilfe
bereits „vollständig abgeschlossen vorliegt“,5 womit gemeint
ist, dass eine sukzessive Mittäterschaft ebenso wie eine sukzessive Beihilfe zu einer beendeten Tat ausgeschlossen ist6.
Fall 3: A ist in die Wohnung des O eingebrochen und hat
dort Gegenstände entwendet und in seine eigene Wohnung
getragen. Dort fasst er den Entschluss, nochmals in die Wohnung des O zurückzukehren und weitere Gegenstände zu entwenden. Er überredet B, ihn dabei zu unterstützen.
Hier liegen in der Person des A zwei Diebstahlstaten vor;
der neue Entschluss stellt eine Zäsur dar (§§ 242, 244 Abs. 1
Nr. 3; 242; 53 StGB). Die erste Tat ist mit der Sicherung der
Beute beendet; B ist lediglich an der zweiten Tat (§ 242 StGB)
beteiligt.7
bb) Beteiligung nach Vollendung?
Größere Schwierigkeiten macht dagegen die Beantwortung der
Frage, inwieweit sukzessive Mittäterschaft und sukzessive
Beihilfe auch nach Vollendung (und vor Beendigung) der
(Haupt-)Tat noch möglich sind.
Auch insoweit gibt es allerdings Fälle, in denen eine sukzessive Beteiligung unstreitig noch über den Vollendungszeitpunkt hinaus möglich ist, weil der Täter bis zum Beendigungszeitpunkt noch weitere Ausführungshandlungen vornimmt. So liegt es zum einen bei den Tatbeständen mit iterativer Deliktsstruktur, bei denen der bereits verwirklichte Tatbestand vom Täter aufgrund des gleichen Vorsatzes durch
weitere Handlungen oder Unterlassungen immer wieder verwirklicht wird, ohne dass dem Täter deshalb mehrere Tatbestandserfüllungen anzulasten sind.8 Beispielhaft hierfür sind
die Dauerdelikte.
Fall 4: A hat O in seinem Keller eingesperrt. Er hält ihn
dort über mehrere Tage gefangen. Jedes Mal, wenn er O etwas zu Essen bringt, verriegelt er anschließend wieder die
Tür. Als O am dritten Tag seiner Gefangenschaft fliehen will,
unterstützt B den A bei der Vereitelung des Fluchtversuchs.
Mit dem Einsperren hat A den Tatbestand des § 239 StGB
erfüllt. Die damit vollendete Tat wird durch die permanente Verletzung der auf Freilassung gerichteten Ingerenzgarantenpflicht wie auch durch das erneute Verschließen der Tür und
die Vereitelung des Fluchtversuchs immer wieder aufs Neue
verwirklicht.9 Gleichwohl erfüllt A den Tatbestand nur einmal. Die Dauer des Eingriffs intensiviert aber das Tatunrecht
(vgl. § 239 Abs. 3 Nr. 1 StGB). Beendet ist die Freiheitsbe-
5
BGHSt 2, 344 (346).
BGH JZ 1981, 596; NJW 1985, 814; zum Verhältnis von
Beendigung und „vollständigem Abschluss“ auch Gössel, in:
Vogler (Hrsg.), Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck zum
70. Geburtstag, Bd. 1, 1985, S. 546 f.
7
Vgl. BGHSt 2, 344 (347 f.).
8
Hillenkamp (Fn. 3), Vor § 22 Rn. 27.
9
Kühl, Die Beendigung des vorsätzlichen Begehungsdelikts,
1974, S. 60 ff.; Rudolphi, in: Vogler (Fn. 6), S. 566.
STRAFRECHT
raubung erst dann, wenn O seine Freiheit wiedererlangt hat.10
Der Umstand, dass mit Blick auf das einheitliche Unrecht in
der Person des A nur eine einzige Tatbestandsverwirklichung
vorliegt, kann anderen Beteiligten, die an formell tatbestandsmäßigen Verhaltensweisen nach Tatvollendung mitwirken, nicht
zugute kommen.11 B macht sich also, je nach dem Gewicht
seiner Mitwirkung, einer mittäterschaftlichen Freiheitsberaubung oder einer Beihilfe zur Freiheitsberaubung des A schuldig. Besonderheiten bei der Beteiligtenstrafbarkeit ergeben
sich insoweit nicht: Eine Beteiligung bleibt bezogen auf die
nach Vollendung von A vorgenommenen – wenn auch nicht
selbständig in Ansatz gebrachten – Verwirklichungshandlungen möglich.
Freilich stellt sich bei der Strafzumessung die Frage, ob
dem später Hinzutretenden das gesamte Unrecht, also der
gesamte Zeitraum der Freiheitsberaubung, anzulasten ist. Hätte
A den O bereits über eine Woche eingesperrt, so würde sich
darüber hinaus auch noch die Frage stellen, ob dem in Kenntnis dieses Umstands mitwirkenden B auch der Qualifikationstatbestand des § 239 Abs. 3 Nr. 1 StGB anzulasten ist
(vgl. dazu unten Fall 7).12
Eine sukzessive Beteiligung ist – ebenfalls unstreitig –
nach Vollendung auch noch möglich bei Taten, die eine iterative Handlungsstruktur aufweisen.13 Hier ist das Delikt
zwar seiner Struktur nach nicht auf wiederholte Verwirklichung angelegt. Aber die wiederholte Vornahme tatbestandsmäßiger Handlungen wird gleichwohl als eine einzige
Tatbestandsverwirklichung interpretiert.
Fall 5: A verprügelt O. B tritt hinzu und schlägt – im Einverständnis mit A – ebenfalls auf O ein.
Schon mit dem ersten Schlag, den A gegen O führt, ist
§ 223 StGB verwirklicht und die Tat mithin vollendet. Jeder
weitere Schlag erfüllt zwar für sich genommen die Voraussetzungen von § 223 StGB erneut. Gleichwohl liegt für A nur
eine einzige Tatbestandsverwirklichung vor, die freilich durch
die Vielzahl der Schläge bis zur Beendigung der Tracht Prügel intensiviert wird. Da A aber immer neue Ausführungshandlungen vornimmt, ist eine Beteiligung des B hieran ohne
Weiteres möglich. A und B sind demnach Mittäter einer
gefährlichen Körperverletzung (§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 4, 25
Abs. 2 StGB).
Auch hier ergibt sich erst bei der – im juristischen Gutachten nicht interessierenden – Strafzumessung ein Problem.
Es stellt sich nämlich die Frage, ob B nur die nach seinem
Hinzutreten verwirklichten Verletzungen angelastet werden dürfen oder ob auch die von ihm erkannten vorangegangenen
Misshandlungen strafschärfend Berücksichtigung finden können.
6
10
Vgl. Sonnen, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.),
Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2005, § 239
Rn. 24.
11
Rudolphi (Fn. 9), S. 566.
12
Vgl. Rudolphi (Fn. 9), S. 567.
13
Hillenkamp (Fn. 3), Vor § 22 Rn. 28.
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457
AUFSÄTZE
Uwe Murmann
Zusammenfassend kann danach bislang festgehalten werden, dass eine sukzessive Beteiligung über den Vollendungszeitpunkt hinaus jedenfalls dann möglich ist, wenn auch nach
Vollendung weitere Ausführungshandlungen vorgenommen
werden. Diese Fälle entsprechen danach bei genauerem Hinsehen den oben (1.) erörterten: Die Beteiligtenstrafbarkeit
setzt keine Haftung für bereits abgeschlossenes Verhalten
voraus.
Die verbleibenden Problemfälle sind danach solche, bei
denen die nach Vollendung vorgenommenen Handlungen gerade nicht mehr tatbestandsmäßig sind. Eine Beteiligung
unmittelbar an der Ausführungshandlung ist damit nicht mehr
möglich.
Fall 6: A hat in der Fabrikanlage des O schwere Metallteile entwendet und in einem Gebüsch in unmittelbarer Nähe
des Werksgeländes versteckt (vollendeter § 242 StGB). B
unterstützt A beim Wegschaffen der Beute.
Hier kann sich B nicht mehr an der Wegnahme der Beute
beteiligen; die Tat ist vollendet, aber mit Blick auf den ungesicherten Gewahrsam des A noch nicht beendet.14 Nach allgemeinen Grundsätzen scheidet also Mittäterschaft aus, weil
B die Wegnahme nicht (mit-)beherrschen kann; Beihilfe
scheidet aus, weil er keine Hilfe zur Wegnahme leisten kann.
Die Rechtsprechung hält in solchen Konstellationen gleichwohl eine sukzessive Mittäterschaft wie auch eine sukzessive
Beihilfe für möglich. Damit wird die Beteiligung freilich
nicht auf die Tatbestandsverwirklichung, sondern auf die
Verwirklichung des materiellen Unwerts bezogen. Dementsprechend ist die Lösung der Rechtsprechung bei einer materiellen Betrachtung auch nachvollziehbar: B beteiligt sich an
der Erlangung einer eigentümerähnlichen Position. Die Erlangung einer solchen Position gehört sicherlich zum typischerweise mit einem Diebstahl verbundenen Unrecht. Diese
Überlegungen sind aber durchgreifenden Bedenken ausgesetzt: Der Gesetzgeber hat auf ein objektives Zueignungserfordernis im Tatbestand aus guten Gründen (kriminalpolitisch
sinnvoller Vollendungszeitpunkt; Vermeidung von Beweisschwierigkeiten) verzichtet. Bezugspunkt der Beteiligung ist
nach §§ 25 Abs. 2, 27 StGB eine „Straftat“ bzw. eine „rechtswidrige Tat“. Maßgeblich ist damit allein die Verwirklichung
des gesetzlichen Tatbestandes (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB).
Eine Beteiligtenstrafbarkeit wegen einer Mitwirkung im
Beendigungszeitraum sieht das Gesetz nicht vor – womit
einer Strafbarkeit von B insoweit die gesetzliche Grundlage
fehlt.15 Die teleologischen Erwägungen der Rechtsprechung
stehen folglich in Widerspruch zu den zwingenden Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes (Art. 103 Abs. 2 GG).
Mit diesen Überlegungen lehnt die heute überwiegende Literaturauffassung eine Strafbarkeit wegen sukzessiver Beteiligung in solchen Fällen ab.16
14
Vgl. BGHSt 4, 132 (133).
Dies entsprach auch noch dem Standpunkt des Reichsgerichts, RGSt 22, 2 (3 f.).
16
Joecks, in: ders./Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar
zum Strafgesetzbuch, 2005, Bd. 1, § 25 Rn. 182; Kühl, Straf15
Möglich bleibt freilich eine Strafbarkeit wegen Anschlussdelikten wie Begünstigung (§ 257 StGB) und Hehlerei
(§ 259 StGB).
b) Die Haftung des Hinzutretenden für bereits realisiertes
Verhalten
Ist eine Beteiligtenstrafbarkeit nach Vollendung ausgeschlossen, sofern dann keine Straftatbegehung mehr im Gange ist,
an der sich der Hinzutretende beteiligen könnte, so ist damit
noch die Frage offen, inwieweit eine sukzessive Beteiligung
vor Vollendung möglich ist. Diese Frage wurde bereits im
bejahenden Sinn für die Fälle beantwortet, in denen sich der
Hinzutretende an der gesamten Tatbestandserfüllung beteiligt. Damit waren die Fälle ausgespart, bei denen der später
Hinzutretende nur noch an einem Teil der Tatbestandsverwirklichung mitwirkt, während andere Merkmale bereits
ohne sein Zutun erfüllt worden sind.
Die Möglichkeit einer solchen Teilmitwirkung lässt sich
leicht an den zweiaktigen Delikten verdeutlichen. So kann
der Hinzutretende beim Raub (§ 249 StGB) noch an der Wegnahmehandlung mitwirken, während die Gewaltanwendung
zur Ermöglichung der Wegnahme bereits abgeschlossen ist.
Es stellt sich hier also die Frage, inwieweit dem Hinzutretenden Verhaltensweisen, die von dem bereits agierenden Täter zuvor verwirklicht wurden, anzulasten sind. Bei der Beantwortung dieser Frage ist danach zu differenzieren, ob eine
Mittäterschaft oder eine Beihilfe zur bereits begonnenen Tat
in Betracht kommt.
aa) Die Haftung des Hinzutretenden als Mittäter
Konstellationen, in denen eine mittäterschaftliche Haftung
des Hinzutretenden in Betracht kommt, lassen sich an folgendem Beispiel verdeutlichen:
Fall 7: A war in die Wohnung des O eingebrochen. Er
wollte von dort Stehlenswertes in seine eigene, nahegelegene
Wohnung schaffen und war entschlossen, zu diesem Zweck
auch mehrmals hin- und herzugehen. Als er den ersten Teil
der Beute in seine Wohnung verbracht hatte, weckte er den
dort schlafenden B und forderte ihn unter Schilderung des
bisher Geschehenen auf, ihn zur Wohnung des O zu begleiten
und weitere Gegenstände zu stehlen. Daraufhin gingen A und
B gemeinsam zu der Wohnung und entwendeten weitere
Gegenstände.17
Zweifelsfrei hat sich A wegen Wohnungseinbruchsdiebstahl (§§ 242, 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB) strafbar gemacht. Der
Umstand, dass A bereits einen Teil der Beute in seine Wohnung verbracht hatte, ändert aufgrund des einheitlichen Tatentschlusses nichts daran, dass insgesamt nur eine Diebstahlstat vorliegt, die erst mit Sicherung der gesamten Beute
recht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2008, § 20 Rn. 127; Roxin,
Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 2003, § 25 Rn. 221; Rudolphi (Fn. 9), S. 568; Cramer/Heine, in: Schönke/Schröder,
Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Aufl. 2006, § 25 Rn. 91.
17
Vgl. BGHSt 2, 344.
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Zu den Voraussetzungen der (sukzessiven) Beihilfe
als beendet anzusehen ist.18 Ebenso zweifelsfrei hat sich B
durch sein Verhalten im zweiten Geschehensabschnitt eines
einfachen Diebstahls strafbar gemacht (§ 242 StGB). Dieser
Diebstahl wurde mittäterschaftlich begangen, soweit A und B
gemeinschaftlich und aufgrund gemeinsam gefassten Tatentschlusses weggenommen haben.19 Fraglich ist aber, ob B
auch wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls strafbar ist. Das
wäre nur der Fall, wenn er sich nach § 25 Abs. 2 StGB die
bereits realisierten Einbruchshandlungen zurechnen lassen
müsste.
Die Rechtsprechung bejaht eine mittäterschaftliche Haftung für die bereits verwirklichten Tatbestandsmerkmale, denn
das Einverständnis des später Hinzutretenden beziehe sich
auf den Gesamtplan.20 Die neuere Literatur widerspricht dem
zu Recht:21 Der gemeinsame Tatplan ist Grundlage der wechselseitigen Zurechnung bei der Mittäterschaft.22 Dahinter steht
der Gedanke, dass gerade das planmäßig arbeitsteilige Vorgehen, bei dem jeder sein eigenes Verhalten in den Dienst des
anderen stellt und umgekehrt vom Verhalten des anderen
profitieren will, die wechselseitige Zurechnung legitimiert,
aber auch limitiert. Handlungen, die außerhalb eines solchen
Planungszusammenhanges erbracht werden, können nicht
unter Hinweis auf den gemeinsamen Tatentschluss zugerechnet werden. Bestraft würde sonst ein nachträglich gefasster
Vorsatz – ein dolus subsequens –, der als Zurechnungsgrundlage nicht ausreicht.23 Nichts anderes gilt für folgendes Beispiel:
Fall 8: A und B verprügeln O. Währenddessen fasst A
den Entschluss, die Schläge dazu auszunutzen, die Wertsachen des O wegzunehmen. Als O bewusstlos am Boden liegt,
fordert er B zur gemeinsamen Suche nach Stehlenswertem
auf. A und B nehmen die Geldbörse von O an sich.24
A hat sich eines Raubes (§ 249 StGB) in Tateinheit (§ 52
StGB) mit gefährlicher Körperverletzung (§§ 223, 224 Abs. 1
Nr. 4 StGB) schuldig gemacht. Der Umstand, dass er sich
erst im Laufe der Gewaltanwendung zur Wegnahme entschlossen hat, ändert nichts daran, dass ihm die Gewalt zur
Wegnahme diente. B hat jedenfalls mit A gemeinschaftlich
18
In dem die einzelnen Akte umgreifenden Tatentschluss
liegt der Unterschied zu Fall 3; vgl. BGHSt 2, 344.
19
Für die Erfüllung des Tatbestandes kommt es auf die Zurechnungsvorschrift des § 25 Abs. 2 StGB freilich überhaupt
nicht an, da A und B den Tatbestand jeweils in eigener Person erfüllen.
20
BGHSt 2, 344 (346 f.); BGH JZ 1981, 596.
21
Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Aufl. 2006, S. 289
ff.; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, Allgemeiner Teil,
5. Aufl. 2004, § 12 Rn. 88.
22
So die h.M., vgl. BGHSt 6, 248 (249); Ingelfinger, in: Dölling/Duttge/Rössner (Hrsg.), Gesamtes Strafrecht, 2008, § 25
Rn. 42; eingehend Puppe, in: Courakis (Hrsg.), Festschrift für
Spinelli, Bd. 2, 2001, S. 915 ff.
23
Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, 10. Aufl. 2008, § 7
Rn. 47; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 21), § 12 Rn. 88.
24
Vgl. BGH JZ 1981, 596; dazu Küper, JZ 1981, 568.
STRAFRECHT
eine gefährliche Körperverletzung und einen Diebstahl begangen (§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 4; 242, 25 Abs. 2; 52 StGB,
wobei der Diebstahl freilich in der Person des A durch den
spezielleren Raub verdrängt wird). Die Rechtsprechung würde B zudem als Mittäter des Raubes ansehen und dies damit
begründen, dass sein Einverständnis mit der noch fortwirkenden Gewalt die Zurechnung des gesamten Geschehens erlaube.25 Richtig ist das nicht. Denn die Gewaltanwendung kann
B zwar im Rahmen des gemeinschaftlich gefassten Körperverletzungsentschlusses zugerechnet werden. Aber als Nötigungsmittel beim Raub wird sie durch ihre Instrumentalisierung im Dienste der Wegnahme gekennzeichnet. Hierauf bezog sich der gemeinsame Tatplan von A und B aber gerade
nicht.26 Damit fehlt für eine Zurechnung die Grundlage.
Schließlich gelten die gleichen Überlegungen auch dann,
wenn die Voraussetzungen von Regelbeispielen bereits verwirklicht sind.
Variante zu Fall 7: Bei den Taträumlichkeiten handelte es
sich um einen Kiosk.27
Hier hat sich A wegen Diebstahls in einem besonders
schweren Fall (§§ 242, 243 Abs. 1 Nr. 1 StGB) und B jedenfalls wegen Diebstahls (§ 242 StGB) strafbar gemacht. Die
Rechtsprechung und ein Teil der Lehre würden (im Regelfall28) für B den Strafrahmen des § 243 StGB anwenden und
es hierzu für ausreichend ansehen, dass er in Kenntnis des
von A verwirklichten Regelbeispiels gehandelt hat.29 Zwar
handelt es sich bei Regelbeispielen bekanntlich nicht um
Tatbestandsmerkmale, sondern um Regeln für die Strafzumessung, aber mit Blick auf deren Ähnlichkeit mit Tatbestandsmerkmalen seien die Regeln zur sukzessiven Beteiligung entsprechend anzuwenden. Dagegen hält ein anderer
Teil der Lehre zu Recht auch hier eine sukzessive Mittäterschaft für nicht akzeptabel: Weil der Einbruch nicht einem
gemeinsamen Entschluss entsprungen ist, fehlt für eine Zurechnung zu Lasten von B die Legitimationsgrundlage.30
25
Die Bedeutung des Umstands, dass der BGH (JZ 1981,
596) auf das Fortwirken der Gewaltanwendung hinweist,
wird allerdings nicht klar. Gegenüber BGHSt 2, 344 (346)
lässt sich dies als Einschränkung deuten; vgl. Küper, JZ
1981, 568 (571).
26
Küper, JZ 1981, 570 auch zu weiteren Bedenken.
27
BGHSt 2, 344.
28
Also nur dann nicht, wenn die bei Vorliegen eines Regelbeispiels begründete Indizwirkung für das Vorliegen eines
besonders schweren Falls durch besondere Gründe ausnahmsweise entkräftet wird.
29
Vgl. BGH StV 1994, 240; Eser, in: Schönke/Schröder
(Fn. 16), § 243 Rn. 47.
30
Hoyer, in: Rudolphi u.a. (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 6. Aufl., 47. Lieferung, Stand: Februar 1999, § 243 Rn. 56; a.A. unter Hinweis auf den Charakter als Strafzumessungsregel Gössel (Fn. 6), S. 555.
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AUFSÄTZE
Uwe Murmann
bb) Die Haftung des Hinzutretenden als Gehilfe
Varianten zu Fällen 7 und 8: B leistet jeweils nur einen untergeordneten Beitrag zu der von A realisierten Tat.
Die Rechtsprechung ist der Auffassung, es gebe keinen
Grund dafür, sukzessive Beihilfe und sukzessive Mittäterschaft unterschiedlich zu behandeln.31 B sei also jeweils Gehilfe der von A verwirklichten Straftat unter Einbeziehung
der Umstände, bei deren Verwirklichung er noch keinen Beihilfevorsatz gefasst hatte.
Die Literatur lehnt dies teilweise aus den gleichen Erwägungen ab, die auch gegen eine sukzessive Mittäterschaft
geltend gemacht werden: Der Gehilfe habe bezogen auf die
bereits verwirklichten Tatumstände weder einen Vorsatz gehabt (es liege bei nachträglichem Billigen lediglich ein dolus
subsequens vor), noch habe er diese Tatumstände durch sein
Verhalten noch fördern können.32
Beides ist richtig – steht aber einer Beihilfe nicht entgegen.33 Mittäterschaft und Beihilfe weisen nämlich grundsätzliche strukturelle Unterschiede auf: Als Form der Täterschaft
setzt Mittäterschaft die Verwirklichung des vollen Tatbestandes durch jeden Mittäter voraus; Täterschaft ist nämlich
nichts anderes als Tatbestandserfüllung34. Bei der Mittäterschaft wird das Minus bei der eigenen Ausführung durch
Zurechnung der Ausführungshandlungen der anderen kompensiert. Die wechselseitige Zurechnung unter Mittätern nach
§ 25 Abs. 2 StGB führt also dazu, dass letztlich jeder Mittäter
den vollen Tatbestand – wenn auch möglicherweise nicht
eigenhändig – erfüllt. Eine Mittäterschaft kann also immer
nur so weit reichen, wie eine Zurechnung der Tatbeiträge der
anderen auf Grund des gemeinsamen Tatentschlusses möglich ist – wie bereits gezeigt, reicht hierfür eine nachträgliche
Billigung bereits verwirklichter Tatbeiträge nicht aus.
Der Tatbestand umschreibt nur das Unrecht der Täterschaft (sog. „restriktiver Täterbegriff“). Der Teilnehmer hingegen erfüllt nicht den Tatbestand des Besonderen Teils.
Anstiftung (§ 26 StGB) und Beihilfe (§ 27 StGB) sind demnach Strafausdehnungsgründe. Das Unrecht der Teilnahme
liegt in einem akzessorischen Rechtsgutsangriff, d.h. der
Teilnehmer greift das geschützte Rechtsgut vermittelt durch
das vom Täter verwirklichte tatbestandliche Unrecht an.35
Dem Gehilfen werden folglich nicht die Ausführungshandlungen des Haupttäters zugerechnet, sondern das von ihm
verwirklichte tatbestandliche Unrecht liegt in der vorsätzlichen Vornahme der Beihilfehandlung.36 Es kommt deshalb
auch nicht darauf an, dass der Gehilfe in den Tatentschluss
des Täters einbezogen ist. Ein Hilfeleisten i.S.d. Beihilfetatbestandes liegt vor, wenn der Gehilfe das Risiko der Haupttatbegehung erhöht und diesbezüglich vorsätzlich handelt
(s. dazu noch unten II. 3. b).37 Dabei muss die Beihilfehandlung das Haupttatrisiko nicht bezogen auf jede Unrechtsdimension der Haupttat erhöhen. Eine Beihilfe zum Wohnungseinbruchsdiebstahl liegt z.B. bei Förderung der Wegnahme vor, auch wenn die Einbruchshandlung vom Gehilfen
nicht unterstützt wurde (und umgekehrt). Erforderlich ist
freilich, dass der Gehilfe eine Vorstellung von den Dimensionen des vom Haupttäter verwirklichten Unrechts hat. Aber
er fördert dieses Unrecht objektiv und subjektiv auch dann
noch, wenn Teile der Haupttat bereits verwirklicht sind.
Nichts anderes gilt auch bezüglich bereits verwirklichter
Regelbeispiele (vgl. Variante zu Fall 7): Bricht A in einen
Kiosk ein und leistet ihm B sodann in Kenntnis dieses Umstands bei der Wegnahme Hilfe, so kann auch bezüglich B
der Strafrahmen des § 243 StGB Anwendung finden.38
Insoweit ist der Rechtsprechung demnach zuzustimmen:
Fördert der Gehilfe eine Haupttat noch vor deren Vollendung,
so leistet er zu dieser Haupttat auch unter Einbeziehung bereits verwirklichter Tatteile Beihilfe, sofern er in Kenntnis
der verwirklichten Merkmale handelt.39
Das hat auch Konsequenzen für die Behandlung der oben
aa) erörterten Fälle 7 (einschließlich Variante) und 8, bei
denen nach hier vertretener Auffassung eine sukzessive Mittäterschaft bezogen auf bereits verwirklichte Tatbestandsmerkmale (bzw. Regelbeispiele) nicht in Betracht kommt.
Nach dem Vorstehenden bleibt insoweit eine Beihilfe bezogen auf die jeweils von A begangenen Taten möglich. Diese
steht dann in Tateinheit zu den jeweils anschließend von A
und B mittäterschaftlich verwirklichten Taten.40
c) Hinweise zur gutachterlichen Prüfung
Die Lösung von Aufbauproblemen hat sich an den Sachfragen zu orientieren. Jeder Aufbau, der eine angemessene Erörterung der Sachfragen erlaubt und dabei die Übersichtlichkeit
der Darstellung wahrt, ist akzeptabel. Die nachfolgenden Hinweise verstehen sich vor dem Hintergrund dieser Ermutigung
zu in der Sache begründeter Abweichung von vorgegebenen
Schemata:
- Die Strafbarkeit des Beteiligten, der eigenhändig alle Ausführungshandlungen vorgenommen hat (in den vorstehenden
Fällen jeweils A), ist zuerst zu prüfen.
- Hinsichtlich des später Hinzutretenden (in den vorstehenden Fällen jeweils B) ist zuerst eine Beteiligung an der Tat
des A (in deren vollem Umfang) zu erörtern. Je nach Gewicht
der von B vorgenommenen Handlungen kommt eine Prüfung
als Mittäter oder Gehilfe in Betracht; erscheint eine mittäterschaftliche Beteiligung nicht von vornherein ausgeschlossen,
so ist mit dieser zu beginnen.
- Im Rahmen der Prüfung einer Strafbarkeit des B als Mittäter ist im objektiven Tatbestand festzustellen, dass B nicht in
31
BGHSt 2, 344 (346).
Klesczewski, Strafrecht, Besonderer Teil, 2002, S. 107 f.;
Schmoller (Fn. 6), S. 42.
33
Zutreffend Küper, JuS 1986, 866 f.
34
Murmann, JA 2008, 321.
35
Vgl. Roxin, in: Küper (Hrsg.), Festschrift für Walter Stree
und Johannes Wessels zum 70. Geburtstag, 1993, S. 369 ff.
36
Rengier (Fn. 23), § 7 Rn. 49.
32
37
Näher Kretschmer, Jura 2008, 265; Murmann, JuS 1999,
548.
38
Roxin (Fn. 21), S. 290 f.
39
So auch Schünemann, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Fn. 3),
§ 25 Rn. 201; Ingelfinger (Fn. 22), § 27 Rn. 17.
40
Schünemann (Fn. 39), § 25 Rn. 201; Roxin (Fn. 16), § 25
Rn. 228.
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460
Zu den Voraussetzungen der (sukzessiven) Beihilfe
eigener Person sämtliche Tatumstände verwirklicht hat. Es ist
dann die Frage aufzuwerfen, ob er sich die von A verwirklichten Handlungen nach § 25 Abs. 2 StGB zurechnen lassen
muss. Das setzt voraus, dass eine Mittäterschaft nach Tatvollendung bzw. bezogen auf bereits verwirklichte Teile des
Tatbestandes noch möglich ist. Weiter setzt Mittäterschaft –
wie stets – voraus, dass der von B geleistete Beitrag seinem
Gewicht nach überhaupt Mittäterschaft begründen kann.
Welche Voraussetzung man zuerst erörtert, ist eine Frage des
Einzelfalls. Lässt sich ohne größeren Begründungsaufwand
zeigen, dass auch bei unterstellter konstruktiver Möglichkeit
einer sukzessiven Beteiligung der Tatbeitrag von B Mittäterschaft nicht begründen könnte, so kann eine Zurechnung nach
den Grundsätzen des § 25 Abs. 2 StGB verneint werden,
ohne dass der Streit um die sukzessive Mittäterschaft entschieden werden müsste.41 Andernfalls empfiehlt es sich, zuerst den Streitstand um die sukzessive Mittäterschaft und die
(divergierenden) Ergebnisse von Rechtsprechung und h.L. für
den konkreten Fall darzustellen, um sodann den Streit zu
entscheiden.
- Wird eine sukzessive Mittäterschaft mit der h.L. abgelehnt
oder vermag das Gewicht des Beitrags von B eine Mittäterschaft nicht zu begründen, so ist die Prüfung mit dem Ergebnis abzubrechen, dass eine mittäterschaftliche Beteiligung an
der Tat des A nicht vorliegt. Sodann ist eine Beihilfe zu der
Tat des A zu erörtern. Zu diskutieren ist hier, ob trotz vollendeter Tatbegehung bzw. trotz bereits erfolgter Teilverwirklichung des Tatbestandes noch eine Beihilfe möglich ist.
- Ist eine Mittäterschaft an der von A verwirklichten Tat
nicht mit Blick auf das unzureichende Gewicht des Tatbeitrags, sondern mit Blick auf die Bedenken gegen eine sukzessive Mittäterschaft abgelehnt worden, so kann schließlich die
Prüfung einer mittäterschaftlichen Begehung bezogen auf
einen nach Hinzutreten des B verwirklichten Tatbestand zu
erörtern sein. Insoweit spielt dann das Problem der sukzessiven Mittäterschaft keine Rolle. Bei dieser Prüfung darf es
freilich nicht irritieren, dass sich die mittäterschaftliche Verwirklichung auf einen Tatbestand bezieht, der für A nicht
eigenständig zu prüfen war, weil er in der von A verwirklichten Tat als Minus enthalten ist (vgl. Fälle 7 und 8).
- Kommt Mittäterschaft nicht in Betracht, kann schließlich
die Prüfung von Beihilfe zu der nach Hinzutreten des B verwirklichten Tat erforderlich sein. Dies wird aber nur bei untergeordneten Beiträgen der Fall sein, wenn man die vor
Vollendung der Tat geleistete Unterstützung zu Teilen der Tatausführung – entgegen der hier vertretenen Auffassung (oben
I. 2. b) bb) – zur Begründung einer Beihilfe an der gesamten
Tat für unzureichend hält.
II. Die Entscheidung BGH, Urt. v. 18.12.2007 – 1 StR
301/07 (NStZ 2008, 280)
Auf den dargelegten Grundlagen lässt sich nun auch das
aktuelle – und examenswichtige – Urteil des 1. Strafsenats
des BGH erörtern.
41
So in der Fallprüfung Beulke, Klausurenkurs II, 2007, Rn. 255.
STRAFRECHT
1. Der Sachverhalt
Der Entscheidung lag – verkürzt – folgender Sachverhalt
zugrunde: A und B wollten den Pkw des O gewaltsam entwenden und hatten zu diesem Zweck geplant, dass B den O
ansprechen und ablenken, während A sich von hinten unbemerkt an O heranschleichen und ihn niederschlagen sollte.
Die Bewusstlosigkeit oder Benommenheit des O sollte dann
zur Wegnahme und zur Flucht ausgenutzt werden. A, der,
wie B wusste, stets sein Fahrtenmesser bei sich führte, fasste
jedoch spontan den Entschluss, O nicht nur niederzuschlagen,
sondern zu erstechen. In Umsetzung dieses Vorhabens stach
er O nach dem Anschleichen zweimal in Tötungsabsicht in
die linke Halsseite. Als der zu Boden sinkende O sich in
Todesangst wehrte, stürzte sich A auf ihn und stach weitere
neun Mal schnell und heftig auf die linke Brustseite des O
ein. Der nun wehrlose, tödlich getroffene O gab nur noch
schwache Lebenszeichen von sich. B hatte, als er die wahre
Absicht des A erkannte, zunächst versucht davonzulaufen. Er
folgte dann aber schließlich der Aufforderung des A, ihm
beim Verstecken des leblosen O zu helfen, da sein Interesse
am Besitz des Fahrzeugs letztlich die Bedenken wegen des
Zustechens überwog. Also schleifte B gemeinsam mit A den
leblosen O, dessen Tod auch er alsbald erwartete, davon, um
ihn zu verstecken und so eine vorzeitige Entdeckung der Tat
zu verhindern. Nach der Sachverhaltsschilderung des Urteils
– und in Abweichung von den weiteren Ausführungen, dazu
unten 2. – schickte A den B anschließend zum Wagen des O,
während A dem Opfer den Autoschlüssel aus der Tasche zog.
Beide flüchteten anschließend mit dem Pkw, während O
seinen Verletzungen erlag.
2. Die rechtliche Würdigung durch den BGH
Die rechtliche Würdigung des Geschehens macht bezüglich
A keine besonderen Schwierigkeiten. Dieser hat sich offensichtlich eines Mordes (§§ 212, 211 StGB) schuldig gemacht.
Erfüllt sind die Mordmerkmale der Habgier und „zur Ermöglichung einer Straftat“.42 Die h.M. würde das Verhalten zudem als heimtückisch einstufen. Dieses Ergebnis lässt sich
auch mit der Lehre vom verwerflichen Vertrauensbruch begründen, wenn man das, dem A über § 25 Abs. 2 StGB zurechenbare, Ablenkungsmanöver zur Begründung eines Vertrauensverhältnisses für ausreichend hält.43 In Tateinheit
(§ 52 StGB) hiermit steht der von A begangene Raub mit
Todesfolge (§§ 249, 251 StGB)44.
Problematisch ist hingegen die strafrechtliche Beurteilung
des Verhaltens von B. Das LG als Instanzgericht verurteilte B
wegen Beihilfe zum Mord in Tateinheit mit schwerem Raub
(§§ 212, 211, 27; 249, 250 Abs. 1 Nr. 1a; 52 StGB). Die zu
Ungunsten des B eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft
war mit dem Ziel, eine Verurteilung wegen Beihilfe zum
Mord in Tateinheit mit Raub mit Todesfolge zu erreichen, er42
Letzteres ist mit Blick auf das Erfordernis der Ermöglichung einer „anderen“ Straftat nicht ganz unproblematisch;
vgl. Fischer (Fn. 4), § 211 Rn. 66.
43
Vgl. Eser (Fn. 29), § 211 Rn. 26; Meyer, JR 1979, 487.
44
Vgl. BGHSt (GrS) 39, 100.
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461
AUFSÄTZE
Uwe Murmann
folgreich (§§ 212, 211, 27; 249, 251; 52 StGB). Besondere
Begründung durch den BGH erfuhr allein die Strafbarkeit
wegen Raubes mit Todesfolge; insoweit war das Problem der
sukzessiven Mittäterschaft zu erörtern. Der BGH stellt zunächst klar, dass „grundsätzlich“ eine Verurteilung nach
§ 251 StGB voraussetzt, dass sich der Vorsatz auf die Gewaltanwendungen erstrecken muss, die den qualifizierenden
Erfolg herbeiführen. Aber „nicht jede Abweichung des tatsächlichen Geschehens von dem vereinbarten Tatplan beziehungsweise von den Vorstellungen des Mittäters begründet
die Annahme eines Exzesses. Vielmehr liegt sukzessive Mittäterschaft vor, wenn jemand in Kenntnis und in Billigung
des bisher Geschehenen – auch wenn dieses in wesentlichen
Punkten von dem ursprünglichen gemeinsamen Tatplan abweicht – in eine bereits begonnene Ausführungshandlung als
Mittäter eintritt. Sein Einverständnis bezieht sich dann auf die
Gesamttat mit der Folge, dass ihm das gesamte Verbrechen
strafrechtlich zugerechnet wird.“45 Eine Grenze der Zurechnung bestehe erst bei vollständig abgeschlossenen Geschehen, also bezüglich beendeter Taten46 (dazu oben I. 2. a) aa).
Nach diesen Grundsätzen sei B auch die tödliche Gewaltanwendung des A zuzurechnen. Denn B habe „in Verfolgung
des gemeinsamen Tatplanes die tödlich verlaufenden Körperverletzungen […] dazu ausgenutzt“, sich und A in den Besitz
des Wagens zu bringen.47 B habe „das Geschehen unmittelbar
mitverfolgt und trat in Kenntnis und Billigung dieser Umstände in die bereits begonnene, von der ursprünglichen Absprache abweichende Ausführungshandlung ein“, indem er
das Opfer mit A gemeinsam versteckte.48 „Dadurch sowie
durch das Ansichtnehmen der Kfz-Schlüssel aus der Kleidung des dann zurückgelassenen tödlich Verletzten und durch
das folgende Entwenden des Fahrzeugs hat sich der Vorsatz
sukzessiv auf die zum Tod führende Gewalthandlung des
Mittäters (A) erstreckt.“49 An dieser Stelle ist auf die oben
schon angedeutete Merkwürdigkeit hinzuweisen, dass der BGH
zur Begründung darauf verweist, dass B die Kfz-Schlüssel an
sich genommen habe, während nach der Sachverhaltsschilderung A diese Handlung vorgenommen hat. Wenn auch kaum
anzunehmen ist, dass das Ergebnis von dieser Frage abhängt,
überrascht doch die mangelnde Sorgfalt, mit der der BGH
eine Entscheidung, die für den Angeklagten weitreichende
Konsequenzen hat, begründet.
3. Kritik
a) Zur Annahme sukzessiver Mittäterschaft durch den BGH
Die Entscheidung macht die Schwäche der Rechtsprechung
zur sukzessiven Mittäterschaft noch einmal besonders augenfällig: Ein „Vorsatz“, der erst im Anschluss an eine Ausführungshandlung gefasst wird, ist ein Unding. Denn der Vorsatz
ist nicht lediglich eine moralisch verwerfliche Begleitmusik
zu einem von ihm unbeeinflussten Geschehen, sondern er
45
BGH NStZ 2008, 280 (281).
46
BGH NStZ 2008, 280 (281).
47
BGH NStZ 2008, 280 (281).
48
BGH NStZ 2008, 280 (281).
49
BGH NStZ 2008, 280 (281).
erhält seine Relevanz als Unrechtsbestandteil aus seiner Qualität als steuerndes, das Rechtsverhältnis zum Opfer gestaltendes Element. Diese Relevanz kann einem nachträglich gefassten Vorsatz ersichtlich nicht zukommen. Zwar kann der
unter Mittätern gefasste Tatentschluss insofern nicht geschehenssteuernd wirken, wie die Tatbeiträge der anderen Mittäter in Rede stehen. Die insoweit erforderliche Zustimmung zu
den fremden Ausführungshandlungen wirkt aber – wie bereits
oben I. 2. b) aa) gezeigt – nur dann zurechnungsbegründend,
wenn das Minus an Selbststeuerung dadurch ausgeglichen
wird, dass sich der Mittäter im Rahmen des gemeinsam gefassten Tatplans bewegt.
Mit dem Widersinn eines nachträglich gefassten Vorsatzes hängen auch die Schwächen der Ausführungen zusammen, mit denen der BGH das Vorliegen eines bedingten Vorsatzes des B bezogen auf die konkreten Gewalthandlungen
des A zu begründen sucht. Für ausschlaggebend hält der
BGH insoweit das Verhalten des B nach den tödlichen Messerstichen, als er unter Überwindung anfänglicher Vorbehalte
am Verstecken des Sterbenden mitwirkte und die geplante Wegnahme des Pkw weiterverfolgte. Ein voluntatives Vorsatzelement lässt sich so schon deshalb nicht begründen, weil
sich ein „Wollen“ denknotwendig auf Zukünftiges oder gerade Stattfindendes bezieht. Bezogen auf die Realisierung der
vorangegangenen Ausübung tödlicher Gewalt bleibt das
Nachtatverhalten immer eine unverbindliche, konsequenzlose
Stellungnahme. Das gilt natürlich auch für das billigende
Inkaufnehmen als einer Ausprägung des voluntativen Elements. Freilich verliert die Prospektivität des Vorsatzes durch
die Formel vom „billigenden Inkaufnehmen“ etwas von ihrer
sprachlichen Evidenz. Insoweit zeigt sich aber auch jenseits
der fehlerhaften Intuition eines rückwärtsgerichteten Vorsatzes, dass der Schluss von dem anschließenden Verhalten des
B auf die Billigung der von A vorgenommenen Tötungshandlung nicht tragfähig ist. Es ist nämlich ohne Weiteres möglich
und sogar naheliegend, dass B das Verhalten des A nicht
billigte und dennoch die Früchte von dessen Verhalten auszunutzen bereit war. Darüber hilft auch die Formel vom „Billigen im Rechtssinne“ nicht hinweg. Denn deren inhaltliche
Ausfüllung gelingt nur, wenn der Täter trotz des erkannten
Risikos des Eintritts eines unerwünschten Erfolgs sich von
der Handlung nicht abbringen lässt. In der grundlegenden
Lederriemen-Entscheidung des BGH heißt es hierzu: Der
Täter billige den Erfolg im Rechtssinne, „wenn er, um des
erstrebten Zieles willen, notfalls, d.h. wofern er anders sein
Ziel nicht erreichen kann, sich auch damit abfindet, dass
seine Handlung den an sich unerwünschten Erfolg herbeiführt, und ihn damit für den Fall seines Eintritts will“50. Die
innere Haltung, die die Vorsatzstrafe legitimiert, zeigt sich
also gerade in der Verfolgung eines Zieles notfalls auch unter
Inkaufnahme des Todes des Opfers. Mit dem Ausnutzen des
Unabänderlichen ist diese Haltung nicht vergleichbar.
b) Zur Annahme sukzessiver Beihilfe durch den BGH
Die Bestätigung der landgerichtlichen Verurteilung wegen
Beihilfe zum Mord wird vom BGH nicht besonders begrün50
BGHSt 7, 363 (369).
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ZJS 5/2008
462
Zu den Voraussetzungen der (sukzessiven) Beihilfe
det. Dabei ist sie alles andere als selbstverständlich. Ausgangspunkt der Überlegungen muss die Frage sein, was unter
einer Hilfeleistung im Sinne von § 27 StGB zu verstehen ist.
Hierüber herrscht bekanntlich Streit: Die Rechtsprechung
verlangt ein Fördern der Haupttat und verzichtet damit auf
einen kausalen Beitrag51. Soweit Teile der Literatur hiergegen einwenden, mit dem Verzicht auf das Kausalitätserfordernis werde die Abgrenzung zur straflosen (Argument aus
§ 30 StGB) versuchten Beihilfe aufgelöst,52 ist damit richtig
gesehen, dass sich die Beihilfe in irgendeiner Weise in der
Haupttatbegehung niedergeschlagen haben muss. Andererseits hat aber die Rechtsprechung zutreffend erkannt, dass
Kausalität im Sinne der conditio sine qua non-Formel nicht
verlangt werden kann.53 Denn Hilfe kann auch durch solche
Beiträge geleistet werden, die die Haupttat äußerlich nicht
modifizieren, wenn etwa der Gehilfe „Schmiere steht“, aber
die Haupttat unabhängig davon störungsfrei durchgeführt wird.54
Richtigerweise folgt aus der Charakterisierung der Beihilfe
als akzessorischer Rechtsgutsangriff, dass der Gehilfe durch
seinen Beitrag das in der Haupttat liegende Risiko zu Lasten
des Opfers erhöht und sich diese Risikoerhöhung in der Haupttatbegehung niedergeschlagen haben muss, was auch dann
der Fall ist, wenn die Tat ohne äußerliche Modifikation durch
den Gehilfen sicherer wird, wie dies im Beispiel des „Schmierestehens“ der Fall ist.55
Als Beihilfehandlung kommt hier zunächst das von B vorgenommene Ablenkungsmanöver in Betracht. Da dieses die
Tatausführung erleichtert hat und sogar ursächlich für die
konkrete Art der Tatausführung geworden ist, stellt dieses
Verhalten objektiv nach allen vertretenen Auffassungen eine
taugliche Beihilfehandlung dar. Die Beihilfe verlangt aber
weiter einen auf die Beihilfehandlung bezogenen Vorsatz.
Zum Zeitpunkt, als B den O in das Gespräch verwickelte und
A so die Tatausführung erleichterte, hatte er aber keinen
Vorsatz dahingehend, eine gegen das Leben des O gerichtete
Tat zu fördern. Im Zeitpunkt der Begehung dieser Tat wollte
B in Angst und Schrecken das Weite suchen. Wie bereits
gezeigt, lässt sich auch kein nachträglich gefasster, auf den
Zeitpunkt der Tötungshandlungen rückwirkender Vorsatz
51
BGHSt 46, 107 (109).
vgl. Lackner/Kühl, 26. Aufl. 2007, § 27 Rn. 2.
53
So auch Jescheck/Weigend, Strafrecht, Allgemeiner Teil,
5. Aufl. 1996, S. 694: „Auflockerung des Kausalitätserfordernisses“.
54
Dabei ist es keine überzeugende Lösung im Sinne des Kausalitätserfordernisses, als Haupttaterfolg die unter Mitwirkung des Gehilfen begangene Tat zu definieren und so deren
Ursächlichkeit zu begründen; Schaffstein, in Festschrift für
Honig zum 80. Geburtstag, 1970, S. 176; vgl. aber Roxin, in:
Kühne (Hrsg.), Festschrift für Miyazawa, 1995, S. 511; Schünemann (Fn. 39), § 27 Rn. 9 f.
55
Vgl. BGHSt 42, 135 (138); BGH NStZ 1985, 318; gegen
eine Überschätzung der divergierenden Auffassungen BGH
NJW 2007, 384 (389); näher Murmann, JuS 1999, 549; vgl.
auch Jescheck/Weigend (Fn. 53), S. 694; Otto, JuS 1982, 563;
Roxin (Fn. 54), S. 509 ff.; Cramer/Heine (Fn. 16), § 27 Rn. 10;
Wohlers, NStZ 2000, 169.
52
STRAFRECHT
konstruieren. Bezogen auf die objektiv taugliche Beihilfehandlung fehlt also der Gehilfenvorsatz.
Damit bleibt als mögliche Beihilfehandlung nur das anschließende Verstecken des O. Dieses Verhalten war aber für
den Eintritt des Todeserfolgs ohne Belang. Manipuliert wurde so lediglich der – für die Tatbestandsverwirklichung irrelevante – Ort des Todeseintritts. Eine auf die tatbestandliche
Ausführungshandlung bezogene Beihilfe kann in dem Verstecken also nicht erblickt werden.
Zu erwägen bleibt aber eine sukzessive, im Anschluss an
die tatbestandsmäßige Handlung erfolgte Beihilfe. Für deren
Einbeziehung eignet sich auf den ersten Blick in besonderer
Weise das von der Rechtsprechung vertretene Verständnis
der Beihilfe als Fördern der Haupttat unter Verzicht auf ein
Kausalitätserfordernis. Denn wenn die Beihilfe nicht für die
Haupttatbegehung kausal werden muss, dann, so könnte man
meinen, spielt es auch keine Rolle, ob der Gehilfe vor oder
nach der Ausführungshandlung tätig geworden ist. Diesen
Standpunkt vertritt die Rechtsprechung, die – wie oben I. 2.
a) bb) gezeigt – auch für den Zeitraum zwischen Vollendung
und Beendigung der Tat eine Beihilfe für möglich hält.
Vorliegend war die Tat sogar noch nicht einmal vollendet.
Eine Beihilfe war damit jedenfalls grundsätzlich noch möglich. Hätte B etwa dem A geholfen, Retter fernzuhalten, deren Einsatz die Lebensspanne von O verlängert hätte, so wäre
das entsprechende Verhalten von A Teil einer sukzessiven
Tatbestandserfüllung, bezogen auf die B Hilfe geleistet hätte
(oben I. 2. a) bb). Entscheidend bleibt also die Frage, ob eine
Beihilfe auch bezogen auf solche Handlungen möglich ist,
die nicht zum tatbestandlich umschriebenen Unrecht gehören.
Diese Frage ist zu verneinen56, und zwar aus den gleichen
Gründen, aus denen die Literatur mehrheitlich eine Beihilfe
nach Vollendung der Haupttat ablehnt (oben I. 2. a) bb).
Denn die Beihilfe muss sich dem Gesetzeswortlaut nach auf
die Haupttatbegehung beziehen. Haupttat ist aber nur das
tatbestandlich umschriebene Geschehen. Dieses Ergebnis ist
hier auch für eine materielle Betrachtung das allein sachgerechte: Die Unterstützung beim Verstecken des Sterbenden
kann das Unrecht einer Strafvereitelung verwirklichen, mit
dem Unrecht der Tötung hat es nichts zu tun. Auch die Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord ist danach nicht haltbar.
III. Schlussbemerkung
Die hier vertretenen Abweichungen gegenüber der Entscheidung des BGH sind gravierend, was sich mit besonderer
Deutlichkeit an den Unterschieden hinsichtlich der Rechtsfolgen zeigt. Der BGH hält eine Verurteilung wegen mittäterschaftlich begangenen Raubs mit Todesfolge (§§ 249, 251,
25 Abs. 2 StGB) in Tateinheit (§ 52 StGB) mit Beihilfe zum
Mord (§§ 212, 211, 27 StGB) für sachgerecht. Der Strafrahmen ergibt sich aus § 251 StGB (vgl. § 52 Abs. 2 StGB). Es
ist also entweder eine lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren (bis zu fünfzehn Jahren,
vgl. § 38 Abs. 2 StGB) zu verhängen.
Die hier für richtig gehaltene Verurteilung wegen schweren Raubes (§§ 249, 250 Abs. 1 Nr. 1a StGB) in Tateinheit
56
Vgl. Rudolphi (Fn. 9), S. 569 ff.
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463
AUFSÄTZE
Uwe Murmann
(§ 52 StGB) mit gefährlicher Körperverletzung (§§ 223, 224
Abs. 1 Nr. 3, 25 Abs. 2 StGB) eröffnet dagegen die Möglichkeit der Verhängung einer Freiheitsstrafe von drei bis fünfzehn
Jahren, was eine angemessene Reaktion auf das von B verschuldete Unrecht erlaubt. Das „Mitgegangen – Mitgehangen“ des BGH führt also auch auf Rechtsfolgenseite zu tiefgreifenden Ungerechtigkeiten57.
57
Entsprechende Kritik an der Ungerechtigkeit der Rechtsprechung zur sukzessiven Beteiligung übte vor fast 30 Jahren schon Küper, JZ 1981, 574.
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ZJS 5/2008
464
Ermöglichung der Dienstausübung als strafbare Korruption?
Von Prof. Dr. Mark Deiters, Münster*
Ob und unter welchen Voraussetzungen die Zuwendung von
Freikarten für ein Spiel der Fußballweltmeisterschaft 2006 an
Mitglieder der baden-württembergischen Landesregierung und
einen beamteten Staatssekretär im Bundesumweltministerium
eine strafbare Vorteilsgewährung (§ 333 Abs. 1 StGB1) darstellt,
hatte das LG Karlsruhe im Fall Claassen zu entscheiden. Es
sprach den Angeklagten vom Vorwurf strafbarer Korruption
frei. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Der vorliegende
Beitrag nimmt den aktuellen Fall zum Anlass, sich ausgehend
von einer Entscheidung des OLG Zweibrücken aus dem Jahr
1981 grundsätzlich mit der Frage einer Strafbarkeit wegen
Vorteilsannahme und -gewährung durch Ermöglichung der
Dienstausübung auseinanderzusetzen. Dabei wird die gegenwärtig unbestrittene These, dass die Gewährung eines
allein die Ermöglichung der Dienstausübung bezweckenden
Vorteils die Voraussetzungen der §§ 331 Abs. 1, 333 Abs. 1
nicht erfüllt, kritisch überprüft und erläutert, welche Konsequenzen sich für die Einladung von Amtsträgern im Rahmen
repräsentativer Dienstausübung ergeben.
I. Problembeschreibung
Vor mehr als einem Vierteljahrhundert, im Jahr 1981, hatte das
OLG Zweibrücken über den Fall eines Kriminalbeamten zu
entscheiden, der seine Tätigkeit zur Aufklärung bestimmter
Straftaten in der Freizeit fortsetzte und dafür sein privates
Kraftfahrzeug nutzte.2 Der an der Aufklärung der Straftaten
interessierte Geschädigte stellte ihm, wie erbeten, den für die
Ermittlungsfahrten erforderlichen Kraftstoff unentgeltlich zur
Verfügung. Der überobligatorisch ermittelnde Staatsdiener wurde deshalb sowohl vom Amts- als auch vom Landgericht
wegen strafbarer Vorteilsannahme gemäß § 331 Abs. 1 verurteilt. Der 1. Strafsenat des OLG Zweibrücken sprach ihn in
dritter Instanz vom Vorwurf strafbarer Korruption frei.
Wegen Vorteilsannahme machte sich nach damals geltendem Recht u.a. strafbar, wer als Amtsträger einen Vorteil als
Gegenleistung dafür forderte, sich versprechen ließ oder
annahm, dass er eine Diensthandlung vorgenommen hat oder
künftig vornehmen werde.3 Eine Strafbarkeit des Kriminalbeamten hätte folglich im konkreten Fall vorausgesetzt, dass er
den Kraftstoff als Gegenleistung für die Ermittlungshandlungen
gefordert und angenommen hat. Diese Voraussetzung war
nach Ansicht des OLG Zweibrücken aus folgenden Gründen
nicht erfüllt: Das Benzin sei dem Angeklagten nicht für seine
Ermittlungstätigkeit überlassen (worden), sondern als Mittel
* Der Beitrag beruht auf der vom Verf. am 9.4.2008 an der
Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität gehaltenen Antrittsvorlesung. Der Vortragsstil wurde beibehalten
1
Alle §§ ohne nähere Angabe sind im Folgenden solche des
StGB.
2
OLG Zweibrücken JR 1982, 381.
3
Siehe Bekanntmachung der Neufassung des Strafgesetzbuches
(StGB) vom 2.1.1975, BGBl. 1975 I, S. 75.
zu ihrer Ermöglichung.4 Der Geschädigte habe – weil die
Durchführung der Diensthandlung „aus der Sicht der Beteiligten“ ansonsten undurchführbar gewesen wäre – lediglich „die
[…] zur Vornahme der Diensthandlung erforderlichen sächlichen Mittel zur Verfügung“ gestellt5. Anders formuliert: Bei
der kostenfreien Überlassung des Kraftstoffes habe es sich „nicht
um ein Entgelt, sondern um einen Auslagenersatz für vom
Angeklagten mit seinem Privatwagen [...] getätigte […] Ermittlungen“6 gehandelt.
Die zentrale Aussage der Entscheidung ist in der Rechtslehre allgemein auf Zustimmung gestoßen.7 Hinsichtlich des
konkreten Falles wurde von Geerds8 allerdings bezweifelt,
dass die in der Freizeit vorgenommenen Ermittlungen als
Diensthandlungen zu bewerten sind. Geht man lebensnah
davon aus, dass der Angeklagte dabei als Kriminalbeamter auftrat (und möglicherweise sogar von seinen amtlichen Befugnissen Gebrauch machte), so gehörten die Ermittlungen aber
grundsätzlich zu dem Kreis der Obliegenheiten, die ihm dienstlich übertragen waren und die er im konkreten Fall auch in
dienstlicher Eigenschaft ausübte.9 Das Tätigwerden nach
Dienstschluss kann für sich genommen schon deshalb kein
hinreichender Grund sein, ein ansonsten zur Dienstausübung
gehörendes Verhalten als Privathandlung zu bewerten, weil der
Amtsträger dann über die Zuordnung frei disponieren könnte.
Die von allen drei mit dem Fall befassten Gerichten nicht
bezweifelte Annahme, es handele sich bei den Ermittlungsfahrten um dienstliches Verhalten, ist deshalb, zumindest auf
der Grundlage der dargestellten Prämissen, zutreffend.
Ob das auch für den vom OLG Zweibrücken formulierten
Rechtssatz gilt, die Gewährung und Annahme eines Vorteils
als Mittel zur Ermöglichung der Dienstausübung vermöge
weder unter dem Gesichtspunkt der Vorteilsannahme (§ 331 Abs. 1)
4
OLG Zweibrücken JR 1982, 382.
OLG Zweibrücken JR 1982, 382.
6
So die Formulierung bei Geerds, JR 1982, 385.
7
Überwiegend wird entsprechend der Entscheidung des OLG
Zweibrücken die Unrechtsvereinbarung verneint, so etwa Heine, in: Schönke/Schröder (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Aufl. 2006, § 331 Rn. 28; Korte, in: Joecks/Miebach
(Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2006,
Bd. 4, § 331 Rn. 94; Kindhäuser/Goy, NStZ 2003, 291 (293 f.);
Kuhlen, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos
Kommentar, Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2005, Bd. 2, § 331 Rn.
80; Rudolphi/Stein, in: Rudolphi u.a. (Hrsg.), Systematischer
Kommentar zum Strafgesetzbuch, 6. Aufl., 58. Lieferung,
Stand: September 2003, § 331 Rn. 27; Wentzell, Zur Tatbestandsproblematik der §§ 331, 332 StGB, 2004, S. 141. Teilweise wird aber auch bereits der Vorteilscharakter der Zuwendung abgelehnt: Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze,
Kommentar, 55. Aufl. 2008, § 331 Rn. 12 und Lackner/Kühl,
Strafgesetzbuch, Kommentar, 26. Aufl. 2007, § 331 Rn. 5.
8
Geerds, JR 1982, 385 (386 f.).
9
Zum gesetzlichen Merkmal der Dienstausübung bzw. der
Diensthandlung vgl. statt vieler Lackner/Kühl (Fn. 7), § 331
Rn. 8 m.w.N.
5
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465
AUFSÄTZE
Mark Deiters
noch unter dem der Vorteilsgewährung (§ 333 Abs. 1) strafbares Unrecht darzustellen, wird bislang kaum problematisiert.
Dabei sind die praktischen Konsequenzen dieses Grundsatzes
im Detail wenig geklärt.10 In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist die Entscheidung vereinzelt geblieben. Soweit
der BGH Anlass gehabt hätte, den in ihr formulierten Grundsatz zu bestätigen, hat er andere Lösungen bevorzugt.
Das gilt zunächst für die Problematik drittmittelfinanzierter Hochschulforschung. In der strafrechtlichen Literatur war
und ist die Auffassung verbreitet, dass die Annahme solcher
Mittel im Regelfall schon deshalb keine strafbare Vorteilsannahme darstellen könne, weil sie mit dem Ziel der Ermöglichung künftiger Forschungen und damit der Ermöglichung
der Dienstausübung des begünstigten Hochschullehrers erfolge.11 Dem 1. Strafsenat des BGH reichte in seiner Grundlagenentscheidung aus dem Jahr 200212 dieser Umstand indes
nicht aus. Er knüpfte die Straflosigkeit der Annahme solcher
Vorteile (über den besonders gelagerten Einzelfall hinausgehend)13 bekanntlich an die zusätzliche Voraussetzung der
Einhaltung der hochschulintern geltenden Regeln der Drittmitteleinwerbung. Und auch im Fall der Einwerbung von Wahlkampfspenden durch einen direkt gewählten Oberbürgermeister sah es der 3. Strafsenat des BGH in seinen Entscheidungen
zum Fall Kremendahl14 nicht als entscheidend an, dass eine
Wahlkampfspende zunächst einmal dazu dient, eine weitere
Amtsausübung des betreffenden Kandidaten durch die Wiederwahl zu ermöglichen15. In der Rechtspraxis kann deshalb
nicht als geklärt gelten, ob und bejahendenfalls unter welchen
Voraussetzungen die Zuwendung von Mitteln zur Ermöglichung einer Diensthandlung unter dem Gesichtspunkt der
Amtsträgerkorruption straflos ist. Das ist angesichts der praktischen Bedeutung dieser Frage höchst problematisch.
So hatte das LG Karlsruhe im vergangenen Jahr darüber
zu befinden, ob sich der ehemalige Vorstandsvorsitzende des
Unternehmens Energie Baden-Württemberg (EnBW), Prof. Dr.
Utz Claassen, wegen Vorteilsgewährung strafbar gemacht hat,
als er an sechs Mitglieder der baden-württembergischen Landesregierung und einen Staatssekretär des Bundesministeriums
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit dem Unternehmen EnBW als WM-Sponsor zustehende Freikarten für
Spiele der Fußballweltmeisterschaft verschenkte. Claassen ist
10
Rudolphi/Stein (Fn. 7), § 331 Rn. 27 am Ende; Heine
(Fn. 7), § 331 Rn 28: Die Unterscheidung habe durch die
Lockerung der Unrechtsvereinbarung im Zuge des Korruptionsbekämpfungsgesetzes von 1997 an Trennschärfe verloren.
11
Ambos, JZ 2003, 345 (352); Kindhäuser/Goy, NStZ 2003,
291 (293 f.); Kuhlen, JR 2003, 231 (234).
12
BGHSt 47, 294; bestätigt durch BGHSt 48, 44.
13
In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall stellten
die Drittmittel zugleich die Gegenleistung für Beschaffungsentscheidungen dar, dazu näher Kindhäuser/Goy, NStZ 2003,
291 (293 f.).
14
BGHSt 49, 275; BGH NStZ 2008, 33.
15
Dem entgegen will Korte, NStZ 2005, 512 (513) in unproblematischen Fällen der Wahlkampfspende bereits unter
diesem Gesichtspunkt die Tatbestandsvoraussetzungen des
§ 331 Abs. 1 StGB verneinen.
vom LG Karlsruhe am 28. November des vergangenen Jahres
von diesem Vorwurf freigesprochen worden.16 Ihre Entscheidung hat die 3. Große Strafkammer auch damit begründet,
dass die Eintrittskarten für die Begünstigten keinen Vorteil
i.S.d. §§ 331 Abs. 1, 333 Abs. 1 darstellten, weil sie zur Ermöglichung einer – im konkreten Fall: repräsentativen –
Dienstausübung gewährt wurden.17 Die Entscheidung ist noch
nicht rechtskräftig, über die Revision der Staatsanwaltschaft
muss in Kürze der 1. Strafsenat des BGH entscheiden. Ob er
dabei auch allgemein dazu Stellung nehmen wird, ob und
unter welchen Voraussetzungen die Zuwendung eines die
Dienstausübung ermöglichenden Vorteils strafrechtlich riskant
oder aber unbedenklich ist, lässt sich angesichts der mehrstufigen Freispruchsbegründung des LG Karlsruhe18 nicht verlässlich prognostizieren. Im Folgenden wird allein diese Frage
behandelt.
Dabei ist zu bedenken, dass die Ausgangssituation aufgrund
der weitreichenden Reformen des Gesetzes zur Bekämpfung der
Korruption von 199719 inzwischen eine andere ist als im Jahr
1981. Zunächst muss deshalb erörtert werden, welche Auswirkungen sich durch die 1997 ins Werk gesetzten Verschärfungen des Korruptionsstrafrechts für den einschlägigen Fragenkomplex ergeben (II.). Im Anschluss daran sind die tragenden
Grundsätze der Entscheidung des OLG Zweibrücken vor dem
Hintergrund des gegenwärtigen Rechts kritisch zu prüfen (III.)
und die Konsequenzen für die Ermöglichung repräsentativer
Dienstausübung näher zu erläutern (IV.).
II. Auswirkungen des Gesetzes zur Bekämpfung der Korruption von 1997
Seit 1997 macht sich wegen Vorteilsannahme nicht nur strafbar, wer einen Vorteil als Gegenleistung für eine (bestimmte)
Diensthandlung zugewendet bekommt. Ausreichend ist, dass der
Vorteil vom Amtsträger für die Dienstausübung angenommen wird. Entsprechendes gilt für den spiegelbildlich gefassten Tatbestand der Vorteilsgewährung. Im Zuge des Gesetzes
zur Bekämpfung der Korruption von 1997 hat der Gesetzgeber damit nicht nur das Merkmal der Diensthandlung durch
das der Dienstausübung ersetzt; er hat darüber hinaus auch
das Merkmal der Gegenleistung aus dem Wortlaut des § 331
Abs. 1 gestrichen, das für die Annahme der Straflosigkeit des
Kriminalbeamten in dem vom OLG Zweibrücken 1981 entschiedenen Fall von zentraler Bedeutung war.
Trotz des damit heute offenen Gesetzeswortlautes20 entspricht es nach wie vor allgemeiner Überzeugung, dass der
Vorteil auch nach gegenwärtigem Recht die Gegenleistung der
Dienstausübung sein muss.21 Der Gesetzgeber habe mit der
Änderung des Wortlauts lediglich das Ziel verfolgt, künftig
auch Verhaltensweisen als strafbare Vorteilsannahme oder
16
LG Karlsruhe, Urt. v. 28. 11. 2007, 3 KLs 620 Js 13113/06;
teilweise veröffentlicht in NStZ 2008, 407; vgl. zur Problematik auch Schlösser/Nagel, wistra 2007, 211.
17
LG Karlsruhe (Fn. 16), S. 47 f. = NStZ 2008, 407 Rn. 3 ff.
18
Dazu eingehend Paster/Sättele, NStZ 2008, 366.
19
BGBl. 1997 I, S. 2038.
20
Korte (Fn. 7), § 331 Rn. 94.
21
Siehe dazu die Nachweise in Fn. 7.
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ZJS 5/2008
466
Ermöglichung der Dienstausübung als strafbare Korruption ?
-gewährung erfassen zu können, bei denen die Diensthandlung, für die der Vorteil gewährt wird, nicht näher konkretisiert werden kann.22 Das ist etwa der Fall, wenn die Zuwendung der allgemeinen Klimapflege dient. Diese Begründung
erklärt freilich nur, warum der Begriff der Diensthandlung
durch den der Dienstausübung ersetzt wurde. Die Streichung
des gesetzlichen Merkmals „als Gegenleistung“ erklärt sie
nicht.
Allerdings enthielt der Tatbestand der Vorteilsannahme bis
1975 ebenfalls keinen ausdrücklichen Hinweis auf die Notwendigkeit einer Äquivalenzbeziehung zwischen Vorteil und
Diensthandlung23 – er wurde aber auch seinerzeit schon in
diesem Sinne verstanden24. Dieser Umstand spricht dafür, dass
man dem bei der Formulierung „als Gegenleistung für die
Dienstausübung“ denkbaren Missverständnis vorbeugen wollte,
der Vorteil müsse das Äquivalent für die gesamte Dienstausübung darstellen. Bei dieser Sichtweise erklärt sich die gegenwärtige Fassung „aus sprachlichen Gründen“25; eine sachliche Änderung war nicht bezweckt.
Legt man diese herrschende Sichtweise zugrunde, spricht
auf den ersten Blick viel dafür, dass sich durch das Korruptionsbekämpfungsgesetz von 1997 kaum Änderungen ergeben
haben. Der Nachweis einer Äquivalenzbeziehung zwischen
Vorteil und irgendeiner Diensthandlung wird bei äußerlich
unverfänglichen Anbahnungszuwendungen häufig die Kenntnis
voraussetzen, für welche Diensthandlung (oder zumindest für
welche Art von Diensthandlungen) der Vorteil angenommen
wurde.26 Zumindest bei größeren Zuwendungen hat die gegenwärtige Fassung des Tatbestandes allerdings faktisch eine
22
Bannenberg, in: Dölling/Duttge/Rössner (Hrsg.), Nomos
Kommentar, Gesamtes Strafrecht, Kommentar, 2008, § 331
Rn. 25 am Ende; Fischer (Fn. 7), § 331 Rn. 22 ff.; Korte
(Fn. 7), § 331 Rn. 97; Kuhlen (Fn. 7), § 331 Rn. 74 f.; ders.,
JR 2003, 231 (234); Satzger, ZStW 115 (2003), 469 (479);
Rudolphi/Stein (Fn. 7), § 331 Rn. 27; diese Auffassung entspricht der Intention der Gesetzesänderung, die auf einen
Vorschlag Döllings zurückgeht; siehe dazu Dölling, Gutachten C für den 61. Deutschen Juristentag, S. 65, 111 f. Darin
hatte Dölling die Formulierungen „als Gegenleistung für die
dienstliche Tätigkeit in der Vergangenheit oder Zukunft“
bzw. „für die bisherige oder künftige Amtsführung“ statt der
ursprünglich präferierten Fassung „im Zusammenhang mit
seinem Amt“ vorgeschlagen.
23
§ 331 lautete: „Ein Beamter, welcher für eine in sein Amt
einschlagende, an sich nicht pflichtwidrige Handlung Geschenke oder andere Vort(h)eile annimmt, fordert oder sich
versprechen läßt, wird […] bestraft.“; diese Tatbestandsfassung enthielt bereits das RStGB von 1871, in Kraft getreten
am 1. Januar 1872 (RGBl. 1871, S. 172 ff.).
24
Exemplarisch: Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl.
1969, S. 539; Schmidt, Die Bestechungstatbestände in der
höchstrichterlichen Rechtsprechung von 1879 bis 1959, 1960,
S. 67 Rn. 119, S. 141 Rn. 254.
25
Rudolphi/Stein (Fn. 7), § 331 Rn. 27.
26
Vgl. König, JR 1997, 397 (399); Wolters, JuS 1998, 1100
(1105).
STRAFRECHT
Beweislastumkehr zur Folge.27 Soweit ein Amtsträger einen Vorteil in Bezug auf seine Dienstausübung gewährt bekommt,
macht er sich strafbar – es sei denn, das Gericht gelangt zu
der Überzeugung, dass ihm dieser Vorteil nicht als Gegenleistung für dienstliches Verhalten gewährt wurde. Entsprechendes gilt für den Geber unter dem Gesichtspunkt einer
möglichen Strafbarkeit wegen Vorteilsgewährung, § 333 Abs. 1.
Die Aktualität der Rechtsfrage, die das OLG Zweibrücken im
Jahr 1981 zu entscheiden hatte, wird durch die Absenkung
der Beweisanforderungen aber nicht in Frage gestellt. Lediglich die prozessualen Anforderungen an den Nachweis der Unrechtsvereinbarung haben sich, was im Folgenden außer
Betracht bleibt, zum Nachteil des Beschuldigten verschärft.
III. Kritik der Entscheidung des OLG Zweibrücken
Damit sind wir bei der zentralen Frage angelangt, ob dem
OLG Zweibrücken und der ihm folgenden Rechtslehre in der
Sachfrage beizupflichten ist. Stimmt es, dass zur Ermöglichung
der Dienstausübung gewährte Vorteile keine Gegenleistung
für die Dienstausübung darstellen? Es bedarf vorab einiger
Klarstellungen:
1. Gegenleistung für anderweitiges dienstliches Verhalten
Die Gewährung eines Vorteils zur Ermöglichung einer Diensthandlung kann ihrerseits zugleich die Gegenleistung für ein
anderweitiges dienstliches Verhalten darstellen. Es ist selbstverständlich, dass in diesen Fällen eine Unrechtsvereinbarung
im Sinne der Bestechungsdelikte anzunehmen ist28: Wenn der
Kriminalbeamte unseres Ausgangsfalles das Benzin für künftige Ermittlungshandlungen gewährt bekommen hätte, weil er
zuvor großzügig über einen vom Geber begangenen Verkehrsverstoß hinweggesehen hat, könnte das Verhalten der Beteiligten nicht etwa deshalb als straflos bewertet werden, weil
die Überlassung des Benzins auch die Ermöglichung künftiger Diensthandlungen bezwecken sollte. Der Kriminalbeamte
machte sich in dieser Fallkonstellation aufgrund der Pflichtwidrigkeit seines Verhaltens sogar wegen Bestechlichkeit
(§ 332 Abs. 1) und der Geber wegen Bestechung (§ 334
Abs. 1) strafbar. Das gilt jedenfalls für das gegenwärtige
Recht, das im Gegensatz zur Fassung vor 1997 die Annahme
eines Vorteils für einen Dritten (auch den Dienstherren) ausreichen lässt.29
27
Hettinger, NJW 1996, 2263 (2268); Deiters, PVS 2004/05,
424 (433 f.); vorsichtiger Korte (Fn. 7), § 331 Rn. 97: Herabsetzung der Beweisanforderungen.
28
Vgl. Korte (Fn. 7), § 331 Rn. 94; Kindhäuser/Goy, NStZ
2003, 291 (293 f.); Kuhlen, JR 2003, 231 (234).
29
In der Literatur wird allerdings gelegentlich auch für die
gegenwärtige Fassung des § 331 Abs. 1 ein eigennütziges
Verhalten gefordert, so etwa von Krey/Heinrich, Strafrecht,
Besonderer Teil 1, 13. Aufl. 2005, Rn. 669b und Wentzell
(Fn. 10), S. 170; ähnlich auch Korte, NStZ 1997, 513 (515). Dem
ist jedoch mit der überwiegenden Meinung entgegenzuhalten,
dass auch bei einer altruistischen Koppelung des Vorteils mit der
Dienstausübung das Vertrauen in die Integrität der Amtsausübung
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467
AUFSÄTZE
Mark Deiters
Für eine Strafbarkeit wegen Vorteilsannahme (§ 331 Abs. 1)
und Vorteilsgewährung (§ 333 Abs. 1) gilt nichts anderes.
Fordert der Kriminalbeamte das Benzin z. B. als Gegenleistung dafür ein, dass er pflichtgemäß eine Strafanzeige entgegennimmt, ist er auch dann wegen Vorteilsannahme zu verurteilen, wenn der Kraftstoff für künftige Dienstfahrten Verwendung finden soll. Das dürfte im Ergebnis unstreitig sein
und wird zumeist durch die Formulierung zum Ausdruck
gebracht, eine Zuwendung von Vorteilen, die nur30 oder lediglich31 die Ermöglichung der Dienstausübung bezweckt,
beruhe nicht auf einer die Strafbarkeit begründenden Unrechtsvereinbarung. Anders formuliert: Vorteile, die eine
Diensthandlung erst ermöglichen, sollen nicht zugleich als
Gegenleistung für eben diese Diensthandlung begriffen werden können.
2. Kostenerstattung als Gegenleistung für dienstliches Verhalten
Die Tragfähigkeit dieser Annahme hängt davon ab, ob es
sachgerecht ist, der aus dem Zivilrecht geläufigen Unterscheidung zwischen einem bloßen Aufwendungsersatz bei unentgeltlicher Auftragserteilung einerseits und dem darüber hinaus im Rahmen eines Geschäftsbesorgungsvertrages zu leistenden Entgelts andererseits im Rahmen der Unrechtsvereinbarung der Bestechungsdelikte normative Relevanz zuzugestehen. Diese Frage wird, soweit ersichtlich, bislang kaum
problematisiert. Sie lässt sich nur unter Rückgriff auf den
Strafgrund der §§ 331 Abs. 1, 333 Abs. 1 beantworten.
Die Annahme von Vorteilen für die (nicht pflichtwidrige)
Dienstausübung ist zumindest auch deshalb unter Strafe gestellt, weil der Amtsträger hierdurch in Gefahr gerät, sich bei
dienstlichen Entscheidungen beeinflussen zu lassen. Bei einer
ausschließlich die Ermöglichung künftiger Dienstausübung
bezweckenden Zuwendung soll diese Gefahr – so die übliche
Sichtweise – nicht bestehen.32 Dabei unterstellt man, dass
sich niemand für eine bloße Kostenerstattung in seinem dienstlichen Verhalten beeinflussen lassen wird, weil auch im sonstigen Wirtschaftsleben niemand seine Dienstleistungen allein
gegen Ersatz seiner Aufwendungen anbiete. So meint
Kuhlen33, in der freien Wirtschaft finde sich wohl kein Spediteur, der die Durchführung eines Umzuges lediglich gegen
eine Erstattung der Kosten statt eines darüber hinausgehenden
Entgeltes übernehme.
Schon im Tatsächlichen ist diese Erwägung nicht frei von
Zweifeln. Dass Marktteilnehmer ihre Preise gelegentlich ausschließlich an den Kosten orientieren, ist nichts Ungewöhnliches. So kann es im Wirtschaftsleben eine erfolgsträchtige
Strategie sein, die Preise unter Inkaufnahme vorübergehender
Verluste niedrig zu halten, um sich ein bestimmtes Marktsegment zu erschließen. Auch wenn das Beispiel lebensfremd
sein mag: Aus der Sicht des überobligatorisch ermittelnden
Kriminalbeamten könnte es wirtschaftlich klug sein, seine
Dienste allein gegen Kostenerstattung anzubieten, wenn ihm
beispielsweise daran gelegen ist, sein Können unter Beweis
zu stellen, um sich künftig als Privater auf dem Markt der
Ermittlungsdiensthandlungen zu behaupten.
In dem vom OLG Zweibrücken 1981 entschiedenen Fall
war die Antriebsfeder des preiswerten Angebots wohl eine
andere – auch wenn im Urteil eindeutige Festlegungen vermieden werden. Naheliegend erschien dem Gericht, dass sich
der Angeklagte von seinem Chef ungerecht behandelt und
gegenüber anderen Kollegen benachteiligt fühlte. Er hatte
immer wieder Schwierigkeiten, ein Fahrzeug für dienstliche
Tätigkeit nach Dienstschluss zu bekommen, und es im konkreten Fall für aussichtslos gehalten, ein solches überhaupt
anzufordern. Wohl deshalb trat er an den Geschädigten heran
und bot ihm gegen die in der unentgeltlichen Benzinüberlassung liegende Erstattung des Aufwandes Ermittlungen nach
Dienstschluss an.34 Sein Eigeninteresse bestand bei dieser Sichtweise darin, sich durch gesteigerte Ermittlungserfolge Lob
und Anerkennung seines Vorgesetzten zu verdienen.35
Sollte sich der Sachverhalt so zugetragen haben, ist verständlich, warum der Kriminalbeamte seine Dienstausübung
so günstig anbot. Zugleich wird deutlich: Die kostenfreie
Überlassung des Benzins war wirtschaftlich betrachtet der Preis,
den der Geschädigte zu entrichten hatte, wenn er in den Genuss der überobligatorischen Dienstausübung kommen wollte.36 Dass dieser Preis zivilrechtlich als Aufwendungsersatz
einzuordnen ist, muss für die strafrechtliche Bewertung im Kontext der Bestechungsdelikte nicht notwendig von Bedeutung
sein. Fordert nicht auch ein Amtsträger, der sein dienstliches
Verhalten, wie hier, regelwidrig von einer Erstattung der Kosten
abhängig macht, diesen Aufwendungsersatz im Ergebnis als
Gegenleistung für sein dienstliches Verhalten?
Die Frage würde wohl allgemein bejaht, wenn der Kriminalbeamte eine Ermittlungshandlung, zu der er von seinem
Vorgesetzten dienstlich beauftragt wurde, von einem Ersatz
der Aufwendung seitens des Geschädigten abhängig machte.37 Der Beamte kommerzialisiert dann eine Dienstausübung,
die er von Rechts wegen ohne Gebühr erbringen muss. Das
Vertrauen in die Unkäuflichkeit und Integrität staatlichen
Handelns wird dadurch beschädigt. Nichts anderes gilt aber
für den Fall einer in der Freizeit erfolgenden überobligatorischen Dienstausübung. Auch hier macht der Amtsträger sein
34
OLG Zweibrücken JR 1982, 381.
OLG Zweibrücken JR 1982, 382. Darüber hinaus erwog
das OLG Zweibrücken, dass die in der Freizeit vorgenommenen Ermittlungshandlungen durch das freundschaftliche Verhältnis zu einem Mitgesellschafter des geschädigten Unternehmens motiviert gewesen sein könnten.
36
Folgerichtig werden Aufwendungsersatz und Entgelt, soweit man sie als wirtschaftliche Kategorien versteht, auch im
Zivilrecht nicht stets auseinandergehalten. Die Vergütung
beim Dienst- oder Werkvertrag umfasst regelmäßig beides.
37
So auch Kindhäuser/Goy, NStZ 2003, 291 (293).
35
beeinträchtigt wird, vgl. statt vieler Knauer/Casper, GA 2005, 385
(391 f.) Heine (Fn. 10), § 331 Rn. 20 m.w.N.
30
Heine (Fn. 7), § 331 Rn. 28; Rudolphi/Stein (Fn. 7), § 331
Rn. 27.
31
Kuhlen (Fn. 7), § 331 Rn. 80.
32
Kindhäuser/Goy, NStZ 2003, 291 (293); Kuhlen, JR 2003,
231 (234); Rudolphi/Stein (Fn. 7), § 331 Rn. 27.
33
Kuhlen, NStZ 1988, 433 (439).
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ZJS 5/2008
468
Ermöglichung der Dienstausübung als strafbare Korruption ?
dienstliches Verhalten – regelwidrig – zur käuflichen Ware
und beeinträchtigt damit das von § 331 Abs. 1 geschützte
Rechtsgut. Zwar wird die Dienstausübung von ihm nicht
vollständig von der Kostenerstattung abhängig gemacht. Er
bevorzugt aber denjenigen, der die Mittel aufzubringen vermag,
einen Teil der Kosten ihn interessierender Strafverfolgung
selbst zu tragen.
Auch die Hilfserwägung des OLG Zweibrücken, dem
Kriminalbeamten sei selbst kein Vorteil zugeflossen, vermag
dessen Straflosigkeit nicht zu begründen. Die kostenfreie
Überlassung des Benzins stellt den Kriminalbeamten materiell besser; einen Rechtsanspruch auf diese Besserstellung
kann er nicht geltend machen. Damit erhält er durch die Überlassung des Kraftstoffes einen Vorteil i.S.d. § 331 Abs. 1.38 Die
Ermöglichung überobligatorischer Dienstausübung ist lediglich der Zweck der Vorteilszuwendung. Die Besonderheit der
vorliegenden Fallgestaltung besteht freilich darin, dass der
Vorteil nach dem Willen der Beteiligten zur Verwirklichung
dieses Zweckes eingesetzt werden soll. Soweit dies, wie hier,
auch im persönlichen Interesse des Amtsträgers liegt, nimmt
er den Vorteil gleichwohl zumindest auch für sich, also als
Eigenvorteil, an. Nur wenn der Vorteil eine nicht freiwillige,
sondern vom Dienstherren verlangte überobligatorische Dienstausübung ermöglichen soll, erfolgt die Annahme nicht für
den Amtsträger selbst, sondern für seinen Dienstherrn. In
einer solchen Fallkonstellation fehlte es auf der Grundlage
des im Jahr 1981 geltenden Rechts in der Tat an einem Vorteil i.S.d. §§ 331 Abs. 1, 333 Abs. 1. Weil das geltende Recht
für die Strafbarkeit wegen Vorteilsannahme und -gewährung
hingegen bereits ausreichen lässt, dass der Vorteil für einen
Dritten angenommen wird, wäre heute die Bejahung einer
Strafbarkeit auch in diesem Fall unausweichlich.
Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden: Auch
geldwerte Zuwendungen, die ausschließlich die Ermöglichung
einer Diensthandlung bezwecken, stellen Vorteile i.S.d.
§§ 331 Abs. 1, 333 Abs. 1. dar und sind im Kontext der Bestechungsdelikte als Gegenleistung des durch sie ermöglichten dienstlichen Verhaltens anzusehen. Wenngleich dem
Kriminalbeamten in dem der Entscheidung des OLG Zweibrücken zugrunde liegenden Fall gewiss kein besonders
schwerwiegendes Unrecht vorgeworfen werden kann: Den
Vorwurf einer strafbaren Vorteilsannahme kann man ihm –
entgegen der gängigen Sichtweise – nicht ersparen. Das gilt
sowohl für das heute wie auch für das vor 1997 geltende
Recht.
STRAFRECHT
IV. Ermöglichung repräsentativer Dienstausübung
Wenn die Ermöglichung der Dienstausübung im Kontext der
Bestechungsdelikte eine Gegenleistung derselben sein kann,
muss dies selbstverständlich auch für die Ermöglichung repräsentativer Dienstausübung gelten. Damit scheint eine
Strafbarkeit der Beteiligten auch in diesen Fällen prima vista
unvermeidbar. Diese Schlussfolgerung wäre allerdings voreilig. Nach den bisherigen Überlegungen steht lediglich fest,
dass der Vorwurf strafbarer Korruption nicht allein deshalb
unbegründet ist, weil die materielle Besserstellung ausschließlich mit dem Ziel der Ermöglichung der Dienstausübung
gewährt wird. Damit ist noch nicht entschieden, ob eine Vorteilsgewährung zum Zwecke der Ermöglichung künftiger
Dienstausübung nicht möglicherweise bei Vorliegen weiterer
Voraussetzungen als straflos bewertet werden muss.
In diesem Zusammenhang erweist sich die DrittmittelEntscheidung des BGH als weiterführend. Der 1. Strafsenat
hat in dieser Entscheidung Voraussetzungen formuliert, bei deren
Vorliegen die Annahme von Vorteilen zur Förderung von
Forschung und Wissenschaft keine strafbare Vorteilsannahme
darstellen kann. Wörtlich heißt es in der Entscheidung: „Die
hochschulrechtlich verankerte Dienstaufgabe […], zur Förderung von Forschung und Lehre Drittmittel einzuwerben,
gebietet eine Einschränkung des Anwendungsbereichs der Strafvorschrift […]. Voraussetzung für eine solche Einschränkung
[…] ist […], daß es sich bei den einzuwerbenden Drittmitteln
nicht nur […] um Fördermittel für Forschung und Lehre
handelt, sondern daß diese auch dem im Drittmittelrecht
vorgeschriebenen Verfahren unterworfen werden“.39
Betrachtet man die Entscheidung vor dem Hintergrund
der – vom 1. Senat selbst mit keinem Wort erwähnten – Entscheidung des OLG Zweibrücken aus dem Jahr 1981, so ist
für die Straflosigkeit der Drittmittel-Einwerbung nicht ausreichend, dass diese Mittel die Dienstausübung der begünstigten
Hochschullehrer ermöglichen. Zusätzlich muss das rechtlich
vorgeschriebene Verfahren eingehalten werden. Und interessanterweise heißt es an einer anderen Stelle der Entscheidung
zur Begründung dieser Voraussetzung: „Regelt […] das Landeshochschulrecht […] die Einwerbung von zweckbestimmten Mitteln durch einen Amtsträger, […] bei denen ein Beziehungsverhältnis zu einer Diensthandlung besteht, so ist das
[…] Vertrauen in die Sachgerechtigkeit und ‚Nicht-Käuflichkeit‘ dienstlichen Handelns […] dann nicht in dem vom
Gesetzgeber vorausgesetzten Maße strafrechtlich schutzbedürftig, wenn das in jenem Gesetz vorgesehene Verfahren
eingehalten [wurde].“40
Wenn sich das Vertrauen in die Sachgerechtigkeit und
Nichtkäuflichkeit, wie der BGH hier formuliert, nur nicht in
dem vom Gesetzgeber vorausgesetzten Maße als schutzwürdig erweist, ist es offenbar gleichwohl betroffen. Entscheidend ist also nach Ansicht des 1. Strafsenats nicht etwa, dass
bei der Einwerbung von Drittmitteln durch die Einhaltung
des hochschulrechtlichen Verfahrens der Anschein der Käuflichkeit von Forschung und Lehre nicht entstehen könnte.
Maßgeblich ist, dass der Gesetzgeber die Einwerbung von
Drittmitteln als Dienstaufgabe ausgestaltet hat und damit das
Interesse an der Vereinnahmung dieser Mittel höher bewertet
als das Interesse an der Vermeidung des korruptiven Anscheins. Dem Amtsträger kann dies freilich nur zugute gehalten werden, wenn er sich bei Wahrnehmung seiner Dienstaufgabe pflichtgemäß verhält, indem er die einschlägigen
Verfahrensvorschriften einhält.
Damit lässt sich aus der Entscheidung des 1. Senats ein
verallgemeinerungsfähiger Gedanke ableiten: Wird ein Vor-
38
39
Zum Begriff des Vorteils statt vieler Lackner/Kühl (Fn. 7),
§ 331 Rn. 4 m.w.N.
40
BGHSt 47, 295 (306).
BGHSt 47, 295 (303).
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469
AUFSÄTZE
Mark Deiters
teil zum Zwecke der Ermöglichung der Dienstausübung gewährt und stellt die Annahme dieses Vorteils für den Amtsträger eine pflichtgemäße Diensthandlung dar, fehlt es an der für
eine Strafbarkeit wegen Vorteilsannahme oder -gewährung
erforderlichen Unrechtsvereinbarung: Der Vorteil wird nicht
regelwidrig41 als Gegenleistung für dienstliches Verhalten
gewährt. Diese Erwägungen müssen nicht nur im Fall der
Drittmitteleinwerbung, sondern auch im Fall der Ermöglichung repräsentativer Dienstausübung zur Verneinung einer
Unrechtsvereinbarung führen, sofern die Repräsentation zu
den Dienstaufgaben des betreffenden Amtsträgers zählt. Unter
dieser Voraussetzung befindet sich der zur Repräsentation
berufene Amtsträger in einer vergleichbaren Pflichtenkollision wie der zur Drittmitteleinwerbung verpflichtete Hochschullehrer. Gelegentlich scheint man freilich davon auszugehen, dass Repräsentation, auch wenn sie zur sachgerechten
Dienstausübung gehört, nicht zwingend eine „echte“ Amtspflicht darstellt, weshalb eine dem Hochschullehrer vergleichbare Pflichtenkollision nicht bestehe.42 Gehört die Wahrnehmung repräsentativer Aufgaben bei bestimmten Amtsträgern
aber unbestritten zu deren sachgerechter Dienstausübung, so
sind diese auch zur entsprechenden Dienstausübung verpflichtet.
Sie müssen deshalb im Fall der Einladung zu einer Veranstaltung stets sorgfältig prüfen, ob die Annahme der Einladung im dienstlichen Interesse liegt. Bejahen sie dies in pflichtgemäßer Ausübung ihres Ermessens – konkrete Rechtsregeln
werden häufig fehlen und sind im Fall von Regierungsmitgliedern auch nicht opportun –, so ist schon die Annahme des
Vorteils eine pflichtgemäße Diensthandlung. Sie kann deshalb ebenso wenig wie die unter Einhaltung des hochschulrechtlichen Verfahrens erfolgende Vereinnahmung von Drittmitteln als regelwidrige Gegenleistung für die Dienstausübung betrachtet werden.
Man mag einwenden, der den betroffenen Amtsträgern
hier zugebilligte Ermessensspielraum sei mangels gesetzlicher oder anderweitiger dienstrechtlicher Kriterien so groß,
dass er zu einem missbräuchlichen Verhalten geradezu einlade. Das ist richtig, und doch kein durchgreifender Einwand,
weil dieser Spielraum die Kehrseite rechtlich gewollter Freiheit des betreffenden Amtsträgers ist. In anderen Zusammenhängen, etwa bei der Frage, wann die unternehmensleitenden
Organe einer Aktiengesellschaft unter dem Gesichtspunkt der
Untreue (§ 266 Abs. 1) pflichtwidrig handeln, stellt sich – wie
der Fall Mannesmann für unternehmerische Entscheidungen
von Aufsichtsräten in Erinnerung gerufen hat – dasselbe
Problem. Auch hier ist der mögliche Missbrauch die Kehrseite der gesetzlich gewollten Freiheit von Entscheidungsträgern. Die Leitlinie, die der 3. Strafsenat für unternehmerische
Entscheidungen vorgegeben hat, kann deshalb auch für die
Praxis der Annahme von Einladungen zum Zwecke repräsentativer Dienstausübung als Richtschnur gelten: So wie die
Pflichtwidrigkeit einer unternehmerischen Entscheidung erst
dann angenommen werden kann, wenn sie offenkundig ohne
jeden Nutzen für das Unternehmen ist43, darf die Annahme
einer Einladung durch den betreffenden Amtsträger nur unter
der Voraussetzung als strafbare Vorteilsannahme bewertet werden, dass sie sich eindeutig nicht mehr als repräsentative
Dienstausübung betrachten lässt.
V. Zusammenfassung
Die allein zur Ermöglichung der Dienstausübung erfolgende
Zuwendung von Vorteilen ist, entgegen der heute einhelligen
Auffassung in der Literatur, unter dem Gesichtspunkt einer
Strafbarkeit wegen Vorteilsannahme und -gewährung nicht
ohne Weiteres unproblematisch. Zwar besteht der Vorteil in
diesen Fällen allein in der Kostenerstattung. Die Dienstausübung wird aber auch durch eine rechtlich nicht zulässige
Vereinbarung der Kostenerstattung regelwidrig kommerzialisiert. Eine solche Vereinbarung beeinträchtigt damit das Vertrauen in die Nichtkäuflichkeit und Sachgerechtigkeit als
Rechtsgut der §§ 331 Abs. 1, 333 Abs. 1. Die Gewährung
und Annahme eines Vorteils zur Ermöglichung der Dienstausübung ist deshalb unter dem Gesichtspunkt einer Strafbarkeit wegen Vorteilsannahme und -gewährung nur unter der
weiteren Voraussetzung unbedenklich, dass die Annahme des
Vorteils selbst eine pflichtgemäße Diensthandlung des betreffenden Amtsträgers darstellt. Im Fall des Drittmittel einwerbenden Hochschullehrers ist diese Voraussetzung entsprechend
den Leitlinien der Drittmittel-Entscheidung des 1. Strafsenats
erfüllt, soweit er die hochschulrechtlich vorgesehenen Verfahrensvorschriften beachtet. Bei der Annahme einer Einladung
durch einen Amtsträger gilt Entsprechendes, wenn sie unter
dem Gesichtspunkt einer ihm obliegenden repräsentativen
Dienstausübung pflichtgemäß war. Soweit konkretisierende
gesetzliche oder dienstrechtliche Vorschriften fehlen, obliegt
die Beurteilung dieser Frage dem Ermessen des jeweiligen
Amtsträgers. Dieser überschreitet seinen Spielraum erst dann,
wenn die Annahme der Einladung unter keinem denkbaren
Gesichtspunkt im dienstlichen Interesse liegen kann. Strafverfolgungsorganen ist es hingegen grundsätzlich untersagt,
ihr Einschreiten von einer Erstattung der Kosten abhängig zu
machen. Die Gewährung und Annahme von sächlichen Mitteln zur Ermöglichung überobligatorischer Ermittlungshandlungen ist deshalb grundsätzlich, anders als das OLG Zweibrücken im Jahr 1981 entschieden hat, eine (regelwidrige)
Gegenleistung i.S.d. §§ 331 Abs. 1, 333 Abs. 1.
41
Das Erfordernis der Regelwidrigkeit der Äquivalenzbeziehung ist allgemein anerkannt, vgl. nur Heine (Fn. 10), § 331
Rn. 29 m.w.N.
42
Vgl. Paster/Sättele, NStZ 2008, 366 (371, 372).
43
BGHSt 50, 331 (337 ff.).
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ZJS 5/2008
470
Bezahlung von Geldstrafen durch das Unternehmen − § 258 StGB oder § 266 StGB?
Von Ass. iur. Meik Kranz, Hannover
I. Einleitung
Insbesondere im Rahmen von Wirtschafts- und Unternehmensstraftaten ist die Grenze zwischen rechtmäßigen Handlungen und strafrechtlich relevantem Verhalten oft fließend
und eine exakte Abgrenzung nicht eindeutig zu vollziehen.
Insoweit verwundert es nicht, wenn etwaige strafrechtliche
Schranken hier regelmäßig überschritten werden. Um Arbeitnehmer, die ihre Tätigkeit vor allem in rechtlich sensiblen
Bereichen von Unternehmen haben, vor denkbaren strafrechtlichen Konsequenzen zu sichern,1 aber auch um Interessen
des Unternehmens zu wahren, hat sich die Praxis herausgebildet, dass verhängte Geldstrafen für begangene Wirtschaftsstraftaten der Mitarbeiter regelmäßig von den Unternehmen
selbst übernommen werden.2
In strafrechtlicher Hinsicht aber ist eine solche Übernahme von Geldstrafen durch das Unternehmen nicht unproblematisch und wird daher in Rechtsprechung und Lehre kontrovers diskutiert. Im Folgenden soll deshalb dieser Frage
näher nachgegangen und aufgezeigt werden, wann und inwieweit die Erstattung von Geldstrafen durch Unternehmen
strafrechtliche Relevanz erfährt.
II. Tatbestandliche Anknüpfungspunkte einer Strafbarkeit für die Übernahme von Geldstrafen durch Unternehmen
Anknüpfungspunkte einer Strafbarkeit für das Einstehen
eines Unternehmens für die Geldstrafen von Mitarbeitern
bilden insbesondere zweierlei Tatbestände des StGB. Zum
einen ist immer an eine Strafbarkeit der Strafvereitelung in
Gestalt der Strafvollstreckungsvereitelung gem. § 258 Abs. 2
StGB zu denken. Zum anderen ist stets auch der Tatbestand
der Untreue gem. § 266 StGB von strafrechtlicher Relevanz.
Inmitten steht vor allem die Frage, welcher der genannten
Tatbestände die Bezahlung von Geldstrafen durch Unternehmen erfasst.
1. Strafbarkeit wegen Strafvereitelung gem. § 258 Abs. 2 StGB
Nach wohl herrschender Auffassung3 dient § 258 StGB dem
Schutz der staatlichen Rechtspflege in ihrer speziellen Aufgabe, den Täter einer rechtswidrigen Tat zu bestrafen oder
einer Maßnahme zu unterwerfen.4 Wer das vereitelt, verletzt
das durch § 258 StGB geschützte Rechtsgut. Dabei behandelt
§ 258 StGB unter der Bezeichnung Strafvereitelung die sog.
persönliche Begünstigung5 und zwar in Abs. 1 die Verfolgungs- und in Abs. 2 die Vollstreckungsvereitelung. Während § 258 Abs. 1 StGB von einer „rechtswidrigen Vortat“
1
Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249.
Kapp, NJW 1992, 2796.
3
BGHSt 43, 82 (84); 45, 97 (101); BGH JR 2000, 377 (379);
Neumann, StV 2000, 425.
4
Altenhain, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2005, Bd. 2, § 258
Rn. 3 m.w.N.
5
Altenhain (Fn. 4), § 258 Rn. 1.
2
spricht, heißt es dagegen in § 258 Abs. 2 StGB „verhängte
Strafe“ bzw. Maßnahme. Das maßgebliche Abgrenzungskriterium zwischen diesen beiden Varianten ist, dass es für eine
Vollstreckungsvereitelung allein darauf ankommt, ob die
begangene Vortat rechtskräftig abgeurteilt und damit vollstreckbar ist.6
Übernimmt nun ein Unternehmen die Bezahlung einer
rechtskräftig verhängten Geldstrafe für die Tat eines seiner
Arbeitnehmer, die dieser in Ausübung seiner Tätigkeit für
den Betrieb begangen hat oder stellt das Unternehmen sogar
finanzielle Mittel für die Bezahlung möglicher Geldstrafen
zur Verfügung, dann hat dies zur Folge, dass die Wirkung der
verhängten Strafe den Verurteilten selbst faktisch nicht trifft,
sondern vielmehr umgangen, mithin also vereitelt wird. Bei
derartigen Fallkonstellationen erscheint eine Strafbarkeit der
Unternehmen, resp. der betreffenden Entscheidungsträger innerhalb der Unternehmen, in Form der Strafvollstreckungsvereitelung i.S.v. § 258 Abs. 2 StGB auf den ersten Blick geradezu als typisch. Bei einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe
bzw. zu einer freiheitsentziehenden Maßnahme jedenfalls ist
allgemein anerkannt, dass das Verbüßen für einen Anderen
den Tatbestand der Vollstreckungsvereitelung erfüllt.7 Man
könnte nun schlussfolgern, dass für die Bezahlung einer fremden Geldstrafe dann nichts anderes gelten kann. Allerdings ist
die Frage, ob die Bezahlung einer fremden Geldstrafe durch
einen Dritten den Tatbestand der Strafvereitelung, in der
Variante der Vollstreckungsvereitelung gem. § 258 Abs. 2 StGB
erfüllt, seit jeher umstritten.8 Maßgeblicher Gegenstand der
Kontroverse ist dabei die essentielle Frage, ob sich jemand,
der für einen Anderen eine Geldstrafe bezahlt, überhaupt wegen einer Vollstreckungsvereitelung strafbar macht.9
Teilweise wurde in der älteren Literatur dazu vertreten,
dass grundsätzlich jedes Einstehen eines Dritten für eine
Geldstrafe den Tatbestand einer Vollstreckungsvereitelung erfüllen soll.10 Begründet wurde dies vor allem damit, dass das
Strafübel, welches der Verurteilte erleiden soll, nicht sein
Vermögen belastet und insofern auch keine tatsächliche Einbuße darstellt. Sein Vermögen leidet nur formell.11
Allerdings ist anzumerken, dass diese Ansicht noch zu
§ 257 StGB a.F., dem Vorläufer des heutigen § 258 StGB,
entwickelt wurde und nicht ohne weiteres auf den § 258 Abs. 2
6
Vgl. Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 55. Aufl. 2008, § 258 Rn. 29.
7
Haft, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 8. Aufl. 2005, S. 64;
Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 9.Aufl. 2007, § 21
Rn. 10; Hoyer, in: Rudolphi u.a. (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 6. Aufl., 52. Lieferung, Stand:
August 2006, § 258 Rn. 18.
8
Müller-Christmann, JuS 1992, 379 (380); Hoyer (Fn 7) § 258
Rn. 19.
9
Müller-Christmann, JuS 1992, 379 (381).
10
von der Decken, ZStW 12 (1892), 97 (114 ff.); ähnl. Ansatz bei: Lehmann, GA 1871, 785 (786); Müller-Christmann,
JuS 1992, 379 (381).
11
von der Decken, ZStW 12 (1892), 97 (114).
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471
AUFSÄTZE
Meik Kranz
StGB n.F. übertragbar ist.12 Daher wird diese Auffassung
heute so gut wie nicht mehr vertreten, da jedenfalls darüber
Einigkeit besteht, dass die „nachträgliche Erstattung“ einer
Geldstrafe nicht nach § 258 Abs. 2 StGB strafbar sein kann.13
Denn leistet der Verurteilte zunächst aus seinem eigenen
Vermögen, dann vereitelt er den Strafanspruch gegen ihn
nicht, sondern erfüllt ihn. Dann besteht aber auch keine staatliche Vollstreckung mehr, die vereitelt werden könnte, selbst
wenn er sich die gezahlte Summe später ersetzen lässt.14 Insofern herrscht Einigkeit, dass jedenfalls im Falle einer nachträglichen Erstattung der bezahlten Geldstrafe in keiner Weise eine Strafvereitelung nach § 258 Abs. 2 StGB in Betracht
zu ziehen ist. Weiterhin kontrovers diskutiert wird indes die
Frage, ob eine direkte Einzahlung der Geldstrafe oder die
Schenkung des Geldbetrages vor der Bezahlung eine Vollstreckungsvereitelung i.S.v. § 258 Abs. 2 StGB darstellt.15
Die ältere Auffassung in der Rechtsprechung,16 sowie ein
großer Teil in der Literatur17 befürworten im Falle der direkten Bezahlung einer Geldstrafe durch einen Dritten oder der
vorherigen Schenkung des betreffenden Geldbetrages eine
Strafbarkeit gem. § 258 Abs. 2 StGB. Im Kern begründet diese
Auffassung ihre Ansicht mit dem Wesen der Geldstrafe.
Demnach statuiert die Verhängung einer Geldstrafe eine
höchstpersönliche Leistungspflicht.18 Die Geldstrafe solle den
Rechtsbrecher persönlich treffen und für ihn ein fühlbares
Übel darstellen. Die Funktion der Geldstrafe erschöpft sich
daher nicht bloß in der Begründung einer Geldschuld gegenüber dem Fiskus.19 Für die Höchstpersönlichkeit spreche vor
allem, dass die Geldstrafe durch das Tagessatzsystem gem.
§ 40 StGB gerade auf die persönlichen Einkommensverhältnisse abstellt und außerdem die Möglichkeit einer Vollstreckung in den Nachlass abgeschafft wurde.20 Ließe man es zu,
diese höchstpersönliche Verpflichtung stellvertretend zu erfüllen, würde man die Geldstrafe entwerten und sie ihrer spezialpräventiven Wirkung berauben.21 Bezahlt nun ein Dritter
die Strafe, würden Sinn und Zweck dieses Strafleidens vereitelt. Um den Sinn der Geldstrafe nicht zu unterlaufen, müsse
die Drittzahlung einer Geldstrafe daher als strafbar i.S.v.
§ 258 Abs. 2 StGB angesehen werden.22
Die neuere Rechtsprechung des BGH23 ist von der dargestellten Rechtsprechung des Reichsgerichts jedoch abgewichen und hat sich der Gegenauffassung in der Literatur24
angeschlossen, nach der die Bezahlung einer Geldstrafe für
einen Anderen generell nicht den Tatbestand einer Strafvereitelung erfüllt.
Begründet wird dies insbesondere durch eine restriktive
Auslegung des Begriffs „Vollstreckung“. Erfasst sei nur, dass
der richterliche Urteilsspruch durchgesetzt werde und der
Verurteilte seine Pflicht erfüllt, welche darin besteht, einen
bestimmten Geldbetrag an die Gerichtskasse zu zahlen. Allein dies ist mittels Vollstreckungsmaßnahmen durchsetzbar.
Nicht durchsetzbar sei aber, dass die Zahlung den Betroffenen persönlich treffe.25 Da Geld im Gegensatz zu einer Freiheitsstrafe ein vertretbares Gut sei, sei eine Höchstpersönlichkeit der Vollstreckung beim Verurteilten auch nicht erreichbar.26 Vollstreckungsvereitelung begehe daher nur, wer
durch Störung der äußeren Abläufe, wie z.B. Überstellung in
den Vollzug oder Beitreibung von Geldstrafen bewirkt, dass
eine gegen einen Anderen verhängte Geldstrafe oder Maßnahme nicht verwirklicht werden kann.27 Vereitelt werde damit allenfalls der Strafzweck, deren Strafbarkeit allerdings nicht
mehr vom Wortlaut des § 258 Abs. 2 StGB erfasst wird.28
Eine Ausdehnung des Wortlautes auf den Strafzweck würde
im Hinblick auf das Analogieverbot gem. Art. 103 Abs. 2 GG
i.V.m. § 1 StGB eine Überschreitung der Wortlautgrenze bedeuten, die freilich nur zugunsten eines Angeklagten zulässig
ist.29 Des Weiteren könne die Gegenauffassung die Differenzierung zwischen sofortiger Bezahlung der Geldstrafe und
nachträglicher Erstattung nicht überzeugend darlegen und
fordere eine Umgehung der Strafbarkeit geradezu heraus. Eine
Differenzierung mache eine Strafbarkeit von Zufälligkeiten
abhängig und treffe nur den ungeschickten Täter, der es nicht
verstehe, die Unterstützung des Täters so zu erbringen, dass
er straffrei bleibt.30
Daher stellt die Bezahlung einer Geldstrafe aus dem Vermögen eines Dritten im Ergebnis auch keine Strafvereitelung
gem. § 258 Abs. 2 StGB dar, sondern hat im Rahmen der
Vollstreckung von Geldstrafen keinerlei Bedeutung.31
12
2. Stellungnahme
Nach langem Hin und Her der Argumentation in Rechtsprechung und Lehre, welche sich teilweise immer wieder gegenseitig aufhoben, hat der 2. Strafsenat des BGH mit seiner
Entscheidung vom 7.11.1990 jedenfalls für die Praxis klargestellt, dass eine Übernahme von Geldstrafen nicht unter die
Engels, Jura 1981, 581 (582).
Fischer (Fn. 6), § 258 Rn. 32 m.w.N.; Engels, Jura 1981,
581 (581); Hillenkamp, JR 1992, 72 (73); BGHSt 37, 226
(228) m.w.N.
14
Engels, Jura 1981, 581.
15
Hoyer (Fn. 7), § 258 Rn. 20.
16
RGSt, 30, 232 (235); OLG Frankfurt StV 1990, 112.
17
Hillenkamp, JR 1992, 74 ; ders., in: Küper (Hrsg.), Festschrift
für Karl Lackner zum siebzigsten Geburtstag am 18. Februar
1987, 1987, S. 455 ff.; Krey/Heinrich, Strafrecht, Besonderer
Teil, Bd. 1, 13. Aufl. 2005, Rn. 620; Stree, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Auflage 2006, § 258
Rn. 28a m.w.N.;
18
Müller-Christmann, JuS 1992, 379 (381).
19
OLG Frankfurt StV 1990, 112; Scholl, NStZ 1999, 599 (601).
20
Müller-Christmann, JuS 1992, 379 (381); Fischer (Fn. 6).
21
OLG Frankfurt StV 1990, 112.
22
Wodicka, NStZ 1991, 486 (488).
13
23
BGHSt 37, 226.
Engels, Jura 1981, 581 (585); Noack, StV 1990, 113.
25
BGHSt 37, 226 (230).
26
Müller-Christmann, JuS 1992, 379, (381).
27
Krey/Heinrich (Fn. 17); BGHSt 37, 226 (230); Noack, StV
1990, 113.
28
Hoffman/Wißmann, StV 2001, 249.
29
Krey/Heinrich (Fn. 17), Rn. 620b; Müller-Christmann, JuS
1992, 379 (381); Noack, StV 1990, 113; BGHSt 37, 226 (230).
30
Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249; Krey/Heinrich (Fn. 17).
31
BGHSt 37, 226 (229); Engels, Jura 1981, 581 (585).
24
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ZJS 5/2008
472
Bezahlung von Geldstrafen durch das Unternehmen
Strafbarkeit einer Vollstreckungsvereitelung gem. § 258 Abs. 2
StGB fällt.32 In der Tat ist den Kritikern dieser Entscheidung
zuzugeben, dass es auf den ersten Blick kriminalpolitische
Bedenken aufwirft, würde man ein Einstehen für die Geldstrafe eines Anderen nicht durch § 258 Abs. 2 StGB erfasst
sehen.33 Dies gilt insbesondere für Unternehmen, die aus
Profitmotiven eventuelle Straftaten in ihre Kalkulation mit
einbeziehen34 und mit den ausführenden Mitarbeitern Freistellungsvereinbarungen treffen oder sich im Nachhinein dazu
bereit erklären, die Strafen zu übernehmen.
Ebenfalls ist einzugestehen, dass mit der Bezahlung der
Geldstrafe durch einen Dritten ein bedeutsamer Zweck des
Strafvereitelungstatbestandes umgangen wird. Dabei hat die
Strafe vor allem den Sinn auf den Verurteilten erzieherisch
einzuwirken. Mithin vereitelt das Einstehen eines Dritten für
die Geldstrafe eben diesen Zweck.
Von einer Strafzweckvereitelung ist aber im Wortlaut des
§ 258 Abs. 2 StGB nicht die Rede und es darf diese auch
nicht ohne weiteres in die Norm hinein interpretiert werden.
Daher begibt sich diese Auffassung stark in die Nähe eines
Verstoßes gegen das verfassungsrechtlich verankerte Analogieverbot, will sie eine Strafzweckvereitelung noch von § 258
Abs. 2 StGB erfasst sehen. Einer extensiven Auslegung des
Vollstreckungsbegriffs, worauf es bei der Gegenauffassung
des BGH hinaus läuft, hin zu einer Erfassung des Strafzwecks werden insoweit durch die Wortlautgrenze unüberwindbare Schranken gesetzt. Unterstützend kann angeführt
werden, dass im Einzelfall der Nachweis, zu welchem Zweck
der Verurteilte Gelder, Darlehen oder andere Zuwendungen
vom Dritten erhalten hat, nicht immer zu führen sein wird.
Ein generelles Schenkungs- oder Zuwendungsverbot für verurteilte Straftäter wird dabei wohl nicht ernsthaft in Erwägung zu ziehen sein. Daher bietet eine Erfassung der Übernahme von Geldstrafen durch Dritte mannigfaltige Umgehungsmöglichkeiten. Ein dahingehendes Verständnis der Norm
kann nicht im Sinne des Gesetzgebers sein.
Übernimmt somit ein Unternehmen die Geldstrafe eines
seiner Mitarbeiter oder wird durch eine Vereinbarung im
Voraus zwischen dem Unternehmen und dem Arbeitnehmer
eine Freistellung von etwaigen Strafen vereinbart, dann
kommt eine Strafbarkeit jedenfalls unter dem Gesichtspunkt
der Strafvereitelung gem. § 258 StGB nicht in Betracht.
III. Strafbarkeit wegen Untreue gem. § 266 StGB
Eine mögliche Strafbarkeit wegen der Übernahme von Geldstrafen durch Unternehmen für ihre Arbeitnehmer ergibt sich
darüber hinaus unter dem Aspekt der Untreue gem. § 266
StGB. Im Gegensatz zur Strafvereitelung ist eine mögliche
Untreuestrafbarkeit der Beteiligten in der höchstrichterlichen
Rechtsprechung noch nicht endgültig geklärt, sondern allenfalls nebenbei erwähnt worden und bedarf daher einer näheren Betrachtung.35
32
Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249.
Krey/Heinrich (Fn. 17), Rn. 620 b.
34
Man denke dabei vor allem an Taten aus dem Umweltstrafrecht.
35
Kapp, NJW 1992, 2796 (2797); BGH NJW 1991, 991.
33
STRAFRECHT
Dabei enthält § 266 Abs. 1 StGB zwei von einander zu
unterscheidende Tatbestände, den Missbrauchstatbestand
gem. § 266 Abs. 1 Alt. 1 StGB und den Treubruchtatbestand
gem. § 266 Abs. 1 Alt. 2 StGB. Nach ganz h.M.36setzt die
Untreuestrafbarkeit nach beiden Varianten das Vorliegen einer
Vermögensbetreuungspflicht voraus.
Bezahlt ein Unternehmen die Geldstrafe seiner Mitarbeiter, geht es dabei im Kern um die Frage, ob die Unternehmensverantwortlichen damit ihre dem Unternehmen gegenüber obliegende Vermögensbetreuungspflicht verletzen und
dem Unternehmen einen finanziellen Schaden zugefügt haben. Schließlich zahlt das Unternehmen hier einen Geldbetrag, ohne eine ersichtliche Gegenleistung zu erhalten. Insofern erscheint eine Strafbarkeit nach beiden Varianten zumindest möglich.
Gegenstand der Vermögensbetreuungspflicht muss dabei
die Geschäftsbesorgung für einen Anderen in einer nicht ganz
unbedeutenden Angelegenheit mit einem Aufgabenkreis von
einigem Gewicht und einem gewissen Grad an Selbständigkeit sein.37 In Fällen der Freistellung von Arbeitnehmern für
verhängte Geldstrafen kommen als Täter in erster Linie die
maßgeblichen Entscheidungsträger eines Betriebes, namentlich der Geschäftsführer, der Vorstand, der Aufsichtsrat oder
andere Mitarbeiter des Unternehmens, die einen gewissen Grad
an eigener Entscheidungskraft und Selbständigkeit haben, in
Betracht.38
Bei der Führung von Unternehmen sind die o.g. Unternehmensverantwortlichen in der Regel frei und entscheiden
innerhalb ihres „unternehmerischen Ermessens“.39 Allerdings
ergeben sich Schranken der Entscheidungsfreiheit aus den
vom Betrieb verfolgten Unternehmensinteressen. Dieser dürfen sich die verantwortlichen Organe des Unternehmens nicht
veräußern. Insbesondere sind die Entscheidungsträger dabei
den Grundsätzen einer ordnungsgemäßen Geschäftsführung
unterworfen, was bereits aus den §§ 43 Abs. 1 GmbHG, 93
Abs. 1 AktG, wonach Geschäftsführer bzw. Vorstände die
Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes anzuwenden und
damit ermessensfehlerfrei zu entscheiden haben, zu folgern
ist.40 Ausgeschlossen ist daher eine Vermögenspflichtverletzung, soweit triftige Gründe bestehen, die die Übernahme
von Geldstrafen durch das Unternehmen rechtfertigen. Solche
liegen jedenfalls dann vor, wenn das Unternehmen zur Bezahlung der Geldstrafe verpflichtet ist oder ein Einstehen für
die Strafe innerhalb des unternehmerischen Ermessens lag
36
Seier, in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 2004, Kapitel V, Abschnitt 2, F. I., Rn. 158;
Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 26. Aufl. 2007,
§ 266 Rn. 4, 21 m.w.N.
37
Wessels/Hillenkamp, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2,
30. Aufl. 2007, Rn. 752 m.w.N.
38
Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249, (250); Aufzählung bei
Kindhäuser, in: ders./Neumann/Paeffgen (Fn. 4); § 266 Rn. 58.
39
Ignor/Rixen, wistra 2000, 448 (450).
40
Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249 (250); Ignor/Rixen,
wistra 2000, 448 (449); Kapp, NJW 1992, 2796 (2797).
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473
AUFSÄTZE
Meik Kranz
und insoweit auch den Grundsätzen ordnungsgemäßer Geschäftsführung entsprach.41
1. Verpflichtung zur Übernahme von Geldstrafen
Zahlt ein Unternehmen Betriebszugehörigen für unternehmensbezogene Verfehlungen Geldstrafen, dann verletzen die
beschlussfassenden Personen ihre Vermögensbetreuungspflicht
freilich dann nicht, wenn der betroffene Mitarbeiter aus dem
Arbeits- oder Dienstverhältnis Ansprüche für den Ersatz von
Aufwendungen gem. § 670 BGB oder Fürsorgepflichten geltend machen kann.
Der BGH hat jedenfalls die Übernahme von Verfahrenskosten (Gerichts- und Anwaltskosten) aus § 670 BGB oder
der Fürsorgepflicht nicht als Vermögenspflichtverletzung
angesehen und eine etwaige Untreuestrafbarkeit diesbezüglich verneint.42 Danach kann der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber den Ersatz von Aufwendungen verlangen, welche er
zum Zwecke des Auftrags gemacht hat und die er den Umständen nach auch für erforderlich halten durfte.43
Gleichzeitig ist diese Sicht für die Übernahme von Geldstrafen sowohl von der Rechtsprechung als auch von der
wohl h.M. in der Literatur44 verneint worden, da sich die für
die Bezahlung der Verfahrenskosten verfolgte Argumentation
auf die Übernahme von Geldstrafen nicht übertragen lässt.
Begründet wird dies damit, dass die Geldstrafe die Folge
eigenen Verschuldens darstellt und ein Arbeitnehmer, der seine
Berufspflichten verletzt, einen dahingehenden Ersatz nicht
mehr verlangen könne. Schließlich habe es der Arbeitnehmer
selbst in der Hand, Strafen zu vermeiden und sich innerhalb
der Rechtsordnung zu bewegen.45
Mag eine solche Verpflichtung für die Bezahlung von
Verfahrenskosten für den Arbeitgeber noch bestehen, kann
diese für Geldstrafen jedenfalls nicht mehr begründet werden.
Die Entscheidung, eine Geldstrafe für einen Mitarbeiter zu
übernehmen, kann daher regelmäßig nicht durch eine Pflicht
zum Ersatz von Aufwendungen oder Fürsorgepflichten gegenüber dem Arbeitnehmer gerechtfertigt werden.
2. Ermessen der Unternehmensverantwortlichen
Wie oben erwähnt obliegt der Unternehmensführung bei
unternehmensrelevanten Entscheidungen ein umfangreiches
Ermessen. Wird nun dahingehend eine Entscheidung gefällt,
die Geldstrafe eines Betriebszugehörigen zu übernehmen, dann
entfällt eine Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht ledig-
lich dann, wenn die Grenzen des Ermessens eingehalten worden sind, d.h. die Verantwortlichen sich an den Grundsätzen
einer ordnungsgemäßen Wirtschaftsführung orientiert haben.46 Allerdings ist dabei zu beachten, dass hier bei privatwirtschaftlichen und öffentlich-rechtlichen Unternehmen kein
einheitlicher Maßstab zugrunde gelegt werden kann.47 Vielmehr ist zwischen diesen beiden Prägungen hinsichtlich des
Ermessensspielraums und dem damit verbundenen Rahmen
der Vermögensbetreuungspflicht zu differenzieren.
a) Privatwirtschaftliche Unternehmen
Für privatwirtschaftliche Unternehmen ist anerkannt, dass die
Bezahlung von Geldstrafen durchaus möglich oder sogar
erforderlich sein kann.48 Unternehmen der Privatwirtschaft
orientieren sich dabei zuvörderst an der Erwirtschaftung von
Profiten. Daher wird eine Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht vor allem dann angenommen, wenn die Entscheidung die Geldstrafe für den Mitarbeiter zu übernehmen nicht
im ökonomischen Interesse des Unternehmens liegt, mithin
also wirtschaftlich sinnlos ist und daher auch nicht mehr den
Grundsätzen ordnungsgemäßer Wirtschaftsführung entspricht.49
Da sich derartige Entscheidungen regelmäßig aus einem Abwägungsprozess heraus ergeben, besteht hier nur ein beschränkter gerichtlicher Überprüfungsspielraum.50 Grundsätzlich sind die Maßstäbe hieran nicht zu hoch anzusetzen, da
sogar Risikogeschäfte nicht von vornherein als pflichtwidrig
zu bewerten sind, sondern sogar zum geschäftlichen Alltag
gehören. Strafbewehrt werden solche Geschäfte erst dann,
wenn der Täter, bewusst entgegen der kaufmännischen Sorgfalt, eine überhöhte Verlustgefahr akzeptiert.51
Überträgt man diese Argumentation auf die Bezahlung
von Geldstrafen durch das Unternehmen, dann ergibt sich
daraus, dass ein pflichtwidriges Verhalten nicht festzustellen
ist, solange sich die Disposition am Unternehmenswohl orientiert. Besonders im Bereich der Privatwirtschaft gibt es eine
Vielzahl von möglichen Fallgestaltungen in denen die Bezahlung von Geldstrafen im Interesse eines Unternehmens liegen
kann. Dies wird in der Regel bereits dann anzunehmen sein,
wenn die Übernahme der Geldstrafe der Vermeidung von negativer Publizität und Imageschäden für das Unternehmen
dient oder das Vertrauen aktueller und potentieller Kunden
bewahrt werden soll.52 Ein weiterer Grund ist darin zu erblicken, dass durch die Freistellung von Geldstrafen bewährte
Mitarbeiter auch künftig an das Unternehmen gebunden werden und nicht mit ihren erworbenen Kenntnissen zu Konkurrenzbetrieben abwandern.53
41
Voß, in: Rönnau/Samson (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht aus
der Sicht der Strafverteidigung, 2003, S. 287 ff. (294); Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249 (250); Kapp, NJW 1992,
2796 (2797).
42
BGH NJW 1991, 990 (991); Hassemer, JuS 1991, 694
(695); Seier (Fn. 36), Rn. 209.
43
Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249 (250); Voß (Fn. 41),
Fn. 43, S. 295.
44
BGH NJW 1991, 990 (991); Seier (Fn. 36), Rn. 209; Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249 (250); Müller-Christmann, JuS
1992, 379 m.w.N.
45
Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249 (250) m.w.N.
46
Nachweise vgl. Fn. 39.
Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249 (250); ähnl. Kapp,
NJW 1992, 2796 (2797).
48
Hoffman/Wißmann, StV 2001, 249; Ignor/Rixen, wistra
2000, 448 (449); Kapp, NJW 1992, 2796.
49
Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249 (251).
50
Voß (Fn. 41), S. 296.
51
Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249 (250 f.) m.w.N.
52
Seier (Fn. 36), Rn. 209; Ignor/Rixen, wistra 2000, 448 (451).
53
Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249 (251).
47
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474
Bezahlung von Geldstrafen durch das Unternehmen
Insoweit verletzt die Entscheidung Geldstrafen von Betriebszugehörigen für strafrechtliche Verfehlungen zu übernehmen nicht ohne weiteres die Vermögensbetreuungspflicht
der Unternehmensverantwortlichen gegenüber ihrem Unternehmen. Grundsätzlich ist daher auf die Umstände des Einzelfalles abzustellen und die Situation in ihrer Gesamtheit zu
würdigen.
b) Öffentlich-rechtliche Unternehmen
Fraglich ist indes, ob die gleichen Maximen, wie sie bei privatwirtschaftlichen Unternehmen zu Grunde gelegt werden,
auch für öffentlich-rechtliche Unternehmen Geltung beanspruchen können. Insbesondere ist hier zu berücksichtigen,
dass öffentlich-rechtliche Unternehmen zu großen, wenn nicht
sogar zu überwiegenden Teilen aus öffentlichen Geldern
finanziert werden. Darüber hinaus orientieren sie sich in der
Hauptsache nicht lediglich an Gewinnerzielung,54 sondern
zumindest auch an gemeinnützigen Zielen. Inwieweit dieser
Aspekt bei der Beurteilung einer Pflichtverletzung durch die
Übernahme von Geldstrafen eine Rolle spielt, wird hingegen
unterschiedlich bewertet.
Teilweise werden die gleichen Grundsätze, wie sie bei
privaten Unternehmen angenommen werden, auch für öffentlich-rechtliche Unternehmen angenommen. Danach müssen
sich öffentlich-rechtlich verfasste Unternehmen in der Regel
auch in der freien Wirtschaft gegen Mitbewerber durchsetzen. Auch hier könnte im Einzelfall durch die Übernahme
von Geldstrafen für Mitarbeiter Schaden für das Unternehmen abgewendet werden. Dem steht auch nicht entgegen, dass
der Hauptzweck nicht in der Gewinnerwirtschaftung liegt, da
Gewinne jedenfalls erwirtschaftet werden dürfen und dadurch
die Stellung am Markt gestärkt und gemeinnützige Aufgaben
erleichtert werden.55 Eine generelle Annahme der Verletzung
von Vermögensbetreuungspflichten durch die Bezahlung von
Geldstrafen von Unternehmenszugehörigen könne insoweit
nicht angenommen werden.
Herrschend in Rechtsprechung und in der Literatur56 ist
indessen, dass die Bezahlung von Geldstrafen für Betriebszugehörige eines öffentlich-rechtlichen Unternehmens grundsätzlich als eine Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht und
damit einhergehend auch als strafbare Untreue i.S.v. § 266
StGB anzusehen ist. Dies wird damit legitimiert, dass die den
öffentlich-rechtlichen Unternehmen zur Verfügung gestellten
Finanzmittel zumeist bzw. zu einem großen Teil aus öffentlichen Geldern stammen und nur zur Erledigung der satzungsgemäßen Aufgaben verwendet werden dürfen. Die Bezahlungen von Geldstrafen für Verfehlungen dort Beschäftigter fallen allerdings prinzipiell nicht unter die dort kodifizierten
Aufgaben. Demgemäß ist die Verletzung einer Vermögens54
Ignor/Rixen, wistra 2000, 448 (451) m.w.N.
Ignor/Rixen, wistra 2000, 448 (450), bezogen auf Landesbanken. Die angeführten Argumente lassen sich aber uneingeschränkt auch bei anderen öffentlich-rechtlichen Unternehmen anführen, wie z.B. Theatern, Öffentlicher Rundfunk usw.
56
BGH NJW 1991, 990 (991); Hassemer, JuS 1991, 694
(695); Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249 (250); MüllerChristmann, JuS 1992, 379.
55
STRAFRECHT
betreuungspflicht anzunehmen, soweit die öffentlichen Gelder nicht den haushaltsrechtlichen Vorschriften entsprechend
verwendet werden.57
c) Stellungnahme
Der oben dargestellten Mindermeinung ist zuzugeben, dass
zumindest in manchen Märkten oder Marktsegmenten öffentlich-rechtlich verfasste Unternehmen ebenso wie Unternehmen der Privatwirtschaft den Gesetzen und dem Druck der
freien Marktwirtschaft unterworfen sind. Diesbezüglich ist
nicht abzustreiten, dass hier durch Aufsehen erregende strafrechtliche Prozesse Image beeinträchtigende Schlussfolgerungen in der Öffentlichkeit getroffen werden, welche sich
durch wirtschaftliche Einbußen bemerkbar machen könnten.
Maßgeblich ist jedoch, dass öffentlich-rechtliche Unternehmen neben den eigenen erwirtschafteten Geldern auch auf
öffentliche Zuschüsse zurückgreifen können. Dabei erfolgt
die Vergabe von öffentlichen Mitteln nach strengen haushaltsrechtlichen Vorgaben, um sicherzustellen, dass die knappen finanziellen Ressourcen des Staates gezielt und vernünftig verwendet werden. Bei deren Verwendung haben öffentlich-rechtliche Unternehmen neben rein ökonomischen Aspekten vor allem Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu beachten. Bezahlt nun ein öffentlich-rechtliches
Unternehmen die Geldstrafe eines seiner Mitarbeiter, dann
werden hier auch öffentliche Gelder zu Zwecken verwendet,
die nicht in der satzungsgemäßen Zielsetzung des öffentlichen Unternehmens liegen. Ein dahingehender Gebrauch der
staatlichen Zuschüsse stellt sich dann auch nicht mehr als
gezielt und vernünftig dar und entspricht deshalb auch nicht
mehr den haushaltsrechtlich vorgegebenen Vorschriften der
Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit. Beachten die betreffenden Entscheidungsträger eines öffentlich-rechtlichen Unternehmens diese Aspekte nicht, dann verletzen sie damit ihre
dem Unternehmen gegenüber obliegende Vermögensbetreuungspflicht.
Demgemäß verdient die h.M.58, wonach die Bezahlung
von Geldstrafen durch öffentlich-rechtliche Unternehmen
grundsätzlich eine Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht darstellt, den Vorzug.
IV. Resümee und Fazit
Schlussendlich bleibt festzuhalten, dass die Bezahlung von
Geldstrafen durch das Unternehmen für strafrechtliche Verfehlungen von Mitarbeitern jedenfalls wegen einer Strafvollstreckungsvereitelung gem. § 258 Abs. 2 StGB im Ergebnis
unter keinem Aspekt in Betracht kommt.
Eine mögliche Strafbarkeit unter dem Aspekt der Untreue
gem. § 266 StGB ist zumindest bei privatwirtschaftlichen
Unternehmen nur durch eine Gesamtwürdigung des Sachverhaltes im Einzelfall zu begründen. In der Praxis allerdings
wird hier der Beweis, im Unternehmenswohl gehandelt zu
haben, relativ schnell erbracht werden können, da diesbezüglich keine hohen Anforderungen gestellt werden. Gelingt eine
57
58
Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249 (250).
Vgl. Fn. 57.
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475
AUFSÄTZE
Meik Kranz
plausible Begründung für die Freistellung des Mitarbeiters
von der Geldstrafe hingegen nicht, dann ist auch eine Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht und eine damit verbundene Untreuestrafbarkeit nicht auszuschließen.
Bei öffentlich-rechtlich verfassten Unternehmen kommt
eine Untreuestrafbarkeit wegen der Übernahme von Geldstrafen für Unternehmenszugehörige nur dann in Betracht, wenn
die zur Verfügung gestellten öffentlichen Gelder eine zweckwidrige Verwendung erfahren haben. Eine solche ist bei der
Bezahlung von Geldstrafen für Mitarbeiter generell anzunehmen, da die Satzungen öffentlich-rechtlicher Unternehmen eine diesbezügliche Mittelverwendung prinzipiell nicht
vorsehen und somit auch eine an haushaltsrechtlichen Vorschriften orientierte Verwendung nicht mehr gegeben ist.
Als Fazit ist festzustellen, dass bei Übernahme einer
Geldstrafe durch das Unternehmen nach gegenwärtiger
Rechtslage eine Strafbarkeit im Ergebnis nur für öffentlichrechtliche Unternehmen in Betracht kommt.
Die strafrechtliche Erfassung privat verfasster Unternehmen wird unter dem Gesichtspunkt einer Untreuestrafbarkeit
nur schwer und im Hinblick auf eine mögliche Strafvollstreckungsvereitelung gar nicht zu erfassen sein. Sollten sich
diesbezüglich kriminalpolitische Bedenken ergeben, dann ist
der Gesetzgeber aufgerufen, hier bestehende Mängel zu beseitigen.
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ZJS 5/2008
476
Eigentumsvorbehalt und Anwartschaftsrecht
Von Prof. Dr. Johann Kindl, Münster
Eigentumsvorbehalt und Anwartschaftsrecht spielen in Ausbildung und Praxis eine große Rolle. Der nachfolgende, an
Examenskandidaten und Studierende fortgeschrittener Semester gerichtete Beitrag gibt einen Überblick über die Erscheinungsformen des Eigentumsvorbehalts und die wesentlichen damit einhergehenden sachen-, schuld- sowie vollstreckungsrechtlichen Fragen.
I. Begriff, Bedeutung und Arten
1. Begriff und Bedeutung
Beim Kauf unter Eigentumsvorbehalt schließen die Parteien
einen Kaufvertrag über eine bewegliche Sache, bei dem sich
der Verkäufer – abweichend von § 433 Abs. 1 BGB – nur
dazu verpflichtet, dem Käufer die Sache zu übergeben und
ihm aufschiebend bedingtes Eigentum an der Sache zu verschaffen. Dementsprechend machen die Parteien die Wirksamkeit der Einigung über den Eigentumsübergang (§ 929 S. 1
BGB) vom Eintritt einer aufschiebenden Bedingung (§ 158 Abs. 1
BGB) abhängig.1 Aufschiebend bedingt ist die Übereignung
gem. § 449 Abs. 1 BGB im Zweifel durch die vollständige
Bezahlung des Kaufpreises.2 Beim Kauf von unbeweglichen
Sachen kommt ein Eigentumsvorbehalt wegen § 925 Abs. 2
BGB nicht in Frage.
Ein Kauf unter Eigentumsvorbehalt bietet sich an, wenn
der Käufer nicht in der Lage ist, gem. § 320 BGB den vollständigen Kaufpreis Zug um Zug gegen Übereignung und
Übergabe der Sache zu begleichen, er den unmittelbaren
Besitz an der Kaufsache aber sogleich benötigt. Geht das Eigentum erst mit der Bezahlung der letzten Kaufpreisrate auf den
Käufer über, dann behält der Verkäufer bis zu diesem Zeitpunkt das im Eigentum enthaltene Sicherungs- und Verwertungsrecht, während der unmittelbare Besitz und das Nutzungsrecht sogleich mit der Übergabe auf den Käufer übergehen.3
Für den Fall, dass es zu einer Rückabwicklung des Vertrages
kommen sollte, bevor die letzte Kaufpreisrate bezahlt ist, ist
der Vorbehaltsverkäufer durch den dinglichen Herausgabeanspruch aus § 985 BGB gesichert. Auf den Vorbehaltskäufer,
der volles Eigentum ja erst mit der vollständigen Bezahlung
des Kaufpreises erwirbt, übt der Vorbehalt einen gewissen Druck
aus, seinen Verpflichtungen nachzukommen.4 Der Eigen-
tumsvorbehalt ist das gebräuchlichste Sicherungsmittel des
Warenkreditgebers.
2. Arten
a) Einfacher Eigentumsvorbehalt
Der Vorbehaltskäufer behält die Sache in seinem Besitz und
erwirbt das Eigentum mit der Bezahlung der letzten Kaufpreisrate. Hauptanwendungsfall ist der Vorbehaltsverkauf an den
Endverbraucher. In der Praxis wird der Eigentumsvorbehalt
üblicherweise formularmäßig vereinbart. Eine einfache Vorbehaltsklausel in den AGB des Verkäufers begegnet auch
dann keinen Bedenken im Hinblick auf § 307 BGB, wenn der
Käufer Verbraucher ist.5
b) Verlängerter Eigentumsvorbehalt
Die Vereinbarung eines verlängerten Eigentumsvorbehalts liegt
nahe, wenn der Vorbehaltskäufer selbst Gewerbetreibender ist
und die Sache erworben hat, um sie – ggf. nach einer Weiterverarbeitung – an seine Kunden weiterzuveräußern. Der Vorbehaltsverkäufer muss in derartigen Fällen befürchten, dass
er sein Eigentum gem. § 950 BGB an den Vorbehaltskäufer
oder nach §§ 932 ff. BGB, 366 Abs. 1 HGB an dessen gutgläubige Abnehmer verliert. Es liegt allerdings nicht im Interesse des Vorbehaltsverkäufers, dem Vorbehaltskäufer den
Weiterverkauf und die Verarbeitung der Sache zu verbieten.
Der Vorbehaltskäufer muss ja mit der Sache wirtschaften können, um sich die Mittel zur Begleichung des Kaufpreises zu
beschaffen. Die Lösung suchen die Parteien in der Verlängerung – die Rede ist auch von einer vertikalen Erweiterung6 –
des Eigentumsvorbehalts: Der Vorbehaltsverkäufer ermächtigt gem. § 185 Abs. 1 BGB den Vorbehaltskäufer zur Weiterveräußerung der Sache, lässt sich aber die aus dem Weiterverkauf resultierenden Forderungen des Vorbehaltskäufers
gegen seine Abnehmer im Voraus abtreten und sichert sich
somit den Zugriff auf das Surrogat aus der Weiterveräußerung.7 Zugleich ermächtigt der Vorbehaltsverkäufer den Vorbehaltskäufer nach § 185 Abs. 1 BGB zur Einziehung der im
Voraus abgetretenen Forderungen, damit dieser die Abtretung
gegenüber seinen Abnehmern nicht offenlegen muss. Der
Vorbehaltskäufer darf die Vorbehaltsware nur im ordnungsgemäßen Geschäftsbetrieb weiterveräußern; ein Weiterverkauf unter dem Einstandspreis ist z.B. von der Ermächtigung
1
Der Kaufvertrag wird dagegen in der Regel unbedingt geschlossen; Weidenkaff, in: Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008,
§ 449 Rn. 8.
2
Zur Bedeutung des § 449 Abs. 1 BGB für die Auslegung
des Kaufvertrages siehe Faust, in: Bamberger/Roth, Kommentar
zum BGB, 2. Aufl. 2007, § 449 Rn. 10 f.
3
Baur/Stürner, Sachenrecht, 17. Aufl. 1999, § 59 Rn. 1 sprechen daher von Rechtsteilung; vgl auch Wiegand, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, Neubearbeitung 2004, Anh.
§§ 929 ff. Rn. 26.
4
Damit dient der Eigentumsvorbehalt mittelbar auch der
Sicherung der Kaufpreisforderung; vgl. BGHZ 70, 96 (98 f.,
101); Schwab, ZIP 2000, 609 (610 ff.).
5
Vgl Faust (Fn. 2), § 449 Rn. 12.
Wiegand (Fn. 3), Anh. §§ 929 ff. Rn. 15 ff.; vgl auch Westermann, Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2008,
§ 449 Rn. 87; Beckmann, in: Staudinger, Kommentar zum
BGB, Neubearbeitung 2004, § 449 Rn. 99.
7
Verarbeitungsklauseln, die mit Rücksicht auf § 950 BGB
vereinbart werden, sind hier nicht erörtert; siehe hierzu Kindl,
in: Bamberger/Roth, Kommentar zum BGB, 2. Aufl. 2007, § 950
Rn. 9 f. und 13 f. Nicht angesprochen sind ferner der weitergeleitete und der nachgeschaltete Eigentumsvorbehalt; hierzu
Kindl, a.a.O., § 929 Rn. 45-47.
6
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477
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Johann Kindl
nicht gedeckt.8 Darüber hinaus gilt die Ermächtigung zur
Weiterveräußerung nicht in dem Fall, dass der Vorbehaltskäufer und sein Abnehmer ein Abtretungsverbot i.S.d. § 399
Alt. 2 BGB vereinbaren.9 Gegen die Wirksamkeit von Weiterveräußerungsklauseln und Vorausabtretungsklauseln mit
Einziehungsermächtigung in den AGB des Verkäufers bestehen jedenfalls dann keine Bedenken, wenn der Käufer zu
dem in § 310 Abs. 1 S. 1 BGB bezeichneten Personenkreis
gehört, also ein Unternehmer, eine juristische Person des
öffentlichen Rechts oder ein öffentlich-rechtliches Sondervermögen ist.10
c) Der erweiterte Eigentumsvorbehalt
Der erweiterte Eigentumsvorbehalt – man spricht auch von
einer horizontalen Erweiterung – betrifft den Inhalt der aufschiebenden Bedingung. Beim Kontokorrentvorbehalt besteht
diese in der Begleichung sämtlicher (auch künftiger) Forderungen des Lieferanten aus der Geschäftsverbindung mit dem
Vorbehaltskäufer (Geschäftsverbindungsklausel). Der Vorbehaltskäufer erwirbt demnach auch an längst bezahlten Waren
erst Eigentum, wenn sämtliche Forderungen aus der Geschäftsverbindung mit dem Vorbehaltsverkäufer erfüllt sind;11 in
dem Fall, dass er während der laufenden Geschäftsverbindung
nie ganz schuldenfrei ist, also erst mit deren Beendigung. Die
Verwendung einer Geschäftsverbindungsklausel gegenüber
dem in § 310 Abs. 1 S. 1 BGB bezeichneten Personenkreis ist
unbedenklich, zumal der Kontokorrentvorbehalt den im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuchen entspricht, auf die gem. § 310 Abs. 1 S. 2 HS. 2 BGB Rücksicht
zu nehmen ist.12 Möglich und in der Praxis verbreitet ist auch
eine Kombination zwischen verlängertem und erweitertem
Eigentumsvorbehalt.13
Um eine Form des erweiterten Eigentumsvorbehalts handelt es sich auch beim Konzernvorbehalt, bei dem der Eigentumsübergang davon abhängig gemacht wird, dass der Käufer
auch noch die gegen ihn gerichteten Forderungen von mit
dem Vorbehaltsverkäufer verbundenen Unternehmen (vgl.
§ 15 AktG) erfüllt. Der Konzernvorbehalt ist gem. § 449
Abs. 3 BGB insoweit nichtig, als er den Eigentumsübergang
8
BGH WM 1969, 1452. Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen die Weiterveräußerung im ordnungsgemäßen Geschäftsbetrieb erfolgt, siehe i.Ü. Kindl (Fn. 7), § 929 Rn. 44.
9
BGHZ 27, 306 (309 f.); 106, 1 (4); 109, 297 (300).
10
Vgl. BGHZ 94, 105 (112) = NJW 1985, 1836; BGHZ 98,
303 (307) = NJW 1987, 487, beide zum verlängerten und
erweiterten Eigentumsvorbehalt; vgl. ferner BGHZ 125, 83
(87) = NJW 1994, 1154, zum erweiterten Eigentumsvorbehalt.
Die mit einer möglichen Übersicherung des Vorbehaltsverkäufers verbundenen Probleme werden hier nicht erörtert;
hierzu Kindl (Fn. 7), § 929 Rn. 52 - 54.
11
Vgl. BGH NJW 1978, 632 (633); zur Auslegung einer
Geschäftsverbindungsklausel siehe BGH NJW 1968, 885.
12
Siehe oben Fn. 10.
13
Eingehend Serick, Eigentumsvorbehalt und Sicherungsübertragung, Bd. IV, 1976, S. 74 ff.; Bd. V, 1982, S. 261 ff.;
Neue Rechtsentwicklungen, 2. Aufl. 1993, S. 105 ff.
davon abhängig macht, dass die Forderungen Dritter erfüllt
werden; soweit der Vorbehalt dagegen die Forderungen des
Lieferanten betrifft, ist er wirksam.14 Der Zweck des mit der
Insolvenzrechtsreform am 1.1.1999 in Kraft getretenen § 449
Abs. 3 BGB besteht zum einen darin, den Käufer vor einer
unangemessenen Beschränkung seiner wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit zu schützen,15 zum anderen darin, im Falle
einer Insolvenz des Käufers eine Schmälerung der Masse
durch Absonderungsrechte zu verhindern.16 Von diesem
Zweck her liegt eine analoge Anwendung des § 449 Abs. 3
BGB auf den so genannten umgekehrten Konzernvorbehalt
nahe, bei dem der Eigentumserwerb durch den Käufer davon
abhängt, dass die mit dem Käufer verbundenen Unternehmen
ihre Verbindlichkeiten gegenüber dem Lieferanten erfüllen.17
Nach § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB unwirksam ist jedenfalls die
formularmäßige Vereinbarung eines umgekehrten Konzernvorbehalts.18
II. Die bedingte Einigung über den Übergang des Eigentums
1. Zustandekommen der Einigung
a) Kauf mit Eigentumsvorbehalt
Der Eigentumsvorbehalt wird sachenrechtlich dadurch umgesetzt, dass die Einigung über den Eigentumsübergang unter
einer aufschiebenden Bedingung vorgenommen wird. Für die
Übereignung wird regelmäßig die Form des § 929 S. 1 BGB
gewählt, da dort vorgesehen ist, dass dem Erwerber der unmittelbare Besitz an der Sache verschafft wird.19
Wenn die Parteien bereits im Kaufvertrag einen Eigentumsvorbehalt vereinbart haben, dann liegt in der nachfolgenden Lieferung der Sache ein Angebot des Verkäufers auf
bedingte Übereignung, das der Käufer durch die Entgegennahme der Sache annimmt. Eine ausdrückliche Erklärung des
Verkäufers, nur bedingt übereignen zu wollen, ist entbehrlich. Denn mangels anderweitiger Anhaltspunkte ist davon
auszugehen, dass die Parteien die dingliche Einigung so vollziehen möchten, wie sie es im schuldrechtlichen Grundgeschäft vorgesehen haben. Ein Eigentumsvorbehalt kann i.Ü.
auch durch konkludentes Verhalten in den Kaufvertrag aufgenommen werden. Auf eine ausdrückliche Vereinbarung
wird man z.B. verzichten können, wenn es sich bei den Parteien einer laufenden Geschäftsverbindung eingebürgert hat,
die Gewährung von Ratenzahlungen mit der Vereinbarung eines
Eigentumsvorbehalts zu verbinden. Zu weit gehend erscheint
14
Zum Umfang der Nichtigkeit siehe Habersack/Schürnbrand,
JuS 2002, 833 (837 f.); vgl. auch Faust (Fn. 2), § 449 Rn. 36.
15
Begr. RegE., BT-Drs. 12/3803, S. 77 f.
16
Faust (Fn. 2), § 449 Rn. 37; Habersack/Schürnbrand, JuS 2002,
833 (837 f.).
17
Str. wie hier Faust (Fn. 2), § 449 Rn. 37; Habersack/Schürnbrand, JuS 2002, 833 (838 f.); Leible/Sosnitza,
JuS 2001, 556 (558); a.A. Weidenkaff (Fn. 1), § 449 Rn. 22.
18
Faust (Fn. 2), § 449 Rn. 37; Habersack/Schürnbrand, JuS 2002,
833 (838 f.).
19
Wenn der Vorbehaltskäufer bereits im unmittelbaren Besitz
der Sache ist, wird die Form des § 929 S. 2 BGB gewählt.
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ZJS 5/2008
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Eigentumsvorbehalt und Anwartschaftsrecht
es aber, immer dann die stillschweigende Vereinbarung eines
Eigentumsvorbehalts anzunehmen, wenn die Sache übergeben werden soll, bevor sie bezahlt wird.20
b) Kauf ohne Eigentumsvorbehalt
Ist der Kaufvertrag ohne Eigentumsvorbehalt abgeschlossen
worden, dann muss der Käufer nicht damit rechnen, dass ihm
der Verkäufer später – vertragswidrig – nur eine bedingte
Übereignung anbietet.21 Eine nach Abschluss des Kaufvertrages erfolgende Lieferung stellt sich aus Sicht des Käufers
daher als Angebot auf unbedingte Übereignung dar, wenn der
Verkäufer nicht deutlich genug zum Ausdruck bringt, dass er
entgegen seiner im Kaufvertrag übernommenen Verpflichtung nur unter Vorbehalt übereignen möchte. Als bedingtes
Einigungsangebot muss der Käufer die Übergabe nur dann
auffassen, wenn er den Vorbehalt kennt oder zumindest in
zumutbarer Weise von ihm Kenntnis nehmen kann.22 Die
Rspr. wendet hier zu Recht einen strengen Maßstab an und
fordert eine deutlich erkennbare Erklärung des Eigentumsvorbehalts.23 So ist es dem Käufer z.B. nicht zuzumuten, von
einem erst auf dem Lieferschein enthaltenen Eigentumsvorbehalt Kenntnis zu nehmen.24 Dagegen ist es deutlich genug,
wenn der Verkäufer eines Kfz dem Käufer den Kfz-Brief
nicht aushändigt.25 Dem Käufer steht es frei, ein ihm zugegangenes bedingtes Einigungsangebot anzunehmen oder abzulehnen. Im Falle einer Ablehnung erwirbt er kein – auch
kein aufschiebend bedingtes – Eigentum.26 Nimmt er die
bedingte Einigungsofferte durch widerspruchslose Entgegennahme der Lieferung an, dann erwirbt er aufschiebend bedingtes
Eigentum.27
2. Wirkung
Haben sich die Parteien über den Eigentumsübergang aufschiebend bedingt geeinigt, dann wird der Käufer mit Eintritt
der Bedingung ohne weiteres Zutun des Verkäufers Eigentümer der Sache.28 Dies gilt auch dann, wenn der Verkäufer
später in seiner Verfügungsbefugnis beschränkt wird oder sie
20
So aber Faust (Fn. 2), § 449 Rn. 12; offen gelassen von
BGH NJW 2006, 3488 Rn. 12.
21
Vgl. BGH NJW 1979, 2199 (2200); NJW 1979, 213 (214).
22
BGH NJW 1979, 2199; NJW 1982, 1749 (1750); NJW
1982, 1751.
23
BGH NJW 1953, 217 (218); BGHZ 64, 395 (397); BGH
NJW 2006, 3488 (3489).
24
BGH NJW 1953, 217; NJW 1979, 213; NJW 1979, 2199.
25
BGH NJW 2006, 3488 (3489).
26
BGH NJW 1953, 217; BGHZ 64, 395.
27
Ob die widerspruchslose Entgegennahme der Sache auch
als Zustimmung zu einer nachträglichen Änderung des Kaufvertrags aufgefasst werden kann, ist umstritten; ablehnend
Faust (Fn. 2), § 449 Rn. 15; vgl. auch Grunewald, in: Erman,
BGB, 12. Aufl. 2008, § 449 Rn. 2; a.A. Baur/Stürner (Fn. 3),
§ 59 Rn. 10, 12; vgl. auch Beckmann (Fn. 6), § 449 Rn. 23.
28
Jauernig, in: Jauernig, Kommentar zum BGB, 12. Aufl.
2007, § 929 Rn. 38.
ZIVILRECHT
verliert oder wenn er seinen Willen ändert.29 Hat sich der
Käufer mit einem Nichteigentümer bedingt geeinigt, dann reicht
es, wenn der für einen redlichen Erwerb erforderliche gute
Glaube zu dem Zeitpunkt vorliegt, zu dem der Tatbestand des
bedingten Rechtserwerbs vollendet ist. Der Käufer muss also
bei einer Veräußerung nach §§ 929 S. 1, 932 Abs. 1 S. 1
BGB zum Zeitpunkt der Übergabe, bei einer Veräußerung
nach §§ 929 S. 2, 932 Abs. 1 S. 2 BGB zum Zeitpunkt der der
Übergabe nachfolgenden Einigung gutgläubig sein.30 Wird er
nach dem maßgeblichen Zeitpunkt bösgläubig, so schadet
ihm dies nicht:31 Er erwirbt das Eigentum mit der Zahlung
der letzten Kaufpreisrate.
III. Die Rechtsstellung des Vorbehaltsverkäufers
1. Rechte bei pflichtwidrigem Verhalten des Käufers
a) Allgemeines
Für den Vorbehaltsverkäufer stellt sich die Frage, welche
Rechte er hat, wenn der Vorbehaltskäufer seine Pflichten verletzt, also z.B. die Sache nicht sorgfältig behandelt, sie ohne
Erlaubnis an Dritte weitergibt oder ganz einfach seine Raten
nicht pünktlich bezahlt. Bis zum Bedingungseintritt ist er
zwar noch Eigentümer der Sache, er kann sie aber vom Käufer nicht nach § 985 BGB herausverlangen, solange dieser
ihm gegenüber aus dem Kaufvertrag zum Besitz berechtigt ist
(§ 986 Abs. 1 S. 1 BGB; siehe unten IV. 3. a)).
Nach § 985 BGB herausverlangen kann der Vorbehaltsverkäufer die Sache aber, nachdem er das Besitzrecht des Käufers
durch einen Rücktritt vom Kaufvertrag beseitigt hat. Hierzu
benötigt der Verkäufer einen Rücktrittsgrund nach den allgemeinen Vorschriften der §§ 323 f. BGB. Das BGB enthält
nämlich seit dem Inkrafttreten der Schuldrechtsreform am
1.1.2002 keine Vermutung mehr dahin gehend, dass der Vorbehaltsverkäufer zum Rücktritt berechtigt ist, wenn der Käufer mit der Zahlung in Verzug gerät (so noch § 455 Abs. 1
BGB a.F.).32 Nach § 323 Abs. 1 BGB zum Rücktritt berechtigt ist der Vorbehaltsverkäufer dann, wenn er dem säumigen
Käufer erfolglos eine angemessene Frist zur Leistung gesetzt
hat. Dass der Käufer seiner fälligen Leistungspflicht schuldhaft nicht nachkommt, also in Verzug gerät, setzt § 323 BGB
nicht voraus.33 In den Fällen des § 323 Abs. 2 BGB ist die
Fristsetzung entbehrlich; von Bedeutung dürfte hier vor allem
der in § 323 Abs. 2 Nr. 1 BGB geregelte Fall sein, dass der
Käufer die Erfüllung ernsthaft und endgültig verweigert. Das
Fristsetzungserfordernis kann zwar individualvertraglich abbedungen werden. Da der Fristsetzung aber eine wesentliche
Warnfunktion für den Vorbehaltskäufer zukommt, verstößt ein
29
BGHZ 30, 374 (377).
Jauernig (Fn. 28), § 929 Rn. 38.
31
BGHZ 10, 69 (73); 30, 374 (377).
32
Zur Abschaffung der in § 455 BGB a.F. geregelten Vermutung siehe Begr. RegE., BT-Drs. 14/6040 S. 241; SchmidtRecla, JuS 2002, 759 (763).
33
Freilich gerät der Käufer als Schuldner einer Geldschuld
auch dann in Verzug, wenn ihn an seinem finanziellen Unvermögen kein Verschulden trifft; siehe Habersack/Schürnbrand,
JuS 2002, 833 (835) m.w.N.
30
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DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Johann Kindl
formularmäßiger Verzicht auf die Fristsetzung auch im unternehmerischen Geschäftsverkehr gegen § 307 Abs. 2 Nr. 2
BGB und ist daher unwirksam.34 Ein Rücktrittsrecht des
Vorbehaltsverkäufers kann sich auch aus § 324 BGB ergeben, etwa in dem Fall, dass der Käufer mit der Sache nicht
sorgfältig umgeht oder sie pflichtwidrig weiterveräußert. Die
Verjährung des Kaufpreisanspruchs hindert den Verkäufer nicht
daran, vom Vertrag zurückzutreten und die Vorbehaltsware
herauszuverlangen. Dies bestimmt § 216 Abs. 2 S. 2 BGB
ausdrücklich, der für den Eigentumsvorbehalt eine Ausnahme
zu der in § 218 Abs. 1 S. 1 BGB enthaltenen allgemeinen
Regelung macht,35 auf die in § 218 Abs. 1 S. 3 BGB hingewiesen ist.
Durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz vom 26.11.2001
wurde die in § 449 Abs. 2 BGB enthaltene Regelung ins BGB
eingefügt, der zufolge der Verkäufer die Sache auf Grund des
Eigentumsvorbehalts nur herausverlangen kann, wenn er vom
Vertrag zurückgetreten ist. Die Kodifizierung des – von der
h.M.36 i.Ü. schon vor Inkrafttreten des § 449 Abs. 2 BGB am
1.1.2002 vertretenen – Grundsatzes „Keine Rücknahme ohne
Rücktritt“ stellt klar, dass der Vorbehaltsverkäufer bei
pflichtwidrigem Verhalten des Käufers nicht berechtigt ist,
die Sache unter Berufung auf sein Vorbehaltseigentum vorübergehend zurückzunehmen, um Druck auf den Käufer auszuüben und ihn zur Zahlung zu bewegen. Solange der Vorbehaltsverkäufer vom Vertrag nicht zurücktritt, muss er dem
Käufer die Sache also belassen. Dadurch wird verhindert,
dass der Käufer den Besitz der Sache verliert, aber weiterhin
zur Zahlung verpflichtet bleibt.37 Ist der Vorbehaltsverkäufer
zurückgetreten, dann kann er die Sache nach § 985 BGB und
nach § 346 Abs. 1 BGB herausverlangen. Ferner ist ihm der
Vorbehaltskäufer nach § 346 Abs. 1 BGB zur Herausgabe der
gezogenen Nutzungen verpflichtet. Auf der anderen Seite
muss der Vorbehaltskäufer keine Raten mehr bezahlen und
erhält die geleisteten Anzahlungen nach§ 346 Abs. 1 BGB
zurück.38 Der Nutzungsersatzanspruch des Verkäufers kann
mit dem Rückzahlungsanspruch des Käufers verrechnet werden. § 449 Abs. 2 BGB ist dispositives Recht, von dem durch
Individualvereinbarung abgewichen werden kann. Eine formularmäßige Abbedingung der Bestimmung dürfte allerdings
auch im Geschäftsverkehr mit Unternehmern gegen § 307
Abs. 2 Nr. 1 BGB verstoßen. Da der Gesetzgeber durch die
Festschreibung des Grundsatzes „Keine Rücknahme ohne
Rücktritt“ einem wesentlichen Schutzbedürfnis des Käufers
Rechnung tragen wollte,39 spricht viel dafür, dass er diesen
Grundsatz als wesentlichen Grundgedanken einer gesetzlichen Regelung i.S.d. § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB angesehen hat.40
b) Besonderheiten des Verbraucherschutzrechts
Besonderheiten sind zu beachten, wenn der Vorbehaltsverkäufer Unternehmer (§ 14 Abs. 1 BGB) und der Vorbehaltskäufer Verbraucher (§ 13 BGB) ist und ersterer dem letzteren
einen entgeltlichen Zahlungsaufschub von mehr als drei Monaten gewährt (§ 499 Abs. 1 BGB). Sofern der Barzahlungspreis 200 Euro übersteigt (§§ 499 Abs. 3, 492 Abs. 2 Nr. 1
BGB), gelten die in § 499 Abs. 2 BGB aufgeführten Vorschriften zum Schutz des Vorbehaltskäufers/Verbrauchers.
Hinzuweisen ist zum einen auf § 503 Abs. 2 S. 1 BGB, der
im Hinblick auf den verzugsbedingten Rücktritt des Vorbehaltsverkäufers/Unternehmers auf § 498 Abs. 1 BGB verweist und dadurch das Rücktrittsrecht an die verschärften
Voraussetzungen dieser Bestimmung knüpft.41 Hinzuweisen
ist zum anderen und insbesondere auf § 503 Abs. 2 S. 4
BGB, der bestimmt, dass es als Ausübung des Rücktrittsrechts gilt, wenn der Unternehmer die auf Grund des Teilzahlungsgeschäfts gelieferte Sache wieder an sich nimmt. Die
Bestimmung soll den Verbraucher davor schützen, dass er
Besitz und Nutzung der gelieferten Sache verliert, aber
gleichwohl zur Ratenzahlung verpflichtet bleibt.42 Dieser
Schutzzweck rechtfertigt eine weite Auslegung der Vorschrift: Für eine Rücknahme der Sache i.S.d. § 502 Abs. 2
S. 4 BGB reicht es aus, wenn der Vorbehaltskäufer auf Veranlassung des Verkäufers Besitz und Nutzungsmöglichkeit
verliert.43
Von den soeben dargestellten Vorschriften darf gem. § 506
S. 1 BGB nicht zum Nachteil des Verbrauchers abgewichen
werden. Bei Teilzahlungsgeschäften i.S.d. § 499 Abs. 2 BGB
stellt sich damit auch die oben angesprochene Frage nach der
Abdingbarkeit des § 449 Abs. 2 BGB nicht: Da die Rücknahme
der gelieferten Sache zwingend als Rücktritt zu werten ist, ist
eine Vereinbarung der Parteien, die dem Verkäufer die Rücknahme unter Aufrechterhaltung des Kaufvertrages gestattet,
bereits gem. § 506 S. 1 BGB i.V.m. § 134 BGB unwirksam.44
Bei Verbrauchsgüterkäufen unter Eigentumsvorbehalt, die
nicht zugleich Teilzahlungsgeschäfte i.S.d. § 499 Abs. 2 BGB
34
Habersack/Schürnbrand, JuS 2002, 833 (834 f.); vgl. auch
BGH 1986, 842 (843 f.) (noch zu § 9 AGBG und zu dem in
§ 326 BGB a.F. geregelten Fristsetzungserfordernis); a.A.
Schulze/Kienle, NJW 2002, 2842 (2843 f.) Im nicht unternehmerischen Geschäftsverkehr folgt die Unwirksamkeit
eines formularmäßigen Verzichts auf das Fristsetzungserfordernis aus § 309 Nr. 4 BGB.
35
Begr. RegE., BT-Drs. 14/6040, S. 123.
36
Vgl. BGHZ 54, 214 (219 f.); BGH NJW 1989, 895 (897);
NJW-RR 1998, 1065 (1067); NJW 2007, 2485 (2487 Rn. 15).
37
Westermann (Fn. 6), § 449 Rn. 33; zum Zweck des § 449
Abs. 2 BGB siehe ferner BGH NJW-RR 2008, 818 (821
Rn. 41); OLG Frankfurt/Main NJW-RR 2005, 1170 (1173).
38
Zur Rückabwicklung nach Rücktritt vom Vorbehaltskauf
siehe BGH NJW 2007, 2485 (2487 Rn. 16 f.).
39
BGH NJW-RR 2008, 818 (821 Rn. 41) m.w.N.
So auch Habersack/Schürnbrand, JuS 2002, 833 (836 f.);
zumindest im Geschäftsverkehr mit Verbrauchern hat § 449
Abs. 2 BGB eine Leitbildfunktion i.S.d. § 307 Abs. 2 Nr. 1
BGB, BGH NJW-RR 2008, 818 (821 Rn. 42); OLG Frankfurt/Main NJW-RR 2005, 1170 (1173).
41
Kurzer Überblick bei Habersack/Schürnbrand, JuS 2002,
833 (835).
42
BGH NJW 2002, 133 (135) (noch zu § 13 Abs. 3 VerbrKrG).
43
Schürnbrand, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 503
Rn. 45.
44
BGH NJW-RR 2008, 818 (821 Rn. 40).
40
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480
Eigentumsvorbehalt und Anwartschaftsrecht
sind,45 kann § 449 Abs. 2 BGB dagegen durch Individualvereinbarung abbedungen werden. Die Vorschrift gehört nämlich nicht zu den in § 475 Abs 1 BGB genannten Bestimmungen, von denen die Parteien nicht zum Nachteil des Verbrauchers/Käufers abweichen können.46 Eine formularmäßige
Abweichung von § 449 Abs. 2 BGB verstößt – jedenfalls im
Geschäftsverkehr mit Verbrauchern – allerdings gegen § 307
Abs. 2 Nr. 1 BGB und ist unwirksam.47
2. Vollstreckung durch Gläubiger des Vorbehaltskäufers,
Insolvenz des Vorbehaltskäufers
a) Pfändung der Sache durch Gläubiger des Vorbehaltskäufers
Wenn sich die Sache – wie in der Regel – im Gewahrsam des
Vorbehaltskäufers befindet, dann kann der Vorbehaltsverkäufer einer Pfändung durch Gläubiger des Vorbehaltskäufers nicht
nach § 809 ZPO widersprechen. Die Pfändung erfolgt in
diesem Fall nämlich gem. § 808 ZPO beim Schuldner. Nur
wenn der Vorbehaltverkäufer die Sache in Gewahrsam hat, verhindert seine fehlende Herausgabebereitschaft die Pfändung
durch Gläubiger des Käufers. Der Vorbehaltsverkäufer hat
aber ein Widerspruchsrecht nach § 771 ZPO,48 das der Vollstreckungsgläubiger dadurch beseitigen kann, dass er den
Restkaufpreis begleicht (vgl. § 267 Abs. 1 BGB) und so seinem Schuldner, dem Vorbehaltskäufer, zum Erwerb des
Eigentums verhilft.49 Nach der Verwertung der Sache kann
der Verkäufer nicht mehr Drittwiderspruchsklage nach § 771
ZPO erheben; er hat aber einen Bereicherungsanspruch gegen
den Vollstreckungsgläubiger.50
b) Insolvenz des Vorbehaltskäufers
Beim einfachen Eigentumsvorbehalt kann der Vorbehaltsverkäufer in der Insolvenz des Vorbehaltskäufers die Sache nach
§ 47 InsO aussondern, nachdem er wirksam vom Kaufvertrag
zurückgetreten ist und dadurch das Besitzrecht des Käufers
zerstört hat. Ansprüche auf Schadensersatz statt der Leistung
und auf Nutzungsersatz kann der Verkäufer als einfache Insolvenzforderung51 geltend machen. Der bereits gezahlte Kaufpreis ist an die Masse zurückzugewähren.
Im Hinblick auf das Recht des Verkäufers zum Rücktritt
ist zu unterscheiden: Hat der Insolvenzverwalter nach § 103
Abs. 1 InsO Erfüllung des Kaufvertrages gewählt, dann sind
die noch ausstehenden Kaufpreisraten als Masseschulden
(§ 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 InsO) vorweg zu berichtigen; der Verkäufer kann grds. erst zurücktreten, nachdem eine dem Verwalter gesetzte angemessene Zahlungsfrist fruchtlos verstri-
ZIVILRECHT
chen ist (vgl. § 323 Abs. 1 BGB).52 Dagegen ist der Verkäufer unmittelbar zum Rücktritt berechtigt, wenn der Insolvenzverwalter die Erfüllung nach § 103 Abs. 2 InsO ablehnt
oder sein Wahlrecht nicht fristgemäß ausübt (vgl. § 107
Abs. 2 S. 1 InsO).53
Beim verlängerten Eigentumsvorbehalt hat der Verkäufer
in der Insolvenz des Käufers an den Forderungen, die aus der
Weiterveräußerung der Sache resultieren und an deren Stelle
getreten sind (siehe oben I. 2. b)), nur ein Absonderungsrecht
nach § 51 Nr. 2 InsO.54 Beim erweiterten Eigentumsvorbehalt
kann der Verkäufer die Ware, die schon voll bezahlt ist und
daher nur noch der Sicherung anderer Forderungen des Verkäufers dient, ebenfalls nur absondern.55
3. Verlust des Vorbehaltseigentums
a) Bedingungseintritt
Der Käufer erwirbt nach § 158 Abs. 1 BGB Eigentum, wenn
mit der Bezahlung des vollständigen Kaufpreises die Bedingung eintritt. Das Vorbehaltseigentum des Verkäufers geht
unter. Auch Gläubiger des Käufers können ein Interesse daran haben, die Restkaufpreisschuld zu begleichen (siehe oben
I. 2. a) und unten VI. 1).
b) Veräußerung der Sache an einen Dritten
aa) Weiterveräußerung im Rahmen des verlängerten Eigentumsvorbehalts
Ferner verliert der Verkäufer sein Vorbehaltseigentum, wenn
der nach § 185 Abs. 1 BGB zur Veräußerung der Sache ermächtigte Verkäufer die Sache im eigenen Namen weiterveräußert. Der Verkäufer erwirbt aber die aus dem Weiterkauf resultierenden Forderung gegen den dritten Erwerber (siehe
oben I. 2. b)).
bb) Gutgläubiger Erwerb
Glaubt der dritte Erwerber, dass der veräußernde Vorbehaltskäufer Eigentümer der Sache ist, dann kommt ein gutgläubiger Erwerb nach §§ 932 ff. BGB in Betracht. Wenn der Vorbehaltskäufer Kaufmann ist, dann ist nach Maßgabe des
§ 366 Abs. 1 HGB auch der gute Glaube an die Befugnis des
Vorbehaltskäufers, über die Sache zu verfügen, geschützt.56
In Anbetracht der weiten Verbreitung des Eigentumsvorbehalts stellt die Rspr. hohe Anforderungen an den guten Glauben. Vor allem, wenn es um den Erwerb fabrikneuer Güter geht,
können den Erwerber Erkundigungspflichten treffen, deren
Nichtbeachtung den Vorwurf grober Fahrlässigkeit begründet
und einen gutgläubiger Erwerb verhindert (vgl. § 932 Abs. 2
BGB).57 Ggf. muss der Erwerber auch mit einem verlänger-
45
Zu denken ist etwa an den Fall, dass der Barzahlungspreis
200 Euro nicht übersteigt (vgl. §§ 499 Abs. 3, 491 Abs. 2
Nr. 1 BGB).
46
BGH NJW-RR 2008, 818 (821 Rn. 40).
47
Nachweise in Fn. 40.
48
BGHZ 54, 214 (218); Westermann (Fn. 6), § 449 Rn. 75.
49
Beckmann (Fn. 6), § 449 Rn. 86.
50
BGHZ 32, 240 (244).
51
Zu Schadensersatzansprüchen nach Ablehnung der Erfüllung durch den Verwalter siehe § 103 Abs. 2 S. 1 InsO.
52
BGH NJW-RR 2008, 818 (821 Rn. 43); ausführlich Huber,
NZI 2004, 57 (62).
53
Nachweise in Fn. 52.
54
Vgl. BGH JZ 1971, 505; Leible/Sosnitza, JuS 2001, 449
(456).
55
BGH NJW 1971, 799; BGHZ 98, 160 (170).
56
Siehe z.B. BGH NJW 1991, 2285 (2286).
57
Vgl. RGZ 143, 14 (18); BGHZ 10, 14 (17); BGH NJW
1989, 895 (897); w.N. bei Beckmann (Fn. 6), § 449 Rn. 38;
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481
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Johann Kindl
ten Eigentumsvorbehalt rechnen, vor allem dann, wenn ein
solcher in der betreffenden Branche üblich ist. Die Annahme
des Erwerbers, der veräußernde Vorbehaltskäufer sei verfügungsbefugt (§ 366 Abs. 1 HGB), beruht in einem solchen
Fall auf grober Fahrlässigkeit, wenn der Erwerber weiß, dass
die Vorausabtretung der gegen ihn gerichteten Forderung an
den Lieferanten des Vorbehaltskäufers ins Leere läuft. Grobe
Fahrlässigkeit muss sich der Erwerber z.B. dann vorwerfen
lassen, wenn er seine Leistung an seinen abtretungspflichtigen Vertragspartner schon im Voraus erbracht hat58 oder
wenn er mit diesem ein Abtretungsverbot gemäß § 399 Alt. 2
BGB vereinbart.59 Wenn das mit dem Vorbehaltskäufer getätigte Geschäft allerdings in den Anwendungsbereich des
§ 354a HGB fällt und ein Abtretungsverbot die Forderung
aus der Weiterveräußerung daher nicht ergreift, zerstört die
Vereinbarung eines Abtretungsverbotes den guten Glauben
des Erwerbers nicht.60 Scheitert ein gutgläubiger Erwerb der
Sache (z.B. weil der Erwerber nicht gutgläubig ist oder weil
ihm bei einer Sicherungsübereignung nach § 930 BGB die
Sache nicht übergeben worden ist (§ 933 BGB)), dann wird
immerhin die Anwartschaft (hierzu sogleich IV. 1) vom –
insoweit ja berechtigten – Vorbehaltskäufer erworben.61
c) Sonstiges
Des Weiteren erlischt das Vorbehaltseigentum des Verkäufers, wenn der Käufer durch Verbindung, Vermischung oder
Verarbeitung, also nach §§ 946 ff. BGB, das Eigentum an der
Sache erwirbt. Schließlich hält die h.M.62 in Rspr. und Literatur auch einen einseitigen Verzicht des Verkäufers auf sein
Vorbehaltseigentum für möglich, der dazu führt, dass der
Käufer das Eigentum erwirbt.
IV. Die Rechtsstellung des Vorbehaltskäufers
1. Anwartschaftsrecht
Der Vorbehaltskäufer hat es in der Hand, durch die vollständige Bezahlung des Kaufpreises den Bedingungseintritt herbeizuführen. Zwischenverfügungen des Verkäufers muss er
nicht fürchten (siehe sogleich 2.). Allerdings verliert er die
Aussicht auf den Erwerb des Volleigentums, wenn die Bedingung nicht mehr eintreten kann, etwa weil der Verkäufer
vom Kaufvertrag zurückgetreten ist oder der Vertrag wirksam
angefochten worden ist. Diese „schuldrechtliche Schwäche“
weniger streng als die Rspr. Baur/Stürner (Fn. 3), § 59
Rn. 13.
58
BGH NJW-RR 2004, 555f.
59
Vgl. BGH NJW 1999, 425 (426) (hierzu Masloff, JA 2000,
503); BGHZ 77, 274 (278).
60
Schmidt, NJW 1999, 400 f.; a.A. Faust (Fn. 2), § 449
Rn. 26.
61
Vgl. BGHZ 20, 88 (101); 35, 85 (91); 50, 45 (48).
62
Vgl. BGH NJW 1958, 1231 f.; BGHZ 127, 129 (133); aus
der Literatur Westermann (Fn. 6), § 449 Rn. 22; Bassenge, in:
Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 929 Rn. 32; Beckmann
(Fn. 6), § 449 Rn. 43; Baur/Stürner (Fn. 3), § 59 Rn. 14; a.A.
Grunewald (Fn. 27), § 449 Rn. 41; Jauernig (Fn. 28), § 929
Rn. 63; Pohlmann, NJW 1999, 190 (191 f.).
seiner Rechtsposition wirkt sich aber nur dann nachteilig für
ihn aus, wenn er dem Verkäufer durch eigene Vertragsuntreue einen Rücktrittsgrund liefert oder der Kaufvertrag anfechtbar ist. Da der Verkäufer ansonsten die Aussicht des
Käufers auf Erwerb des Volleigentums durch einseitige Erklärung nicht mehr zerstören kann, wird die Rechtsposition
des Käufers als Anwartschaftsrecht bezeichnet. Allgemein
spricht man von einem Anwartschaftsrecht, wenn von dem
mehraktigen Entstehungstatbestand eines Rechts schon so
viele Erfordernisse erfüllt sind, dass der Veräußerer die
Rechtsposition des Erwerbers nicht mehr durch einseitige
Erklärung zerstören kann.63 Die wohl h.M. in der Literatur
qualifiziert das Anwartschaftsrecht des Vorbehaltskäufers als
dingliches Recht.64 In der Rspr. ist das Anwartschaftsrecht
des Vorbehaltskäufers als Vorstufe zum Eigentum bezeichnet
worden, das im Vergleich zum Eigentum kein aliud, sondern
ein wesensgleiches minus sei.65 Freilich lassen sich aus der
Qualifizierung der Rechtsstellung des Käufers als Anwartschaftsrecht und dessen Umschreibung als Vorstufe zum
Eigentum keine konkreten Rechtsfolgen ableiten.66
2. Schutz vor Zwischenverfügungen des Vorbehaltsverkäufers
Der Vorbehaltsverkäufer, der bis zum Eintritt der Bedingung
Eigentümer bleibt, ist nicht gehindert, während der Schwebezeit anderweitig über die Sache zu verfügen. Derartige Zwischenverfügungen erfolgen regelmäßig nach § 931 BGB
durch Einigung und Abtretung des Herausgabeanspruchs gegen den Vorbehaltskäufer, in dessen Besitz sich die Sache
befindet. Vor einer Beeinträchtigung seiner Rechtsposition ist
der Vorbehaltskäufer aber durch §§ 160-162 BGB geschützt.
Hervorhebung verdient insofern § 161 Abs. 1 BGB, demzufolge Verfügungen, die getroffen werden, nachdem über den
Gegenstand unter einer aufschiebenden Bedingung verfügt
worden ist, im Falle des Bedingungseintritts insoweit unwirksam sind, als sie die von der Bedingung abhängige Wirkung
vereiteln oder beeinträchtigen würden. Kurz: Mit der Zahlung
des Restkaufpreises wird eine zwischenzeitlich erfolgte Veräußerung der Sache unwirksam und der Vorbehaltskäufer
erwirbt das Volleigentum.67 Wenn der dritte Erwerber, der ja
63
Vgl. BGHZ 45, 186 (189 f.); 49, 197 (201); 83, 395 (399);
vgl. auch Lux, Jura 2004, 145 (146); Medicus, Bürgerliches
Recht, 21. Aufl. 2007, Rn. 456, hält solche Definitionen schon
vom Ansatz her bedenklich.
64
Zur Rechtsnatur des Anwartschaftsrechts siehe etwa Westermann (Fn. 6), § 449 Rn. 40 ff.; die Rechtsfigur des Anwartschaftsrechts ablehnend Mülbert, AcP 202 (2002), 912
(936 ff.); nach Harke, JuS 2006, 385, ist das Anwartschaftsrecht nicht dem Eigentum ähnlich, sondern dem Pfandrecht.
65
BGHZ 28, 16 (21); BGH NJW 1984, 1184 (1185); weitere
Formulierungen der Rspr. finden sich bei Beckmann (Fn. 6),
§ 449 Rn. 61; siehe auch Baur/Stürner (Fn. 3), § 59 Rn. 33;
Schmidt-Recla, JuS 2002, 759 (760).
66
Insoweit besteht Einigkeit; siehe etwa Grunewald (Fn. 27),
§ 449 Rn. 27; Jauernig (Fn. 28), § 929 Rn. 43; Bassenge
(Fn. 62), § 929 Rn. 37; Beckmann (Fn. 6), § 449 Rn. 62.
67
Die in § 161 angeordnete Unwirksamkeit ist eine absolute,
siehe etwa Armbrüster, in: Erman, BGB, 12. Aufl. 2008, § 161
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ZJS 5/2008
482
Eigentumsvorbehalt und Anwartschaftsrecht
bis zum Bedingungseintritt Eigentümer ist, die Sache vom
Vorbehaltskäufer herausverlangt, so kann dieser jenem nach
§ 986 Abs. 2 BGB sein Recht zum Besitz gegenüber dem
Vorbehaltskäufer entgegenhalten.
Allerdings finden nach § 161 Abs. 3 BGB die Vorschriften zugunsten derjenigen, die Rechte von einem Nichtberechtigten herleiten, entsprechende Anwendung. Es fragt sich
daher, ob der Dritte kraft guten Glaubens endgültiges, nicht
von § 161 Abs. 1 BGB bedrohtes Eigentum erwirbt, wenn er
im Hinblick auf die bedingte Veräußerung redlich ist. In
Betracht kommt ein gutgläubiger Erwerb nach § 934 Alt. 1
BGB, der mittelbaren Besitz des Veräußerers voraussetzt.
Diese Voraussetzung ist hier erfüllt: Er ist mittelbarer (Eigen)Besitzer, dem gegenüber der Vorbehaltskäufer als unmittelbarer Fremdbesitzer auf Zeit – nämlich bis zum Eintritt oder
bis zum Ausfall der aufschiebenden Bedingung – zum Besitz
berechtigt ist (siehe § 868 BGB).68 Gleichwohl nützt dem
dritter Erwerber sein guter Glaube nichts, da § 936 Abs. 3
BGB entsprechend angewendet wird: Das Anwartschaftsrecht
des besitzenden Vorbehaltskäufers erlischt auch gegenüber
dem gutgläubigen Erwerber nicht.69
3. Recht zum Besitz
a) Obligatorisches Recht zum Besitz
Der Vorbehaltskäufer ist aus der Vorbehaltsabrede im Kaufvertrag gegenüber dem Vorbehaltsverkäufer zum Besitz berechtigt. Er kann daher die Herausgabe der Sache nach § 986
Abs. 1 S. 1 BGB verweigern, wenn sie vom Verkäufer nach
§ 985 BGB herausverlangt wird. Gegenüber dritten Erwerbern ist er durch § 986 Abs. 2 BGB geschützt (siehe soeben
2.).
b) Dingliches Recht zum Besitz
Die umstrittene Frage, ob das Anwartschaftsrecht ein gegenüber jedermann wirkendes dingliches Recht zum Besitz gewährt, ist von Bedeutung in dem Fall, dass ein Nichtberechtigter eine Sache bedingt übereignet hat. Da der Erwerber in
diesem Fall mit der Zahlung des Restkaufpreises das Volleigentum auch dann erwirbt, wenn er während der Schwebezeit
bösgläubig wird (siehe oben II. 2.), kann man hier von einem
gutgläubigen Erwerb des Anwartschaftsrechts sprechen.70
Wäre der gutgläubige Erwerber aus dem Anwartschaftsrecht
nicht gegenüber jedermann zum Besitz berechtigt, dann
müsste er die Sache zunächst an den Eigentümer herausgeben, dem er sein nur obligatorisches Besitzrecht aus dem KaufRn. 5; Jauernig (Fn. 28), §§ 160, 161 Rn. 3; anders offenbar
Westermann, in: Westermann (Begr.), Sachenrecht, 6. Aufl.
1990, § 39 III 2a.
68
Vgl. BGHZ 10, 69 (71); Lux, Jura 2004, 145 (150).
69
Ganz h.M.; vgl. Beckmann (Fn. 6), § 449 Rn. 64;
Baur/Stürner (Fn. 3), § 59 Rn. 46; Brox, JuS 1984, 657 (659);
im Ergebnis auch Döring, NJW 1996, 1443 (1445 ff.); eingehend Zeranski, AcP 203 (2003), 693 (695 ff.); unentschieden
Lux, Jura 2004, 145 (150).
70
Ein gutgläubiger Zweiterwerb ist nach der hier vertretenen
Auffassung nicht möglich, siehe unten V. 2. b).
ZIVILRECHT
vertrag mit dem nichtberechtigten Veräußerer nicht entgegensetzen könnte. Er bekäme sie erst zurück, wenn er mit Zahlung der letzten Rate das Eigentum erworben hätte. Während
der Schwebezeit müsste er auf die Nutzung der Sache verzichten und wäre zudem der Gefahr ausgesetzt, dass der Eigentümer mit der Sache nicht sorgfältig umgeht oder anderweitig wirksam (vgl. §§ 161 Abs. 3, 932) über sie verfügt. Da
dies nicht hinnehmbar erscheint, ist die Auffassung vorzugswürdig, die dem Anwärter ein dingliches Besitzrecht einräumt.71
4. Abwehr- und Schadensersatzansprüche
Der Anwärter hat Besitzschutzansprüche aus §§ 858 ff., 1007
BGB72 und kann neben dem Eigentümer die Ansprüche aus
§§ 985, 1004 BGB geltend machen.73 Darüber hinaus ist anerkannt, dass die Anwartschaft ein sonstiges Recht i.S.d.
§ 823 Abs. 1 BGB ist.74 Einigkeit besteht darüber, dass Ansprüche auf Ersatz des Nutzungsschadens, die z.B. aus einer
Besitzentziehung oder Beschädigung der Sache resultieren
können, allein dem Vorbehaltskäufer gebühren.75 Unsicherheit herrscht dagegen im Hinblick auf die rechtliche Behandlung des Substanzschadens. Insoweit gilt es zu berücksichtigen, dass der Käufer bereits einen – von der Höhe der geleisteten Anzahlung abhängigen – wirtschaftlichen Wert geschaffen hat und dass er wegen § 446 S. 1 BGB zur Bezahlung des
Restkaufpreises verpflichtet bleibt. Auf der anderen Seite
muss auf das Sicherungsinteresse des Verkäufers Rücksicht
genommen werden. Dieser Interessenlage wird am ehesten
die Auffassung76 gerecht, die für eine entsprechende Anwendung des § 432 BGB plädiert.77 Demnach können Käufer und
Verkäufer nur Leistung an beide gemeinsam fordern. Leistet
der Schädiger in Unkenntnis des Vorbehaltseigentums an den
Anwärter, der die Sache in seinem Besitz hatte, dann wird er
nach Maßgabe des § 851 BGB von seiner Verpflichtung frei.
71
OLG Karlsruhe NJW 1966, 885; Jauernig (Fn. 28), § 929
Rn. 60; Baur/Stürner (Fn. 3), § 59 Rn. 47; Westermann
(Fn. 67), § 39 IV 1 c; Kindl, JA 1996, 23 (28); im Ergebnis
auch Harke, JuS 2006, 385 (389); a.A. Lux, Jura 2004, 145
(151); Schmidt-Recla, JuS 2002, 759 (761); Zeranski, AcP
203 (2003), 693 (706 ff.); ferner BGHZ 10, 69 (72, 74 f.), wo
dem Käufer mit der Einrede der Arglist geholfen wird.
72
Lux, Jura 2004, 145 (151).
73
Müller-Laube, JuS 1993, 529; skeptisch Lux, Jura 2004,
145 (151 f.).
74
RGZ 170, 1 (6 f.); BGHZ 50, 20 (25 f.); OLG Koblenz
WM 1989, 535.
75
Siehe etwa Westermann (Fn. 6), § 449 Rn. 51.
76
Eine ausführliche Darstellung der unterschiedlichen Meinungen findet sich bei Müller-Laube, JuS 1993, 529 (531 ff.);
einen Überblick gibt Lux, Jura 2004, 145 (152).
77
Für eine entsprechende Anwendung des § 432 BGB Grunewald (Fn. 27), § 449 Rn. 37; Bassenge (Fn. 62), § 929
Rn. 43; Baur/Stürner (Fn. 3), § 59 Rn. 45; Brox, JuS 1984,
657 (660); Eichenhofer, AcP 185 (1985), 162 (190); Schreiber, Jura 2001, 623 (627).
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DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Johann Kindl
5. Vollstreckung durch Gläubiger der Vorbehaltsverkäufers,
Insolvenz des Vorbehaltsverkäufers
a) Widerspruchsrecht des Anwärters nach § 771 ZPO
Gegen eine Pfändung der Sache durch Gläubiger des Vorbehaltsverkäufers kann sich der Vorbehaltskäufer im Wege der
Drittwiderspruchsklage nach § 771 ZPO zur Wehr setzen.78
Zu einer derartigen Pfändung wird es in der Praxis allerdings
selten kommen: Wenn der Vorbehaltskäufer die Sache in
seinem Gewahrsam hat – und dies ist regelmäßig der Fall –,
dann können Gläubiger des Verkäufers sie gem. § 809 ZPO
nur unter der Voraussetzung pfänden, dass der Vorbehaltskäufer zur Herausgabe bereit ist. Von größerer praktischer
Bedeutung ist das Widerspruchsrecht des Anwartschaftsberechtigten nach § 771 ZPO in dem Fall, dass Gläubiger des
Vorbehaltskäufers die Sache pfänden, nachdem dieser das
Anwartschaftsrecht bereits auf einen Dritten übertragen hat.79
Dem Anwärter, der die Widerspruchsklage nicht rechtzeitig
vor der Verwertung der Sache erhoben hat, stehen Schadensersatz- und Bereicherungsansprüche gegen den Vollstreckungsgläubiger zu.80
b) Insolvenz des Vorbehaltsverkäufers
In der Insolvenz des Vorbehaltsverkäufers hat der Insolvenzverwalter kein Wahlrecht nach § 103 InsO.81 Dies ergibt sich
aus § 107 Abs. 1 S. 1 InsO, dem zufolge der Käufer Erfüllung des Kaufvertrages verlangen kann, wenn der Insolvenzschuldner vor Eröffnung des Verfahrens eine bewegliche Sache
unter Eigentumsvorbehalt verkauft und dem Käufer den Besitz an der Sache übertragen hat. Der Käufer erwirbt durch
Zahlung des Restkaufpreises Eigentum und kann aussondern
(§ 47 InsO). Das Anwartschaftsrecht ist also insolvenzfest.
6. Erlöschen des Anwartschaftsrechts
Das Anwartschaftsrecht erstarkt zum Volleigentum, wenn mit
Bezahlung des Restkaufpreises die aufschiebende Bedingung
eintritt oder wenn der Verkäufer auf sein Vorbehaltseigentum
verzichtet (hierzu oben III. 3 c)). Ferner erlischt das Anwartschaftsrecht, wenn die aufschiebende Bedingung ausfällt,
etwa weil nach Rücktritt vom Kaufvertrag die Zahlungspflicht des Käufers entfallen ist. Des Weiteren können Vorbehaltsverkäufer und Vorbehaltskäufer das Anwartschaftsrecht einvernehmlich aufheben.82 Die Aufhebung eines schon
übertragenen Anwartschaftsrechts durch Vertrag zwischen
Verkäufer und Käufer ist nur wirksam, wenn der dritte Erwerber der Verfügung des Käufers gem. § 185 Abs. 1 BGB
78
BGHZ 55, 20 (27); Jauernig (Fn. 28), § 929 Rn. 53; Beckmann (Fn. 6), § 449 Rn. 86.
79
Vgl. Baur/Stürner (Fn. 3), § 59 Rn. 48.
80
Vgl. BGHZ 32, 240 ff.; Westermann (Fn. 6), § 449 Rn. 46.
81
Vgl. Jauernig (Fn. 28), § 929 Rn. 56; Bassenge (Fn. 62),
§ 929 Rn. 59; Prütting, Sachenrecht, 33. Aufl. 2008, Rn. 397;
zur Kritik an der wenig klaren Regelung des § 107 Abs. 1
InsO Marotzke, JZ 1995, 803 (806 ff.).
82
BGHZ 92, 280 (288 f.); BGH NJW-RR 1998, 1065 (1067).
zustimmt.83 Ist das Anwartschaftsrecht in den Haftungsverband eines Grundpfandrechts gefallen (siehe unten VI. 2.),
kann es von den Parteien nicht ohne Zustimmung des Pfandgläubigers aufgehoben werden.84 Schließlich erlischt das Pfandrecht, wenn die Sache von einem Dritten rechtsgeschäftlich
erworben wird, sowie dann, wenn einer der gesetzlichen
Erwerbstatbestände der §§ 946 ff. BGB vorliegt.
V. Die Übertragung des Anwartschaftsrechts
1. Erwerb der Anwartschaft vom Berechtigten
Das Anwartschaftsrecht, dessen Übertragbarkeit heute allgemein anerkannt ist,85 wird wie das Eigentum übertragen, also
nach §§ 929 ff. BGB durch Einigung und Übergabe (surrogat), nicht nach §§ 413, 398 BGB durch Abtretung.86 Veräußert der Vorbehaltskäufer seine Anwartschaft, dann verfügt er
als Berechtigter. Der Verkäufer muss der Übertragung daher
nicht nach § 185 Abs. 1 BGB zustimmen, auch wenn der
Erwerber bei Bedingungseintritt unmittelbar von ihm Eigentum erwerben soll (siehe auch unten 3.).87 Die Parteien können zwar vereinbaren, dass der Vorbehaltskäufer nur mit Zustimmung des Verkäufers über das Anwartschaftsrecht verfügen darf; eine derartige Vereinbarung hat aber gem. § 137
BGB nur schuldrechtliche Wirkung.88 Da das Anwartschaftsrecht übertragbar ist, ist es auch verpfändbar. Die Verpfändung erfolgt nach den Vorschriften über die Verpfändung
von beweglichen Sachen, also nach §§ 1204 ff. BGB.89 Erwirbt der Käufer mit Eintritt der aufschiebenden Bedingung
das Eigentum an der Sache, dann setzt sich das Pfandrecht an
der Anwartschaft analog § 1287 BGB als Pfandrecht an der
Sache fort.
2. Gutgläubiger Erwerb vom Nichtberechtigten
a) Bedingte Einigung mit Nichtberechtigtem
Dass durch eine bedingte Einigung mit einem Nichtberechtigten ein Anwartschaftsrecht erworben werden kann, folgt ganz
einfach daraus, dass ein gutgläubiger Erwerb nach §§ 932 ff.
BGB nicht daran scheitert, dass der Erwerber in dem Zeit83
Flume, AcP 161 (1962), 385 (393 f.); Grunewald (Fn. 27),
§ 449 Rn. 29; a.A. BGHZ 35, 85 (94); zurückhaltend auch
BGHZ 75, 221 (226), wonach der Erwerber immerhin eine
vertragliche Erweiterung des Eigentumsvorbehalts nicht
hinnehmen muss.
84
Anders die Rspr., BGHZ 92, 280 (290 f.); Kritik an dieser
Rspr. üben Kollhosser, JZ 1985, 370; Tiedtke, NJW 1985,
1305; Ludwig, NJW 1989, 1458; eingehend Mand, Jura 2004,
221 (223 ff.).
85
Siehe bereits RGZ 101, 185 (187) (zur Anwartschaft des
Nacherben).
86
BGH NJW 1984, 1184 (1185).
87
Grundlegend BGHZ 20, 88 (98 ff.), unter Abweichung von
RGZ 140, 223; ebenso BGHZ 28, 16 (22); 30, 374 (377); 35,
85 (87); 50, 45 (49).
88
Vgl. BGHZ 56, 123 (126); BGH NJW 1970, 699; Jauernig
(Fn. 28), § 929 Rn. 47.
89
BGHZ 35, 85 (93); zum Schutz des Pfandrechts am Anwartschaftsrecht Frank, NJW 1974, 2211.
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ZJS 5/2008
484
Eigentumsvorbehalt und Anwartschaftsrecht
raum zwischen bedingter Übereignung und Bedingungseintritt bösgläubig wird (siehe oben II. 2.).
b) Gutgläubiger Zweiterwerb
Heftig umstritten ist die Frage nach der Möglichkeit eines
gutgläubigen Zweiterwerbs des Anwartschaftsrechts, der in
Betracht kommt, wenn der nicht berechtigte Veräußerer behauptet, er sei zwar nicht Eigentümer der in seinem Besitz
befindlichen Sache, habe aber ein Anwartschaftsrecht an ihr.
Die wohl h.M. hält einen gutgläubigen Erwerb grds. für möglich, etwa in dem Fall, dass der Anwärter die Sache einem
Dritten überlassen hat, der dann die angeblich ihm zustehende Anwartschaft weiterveräußert.90 Teilweise wird ein redlicher Erwerb bereits für möglich gehalten, wenn nur die
zugrunde liegende Kaufpreisforderung existiert, ohne dass
jemals ein Anwartschaftsrecht entstanden ist. Denkbar ist dies
etwa in dem Fall, dass der Kaufvertrag zwar wirksam ist, die
bedingte dingliche Einigung aber an einem Mangel leidet.91
Zutreffend erscheint es dem gegenüber, die Möglichkeit eines
gutgläubigen Zweiterwerbs der Anwartschaft rundweg abzulehnen:92 Wer der Behauptung des Veräußerers, er sei Inhaber eines Anwartschaftsrechts, Glauben schenkt, vertraut auf
dessen bloßes Gerede und nicht auf einen vom Gesetz anerkannten Rechtsscheinträger. Es fehlt also an der Grundlage
für einen redlichen Erwerb. Daran ändert auch der Umstand
nichts, dass der angebliche Anwärter die Sache in seinem
Besitz hat. Vom Besitz strahlt nämlich nur ein Rechtsschein auf
das Eigentum aus, nicht auf die Anwartschaft.
Einig ist man sich immerhin darüber, dass ein Gutglaubensschutz im Hinblick auf die schuldrechtliche Grundlage
der Anwartschaft nicht in Betracht kommt.93 Ein gutgläubiger
Erwerb ist daher jedenfalls ausgeschlossen, wenn die aufschiebende Bedingung infolge anfänglichen Fehlens oder
späteren Wegfalls der Kaufpreisforderung gar nicht eintreten
kann.94 Nicht geschützt wird darüber hinaus der gute Glaube
in den Wert des Anwartschaftsrechts,95 der mit jeder Rate, die
zur Tilgung der Kaufpreisforderung gezahlt wird, ansteigt.
ZIVILRECHT
3. Die Rechtsstellung des Erwerbers
Der Erwerber der Anwartschaft rückt in vollem Umfang in
die Rechtsstellung des Veräußerers ein. Mit Eintritt der aufschiebenden Bedingung erwirbt er unmittelbar vom Vorbehaltsverkäufer das Eigentum.96 Es findet also ein Direkterwerb vom Vorbehaltseigentümer statt. Der veräußernde Vorbehaltskäufer wird nicht einmal für eine juristische Sekunde
Durchgangseigentümer.
Die Anwartschaft wird nicht unabhängig von ihrer
schuldrechtlichen Grundlage erworben,97 so dass der Erwerber das Risiko trägt, seine Anwartschaft wegen Ausfalls der
Bedingung zu verlieren. Zu einem Bedingungsausfall kommt
es z.B., wenn der Vorbehaltsverkäufer vom Kaufvertrag zurücktritt oder ihn anficht. Einen Rücktritt des Verkäufers wegen
Zahlungsverzugs kann der Erwerber der Anwartschaft aber
abwenden, indem er die Restkaufpreisforderung begleicht.98
Bis zu ihrem Eintritt oder Ausfall können die Parteien des
Kaufvertrags die aufschiebende Bedingung zwar ändern.99
Nach der Übertragung des Anwartschaftsrechts auf einen
Dritten können sie aber nicht mehr die Begleichung anderer
als der ursprünglich gesicherten Forderungen zur Bedingung
für den Erwerb des Vollrechts machen.100 Vereinbarungen
der Parteien über die Aufhebung der Anwartschaft ohne Zustimmung des Erwerbers sind unwirksam (siehe oben IV. 6.).
VI. Die Verwertung des Anwartschaftsrechts
1. Zugriff durch Gläubiger des Vorbehaltskäufers
Wenn – wie dies regelmäßig der Fall ist – der Vorbehaltskäufer die Sache in seinem Gewahrsam hat, dann stehen einer
Pfändung der Sache durch seine Gläubiger zwar keine vollstreckungsrechtlichen Hindernisse im Wege (siehe oben III.
2. a)). Da der Käufer aber erst Anwärter und noch nicht Eigentümer ist, wird die Sache durch die Pfändung nur verstrickt, ohne dass ein Pfändungspfandrecht an ihr entsteht.101
Ein Pfändungspfandrecht entsteht nach § 185 Abs. 2 BGB
erst zu dem Zeitpunkt, zu dem der Vorbehaltskäufer das
Eigentum erwirbt. Während der Schwebezeit ist der Vollstreckungsgläubiger unterschiedlichen Gefahren ausgesetzt: Er
96
BGHZ 56, 123 (126 f.).
Westermann (Fn. 6), § 449 Rn. 53 f.; siehe auch BGHZ 75,
221, 225 f.
98
BGHZ 35, 85 (94).
99
BGHZ 42, 53 (58); 75, 221.
100
BGHZ 75, 221 (226 f.); zur Rechtsstellung des Vorbehaltskäufers nach Übertragung des Anwartschaftsrechts Gernhuber,
in: Grunsky (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 1981, S. 31 ff.
101
So jedenfalls die herrschende gemischt privat-öffentlichrechtliche Theorie; vgl. Gruber, in: Münchener Kommentar
zur ZPO, 3. Aufl. 2007, § 804 Rn. 11; Rosenberg/
Gaul/Schilken, Zwangsvollstreckungsrecht, 11. Aufl. 1997,
§ 50 III 3 a) (S. 777 ff.); zu dieser Auffassung tendierend
auch BGH NJW 1992, 2570 (2573 f.). Demgegenüber entsteht nach der zutreffenden öffentlichrechtlichen Theorie mit
jeder wirksamen Pfändung ein Pfändungspfandrecht, statt aller
Münzberg, in: Stein/Jonas, Kommentar zur ZPO, 22. Aufl. 2002,
§ 804 Rn. 1 (siehe auch Rn. 7 ff. und 16 ff.).
97
90
Jauernig (Fn. 28), § 929 Rn. 45; Baur/Stürner (Fn. 3), § 59
Rn. 39; die Möglichkeit eines gutgläubigen Erwerbs bejahen
ferner BGHZ 75, 221 (225); Prütting (Fn. 81), Rn. 393.
91
Vgl. etwa Serick, Eigentumsvorbehalt und Sicherungsübertragung, Bd. I, 1963, S. 271; Bassenge (Fn. 62), § 929
Rn. 46.
92
Ebenso Westermann (Fn. 6), § 449 Rn. 64; Gursky, in:
Westermann (Begr.), Sachenrecht, 6. Aufl. 1990, § 45 III 1d;
Brox, JuS 1984, 657 (662); Flume, AcP 161 (1962), 385 (394
ff.); Schreiber, Jura 2001, 623 (627); skeptisch auch Lux, Jura
2004, 145 (149).
93
BGHZ 75, 75 (221, 225).
94
Baur/Stürner (Fn. 3), § 59 Rn. 40; Gursky (Fn. 92), § 45 III
1d.
95
Westermann (Fn. 6), § 449 Rn. 64; Bassenge (Fn. 62),
§ 929 Rn. 46.
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485
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Johann Kindl
muss befürchten, dass der Vorbehaltsverkäufer Drittwiderspruchsklage nach § 771 ZPO erhebt. Er kann zwar das Widerspruchsrecht des Verkäufers durch Zahlung des Restkaufpreises nach § 267 Abs. 1 BGB beseitigen; der Verkäufer
kann aber die Zahlung zurückweisen, wenn der Käufer widerspricht (§ 267 Abs. 2 BGB). Darüber hinaus muss der
Vollstreckungsgläubiger befürchten, dass der Vorbehaltskäufer während der Schwebezeit sein Anwartschaftsrecht auf
einen Dritten überträgt. Da in diesem Fall der Vorbehaltskäufer zu keinem Zeitpunkt Eigentümer der Sache wird (siehe
oben V. 3.), kann der Vollstreckungsgläubiger nicht nach
§ 185 Abs. 2 BGB mit Bedingungseintritt auch ein Pfändungspfandrecht erwerben. Schließlich besteht die Gefahr,
dass die Anwartschaft in den Haftungsverband eines Grundpfandrechts fällt oder einem gesetzlichen Pfandrecht unterliegt, das sich bei Bedingungseintritt an der Sache fortsetzt
und dem – nach § 185 Abs. 2 BGB nur mit Wirkung ex nunc
entstehenden Pfändungspfandrecht – im Rang vorgeht (siehe
unten 2.). Alles in allem ist die Pfändung allein der Sache(??)
aus Sicht des Vollstreckungsgläubigers mit erheblichen Unsicherheiten belastet.
Wenig gedient ist einem Gläubiger des Vorbehaltskäufers
auch mit der alleinigen Pfändung des Anwartschaftsrechts.
Eine derartige Pfändung erfolgt als Rechtspfändung nach
§§ 829, 857 Abs. 1 ZPO;102 sie wird bewirkt durch Zustellung des Pfändungsbeschlusses an den Vorbehaltsverkäufer
als Drittschuldner (vgl. § 829 Abs. 3 ZPO).103 Durch die
Pfändung wird das Anwartschaftsrecht, dessen Inhaber der
Vorbehaltskäufer ja tatsächlich ist, mit einem Pfändungspfandrecht belastet. Dies nützt dem Vollstreckungsgläubiger
aber wenig, da nach h.M.104 das Pfandrecht an der Anwartschaft erlischt, wenn der Käufer mit der Zahlung des Restkaufpreises Volleigentum erwirbt. Mangels Publizität der
Pfändung (kein Besitz des Gerichtsvollziehers, kein Pfandsiegel!) scheidet danach ein Fortbestand des Pfandrechts nach
Bedingungseintritt kraft dinglicher Surrogation analog
§§ 1287 BGB, 847 ZPO als Pfandrecht an der Sache aus.
Nötig ist daher eine Pfändung sowohl der Sache als auch
der Anwartschaft. Die Pfändung der Sache ist erforderlich,
damit der Vollstreckungsgläubiger nach § 185 Abs. 2 BGB
mit Eintritt der Bedingung ein Pfändungspfandrecht an ihr
erwirbt. Durch die Pfändung der Anwartschaft beugt der
Vollstreckungsgläubiger den oben dargestellten Gefahren
vor, die ihm während der Schwebezeit drohen: Das Vollstreckungsgericht erlässt nach § 829 Abs. 1 S. 2 ZPO ein Verfügungsverbot, das nicht nur Verfügungen des Vorbehaltskäufers über die Anwartschaft verhindert, sondern auch dessen
102
BGH NJW 1954, 1325; Baur/Stürner (Fn. 3), § 59 Rn. 41;
a.A. Eichenhofer, AcP 185 (1985), 162 (179 ff.).
103
BGH NJW 1954, 1325; die Drittschuldnerstellung des
Vorbehaltsverkäufers bezweifelnd BGHZ 49, 197 (205).
104
BGH NJW 1954, 1325; OLG Hamburg MDR 1959, 398;
Bassenge (Fn. 62), § 929 Rn. 55.Vorzugswürdig ist freilich
die Gegenauffassung, der zufolge sich das Pfandrecht an der
Anwartschaft in analoger Anwendung der §§ 1287 BGB, 847
ZPO nach Bedingungseintritt fortsetzt; vgl. Baur/Stürner
(Fn. 3), § 59 Rn. 41; Medicus (Fn. 63), Rn. 486.
Widerspruchsrecht nach § 267 Abs. 2 BGB beseitigt. Ferner
bestimmt sich der Rang des Pfändungspfandrechts an der
Sache, das der Gläubiger mit Zahlung des Restkaufpreises erwirbt, nach dem Zeitpunkt der Pfändung des Anwartschaftsrechts.105
2. Haftungsverband/gesetzliche Pfandrechte
Bereits die von einem Grundstückseigentümer erworbene Anwartschaft an einem Zubehörstück fällt in den Haftungsverband eines Grundpfandrechts nach § 1120 BGB.106 Ebenso
erstrecken sich gesetzliche Pfandrechte auch schon auf das
Anwartschaftsrecht, also z.B. das Pfandrecht des Vermieters
(§ 562 BGB) auf das Anwartschaftsrecht, das der Mieter an
den von ihm eingebrachten Sachen hat.107 Mit Bedingungseintritt erstarkt das Pfandrecht an der Anwartschaft in analoger Anwendung des § 1287 BGB zum Pfandrecht an der
Sache.108 Wenn die mit einem Pfandrecht belastete Anwartschaft einem Dritten nach § 930 BGB zur Sicherung übertragen wird, dann setzt sich die Belastung an dem Sicherungseigentum fort, das der Dritte mit Bedingungseintritt erwirbt.109
Dass der Sicherungsnehmer das Eigentum – ohne den Umweg über den Vorbehaltskäufer – unmittelbar vom Vorbehaltsverkäufer erwirbt, nützt ihm also nichts. Dieses Ergebnis
ist auch deswegen gerechtfertigt, weil ansonsten der Sicherungsnehmer, dem vom Sicherungsgeber nur die Anwartschaft nach § 930 BGB übertragen wird, besser stünde als derjenige, dem sogleich das Volleigentum übertragen wird.110
Der Pfandgläubiger muss es nach Auffassung der Rspr. allerdings hinnehmen, wenn Verkäufer und Käufer das mit seinem Pfandrecht belastete Anwartschaftsrecht einvernehmlich
aufheben.111
3. Pfändung der Sache durch den Vorbehaltsverkäufer
Kurz angesprochen sei abschließend die für den Vorbehaltsverkäufer bestehende Möglichkeit, wegen der Kaufpreisforderung seine eigene Sache zu pfänden und sie verwerten zu
lassen.112 Es handelt sich hierbei zwar um die Pfändung einer
dem Käufer nicht gehörenden, also einer schuldnerfremden
Sache, so dass nach h.M.113 kein Pfändungspfandrecht entsteht; eine Verwertung der Sache ist aber aufgrund der öffent105
Vgl. Reinicke, MDR 1959, 613 (616 f.); Tiedtke, NJW
1972, 1404 (1405).
106
Dies ist seit langem anerkannt, vgl. BGHZ 35, 85 (88 ff.);
92, 280 (289); zum Inventarpfandrecht nach dem PachtkredG
BGHZ 54, 319 (330 f.); Mand, Jura 2004, 221.
107
BGH NJW 1965, 1475; OLG Düsseldorf NJW-RR 1998,
559 (560).
108
BGHZ 35, 85 (94 f.); OLG Düsseldorf NJW-RR 1998,
559 (560).
109
OLG Düsseldorf NJW-RR 1998, 559 (560); vgl. auch
BGH NJW 1992, 1156 (1157).
110
BGH NJW 1992, 1156 (1157).
111
Siehe oben IV. 6. mit Nachweisen in Fn. 84.
112
Vgl. BGH NJW 2007, 2485 (2486) Rn. 14; Westermann
(Fn. 6), § 449 Rn. 37.
113
Nachweise in Fn. 101.
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486
Eigentumsvorbehalt und Anwartschaftsrecht
ZIVILRECHT
lichrechtlichen Verstrickung gleichwohl möglich.114 Vor
einer Drittwiderspruchsklage nach § 771 ZPO, die ja nur er
selbst erheben könnte, muss sich der Vorbehaltsverkäufer
nicht fürchten. Unter den Voraussetzungen des § 811 Abs. 2
ZPO sind für den Vorbehaltseigentümer auch Gegenstände
pfändbar, für die ansonsten nach § 811 Abs. 1 Nr. 1, 4, 5 bis
7 ZPO Pfändungsschutz bestünde. Wenn der Gerichtsvollzieher die Sache nicht im Gewahrsam des Schuldners belässt,
sondern sie ihm wegnimmt (siehe § 808 Abs. 1 und 2 ZPO),
dann liegt bereits darin – und nicht erst in der Verwertung115
– ein Wiederansichnehmen i.S.d. § 503 Abs. 2 S. 4 BGB
(siehe oben III. 1. b)).116
114
RGZ 156, 395.
So noch die h.M. zu § 5 AbzG; vgl. BGHZ 39, 97; 55, 59.
116
H.M.; siehe Schürnbrand (Fn. 43), § 503 Rn. 56 m.w.N.
115
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487
Die Lehre von der objektiven Zurechnung und ihre Anwendung – Teil 1
Von Prof. Dr. Ingeborg Puppe, Bonn
I. Verstehen, Lernen, Anwenden
„So sind wir an unser Jurastudium gegangen: Erst einmal
müssen wir lernen, verstehen können wir dann später.“ Das
erklärte mir unlängst eine junge Juristin. So lernen moderne
Studenten Begriffsdefinitionen, Aufbauschemata und sog.
Formeln zur Lösung einzelner Rechtsprobleme auswendig, in
der Meinung, dass sie zum Verstehen keine Zeit haben. Das
nötige Verständnis, so hoffen sie, werde ihnen schon zuwachsen, wenn ihnen in der Klausur das einschlägige Stichwort eingefallen ist und sie es anwenden sollen. Nichts ist
verkehrter als dies, und nichts ist zeitraubender, als eine falsche Methode des Lernens. Die Ergebnisse dieses Lernens
bekommen wir Rechtslehrer in jeder Unterrichtsstunde und
jedem Klausurtermin vorgeführt. Uns fliegen Stichworte an
den Kopf, z.B. Schutzzweck der Norm oder Realisierung des
unerlaubten Risikos, und dann erwartet der Stichwortgeber,
für sein gutes Wissen gelobt zu werden. Wenn ich ihn stattdessen frage, ob das bezeichnete Erfordernis im gerade besprochenen Fall erfüllt ist, bekomme ich meistens die Antwort „ja“. Bin ich jetzt immer noch nicht zufrieden, weil ich
wissen möchte, durch welche Tatsachen des gegebenen
Sachverhalts der Begriff denn erfüllt ist oder was der Stichwortgeber unter diesem Begriff versteht, herrscht Funkstille.
Der Glaube, die Lösung des Falles werde herausspringen,
wenn man nur das Zauberwort oder die Zauberformel kennt,
erweist sich also als Aberglaube. Aber die wenigsten Studenten ziehen aus dieser Erfahrung die Konsequenz, dass nicht
das Lernen, sondern das Verstehen am Anfang des Studiums
eines jeden Rechtsproblems steht. Was sie nicht verstanden
haben, werden sie sich auch nicht merken, und selbst wenn
sie es sich gemerkt haben, werden sie es nicht anzuwenden
wissen. Aber darin liegt die besondere Schwierigkeit des
juristischen Studiums, dass man vom Studenten nicht nur die
Wiedergabe seines Wissens, sondern dessen Anwendung auf
einen Einzelfall verlangt.
Mit den Begriffen im Recht verhält es sich ähnlich wie
mit Werkzeugen. Man kann sie nur dann richtig anwenden,
wenn man verstanden hat, wozu sie gebraucht werden, d.h.
wenn man das Problem verstanden hat, dass durch die Anwendung dieser Begriffe auf einen Fall gelöst werden soll.
Die Jurisprudenz ist eine praktische Wissenschaft, deshalb
sind zum Verständnis ihrer Probleme Beispiele unerlässlich.
In modernen Lehrbüchern finden sich reichlich Beispiele,
meist besonders hervorgehoben. Die Erörterung eines jeden
Rechtsproblems beginnt mit einem oder einer Reihe von
Beispielen. Aber es ist nun auch nicht damit getan, sich diese
Beispiele zu merken. In der Klausur werden Sie das Problem
in ein anderes Beispiel eingekleidet finden und man erwartet
von Ihnen, dass Sie es wiedererkennen. Deshalb müssen Sie
das Problem aus den Beispielen heraus abstrahieren. Versuchen Sie es abstrakt zu formulieren, indem Sie erklären, warum es gerade in Ihrem Fall einschlägig ist. Erst die Frage,
dann die Antwort. Das bedeutet der Ausdruck Gutachtenstil,
nicht die stereotype Verwendung von Satzeinleitungen wie
„es fragt sich, ob …“ oder „es ist zu prüfen, ob …“. Die Auswendiglerner platzen meist mit der Antwort heraus, ehe sie
die Frage gestellt haben. Beim Lernen sollten Sie erst einmal
versuchen, die Rechtsfrage selbst zu beantworten, ehe Sie die
Ihnen von der Rechtsprechung oder Literatur reichlich dargebotenen Antworten zur Kenntnis nehmen. Das gilt für jeden
Studierenden, auch für den blutigsten Anfänger. Denn nur
wenn Sie die Beantwortung der Frage selbst versucht haben,
haben Sie die Frage verstanden und können sich eine Vorstellung und ein Urteil über die Antworten bilden, die die Rechtsprechung und die Literatur Ihnen anbietet.
Dabei müssen Sie bedenken, dass Ihre Antwort, also die
Regel, die Sie zur Lösung des Problems anwenden, nicht nur
auf Ihren Einzelfall „passen“ muss, d.h. den Fall zu einem
das Gefühl befriedigenden Ergebnis führen muss, sondern
auch auf andere Fälle, d.h. in diesen nicht ein inakzeptables
Ergebnis erzeugen darf. Zwar kann man von jeder Regel eine
Ausnahme machen und von dieser Ausnahme wenn nötig
wieder eine Gegenausnahme, aber je mehr Ausnahmen man
von einer Regel machen muss, desto schlechter ist diese Regel, nicht nur deshalb, weil der Rechtskandidat sich außer der
Regel noch all die Ausnahmen merken muss, sondern vor
allem deshalb, weil eine solche Regel eben nichts regelt und
deshalb weder Klarheit noch Gleichheit, noch Rechtssicherheit garantiert.
Aber jede Regel ist nur zur Beantwortung einer Rechtsfrage da. Also hüten Sie sich vor Universalformeln, die Ihnen
deshalb angepriesen werden, weil Sie zur Lösung vieler Probleme, etwa aller Probleme der objektiven Zurechnung, geeignet sein sollen. Die universale Anwendbarkeit solcher Formeln hat nämlich ihren Grund nur darin, dass diese Formeln
nichts aussagen. Mit einem Satz, der nichts aussagt, kann
man alles begründen, was man begründen will. Eine solche
Formel lautet z.B.: „in dem Erfolg muss sich eine unerlaubte
Gefahr realisiert haben“. Dieser Satz sagt nichts aus, solange
nicht erklärt wird, was eine unerlaubte Gefahr ist und welche
Beziehung zwischen einer unerlaubten Gefahr und einem
Erfolg bestehen muss, wenn sich diese Gefahr in dem Erfolg
„realisiert“ hat. Mit dem Ausdruck Schutzzweck der Norm
steht es nicht viel besser, solange nicht klar ist, auf welche
Normen sich der Schutzzweck beziehen soll und mit welchen
Methoden man ihn ermittelt, vor allem aber, zur Lösung
welchen Problems der Begriff des Schutzzwecks der Norm
überhaupt nötig ist. Wir werden darauf noch zurückkommen.
Ob ein Bearbeiter die Regel oder den Begriff, die er für
die Lösung seines Falles in Anspruch nimmt, verstanden oder
nur auswendig gelernt hat, zeigt sich erst, wenn er ihn auf
seinen Fall anwenden soll. Die meisten Kandidaten unterschätzen diese Aufgabe und meinen, sie hätten den Fall eigentlich schon gelöst, sobald sie die einschlägigen Stichworte
erkannt haben. Aber hier ist der Ort, wo eine gewisse denkerische Eigenleistung vom Fallbearbeiter verlangt wird. Er soll
die Elemente des Sachverhalts mit den Rechtsbegriffen dergestalt verknüpfen, dass klar wird, durch welche Tatsachen
der Begriff erfüllt wird. Die Hilflosigkeit auch fortgeschrittener Rechtskandidaten bei der Erfüllung dieser Aufgabe, gerade
wenn es um Erfordernisse der objektiven Zurechnung geht,
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ZJS 5/2008
488
Die Lehre von der objektiven Zurechnung und ihre Anwendung – Teil 1
die ich so oft beobachtet habe, hat mich bewogen, diesen
Artikel zu verfassen.
II. Die Kausalität zwischen Handlung und Erfolg als
grundlegende Beziehung der Zurechnung
1. Der Fall: Der gefährliche Patient
In der Entscheidung BGHSt 49, 1 ff. ging es um zwei leitende Ärzte einer psychiatrischen Klinik, in der ein wegen
schwerer Gewaltdelikte und Sexualdelikte verurteilter Patient, der von ihnen nach wie vor als hochgradig gefährlich und
nicht therapierbar beurteilt wurde, zur Sicherung untergebracht war. Schon zwei Mal war dieser Patient aus der Klinik
ausgebrochen, indem er die Stäbe eines unter Denkmalschutz
stehenden schwachen Fenstergitters auseinander gebogen
hatte. Diesem Patienten hatten die Angeklagten unbeaufsichtigten Ausgang genehmigt, den er dazu ausnutzte, zwei alte
Frauen zu töten und mehrere sexuelle Nötigungen zu begehen. Das Landgericht sprach die beiden Ärzte vom Vorwurf
der fahrlässigen Tötung frei, weil der Patient sich die Freiheit
durch einen erneuten Ausbruch hätte verschaffen können,
wenn sie ihm nicht durch den Ausgang zuteil geworden wäre.
Deshalb fehle es jedenfalls an der Kausalität des Verhaltens
der Ärzte für die von ihrem Patienten begangenen Verbrechen. Damit hat das LG genau die Methode zur Bestimmung
und Feststellung der Kausalität angewandt, die die ganz h.L.
und auch der BGH propagiert. Danach ist ein Verhalten nur
dann kausal für einen Erfolg, wenn es nicht hinweggedacht
werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele1, oder, um das
etwas weniger schülerhaft auszudrücken, wenn es notwendige Bedingung für dessen Eintritt war.
2. Das Problem: Welches Bedingungsverhältnis besteht zwischen dem Erfolg und dem Verhalten eines Täters, wenn er
für den Erfolg verantwortlich sein soll
Diese Bestimmung der Kausalität als erste Voraussetzung der
Erfolgszurechnung leuchtet auf den ersten Blick auch ein.
Nur wenn es vom falschen Verhalten des Täters abhing, ob
der Erfolg eintritt oder nicht, soll er für ihn verantwortlich
sein. Vom falschen Verhalten des Täters hängt das aber nur
dann ab, wenn dieses notwendige Bedingung für den Eintritt
des Erfolges war. Aber die Konsequenzen für den Rechtsgüterschutz wären verheerend, wenn man mit der Bestimmung
der Ursache als notwendige Bedingung des Erfolgseintritts
wirklich ernst machen würde, sofern der Erfolg im Einzelfall
auf verschiedene Weise hätte eintreten können. Haben mehrere an einem Unfall beteiligte Fahrer sich jeweils so sorgfaltswidrig verhalten, dass jeder Fahrfehler für die Erklärung
des Unfalls ausreicht, so könnte sich jeder von ihnen damit
entlasten, dass es dem Opfer nichts genützt hätte, wenn er
sich richtig verhalten hätte, da das Fehlverhalten des anderen
zur Herbeiführung des Unfalls ja genügte. (Auf diese Konstellation werden wir noch zu sprechen kommen).
STRAFRECHT
Ein weiterer Fall, in dem sich jeder Beteiligte zu seiner Entlastung auf die Pflichtverletzung eines anderen berufen könnte ist der, dass das Fehlverhalten des Täters eine Gefahr herbeigeführt hat, die durch einen anderen im Fall bereits angelegten Umstand, eine sog. Ersatzursache, herbeigeführt worden wäre, wenn der Täter sich richtig verhalten hätte. So liegt
der Fall hier. Hätten die Angeklagten, wie es ihre Pflicht
gewesen wäre, dem Patienten den Ausgang verweigert, so
hätte er sich die Freiheit erneut durch Verbiegen der denkmalgeschützten Gitterstäbe verschaffen können. Nach dem
Zweifelsgrundsatz muss der Richter davon ausgehen, dass er
dies auch getan hätte. Dann wären die beiden alten Frauen
ebenfalls umgebracht worden. Ihr Schicksal hing also nicht
vom Fehlverhalten der Ärzte ab. Aber es hing ja auch nicht
vom maroden Zustand der denkmalgeschützten Gitterstäbe
ab, weil der Patient sie gar nicht durchbiegen musste, um die
Freiheit zu gewinnen. Die Konsequenz der Lehre von der
Ursache als notwendige Bedingung wäre auch in dieser Fallkonstellationen also die, dass keiner der Beteiligten für das
Unglück der Opfer verantwortlich wäre, weder die behandelnden Ärzte noch die für die Sicherheit der Klinik zuständigen Personen. Dieses Ergebnis ist nicht akzeptabel und der
BGH hat es denn auch nicht akzeptiert.
Zur Begründung dafür, dass die Ärzte für die Straftaten
ihres Patienten verantwortlich sind, führt der BGH folgendes
aus: „Dass die hypothetische Möglichkeit eines gewaltsamen
Entweichens des S nicht die Kausalität des von dem Angeklagten zu verantwortenden Ausgangs beseitigen kann, belegt
auch die Verantwortung Dritter für die Sicherheit des Klinikgebäudes […]. Im Fall einer Erfolgsverursachung nach einem
Ausbruch hätten anstelle der Angeklagten […] nämlich diejenigen Personen S (dem Patienten) die Freiheit verschafft, die
für die infolge pflichtwidrigen Unterlassens fehlenden Sicherungen der geschlossen Station der psychiatrischen Klinik die
Verantwortung trugen. Demnach durfte der von den Angeklagten gewährte Ausgang als Ursache nicht ausgeschlossen
werden.“2
Aber wie hätte das Instanzgericht das fertig bringen sollen, hat doch der BGH selbst kurz zuvor die Lehre, dass Ursache nur eine notwendige Bedingung des Erfolges sein kann
mit den folgenden Worten erneut bestätigt: „Nach ständiger
Rechtsprechung ist als haftungsbegründende Ursache eines
strafrechtlich bedeutsamen Erfolges jede Bedingung anzusehen, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der
Erfolg entfiele.“3
Denkt man aber die falsche Handlung der Angeklagten,
also die Ausgangsgewährung hinweg, so entfiele der Erfolg,
die vom Patienten begangenen Tötungsdelikte eben nicht, sofern es ihm leicht möglich war, aus der Anstalt auszubrechen.
Das LG hat also das Fehlverhalten der Ärzte als Ursache der
Tötungsdelikte nicht, wie der BGH sich ausdrückt, ausgeschlossen, es ist an der Aufgabe gescheitert, seine Ursächlichkeit unter Anwendung der Formel von der notwendigen Bedingung, also der „ständigen Rechtsprechung“, erst einmal zu
begründen.
1
BGHSt 1, 332; 2, 24; 3, 69; 7, 114; 24, 34; 31, 98; 37, 106;
OGH 1, 330 (367); 2, 286; OLG Stuttgart JZ 1980, 618; aber
auch BGHZ 86, 157 (170).
2
3
BGHSt 49, 1 (5).
BGHSt 49, 1 (3).
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DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Ingeborg Puppe
3. Die Lösung des BGH
In der Entscheidungsbegründung rügt nun der BGH die Anwendung seiner Formel durch das LG mit folgenden Worten:
„Das LG hätte deshalb das pflichtgemäße Verhalten der Angeklagten, die Untersagung des Ausgangs, nur mit solchen
gedachten alternativen Geschehen in Verbindung setzen
dürfen, die der konkreten Tatsituation zuzurechnen wären.
Dazu zählt aber die von der Strafkammer herangezogene
Möglichkeit eines gewaltsamen Ausbruchs nicht. Dieser hätte
einer völlig außerhalb des Tatgeschehens liegenden autonomen Willensbildung des S bedurft, für dessen Umsetzung
nach dem vom LG getroffenen Feststellungen, auch nach den
zwei länger zurückliegenden Ausbrüchen keine hinreichend
konkreten Anhaltspunkte bestanden.“4
Aber warum ist die Möglichkeit eines gewaltsamen Ausbruchs nicht „der konkreten Tatsituation“ zuzurechnen? Schließlich bestand sie in der konkreten Tatsituation, die Gitterstäbe
waren nach wie vor marode und denkmalgeschützt und der
Patient hatte nach wie vor das Zeug zum ausbrechen. Bestanden deshalb „keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte“
dafür, dass der Patient erneut ausbrechen könnte, weil seine
letzten beiden Ausbrüche „länger zurücklagen“? Eine Regel
darüber, was sich der Richter bei der Entscheidung der Frage,
ob der Erfolg ohne die Handlung des Täters entfiele, hinzudenken darf und was nicht, ist aus diesem Text nicht zu entnehmen. Vor allem aber verstößt jedes Hinzudenkverbot gegen die nach wie vor vom BGH festgehaltene Bestimmung
der Ursache als notwendige Bedingung. Ein Verhalten ist
eben nur dann notwendige Bedingung des Erfolges, wenn der
Erfolg nicht eingetreten wäre, sofern das Verhalten nicht
stattgefunden hätte. Um das festzustellen, muss man sich
Ereignisse hinzudenken, die tatsächlich nicht stattgefunden
haben.
4. Der ganz unbedeutende Unterschied zwischen falsch und
richtig bei der Kausalitätsbestimmung
Die Lösung des Problems besteht darin, die Frage, was geschehen wäre, wenn der Täter nicht oder nicht so wie geschehen gehandelt hätte, erst gar nicht zu stellen, sondern sich an
das Geschehen zu halten, das wirklich stattgefunden hat. Man
muss also auf die Forderung, dass nur dasjenige Verhalten
eine Ursache des Erfolges ist, das notwendige Bedingung für
seinen Eintritt war, dergestalt, dass das Schicksal des verletzten Rechtsguts vom Verhalten des Täters abhing, verzichten,
wenn man nicht akzeptieren will, dass mehrere wirklich oder
hypothetisch Beteiligte sich gegenseitig entlasten. Aber welche Bedingungsbeziehung soll nun an die Stelle der notwendigen Bedingung treten?
Da der Erfolg tatsächlich eingetreten ist, muss es in Wirklichkeit eine Bedingung gegeben haben, die für seinen Eintritt
hinreichend war. Hinreichend ist die Bedingung für den Erfolg dann, wenn wir allgemeine Gesetze, sog. Kausalgesetze
angeben können von der Form: immer dann, wenn bestimmte
Voraussetzungen erfüllt sind, tritt ein Erfolg der betreffenden
Art ein. Eine Handlung ist dann kausal für einen Erfolg,
4
BGHSt 49, 1 (4 f.).
wenn sie in einer solchen nach allgemeinen Gesetzen hinreichenden Bedingung des Erfolges als notwendiger Bestandteil
vorkommt und diese Bedingung in Wirklichkeit auch gegeben war.5
Wenden wir dieses Verfahren der Bestimmung von Kausalität auf unseren Beispielsfall an, so müssen wir fragen, wie
es dazu gekommen ist, dass dieser Täter, obwohl er in einer
geschlossenen Anstalt verwahrt war, außerhalb der Anstalt
Tötungsdelikte begehen konnte. Das war deshalb möglich,
weil er die Anstalt verlassen hat. Er konnte die Anstalt durch
die Tür verlassen, weil er dem Pförtner einen Erlaubnisschein
der Ärzte für einen unbeaufsichtigten Ausgang vorlegen konnte. In der kausalen Erklärung der vom Patienten begangenen
Tötungsdelikte kommt also die Tatsache, dass die Angeklagten Ärzte ihm Ausgang gewährt hatten vor, die Tatsache, dass
die Fenstergitter zu schwach waren, um einen Ausbruch dieses
Patienten zu verhindern, aber nicht. Sie erweist sich damit als
sog. Ersatzursache. Die Erlaubniserteilung durch die angeklagten Ärzte aber ist ein notwendiger Bestandteil derjenigen
hinreichenden Bedingung für die von dem Patienten begangenen Tötungsdelikte, die tatsächlich wahr ist. Würden wir
aus dieser hinreichenden Bedingung die Erlaubniserteilung der
Ärzte streichen (hinweg denken), so wäre sie nicht mehr
hinreichend. Es wäre nicht mehr zu erklären, wie der Patient
durch die Ausgangstür gekommen ist.
Dies ist nicht nur der Kausalbegriff, der in der Technik
und in den Naturwissenschaften, soweit sie überhaupt noch
mit einem Kausalbegriff arbeiten, Anwendung findet, sondern im Gegensatz zu der Formel von der notwendigen Bedingung auch derjenige, der eine Zurechnung des Erfolges zu
einer Handlung ermöglicht, auch wenn eine sog. Ersatzursache im konkreten Fall angelegt ist oder es mehrere Verursacher gibt, deren Beiträge sich gegenseitig ersetzen können,
sog. Mehrfachkausalität oder alternative Kausalität. Nur so ist
das Ziel des BGH zu erreichen, dass sich die mehreren Beteiligten in solchen Fällen nicht mit der Berufung auf wirkliche
oder gar bloß hypothetische Pflichtverletzungen der anderen
Beteiligten entlasten können.
Trotz dieses augenfälligen Unterschiedes in den Ergebnissen zwischen der Bestimmung der Ursache als notwendiger Bestandteil einer hinreichenden Erfolgsbedingung und als
schlechthin notwendige Bedingung finden manche Autoren,
dass zwischen diesen beiden Formeln entweder überhaupt
kein6 oder nur ein geringer7 Unterschied besteht, oder dass
die Conditio-sine-qua-non-Formel, obwohl sie zur Ermittlung
von Kausalität im Einzelfall „entweder unbrauchbar oder überflüssig ist“, gleichwohl eine „normativ fundierte begrifflich5
Puppe, Strafrecht, Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung, 2002, § 2 Rn. 62 ff., insbesondere Rn. 68; dies.,
in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2005, vor § 13 Rn. 163 f.
6
Samson, in: Rogall/Puppe/Stein/Wolter (Hrsg.), Festschrift
für Hans-Joachim Rudolphi zum 70. Geburtstag, 2004, 259
(265 f.).
7
Röckrath, Kollegialentscheidung und Kausalitätsdogmatik –
Zurechnung überbestimmter Erfolge in Straf- und Haftungsrecht in ZStW 115 (2003), 641 (646).
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ZJS 5/2008
490
Die Lehre von der objektiven Zurechnung und ihre Anwendung – Teil 1
definitorische Aussage zur Kausalität“ sei.8 Der Unterschied,
der zwischen beiden Formeln besteht, ist der ganz unbedeutende Unterschied zwischen einer logisch richtigen und einer
logisch falschen Bestimmung des Bedingungszusammenhangs
zwischen einer Ursache und einem Erfolg im Strafrecht. Dass
die Conditio-sine-qua-non-Formel gerade auch normativ
falsch ist, zeigt sich ja eben daran, dass sie bei Mehrfachkausalität und bei Vorhandensein einer Ersatzursache zu dem
normativ inakzeptablen Ergebnis führt, dass sich jeder mit
dem Fehlverhalten des anderen entlasten kann. Das weiß im
Prinzip jeder ausgebildete Strafrechtler. Trotzdem hält, wie
wir gesehen haben, der BGH und ihm folgend der größte Teil
der Kurzlehrbuchliteratur an der Conditio-sine-qua-non-Formel fest.9 Sobald man nun intuitiv erkennt, dass das Ergebnis,
zu dem diese Formel führt, im Einzelfall falsch ist, wird sie
eben solange modifiziert, bis man durch Wegdenken und Hinzudenken zu dem Ergebnis kommt, das man intuitiv als richtig erkannt hat, sog. „modifizierte Conditio-sine-qua-nonTheorie“.10 Der Grund dafür, dass kein Beweis ihrer Unrichtigkeit die Herrschaft der Conditio-sine-qua-non-Formel zu erschüttern vermag, besteht in ihrer Bequemlichkeit in den
Fällen, in denen die Kausalität offensichtlich gegeben ist11.
Was soll man auch groß über die Kausalität schreiben, wenn
der Täter seinem Opfer 23 Hammerschläge auf den Kopf ver-
8
Frisch, in: Dölling/Erb (Hrsg.), Festschrift für Gössel zum
70. Geburtstag, 2002, S. 51 (56 ff.).
9
Kindhäuser, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2008,
§ 10 Rn. 1 ff.; Frister, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Aufl.
2008, § 9 Rn. 5 ff.; Wessels/Beulke, Strafrecht, Allgemeiner
Teil, 37. Aufl. 2007, Rn. 156; Kühl, Strafrecht, Allgemeiner
Teil, 6. Aufl. 2008, § 4 Rn. 9; Weber, in: Baumann/ders./Mitsch
(Hrsg.), 11. Aufl. 2003, § 14 Rn. 19.
10
Kindhäuser (Fn. 9), § 10 Rn. 15 f; Kühl nennt diese Modifikationen „Anwendungsregel der Formel“, (Fn. 9) § 4 Rn. 11 ff.; die
wichtigste dieser Modifikationen/Anwendungsregeln ist die
sog. Alternativenformel. Sie lautet: Von mehreren Handlungen, die alternativ, aber nicht kumulativ hinweggedacht werden können, ohne dass der Erfolg entfiele, ist jede kausal.
Diese Methode weist drei Fehler auf: Erstens wäre nach dieser Methode auch jede Ersatzursache eine Ursache. Zweitens
ist diese Methode nur dann anwendbar, wenn es nur zwei
konkurrierende Ursachen gibt. Versuchen sie doch einmal
diese Alternativenformel auf den Fall anzuwenden, dass bei
einer illegalen standrechtlichen Erschießung zwölf Schützen
gleichzeitig auf das Opfer schießen und alle das Herz treffen.
Drittens, und das ist das Schlimmste, diese Formel setzt voraus, dass man bereits erkannt hat, dass ein Fall von Mehrfachkausalität vorliegt und welche Ursachen miteinander
konkurrieren. Erkennt man das nicht, so bleibt es eben bei der
Anwendung der ursprünglichen Conditio-sine-qua-nonFormel mit dem Ergebnis, dass der Angeklagte freigesprochen wird, weil seine Handlung hinweggedacht werden kann,
ohne dass der Erfolg entfiele. Wir werden einen solchen Fall
noch kennen lernen.
11
Kühl (Fn. 9), § 4 Rn. 9; Frisch (Fn. 8), S. 66 f.; Röckrath
(Fn. 7), S. 646.
STRAFRECHT
setzt und dieses daraufhin stirbt?12 Da aber der Jurist und
zumal der Rechtskandidat jede Behauptung, die er aufstellt,
begründen muss, schreibt man eben hin: Die 23 Hammerschläge können nicht hinweggedacht werden, ohne dass der
Erfolg, der Tod des Opfers, entfiele.
5. Was tun in der Klausur?
Die Conditio-sine-qua-non-Formel ist zwar falsch, ihre Anwendung wird aber vom Kandidaten immer noch erwartet, es
wird erwartet, dass er die Kausalität einer Handlung dadurch
prüft, dass er sie hinweg denkt. Nun kann man auch die Lehre
von der gesetzmäßigen Mindestbedingung so anwenden, dass
man die zu prüfende Handlung irgendwo hinweg denkt, nur
nicht aus der Welt, um zu fragen, was ohne sie (hypothetisch)
geschehen wäre, sondern nur aus einer bereits projektierten
kausalen Erklärung des Erfolges, um zu fragen, ob diese ohne
die Handlung noch schlüssig ist.13
Man beschreibt also zunächst den Kausalverlauf, der
wirklich abgelaufen ist und schließlich zum Erfolg geführt
hat. Das kann, je nachdem wie trivial oder komplex die kausale Erklärung des Erfolgseintritts ist, mehr oder weniger ausführlich geschehen. In einem trivialen Fall wie etwa dem
Hammerschlagbeispiel genügt dazu die folgende Feststellung: Der Tod des Opfers ist durch zahlreiche Hammerschläge auf seinen Kopf eingetreten. Dann kann man hinschreiben,
aus diesem Kausalverlauf sind die Schläge des Täters nicht
hinwegzudenken ohne dass der Erfolg entfiele. In unserem
Ausgangsfall ist die Kausalerklärung nicht ganz so trivial, da
das Verhalten eines Dritten, nämlich des Patienten, dabei eine
Rolle spielt. Sie könnte etwa wie folgt lauten: Der Täter befand sich vor den Tötungsdelikten in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik. Er hat seine Freiheit
dadurch erlangt, dass ihm ein Pfleger die Haustür geöffnet
hat. Dies hat der Pfleger getan, weil der Patient ihm einen
Erlaubnisschein der behandelnden Ärzte vorgewiesen hat. Da
er dann keiner Aufsicht mehr unterlag, konnte er mehrere
Tötungsdelikte begehen.
Dann kann man hinschreiben: Aus diesem Kausalverlauf
kann die Erteilung der Ausgangserlaubnis durch die behandelnden Ärzte nicht hinweggedacht werden, ohne dass der
Erfolg entfiele.
Wenn sie dann noch ein Übriges tun wollen schreiben
Sie: Die Tatsache, dass die unter Denkmalschutz stehenden
Fenstergitter der Anstalt leicht auseinander zu biegen waren
und der Patient bewiesen hatte, dass er dazu in der Lage war,
auf diese Weise aus der Anstalt auszubrechen, spielt für die
kausale Erklärung des Erfolges keine Rolle, sondern war
lediglich eine Ersatzursache, denn der Ausbruch ist ja nicht
erfolgt.
Ist der Beurteiler ihrer Arbeit ein Anhänger der Conditiosine-qua-non-Theorie, so wird er entweder gar nicht merken,
dass sie diese Theorie nicht angewandt haben oder er wird
ihnen attestieren, dass sie sie ganz korrekt angewandt haben,
weil sie nichts hinzugedacht haben, was nicht tatsächlich
12
Fall BGH StV 1987, 92.
Puppe (Fn. 5), § 2 Rn. 68; dies., in: NK (Fn. 5), vor § 13 Rn.
109.
13
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DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Ingeborg Puppe
geschehen ist. Ist ihr Prüfer kein Anhänger der Conditio-sinequa-non-Formel, so wird er ihnen ein gründliches Verständnis der Kausalität bescheinigen.
6. Die praktischen Vorteile
Dieses Vorgehen hat im Vergleich zur sog. Conditio-sinequa-non-Formel drei Vorteile: Erstens ist das Wegdenken der
Handlung aus einer bereits aufgestellten wahren und schlüssigen Kausalerklärung des Erfolges im Gegensatz zur Formel
von der notwendigen Bedingung eine logisch und methodisch
korrekte Weise der Ermittlung von Kausalität im Einzelfall.
Zweitens führt dieses Vorgehen, wiederum im Gegensatz zur
Conditio-sine-qua-non-Formel, auch dann ohne weiteres zum
richtigen Ergebnis, wenn ein Fall der Mehrfachkausalität
vorliegt oder im Sachverhalt eine Ersatzursache angelegt ist.
Man braucht sich also nicht zu fragen, was man sich im Einzelfall hinzudenken oder nicht hinzudenken muss, um auch in
solchen Fällen zu richtigen Ergebnissen zu kommen. Man
braucht auch nicht weitere Anwendungsregeln der Formel zu
lernen, die die h.L. für diese Fälle entwickelt hat, inklusive
der allgemein bekannten Alternativen-Formel. Drittens lenkt
dieses Vorgehen die Aufmerksamkeit des Juristen von vornherein auf den Kausalverlauf, der wirklich abgelaufen ist und
nicht auf einen fiktiven, der ohne die Handlung des Täters
abgelaufen wäre. So kann er sofort erkennen, ob der Kausalverlauf Besonderheiten aufweist, die der Zurechnung des
Erfolges zur Handlung des Täters entgegen stehen könnten,
obwohl diese für den Erfolg kausal war.
Wir werden solche Besonderheiten noch ausführlich besprechen. Hierher gehört z.B. ein Kausalverlauf, der nach der
pflichtwidrigen Handlung des Täters zunächst in ein erlaubtes
Risiko übergegangen ist, das sich dann durch Zufall im Erfolg realisiert hat oder sich durch das Fehlverhalten eines
anderen wieder in ein unerlaubtes Risiko verwandelt hat, sog.
Erfordernis der Realisierung des Schutzzwecks der Sorgfaltsnorm. Hierher gehört weiter der Fall, dass der Verletzte sich
bewusst an seiner Gefährdung selbst beteiligt hat, sog. freiverantwortliche Selbstgefährdung.
Auch unser Beispielfall wirft ein solches Problem auf, das
sog. Regressverbot. Der Kausalverlauf zum Tod der Verbrechensopfer verlief nämlich über eine vorsätzliche Tötungshandlung des Patienten. Sie müssten also ausführen, dass das
sog. Regressverbot, wonach der Kausalverlauf, abgesehen von
den Fällen der Beteiligung an fremder Vorsatztat, nicht hinter
die vorsätzliche Handlung eines anderen Verursachers zurückverfolgt werden darf, im vorliegenden Fall nicht einschlägig
ist, weil der vorsätzlich Handelnde nicht voll verantwortungsfähig war und weil es die Aufgabe der Angeklagten war, potentielle Opfer gerade vor der Gefahr zu schützen, die von
dessen vorsätzlichen Handlungen ausging.
Im Gegensatz zur Kausalität, die die Grundvoraussetzung
jeder Zurechnung ist, sind diese Fragen nur dann bei einer
Fallprüfung anzusprechen, wenn der Sachverhalt dazu Anlass
gibt. Wenn sie aber die Prüfung der Kausalität dadurch erledigen, dass sie einfach die Conditio-sine-qua-non-Formel herunter beten, werden sie unter Umständen gar nicht merken, ob
das der Fall ist. Schildern Sie dagegen kurz den wirklichen
Kausalverlauf, so haben sie eine etwa einschlägige Prüfung
weiterer Zurechnungsprobleme bereits vorbereitet.
III. Die Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung, auch
Rechtswidrigkeitszusammenhang oder Pflichtwidrigkeitszusammenhang oder Realisierung des unerlaubten
Risikos genannt
1. Der Blinkerfall
Als A des Morgens mit seinem Auto in sein Büro fahren will,
stellt er fest, dass der linke Blinker nicht leuchtet. Offenbar
ist die Birne oder die Sicherung durchgebrannt. Obwohl er
eine Birne und eine Sicherung griffbereit hat, fährt er mit
dem defekten Blinker los, um nicht zu spät zur Arbeit zu
kommen. Als er an einer roten Ampel halten muss, fährt ein
anderes Auto von hinten auf das seine auf, dessen Fahrer
erstens zu schnell und zweitens unaufmerksam gefahren ist.
Obwohl A sich sorgfaltswidrig verhalten hat, weil er mit
einem kaputten Blinker gefahren ist, und obwohl er durch
eben dieses Fahren und das Halten an der Ampel auch kausal
für den Unfall geworden ist (zu einem Zusammenstoß gehören zwei), ist er für den Personenschaden des anderen Fahrers
nicht verantwortlich, wenn er ihn nicht, wie es in § 222 StGB
heißt „durch Fahrlässigkeit verursacht“ hat. Es genügt eben
offenbar nicht, dass eine Handlung pflichtwidrig war und die
gleiche Handlung für einen Schaden kausal geworden ist. Es
muss vielmehr gerade diejenige Eigenschaft der Handlung,
die ihre Pflichtwidrigkeit ausmacht, ursächlich für den Schaden sein, in dem Sinne, dass sie notwendiger Bestandteil der
hinreichenden Bedingung für dessen Eintritt war.14 Um diesen Unfall zu erklären, brauche ich aber keine Angaben über
den Zustand der Blinkanlage des Fahrzeugs, weil A vor dem
Unfallgeschehen die Blinkanlage gar nicht zu betätigen hatte.
Ich könnte also die Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung
ohne weiteres mit der Begründung ablehnen, dass eine Angabe über den defekten linken Blinker in der hinreichenden
Bedingung für den Unfall gar nicht vorkommt. Man könnte
das, der h.L. zuliebe, auch so ausdrücken: man kann den
defekten Blinker hinweg denken, ohne dass der Erfolg entfiele.
2. Einige überflüssige Schwierigkeiten
Der BGH bezeichnet im Kern ganz richtig diese Zurechnungsbeziehung als „Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung“.15 Mit einem gewissen Recht hat dieser Ausdruck allerdings in der Wissenschaft Anstoß erregt, weil eine Pflichtverletzung als solche keine Ursache sein kann, denn sie ist
der Widerspruch zwischen einem Verhalten und einer Sorgfaltsnorm. Dieser Ausdrucksfehler wäre allerdings leicht zu
14
Puppe (Fn. 5) § 3 Rn. 2 ff.; dies., in: NK (Fn. 5), vor § 13
Rn. 206 ff.
15
BGHSt 11, 1 (7); 21, 59; 33, 61 (64); VRS 21, 6; JR 1982,
382; OLG Thüringen VRS 111, 180 (184); Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 55. Aufl. 2008, vor
§ 13 Rn. 35 m.w.N.; Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil,
2. Aufl. 1991, § 7 Rn. 78; Puppe (Fn. 5), § 3 Rn. 3 ff.; dies.,
in: NK (Fn. 5), vor § 13 Rn. 206.
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ZJS 5/2008
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Die Lehre von der objektiven Zurechnung und ihre Anwendung – Teil 1
korrigieren gewesen, wenn man statt von der Sorgfaltspflichtverletzung von der sorgfaltswidrigen Eigenschaft der
Handlung gesprochen hätte. Statt aber diese einfache Korrektur vorzunehmen, zieht es die Lehre vor, den erforderlichen
Zusammenhang nicht als Kausalzusammenhang zu bezeichnen, sondern als Rechtwidrigkeitszusammenhang, Pflichtwidrigkeitszusammenhang oder Realisierung des unerlaubten
Risikos.16 Diese Ausdrücke sind nicht falsch, aber sie haben
den Mangel, über die Art des erforderlichen Zusammenhangs
zwischen der Sorgfaltswidrigkeit der Handlung und dem
Erfolg gar nichts auszusagen. Wer nichts sagt, der sagt auch
nichts Falsches.
Eine weitere überflüssige Schwierigkeit handelt sich nicht
nur die Lehre, sondern auch die Rechtsprechung ein. Beide
sträuben sich nämlich dagegen, eine Angabe im Sachverhalt
unbestimmt zu lassen, die man bestimmt machen kann. Deshalb lehnen sie es ab, bei der Feststellung der Kausalität der
Sorgfaltspflichtverletzung die Angaben über die sorgfaltswidrigen Eigenschaften der Handlung einfach unbestimmt zu
lassen, sondern verlangen stattdessen, dass an die Stelle des
sorgfaltswidrigen Verhaltens ein sorgfaltsgemäßes gesetzt
wird, das sog. „korrespondierende sorgfaltsgemäße Alternativverhalten“.17 Aber diese Operation ist nicht nur völlig
überflüssig, sie macht den erforderlichen Zurechnungszusammenhang auch mehrdeutig, weil nicht bestimmt ist, welche sorgfaltsgemäße Verhaltensweise der tatsächlich vom
Täter vorgenommenen sorgfaltswidrigen denn „korrespondiert“.18 In unserem Fall hätte der Täter z.B. den defekten
Blinker reparieren können, er hätte aber auch mit der Straßenbahn, dem Fahrrad oder dem Taxi zur Arbeit fahren können. Denkt man sich als sorgfaltsgemäßes Verhalten das
Fahren mit repariertem Blinker hinzu, so entfällt der Erfolg
nicht, denkt man sich das Fahren mit dem Fahrrad oder mit
der Straßenbahn hinzu, so entfällt er. Denkt man sich das
Fahren mit einem Taxi hinzu, so weiß man nicht, ob der
Erfolg entfallen würde, man weiß ja schließlich nicht, ob der
Taxifahrer genau so gefahren wäre wie der Angeklagte oder
etwas anders. Welche dieser Verhaltensweisen soll also die
korrespondierende sein? Hängt die Frage, ob es das Fahren
mit repariertem Blinker sein kann, etwa davon ab, ob der
Täter im Einzelfall eine Ersatzbirne oder Ersatzsicherung zur
Hand hatte und die Blinkanlage selbst hätte reparieren können oder ob er diese Möglichkeit de facto nicht hatte? Dieses
Kriterium ist abzulehnen, denn das Fahren mit repariertem
Blinker wäre erlaubt gewesen, mit der Folge, dass andere
Verkehrsteilnehmer das damit verbundene Risiko als erlaubtes Risiko hätten tragen müssen. Aus der Tatsache, dass es
16
Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Aufl. 2006,
§ 15 Rn. 42; Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Aufl. 2006, vor § 13 Rn. 99; Wessels/Beulke (Fn. 9), Rn. 197; Kindhäuser (Fn. 9), § 33 Rn. 34 f;
Kühl (Fn. 9), § 17 Rn. 47 ff.; Frisch GA 2003, 719 (728).
17
Kindhäuser (Fn. 9), § 33 Rn. 34 ff.; Wessels/Beulke (Fn. 9),
Rn. 676; Weber (Fn. 9), § 22 Rn. 40 f.; Cramer/SternbergLieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 16), § 15 Rn. 174 ff.
18
Puppe (Fn. 5), § 3 Rn. 7 ff.; dies., in: NK (Fn. 5), vor § 13
Rn. 202, 212.
STRAFRECHT
diesem Fahrer im Einzelfall nicht möglich war, den Blinker
sofort zu reparieren, erwächst den anderen Verkehrsteilnehmern kein Anspruch darauf, von dieser Gefahr verschont zu
bleiben.19
3. Was tun in der Klausur?
Unter Berufung auf die Formulierung des BGH von der Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung kann der Kandidat riskieren, sich nur die sorgfaltswidrigen Eigenschaften der Täterhandlung hinwegzudenken und sich nichts an deren Stelle
hinzuzudenken, um festzustellen, dass der Unfall sich auch
dann ereignet hätte, bzw. dass er auch dann kausal erklärbar
ist.20 Wer das nicht riskieren will, mag sich an Stelle der
sorgfaltswidrigen Handlung des Täters als korrespondierendes sorgfaltsgemäßes Alternativverhalten ein solches hinzudenken, das den Erfolg auch verursacht hätte. Das lässt sich
immerhin damit begründen, dass die anderen Unfallbeteiligten keinen Anspruch darauf haben, dass der Täter unter den
mehreren sorgfaltsgemäßen Verhaltensweisen eine bestimmte
wählt, nämlich diejenige, die den Erfolg verhindert hätte. Das
gilt, wie eben gezeigt, auch dann, wenn das sorgfaltsgemäße
Verhalten, das den Erfolg mit Gewissheit ebenfalls herbeigeführt hätte, dem Täter im Einzelfall aus irgendwelchen technischen Gründen nicht möglich war.
Wir können also z.B. schreiben: Autofahrer A hat den
Unfall dadurch verursacht, dass er zu dem Zeitpunkt, als der
andere Autofahrer auf die Kreuzung zufuhr, an dieser gestanden hat. Sein Verhalten war deshalb sorgfaltswidrig, weil er
mit einem nicht funktionsfähigen linken Blinker gefahren ist.
Der Unfall wäre dem Täter nur dann zuzurechnen, wenn
gerade die sorgfaltswidrigen Eigenschaften seines Verhaltens, also der Defekt des Blinkers während der Fahrt für den
Unfall kausal waren. Nach § 222 StGB muss der Täter den
Tod des Opfers „durch Fahrlässigkeit verursacht“ haben. Nun
kann man sich aber nicht die Fahrt des Angeklagten bis zur
Ampel, wohl aber den Defekt des Blinkers hinweg denken,
ohne dass der Erfolg entfiele. Der Täter hat also den Unfall
nicht durch Fahrlässigkeit verursacht.
IV. Doppelkausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen
1. Der Bushaltestellenfall, BGH VRS 25, 262
Der Angeklagte passierte einen haltenden Linienbus und
überfuhr dabei ein hinter diesem Bus hervorkommendes
Kind. Nach der Rechtsprechung des BGH ist ein Kraftfahrer,
der einen haltenden Bus passiert, verpflichtet, entweder
Schrittgeschwindigkeit zu fahren, so dass er auf der Stelle
anhalten kann, oder einen Mindestabstand von 2 Metern von
diesem Bus einzuhalten. Der Grund für diese Verpflichtung
besteht darin, dass Fußgänger, die ein paar Schritte hinter
dem Bus hervortreten, um sich zu überzeugen, ob die Straße
frei ist, ehe sie sie überqueren, nicht durch vorbeifahrende
Kraftfahrer gefährdet werden sollen. Der Angeklagte Autofahrer fuhr schneller als Anhaltegeschwindigkeit und in ei19
Jakobs (Fn. 15), § 7 Rn. 86; Puppe, in: NK (Fn. 5), vor § 13
Rn. 213.
20
Puppe, in: NK (Fn. 5), vor § 13 Rn. 214.
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DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Ingeborg Puppe
nem geringeren Abstand als 2 Metern und überfuhr das Kind
tödlich. Er verteidigte sich mit dem Vorbringen, das Kind sei
so plötzlich und kopflos auf die Straße gerannt, dass er es
auch dann mit tödlichen Folgen erfasst hätte, wenn er den
Mindestabstand von 2 Metern von dem Bus eingehalten hätte. Da das Kind tot und kein weiterer Unfallzeuge verfügbar
war, unterstellte der BGH nach dem Grundsatz in dubio pro
reo die Richtigkeit dieses Vorbringens und hob die Verurteilung des Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung mit der Begründung auf, dass eine solche Verurteilung nur dann möglich sei, „wenn sicher ist, dass es beim verkehrsgerechten
Verhalten nicht zu dem Erfolg gekommen wäre“.21
2. Das Problem
Stellen Sie sich vor, das Kind hätte überlebt und würde nun
den Richter fragen, wer ist denn nun für meinen Unfall verantwortlich? Wenn der Angeklagte es nicht ist, weil er den
Unfall nicht vermeiden konnte, so muss ich verantwortlich
sein. Aber auch ich hätte den Unfall durch das von mir erwartete Verhalten nicht vermeiden können, denn der Angeklagte
hat mich ja innerhalb der 2 Meter-Schutzzone angefahren. Er
hätte mich also auch dann angefahren, wenn ich nicht, wie er
behauptet, kopflos auf die Straße gerannt wäre, sondern, wie
von mit erwartet, lediglich ein paar Schritte hinter dem Bus
hervorgetreten wäre. Wer ist also nun für das Unglück verantwortlich?
3. Die Lösung
In diesem Fall hat sich genau die Gefahr realisiert, die in der
Anwendung der Conditio-sine-qua-non-Formel im Fall einer
Doppelkausalität steckt. Diese ist deshalb nicht ganz leicht zu
erkennen, weil es nicht die Doppelkausalität von Handlungen
ist, denn zur Erklärung eines Zusammenstoßes sind die Handlungen beider beteiligten Verkehrsteilnehmer erforderlich, sondern um einen Fall der Doppelkausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen. Gerade deshalb, weil zu einem Zusammenstoß
zwei gehören, tritt das Phänomen der Doppelkausalität von
Sorgfaltspflichtverletzungen im Straßenverkehr recht häufig
auf, im Gegensatz zu dem Phänomen der Doppelkausalität
von Handlungen, das in der Praxis selten ist. Bei einer Doppelkausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen kann man sich
die Sorgfaltspflichtverletzung des einen Beteiligten hinweg
denken, weil schon die des anderen für sich alleine zur Erklärung des Unfalls hinreicht. Verlangt man nun gemäß der
Formel von der notwendigen Bedingung, dass die Sorgfaltspflichtverletzung des Täters nicht hinweggedacht werden
kann, ohne dass der Erfolg entfiele, so kommt man in diesen
Fällen zur Ablehnung der Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung. Ebenso ist das Gericht im vorliegenden Fall verfahren, indem es den Angeklagten mit der Begründung freigesprochen hat, die, nach dem Grundsatz in dubio pro reo unterstellte, Sorgfaltspflichtverletzung des Kindes hätte für sich
allein genügt, den Zusammenstoß zu erklären, selbst wenn
der Angeklagte sich sorgfaltsgemäß verhalten hätte. Aber
was dem einen Beteiligten recht ist, müsste dem anderen
21
BGH VRS 25, 262 (263).
billig sein, mit der Konsequenz, dass der Unfall keinem der
Beteiligten zugerechnet werden dürfte, wenn die Sorgfaltspflichtverletzungen beider Beteiligten so schwer waren, dass
sie je für sich zur Erklärung des Unfalls ausreichen, ein inakzeptables Ergebnis.
Um aber nun zu prüfen, ob außer der Sorgfaltspflichtverletzung des Opfers auch die des Täters eine hinreichende
Bedingung für den Unfall war, dürfen wir nicht fragen, ob
dieser auch dann passiert wäre, wenn der Täter sich sorgfaltsgemäß verhalten hätte, sondern, ob er auch dann passiert
wäre, wenn sich das Opfer sorgfaltsgemäß verhalten hätte.22
Ergibt sich, dass der Erfolg auch unter diesen Voraussetzungen eingetreten wäre, so kann sich der Täter nicht mit dem
Hinweis auf das gleichzeitige für den Erfolgseintritt hinreichende sorgfaltswidrige Verhalten des Opfers entlasten.23
Aus diesem Grunde ist auch die sog. Vermeidbarkeitstheorie, so wie sie üblicherweise formuliert wird, nicht haltbar.
Sie wird dahin formuliert, dass der Täter nicht für einen Unfall verantwortlich ist, den er durch sorgfaltsgemäßes Verhalten nicht hätte vermeiden können.24 Dieses Vermeidbarkeitserfordernis führt dazu, dass gerade bei besonders schwerwiegenden Sorgfaltspflichtverletzungen eines oder gar beider
Beteiligten sich jeder unter Berufung auf die Sorgfaltspflichtverletzung des anderen entlasten kann. Richtig ist das Vermeidbarkeitserfordernis allenfalls in dem Sinne, dass der
Erfolg hätte vermieden werden können, wenn sich alle Beteiligten sorgfältig verhalten hätten.25
4. Was tun in der Klausur?
Wenn Sie in der Klausur das Verteidigungsvorbringen unseres Angeklagten zu würdigen hätten, so könnten Sie etwa wie
folgt formulieren: Nach dem Grundsatz in dubio pro reo ist
als richtig zu unterstellen, dass das Kind derart kopflos und
plötzlich auf die Straße gerannt ist, dass es auch dann vom
Angeklagten überfahren worden wäre, wenn er den vorgeschriebenen 2 Meterabstand vom haltenden Bus eingehalten
hätte.
Damit ist aber noch nicht dargetan, dass der Angeklagte
nicht durch seine Sorgfaltspflichtverletzung für den Unfall
verantwortlich ist. Er wäre dies jedenfalls dann, wenn auch
seine Sorgfaltspflichtverletzung, ebenso wie die des Opfers
ein notwendiger Bestandteil einer hinreichenden Bedingung
des Erfolges wäre. Dann läge ein Fall von Doppelkausalität
von Sorgfaltspflichtverletzung vor. Um dies zu prüfen, muss
nicht von der Sorgfaltspflichtverletzung des Täters, sondern
von der des Opfers abgesehen werden. Es ist also zu unterstellen, dass das Kind lediglich ein paar Schritte hinter
dem Bus hervorgetreten wäre, wobei es sich innerhalb der
Schutzzone von 2 Metern gehalten hätte, wie es die für den
Angeklagten in dieser Situation geltende Sorgfaltsregel unterstellt. Dann wäre der Unfall aber ebenfalls eingetreten,
denn der Angeklagte hatte das Kind ja innerhalb der Schutz22
Ranft, NJW 1984, 1425 (1429); Puppe, in: NK (Fn. 5), vor § 13
Rn. 217.
23
Puppe (Fn. 5), § 3 Rn. 23 f.
24
Vgl. die Nachweise in Fn. 17.
25
Kindhäuser (Fn. 9), § 33 Rn. 40 f.
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ZJS 5/2008
494
Die Lehre von der objektiven Zurechnung und ihre Anwendung – Teil 1
zone von 2 Metern angefahren. Innerhalb dieser hinreichenden Bedingung des Erfolgeintritts war das Fehlverhalten des
Angeklagten, das darin bestand, innerhalb der Schutzzone
schneller als Anhaltegeschwindigkeit zu fahren, ein notwendiger Bestandteil. Deshalb ist der Angeklagte unabhängig
davon, dass auch das unterstellte sorgfaltswidrige Verhalten
des Kindes eine hinreichende Erfolgsbedingung war, für den
Unfall verantwortlich.
V. Der Lastzug-Radfahrer-Fall für Fortgeschrittene
1. Der Fall
Die Entscheidung BGHSt 11, 1 ist vielleicht die berühmteste,
sicher aber die am häufigsten besprochene Entscheidung des
BGH überhaupt. Sie wird in jedem Lehrbuch behandelt und
soll deshalb auch hier behandelt werden, obwohl der Fall für
eine Klausur wohl zu schwierig ist. Der Angeklagte überholte
mit seinem Sattelschlepper mit Anhänger einen Radfahrer im
Abstand von 0,75 Meter, statt, wie vorgeschrieben einen
Abstand von 1,50 bis 2,00 Meter einzuhalten. Der Radfahrer
geriet unter die Vorderräder des Anhängers. Er war angetrunken. Ein Gutachter erklärte dem Gericht, dass es für angetrunkene Radfahrer typisch sei, ihr Rad in die Richtung einer
sich nähernden Geräuschquelle zu ziehen. Zugunsten des
Angeklagten LKW-Fahrers nahm der BGH dies als gegeben
an. Er hätte aber auch bedenken müssen, dass der Radfahrer
nicht unter die Vorderräder der Zugmaschine, sondern unter
die des Anhängers geraten war, der Überholvorgang also in
dem Moment, als er stürzte, bereits eingesetzt hatte. Aus
Anlass dieses Falles entwickelte der BGH das Erfordernis der
Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung26 und erklärte dieses
Kausalitätserfordernis für nicht erfüllt, weil der Unfall möglicherweise auch eingetreten wäre, wenn der Täter einen Mindestabstand von 1,50 bis 2,00 Meter eingehalten hätte. Denn
der Radfahrer war angetrunken.
2. Das Problem
Nach dem Beweisergebnis war es nicht sicher, ob der angetrunkene Fahrer den Überholvorgang gemeistert hätte, wenn
der LKW-Fahrer den Mindestabstand von 1,50 bis 2,00 Metern eingehalten hätte. Diese Ungewissheit beseitigte der
BGH unter Anwendung des Zweifelsgrundsatzes, indem er davon ausging, dass der Radfahrer wegen seiner Trunkenheit
auch bei diesem Überholabstand unter die Räder gekommen
wäre. Deshalb sprach er den Angeklagten mangels Kausalität
der Sorgfaltspflichtverletzung frei. Der größte Teil der Lehre
ist ihm darin gefolgt.27
Roxin nahm an diesem Ergebnis Anstoß, weil es darauf
hinausläuft, dass gerade denjenigen Rechtsgutsträgern, die
sich zur Zeit der Täterhandlung bereits in Gefahr befinden,
der Rechtsschutz entzogen wird. Deshalb entwickelte er aus
Anlass dieser Entscheidung seine berühmte Risikoerhöhungstheorie.28
STRAFRECHT
3. Die Lösung
Weder der BGH noch Roxin, noch seine Gegner haben erkannt, dass hier ein Problem der Doppelkausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen vorliegt. Nach dem Beweisergebnis
steht fest, dass die Sorgfaltspflichtverletzung beider Beteiligter zusammen, also Trunkenheit des Radfahrers in Verbindung mit dem zu knappen Überholabstand des LKWs, eine
hinreichende Bedingung für den Unfall darstellt, denn
schließlich ist dieser ja eingetreten. Zweifelhaft ist nach dem
Beweisergebnis aber, ob die Sorgfaltspflichtverletzung des
Lastzugfahrers für sich allein betrachtet einen notwendigen
Bestandteil dieser hinreichenden Bedingung darstellt. Sie
wäre dann kein notwendiger Bestandteil der Erfolgsbedingung, wenn die Trunkenheit des Radfahrers allein hinreichend wäre, den Unfall zu erklären, auch wenn der Lastzugfahrer sich an den Mindestabstand von 1,50 bis 2,00 Meter
beim Überholen gehalten hätte. Das ist nun zweifelhaft, und
nicht etwa deshalb, weil der Sachverhalt nicht ausreichend
aufgeklärt werden kann, sondern weil es objektiv nicht feststeht, ob der Radfahrer in seiner Trunkenheit die Situation gerade noch gemeistert hätte oder eben nicht.
Es könnte aber ein Fall von Mehrfachkausalität vorliegen.
Das wäre dann der Fall, wenn der Unfall auch bei sorgfaltsgemäßem Verhalten des Radfahrers, also Fahren im nüchternen Zustand, allein aufgrund der Sorgfaltspflichtverletzung
des Autofahrers, des zu knappen Überholabstandes, erklärbar
wäre. Auch das steht nun objektiv nicht fest, denn niemand
kann sagen, ob ein Radfahrer oder dieser individuelle Radfahrer in nüchternem Zustand einen Überholvorgang im Abstand von 0,75 m durch einen langen Lastzug überstanden
hätte. Das ist keine Frage des Beweises, sondern eine prinzipielle Ungewissheit.29
Das Beweisergebnis stellt sich also wie folgt dar: Die
Sorgfaltspflichtverletzung des Radfahrers, also seine Trunkenheit, ergibt ohne die Sorgfaltspflichtverletzung des LKWFahrers eine Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts von weniger
als 100%. Die Sorgfaltspflichtverletzung des LKW-Fahrers,
also das zu knappe Überholen, ergibt ohne die Sorgfaltspflichtverletzung des Radfahrers ebenfalls eine Erfolgswahrscheinlichkeit von weniger als 100%. Auf das genaue Zahlenverhältnis kommt es im Weiteren gar nicht an. Entscheidend ist, dass nach dem Beweisergebnis nur beide Sorgfaltspflichtverletzungen zusammen eine Wahrscheinlichkeitserklärung von 100% ergeben. Deshalb sind beide Sorgfaltspflichtverletzungen notwendiger Bestandteil der wahren und
hinreichenden Bedingung des Unfalls. Und eben weil beide
Sorgfaltspflichtverletzungen für eine 100%ige Kausalerklärung notwendig sind, brauchen wir zur Entscheidung dieses
Falles nicht die Risikoerhöhungstheorie. Keine der Beteiligten kann sich mit der Sorgfaltspflichtverletzung des anderen
entlasten.
26
BGHSt 11, 1 (6 f.); dazu Puppe (Fn. 5), § 3 Rn. 44 ff.
Etwa Kühl (Fn. 9), § 4 Rn. 58; Wessels/Beulke (Fn. 9),
Rn. 197; Weber (Fn. 9), § 22 Rn. 95 f.
28
Roxin ZStW 74 (1962), 411 (430 ff.).
27
29
Puppe (Fn. 5), § 3 Rn. 46.
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495
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Ingeborg Puppe
4. Was tun in der Klausur?
Der Fall wird Ihnen vermutlich in der Form gegeben, dass
nach dem Beweisergebnis nicht feststeht, ob der Unfall auch
eingetreten wäre, wenn der Lastzugfahrer beim Überholen
den Mindestabstand eingehalten hätte. Darüber, ob der Unfall
mit Sicherheit oder nur möglicherweise eingetreten wäre,
wenn bei gegebenem zu geringen Überholabstand der Radfahrer nüchtern gewesen wäre, wird der Sachverhalt wahrscheinlich keine Aussagen machen. Sie können nun wie folgt
argumentieren: Nach dem Sachverhalt steht fest, dass die
Sorgfaltspflichtverletzungen beider Beteiligten zusammengenommen eine hinreichende Bedingung für den Eintritt des
Unfalls darstellen.
Nach dem Beweisergebnis steht nicht fest, ob die Sorgfaltspflichtverletzung des Lastzug-Fahrers auch für sich allein
betrachtet eine notwendige Erfolgsbedingung darstellt, denn
es ist offen, ob der angetrunkene Radfahrer den Überholvorgang überstanden hätte, wenn der Lastzugfahrer sich an den
Mindestabstand von 1,50 bis 2,00 Meter gehalten hätte. Es
steht nun aber ebenso wenig fest, dass die Sorgfaltspflichtverletzung des Radfahrers für sich allein eine hinreichende Erfolgsbedingung darstellt, denn niemand kann wissen, ob gerade dieser Radfahrer im nüchternen Zustand einen Überholvorgang im Abstand von 0,75 m gemeistert hätte. Da aber
beide Sorgfaltspflichtverletzungen zusammen eine 100%ige
Erfolgserklärung ergeben, so ist jede von ihnen für diese
Erfolgserklärung notwendig. Der Lastzugfahrer kann sich
also zu seiner Entlastung nicht darauf berufen, dass eine
gewisse Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Radfahrer
auch bei ordnungsgemäßem Überholabstand unter die Räder
geraten wäre.30
30
Teil 2 des Beitrages erscheint in der nächsten Ausgabe.
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496
Übungsfall: Die falsche Frau
Von Ass. iur. Dr. Gregor Roth, Rechtsanwältin Silke Warmer, Hamburg*
Schwerpunkte: Eigentumsübertragung, Stellvertretung, Probleme bei Bruchteilsgemeinschaft (Miteigentümerschaft), GoA,
Bereicherungsrecht.
Sachverhalt
V und „seine Frau“ L erscheinen vor dem Notar N und erklären, sie wollten das ihnen jeweils zu hälftigem Miteigentum
gehörende Hausgrundstück Bachstr. 13 in Hamburg-Ohlsdorf
an K verkaufen. K beabsichtigt, das Haus sobald wie möglich
grundlegend umzubauen. Als Eigentümer des Grundstücks
sind V und seine Ehefrau entsprechend im Grundbuch eingetragen. Grundstück und Haus sind für noch 5 Jahre an die
Familie W verpachtet. Nach Beurkundung des Vertrages und
der Auflassung wird der Eigentumswechsel im Grundbuch
eingetragen. K überweist den vereinbarten Kaufpreis in Höhe
von jeweils 200.000 € auf die Konten von V bzw. L.
Die Benachrichtigung über die Eigentumsumschreibung
wird auch an Vs Ehefrau F geschickt, die „aus allen Wolken
fällt“, als sie erfährt, dass ihr Haus verkauft sein soll. Die seit
längerer Zeit von ihrem Ehemann getrennt lebende F fährt
sofort zum Notar N, den sie zur Rede stellt: sie habe ihr Haus
gar nicht verkauft und wolle dies auch niemals tun. Im Angesicht von F bemerkt N seinen Irrtum: er hatte bei der Beurkundung des Kaufvertrages und der Auflassung die L als
Frau von V angesehen, da V diese seit Jahren als seine Frau
ausgegeben hatte. Tatsächlich aber war sie nur seine Lebensgefährtin. Da L und V dem N von Person bekannt waren,
hatte er zudem auf eine Überprüfung der Personalien verzichtet. Vorsorglich erkundigt sich F zudem beim zuständigen
Grundbuchamt, ob V und L noch die anderen V und F zu Miteigentum gehörenden, wertvolleren Grundstücke verkauft
haben. Dem ist aber zum Glück nicht so.
F wendet sich an Sie als Rechtsanwalt. Sie bittet um Auskunft, welche Ansprüche sie gegen K, V und L geltend machen sollte, um ihre Interessen in Bezug auf das Grundstück
am besten zu wahren. Eventuelle Ansprüche wegen des Pachtzinses sind nicht zu prüfen. Nicht zu beachten sind etwaige
Kosten einer Rechtsverfolgung
Ansprüche der F gegen K
I. §§ 985, 1011, 432 BGB auf Herausgabe des Grundstücks an sich selbst und V gemeinsam
F könnte einen Anspruch gegen K auf Herausgabe des Grundstücks an sich selbst und V gemeinsam aus §§ 985, 1011, 432
BGB haben.
1. Miteigentum von F und V1
* Ass. iur. Dr. Gregor Roth ist wissenschaftlicher Assistent
am Lehrstuhl für Steuerrecht der Bucerius Law School Hamburg. Silke Warmer ist Rechtsanwältin in der Kanzlei Happ
Luther und Partner, Hamburg.
1
Wenn man mit der Prüfung beginnt, ob K Besitz an dem
Grundstück hat, muss man im Rahmen der Prüfung, ob K
mittelbarer Besitzer ist und F einen Anspruch auf Abtretung
Dazu müsste das Grundstück Bachstr. 13 weiterhin im Gesamteigentum von F und V stehen. Ursprünglich stand das
Eigentum am Grundstück V und F zu je hälftigen Bruchteilen
zu und damit in ihrem Miteigentum, § 1008 BGB. F und V
könnten ihr Eigentum an K verloren haben. Dies könnte
durch die Erklärungen von V und L gegenüber K beim Notar
geschehen sein, das Grundstück auf K übertragen zu wollen.
Insoweit ist fraglich, ob und in welchem Umfang eine Eigentumsübertragung an K statt gefunden hat. Miteigentum ist ein
Unterfall einer Bruchteilsgemeinschaft. Somit ist bei der Übertragung des Bruchteilseigentums nach § 747 BGB zwischen
der des Gesamteigentums (S. 2) und jener eines Miteigentumsanteils (S. 1) zu unterscheiden.
a) Verfügung über das Gemeinschaftseigentum
V und F könnten zunächst ihr Miteigentum durch gemeinschaftliche Verfügung gem. §§ 873 Abs. 1, 925 Abs. 1 S. 1
BGB i.V.m. § 747 S. 2 BGB an K verloren haben. Voraussetzung dafür ist, dass sich K, V und F über den Eigentumsübergang auf K einig waren. Dazu müssten drei inhaltlich
übereinstimmende und korrespondierende Willenserklärungen vorliegen.
aa) Erklärungen von K und V
K hat eine wirksame Einigungserklärung abgegeben. Auch V
könnte erklärt haben, das gemeinschaftliche Eigentum an dem
Grundstück auf K übertragen zu wollen. Die Erklärung gegenüber K und dem Notar, seinen Miteigentumsanteil zeitgleich mit dem seiner Ehefrau an K übertragen zu wollen, ist
nach §§ 133, 157 BGB dahin auszulegen, dass er gemeinsam
mit seiner Ehefrau über das Grundstück verfügen will. Es
liegt damit eine entsprechende Erklärung des V vor.
bb) Erklärung von F
Schließlich müsste auch F eine Auflassungserklärung abgegeben haben. Die F wusste bis zur Benachrichtigung über die
Eigentumsumschreibung von den Vorgängen nichts. Sie hat
auch keine eigene Willenserklärung abgegeben. F könnte
jedoch durch V oder L wirksam vertreten worden sein mit der
Wirkung, dass sie durch die Erklärung von V bzw. L berechtigt und verpflichtet worden ist (vgl. § 164 Abs. 1 BGB).
Dazu müssten die Voraussetzungen einer wirksamen Stellvertretung vorliegen.
(1) Vertretung durch V
F könnte durch ihren Ehemann V vertreten worden sein. Er
müsste dafür eine eigene Willenserklärung im fremden Namen und mit Vertretungsmacht abgegeben haben (§ 164
seines Herausgabeanspruchs gegen W hat, bei dem (möglichen) Eintritt des K in den Pachtvertrag nach §§ 566 Abs. 1,
578 Abs. 1 BGB prüfen, ob das Grundstück wirksam übereignet worden ist (da das Voraussetzung von § 566 BGB ist);
um diese Verschachtelung zu vermeiden, wird mit dem Punkt
„Eigentum von F und L“ begonnen.
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497
ÜBUNGSFALL
Gregor Roth/Silke Warmer
Abs. 1 BGB). Hier hat V im eigenen Namen gehandelt. Ein
Handeln für F war nicht erkennbar. Damit scheitert eine Vertretung schon an der notwendigen Offenkundigkeit. V hat
damit F nicht wirksam vertreten. Etwas anderes folgt vorliegend auch nicht aus § 1357 Abs. 1 BGB, da V und F getrennt
lebten und somit die Vorschrift gemäß § 1357 Abs. 3 BGB
von vornherein keine Anwendung findet.
(2) Vertretung durch L
F könnte aber durch L vertreten worden sein, da L gegenüber
K als die Ehefrau des V, mithin als F, aufgetreten ist. In Abgrenzung zur Botenstellung müsste L eine eigene Willenserklärung abgegeben haben, was der Fall ist. Des Weiteren
müsste L die Erklärung in fremdem Namen – nämlich im
Namen der F – abgegeben haben. Neben einem ausdrücklichen Handeln in fremdem Namen ist dazu nach § 164 Abs. 1
S. 2 BGB auch ausreichend, wenn sich aus den Umständen
ergibt, dass für einen anderen gehandelt wird. Bei lebensnaher Auslegung des Sachverhalts hat die L bei Abgabe der
Auflassungserklärung den Namen der F benutzt. Davon ist
auszugehen, da F im Grundbuch eingetragen war und weder
K den Vertrag mit einer anderen Person als Vertragspartner
geschlossen, noch N diesen Vertrag beurkundet hätte. L hat
jedoch nicht offen gelegt, dass es sich bei dem verwendeten
Namen um einen fremden handelt. Vielmehr ist sie unter
diesem Namen aufgetreten. Es liegt damit kein Handeln in
fremden Namen, sondern ein sogenanntes Handeln unter fremdem Namen vor,2 auf das die §§ 164 ff. BGB nicht direkt anzuwenden sind.
Fraglich ist, welche Rechtsfolgen ein Handeln unter
fremdem Namen hat. In Betracht kommt zum einen ein Eigengeschäft des Handelnden, wenn es sich um einen Fall der
bloßen Namenstäuschung handelt. Zum anderen sind die
§§ 164 ff. BGB entsprechend anwendbar, wenn es sich um
einen Fall der Identitätstäuschung handelt. Eine bloße Namenstäuschung liegt vor, wenn der Handelnde sich selbst
verpflichten will und dem Vertragspartner die Identität des
Handelnden gleichgültig ist. Dagegen liegt ein Fall der Identitätstäuschung vor, wenn der Handelnde das Geschäft für
den Namensträger abschließen will und es dem Geschäftsgegner gerade auf die Identität seines Geschäftspartners ankommt. Gleiches gilt auch, wenn der Handelnde das Geschäft
zwar für sich selbst abschließen will, aber weiß oder damit
rechnet, dass der Geschäftsgegner nur mit dem Namensträger
kontrahieren will.3 Entscheidend für die vorzunehmende Abgrenzung ist damit nicht allein die innere Willensrichtung des Handelnden, sondern ob der Erklärungsempfänger den Vertrag mit dem
wirklichen Namensträger abschließen will.4 K kam es darauf an,
2
Es war ein Schwerpunkt der Klausur, die Rolle der L bei der
Übereignung richtig einzuordnen. Das Handeln unter fremdem Namen wurde jedoch von den wenigsten Bearbeitern
erkannt.
3
Vgl. dazu Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, 9. Aufl.
2004, § 46 Rn. 97 ff.
4
BGHZ 45, 193 (195 f.); Brox/Walker, Allgemeiner Teil des
BGB, 32. Aufl. 2008, Rn. 528 ff.; Heinrichs, in: Palandt, BGB,
67. Aufl. 2008, § 164 Rn. 10.
sich mit V und F über den Eigentumsübergang zu einigen. Denn nur
die tatsächlichen Eigentümer5 konnten K Eigentum verschaffen.
Die Person seines Vertragspartners war dem K folglich nicht
gleichgültig, so dass es sich nicht bloß um eine Namens-, sondern
um eine Identitätstäuschung handelt. Infolgedessen sind die §§ 164
ff. BGB entsprechend anzuwenden.6
Damit F wirksam verpflichtet worden ist, müsste L weiterhin mit Vertretungsmacht gehandelt haben. Gesetzliche Vertretungsmacht hatte L nicht, außerdem hat F der L keine Vollmacht
erteilt. L handelte somit als Vertreterin ohne Vertretungsmacht
und ihre Einigungserklärung war somit analog § 177 Abs. 1
BGB schwebend unwirksam. Die Wirksamkeit des Einigungsvertrages hängt damit von einer Genehmigung der F ab. F hat
gegenüber dem N erklärt, das Grundstück niemals verkaufen zu
wol-len. Dies kann nur dahin verstanden werden, dass F das Geschäft nicht genehmigen möchte, so dass von der endgültigen Unwirksam-keit des Geschäfts auszugehen ist. Damit liegt seitens der F
keine Einigungserklärung vor.
Da V und F gem. § 747 S. 2 BGB nur gemeinsam über das
Grundstück im Ganzen verfügen können, fehlt es damit an einer
wirksamen Einigung bezüglich der Eigentumsübertragung an K.
b) Verfügung über den Miteigentumsanteil7
Unbeschadet der gescheiterten Eigentumsübertragung des
ganzen Grundstückes an K könnten die Erklärungen von K
und V wenigstens die Einigung über die Übertragung des Miteigentumsanteils des V an K gem. §§ 873 Abs. 1, 925 Abs. 1
S. 1 i.V.m. § 747 S. 1 BGB enthalten.
5
Abgesehen von einem gutgläubigen Erwerb vom Bucheigentümer.
6
Vgl. BGH NJW 1985, 2484 zur Veräußerung eines Pkw, bei der der
Veräußerer vorgab, die im Kfz-Brief eingetragene Person zu sein.
7
Da es schon an einer Auflassungserklärung seitens der F
fehlt und auch keine Erklärung der L vorliegt (auf die von ihr
abgegebene Erklärung finden die §§ 164 ff. BGB Anwendung), sind weitere Punkte bezüglich der Verfügung über den
Anteil der F nicht zu prüfen. Insbesondere ist die Prüfung
eines gutgläubigen Erwerbs hier aus zwei Gründen fehl am
Platz. Zum einen ersetzt der gute Glaube nicht die Willenserklärung, sondern hilft nur über eine fehlende Verfügungsbefugnis hinweg (vgl. BGH NJW 1985, 2484, wo das Vorliegen
einer Willenserklärung beim Handeln unter fremdem Namen
verneint und gutgläubiger Erwerb als nicht einschlägig angesehen wird; eine Vorinstanz hatte allerdings das Problem
auch über gutgläubigen Erwerb gelöst). Zum anderen schützt
der öffentliche Glaube des Grundbuchs nach § 892 Abs. 1
BGB nicht das Vertrauen in die Identität des Verfügenden
(RGZ 128, 276 [279]; Gursky, in: Staudinger, Kommentar
zum BGB, 2008, § 892 Rn. 64; inzident Krause, in: DaunerLieb u.a. (Hrsg.), Anwaltkommentar zum BGB, 2004, § 892
Rn. 20). Selbst wenn man (fälschlicherweise) ein Eigengeschäft der L annimmt, kommt man mit dem gutgläubigen
Erwerb nicht zu einer wirksamen Eigentumsübertragung. L
ist nämlich nicht im Grundbuch eingetragen, weshalb ein
gutgläubiger Erwerb von ihr nicht möglich ist.
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ZJS 5/2008
498
ZIVILRECHT
Die falsche Frau
Die Einigungserklärung des V, das Gesamteigentum an
dem Grundstück Bachstr. 13 an K übertragen zu wollen, kann
möglicherweise nach § 140 BGB dahin umgedeutet werden, an
K wenigstens seinen Miteigentumsanteil zu übertragen.8 Der
Wirksamkeit der umgedeuteten Willenserklärung steht
§ 1365 Abs. 1 S. 2 BGB nicht entgegen. Diese Vorschrift
könnte zwar einschlägig sein, da V auch den Kaufvertrag
ohne Wissen und folglich ohne Einwilligung seiner Ehefrau F
geschlossen hat. Die Eheleute haben aber noch weitere wertvollere Grund-stücke in ihrem Miteigentum, so dass es sich bei
dem fraglichen Miteigentumsanteil weder um das Vermögen
im Ganzen noch um einen wesentlichen Teil des Vermögens
des V handelte. Eine Einwilligung der F war damit nicht
erforderlich.
Eine entsprechende Umdeutung müsste auch hinsichtlich
der Einigungserklärung des K möglich sein. Dies ist der Fall,
wenn anzunehmen wäre, dass K bei Kenntnis der Unwirksamkeit der Einigung über die Verfügung des ganzen Grundstücks wenigstens den Miteigentumsanteil des V hätte erwerben wollen. Gegen einen solchen Willen des K spricht, dass
dieser beabsichtigt, das Haus so schnell wie möglich grundlegend umzubauen. Dieses Vorhaben kann er sicher nur realisieren, wenn er Alleineigentümer des Grundstücks ist. Es ist
folglich nicht anzunehmen, dass er eine Erklärung nur hinsichtlich des Erwerbs des Miteigentumsanteils des V abgegeben hätte. Da jedenfalls die Erklärung des K nicht umgedeutet werden kann, fehlt es an der Einigungserklärung des K
bezüglich des Erwerbs nur des Miteigentumsanteils des V.
Es ist somit auch keine wirksame Verfügung allein über
den Miteigentumsanteil des V erfolgt.
Hinweis für eine alternative Lösung: Es herrscht Streit
über die Frage, welche Vorschrift im Fall einer unwirksamen Verfügung über einen Miteigentumsanteil zur
Anwendung kommt. Während die obige Lösung der
Meinung folgt, die § 140 BGB anwenden möchte, plädieren die Vertreter der Gegenauffassung für die Anwendung von § 139 BGB. Hintergrund dieses Streits ist die
unterschiedliche Beurteilung der Verfügung über Miteigentum. Während die Vertreter der ersten Meinung die Miteigentumsübertragung als ein einheitliches Rechtsgeschäft
(zusammengesetzt aus der Übertragung der verschiedenen Miteigentumsanteile) ansehen und deshalb § 140
BGB anwenden, verstehen die Anhänger der zweiten
Auffassung die Verfügung über das Miteigentum im
Ganzen nur als koordinierte Verfügung über die einzelnen Miteigentumsanteile. Folgerichtig wenden sie § 139
BGB an. Eine Lösung über diesen Weg kommt zum gleichen Ergebnis. Der Lösungsweg stellt sich dann wie
folgt dar: Die Verfügung des V über seinen Miteigentumsanteil könnte aber wirksam sein. Dazu müssten die
weiteren Voraussetzungen einer Eigentumsübertragung
vorliegen, insbesondere müsste K im Grundbuch eingetragen worden und V verfügungsbefugt gewesen sein. K ist
8
Vgl. BGH WM 1964, 913; NJW 1994, 1470 (1471); Langhein, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2002, § 747 Rn.
74.
im Grundbuch eingetragen worden. Der Verstoß des N
gegen § 10 Abs. 2 S. 1 BeurkG dadurch, dass N sich keine Gewissheit über die Personen der Beteiligten verschafft hat, führt nicht dazu, dass die Erklärungen nicht
in der von § 29 Abs. 1 S. 1 GBO geforderten Form nachgewiesen sind, da ein Verstoß gegen § 10 Abs. 2 S. 1
BeurkG nicht zur Nichtigkeit der Beurkundung führt9.
Außerdem wird § 29 GBO nur als bloße Ordnungsvorschrift angesehen, so dass ein Verstoß nicht zur Unwirksamkeit der Eintragung führen würde.10 Die Eintragung
des K ist damit wirksam vorgenommen worden. Des
Weiteren müsste V verfügungsbefugt gewesen sein. Dies
ist bezüglich seines eigenen Miteigentumsanteils – und
nur über diesen hat V verfügt – unproblematisch (vgl.
§ 747 S. 1 BGB). Damit war die Verfügung des V über
seinen Miteigentumsanteil zunächst wirksam. Fraglich
ist allerdings, wie sich die Unwirksamkeit der Verfügung
über den Miteigentumsanteil der F auf die Verfügung
über den Anteil des V auswirkt. Die Verfügung über den
gemeinschaftlichen Gegenstand im Ganzen stellt eine
koordinierte Verfügung der einzelnen Miteigentümer
über ihre Anteile dar, so dass § 139 BGB Anwendung
findet, wenn eine Verfügung unwirksam ist.11 Die anderen Verfügungen sind somit ebenfalls unwirksam, wenn
nicht anzunehmen ist, dass sie auch ohne den nichtigen
Teil (die unwirksame Verfügung) vorgenommen sein
würden. Im vorliegenden Fall plante K, das Haus
schnellstmöglich grundlegend umzubauen. Da er dieses
Vorhaben sicher nur dann verwirklichen kann, wenn er
Alleineigentümer ist, ist davon auszugehen, dass K kein
Interesse daran hat, Miteigentum gemeinsam mit F zu
erhalten. Es ist folglich nicht anzunehmen, dass die Verfügung auch ohne eine Verfügung über den Miteigentumsanteil der F vorgenommen worden wäre. Demzufolge ist hiernach das ganze Rechtsgeschäft, also auch die
Übertragung nur des Anteils des V, nichtig.
c) Ergebnis
F und V sind nach wie vor hälftige Miteigentümer des Grundstücks Bachstr. 13.
2. Besitz des K
Weiterhin müsste K Besitzer des Grundstücks sein. Unmittelbarer Besitzer ist Familie W als Pächter des Grundstücks
(§ 854 BGB).
9
Limmer, in: Eylmann/Vaasen, BNotO/BeurkG, 2. Aufl.
2004, § 10 BeurkG Rn. 1; Huhn/v. Schuckmann, BeurkG,
3. Aufl. 2001, § 10 Rn. 4; Winkler, BeurkG, 16. Aufl. 2008,
§ 10 Rn. 36.
10
Demharter, GBO, 26. Aufl. 2008, § 29 Rn. 2; Bassenge, in:
Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 873 Rn. 13.
11
RG JW 1910, 473; K. Schmidt, in: Münchener Kommentar
zum BGB, 4. Aufl. 2004, § 747 Rn. 30; dagegen Sprau, in:
Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 747 Rn. 4.
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499
ÜBUNGSFALL
Gregor Roth/Silke Warmer
a) Mittelbarer Besitz
K könnte aber mittelbarer Besitzer sein. Dem Eigentümer
steht auch gegen den mittelbaren Besitzer ein Anspruch aus
§ 985 BGB zu und zwar wahlweise auf Abtretung seines
Herausgabeanspruchs gegen den unmittelbaren Besitzer oder
auf Herausgabe.12 Aufgrund des Pachtvertrages könnte die
Familie W dem K Besitz im Sinne des § 868 BGB mitteln.
Ein solches Pachtverhältnis zwischen K und W mit dem
Herausgabeanspruch aus §§ 581 Abs. 2, 546 Abs. 1 BGB
kommt jedoch nur dann in Betracht, wenn K gemäß §§ 581
Abs. 2, 578 Abs. 1, 566 Abs. 1 BGB in den Pachtvertrag
eingetreten ist. Ein Eintritt nach § 566 Abs. 1 BGB setzt
voraus, dass die Mietsache an einen Dritten veräußert wird.
Der Begriff der „Veräußerung“ erfordert hier eine wirksame
Verfügung.13 Die Eigentumsübertragung des Grundstücks an
K war jedoch gerade nicht wirksam. Damit ist K nicht kraft
Rechtsnachfolge im Eigentum in den Pachtvertrag eingetreten. Der Pachtvertrag begründet somit kein Besitzmittlungsverhältnis zwischen K und der Familie W. Der unwirksame
Eintritt in den Pachtvertrag könnte gleichwohl zur Begründung eines entsprechenden Besitzmittlungsverhältnisses
geführt haben. Es ist allgemein anerkannt, dass die Rechtsunwirksamkeit eines Besitzmittlungsverhältnisses unschädlich ist, sofern der mittelbare Besitzer irgendeinen Herausgabeanspruch gegen den unmittelbaren Besitzer hat, den
dieser anerkennt.14 Vorliegend hat K allein aufgrund der
Grundbucheintragung gegen die Familie W keinen Herausgabeanspruch durch dessen Anerkennung Familie W ihren
Besitzmittlungswillen gegenüber K zum Ausdruck bringt. K
ist somit nicht mittelbarer Besitzer des Grundstücks geworden.
b) Buchbesitz
K könnte jedoch aufgrund seiner zwischenzeitlichen Eintragung im Grundbuch als sogenannter Buchbesitzer Besitzer
i.S.v. § 985 BGB sein. Der bloße Buchbesitz genügt jedoch
nicht für den Anspruch aus § 985. § 894 BGB ist insoweit
gewissermaßen ein „auf Herausgabe des Buchbesitzes“ gerichtetes Pendant zu § 985 BGB.15
K ist damit nicht Besitzer des Grundstücks Bachstr. 13.
3. Ergebnis
F hat gegen K keinen Anspruch auf Herausgabe des Grundstücks gem. §§ 985, 1011, 432 BGB an sich und V gemeinsam.
II. § 894 BGB (in Verbindung mit § 1011 BGB) auf Zustimmung zur Grundbuchberichtigung 16
F könnte gegen K einen Anspruch auf Zustimmung zur
Grundbuchberichtigung gem. § 894 BGB haben.
1. Anspruch entstanden
Dazu müsste der Anspruch auf Grundbuchberichtigung zunächst einmal entstanden sein.
a) Diskrepanz zwischen formeller und materieller Rechtslage
Das setzt zunächst die Unrichtigkeit des Grundbuchs, also
eine Diskrepanz zwischen formeller und materieller Rechtslage voraus. Formell ist K Eigentümer des Grundstücks, während tatsächlich weiterhin V und F Bruchteilseigentümer
sind. Damit ist das Grundbuch unrichtig. Durch eine Berichtigung des Grundbuches wäre die formelle Rechtsposition des
K betroffen. K ist damit der richtige Anspruchsgegner. Schließlich ist ein Recht der F nicht eingetragen. Daneben ist auch
das Recht des V nicht eingetragen. Somit ist ein Anspruch
auf Grundbuchberichtigung zunächst entstanden.
b) Umfang des Anspruchs
Fraglich ist, welche Auswirkungen es auf den Umfang des
Grundbuchberichtigungsanspruchs der F hat, dass sowohl ihr
Recht als auch das des V nicht eingetragen ist. Aus eigenem
Recht kann F nur die Berichtigung ihres Miteigentumsanteils
verlangen. Darüber hinaus ordnet § 1011 BGB einen Fall der
gesetzlichen Prozessstandschaft an.17 Danach kann jeder
Miteigentümer die Ansprüche aus dem (gesamten) Eigentum
Dritten gegenüber geltend machen. Damit besteht für F die
Möglichkeit, sowohl ihren als auch den Anspruch des V
gegenüber K geltend zu machen. Allerdings muss F nicht von
§ 1011 BGB Gebrauch machen. Es steht jedem Miteigentümer frei, auch nur sein eigenes Recht geltend zu machen.18 F
kann auch nur ihr Miteigentum geltend machen und deshalb
von K die Zustimmung zur Eintragung als Miteigentümerin
verlangen.
Der F steht demzufolge ein Grundbuchberichtigungsanspruch gegenüber K aus § 894 BGB zu, wobei sie wahlweise
nur ihr Miteigentum oder zusätzlich auch das Miteigentum
des V geltend machen kann.
2. Anspruch durchsetzbar
Fraglich ist jedoch, ob der Grundbuchberichtungsanspruch
auch durchsetzbar ist. K könnte nämlich ein Zurückbehaltungsrecht aus § 273 BGB wegen eventueller Gegenansprüche
zustehen. In Betracht kommen allerdings nur Ansprüche des K
gegenüber V, nicht gegenüber der F. Besteht ein Gegenan16
12
Bassenge (Fn. 10), § 985 Rn. 9.
Weidenkaff, in: Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 566 Rn. 8.
14
Bassenge (Fn. 10), § 868 Rn. 6.
15
Wacke, in: Münchener Kommentar zum BGB, 4. Aufl.
2004, § 894 Rn. 2.
13
Man kann auch mit der Prüfung dieses Anspruchs beginnen. Die Eigentumsproblematik ist dann im Rahmen dieses
Anspruchs anzusprechen.
17
BGHZ 79, 245 (247); Bassenge (Fn.10), § 1011 Rn. 2;
Gursky, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2006, § 1011
Rn. 7.
18
OLG München NJW 1955, 637; Gursky (Fn. 17), § 1011
Rn. 5.
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ZJS 5/2008
500
Die falsche Frau
spruch jedoch nur gegenüber einem Mitgläubiger (§ 432 BGB),
kommt ein Zurückbehaltungsrecht nicht in Betracht.19 K kann
daher gegen den Anspruch kein Zurückbehaltungsrecht geltend machen. Ebenso wenig sind andere Gründe ersichtlich,
an denen die Durchsetzbarkeit des Anspruchs scheitern könnte.
3. Ergebnis
F hat gegen K einen Anspruch auf Grundbuchberichtigung
gem. § 894 BGB i.V.m. § 1011 BGB, wobei sie wahlweise nur ihr
Miteigentum oder zusätzlich das Miteigentum des V geltend
machen kann.
III. § 899 Abs. 1 BGB i.V.m. § 1011 BGB auf Eintragung
eines Widerspruchs
Neben dem Anspruch auf Berichtigung des Grundbuchs hat F
gegen K gem. § 899 Abs. 1 BGB auch einen Anspruch auf
Eintragung eines Widerspruchs, um den gutgläubigen Erwerb
Dritter von K (§ 892 BGB) zu verhindern. Dabei steht es ihr
wiederum frei, den Anspruch nur hinsichtlich ihres Miteigentumsanteils oder auch bezüglich des Anteils von V über
§ 1011 BGB geltend zu machen.
IV. §§ 989, 990, 249 BGB auf Berichtigung des Grundbuches
F könnte gegen K als Bucheigentümer einen Anspruch auf
Grundbuchberichtigung aus §§ 989, 990, 249 BGB haben.
1. Vindikationslage
Dazu müsste zunächst zwischen F und K eine Vindikationslage bestehen. Da K mangels Eigentumserwerb nicht mittelbarer Besitzer geworden ist, besteht keine Vindikationslage
gem. § 985 BGB. Gleichwohl wendet die ganz h.M. die
§§ 987 ff. BGB auf das Verhältnis wahrer Eigentümer –
Bucheigentümer entsprechend an.20 Da K Bucheigentümer
und F wahre Eigentümerin des Grundstücks ist, finden daher
die §§ 987 ff. BGB Anwendung.
2. Voraussetzungen §§ 989, 990 BGB
Weiterhin müssten die Voraussetzungen des § 989 BGB
erfüllt sein. Da K bisher nicht verklagt ist, müsste K zum
Zeitpunkt des Erwerbs – also der Eintragung – nicht im guten
Glauben gewesen sein bzw. nachträglich positive Kenntnis
erlangt haben. Laut Sachverhalt war K zum Zeitpunkt der
Eintragung gutgläubig, da er von der Identitätstäuschung
durch die L nichts wusste. Mithin kommt nur positive Kenntnis nach Eintragung in Betracht. Insoweit ergibt sich aus dem
Sachverhalt aber nichts. Es fehlt somit am Merkmal der Bösgläubigkeit des K.21
19
Krüger, in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl.
2007, § 273 Rn. 9; Heinrichs (Fn. 4), § 273 Rn. 6; jeweils
unter Hinweis auf BGH DNotZ 1985, 551.
20
Vgl. dazu Gursky (Fn. 7), § 894 Rn. 158 m.w.N.
21
Nimmt man Kenntnis des K an, ändert dies am Ergebnis
nichts, da der einzige Schaden der F – der Verlust ihrer
ZIVILRECHT
3. Ergebnis
F hat gegen K keinen Anspruch auf Grundbuchberichtigung
aus §§ 989, 990, 249 BGB.
V. § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB auf Wiedereinräumung der
Buchposition
Ein Anspruch der F aus § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB auf Beseitigung der Störung, also Wiedereinräumung des Buchbesitzes,
besteht nicht, weil § 894 BGB spezieller ist und dem Anspruch aus § 1004 BGB in seinem Anwendungsbereich vorgeht.22
VI. § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. BGB auf Herausgabe der
Grundbuchposition hinsichtlich des Miteigentumsanteils
des F
F könnte gegen K einen Anspruch auf Herausgabe der Buchposition aus § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. BGB hinsichtlich ihres
Miteigentumsanteils haben. Dazu müsste K etwas ohne
Rechtsgrund durch Leistung der F erlangt haben.
K hat die Grundbuchposition hinsichtlich des Miteigentumsanteils der F erlangt. Dieses „etwas“ müsste K durch Leistung der F erlangt haben.
1. Leistung der L?
Leistung ist jede bewusste und zweckgerichtete Mehrung
fremden Vermögens.23 F müsste also das Vermögen des K
bewusst und zweckgerichtet um die Grundbuchposition gemehrt haben. F hat selbst nicht gehandelt, sondern vielmehr L
in „Erfüllung“ der Verpflichtung aus einem vermeintlichen
Kaufvertrag. Betrachtet man allein die Beziehung K – L liegt
danach in diesem Verhältnis scheinbar eine Leistung vor, die
eine Leistung der F ausschließt. Dabei bliebe aber unbeachtet, dass die Personen des Leistenden und des Leistungsempfängers nach Ansicht der Rechtsprechung in erster Linie nach
der Zweckbestimmung der Zuwendung, also dem Zweck, den
die Beteiligten im Zeitpunkt der Zuwendung nach ihrem zum
Ausdruck gekommenen Willen mit dieser verfolgt haben, zu
bestimmen sind.24 Dieses Kriterium wird freilich vorwiegend
nur dann herangezogen, wenn mehr als zwei Personen beteiligt sind.25 Denn in aller Regel besteht nur in diesen Fällen
Unsicherheit über die Beteiligten der Leistungsbeziehung. Ist
eine übereinstimmende Zweckbestimmung der Zuwendung
nicht festzustellen, so ist zur Bestimmung der Person des
Leistenden auf eine objektive Betrachtungsweise aus Sicht
Grundbuchposition – bereits vor Kenntniserlangung entstanden ist und zudem von K nicht zu vertreten ist.
22
Bassenge (Fn. 10), § 1004 Rn. 3.
23
H.M.; BGHZ 105, 365 (369); BGH NJW 1999, 1393
(1394); Sprau (Fn. 11), § 812 Rn. 3; vgl. zur Kritik am modernen Leistungsbegriff nur Lieb, in: Münchener Kommentar
zum BGB, 4. Aufl. 2004, § 812 Rn. 26 ff; Schall,
Leistungskondiktion und Sonstige Kondiktion, 2003, S. 41
ff.; grundlegend Canaris, in: Paulus (Hrsg.), Festschrift für
Karl Larenz zum 70. Geburtstag, 1973, S. 799 ff.
24
BGHZ 82, 28 (30); BGH NJW 2002, 2871.
25
BGHZ 82, 28 (30); BGH NJW 2002, 2871.
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501
ÜBUNGSFALL
Gregor Roth/Silke Warmer
des Empfängers abzustellen.26 Zwar ist Hintergrund auch
hierfür in aller Regel der Fall, dass mehrere Beteiligte als
Leistende in Frage kommen und nicht die Situation, dass
Unklarheit bzw. ein Irrtum über die Identität einer Person
besteht. Nichtsdestotrotz ist diese allgemeine Regel auch auf
andere Situationen anzuwenden, in denen aufgrund der faktischen Beteiligung von mehr als zwei Personen Unklarheit
über die Person des Leistenden besteht. Dies gilt insbesondere für Vertretungsfälle.27
Wendet man daher aufgrund der entsprechenden Anwendbarkeit der Vertretungsregeln auf den Fall des Handelns
unter fremden Namen die allgemeinen Wertungskriterien des
BGH zur Bestimmung der Person des Leistenden an, ist hier
auf die Sicht des K abzustellen. Da L unter dem Namen der F
auftrat und dies für K nicht erkennbar war, leistete aus seiner
Sicht F als „Vertretene“. Damit wäre unter Zugrundelegung
des Empfängerhorizonts die Leistung von F erbracht worden.
2. Leistung der F?
Dieses Ergebnis könnte allerdings vor dem Hintergrund zu
korrigieren sein, dass die F die „Leistung“ der L weder veranlasst noch davon etwas gewusst hat. Die Bestimmung des
Leistenden aus der Sicht des Empfängers ist nur der erste
Schritt zur Konkretisierung der Leistungsbeziehungen. Nach
ständiger Rechtsprechung des BGH ist anhand weiterer wertender Kriterien das gefundene Ergebnis in einem weiteren
Schritt auf seine „Richtigkeit“ zu überprüfen; eine schematische Beurteilung verbietet sich insoweit.28 Das Ergebnis, dass
die Leistung der F zugerechnet wird, obwohl diese von den
Vorgängen keine Kenntnis hatte, ist unter dem Gesichtspunkt
der Veranlassung fragwürdig. Insoweit verhält es sich im
vorliegenden Fall ähnlich wie bei Anweisungsfällen.29 In
ständiger Rechtsprechung hält der BGH den scheinbar Anweisenden aus der Rückabwicklung heraus, wenn dieser die
fehlerhafte Überweisung der Bank nicht veranlasst hat.30
Anderenfalls bliebe der in der Rechtsscheinslehre allgemein
anerkannte Grundsatz außer Acht, dass der gutgläubige Vertragsgegner nur dann geschützt werden kann, wenn der andere Vertragsteil den Rechtsschein in zurechenbarer Weise
hervorgerufen hat. Der so genannte Empfängerhorizont des
Zahlungsempfängers vermag deshalb in diesen Fällen die
26
BGHZ 105, 365 (369);122, 46, (50); BGH NJW 1999,
1393 (1394).
27
Allgemein dazu Westermann, in: Erman, BGB, 12. Aufl.
2008, § 812 Rn. 18; Lieb (Fn. 23), § 812 Rn. 105; HeimannTrosien, in: RGRK, Kommentar zum BGB, 12. Aufl. 1989,
§ 812 Rn. 24; Mühl/Hadding, in: Soergel, Kommentar zum
BGB, 12. Aufl. 2007, § 812 Rn. 24f, 122; Lorenz, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2007, § 812 Rn. 34.
28
BGHZ 122, 46 (51); BGH NJW 1999, 1393 (1394).
29
So allgemein Lieb (Fn. 23), § 812 Rn. 105 zu Fällen fehlerhafter Vertretung/Botenschaft; Westermann (Fn. 27), § 812
Rn. 18.
30
BGH NJW, 2003, 582 (583); das Problem stellt sich nicht,
wenn man auf den Willen des Leistenden abstellt, so etwa
Flume, AcP 199 (1999), 1, 28 ff.; Schall (Fn. 23), S. 52 ff.
und 99 f.
fehlende Tilgungs- und Zweckbestimmung des – vermeintlich – Anweisenden nicht zu ersetzen. Allein der gute Glaube
des Empfängers ist also nicht ausreichend. Nichts anderes
kann aus Wertungsgründen in Fällen des Vertreters ohne
Vertretungsmacht und damit auch in Fällen des Handelns
unter fremden Namen gelten. Es fehlt damit an einer Leistung
des „Vertretenen“, wenn er durch einen vollmachtlosen Dritten vertreten worden ist.31 L handelte vergleichbar einem
Vertreter ohne Vertretungsmacht, wobei F keine Kenntnis
oder grob fahrlässige Unkenntnis davon hatte. Es fehlt daher
in der Person der F an jeglichem Anknüpfungspunkt für eine
Zurechnung des Verhaltens der L.32 Unter dem Wertungsgesichtspunkt der Veranlassung ist daher das bisher gefundene
Ergebnis dahin zu korrigieren, dass auch eine Leistung der F
nicht vorliegt.
Mangels Leistung steht der F kein Anspruch aus § 812
Abs. 1 S. 1, 1. Alt. BGB hinsichtlich ihres Miteigentumsanteils zu.
VII. § 812 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. BGB auf Herausgabe der
Grundbuchposition hinsichtlich des Miteigentumsanteils
des F
F könnte gegen K aber einen Anspruch auf Herausgabe der
Grundbuchposition aus § 812 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. BGB
(Nichtleistungskondiktion) haben.
1. Etwas erlangt in sonstiger Weise
Dazu müsste K die Grundbuchposition hinsichtlich des Miteigentumsanteils der F in sonstiger Weise auf Kosten der F
erlangt haben.
a) Nicht durch Leistung
Eine Bereicherung in sonstiger Weise ist nach h.M. gegeben,
wenn der Anspruchsgegner das erlangte „etwas“ nicht durch
eine Leistung erhalten hat.33 Eine der F zurechenbare Leistung lag nicht vor. K könnte aber die Grundbuchposition durch
Leistung der L zugeflossen sein.34 Da jede Leistung aufgrund
31
So ausdrücklich Heimann-Trosien (Fn. 27), § 812 Rn. 24;
i.E. wohl ebenso Westermann (Fn. 27), § 812 Rn. 18; Lieb
(Fn. 23), § 812 Rn. 105.
32
Man kann hier auch die Ansicht vertreten, dass die Vertrauensschutzgesichtspunkte nicht zu einer Einschränkung
führen, weil es nur um die Bestimmung einer für diejenige,
der der Rechtsschein zugerechnet werden soll, günstigen
Position geht. Dann ist ein Anspruch der F aus Leistungskondiktion zu bejahen, da die Leistung ohne Rechtsgrund erfolgt
ist (zur Prüfung des Rechtsgrundes siehe unten).
33
BGHZ 40, 272 (278); BGH NJW 2005, 60; Sprau (Fn. 11),
§ 812 Rn. 10; gegen die Vorrangregel etwa Larenz/Canaris,
Schuldrecht, Besonderer Teil, II/2, 13. Aufl. 1994, § 67 IV 3
(S. 144 f.) und § 70 III 2 d (S. 215 f.); Schall (Fn. 23), S. 92
ff.
34
Die Grundbuchposition insgesamt ist dem K allenfalls
durch eine Leistung von V und L gemeinsam zugeflossen.
Hier ist jedoch nur von Bedeutung, von wem der Teil der
Position kam, der sich auf den Miteigentumsanteil der F be-
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ZJS 5/2008
502
Die falsche Frau
des Vorrangs der Leistungskondiktion einen Anspruch aus
Nichtleistungskondiktion ausschließt, würde auch eine Leistung der L einem Anspruch der F entgegenstehen. Wie unter
VI. 2. ausgeführt, liegt bei objektiver Betrachtungsweise aus
der maßgeblichen Sicht des K als Leistungsempfänger keine
Leistung der L, sondern eine der F vor. Zwar ist die Leistung
mangels Rechtsscheinssetzung der F nicht zuzurechnen. Das
führt aber nicht dazu, dass nunmehr eine Leistung der L anzunehmen ist. Vielmehr fehlt es gänzlich an einer Leistung. Eine
die Nichtleistungskondiktion der F sperrende Leistung (von
anderer Seite) liegt somit nicht vor.
b) In sonstiger Weise
Ein Bereicherungsanspruch in Form der Eingriffskondiktion
liegt dann vor, wenn durch die Handlung eines Dritten in
einen fremden Rechtskreis eingegriffen worden ist.35 L als
Dritte hat durch die vermeintliche Verfügung über den Miteigentumsanteil der F in deren Rechtskreis eingegriffen. Hierdurch ist K die Grundbuchposition zugeflossen. K hat somit
die Grundbuchposition in sonstiger Weise erlangt.
2. Auf dessen Kosten
Die Bereicherung des K müsste auch auf Kosten der F erfolgt
sein. Dies ist der Fall, wenn dem Vermögensvorteil des K unmittelbar ein Vermögensnachteil der F gegenüber steht. Vorliegend ist dies durch den Verlust der Buchposition auf Seiten der F und den spiegelbildlichen Zufluss der Buchposition
bei K der Fall. Es liegt somit auch eine Bereicherung auf
Kosten der F vor.
3. Ohne rechtlichen Grund
Schließlich müsste die Bereicherung ohne rechtlichen Grund
erfolgt sein. Als rechtlicher Grund kommt der Kaufvertrag
zwischen K und L über den Miteigentumsanteil der F in Betracht. Dieser Kaufvertrag könnte aber unwirksam sein. Wie
die Auflassung hat L auch die für den Kaufvertragsschluss
erforderliche Willenserklärung unter dem Namen der F abgegeben. Da es sich um eine Identitätstäuschung handelte, sind
auch diesbezüglich die §§ 164 ff. BGB analog anzuwenden.
Mangels Vertretungsmacht der L war der Kaufvertrag zunächst schwebend unwirksam (§ 177 Abs. 1 BGB). Da F
keine Genehmigung erteilen wird, ist der Vertrag auch endgültig unwirksam. Damit liegt kein Rechtsgrund für die Bereicherung des K vor.
4. Herausgabe des erlangten etwas
K ist daher gem. § 818 Abs. 1 BGB zur Herausgabe der
Grundbuchposition verpflichtet. Dem Anspruch der F kann er
im Rahmen des § 818 Abs. 3 BGB nicht die Kaufpreiszahlung an L als Entreicherung entgegen halten. Anderenfalls
würde F im Rahmen des § 818 BGB doch so gestellt, als ob sie
zieht. Da V nur über seinen Anteil verfügt hat, kommt insofern nur eine Leistung der L in Betracht.
35
Vgl. nur Westermann (Fn. 27), § 812 Rn. 74 ff.; Lieb (Fn. 23),
§ 812 Rn. 228; kritisch zum Konzept der Eingriffskondiktion
aber Schall (Fn. 23), S. 76 ff.
ZIVILRECHT
selbst eine Leistung an K erbracht hätte. Dies widerspräche
aber der vorzunehmenden Risikozuweisung an K.36
5. Ergebnis
F hat gegen K einen Anspruch auf Herausgabe der Grundbuchposition bezüglich ihres Miteigentumsanteils aus § 812
Abs. 1 S. 1, 2. Alt. BGB.
VIII. §§ 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt., 1011 BGB auf Herausgabe der Grundbuchposition hinsichtlich des Miteigentumsanteils des V
Darüber hinaus kann F möglicherweise neben ihrem eigenen
Anspruch auf Herausgabe der Grundbuchposition bezüglich
ihres Miteigentumsanteils aufgrund von § 1011 BGB einen
möglichen Anspruch des V auf Herausgabe der Grundbuchposition aus § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. BGB mit geltend machen. Sie kann dann Zustimmung zur Eintragung von V und
sich selbst als Miteigentümer verlangen.
1. Anwendbarkeit von § 1011 BGB
Es stellt sich zunächst die Frage, ob F auch diesen Anspruch
nach § 1011 BGB allein geltend machen kann. Seinem Wortlaut nach erfasst § 1011 BGB nur Ansprüche „aus dem Eigentum“. Hiervon sollen aber nicht nur die sachenrechtlichen,
sondern auch die auf Verletzung des Eigentums beruhenden
schuldrechtlichen Ansprüche, namentlich solche aus Bereicherung erfasst sein.37 Somit ist F nach § 1011 BGB befugt,
im Wege der Prozessstandschaft einen etwaigen Anspruch
des Miteigentümers V gegen K im eigenen Namen geltend zu
machen.
2. Anspruch des V gegenüber K aus § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt.
BGB
a) Voraussetzungen
Die Grundbuchposition im Hinblick auf den Miteigentumsanteil des V könnte dem K durch Leistung des V zugeflossen
sein. V hatte die Absicht, dem K bewusst und zweckgerichtet
– nämlich zur Erfüllung seiner Verbindlichkeit aus dem
Kaufvertrag – das Eigentum an dem Grundstück zu verschaffen. Zwar war seine Absicht nicht darauf gerichtet, dem K
allein die Grundbuchposition zukommen zu lassen, jedoch ist
eine Grundbucheintragung zwingende Voraussetzung für den
Übergang des Eigentums und muss deshalb als weniger von
der Leistung des V als mit umfasst angesehen werden. Die
erforderliche Mitwirkung des Notars und des Grundbuchamtes stehen dieser Annahme nicht entgegen.
Die Leistung müsste auch ohne Rechtsgrund erfolgt sein.
Diese wäre der Fall, wenn zwischen K und V kein Kaufvertrag über den Miteigentumsanteil des V zustande gekommen
wäre. V und K haben sich zwar geeinigt. Diese Einigung
bezog sich jedoch nur auf die Verpflichtung zur Übertragung
36
Vgl. zur Bedeutung der Risikoverteilung im Rahmen des Entreicherungseinwands nur Westermann (Fn. 27), § 812 Rn. 31 ff.
37
BGH NJW 1993, 727; Bassenge (Fn. 10), § 1011 Rn. 2;
Gursky (Fn. 17), § 1011 Rn. 2.
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503
ÜBUNGSFALL
Gregor Roth/Silke Warmer
des Grundstücks im Ganzen, deren Wirksamkeit daran scheitert, dass eine Erklärung der F fehlt. Es könnte aber ein Kaufvertrag zwischen V und K nur über den Miteigentumsanteil
des V zustande gekommen sein. Dazu müssten die Erklärungen von V und K gem. § 140 BGB umgedeutet werden. Aufgrund der bereits unter I. 1. b) geschilderten Interessenlage
kann jedenfalls die Erklärung des K nicht entsprechend umgedeutet werden. Ein Kaufvertrag nur über den Miteigentumsanteils des V ist damit nicht zustande gekommen. Es fehlt
somit an einem Rechtsgrund für die Leistung des V.
Hinweis für eine alternative Lösung: Hat man unter I. 1.
b) den Lösungsweg über § 139 BGB gewählt, ist dieser
konsequent auch an dieser Stelle fortzuführen. Die Lösung könnte dann wie folgt formuliert sein:
Die Leistung müsste auch ohne Rechtsgrund erfolgt sein.
Diese wäre der Fall, wenn der Kaufvertrag zwischen V
und K nichtig ist. V hat für sich selbst gehandelt, weshalb eine Nichtigkeit aus den Gründen, die bei F einschlägig sind, nicht in Frage kommt. Der Kaufvertrag
über den Miteigentumsanteil des V könnte aber gemäß
§ 139 BGB deshalb nichtig sein, weil der Vertrag über
den Miteigentumsanteil der F nichtig war. § 139 BGB ist
auch anwendbar, wenn bei einem Rechtsgeschäft auf der
einen Seite mehrere Personen stehen und das Geschäft
im Verhältnis zu einer von ihnen nichtig ist.38 Es kommt
– genau wie bei der Auflassung – darauf an, ob anzunehmen ist, dass das Geschäft auch ohne den nichtigen
Teil vorgenommen worden wäre. Hier gelten die gleichen Erwägungen wie in Bezug auf die Auflassung. Es
ist nicht anzunehmen, dass K einen Kaufvertrag nur über
den Erwerb des Miteigentumsanteils des V geschlossen
hätten. Daher ist auch der Kaufvertrag zwischen V und K
nichtig und bildet keinen Rechtsgrund für die Leistung.
b) Umfang des Bereicherungsanspruchs
Der Anspruch des V gegen K richtet sich damit gem. § 818
Abs. 1 BGB auf Herausgabe der Grundbuchposition. V hat
damit einen Anspruch gegen K auf Herausgabe der Grundbuchposition aus § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. BGB.
c) Durchsetzbarkeit des Anspruchs
Fraglich ist allerdings, ob F diesen Anspruch des V gegenüber K durchsetzen kann. K steht aufgrund der Unwirksamkeit des Kaufvertrages mit V seinerseits ein Bereicherungsanspruch in Höhe von 200.000 € bezüglich des gezahlten Kaufpreises zu. Von daher könnte K ein Zurückbehaltungsrecht
gegen V nach § 273 BGB zustehen mit der Folge, dass der
Anspruch nur Zug um Zug durchsetzbar ist. Allerdings ist
eine Berufung auf das Zurück-behaltungsrecht wiederum
ausgeschlossen, da V und F hinsichtlich der Herausgabe der
Grundbuchposition im Ganzen Gesamtgläubiger sind.39
38
39
BGH NJW 1994, 1470 (1471).
Vgl. dazu schon unter II. 2.
3. Ergebnis
F kann gegen K auch einen Anspruch auf Grundbuchberichtigung aus § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. i.V.m. § 1011 BGB hinsichtlich des Miteigentumsanteils von V geltend machen.
IX. Ergebnis
F hat gegen K einen Anspruch auf Zustimmung zur Grundbuchberichtigung aus § 894 i.V.m. § 1011 BGB, auf Eintragung eines Widerspruchs gem. § 899 BGB und auf Herausgabe
der Grundbuchposition hinsichtlich ihres Miteigentumsanteils
aus § 812 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. BGB, hinsichtlich des Miteigentumsanteils des V aus § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. BGB.Soweit
der Miteigentumsanteil des V betroffen ist, kann F gem.
§ 1011 BGB entsprechende Ansprüche geltend machen, verpflichtet ist sie dazu nicht.
Ansprüche der F gegen V
I. §§ 280 Abs. 1, 249 Abs. 1 BGB auf Schadenersatz
F könnte gegen V ein Schadenersatzanspruch aus §§ 744
Abs. 1, 741, 747 S. 2, 280 Abs. 1 BGB zustehen.
1. Schuldverhältnis i.S.d. § 280 Abs. 1 BGB
Dazu müsste zunächst zwischen F und V ein Schuldverhältnis bestehen. Ein solches könnte sich zum einen aufgrund
gemeinschaftlichen Miteigentums und zum anderen aus der
Ehegemeinschaft ergeben. Ersteres wäre der Fall, wenn die
dadurch begründete Bruchteilsgemeinschaft nach §§ 741 ff.
BGB ein Schuldverhältnis im Sinne des § 280 Abs. 1 BGB
darstellt. Die Bruchteilsgemeinschaft selbst ist kein Schuldverhältnis zwischen den Beteiligten.40 Allerdings ist sie als
vorgegebene Tatsache Grundlage gesetzlicher Schuldverhältnisse, die in §§ 743 ff. BGB geregelt sind.41 Deren schuldhafte Verletzung kann Schadenersatzansprüche nach sich ziehen.42
2. Pflichtverletzung aus Miteigentum
Als möglicherweise durch V verletzte Pflichten kommen
§ 744 Abs. 1 und § 747 S. 2 BGB in Betracht.
a) § 744 Abs. 1 BGB
Nach § 744 Abs. 1 steht die Verwaltung des gemeinschaftlichen Gegenstandes den Teilhabern gemeinschaftlich zu.
Verfügungen über den gemeinschaftlichen Gegenstand stel-
40
BGHZ 62, 243 (246); Aderhold, in: Erman, BGB, 12. Aufl.
2008, § 741 Rn. 3; Langhein (Fn. 8), § 741 Rn. 260.
41
BGHZ 62, 243 (246); Gehrlein, in: Bamberger/Roth, Kommentar zum BGB, 2. Aufl. 2008, § 741 Rn. 12; Aderhold
(Fn. 40) § 741 Rn. 3; K. Schmidt (Fn. 11), § 741 Rn. 33;
Sprau (Fn. 11), § 741 Rn. 8 f; Langhein (Fn. 8), § 741 Rn.
260; Hadding, in: Soergel, Kommentar zum BGB, 12. Aufl.
2007, Vor § 741 Rn. 7; a.A. v. Gamm, in: RGRK, Kommentar zum BGB,12. Aufl. 1978, § 741 Rn. 12.
42
BGHZ 62, 243 (246); Gehrlein (Fn. 41), § 741 Rn. 12;
Aderhold (Fn. 40), § 741 Rn. 3; Sprau (Fn. 11), § 741 Rn. 9.
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len jedoch keine Verwaltungsmaßnahmen mehr dar.43 Damit
liegt kein Verstoß gegen § 744 Abs. 1 BGB vor.
b) § 747 S. 2 BGB
In Betracht kommt darüber hinaus ein Verstoß gegen § 747
S. 2 BGB, wonach die Teilhaber über den Gegenstand im
Ganzen nur gemeinschaftlich verfügen können. Diese Vorschrift begründet jedoch keine Verpflichtung zwischen den
Teilhabern der Gemeinschaft. Die Vorschrift betrifft Verfügungen und regelt ihre (Un-)Wirksamkeit. Damit begründet
sie keine obligatorische Verpflichtung, die verletzt werden
könnte.
3. Pflichtverletzung aus Ehe
Daneben könnte die Verfügung über das Grundstück auch
eine Pflichtverletzung der noch bestehenden Ehe darstellen.
Die vermögensrechtliche Schädigung des Ehegatten fällt allerdings nicht in den speziellen Schutzbereich der Ehegemeinschaft und stellt folglich keine Pflichtverletzung dar. Speziell
in Bezug auf Miteigentum begründet die Ehe keine weitergehenden Pflicht als in den §§ 743 ff. BGB geregelt.
4. Ergebnis
Da keine Pflichten der §§ 743 ff. BGB und der Ehegemeinschaft durch V verletzt worden sind, hat F gegen V keinen
Anspruch auf Schadensersatz aus §§ 280 Abs. 1, 249 Abs. 1
BGB.
II. §§ 687 Abs. 2 S. 1, 681 S. 2, 667 BGB auf Herausgabe
des Kaufpreises in Höhe von 200.000 €
F könnte gegen V einen Anspruch auf Herausgabe des von K
gezahlten Kaufpreises gem. §§ 687 Abs. 2 S. 1, 681 S. 2, 667
BGB haben. Dazu müsste V ein fremdes Geschäft – und zwar
ein solches der F – geführt haben. Als Geschäft kommt nur
die Verfügung über den Miteigentumsanteil an dem Grundstück in Betracht. V hat allerdings nur über seinen eigenen
Anteil verfügt; über den Anteil der F hat die L verfügt. Die
Verfügung über einen eigenen Miteigentumsanteil ist jedoch
objektiv kein fremdes Geschäft. Auch wollte V nicht subjektiv dieses Geschäft als fremdes führen. Damit handelte es
sich nicht um ein fremdes Geschäft, weshalb der Anspruch
aus §§ 687 Abs. 2 S. 1, 681 S. 2, 667 BGB auf Herausgabe
des Kaufpreises nicht besteht.
III. §§ 989, 990 Abs. 1 BGB auf Schadenersatz bzw.
§§ 987, 990 Abs. 1 BGB auf Herausgabe des Kaufpreises
in Höhe von 200.000 €
Ansprüche der F gegen V aus den §§ 987 ff. BGB kommen
nicht in Betracht, da zwischen F und V zu keinem Zeitpunkt
eine Vindikationslage oder eine Situation nach § 894 BGB,
bei der eine analoge Anwendbarkeit der §§ 987 ff. BGB
anzunehmen ist44, vorgelegen hat.45
43
Langhein (Fn. 8), § 744 Rn. 10.
Bassenge (Fn. 10), § 894 Rn. 10.
45
§ 1011 BGB sperrt die Anwendbarkeit der §§ 987 ff. BGB
im Verhältnis der Miteigentümer untereinander nicht, wenn
44
ZIVILRECHT
IV. §§ 823 Abs. 1, 830 Abs. 1 S. 1, 840 Abs. 1 auf Schadenersatz
Möglicherweise hat F aber einen deliktischen Schadenersatzanspruch aus §§ 823 Abs. 1, 830 Abs. 1 S. 1, 840 Abs. 1
BGB gegen V. Dazu müsste V rechtswidrig und schuldhaft ein
durch § 823 Abs. 1 BGB geschütztes Rechtsgut der F verletzt
haben.
1. Haftungsbegründender Tatbestand
a) Rechtsgutsverletzung
Durch die Verfügung über den Miteigentumsanteil könnte V
in das (Mit-)Eigentum der F eingegriffen haben.
aa) Handlung des V
Dazu ist zunächst ein Tun oder Unterlassen des V erforderlich. Das besteht hier in der Täuschung von N und K über die
Identität der L und in der Verfügung des V über seinen Miteigentumsanteil.
bb) Rechtsgutsverletzung
Darüber hinaus müsste eine Rechtsgutsverletzung vorliegen.
Vorliegend könnte das Eigentum der F durch die Eintragung
des K ins Grundbuch verletzt sein. Eine Eigentumsverletzung
ist gegeben, wenn in die durch § 903 BGB zum Ausdruck
kommende Herrschaftsbefugnis des Berechtigten eingegriffen wird. Neben der Entziehung und Belastung liegt daher in
sonstigen Störungen der Nutzbarkeit der Sache eine Eigentumsverletzung.46 Durch die Eintragung des K hat sich die
materielle Rechtslage nicht geändert. F ist weiterhin Miteigentümerin des Grundstücks. Durch seine Eintragung ins
Grundbuch kann K zwar nicht selbst (gutgläubig) Eigentum
am Grundstück erwerben. Allerdings können aufgrund der
Rechtsscheinswirkung nach § 892 BGB Dritte von K gutgläubig Eigentum erwerben mit der Folge, dass F ihr Eigentum an dem Grundstück verlieren würde. Insoweit liegt zumindest eine Eigentumsgefährdung vor. Außerdem wurde F
die zum Eigentum gehörende Möglichkeit genommen, über
ihr Recht zu verfügen. Eine Verfügung durch F ist nicht mehr
möglich, weil sie nicht im Grundbuch eingetragen ist und
deshalb keine Bewilligung nach § 19 GBO erteilen kann.
Eine solche ist jedoch notwendig, um die Eintragung eines
Erwerbers im Grundbuch (vgl. § 873 Abs. 1 BGB) herbeizuführen. Aufgrund der Gefährdungslage und des faktischen
Verlustes der Verfügungsmöglichkeit liegt allein im Entzug
der Buchposition eine Eigentumsverletzung.47 Es liegt somit
eine Rechtsgutverletzung vor.
einem Miteigentümer unberechtigt sein Mitbesitz entzogen
worden ist (Gursky [Fn. 17], § 1011 Rn. 9 f.; Stürner, in:
Soergel, Kommentar zum BGB, 13. Aufl. 2007,§ 1011 Rn. 3;
K.Schmidt [Fn. 11], § 1011 Rn. 1).
46
Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, 4. Aufl.
2004, § 823 Rn. 95.
47
I.E. so auch Bassenge (Fn. 10), § 894 Rn. 15; Gursky
(Fn. 7), § 894 Rn. 155.
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505
ÜBUNGSFALL
Gregor Roth/Silke Warmer
cc) Haftungsbegründende Kausalität
Das Verhalten des V müsste kausal für die Rechtsgutsverletzung der F sein. Die Kausalität ist im Zivilrecht nach der
Adäquanztheorie zu beurteilen.48 Adäquat kausal ist ein Verursachungsbeitrag dann, wenn das Ereignis im allgemeinen
und nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf außer Betracht zu
lassenden Umständen geeignet ist, einen Erfolg der eingetretenen Art herbeizuführen.49 Tatfolgen, die vom Vorsatz mit
umfasst sind, sind immer adäquat.50 Hier war für V vorhersehbar und auch von seinem Vorsatz umfasst, dass durch die
Täuschung von N und K über die Identität der L und die
Abgabe der Auflassungserklärung letztendlich der K im
Grundbuch eingetragen werden würde. Die weiteren Zwischenschritte, insbesondere die Mitwirkung durch N und das
Grundbuchamt, unterbrechen die Kausalität nicht.
Fraglich ist allerdings, wie es sich auswirkt, dass außerdem die Mitwirkung der L erforderlich war, um die vermeintliche Eigentumsübertragung durchzuführen. Ohne die von L
abgegebene Erklärung hätte auch K die Auflassung nicht
erklärt, so dass es nicht zu der Rechtsgutsverletzung gekommen wäre. Die notwendige Beteiligung der L könnte V allerdings im Wege der Mittäterschaft zugerechnet werden. V und
L haben aufgrund eines gemeinsamen Tatplans bei der Tatausführung zusammengewirkt, wobei der jeweilige Tatbeitrag essentiell für die Herbeiführung des Taterfolges war. Sie
handelten somit als Mittäter mit der Folge, dass ihre Tatbeiträge nach § 830 Abs. 1 S. 1 BGB gegenseitig zugerechnet
werden.51 Die Handlung des V war daher auch kausal.52
b) Rechtswidrigkeit/Verschulden
Die Verfügung des V über seinen Miteigentumsanteil war
nicht rechtswidrig, da eine solche Verfügung nach § 747 S. 1
BGB erlaubt ist. Zusammen mit der Täuschung über die
Identität der L stellt sich das Verhalten allerdings sehr wohl
in Bezug auf den Miteigentumsanteil der F als rechtswidrig
dar. V handelte vorsätzlich und damit schuldhaft.
2. Haftungsausfüllender Tatbestand
Damit liegen die Voraussetzungen eines deliktischen Schadenersatzanspruchs der F gegenüber V vor. Rechtsfolge ist
eine Verpflichtung zum Schadenersatz, weshalb ein durch die
Rechtsgutsverletzung adäquat kausal verursachter Schaden
48
Heinrichs (Fn. 4), Vor § 249 Rn. 58 ff.
BGHZ 7, 204; 57, 141; BGH NJW 1995, 127; NJW 1998,
140.
50
BGHZ 79, 259 (262); BAG NJW 1990, 3228; Heinrichs
(Fn. 4), Vor § 249 Rn. 60.
51
Zur Wertung des § 830 Abs. 1 S. 1 als Zurechnungsregelung
Wagner (Fn. 46), § 830 Rn. 5. Mit einer weit verbreiteten Meinung hätte § 830 Abs. 1 S. 1 BGB nach Verneinung der Kausalität auch als selbständige Anspruchsgrundlage geprüft
werden können.
52
Vgl. zur Zurechnung allein auf Ebene des § 823 Abs. 1
BGB in derartigen Fällen BGH LM § 830 BGB Nr. 15; Benicke, Jura 1996, 127 (128, Fn. 13).
49
festgestellt werden muss. Dieser ist durch einen Vergleich der
hypothetischen Vermögenssituation des Anspruchstellers und
seiner Vermögenssituation nach dem schädigenden Ereignis
zu ermitteln (sogenannte Differenzhypothese).53 Vor der
Verfügung des V über seinen Miteigentumsanteil und der
Eintragung des K im Grundbuch hatte die F in ihrem Vermögen neben dem Miteigentumsanteil an dem Grundstück auch
die Eintragung im Grundbuch. Ohne das schädigende Ereignis wäre es auch bei diesem Zustand geblieben. Nach der
Eintragung des K ist F zwar weiterhin Miteigentümerin des
Grundstücks, jedoch hat sie die Grundbuchposition nicht
mehr in ihrem Vermögen. Damit ist der jetzige Wert des
Vermögens der F geringer als er ohne das schädigende Ereignis wäre. Grundsätzlich ist ein Schadenersatzanspruch auf
Naturalrestitution gerichtet, § 249 Abs. 1 BGB. Das würde
im vorliegenden Fall bedeuten, dass V dafür sorgen müsste,
dass F wieder im Grundbuch eingetragen wird. Nach § 19
GBO wird eine Grundbucheintragung jedoch nur dann vorgenommen, wenn sie von demjenigen bewilligt wird, dessen
Recht von ihr betroffen wird. Das ist zwar – wenn Buchberechtigter und wahrer Berechtigter auseinander fallen – der
wahre Berechtigte. Jedoch gilt für das Grundbuchamt die
Vermutung des § 891 Abs. 1 BGB; nur bei Kenntnis des
Grundbuchamtes von der Nichtidentität ist deshalb eine Bewilligung des wahren Berechtigten erforderlich. Ansonsten
bedarf es einer Bewilligung des Buchberechtigten.54 Infolgedessen ist eine Bewilligung des K erforderlich, da er im
Grundbuch eingetragen ist. V ist es nicht möglich, diese
Bewilligung zu erteilen und damit den Eintrag von F im
Grundbuch herbeizuführen. Die Leistung von Schadenersatz
in Form von Naturalrestitution scheidet folglich aus. V ist
insoweit allerdings verpflichtet, auf die Bewilligung des K
hinzuwirken.
Nach § 251 Abs. 1 BGB ist für den Fall, dass die Wiederherstellung (auch nur subjektiv) nicht möglich ist, eine Entschädigung in Geld vorgesehen. Fraglich ist, wie diese Entschädigung zu berechnen ist. Die Grundbuchposition als
solche hat keinen Wert, der sich in einem Geldbetrag ausdrücken ließe. Ihr Wert besteht nur darin, die Verfügungsmöglichkeit über das Grundstück und dadurch die Möglichkeit zu
haben, durch Veräußerung einen Preis zu erzielen. Die F
kann deshalb, solange das Eigentum an dem Grundstück noch
nicht von einem Dritten gutgläubig erworben worden ist,
einen Schaden noch nicht beziffern. Der Anspruch entfällt
außerdem bereits in dem Moment, in dem entweder F wieder
im Grundbuch oder zumindest ein Widerspruch gegen dessen
Richtigkeit eingetragen ist. Sollte das Eigentum von einem
Dritten gutgläubig erworben werden, hätte F einen Anspruch
auf Entschädigung in Höhe des Wertes ihres Miteigentumsanteils.55 Sie kann sich selbst bei zusätzlich bestehender Ver53
Heinrichs (Fn. 4), Vor § 249 Rn. 8.
Demharter (Fn. 10), § 19 Rn. 46 f.; Lichtenberger, in:
Meikel u.a. (Hrsg.), Grundbuchrecht, 1999, § 19 Rn. 364.
55
Für den Fall, dass F dann von V Entschädigung fordert,
steht V allerdings ein Zurückbehaltungsrecht nach § 273
BGB zu. Er hat nämlich nach § 255 BGB gegen F einen
Anspruch auf Abtretung der Ansprüche, die ihr gegenüber K
54
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ZJS 5/2008
506
Die falsche Frau
ZIVILRECHT
antwortlichkeit der L aus Delikt allein an V halten, da dieser
nach § 840 Abs. 1 BGB jedenfalls als Gesamtschuldner haftet.
Getäuschten unerheblich.58 Ohne die Täuschung des V wäre
N dem Irrtum nicht unterlegen, so dass die Anforderungen
der Äquivalenztheorie erfüllt sind.
3. Ergebnis
F hat dem Grunde nach einen Schadenersatzanspruch aus
§§ 823 Abs. 1, 840 Abs. 1 BGB gegen V. Da sie jedoch bislang keinen bezifferbaren Schaden erlitten hat, kann sie einen
Leistungsanspruch noch nicht geltend machen.56
c) Irrtumsbedingte Vermögensverfügung
Aufgrund dieses Irrtums müsste N eine Vermögensverfügung
getätigt haben. Eine Vermögensverfügung ist jedes Tun,
Dulden oder Unterlassen, das sich unmittelbar vermögensmindernd auswirkt.59 Hier kommt als Vermögensverfügung
die Beurkundung der Auflassungserklärungen durch N in
Betracht. Hierdurch könnte das Vermögen der F gemindert
worden sein. Fraglich ist insofern die Unmittelbarkeit, da
durch die Beurkundung die Eintragung des K im Grundbuch
nicht unmittelbar bewirkt wurde. Unmittelbarkeit ist dann zu
bejahen, wenn keine weiteren Zwischenschritte erforderlich
sind, damit die Vermögensminderung eintritt. Zur Eintragung
des K im Grundbuch und damit dem Verlust der Grundbuchposition der F waren nach der Beurkundung noch die Stellung des Eintragungsantrags beim Grundbuchamt und die
Eintragung durch das Grundbuchamt erforderlich. Fraglich
ist, ob diese Zwischenschritte die Unmittelbarkeit ausschließen. Dies ist zweifelhaft. Für die Bejahung einer Unmittelbarkeit könnte sprechen, dass die weiteren notwendigen Zwischenschritte lediglich formaler Natur und insoweit bedeutungslos für das Merkmal der Unmittelbarkeit sind.
Im Ergebnis kann dies aber dahinstehen, wenn es an der
für einen Dreiecksbetrug notwendigen „Verfügungsbefugnis“
des Getäuschten über das Vermögen des letztlich Geschädigten fehlt. Dafür ist keine rechtliche Verfügungsmacht erforderlich, es genügt vielmehr eine tatsächliche Beziehung zu
dem Geschädigten, die es dem Getäuschten ermöglicht, über
das fremde Vermögen zu disponieren.60 Allein der Umstand,
dass N von F nicht beauftragt worden ist oder sonst wie „im
Lager“ der F steht, könnte aufgrund seiner Amtsstellung
unbeachtlich sein. In Fällen des sogenannten Prozessbetrugs
ist anerkannt, dass das entscheidende Gericht trotz fehlender
Nähebeziehung zur geschädigten Partei „verfügungsbefugt“
i.S.v. § 263 Abs. 1 StGB ist.61 Zur Begründung wird angeführt, dass der Getäuschte kraft seiner hoheitlichen Stellung
Anordnungen unmittelbar zum Nachteil des fremden Vermögens treffen kann.62 Der vorliegende Fall unterscheidet sich
davon jedoch insoweit, als ein Notar zwar auch im gewissen
Umfang mit staatlicher Macht ausgestattet ist. Diese reicht
aber nicht soweit, dass er verbindlich für völlig Unbeteiligte
Rechtsänderungen vornehmen kann. Die von ihm vorliegend
getätigte Beurkundung ermöglicht vielmehr nur eine Änderung des Grundbuchs durch das Grundbuchamt. Von daher
V. §§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. einem Schutzgesetz auf
Schadenersatz
F könnte gegen V einen Anspruch auf Schadenersatz aus
§§ 823 Abs. 2, 249 BGB in Verbindung mit einem Schutzgesetz haben.
1. § 263 StGB als Schutzgesetz
Dann müsste V gegen ein Schutzgesetz verstoßen haben. In
Betracht kommt zunächst ein Betrug des V nach § 263 Abs. 1
StGB gegenüber N und zum Nachteil der F. § 263 Abs. 1
StGB ist als Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB
anerkannt.57 Es müssten weiterhin die Voraussetzungen des
§ 263 StGB erfüllt sein.
a) Täuschung
Indem V gegenüber N die L seit Jahren als seine Frau, also als F,
ausgegeben hat, hat er ihm eine unwahre Tatsache vorgespiegelt. Aufgrund dessen war er zudem aus Ingerenz verpflichtet, N spätestens zum Zeitpunkt der Auflassungserklärung über
die wahre Identität der L aufzuklären. Dies hat er nicht getan.
Somit liegt eine Täuschung des V vor.
b) Täuschungsbedingter Irrtum
Aufgrund dieser Täuschung müsste N sich geirrt haben. N
unterlag dem Irrtum, dass es sich bei der L um die F handelte.
Die Täuschung müsste kausal im Sinne der Äquivalenztheorie für diesen Irrtum gewesen sein. Hier beruhte der Irrtum
des N auf der falschen Identitätsangabe des V. Zwar hat N es
auch pflichtwidrig unterlassen, sich Gewissheit über die Person der L zu verschaffen. Hierzu wäre er nach § 10 Abs. 2
S. 1 BeurkG verpflichtet gewesen. Allerdings beruhte dieses
Unterlassen des N zum einen kausal auf der Täuschung des
V, da N irrtümlich davon ausging, die Identität der L zu kennen. Zum anderen ist eine mitwirkende Fahrlässigkeit des
zustehen. Gegen K hat F bei entgeltlicher Verfügung einen
Anspruch aus § 816 Abs. 1 S. 1 BGB auf Herausgabe des
durch die Verfügung Erlangten, also die Hälfte eines eventuellen Kaufpreises. Bei unentgeltlicher Verfügung des K hat F
einen Anspruch gegen den Dritten aus § 816 Abs. 1 S. 2
BGB, den sie dem V abtreten muss.
56
F könnte bereits Feststellungsklage erheben mit dem Ziel,
feststellen zu lassen, dass V zum Ersatz aller in Zukunft entstehenden Schäden aus der Verfügung verpflichtet ist.
57
Sprau (Fn. 11), § 823 Rn. 69.
58
Tiedemann, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 12. Aufl. 2007, § 263 Rn.
93.
59
BGHSt 14, 170 (171); Cramer, in: Schönke/Schröder
(Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Aufl. 2007, § 263
Rn. 55.
60
Vgl. nur Cramer (Fn. 59), § 263 Rn. 65.
61
Dazu nur Cramer (Fn. 59), § 263 Rn. 69 ff.
62
Cramer (Fn. 59), § 263 Rn. 68.
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507
ÜBUNGSFALL
Gregor Roth/Silke Warmer
ist das Vorliegen einer Verfügungsbefugnis abzulehnen mit
der Folge, dass N nicht wirksam zulasten von F verfügt hat.
d) Ergebnis
Der Betrugstatbestand ist nicht erfüllt.
2. §§ 267 Abs. 1, 271 Abs. 1, 25 Abs. 1, 2. Alt., Abs. 2 StGB
als Schutzgesetz
Eine Schutzgesetzverletzung gem. §§ 267 Abs. 1, 271 Abs. 1,
25 Abs. 1, 2. Alt., Abs. 2 StGB könnte in Zusammenhang mit
der Bewirkung der Beurkundung der vermeintlichen Auflassungserklärung der F durch N und die Eintragung der Eigentumsübertragung ins Grundbuch erfolgt sein. Dazu müsste es
sich bei §§ 267 bzw. 271 StGB um Schutzgesetze i.S.v. § 823
Abs. 2 BGB handeln. Schutzgesetz im Sinne von § 823
Abs. 2 BGB ist eine Norm, die nach Zweck und Inhalt wenigstens auch auf den Schutz von Individualinteressen vor
einer näher bestimmten Art ihrer Verletzung ausgerichtet
ist.63 Es genügt nicht, dass der Individualschutz durch Befolgen der Norm als ihr Reflex objektiv erreicht werden kann; er
muss im Aufgabenbereich der Norm liegen.64 Andererseits
muss sich das Schutzgesetz auch nicht in der Gewährleistung
von Individualschutz erschöpfen; es reicht aus, dass dieser
eines der gesetzgeberischen Anliegen der Norm ist, selbst
wenn auf die Allgemeinheit gerichtete Schutzzwecke ganz im
Vordergrund stehen.65
Weder bei § 267 StGB noch bei § 271 StGB ist das Vermögen als Verletzungsobjekt oder als Objekt konkreter Gefährdung genannt.66 § 267 StGB schützt allein die Echtheit
von Urkunden,67 während § 271 StGB die Wahrheit von
Urkunden schützt.68 Beide Normen schützen damit auf ihre
jeweils spezifische Art und Weise die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Rechtsverkehrs mit Urkunden. Sie schützen
damit – auch nicht mittelbar – vermögensrechtliche Individualinteressen einzelner.69 §§ 267 und 271 StGB sind damit
keine Schutzgesetze i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB.
3. § 246 StGB als Schutzgesetz
Schließlich könnte in der Verfügung über das Gemeinschaftseigentum mit der Folge, dass K Buchbesitz an dem
Grundstück erlangt, auch ein Verstoß gegen § 246 StGB
liegen. Der Unterschlagungstatbestand erfasst allerdings nur
bewegliche Sachen, so dass eine Schutzgesetzverletzung insoweit von vornherein ausscheidet.
63
BGHZ 22, 293 (297); 40, 306 (307); 46, 17 (23); 64, 232
(237); 100, 13 (14 f).
64
BGHZ 66, 388 (389 f); 100, 13 (15).
65
St. Rspr.; vgl. BGHZ 12, 146 (148); 29, 344 (350 f); 40,
(305); 46, 17 (23); 63, 176 (179); 66, 388 (390); 69, 1 (16);
84, 312 (314); 100, 13 (15).
66
BGHZ 100, 13 (15) zu § 267 StGB.
67
Cramer/Heine (Fn. 59), § 267 Rn. 1.
68
Cramer/Heine (Fn. 59), § 267 Rn. 1.
69
Vgl. BGHZ 100, 13 (16 f.) zu § 267 StGB; Cramer/Heine,
(Fn. 59), § 267 Rn. 1a.
4. Ergebnis
F stehen gegen V keine Ansprüche gem. § 823 Abs. 2 BGB
i.V.m. einem Schutzgesetz zu.
VI. §§ 826, 840 Abs. 1 BGB auf Schadenersatz
F könnte gegenüber V einen Anspruch auf Schadenersatz aus
§§ 826, 840 Abs. 1 BGB haben.
1. Sittenverstoß
Ein solcher Anspruch setzt einen Sittenverstoß des Schuldners, also des V, voraus. V könnte durch die Täuschung von
N und K und die Ausnutzung ihres Irrtums zum Abschluss
des Kaufvertrages und zur Beurkundung der Auflassungen
gegen die guten Sitten verstoßen haben. Ein Verhalten ist
dann sittenwidrig, wenn es besonders verwerflich ist, wobei
die Verwerflichkeit sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage tretenden Gesinnung oder den
eintretenden Folgen ergeben kann.70 Hier hat V mit seinem
Handeln das Ziel verfolgt, für sich und L den Kaufpreis für
das Grundstück zu erlangen und die Miteigentümerin F in
Unkenntnis zu lassen, das Grundstück also hinter ihrem Rücken zu veräußern. Dieses Ziel erscheint als besonders verwerflich, so dass Sittenwidrigkeit zu bejahen ist.
2. Schaden
Der Schaden, der durch das Verhalten des V eingetreten ist,
ist der Verlust der Grundbuchposition auf Seiten der F, der
einen Verlust der Verfügungsmöglichkeit über den Miteigentumsanteil und die Gefahr des Eigentumsverlustes zur Folge
hatte. Wie bereits unter IV. 2. dargestellt, lässt sich dieser
Schaden jedoch derzeit nicht in Geld beziffern.
3. Vorsatz
Der Vorsatz des V müsste sich sowohl auf sein Verhalten als
auch auf die Art und Richtung des eingetretenen Schadens
beziehen. V hatte beabsichtigt, der F das Miteigentum an dem
Grundstück zu entziehen; das eingetretene Ergebnis ist als
weniger von seinem Vorsatz umfasst.
4. Ergebnis
Die Voraussetzungen für einen Schadenersatzanspruch nach
§§ 826, 840 Abs. 1 liegen dem Grunde nach vor. F kann allerdings aus o.g. Gründen noch keinen Leistungsanspruch geltend machen.
VII. § 812 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. BGB auf Herausgabe des
Kaufpreises
F könnte gegen V einen Anspruch auf Herausgabe des Kaufpreises aus § 812 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. BGB haben.
Mit dem Eigentum an dem Geld bzw. der Guthabenforderung gegen seine Bank hat V etwas erlangt. Dies müsste in
sonstiger Weise, also nicht durch Leistung, geschehen sein.
Hier hat aber K bewusst und zweckgerichtet dem V das Geld
zukommen lassen, um seine Verbindlichkeit aus dem Kauf70
BGH NJW 2004, 2668 (2670); Sprau (Fn. 11), § 826 Rn. 4.
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Die falsche Frau
vertrag zu erfüllen. Damit liegt eine Leistung vor. Die Nichtleistungskondiktion der F ist damit ausgeschlossen.
VIII. Ergebnis
F hat gegen V dem Grunde nach Schadenersatzansprüche aus
§§ 823 Abs. 1, 830 Abs. 1 S. 1, 840 Abs. 1 und §§ 826, 830
Abs. 1 S. 1, 840 Abs. 1 BGB. Da ein Schaden noch nicht
bezifferbar ist, kann F einen Leistungsanspruch derzeit noch
nicht geltend machen.
Ansprüche der F gegen L
I. §§ 687 Abs. 2 S. 1, 681 S. 2, 667 BGB auf Herausgabe
des Kaufpreises/§§ 678, 687 Abs. 2 S. 1 BGB auf Schadenersatz
F könnte gegenüber L einen Anspruch auf Herausgabe des
Kaufpreises in Höhe von 200.000 € aus §§ 687 Abs. 2 S. 1,
681 S. 2, 667 BGB zustehen.
1. Fremdes Geschäft
Ein solcher Anspruch setzt zunächst voraus, dass L ein fremdes Geschäft vorgenommen hat. Als Geschäft kommt die
Abgabe der Auflassungserklärung der L hinsichtlich des Miteigentumsanteils der F in Betracht. Da es sich um den Miteigentumsanteil der F handelte, wäre es auch ihre Sache gewesen, über diesen Anteil zu verfügen. Damit war das Geschäft
für L objektiv fremd.
2. Behandlung als eigenes Geschäft, § 687 Abs. 2 S. 1 BGB
L könnte dieses Geschäft als eigenes behandelt haben. § 687
Abs. 2 S. 1 BGB setzt subjektiv neben einem Fremdgeschäftsführungsbewusstsein die Kenntnis des Geschäftsführers von seiner fehlenden Berechtigung und ein Handeln in
eigennütziger Absicht voraus. Letzteres könnte aufgrund des
Handelns unter fremdem Namen fraglich sein. L hat das
Geschäft selbst vorgenommen, obwohl der Anteil der F betroffen war und es sich damit um ein Geschäft der F gehandelt hätte. Sie hat also nach außen hin nicht als dritte Person
ein Geschäft einer anderen Person vorgenommen, sondern ist
als diese dritte Person aufgetreten und hat dann ein eigenes
Geschäft als diese Person vorgenommen. Will der Geschäftsführer durch Handeln unter fremdem Namen erst einen Geschäftsabschluss ermöglichen, handelt er in eigennütziger
Absicht, da er nicht den Geschäftsherrn, sondern sich selbst
einen Vorteil verschaffen will.71 Dies gilt auch in Fällen der
vorliegenden Art, wenn der Geschäftsführer weiß oder damit
rechnet, dass es dem Vertragsgegner auf die Identität seines
Vertragspartners ankommt. L behandelt daher das Geschäft
der F als eigenes, obwohl sie weiß, dass sie dazu nicht berechtigt ist. Damit sind auch die subjektiven Voraussetzungen
gegeben. Die Voraussetzungen des § 687 Abs. 2 S. 1 BGB
sind damit erfüllt.
71
Bergmann, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2006,
§ 687 Rn. 31.
ZIVILRECHT
3. Rechtsfolge
F könnte gegen L sowohl einen Anspruch auf Herausgabe des
Erlangten nach §§ 681 S. 2, 667 BGB als auch einen Anspruch auf Schadensersatz nach §§ 678, 687 Abs. 2 S. 1, 249
ff. BGB haben.
a) Herausgabeanspruch
Hinsichtlich des Herausgabeanspruchs könnte fraglich sein,
ob dieser die Kaufpreiszahlung des K an L erfasst. Maßgeblich ist insoweit, ob die 200.000 € durch die Geschäftsbesorgung erlangt worden sind. Erlangt i.S.v. § 667 BGB ist nicht
alles, was der Geschäftsführer kausal aufgrund der Geschäftsbesorgung erhalten hat. Vielmehr kommt es zusätzlich
darauf an, dass das Erlangte wertungsmäßig dem Geschäftsherrn gebührt. Dies ist nicht der Fall bei Sachen, die nur bei
Gelegenheit der Geschäftsführung erlangt worden sind.72
Hier hat L aufgrund des Geschäftsabschlusses den Kaufpreis
erlangt. Dieser stellt die wirtschaftliche Kompensation für die
Übertragung des Miteigentumsanteils an K dar. Insoweit
gebührt der Kaufpreis eigentlich der F. Dabei bliebe aber
unberücksichtigt, dass K zunächst kein Eigentum erworben
und F kein Miteigentum verloren hat, da die Auflassungserklärungen unwirksam waren. Einer wirtschaftlichen Kompensation zugunsten der F bedurfte es daher nicht. Vielmehr
steht K gegen L aus § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. BGB ein Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises in Höhe von
200.000 € zu. L hätte somit den Kaufpreis auch nicht dauerhaft erlangt.
Dieses Ergebnis könnte sich jedoch ändern, wenn in dem
Herausgabeverlangen nach §§ 681 S. 2, 667 BGB konkludent
die Genehmigungserklärung der F hinsichtlich der Auflassungserklärung der L (§ 177 Abs. 1 BGB analog) liegen
würde mit der Folge, dass die Auflassungserklärung der F
nunmehr wirksam und damit K Eigentümer des gesamten
Grundstücks würde.73 Ein Herausgabeverlangen der F könnte
entsprechend ausgelegt werden. Problematisch ist insoweit
allein, ob die darin enthaltene Genehmigung der Vertretung
ohne Vertretungsmacht dem Formerfordernis des § 311b
Abs. 1 BGB unterliegt. Nach § 167 Abs. 2 BGB bedarf die
Erteilung einer Vollmacht nicht der Form des Rechtsgeschäfts, auf welches sich die Vollmacht bezieht. Da für die
72
Beuthien, in: Soergel, Kommentar zum BGB, 12. Aufl.
2000, § 667 Rn. 7.
73
Bei der Wirkung einer konkludenten Genehmigung musste
die Besonderheit des Falles beachtet werden: Die Genehmigung bezöge sich nicht wie beim Normalfall einer Verfügung
Dritter allein auf die Verfügungsberechtigung (§ 185 BGB),
sondern hätte auch Wirkung auf das Zustandekommen des
Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäftes, da ein „Vertretungsfall“ in Form des Handelns unter fremden Namen vorlag. Mithin bezöge sich die Genehmigung auch auf die Vertretererklärung mit der Folge, dass durch die Genehmigung
das Geschäft insgesamt mit Wirkung von Beginn gem. § 184
BGB für und gegen F wirksam würde (vgl. dazu Leptien, in:
Soergel, Kommentar zum BGB, 13. Aufl. 1999, § 177 Rn.
28).
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509
ÜBUNGSFALL
Gregor Roth/Silke Warmer
Genehmigung nach § 177 Abs. 1 BGB als eine Art „nachträgliche“ Vollmachtserteilung nichts anderes gelten kann, bedarf
diese ebenfalls nicht der Form. Die Genehmigung war somit
formfrei möglicht. Macht F gegen L die Herausgabe des
Kaufpreises geltend, liegt darin eine konkludente Genehmigung analog § 177 Abs. 1 BGB mit der Folge, dass L den
Kaufpreis durch die Geschäftsführung erlangt hat.74 Der
Herausgabeanspruch umfasst dann auch die Kaufpreiszahlung von K an L.
F möchte ausweislich des Sachverhalts jedoch ihr Miteigentum am Grundstück nicht verlieren. Von daher kann ihr
nicht geraten werden, einen Anspruch auf Herausgabe des
Kaufpreises gegen L geltend zu machen.
b) Schadenersatzanspruch75
F könnte gegen L allerdings ein Schadenersatzanspruch aus
§ 678 BGB zustehen. Dieser richtet sich zunächst auf die
Berichtigung des Grundbuches. Diese kann L jedoch ebenso
wenig wie V selbst bewirken. Insoweit schuldet sie nur Geldersatz nach § 251 Abs. 1 BGB. Sollte das Eigentum von
einem Dritten von K gutgläubig erworben werden, hätte F
einen Anspruch auf Entschädigung in Höhe des Wertes ihres
Miteigentumsanteils.76
4. Durchsetzbarkeit
Die Ansprüche gegen L müssten auch durchsetzbar sein.
Daran könnte es aufgrund eines Zurückbehaltungsrechts der
L nach § 273 BGB fehlen. Vorliegend kommt als Grundlage
für ein Zurückbehaltungsrecht der L nur ein Anspruch aus
§ 255 BGB in Betracht. § 255 BGB müsste sowohl auf den
Herausgabe- als auch den Schadenersatzanspruch anwendbar
sein.
Für den Schadenersatzanspruch der F ist dies der Fall, da
dieser ihr im Falle eines gutgläubigen Erwerbs von K zustehen
würde mit der Folge des Eigentumsverlustes. F müsste etwaige
Ansprüche gegen K (vor allem aus § 816 BGB) an L abtreten.
Macht F hingegen den Herausgabeanspruch geltend, greift
§ 255 BGB nicht. § 255 BGB gibt nur dem Schuldner eines
74
Die Genehmigung analog § 177 BGB führt nicht dazu, dass
V nunmehr im Verhältnis zu F als Vertreterin gehandelt hat
mit der Folge, dass sie ein fremdes Geschäft in fremden Namen ausgeführt hat und damit die Voraussetzungen des § 687
Abs. 2 nachträglich entfallen. Die Genehmigung würde nur
Wirkung für das Verhältnis F – K entfalten (vgl. Bergmann
[Fn. 71], § 687 Rn. 32).
75
Vgl. dazu bereits ausführlich unter IV. 2.
76
Für den Fall, dass F dann von V Entschädigung fordert,
steht V allerdings ein Zurückbehaltungsrecht nach § 273
BGB zu. Er hat nämlich nach § 255 BGB gegen F einen
Anspruch auf Abtretung der Ansprüche, die ihr gegenüber K
zustehen. Gegen K hat F bei entgeltlicher Verfügung einen
Anspruch aus § 816 Abs. 1 S. 1 BGB auf Herausgabe des
durch die Verfügung Erlangten, also die Hälfte eines eventuellen Kaufpreises. Bei unentgeltlicher Verfügung des K hat F
einen Anspruch gegen den Dritten aus § 816 Abs. 1 S. 2
BGB, den sie dem V abtreten muss.
Schadenersatzanspruchs einen Anspruch auf Abtretung.77
Zudem stünde F gegen einen Dritten (also K) auch kein Ersatzanspruch zu, den sie an L abtreten könnte.
5. Ergebnis
F hat gegen L alternativ einen Anspruch auf Herausgabe des
Kaufpreises aus §§ 687 Abs. 2 S. 1, 681 S. 2, 667 BGB oder
Schadenersatz nach §§ 687, 678, 249 BGB. Letzterer wäre
nur gegen Abtretung etwaiger Ansprüche der F gegen K nach
§ 255 BGB durchsetzbar.
Da die Geltendmachung des Anspruchs auf Herausgabe
des Kaufpreises aus §§ 687 Abs. 2 S. 1, 681 S. 2, 667 BGB
aufgrund der konkludenten Genehmigungserklärung mit dem
Verlust des Eigentums verbunden wäre, kann F ein dahingehendes Vorgehen nicht empfohlen werden.
II. §§ 823 Abs. 1 und 2, 826, 830 Abs. 1 S. 1, 840 Abs. 1
BGB auf Schadenersatz
Im Hinblick auf einen deliktischen Schadenersatzanspruch
der F gegen L aus §§ 823 Abs. 1, und 2, 826, 830 Abs. 1.
S. 1, 840 Abs. 1 BGB gilt das beim Anspruch gegenüber V
Gesagte. Deliktisches Verhalten der L ist die Täuschung über
die Identität und die vermeintliche Verfügung über den Miteigentumsanteil der F.
III. § 812 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. BGB auf Herausgabe des
Kaufpreises
Ein Anspruch gegen L auf Herausgabe des Kaufpreises aus
§ 812 Abs.1 S. 1, 2. Alt. BGB ist aus denselben Gründen
abzulehnen wie ein Anspruch gegenüber V (s.o.).
IV. § 816 Abs. 1 S. 1 BGB auf Herausgabe des Kaufpreises
F könnte schließlich einen Anspruch gegen L auf Herausgabe
des Kaufpreises aus § 816 Abs. 1 S. 1 BGB haben. Dazu
müsste L als Nichtberechtigte wirksam über den Miteigentumsanteil verfügt haben. L hat nicht wirksam über den Miteigentumsanteil der F verfügt. Allein die Möglichkeit eines
späteren gut-gläubigen Erwerbs eines Dritten von K aufgrund
dessen formeller Buchposition stellt ebenso wenig eine Verfügung dar wie die bloße Einräumung der Buchposition. Es
fehlt somit derzeit an einer wirksamen Verfügung.
Allerdings könnte wie bereits unter I. 3. a) in der Geltendmachung des Anspruchs eine konkludente Genehmigung
der Auflassungserklärung nach § 177 Abs. 1 BGB analog
liegen mit der Folge, dass die Verfügung wirksam wird.78
Fraglich ist insoweit allerdings, ob es sich in diesem Fall
noch um eine Verfügung der L und nicht eine solche der F
handelt. Die Wirkung der Genehmigung nach § 177 BGB
wäre, dass F selbst Vertragspartnerin des Verfügungsgeschäfts wird und nicht L.79 § 816 Abs. 1 S. 1 BGB regelt
77
Oetker, in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl.
2007, § 255 Rn. 7; Heinrichs (Fn. 4), § 255 Rn. 4.
78
In der Wirkung einer konkludenten Genehmigung (vgl. dazu
bereits Fn. 73) lag ein weiteres Problem des Falles.
79
Vgl. dazu Lieb (Fn. 23), § 816 Rn. 14, 20.
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ZJS 5/2008
510
Die falsche Frau
ZIVILRECHT
hingegen den Fall, dass ein Dritter in eigenem Namen einen
Verfügungsvertrag schließt, zur Verfügung über den Vertragsgegenstand jedoch nicht berechtigt ist. Direkt ist § 816
Abs. 1 S. 1 BGB mangels Verfügung somit nicht anwendbar.
In Betracht käme eine analoge Anwendung. Es fehlt insoweit
jedoch an einer Regelungslücke, zumal F durch den Anspruch
aus §§ 681 S. 1, 667 BGB gegen L hinreichend geschützt ist,
wenn man einen Anspruch aus § 433 Abs. 2 BGB gegen K
aufgrund der Erfüllungswirkung der Kaufpreiszahlung an L
verneint.
F hat gegen L keinen Anspruch auf Herausgabe des Kaufpreises aus § 816 Abs. 1 S. 1 BGB.
V. § 816 Abs. 2 BGB auf Herausgabe des Kaufpreises
F könnte allerdings gegen L aus § 816 Abs. 2 BGB einen
Anspruch auf Herausgabe des Kaufpreises haben. Dazu
müsste die Kaufpreiszahlung des K an L eine gegenüber F
wirksame Leistung an einen Nichtberechtigten sein. Dies
käme allenfalls dann in Betracht, wenn F (konkludent) durch
das Herausgabeverlangen die Verpflichtungserklärung bezüglich des Kaufvertrages der L unter dem Namen der F nach §
177 Abs. 1 BGB genehmigen würde. In der Folge wäre F als
Berechtigte aus dem Vertrag mit K Forderungsinhaberin des
Kaufpreisanspruches (§ 433 Abs. 2 BGB). Dieser Anspruch
könnte untergegangen sein, indem K an L gezahlt hat. Nach
§ 362 Abs. 1 BGB würde Erfüllung unmittelbar gegenüber F
eintreten, wenn sich die nachträgliche Zustimmung (§ 177
Abs. 1 BGB) auch auf den Empfang der Gegenleistung erstreckt.80 Einen dahingehenden Willen der F wird man jedoch
verneinen müssen.81 In Betracht kommt vielmehr eine Erfüllung gem. § 362 Abs. 2 i.V.m. § 185 BGB; insoweit liegt in
der Geltendmachung des Anspruchs aus § 816 Abs. 2 gegen
L zugleich eine entsprechende Erklärung. Damit hätte L als
Nichtberechtigte wirksam über das Forderungsrecht der F
verfügt mit der Folge, dass F ein Anspruch auf Herausgabe
des erlangten Kaufpreises zustünde.
Den Anspruch auf Herausgabe des Kaufpreises könnte F
allerdings nur um den Preis des Eigentumsverlustes an dem
Grundstück geltend machen. Da F nach eigenem Bekunden
das Eigentum an dem Grundstück jedoch nicht verlieren will,
kann ihr nicht geraten werden, den Anspruch auf Herausgabe
des Kaufpreises geltend zu machen.
VI. Ergebnis
F hat gegen L Schadenersatzansprüche aus §§ 687 Abs. 2,
678, 823 Abs. 1 und 826 i.V.m. 830, 249 BGB. Für den Fall
des gutgläubigen Dritterwerbs von K stehen F aus den gleichen Anspruchsgrundlagen zudem Schadenersatzansprüche
gegen L für den Eigentumsverlust zu.
80
Vgl. zur Erfüllung gegenüber einem Vertreter allgemein
Taupitz, JuS 1992, 449 ff.
81
Darin ließe sich auch eine Teilgenehmigung erblicken,
deren Zulässigkeit allgemein abgelehnt wird (vgl. nur Leptien
[Fn. 73] § 177 Rn. 26).
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511
Übungsfall: Eile mit Weile – die verspätete vorläufige Amtsenthebung
Von Rechtsanwältin Anja Mayer, lic. en droit., Rechtsreferendar Alexander Sperlich, LL.M. (Cornell) Düsseldorf*
Die nachfolgende Falllösung behandelt im Schwerpunkt
Probleme des Staatshaftungsrechts. Verletzt ein Notar vorsätzlich seine Pflichten und führt dies zu Schäden, stellt sich
regelmäßig die Frage, wer für diese einzustehen hat. Wenn
der Notar selbst nicht solvent ist, kommen auch Amtshaftungsansprüche für eine mangelhafte staatliche Aufsicht über
den Notar in Betracht. Diese anspruchsvolle Fallgestaltung
beschäftigt sich mit Inhalt und Umfang von Amtspflichten an
der Schnittstelle zwischen Zivil- und Verwaltungsrecht, der
Drittbezogenheit von Amtspflichten sowie der Subsidiarität
von Amtshaftungsansprüchen. Daneben werden auch allgemeine Fragen des Schadensrechts behandelt. Aufgrund der
Vielzahl unbekannter Normen und Probleme ist dieser
Übungsfall als sehr schwierig einzustufen.
A. Sachverhalt1
Die Geschäfte des Düsseldorfer Notars Josef Nollmann (N)
laufen schlecht. Er braucht dringend einige lukrative Aufträge. Da kommt es wie gerufen, dass sein alter Freund Willi
Fuchs (F) ebenso dringend Geld braucht. F hatte schon vor
einiger Zeit sein Gespür dafür bewiesen, neue Geldströme zu
erschließen: Er hatte es nach historischem Vorbild ohne juristisches Staatsexamen2 als Prominentenanwalt „Dr. Neu“ zu
einigem Vermögen gebracht. Mit diesem erwarb „Dr. Neu“
alias F unter anderem drei Grundstücke (X, Y und Z) in der
Umgebung, die er aber nahezu vollständig mit durch erstrangige Hypotheken gesicherten Darlehen finanzierte. Da sein
aufwendiger Lebensstil jedoch Unsummen verschlang, wurde
das Geld im Laufe der Zeit wieder knapper.
F will daher aus den drei Grundstücken Geld ziehen.
Hierfür braucht er allerdings die Mithilfe des N. Dieser ist in
Anbetracht seiner Geldnot gern zur Hilfe bereit. Anfang
Februar wendet sich N im Namen des F an die B-Bank (B) in
Düsseldorf und beantragt ein Darlehen in Höhe von EUR 1
Million. Als Sicherheit bietet er die Eintragung einer erstrangigen Hypothek an dem Grundstück X zugunsten der B an. B
ist einverstanden. N erstellt am 21. Februar die Urkunde über
die Bestellung der Hypothek. Zusätzlich bestätigt er entgegen
den Angaben im Grundbuch die Erstrangigkeit der Hypothek.
Beide Urkunden versieht er mit seinem Siegel und versendet
sie an die B. Die B zahlt daraufhin am 22. Februar die Darlehenssumme an N aus, ohne sich einen aktuellen Grundbuchauszug vorlegen zu lassen. N leitet das Geld an F weiter, der
es verschwenderisch ausgibt.
*
Anja Mayer ist Rechtsanwältin in der Kanzlei Clifford
Chance im Bereich Litigation & Dispute Resolution in Düsseldorf, Alexander Sperlich war dort wissenschaftlicher Mitarbeiter und ist derzeit Rechtsreferendar im Bezirk des Oberlandesgerichts Düsseldorf.
1
Der Sachverhalt ist an eine tatsächliche Begebenheit angelehnt.
2
Gaserow, Die Zeit Nr. 22/1998, Zeitmagazin.
Auf Grund einer Beschwerde der G-Bank AG über die
Amtsführung des N in einer anderen Angelegenheit findet am
22. Februar eine Überprüfung der Amtsgeschäfte des N durch
einen Revisor des Landgerichts (LG) Düsseldorf statt. Auf
dessen Nachfragen gesteht N, dass ein auf einem seiner Treuhandkonten befindlicher Darlehensbetrag der G-Bank in Höhe von EUR 2 Millionen verschwunden ist, nachdem er dem F
unterschriebene Blanko-Überweisungsträger für dieses Konto
zur Verfügung gestellt hatte. Auch über den Verbleib anderer
Geldbeträge kann N keine Auskunft geben. Zudem ist die
Aktenführung des N lückenhaft. Der Revisor erstattet noch
am selben Tag dem Präsidenten des LG Düsseldorf Bericht.
Am 27. Februar berichtet dieser dem Präsidenten des Oberlandesgerichts (OLG) Düsseldorf davon und regt an, N vorläufig des Amtes zu entheben. Am 5. März bittet der Präsident des OLG um eine Stellungnahme der Notarkammer.
In der Folgezeit allerdings tritt N im Auftrag des F erneut
an die B heran, die von der Überprüfung des N nichts weiß.
Unter der gleichen Vorgehensweise soll N ein weiteres Darlehen in Höhe von EUR 3 Millionen für F gegen Eintragung
einer erstrangigen Hypothek am Grundstück Y als Sicherheit
erhalten. Nachdem N die Bestätigung über die Erstrangigkeit
der Hypothek am 18. März vorgelegt hat, wird der Betrag am
22. März, ohne Vorlage eines aktuellen Grundbuchauszugs
und trotz der negativen Bonitätsmitteilung einer Kreditauskunftei, von B an N ausgezahlt. Auch diese EUR 3 Millionen
werden nach Weiterleitung an F von diesem alsbald verbraucht.
Am 25. März spricht sich die Notarkammer für die Amtsenthebung des N aus. Daraufhin enthebt der Präsident des
OLG am 4. April N vorläufig seines Amtes. Die Amtsenthebung wird am 10. April wirksam. Das Siegel des N wird daraufhin eingezogen.
Im folgenden Oktober wiederholt sich das Ganze ein drittes Mal. Gegen Sicherung durch eine erstrangige Hypothek
am Grundstück Z gewährt die B, die nichts von der Amtsenthebung des N weiß, ein weiteres Darlehen in Höhe von EUR
1 Million. Diesmal fabriziert N – in Ermangelung seines eingezogenen Siegels – die Hypothekenbestellungsurkunde sowie die Rangbestätigung mit Hilfe von Siegeln, die er von
alten Urkunden ablöst. Die Idee dazu stammt von F, der die
Alturkunden aufgrund früherer Transaktionen mit N besitzt,
und diese dem N zur „Wiederverwendung“ der Siegel zur
Verfügung stellt. Erneut vertraut die B allein der Rangbestätigung. Der von N an F weitergeleitete Betrag wird alsbald
von diesem verbraucht.
Als F kurze Zeit später nicht mit der vertraglich vorgesehenen Tilgung der drei Darlehen beginnt, erfährt die B von
dem ganzen Schwindel. Sie kündigt die Darlehen und versucht erfolglos gegen die mittellosen F und N vorzugehen.
Auch die Hypotheken sind wertlos: Für die Grundstücke X
und Y stehen sie nur im zweiten Rang, beide Grundstücke
sind bereits durch die erstrangig gesicherten Hypotheken
vollständig verwertet worden. Für das Grundstück Z wurde
mangels wirksamer Beurkundung der Bestellungsurkunde
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ZJS 5/2008
512
Eile mit Weile
überhaupt keine Hypothek zugunsten der B eingetragen. Daraufhin versucht die B zu retten, was zu retten ist. Sie erhebt
wegen des Ausfalls der drei Darlehen Klage vor dem Landgericht Düsseldorf gegen das Land Nordrhein-Westfalen auf
Schadensersatz in Höhe von EUR 5 Millionen wegen mangelhafter Dienstaufsicht durch verspätete Amtsenthebung des N.
Hat die Klage der B gegen das Land Nordrhein-Westfalen
Aussicht auf Erfolg?
B. Bearbeitervermerk
Auf die Bedeutung von Ansprüchen gegen den Vertrauensschadensfond nach § 67 Abs. 4 Nr. 3 Bundesnotarordnung
(BNotO) soll nicht eingegangen werden. Es soll davon ausgegangen werden, dass eine endgültige Amtsenthebung nach
§ 50 BNotO in der Kürze der Zeit nicht durchführbar gewesen wäre. Zudem besteht keine Deckung für wissentliche
Amtspflichtverletzungen durch den Notar im Rahmen der
Haftpflichtversicherung nach § 19a BNotO, die Haftung der
Versicherung nach § 67 Abs. 3 Nr. 3 BNotO ist auf die Mindestsumme beschränkt. Auf folgende Vorschriften der BNotO
und der Allgemeinverfügung des Justizministeriums Nordrhein-Westfalen über die Angelegenheiten der Notarinnen und
Notare (AVNot NRW) wird hingewiesen:
Bundesnotarordnung
§ 19 (Auszug)
(1) 1Verletzt der Notar vorsätzlich oder fahrlässig die ihm
einem anderen gegenüber obliegende Amtspflicht, so hat er
diesem den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. 2Fällt
dem Notar nur Fahrlässigkeit zur Last, so kann er nur dann in
Anspruch genommen werden, wenn der Verletzte nicht auf
andere Weise Ersatz zu erlangen vermag; das gilt jedoch
nicht bei Amtsgeschäften der in §§ 23, 24 bezeichneten Art
im Verhältnis zwischen dem Notar und dem Auftraggeber.
3
Im übrigen sind die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs über die Schadensersatzpflicht im Fall einer von einem
Beamten begangenen Amtspflichtverletzung entsprechend
anwendbar.4 Eine Haftung des Staates an Stelle des Notars
besteht nicht.
§ 19a (Auszug)
(1) 1Der Notar ist verpflichtet, eine Berufshaftpflichtversicherung zu unterhalten [...]
(2) Vom Versicherungsschutz können ausgeschlossen werden
1. Ersatzansprüche wegen wissentlicher Pflichtverletzung
§ 50 (Auszug)
(1) Der Notar ist seines Amtes zu entheben,
8. wenn seine wirtschaftlichen Verhältnisse, die Art seiner
Wirtschaftsführung oder der Durchführung von Verwahrungsgeschäften die Interessen der Rechtssuchenden gefährden;
(3) 1Die Amtsenthebung geschieht durch die Landesjustizverwaltung nach Anhörung der Notarkammer. 2Der Notar
ist vorher zu hören. [...]
ÖFFENTLICHES RECHT
§ 54 (Auszug)
(1) Der Notar kann von der Aufsichtsbehörde vorläufig seines Amtes enthoben werden,
1. wenn sie die Voraussetzungen des § 50 für gegeben hält;
§ 55 (Auszug)
(1) 1Im Fall der vorläufigen Amtsenthebung hat das Amtsgericht, wenn dem Notar kein Vertreter bestellt ist, seine Akten
und Bücher sowie Siegel, Stempel und Amtsschild für die
Dauer der vorläufigen Amtsenthebung in Verwahrung zu
nehmen. […]
§ 67 (Auszug)
(3) Außer den der Notarkammer durch Gesetz zugewiesenen
Aufgaben obliegt ihr,
1. Versicherungsverträge zur Ergänzung der Haftpflichtversicherung nach § 19a abzuschließen, um auch Gefahren
aus solchen Pflichtverletzungen zu versichern, die nicht durch
Versicherungsverträge nach § 19a gedeckt sind, [...] oder
weil sie als vorsätzliche Handlungen durch die allgemeinen
Versicherungsbedingungen vom Versicherungsschutz ausgenommen sind. Für diese Versicherungsverträge gilt, dass die
Versicherungssumme für jeden versicherten Notar und für
jeden Versicherungsfall mindestens 250.000 Euro für Schäden aus wissentlichen Pflichtverletzungen [...] betragen muss
§ 92
Das Recht der Aufsicht steht zu
1. dem Präsidenten des Landgerichts über die Notare und
Notarassessoren des Landgerichtsbezirks
2. dem Präsidenten des Oberlandesgerichts über die Notare und Notarassessoren des Oberlandesgerichtsbezirks
3. der Landesjustizverwaltung über sämtliche Notare und
Notarassessoren des Landes.
§ 93 (Auszug)
(1) 1Den Aufsichtsbehörden obliegt die regelmäßige Prüfung und
Überwachung der Amtsführung der Notare und des Dienstes der
Notarassessoren.
(2) 1Gegenstand der Prüfung ist die ordnungsmäßige Erledigung der Amtsgeschäfte des Notars.
AVNot NRW
§ 37 (Auszug)
(1) 1Zur vorläufigen Amtsenthebung (§ 54 BNotO) sind die
Präsidentinnen oder Präsidenten der Oberlandesgerichte zuständig. 2Sie sollen vor der Entscheidung die Notarkammer
hören. [...]
Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen
§ 57 (Auszug)
(1) 1Die Landesregierung vertritt das Land Nordrhein-Westfalen nach außen. 2Sie kann diese Befugnis auf den Ministerpräsidenten, auf ein anderes Mitglied der Landesregierung oder
auf nachgeordnete Stellen übertragen.
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513
ÜBUNGSFALL
Anja Mayer/Alexander Sperlich
Anordnung über die Vertretung des Landes NordrheinWestfalen im Geschäftsbereich des Justizministeriums
(VertretungsO JM NRW)
A. Vertretung (Auszug)
Das Land Nordrhein-Westfalen wird, wenn nicht durch Gesetz oder Verordnung etwas anderes bestimmt ist, im Geschäftsbereich des Justizministeriums nach Maßgabe der folgenden Regelung vertreten:
I. Vertretung in gerichtlichen Verfahren
1. Allgemeine Bestimmungen
In gerichtlichen Verfahren wird das Land – vorbehaltlich der
besonderen Bestimmungen nach Nr. 2 – jeweils für ihren
Geschäftsbereich vertreten durch […]
c) die Präsidentinnen, die Präsidenten der Oberlandesgerichte; vor den ordentlichen Gerichten jedoch an ihrer Stelle
durch die Generalstaatsanwältin oder den Generalstaatsanwalt bei dem jeweiligen Oberlandesgericht, das sachlich zuständig ist,
C. Lösungsvorschlag
Die Klage der B hat Aussicht auf Erfolg, wenn ihre Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen und sie begründet ist.
I. Sachentscheidungsvoraussetzungen
1. Rechtswegeröffnung
Möglicherweise ist der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten eröffnet. Mangels aufdrängender Sonderzuweisung
richtet sich der Rechtsweg nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO. Es
müsste eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art vorliegen. Außerdem dürfte keine abdrängende
Sonderzuweisung zu einer anderen Gerichtsbarkeit bestehen.
a) Öffentlich-rechtliche Streitigkeit
Eine Streitigkeit ist öffentlich-rechtlich, wenn sich das Begehren des Klägers als unmittelbare Folge des öffentlichen
Rechts darstellt, sich der zugrundeliegende Sachverhalt also
nach einer Norm beurteilt, die öffentlich-rechtlich ist.3 B
macht einen Schadensersatzanspruch aus Staatshaftung für
eine mangelnde Dienstaufsicht über den Notar N geltend.
Streitentscheidende Normen sind § 839 BGB i.V.m. Art. 34
GG. Eine Norm ist dann öffentlich-rechtlicher Natur, wenn
sie auf einer Seite ausschließlich einen Träger öffentlicher
Gewalt berechtigt oder verpflichtet (Sonderrechtstheorie).4
§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG verpflichtet infolge der durch
Art. 34 GG bewirkten Haftungsüberleitung den Staat. Hier
geht es um die Verletzung der Dienstaufsichtspflicht des Staates über Notare. Diese Pflicht trägt dafür Sorge, dass die Notare das ihnen übertragene öffentliche Amt ordnungsgemäß
erfüllen.5 Sie ist mithin öffentlich-rechtlich. Folglich sind
auch die Normen, die für ihre Verletzung Rechtsfolgen vorsehen und die nach ihnen zu beurteilende vorliegende Streitigkeit öffentlich-rechtlich.
b) Nichtverfassungsrechtlicher Art
Die Streitigkeit muss nichtverfassungsrechtlicher Art sein.
Nach herrschender Ansicht ist eine Streitigkeit verfassungsrechtlicher Art, wenn Verfassungsrechtssubjekte um materielles Verfassungsrecht streiten (doppelte Verfassungsunmittelbarkeit).6 Die genaue Abgrenzung dieses Kriteriums im
Einzelnen ist umstritten.7 Hier stehen sich jedenfalls keine
Verfassungsrechtssubjekte gegenüber, so dass die Streitigkeit
nichtverfassungsrechtlicher Art ist.
c) Keine abdrängende Sonderzuweisung
Gemäß § 40 Abs. 2 S. 1 Var. 3 VwGO könnte die Streitigkeit
durch eine abdrängende Sonderzuweisung der Verwaltungsgerichtsbarkeit entzogen sein. Danach ist für Schadensersatzansprüche aus der Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten,
die nicht auf einem öffentlich-rechtlichen Vertrag beruhen,
der ordentliche Rechtsweg eröffnet. Die B macht Schadensersatz wegen der Verletzung der öffentlich-rechtlichen Pflicht,
die Dienstaufsicht über die Notare ordnungsgemäß auszuüben, geltend. Daher ist hier abweichend von § 40 Abs. 1
VwGO der ordentliche Rechtsweg eröffnet. Dies korrespondiert mit Art. 34 S. 3 GG, der für Amtshaftungsklagen den
Ausschluss des ordentlichen Rechtswegs verbietet.
d) Ergebnis
Für die Klage der B ist der ordentliche Rechtsweg eröffnet.
2. Zuständigkeit des Gerichts
a) Sachliche Zuständigkeit
Nach § 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG ist das Landgericht für Ansprüche gegen Beamte wegen Überschreitung ihrer amtlichen
Befugnisse oder wegen pflichtwidriger Unterlassung von
Amtshandlungen sachlich ausschließlich zuständig.
b) Örtliche Zuständigkeit
Der allgemeine Gerichtsstand des Landes NordrheinWestfalen gemäß § 18 ZPO richtet sich nach dem Sitz der
vertretungsberechtigten Behörde. Grundsätzlich wird das
Land Nordrhein-Westfalen gemäß § 57 S. 1 Verfassung des
Landes Nordrhein-Westfalen8 (Land NRW) durch die Landesregierung, diese durch den Ministerpräsidenten und dieser
wiederum durch den jeweils zuständigen Ressortminister ver-
5
3
Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar,
15. Aufl. 2007, § 40 Rn. 6; Rennert, in: Eyermann (Hrsg.),
Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 12. Aufl. 2006, § 40
Rn. 31.
4
Kopp/Schenke (Fn. 3), § 40 Rn. 7; Rennert (Fn. 3), § 40
Rn. 44; GmSOGB BGHZ 108, 284 (287).
Lemke, in: Schippel/Bracker (Hrsg.), Bundesnotarordnung,
Kommentar, 8. Aufl. 2006, § 92 Rn. 1.
6
Z.B. von Nicolai, in: Redeker/von Oertzen (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 14. Aufl. 2004, § 40 Rn. 3,
Kopp/Schenke (Fn. 3), § 40 Rn. 32 m.w.N.
7
Vgl. Rennert (Fn. 3), § 40 Rn. 21.
8
GV NRW 1950, S. 127.
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514
ÖFFENTLICHES RECHT
Eile mit Weile
treten. Gemäß Art. 1c) VertretungsO JM NRW9 wird das
Land NRW im Ressort des Justizministeriums im Geschäftsbereich der Präsidenten der Oberlandesgerichte vor den ordentlichen Gerichten durch den Generalstaatsanwalt bei dem
Oberlandesgericht, das sachlich zuständig ist, vertreten. Da
die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts nur nach dem für
die Ansprüche aus Amtpflichtverletzung örtlich ausschließlich zuständigen Landgericht bestimmt werden kann, ist die
Zuständigkeitsbestimmung in diesem Fall zirkulär. Der Zirkelschluss ließe sich auf verschiedene Arten lösen. Zum
einen könnte auf den Sitz der Landesregierung als hierarchisch höher gelegener vertretungsberechtigter Behörde abgestellt werden. Deren Sitz liegt in Düsseldorf. Zum anderen
könnte auf die örtliche Zuständigkeit für die geltend gemachte Verletzung der deliktischen Amtspflichten abgestellt werden. B macht eine Verletzung der Dienstaufsicht über den
Düsseldorfer Notar N durch den Präsidenten des OLG Düsseldorf zu ihrem Nachteil geltend. Die Pflicht wurde mithin
in Düsseldorf verletzt. Auch der Schaden trat am Sitz der B
in Düsseldorf ein. Damit hat sich der Vorfall vollständig im
Gerichtsbezirk des OLG Düsseldorf zugetragen. Einer Streitentscheidung bedarf es daher nicht. Jedenfalls ist das Landgericht Düsseldorf örtlich zuständig.
3. Partei- und Prozessfähigkeit
B ist nach § 50 Abs. 1 ZPO, § 1 Abs. 1 S. 1 AktG parteifähig
und wird durch ihren Vorstand vertreten, § 78 Abs. 1 AktG.
Das beklagte Land ist als Körperschaft des öffentlichen
Rechts nach § 50 Abs. 1 ZPO parteifähig und wird gemäß
Art. 1c) VertretungsO JM NW durch den Generalstaatsanwalt
beim OLG Düsseldorf vertreten.10
4. Ergebnis
Alle Sachentscheidungsvoraussetzungen liegen vor. Die Klage vor dem Landgericht Düsseldorf ist damit zulässig.
II. Begründetheit
Die Klage ist begründet, wenn B ein Anspruch gemäß § 839
BGB i.V.m. Art. 34 GG gegen das Land Nordrhein-Westfalen zusteht.
Dies ist der Fall, wenn jemand, für den das Land NRW
haftungsrechtlich einzustehen hat, in Ausübung eines ihm
anvertrauten öffentlichen Amtes eine ihm gegenüber der B
als Dritter obliegende Amtspflicht verletzt hat, der B hierdurch ein Schaden entstanden und der Anspruch nicht nach
§ 839 Abs. 1 S. 2, Abs. 2, 3 BGB ausgeschlossen ist. Ein
solcher Anspruch könnte sich vorliegend daraus ergeben,
dass der Präsident des Oberlandesgerichts Düsseldorf den N
nicht sofort vorläufig des Amtes enthob, sondern hiermit
mehrere Wochen zuwartete.
1. Passivlegitimation des Landes Nordrhein-Westfalen
Gemäß Art. 34 S. 1 GG wird die Haftung des pflichtwidrig
handelnden Amtsträgers auf die Körperschaft übergeleitet, in
deren Dienst dieser steht. Dies ist die Körperschaft, die den
Amtsträger angestellt hat und ihn besoldet (Anstellungstheorie).11 Der Präsident des OLG Düsseldorf ist vom Land NRW
angestellt und wird von diesem besoldet. Daher geht die
Haftung für Amtspflichtverletzungen des Präsidenten des
OLG Düsseldorf nach Art. 34 S. 1 GG auf das Land NRW
über. Das Land NRW ist folglich für die Klage der B passivlegitimiert.
2. Handeln in Ausübung eines ihnen anvertrauten öffentlichen Amtes
Der Präsident des OLG Düsseldorf müsste in Ausübung eines
ihm anvertrauten öffentlichen Amtes gehandelt haben. Ihm
ist nach § 92 BNotO die Dienstaufsicht über die Notare, die
gemäß § 1 BNotO Träger eines öffentlichen Amtes sind, anvertraut. Damit stellt auch die Aufsicht über die Notare ein
öffentliches Amt dar. Die verspätete Amtsenthebung des N
fand in Ausübung der Dienstaufsicht statt und nicht nur bei
Gelegenheit.
3. Amtspflichtverletzung
Fraglich ist, ob der Präsident des OLG Düsseldorf durch die
verspätete Amtsenthebung des N eine Amtspflicht verletzt hat.
a) Vorläufige Amtsenthebung als Amtspflicht
Jede persönliche Verhaltenspflicht eines Amtsträgers bezüglich seiner Amtsführung stellt eine Amtspflicht dar.12 Daher
müsste dem Gerichtspräsidenten im Rahmen der Dienstaufsicht zunächst die Pflicht oblägen haben, den N sofort vorläufig seines Amtes zu entheben. Innenrechtlich ist er gemäß
§ 37 Abs. 1 S. 1 AVNot NRW i.V.m. § 92 Abs. 2 BNotO für
die vorläufige Amtsenthebung zuständig. Darüber hinaus müsste gemäß § 50 BNotO ein Amtsenthebungsgrund vorgelegen
haben, der ihn auch zur sofortigen vorläufigen Amtsenthebung gemäß § 54 BNotO verpflichtet hätte.
aa) Amtsenthebungsgrund
Nach § 50 Abs. 1 Nr. 8 BNotO ist ein Notar seines Amtes zu
entheben, wenn seine wirtschaftlichen Verhältnisse, die Art
seiner Wirtschaftsführung oder der Durchführung von Verwahrungsgeschäften die Interessen der Rechtssuchenden gefährden. Ein typisches Verwahrungsgeschäft ist die Verwahrung fremder Gelder als Treuhänder. Hier könnte die Art und
Weise wie N mit den Geldern der G-Bank umgegangen ist,
die Interessen der Rechtssuchenden gefährdet haben.
Für den Notar besteht eine grundlegende Pflicht, Verwahrungsgeschäfte äußerst sorgfältig und genau durchzuführen.13
Begründet der Umgang mit fremden Treuhandgeldern erheb11
9
Ausführungsvorschrift des Justizministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 25. April 2000, 5002 – I B. 10.
10
Vgl. oben unter I. 2. b).
Papier, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 5, 4. Aufl.
2004, § 839 Rn. 361; Reinert, in: Bamberger/Roth (Hrsg.),
Beck'scher Online-Kommentar, 8. Edition 2007, § 839 Rn. 104.
12
Sprau, in: Palandt, BGB, 66. Aufl. 2007, § 839 Rn. 31.
13
Püls, in: Schippel/Bracker (Fn. 5), § 50 Rn. 33.
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liche Bedenken gegen die Zuverlässigkeit des Notars, so
reicht dies für eine Gefährdung der Interessen der Rechtssuchenden aus.14 Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn weisungswidrig über Fremdgelder verfügt wird.15 Auch die Ausstellung von Blankoschecks und -überweisungsträgern an
Dritte, ohne deren weitere Benutzung zu überwachen, stellt eine Interessengefährdung der Rechtssuchenden dar, da zwangsläufig die Verletzung von Treuhandauflagen die Folge sein
kann.16
Der Revisor des Landgerichts Düsseldorf stellte bei N
fest, dass dieser dem F Blanko-Überweisungsträger für ein
Treuhandkonto ausgestellt hatte und dadurch treuhänderisch
verwahrte Gelder in Höhe von EUR 2 Millionen verschwunden waren. Somit lag nicht nur eine bloße Gefährdung der
Rechtssuchenden vor, sondern war bereits ein tatsächlicher
Schaden bei diesen eingetreten. Darüber hinaus sind auch andere Geldbeträge, die dem N anvertraut waren, verschwunden. Dies zeigt, dass die Art der Durchführung der Verwahrungsgeschäfte durch B die Interessen der Rechtssuchenden
erheblich gefährdete. Ein Amtsenthebungsgrund lag damit vor.
bb) Voraussetzungen der vorläufigen Amtsenthebung
Der Amtsenthebungsgrund müsste auch eine vorläufige Amtsenthebung des N rechtfertigen. Gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 2
BNotO kann ein Notar vorläufig seines Amtes enthoben
werden, wenn ein Amtsenthebungsgrund nach § 50 BNotO
vorliegt. Dies ist hier der Fall. Da jedoch die vorläufige Amtsenthebung auf das Verfahren nach § 50 Abs. 3 BNotO verzichtet, bedarf sie einer weiteren Rechtfertigung. Mangels
einer konkreten Regelung der Voraussetzungen für die vorläufige Amtsenthebung in der BNotO wendet die Rechtsprechung die zu § 150 BRAO entwickelten Grundsätze entsprechend an.17 Die vorläufige Amtsenthebung ist mithin zulässig, wenn mit einer dauernden oder zeitlich begrenzten Amtsenthebung in der Hauptsache zu rechnen ist; zudem muss die
Maßnahme zum Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter vor
konkreten Gefahren geboten sein und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen.18 Verstöße gegen Treuhandauflagen sind für die Entscheidung über eine dauerhafte Amtsenthebung von besonderem Gewicht.19 Verstößt ein Notar mehrfach gegen Treuhandauflagen, so besteht nämlich die Gefahr,
dass er dies auch künftig tun wird und dadurch Treugebern
erhebliche Schäden zufügt.20 Zudem wird durch ein derartiges Verhalten des Notars das Vertrauen der Bevölkerung in
das wichtige Gemeinschaftsgut der Funktionsfähigkeit der
vorsorgenden Rechtspflege erschüttert.21 Je schwerer das
Fehlverhalten des Notars gewesen ist, desto eher kann auch
die Verhältnismäßigkeit der vorläufigen Amtsenthebung be-
14
BGH DNotZ 1991, 94.
OLG Schleswig DNotZ 1999, 726 (729).
16
BGH DNotZ 1986, 310 (311).
17
Bracker, in: Schippel/Bracker (Fn. 5), § 54 Rn. 6.
18
OLG Schleswig DNotZ 1999, 726 (728).
19
BGHZ 135, 354 (364).
20
OLG Schleswig DNotZ 1999, 726 (729).
21
OLG Schleswig DNotZ 1999, 726 (729).
15
jaht werden.22 Ein mögliches Verschulden ist dabei nicht zu
berücksichtigen, da die vorläufige Amtsenthebung eine rein
präventive Maßnahme zum Schutz des Rechtsverkehrs darstellt.23
N hat hier gegen Treuhandauflagen verstoßen und damit
der G-Bank und anderen erhebliche Schäden zugefügt. Daher
lag bereits ein Grund für eine endgültige Amtsenthebung des
N vor. Das Verhalten des N war auch geeignet, das Vertrauen
in die Funktionsfähigkeit der vorsorgenden Rechtspflege zu
erschüttern. Schließlich bestand zu befürchten, dass F immer
noch im Besitz von Blanko-Überweisungsträgern für das betroffene Konto des N war. Dadurch bestand die konkrete
Gefahr weiterer Schäden. Damit bestanden auch unter Gesichtspunkten der Verhältnismäßigkeit keine Bedenken gegen
eine vorläufige Amtsenthebung des N, deren Voraussetzungen damit vorlagen.
cc) Pflicht zur vorläufigen Amtsenthebung
Fraglich ist allerdings, ob auch eine Pflicht bestand, N vorläufig des Amtes zu entheben. § 54 Abs. 1 BNotO stellt die
Entscheidung über die vorläufige Amtsenthebung durch die
Verwendung des Wortes „kann“ in das Ermessen der Aufsichtsbehörde. Vorliegend könnte dieses Ermessen jedoch auf
Null reduziert worden sein, so dass sogar eine Pflicht zur
vorläufigen Amtsenthebung bestand. Eine Ermessensreduzierung auf Null liegt dann vor, wenn von den eingeräumten
Handlungsmöglichkeiten alle bis auf eine ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig wären.24
Aufgrund der Ermittlungen des Revisors des Landgerichts
Düsseldorf und des Geständnisses des N bestanden keine
Zweifel daran, dass der Amtsenthebungsgrund des § 50
Abs. 1 Nr. 8 BNotO vorliegt. Damit bestand nicht nur ein
bloßer Verdacht gegen N, sondern die konkrete Gefahr weiterer erheblicher Schäden. Wie der zwingende Charakter des
§ 50 Abs. 1 BNotO zeigt, der – anders als § 54 Abs. 1 BNotO
– den Aufsichtsbehörden keinen Ermessensspielraum lässt,
war nur die Entscheidung, N vorläufig des Amtes zu entheben, richtig. Das Ermessen der Aufsichtsbehörden, einen
Notar in einem solchen Fall des Amtes zu entheben, ist daher
auf Null reduziert. Damit bestand eine Pflicht zur vorläufigen
Amtsenthebung des N.
dd) Ergebnis
Es bestand für den Präsidenten des OLG Düsseldorf eine
Amtspflicht, N vorläufig des Amtes zu entheben.
b) Verletzung der Amtspflicht
Fraglich ist, ob trotz der am 4. April ausgesprochenen vorläufigen Amtsenthebung eine Amtspflichtverletzung vorliegt.
Die Verletzung der Amtspflicht kann sowohl in der Vornahme einer unzulässigen Handlung als auch im Unterlassen
22
BGH DNotZ 1985, 487 (488 f.).
Bracker (Fn. 17), § 54 Rn. 7.
24
Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensgesetz, 6. Aufl. 2001, § 40 Rn. 56.
23
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ÖFFENTLICHES RECHT
Eile mit Weile
einer gebotenen Handlung liegen.25 Sie liegt insbesondere
auch dann vor, wenn der Präsident des OLG Düsseldorf die
Grenzen des ihm eingeräumten Ermessens überschritten
hat.26 Hier könnte eine Amtspflichtverletzung darin liegen,
dass der Präsident des OLG Düsseldorf es unterlassen hat, die
Amtsenthebung unverzüglich auszusprechen, sondern vielmehr vorher die Notarkammer um Stellungnahme bat. Zunächst dauerte es nach der Revision vom 22. Februar bereits
fünf Tage, bis der Bericht des Revisors mit der Empfehlung
des Präsidenten des LG Düsseldorf an den Präsidenten des
OLG Düsseldorf weitergeleitet wurde. Der Präsident des
OLG leitete den Bericht mit der Bitte um Stellungnahme
nach weiteren sechs Tagen an die Notarkammer weiter. Die
Stellungnahme der Notarkammer traf erst drei Wochen später, am 25. März, beim Präsidenten des OLG Düsseldorf ein.
Schließlich dauerte es noch einmal zehn Tage, bis die vorläufige Amtsenthebung endlich ausgesprochen wurde.
Gemäß § 37 Abs. 1 S. 2 AVNot NRW „soll“ die Notarkammer angehört werden. Damit handelt es sich bei der Frage, welches Verfahren zur vorläufigen Amtsenthebung angewendet wird, ebenso wie bei der Frage nach dem „Ob“ und
„Wann“ der Amtsenthebung, um eine Entscheidung im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens. Da das Ermessen rechtsfehlerfrei auszuüben ist und die fehlerhafte Ausübung des Ermessens der gerichtlichen Kontrolle unterliegt (vgl. § 114
VwGO), kommt eine von den Zivilgerichten zu überprüfende
Amtspflichtverletzung dann in Betracht, wenn die Grenzen
des fehlerfreien Ermessens überschritten werden.27 Hier könnte das Ermessen des OLG-Präsidenten, N unverzüglich des
Amtes zu entheben, auf Null reduziert gewesen sein.
Die Anhörung der Notarkammer nach § 37 Abs. 1 S. 2
AVNot NRW stellt den Regelfall dar. Sie ermöglicht die Nutzung des bei der Notarkammer konzentrierten Sachverstandes
in notariellen Fragen und ermöglicht u.a. die Einbeziehung
von Umständen, die nur der Kammer aus Beschwerdevorgängen bekannt sind. Unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hätte aber von diesem Verfahren abgewichen werden müssen, wenn durch eine Beteiligung der Notarkammer der Zweck der vorläufigen Maßnahme gefährdet
würde.28 Die Überprüfung Ns als auch dessen Geständnis
belegten deutlich, dass N nachlässig, eventuell sogar in strafrechtlich relevanter Weise mit Fremdgeldern umgeht. Durch
die Aushändigung der Blankoüberweisungsaufträge an F hatte N diesem eine nicht kontrollierbare Verfügungsmöglichkeit für ein Treuhandkonto eingeräumt, von dem bereits mehrfach Gelder verschwunden waren. Aufgrund der Höhe der verschwundenen Beträge und der Möglichkeit, dass sich ähnliche
Vorfälle auch in Zukunft wiederholen könnten, war die dem
rechtsuchenden Publikum drohende Gefahr als sehr hoch
einzuschätzen. Aus der maßgeblichen ex-ante-Sicht lagen daher bereits zum Zeitpunkt der Berichterstattung des Revisors
an das LG Düsseldorf gravierende notarielle Pflichtverlet-
zungen des N vor. Aufgrund der mit diesen Pflichtverletzungen einhergehenden Gefahr des Eintritts weiterer Schäden war
eine Amtsenthebung des N äußerst eilbedürftig und daher
unverzüglich durchzuführen.29 Eine vorherige Anhörung des
N war nach § 54 BNotO nicht erforderlich. Selbst wenn man
diese aufgrund einer entsprechenden Anwendung von Art. 103
Abs. 1 GG bzw. des Rechtsgedankens des Art. 6 Abs. 1
EMRK und der besonderen Bedeutung der Berufsfreiheit
grundsätzlich für geboten hält, hätte sie wegen der Eilbedürftigkeit nachträglich erfolgen können und müssen. Anderenfalls wäre der Zweck der Entscheidung gefährdet gewesen.30
Das Ermessen des OLG-Präsidenten hinsichtlich des Verfahrens war daher auf Null reduziert. Er hätte auf die Anhörung
der Notarkammer verzichten und N unverzüglich des Amtes
entheben müssen. Selbst wenn man annimmt, dass die Weiterleitung des Berichts durch den Präsidenten des LG Düsseldorf an den Präsidenten des OLG Düsseldorf angemessen
schnell erfolgte, so hätte die vorläufige Amtsenthebung deutlich eher, namentlich in der ersten Märzhälfte erfolgen müssen. Durch die Unterlassung der rechtzeitigen Amtsenthebung
hat der Präsident des OLG Düsseldorf somit seine Amtspflicht
verletzt.
c) Ergebnis
Eine Amtspflichtverletzung durch den Präsidenten des OLG
Düsseldorf liegt vor.
4. Drittbezogenheit der verletzten Amtspflicht
Um nicht jede Amtspflichtverletzung dem Amtshaftungsanspruch zu unterstellen, begrenzen § 839 Abs. 1 S. 1 BGB und
Art. 34 S. 1 GG den Anspruch auf die Verletzung von Amtspflichten, die dem Amtsträger einem Dritten gegenüber obliegen.31 Die Amtspflicht des OLG-Präsidenten müsste diesem daher auch gegenüber der B oblegen haben.
Die staatliche Aufsicht dient grundsätzlich zunächst den
Interessen der Allgemeinheit und des Staates.32 Staatlichen
Behörden obliegen daher prinzipiell bei der Ausübung der
Dienstaufsicht keine Amtspflichten gegenüber dritten Personen.33 Auch die tatsächliche Beeinträchtigung von Drittinteressen durch die Amtshandlung oder ihre Unterlassung begründet nur dann eine Haftung, wenn die Amtspflicht auch
gerade diesen dritten Personen gegenüber bestand. Diese Grundsätze gelten auch für die staatliche Dienstaufsicht über die
Notare.34 Möglicherweise ist hier aber aufgrund einer besonderen Beziehung zwischen der Amtspflicht und den Interessen der B eine Ausnahme geboten. Ist nämlich eine Amtshandlung mit den Interessen einzelner Betroffener oder eines
bestimmten Personenkreises dergestalt verknüpft, dass ihr
überwiegender Zweck nicht mehr bloß die Wahrung der
29
OLG Hamm, Urt. v. 21. März 2003 – 11 U 121/02.
OLG Hamm, Urt. v. 21. März 2003 – 11 U 121/02.
31
Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl. 1998, 2. Teil III.
3. a).
32
BGHZ 35, 44 (46); Reinert (Fn. 11), § 839 Rn. 65.
33
BGHZ 35, 44 (46).
34
BGHZ 35, 44 (49).
30
25
Sprau (Fn. 12), § 839 Rn. 31.
Vgl. Sachs (Fn. 24), § 40 Rn. 55.
27
BGH NJW 1979, 1354 (1356).
28
OLG Hamm, Urt. v. 21. März 2003 – 11 U 121/02 (unveröffentlicht).
26
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ÜBUNGSFALL
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Interessen der Allgemeinheit ist, so ergibt sich eine Drittbezogenheit der Amtspflicht.35 Eine Amtsenthebung gemäß
§ 50 Abs. 1 Nr. 8 BNotO verfolgt ausdrücklich schon nach
dem Wortlaut der Vorschrift den Zweck, die Interessen der
Rechtssuchenden zu schützen, die sich in ihren Angelegenheiten an einen Notar wenden. Da der Notar gegenüber dem
rechtssuchenden Publikum ein erhebliches Vertrauen genießt
und er mit für den Einzelnen bedeutenden Vermögensangelegenheiten betraut wird, schützt die Aufsichtspflicht die Interessen der Rechtssuchenden. Sie ist damit ausnahmsweise als
drittschützend einzuordnen.36 Zum geschützten Personenkreis
ge-hört auch die B, die sich in ihren vermögensrechtlichen
Angelegenheiten auf die neutrale Vertrauensstellung des N
verlassen hat.
Fraglich ist, zu welchem Zeitpunkt die Amtspflicht zur
Amtsenthebung des N gegenüber der B entstand. Dieser ist
grundsätzlich dann gekommen, wenn die Voraussetzungen
der Amtsenthebung nach § 50 Abs. 1 Nr. 8 BNotO feststehen
oder wenn die Behörde einen Verdacht von gewisser Stärke
hegt, dass diese vorliegen.37 Dem Präsidenten des Oberlandesgerichts Düsseldorf wurde am 27. Februar, d.h. fünf Tage
nach der Prüfung durch den Revisor, der Bericht des Revisors
vorgelegt. Ab diesem Zeitpunkt wusste er, dass die Gründe
für eine zwingende Amtsenthebung nach § 50 Abs. 1 Nr. 8
BNotO vorlagen. Daher bestand die Amtspflicht zur vorläufigen Amtsenthebung des B von diesem Zeitpunkt an auch
der B gegenüber.
5. Verschulden
Der Präsident des OLG Düsseldorf müsste als Aufsichtsbehörde die Amtspflichtverletzung auch schuldhaft begangen
haben. Gemäß § 276 Abs. 1 S. 1 BGB hat er sowohl Vorsatz
als auch Fahrlässigkeit zu vertreten. Hier kommt ein fahrlässiges Handeln in Betracht. Fahrlässig handelt gemäß § 276
Abs. 2 BGB, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer
Acht lässt. Unter Anwendung der im Verkehr erforderlichen
Sorgfalt hätte der Präsident des OLG aufgrund des ihm vorgelegten Sachverhalts erkennen müssen, dass infolge des
Verhaltens des N erhebliche Gefahren einer weiteren Schädigung von rechtssuchenden Personen bestanden und der N daher unverzüglich vorläufig des Amtes hätte enthoben werden
müssen. Durch das Unterlassen dieser gebotenen Amtshandlung handelte er mithin fahrlässig.
6. Ausschluss der Haftung nach § 839 Abs. 1 S. 2, Abs. 2, 3 BGB
Die Haftung des Landes NRW dürfte auch nicht ausgeschlossen sein. Möglicherweise greift hier die Subsidiaritätsklausel
des § 839 Abs. 1 S. 2 BGB ein. Danach ist eine Haftung des
Landes ausgeschlossen, wenn dem die Amtspflicht verletzenden Amtsträger nur Fahrlässigkeit zur Last fällt und der Verletzte auf andere Weise Ersatz erlangen kann als durch Inanspruchnahme des Staates. Die anderweitige Ersatzmöglich-
keit muss im Zusammenhang mit dem schädigenden Ereignis
erworben worden sein, die rechtlich oder tatsächlich begründete Aussicht auf Erfolg bieten und durchsetzbar sein.38 Da
die Amtspflichtverletzung fahrlässig erfolgte39, könnte die
Haftung des Landes NRW ausgeschlossen sein, wenn der B
Ansprüche gegen N, die Berufshaftpflichtversicherung (§ 19a
BNotO) oder die Vertrauensschadensversicherung (§ 67 Abs. 3
Nr. 3 BNotO) zuständen.
a) Anspruch gegen N
N hat durch Ausstellung falscher Rangbestätigungen wissentlich seine Amtspflichten verletzt und haftet daher der B nach
§ 19 Abs. 1 S. 1 BNotO. N ist jedoch mittellos, ein Anspruch
gegen ihn wäre daher tatsächlich nicht durchsetzbar. Auf die
Frage, ob ein Anspruch gegen ihn dem Grunde nach eine anderweitige Ersatzmöglichkeit darstellen würde, kommt es
hier daher nicht an.40
b) Anspruch gegen die Berufshaftpflichtversicherung
Die Berufshaftpflichtversicherung des N hat gemäß § 19a
BNotO die Haftung für wissentlich pflichtwidriges Handeln
des N ausgeschlossen41 und haftet daher nicht.
c) Anspruch gegen die Vertrauensschadensversicherung
Daher könnte eine Haftung des Landes NRW vorliegend nur
durch einen Anspruch gegen die Vertrauensschadensversicherung nach § 67 Abs. 3 Nr. 3 BNotO ausgeschlossen sein.
Diese sichert bis zu einer gewissen Höhe Schäden ab, die von
der Berufshaftpflichtversicherung – wie zum Beispiel Schäden aus wissentlichen Pflichtverletzungen – nicht umfasst
sind. Ob ein Anspruch gegen die Vertrauensschadensversicherung von der Subsidiaritätsklausel umfasst wird, ist allerdings doppelt zweifelhaft. Die allgemeine Subsidiaritätsregel
des § 839 Abs. 1 S. 2 BGB hat aus teleologischen Gründen
viele Ausnahmen erfahren. Zum einen werden Ansprüche
gegen die haftende öffentliche Körperschaft nicht ausgeschlossen, wenn sich der Ersatzanspruch des Geschädigten gegen
eine Versicherung richtet. Zum anderen stellen auch Ansprüche gegen andere Hoheitsträger keine anderweitigen Ersatzansprüche im Sinne des § 839 Abs. 1 S. 2 BGB dar. Problematisch ist hier folglich, dass es sich bei der Vertrauensschadensversicherung um eine Versicherung handelt, die zudem
an die Stelle des eigentlich haftenden Notars tritt, der als
Träger eines öffentlichen Amtes ebenfalls Hoheitsträger ist.
aa) Ausschluss der Subsidiarität aufgrund der Versicherungseigenschaft
Die Subsidiaritätsklausel des § 839 Abs. 1 S. 2 BGB greift
nicht, wenn sich der Ersatzanspruch des Geschädigten gegen
eine Versicherung richtet, die sich der Geschädigte selbst
durch seine Beiträge erkauft hat. Von dieser Eigenleistung
35
38
36
39
BGHZ 35, 44 (50 f.); Papier (Fn. 11), § 839 Rn. 258.
Vgl. BGHZ 35, 44 (52); BGHZ 135, 354 (358 f.); Reinert
(Fn. 11), § 839 Rn. 65.
37
BGHZ 35, 44 (52); BGHZ 135, 354 (358).
Sprau (Fn. 12), § 839 Rn. 58 f.
Vgl. oben unter II. 5.
40
Vgl. dazu unten II. 7. c) bb).
41
Vgl. Bearbeitervermerk.
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Eile mit Weile
des Geschädigten soll der Staat nicht profitieren.42 Bei der
Vertrauensschadensversicherung liegt der Fall jedoch anders.
Diese ist gerade nicht vom Geschädigten erkauft, sondern von
der Notarkammer zugunsten des Geschädigten abgeschlossen
worden, so dass die B auf ihren Anspruch gegen die Versicherung verwiesen werden kann.43 Die Haftung des Landes
NRW ist damit nach § 839 Abs. 1 S. 2 BGB grundsätzlich
subsidiär.
bb) Ausschluss der Subsidiarität wegen der primären Haftung
eines anderen Hoheitsträgers
Die Subsidiaritätsklausel greift dann nicht, wenn sich der
anderweitige Ersatzanspruch gegen einen anderen Hoheitsträger richtet. Einerseits kann der Zweck der Subsidiaritätsklausel, die öffentliche Hand als „wirtschaftliches Ganzes“44
zu entlasten, bei Verweisung auf einen anderen staatlichen
Rechtsträger nicht erreicht werden.45 Andererseits soll sich
der Geschädigte nicht zwischen verschiedenen Hoheitsträgern aufgrund wechselseitiger Subsidiarität hin und her verweisen lassen müssen.46
Die Haftung der Vertrauensschadensversicherung tritt an
die Stelle des haftenden Notars. Ein Anspruch gegen N nach
§ 19 Abs. 1 BNotO als Haftung eines anderen Hoheitsträgers
würde grundsätzlich keine anderweitige Ersatzmöglichkeit
darstellen.47 Allerdings ist hier die Besonderheit zu beachten,
dass eine Fahrlässigkeitshaftung des Landes mit einer Vorsatzhaftung des Notars N zusammentrifft. § 839 Abs. 1 S. 2
BGB wie auch der gleichlautende § 19 Abs. 1 S. 2 BNotO,
die beide die Subsidiarität auf Ansprüche wegen fahrlässigen
Handelns beschränken, bringen zum Ausdruck, dass bei einem Zusammentreffen zweier Ansprüche der vorsätzlich
handelnde Teil vorrangig für den Schaden aufkommen soll.48
Damit wäre vorliegend ein gegenseitiges Verweisen verschiedener Hoheitsträger auf den Ersatzanspruch gegen den
jeweils anderen zu Lasten des Geschädigten ausgeschlossen,
da dem N nach § 19 Abs. 1 S. 2 BNotO die Subsidiaritätsklausel nicht zu Gute kommt. Darüber hinaus wird der Notar
auch nicht als wirtschaftlicher Teil der ansonsten haftenden
öffentlichen Hand angesehen, wie dies etwa im Verhältnis
zwischen anderen Hoheitsträgern der mittelbaren und unmittelbaren Staatsverwaltung der Fall ist.49 Die Vertrauensschadensversicherung tritt an die Stelle der Haftung des Notars,
auf dessen vorrangiges Einstehen sich das aus Amtshaftung
in Anspruch genommene Land berufen könnte, wenn er nicht
mittellos wäre. Wenn schon die Verweisung auf den Notar
hier entgegen der Grundregel möglich wäre, so muss dies erst
Recht für die Verweisung auf die für diesen eintretende Versicherung gelten. Damit stellt die Inanspruchnahme der Ver-
42
BGHZ 79, 35 (37).
Vgl. BGHZ 135, 354 (366 f.).
44
Papier (Fn. 11), § 839 Rn. 310.
45
BGHZ 13, 88 (104 f.).
46
Ossenbühl, JZ 1998, 45, Anm. zu BGHZ 135, 354.
47
BGHZ 123, 1 (7).
48
Ossenbühl, JZ 1998, 45 (47).
49
BGHZ 135, 354 (368).
43
trauensschadensversicherung nach § 67 Abs. 3 Nr. 3 BNotO
eine anderweitige Ersatzmöglichkeit dar.
cc) Anspruchsumfang
Die Einstandspflicht der Vertrauensschadensversicherung ist
auf die Haftungssumme von EUR 250.000 je Versicherungsfall begrenzt. Fraglich ist, wie sich ein Mitverschulden der B
an der Schadensentstehung auswirkt. Ob ein Mitverschulden
der B vorliegt, kann hier noch dahinstehen. B hätte allenfalls
fahrlässig gehandelt, während die Versicherung an die Stelle
des vorsätzlich handelnden N tritt. Treffen eine Vorsatzhaftung des Schädigers und ein fahrlässiges Mitverschulden des
Geschädigten zusammen, findet grundsätzlich keine Anrechnung des Mitverschuldens statt.50 Damit steht der B pro Versicherungsfall ein Ersatzanspruch gegen die Vertrauensschadensversicherung in Höhe von EUR 250.000 zu. In dieser
Höhe muss sich die B also vorrangig an die Versicherung halten.
dd) Ergebnis
Die Haftung des Landes NRW ist aufgrund der vorrangig eingreifenden Haftung der Vertrauensschadensversicherung
nach § 67 Abs. 3 Nr. 3 BNotO in Höhe von EUR 250.000 je
Versicherungsfall subsidiär.
7. Mitverschulden
Fraglich ist, ob sich die B gemäß § 254 Abs. 1 BGB ein anspruchsminderndes Mitverschulden an der Schadensentstehung anrechnen lassen muss. Ein Mitverschulden trifft denjenigen, der diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen
Schadens anzuwenden pflegt.51 Dies lässt sich auf eine Bank
übertragen und bedeutet, dass diese die im Bankgewerbe
üblichen Standards bei Darlehensvergaben einzuhalten hat.
Im vorliegenden Fall hat sich die B in allen drei Fällen der
Darlehensvergabe ausschließlich auf die Rangbestätigung durch
N verlassen, ohne ansonsten die Bonität des F zu prüfen oder
sich aktuelle Grundbuchauszüge vorlegen zu lassen. Sogar
die negative Mitteilung über die Kreditwürdigkeit des Darlehensnehmers F durch eine Kreditauskunft wurde ignoriert.
Hätte die B diese Maßnahmen ergriffen, wäre mit einiger
Wahrscheinlichkeit der Schaden nicht oder nicht in dieser
Höhe entstanden. Daher muss sich die B ein erhebliches Mitverschulden anrechnen lassen, um das ein Anspruch wegen
Amtspflichtverletzung gegen das Land NRW zu kürzen ist.
8. Rechtsfolge
Als Folge der schuldhaften Amtspflichtverletzung seines Amtsträgers muss das Land NRW der B den aus der verspäteten
Amtsenthebung des N entstandenen Schaden, gekürzt um den
Anspruch gegen die Vertrauensschadensversicherung sowie
den Mitverschuldensteil der B, ersetzen.
50
Oetker, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 2, 5. Aufl.
2007, § 254 Rn. 112; BGH NJW 1992, 310 (311).
51
BGH VersR 1979, 532; Ossenbühl (Fn. 31), 2. Teil IV. 2. a).
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a) Schaden
Insgesamt hat die B aufgrund der amtswidrigen Handlungen
des N dreimalig Darlehenssummen an F ausbezahlt, ohne
dass als Auszahlungsvoraussetzung eine Absicherung der Darlehen in Form einer wertgleichen erstrangigen Hypothek auf
den Grundstücken des F eingetragen wurden. Am 22. Februar
zahlte sie EUR 1 Million, am 22. März EUR 3 Millionen und
im Oktober nochmals EUR 1 Million an F aus. Aufgrund der
fehlenden wertgleichen Sicherung ist der B durch die Handlungen des N damit ein Schaden in Höhe von EUR 5 Millionen entstanden.
b) Kausalität
Die Amtspflichtverletzung des Präsidenten des OLG Düsseldorf müsste diesen Schaden der B auch adäquat kausal verursacht haben.52 Eine Amtspflichtverletzung ist dann nicht
kausal für den Schaden, wenn dieser auch bei amtspflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre.53 Besteht die Amtspflichtverletzung wie hier in einem pflichtwidrigen Unterlassen,
reicht es zur Begründung einer hypothetischen Kausalität aus,
wenn sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
feststellen lässt, dass der Schaden bei pflichtgemäßem Verhalten des Amtsträgers nicht oder nicht in der eingetretenen
Höhe entstanden wäre.54 Fraglich ist, ob der Schaden der B
dann nicht eingetreten wäre, wenn der Präsident des OLG
den N unverzüglich des Amtes enthoben hätte.
aa) EUR 1 Million durch das am 22. Februar ausgezahlte
Darlehen
Die Aufsichtsbehörde erfuhr erst am 22. Februar vom Verhalten des N. Zu diesem Zeitpunkt hatte N bereits eine Rangbestätigung sowie die Hypothekenbestellungsurkunde ausgefertigt. Das Darlehen wurde bereits an diesem Tag valutiert.
Daher hätte selbst eine umgehende vorläufige Amtsenthebung den Schaden der B nicht mehr verhindert. Die Amtspflichtverletzung ist daher für den Schaden der B in Höhe
von EUR 1 Million augrund der ersten Darlehensgewährung
an F nicht kausal geworden.
bb) EUR 3 Millionen durch das am 22. März ausgezahlte
Darlehen
Fraglich ist, ob die Amtspflichtverletzung für die Ausbezahlung des Darlehens in Höhe von EUR 3 Millionen kausal
war. Dies hängt davon ab, ob der Schaden dann nicht eingetreten wäre, wenn der Präsident des OLG Düsseldorf seinen
Amtspflichten unverzüglich nachgekommen wäre. Hätte der
Präsident des OLG Düsseldorf den N spätestens Anfang
März des Amtes enthoben, dann wären gemäß § 55 BNotO
seine Akten, Bücher, Siegel, Stempel sowie sein Amtsschild
in Verwahrung genommen worden, wenn kein Vertreter bestellt worden wäre. Aufgrund der Eilbedürftigkeit der Angelegenheit dürfte es überwiegend wahrscheinlich sein, dass
52
Vgl. Papier (Fn. 11), § 839 Rn. 276.
Papier (Fn. 11), § 839 Rn. 278; BGH, LM Nr. 2, 5 (D) zu
§ 839 BGB.
54
Papier (Fn. 11), § 839 Rn. 279.
kein Vertreter bestellt, sondern sofort die Verwahrung angeordnet worden wäre. In diesem Fall hätte N mangels Siegel
am 18. März keine notarielle Rangbestätigung und Hypothekenbestellungsurkunde mehr erstellen können, so dass die
Unterlassung der unverzüglichen Amtsenthebung insoweit für
den Schaden der B kausal geworden ist. Fraglich ist, ob es
sich insoweit auf die Kausalität auswirkt, dass N noch im
Oktober, obwohl längst des Amtes enthoben, weitere notarielle Urkunden ausstellte, indem er alte Siegel verwendete.
Möglicherweise hätte er im März genauso gehandelt. Die
bloße Möglichkeit reicht hierzu nicht aus. Es muss vielmehr
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen,
dass der Schaden auch ohne die Amtspflichtverletzung eingetreten wäre.55 Einerseits besteht Grund zu der Annahme, dass
N, der immerhin im Oktober die kriminelle Energie besaß,
Urkunden mit falschen Siegeln zu versehen, auch im März
davor nicht zurückgeschreckt wäre. Andererseits mangelt es
aber an genügenden Anhaltspunkten, die es erlauben davon
auszugehen, dass N auch im März schon Fälschungen begangen hätte. Insbesondere war es nicht die Idee des N, sondern
die des F, die alten Siegel zu benutzen. Ob F mit dieser Idee
bereits im März an N herangetreten wäre, kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht bejaht werden.56
Die Kausalität der durch den Präsidenten des OLG Düsseldorf begangenen Amtspflichtverletzung für einen Schaden
der B in Höhe von EUR 3 Millionen liegt damit vor.
cc) EUR 1 Million durch das im Oktober ausgezahlte Darlehen
Zur Zeit der Gewährung des dritten Darlehens im Oktober
war B längst nicht mehr Notar. Selbst wenn er rechtzeitig des
Amtes enthoben worden wäre, so hätte dies nichts daran geändert, dass er im Oktober „notarielle“ Urkunden mittels Siegeln von alten Urkunden fabriziert hätte. Hier scheidet eine
Kausalität der Amtspflichtverletzung für den Schaden aus.
dd) Ergebnis
Das amtspflichtwidrige Handeln des Präsidenten des OLG
Düsseldorf ist nur für einen Schaden der B in Höhe von EUR
3 Millionen kausal geworden.
d) Anspruchsumfang
Der B steht gegen das Land NRW ein Schadensersatzanspruch
gemäß § 839 Abs.1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG zu. Dieser
beläuft sich aufgrund der der B zustehenden anderweitigen
Ersatzmöglichkeit gegen die Vertrauensschadensversicherung
in Höhe von EUR 250.000 nach § 839 Abs. 1 S. 2 BGB auf
EUR 2,75 Millionen, die um den Mitverschuldensanteil der B
an der Schadensentstehung zu kürzen sind.
III. Gesamtergebnis
Die Sachentscheidungsvoraussetzungen liegen vor. Die Klage der B gegen das Land NRW ist auch teilweise begründet,
so dass sie auch teilweise Aussicht auf Erfolg hat.
53
55
56
Papier (Fn. 11), § 839 Rn. 279.
A.A. vertretbar.
_____________________________________________________________________________________
ZJS 5/2008
520
Übungsfall: Straftaten gegen Kraftfahrzeuge
Von Rechtsreferendar Dr. Niclas Börgers, Köln, Rechtsanwalt Dr. Ralph Grunewald, LL.M. (UWMadison), Düsseldorf*
Sachverhalt
C parkt sein Auto regelmäßig in der unmittelbaren Nähe
eines sehr großen Kindergartens. Jeden Tag verlassen Horden
von Kleinkindern den Hort. Einmal sieht er, wie ein Fünfjähriger seinen Mercedes mit einem Schlüssel verkratzt. C ist
entsetzt. Gerade noch hat er den Kotflügel für mehr als tausend Euro reparieren lassen. Um den Jungen nicht im Getümmel zu verlieren – für C sehen die Kinder alle gleich aus
– und ihn der Polizei übergeben zu können, rennt er ihm
sofort hinterher und schnappt ihn sich. C will den Übeltäter
an der Hand zur nächsten Polizeidienststelle führen, kann ihn
jedoch nur einen Augenblick festhalten. F beißt C in dessen
Hand und läuft davon. C sucht noch einige Minuten nach
dem Jungen, vermag ihn aber in der Menschenmenge nicht
zu finden.
In der Zwischenzeit ist der maskierte Bankräuber B herangebraust. Er stellt sein Fahrzeug mitten auf die Straße und
stürmt mit gezogener Waffe in die gegenüberliegende Sparkasse. C bemerkt in seinem Ärger davon nichts. Er explodiert
endgültig, als er sieht, dass sein Fahrzeug zugeparkt wurde
und er nun zu Fuß gehen muss. Damit der Fahrer des anderen
Fahrzeugs etwas dazu lernt, entlüftet C auf Vorschlag des
Kioskinhabers K mit einem Schlüssel alle vier Reifen und
macht sich auf den Weg. K hatte das gesamte Geschehen von
seinem Büdchen aus beobachtet, wollte aber aus Angst vor
dem Bankräuber nicht selbst eingreifen, sondern lieber den
unwissenden C „den Helden spielen“ lassen. Sekunden später
rennt Bankräuber B aus der gegenüberliegenden Sparkasse
mit gezogener Waffe und Beute zu dem Wagen, den er kurz
zuvor geklaut hatte. Trotz seiner detaillierten Planung muss
er nun feststellen, dass sein Fluchtmittel völlig unbrauchbar
ist. Nur aus diesem Grund kann ihn die Polizei kurz darauf
festnehmen und die Beute sicherstellen.
Die Beamten klären den gesamten Vorgang auf. Es stellt
sich auch heraus, dass der vom Bankräuber benutzte Wagen
Cs Arbeitskollegen A gehört. Die beiden können sich nicht
leiden. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass A Strafantrag stellt. Als sie sich auf dem Werksgelände in ihren Fahrzeugen begegnen, rammt C den A, um ihm einmal zu zeigen,
wann ein Auto wirklich beschädigt ist. Wie von C erwartet,
wird niemand verletzt. Die Reparatur von As Fahrzeug wird
aber sehr teuer. Die Straße, auf der das Geschehen stattfand,
ist nur über ein Tor zugänglich, das durch einen Pförtner
bedient wird. Es dürfen nur Firmenangehörige mit Berechtigungsausweis auf das Gelände.
Strafbarkeit von C und K nach dem StGB?
Lösung
Erster Tatkomplex: Der flüchtige Fünfjährige
A. Strafbarkeit wegen Freiheitsberaubung, § 239 Abs. 1
2. Fall1
C könnte sich gemäß § 239 Abs. 1 2. Fall wegen Freiheitsberaubung strafbar gemacht haben, indem er sich F schnappte.
Dazu müsste C einen Menschen auf andere Weise der Freiheit beraubt haben. Der Freiheit beraubt ist jeder, der daran
gehindert wird, seinen Aufenthaltsort zu verlassen.2 Eine
Beschränkung auf bestimmte Tatmittel ist in § 239 Abs. 1 2.
Fall nicht vorgesehen.3 Insbesondere ist eine Ähnlichkeit zum
Einsperren nicht erforderlich,4 so dass auch bloßes Festhalten
erfasst wird.5 Als Tatopfer kommen Kleinkinder jedenfalls
dann in Betracht, wenn sie einen auf Ortsveränderung gerichteten Willen bilden können.6 Wie er durch den Biss in Cs
Hand eindrucksvoll demonstriert, ist diese Voraussetzung bei
dem fünfjährigen F erfüllt. Indem er ihn sich schnappte, hat C
den F an der Fortbewegung gehindert und so seiner Freiheit
beraubt. Er konnte den Übeltäter jedoch nur einen Augenblick festhalten. Sehr kurze Freiheitsberaubungen sind wegen
ihres Bagatellcharakters nicht von § 239 Abs. 1 erfasst.7 Als
Orientierung wird üblicherweise eine Entscheidung des Reichsgerichts herangezogen, die zumindest die Dauer eines „Vaterunsers“ fordert.8 Das Festhalten für einen Augenblick ist
jedenfalls zu unerheblich für eine tatbestandsmäßige Frei-
* Dr. Niclas Börgers absolviert gegenwärtig die Wahlstation
in der Kanzlei strafverteidiger|büro, Köln. Dr. Ralph Grunewald arbeitet als Strafverteidiger in der Kanzlei Wessing
Rechtsanwälte, Düsseldorf.
1
§§ ohne Gesetzesangabe sind solche des StGB. Der vorliegende Fall wurde an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf als Hausarbeit gestellt. Er hat einen hohen Schwierigkeitsgrad. Die Lösung soll der Herstellung eines vertieften
systematischen Verständnisses der enthaltenen strafrechtlichen Probleme dienen. Sie geht deshalb in Ausmaß und Tiefe
über das hinaus, was selbst von weit überdurchschnittlichen
Bearbeitungen erwartet wurde.
2
Küper, Strafrecht, Besonderer Teil, 7. Aufl. 2008, S. 144 ff.;
Wieck-Noodt, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003 ff., § 239 Rn. 21.
3
BGH NJW 1993, 1807; Träger/Altvater, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 11. Aufl. 2003 ff., § 239 Rn. 14.
4
Kindhäuser, Strafgesetzbuch, Lehr- und Praxiskommentar,
3. Aufl. 2006, § 239 Rn. 7.
5
BGH NStZ 2003, 371; Schroeder, in: Maurach/ders./Maiwald,
Strafrecht, Besonderer Teil, Teilbd. 1, 9. Aufl. 2003, § 14 Rn. 6.
6
BGHSt 32, 183 (187 f.); Wieck-Nood (Fn. 2).
7
BGH NStZ 2003, 371; Fahl, JuS 2003, 472 (475) m.w.N.
8
RGSt 7, 259 (260). Vgl. Träger/Altvater (Fn. 3), § 239 Rn. 18
m.w.N. zur Rechtsprechung, die vereinzelt auf eine sonstige
Eingriffsintensität abstellt.
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521
ÜBUNGSFALL
Niclas Börgers/Ralph Grunewald
heitsberaubung.9 C hat sich daher nicht gemäß § 239 Abs. 1
2. Fall strafbar gemacht.
B. Strafbarkeit wegen versuchter Freiheitsberaubung,
§§ 239 Abs. 1 2. Fall, Abs. 2, 22, 23 Abs. 1
Durch dieselbe Handlung könnte C sich wegen versuchter
Freiheitsberaubung gemäß §§ 239 Abs. 1 2. Fall, Abs. 2, 22,
23 Abs. 1 strafbar gemacht haben.
Hinweis: Bei Vergehen ergibt sich die Versuchsstrafbarkeit bereits aus der Gesetzesangabe im Obersatz. Ausnahmsweise kann sie (vgl. etwa § 353b Abs. 1 S. 2,
Abs. 3)10 ebenso wie der Verbrechenscharakter gemäß
§§ 23 Abs. 1, 12 zweifelhaft sein und einige erläuternde
Sätze innerhalb eines eigenen Prüfungspunktes erforderlich machen.11
Die Nichtvollendung ist nach Verneinung des vollendeten Delikts offensichtlich, ihre Vorprüfung daher überflüssig.12 Da sich diese Einsicht noch nicht in den gängigen Lehrbüchern durchgesetzt hat, wird empfohlen,13 sie
mit einem Satz festzustellen. Man begründet die Nichtvollendung inhaltlich zum Teil ausschließlich anhand der
Nichterfüllung des objektiven Tatbestandes, teils zusätzlich mit dem objektiven Vorliegen von Rechtfertigungsgründen oder dem Fehlen der Schuld. Hierbei wird die
konkurrenzrechtliche Frage thematisiert, ob der subsidiären Versuchsbestrafung eine Bestrafung wegen vollendeten Delikts entgegensteht. Das Fehlen einer beliebigen
materiellrechtlichen oder prozessualen Bestrafungsvoraussetzung könnte demnach zur Nichtvollendung führen.14 Im Ergebnis kommt jedoch nur die fehlende Übereinstimmung von objektivem und subjektivem Unrecht
in Betracht. Alle anderen Gründe wie etwa das Fehlen
einer objektiven Bedingung der Strafbarkeit, eines Strafantrages oder der Verjährungseintritt betreffen die Bestrafung eines Verhaltens wegen Vollendung und Versuch gleichermaßen.
liegt vor, wenn der Täter die Verwirklichung eines tatbestandlichen Umstands als End- oder notwendiges Zwischenziel erstrebt.16 C wollte den Jungen zur Polizei bringen.
Er wusste, dass es dazu erforderlich war, F für eine längere
Zeit festzuhalten. Weil es ihm zur Verwirklichung seines
Zieles gerade darauf ankam, handelte er in Freiheitsberaubungsabsicht und hatte sich somit zur Tat entschlossen.
II. Unmittelbares Ansetzen
C müsste nach seiner Vorstellung von der Tat zu ihrer Verwirklichung unmittelbar angesetzt haben, § 22. Er stellte sich
vor, F bis zur Übergabe an die Polizei festzuhalten. Mit
Überschreiten der zeitlichen Grenze zur Erheblichkeit wäre
der Tatbestand von ihm verwirklicht worden. C hatte sich den
Jungen bereits geschnappt und so eine Handlung teilweise
vorgenommen, die, wäre sie vollständig durchgeführt, eine
Freiheitsberaubung darstellte. Damit hat C nach seiner Vorstellung von der Tat zu ihrer Verwirklichung unmittelbar
angesetzt.
III. Rechtfertigung
Die versuchte Freiheitsberaubung dürfte nicht gerechtfertigt sein.
Dies ist jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn weder tatsächlich noch in der Vorstellung des Täters Umstände vorliegen,
die einen Rechtfertigungsgrund erfüllen.
Hinweis: An dieser Stelle ergibt sich ein in der Ausbildungsliteratur selten besprochenes Problem. Einige Autoren17 nehmen an, dass die Rechtfertigung des Versuchs
keine Unterschiede zum vollendeten Vorsatzdelikt aufweist.18 Demzufolge müsste zunächst erörtert werden, ob
tatsächlich und nicht bloß in der Tätervorstellung Umstände vorliegen, die zu einer Rechtfertigung führen.
Das ist zumindest dann widersprüchlich, wenn Vertreter
dieser Auffassung zugleich davon ausgehen, dass bei
Unkenntnis rechtfertigender Umstände (ausführlicher zu
diesem Problem im zweiten Tatkomplex) nicht wegen
vollendeten, sondern wegen versuchten Delikts bestraft
werden soll.19 Danach kann es für die Versuchsstrafbarkeit nicht auf die objektive Seite der Rechtfertigung ankommen. Herzberg20 schließt zu Recht aus §§ 22, 23
Abs. 3, dass das Versuchsunrecht sich aus der Tätervorstellung ergibt und objektive Umstände wie etwa eine
tatsächliche Rechtsgutsgefährdung insoweit keine Bedeutung haben. Bei der Rechtfertigung eines Versuchs ist
daher lediglich zu prüfen, ob der Täter sich Umstände
vorgestellt hat, die ihn bei ihrem tatsächlichen Vorliegen
I. Tatentschluss
C müsste den Entschluss zur Begehung einer Freiheitsberaubung gefasst haben. Der Tatentschluss umfasst den Vorsatz
hinsichtlich aller Umstände, die den objektiven Tatbestand
verwirklichen, einschließlich besonderer subjektiver Merkmale.15 C könnte die Absicht gehabt haben, F gemäß § 239
Abs. 1 2. Fall auf andere Weise seiner Freiheit zu berauben.
Wie oben festgestellt, erfüllt das Festhalten über einen nicht
unerheblichen Zeitraum diese Tatbestandsvariante. Absicht
9
BGH NStZ 2003, 371.
Hardtung, Versuch und Rücktritt bei den Teilvorsatzdelikten, 2002, S. 193 ff.
11
Vgl. Hardtung, Jura 1996, 293 (299 ff.).
12
Eingehend dazu Hardtung, Jura 1996, 293 (295 ff.).
13
Meurer/Kahle/Dietmeier, Übungskriminalität, 2000, S. 25.
14
Hardtung, Jura 1996, 293 (296 ff.) mit Einschränkungen in
Fn. 37 und Nachweisen zum Meinungsspektrum.
15
Vgl. Kindhäuser (Fn. 4), § 22 Rn. 12.
10
16
Kindhäuser (Fn. 4), § 15 Rn. 20 m.w.N.
Zum Beispiel Eser, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch,
Kommentar, 27. Aufl. 2006, § 22 Rn. 59.
18
Wessels/Beulke, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 37. Aufl. 2007,
Rn. 610.
19
So auch Eser/Burkhardt, Strafrecht I, 4. Aufl. 1992, S. 132
und Wessels/Beulke (Fn. 18), Rn. 279.
20
In: Joecks/Miebach (Fn. 2), § 22 Rn. 174 ff.
17
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ZJS 5/2008
522
Straftaten gegen Kraftfahrzeuge
rechtfertigen würden.21 Der Erlaubnistatbestandsirrtum
führt also zur Rechtfertigung des versuchten Delikts.
Eine Streitdarstellung ist hier verzichtbar, da es auf die
Unterschiede zwischen den Meinungen im Ergebnis
nicht ankommt. In solchen Fällen kann es sich empfehlen, mit Ausdrücken wie „zumindest“ oder „unstreitig“
eine Definition einzuleiten, die als kleinstes gemeinsames Vielfaches alle vertretenen Auffassungen zusammenfasst. Man zeigt so, dass man den Streit kennt, ohne ihn
unnötig breit darzustellen.
1. Privates Festnahmerecht, § 127 Abs. 1 S. 1 StPO
C könnte aus § 127 Abs. 1 S. 1 StPO ein Recht zur vorläufigen Festnahme des F gehabt haben. Dazu müsste F von ihm
auf frischer Tat betroffen oder verfolgt worden sein. Taten
sind jedenfalls alle verfolgbaren,22 schuldhaft begangenen,
rechtswidrigen Taten im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 5. Als F
mit einem Schlüssel den Mercedes von C zerkratzte, beschädigte er vorsätzlich und rechtswidrig eine fremde Sache,
§ 303 Abs. 1. Problematisch ist, dass F erst fünf Jahre alt und
deshalb gemäß § 19 nicht strafmündig war. Nach einer Ansicht können Kinder keine Tat im Sinne von § 127 Abs. 1
StPO begehen,23 so dass eine Rechtfertigung des C ausgeschlossen wäre. Die Gegenauffassung sieht keinen Grund,
das Festnahmerecht Privater in diesem Sinne zu beschränken.24 Sie geht davon aus, dass ein solches Verständnis keine
Stütze im Wortlaut findet. Dieser beziehe sich auf die Betroffenheit von irgendjemandem und verzichte gerade auf die
„übliche strafprozessuale Kategorisierung als Verdächtiger
oder Beschuldigter“.25 Eindeutigere Anhaltspunkte für die
Auslegung bietet die Systematik der strafprozessualen Festnahme- und Festhalterechte.
STRAFRECHT
a) Delegation eines repressiven Amtsrechts
aa) Eine private Festnahme erfolgt pro magistratu, d.h. der
Bürger unterstützt damit die staatlichen Strafverfolgungsorgane.26 Da es sich um eine delegierte Befugnis handelt, lassen
sich Systematik und Umfang aus dem originären Amtsrecht
entwickeln.27 Die Offizialfestnahme gemäß § 127 Abs. 2
StPO kann der Untersuchungshaft (§§ 112 ff. StPO) oder
einstweiligen Unterbringung (§ 126a StPO) dienen. Ersteres
würde eine schuldhaft begangene und verfolgbare Straftat
voraussetzen,28 Zweiteres eine im Zustand verminderter oder
fehlender Schuldfähigkeit (§§ 20 f.) begangene rechtswidrige
Straftat. Die §§ 112 Abs. 1, 126a Abs. 1 StPO begrenzen also
die amtliche Festnahme auf solche Taten, die strafrechtliche
Folgen im Sinne der §§ 38-76a nach sich ziehen. Ein Kind
kann solche Taten nicht begehen.29
Die Festnahme bezweckt jedoch nicht nur die Sicherstellung der Anwesenheit des Beschuldigten für das strafrechtliche Verfahren und die Vollstreckung der dabei angeordneten
Rechtsfolgen. Gemäß §§ 127 Abs. 1 S. 2, 163b StPO dürfen
StA und Polizei Personen zur Identitätsfeststellung festhalten,
wenn sie einer Straftat verdächtigt werden oder dies zur Aufklärung der Straftat eines anderen geboten ist. Das amtliche
Festhalterecht richtet sich also nicht nur auf Tatverdächtige,
sondern auch auf Zeugen und (menschliche) Augenscheinsobjekte.30 Der Begriff der Straftat wird untechnisch dahingehend verstanden, dass er ebenso die im Zustand der Schuldunfähigkeit begangene rechtswidrige Tat erfasst, sofern sie
Maßregeln der Besserung und Sicherung nach sich ziehen
kann.31 Einziger Anlass bleiben jedoch Taten, die Gegenstand
eines strafrechtlichen Verfahrens sein können. Es sind aber
vorliegend ersichtlich keine strafmündigen Personen beteiligt, gegen die ein Strafverfahren geführt werden könnte.
21
Samson, Strafrecht, Bd. 1, 7. Aufl. 1988, S. 167.
Vgl. zu den Verfolgungshindernissen § 127 Abs. 3 StPO
und Hilger, in: Rieß (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 26. Aufl.
2006 ff., § 127 Rn. 4.
23
Frehsee, ZStW 100 (1988), 290 (303); Hilger (Fn. 22),
Rn. 8; Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, Kommentar, 51.
Aufl. 2008, § 127 Rn. 3a; Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz,
7. Aufl. 2007, § 1 JGG Rn. 1 f.; Paeffgen, in: Rudolphi u.a.
(Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung,
8. Lieferung, Stand: Dezember 1992, § 127 Rn. 6; Pfeiffer,
in: Strafprozessordnung, Kommentar, 5. Aufl. 2005, § 127
Rn. 2, alle m.w.N.
24
RGSt 17, 127; KG JR 1971, 30; Bottke, in: Schlüchter
(Hrsg.), Festschrift für Friedrich Geerds, 1995, S. 278 f.;
Brunner/Dölling, Kommentar zum Jugendgerichtsgesetz,
11. Aufl. 2002, § 1 JGG Rn. 13; Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner
Teil, 2. Aufl. 1991, § 16 Rn. 17; Schoene, DRiZ 1999, 321
(323 f.); Streng, in: Dölling (Hrsg.), Festschrift für Karl
Heinz Gössel zum 70. Geburtstag, 2002, S. 503; Verrel, NStZ
2001, 284 (286 f.).
25
Verrel, NStZ 2001, 284 (287); Bottke (Fn. 24), Fn. 58.
Kritisch dazu Ostendorf, in: Wassermann (Hrsg.), Alternativkommentare, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 1990, § 19
Rn. 11.
22
26
RGSt 17, 127 (128); Boujong, in: Karlsruher Kommentar
zur Strafprozessordnung, 5. Aufl. 2003, § 127 Rn. 6; Jescheck/Weigend, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996,
S. 397 f.
27
Vgl. Paeffgen (Fn. 23), § 127 Rn. 5. Das abgeleitete Amtsrecht kann aber wegen der Delegation eingeschränkt sein,
Jakobs (Fn. 24), § 16 Rn. 16. Während ein Polizist schon bei
einem dringenden Tatverdacht gemäß §§ 127 Abs. 2, 112
StPO festnehmen darf, setzt § 127 Abs. 1 StPO eine wirklich
begangene Tat voraus (materiell-rechtliche Theorie). Nach
der prozessualen Theorie soll diese Voraussetzung anhand
der eingeschränkten Sachverhaltskenntnis eines – wie auch
immer zu bestimmenden – objektiven Dritten geprüft werden.
Vgl. zum Streitstand Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil,
5. Aufl. 2005, § 9 Rn. 83 ff. m.w.N. auch zur Übungsfall-Literatur.
28
Hilger (Fn. 22), § 127 Rn. 8.
29
Seine Schuldunfähigkeit ist zugleich ein Prozesshindernis;
Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder (Fn. 17), § 19 Rn. 5.
Es ist lediglich eine Sicherungseinziehung möglich; a.a.O.,
Rn. 4.
30
Wolter, in: Rudolphi u.a. (Fn. 23), 16. Lieferung, Stand:
Mai 1997, § 163b StPO Rn. 47; siehe zum Inhalt des Begriffs
„Augenschein“ Meyer-Goßner (Fn. 23), § 86 StPO Rn. 1, 7.
31
Wolter (Fn. 30), Rn. 20 m.w.N.
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523
ÜBUNGSFALL
Niclas Börgers/Ralph Grunewald
Mangels verfolgbarer Tat dürfte F weder als Beschuldigter
noch als Zeuge seiner eigenen Tat32 festgehalten werden.
bb) Dagegen wird mit der Funktion des Strafverfahrens
argumentiert. Die StPO weist den Strafverfolgungsbehörden
repressive Aufgaben und Befugnisse zu, die bei einem engen
Verständnis ein Festnahmerecht von Kindern mangels Verantwortlichkeit ausschließen würden.33 Zur Repression gehören jedoch ebenso Maßnahmen, die der Beweisbeschaffung
für künftige Strafverfahren dienen.34 So wird vorgebracht,
dass in einem späteren Jugendstrafverfahren etwa Informationen über die bisherige Entwicklung für die Sanktionsbestimmung von Bedeutung seien.35 Dieses Verständnis lässt
sich jedoch nur schwerlich mit dem Wortlaut der §§ 127
Abs. 1 und Abs. 2, 163b StPO in Einklang bringen. Die Plausibilität des Arguments hängt im Übrigen vom Alter des
Kindes ab. Informationen über das in Rede stehende Verhalten des fünfjährigen F dürften in einem Jugendstrafverfahren
(vgl. § 19) kaum von Relevanz sein. Ein Festhalten so junger
Täter lässt sich mit dieser Überlegung nicht legitimieren.
cc) Ein weiterer Zusammenhang mit den Zwecken des
Strafrechts, deren Verwirklichung das Strafverfahren dient,
wird bei der Festnahme in flagranti in der „spezialpräventiv
wertvolle[n] Botschaft für das Kind“ gesehen. Dieses dürfe
nicht davon ausgehen, sich in einem rechtsfreien Raum zu
bewegen und immun gegenüber hoheitlichen sowie pro magistratu vorgenommenen Maßnahmen zur Klärung seiner
Tatzuständigkeit zu sein. Es wäre dem Rechtsbewusstsein des
Kindes sehr abträglich, wenn sich das festnahmebereite Opfer
seiner Straftat von ihm nicht nur im übertragenen Sinne eine
Nase drehen lassen müsste.36
Auf Einübung von Legalverhalten abzielende staatliche
Einwirkungen sind den Jugendgerichten frühestens mit dem
Eintritt der Strafmündigkeit erlaubt, §§ 19 StGB, 1, 3 JGG.
Bis zur Vollendung des 14. Lebensjahrs ist die Erziehung des
Kindes das alleinige Vorrecht der Eltern (Art. 6 Abs. 2 GG).
Eine Beschränkung des elterlichen Erziehungsrechts durch
Maßnahmen des Familiengerichtes kommt gemäß § 1666
BGB nur bei einer Gefährdung des Kindeswohls in Betracht.
Diese klare Kompetenzverteilung lässt keinen Spielraum für
eine Interpretation des strafprozessualen Festnahme- und Festhalterechts als verkappte Erziehungshilfe (vgl. §§ 27 ff. SGB
VIII). Im Übrigen setzt die Konzeption voraus, es gäbe eine
strafverfahrensrechtliche Aufgabe zur Klärung kindlicher
„Tatzuständigkeit“,37 was aber noch zu begründen wäre.
dd) Schließlich wird argumentiert, das Rechtsbewusstsein
von festnahmebereiten Personen und Opfern kindlicher Straf32
Vgl. Frehsee, ZStW 100 (1988), 290 (304).
Ostendorf (Fn. 23); ders. (Fn. 25).
34
Rogall, in: Rudolphi u.a. (Fn. 23), 25. Lieferung, Stand:
Oktober 2001, § 81b StPO, Rn. 9 f. Daher sind erkennungsdienstliche Maßnahmen nach § 81b 2. Alt. StPO entgegen der
h.M. nicht der Gefahrenabwehr zuzuordnen; vgl. aaO sowie
Frister, in: Lisken/Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 4. Aufl. 2007, G 261.
35
Verrel, NStZ 2001, 284 (287).
36
Verrel, NStZ 2001, 284 (287) .
37
Bottke (Fn. 24), S. 278.
33
taten könne leiden, wenn sie eine Anzeige wegen Freiheitsberaubung erwarten müssen.38 Die Folgen eines so weit getriebenen Kinderschutzes seien möglicherweise öffentlicher
Unmut und der Ruf nach einem schärferen Jugendstrafrecht.39 Den Respekt vor der Rechtsordnung verliert nach der
Theorie der positiven Generalprävention, wer Kenntnis von
nicht geahndeten Straftaten erhält. Voraussetzung ist dabei,
dass der Normadressat die Tat mit seinem eigenen Verhalten
vergleichen und so als Orientierungsmuster wahrnehmen kann.
Kinder werden jedoch erfahrungsgemäß nicht als Gleiche
gesehen und sind daher nicht fähig, die Normgeltung in Frage
zu stellen.40 In den Augen Erwachsener vermögen ihre Taten
kaum, das allgemeine Rechtsbewusstsein zu erschüttern.41
Tatsächlich möglich erscheint dies lediglich im Alter kurz
vor Erreichen der Schuldfähigkeit. Das unrechtmäßige Verhalten dieser Kinder kann ausnahmsweise Vorbildwirkung
auch für Erwachsene haben. Das Gesetz schließt diese Wirkung jedoch durch die Fiktion in § 19 aus. Wer diese Wertung ignoriert und die §§ 127 Abs. 1 und Abs. 2, 163b StPO
in ein vorgelagertes Sanktionsinstrument umwidmet, missbraucht das Recht für nicht vom Gesetzgeber bestimmte
Zwecke.42
b) Übertragung sonstiger Aufgaben der Strafverfolgungsbehörden?
Eine Rechtfertigung käme aber in Betracht, wenn durch die
StPO den Strafverfolgungsorganen nicht ausschließlich repressive Funktionen zugewiesen und gemäß § 127 Abs.1 S. 1
auf den Bürger übertragen werden.
aa) Der Polizei wird etwa durch § 163 Abs. 1 S. 1 StPO
die Aufgabe gestellt, Straftaten zu erforschen. Eine Auffassung geht davon aus, dieser Auftrag könne sich nicht darauf
beschränken, die Sanktionierung strafrechtlich verantwortlicher Täter zu ermöglichen. Jedenfalls bei gewichtigen Taten
sei die Aufklärung eines strafrechtlich relevanten Sachverhalts beziehungsweise der Tatzuständigkeit43 und nicht die
Bestrafung des Schuldigen das allgemeine Ziel eines Ermittlungsverfahrens. Als Beispiel werden der sexuelle Missbrauch
und die Tötung eines jüngeren Mädchens durch einen 13Jährigen genannt. „Nähme man die These eines bei Strafunmündigen fehlenden Ermittlungsinteresses ernst, wären jegliche strafprozessualen Maßnahmen zur Aufklärung des Sachverhalts“ unzulässig.44
Aber auch wenn sich die Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden darauf beschränkt, Rechtsfolgen gemäß §§ 38 ff.
herbeizuführen, können sie dafür immer nur an den dort geforderten Sachverhalt anknüpfen. Sofern dieser unklar ist und
lediglich der Verdacht eines entsprechenden Verhaltens besteht, müssen sie ermitteln, bis er sich bestätigt oder als
38
A.a.O., Fn. 58.
Verrel, NStZ 2001, 284 (287).
40
Jakobs (Fn. 24), § 18 Rn. 1.
41
Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006,
§ 20 Rn. 50.
42
Vgl. Walter, DRiZ 1999, 325 (326).
43
Bottke (Fn. 24), S. 278 f.
44
Verrel, NStZ 2001, 284 (287).
39
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524
Straftaten gegen Kraftfahrzeuge
falsch herausstellt. Ist wie vorliegend ein Kind beteiligt, sind
strafprozessuale Aufklärungsmaßnahmen demnach nur so
lange geboten und zulässig, bis feststeht, dass der Täter strafunmündig war und alleine handelte, weil dann keine Rechtsfolgen gemäß §§ 38 ff. eintreten. Was darüber hinaus den
„strafrechtlich relevante[n] Sachverhalt“ kennzeichnen soll,
dürfte sich kaum positiv benennen lassen. Aus der Polizeiaufgabe in § 163 StPO lässt sich deshalb keine Rechtfertigung ableiten.
bb) Ferner wird angenommen, die vorläufige Festnahme
von Kindern sei Strafverfolgungsbehörden erlaubt, um weitere Straftaten zu verhindern und die Personalien der Aufsichtspflichtigen festzustellen.45 Die Aufgabe, Straftaten zu
verhüten, hat die Polizei jedoch als Gefahrenabwehr- und
nicht als Strafverfolgungsbehörde, vgl. § 1 Abs. 1 S. 2 PolG
NW. Die Feststellung der Identität des Aufsichtspflichtigen
wird insbesondere drei Zwecken dienen. Soweit die Polizei
bestrebt ist, Straftaten etwa eines mittelbaren Täters aufzuklären,46 fällt dies unter ihre bereits genannte repressive Aufgabenstellung. Dafür fehlen jedoch Hinweise im Sachverhalt.
Die Identitätsfeststellung ist zudem eine typische Eingriffsmaßnahme zum Schutz der privatrechtlichen Ansprüche des
Geschädigten.47 Ginge es also um die Sicherung der Haftung
des Aufsichtspflichtigen gemäß § 832 BGB, wäre die Polizei
als allgemeine Gefahrenabwehrbehörde eilzuständig, vgl.
§§ 1 Abs. 2, 35 Abs. 1 Nr. 5 PolG NW.48 Drittens kommt die
Vorbereitung und Sicherung von Maßnahmen der Kinderund Jugendhilfe in Betracht.49 Dabei würde die Polizei eine
Notkompetenz an Stelle des Jugendamtes als Sonderordnungsbehörde wahrnehmen (vgl. §§ 42 SGB VIII, 1 Abs. 1
S. 3, 35 Abs. 2 PolG NW), so dass insgesamt kein Platz für
eine Beauftragung durch die Strafprozessordnung bleibt.
Folglich kann eine solche Befugnis auch nicht auf Private
übertragen werden und nicht zu einer Rechtfertigung führen.
c) Schlussfolgerung
Der Strafprozessordnung lassen sich weder Auftrag noch
Befugnis zur Aufklärung solcher „Straftaten“ entnehmen, die
keine strafrechtlichen Folgen haben. Offizielle und private
Festnahme eines Kindes sind insofern nicht durch §§ 127,
163b StPO gedeckt. Weil C davon ausging, dass es sich bei F
um ein Kindergartenkind handelt, war sein Verhalten weder
objektiv noch subjektiv durch § 127 Abs. 1 StPO gerechtfertigt.
2. Selbsthilfe, §§ 229 f. BGB
In Betracht kommt jedoch ein Selbsthilferecht gemäß §§ 229
f. BGB. Dazu müsste das Festhalten zur Sicherung der Ver45
Schoene, DRiZ 1999, 321 (323).
Schoene, DRiZ 1999, 321 (323); Verrel, NStZ 2001, 284
(287).
47
Denninger, in: Lisken/ders. (Fn. 34), E 247.
48
Vgl. Denninger (Fn. 47), E 246 m.N. zu den jeweiligen landesrechtlichen Regelungen.
49
Jakobs (Fn. 24), § 16 Rn. 17; Streng (Fn. 24), S. 504; vgl.
auch Verrel, NStZ 2001, 284 (287).
46
STRAFRECHT
wirklichung eines Anspruches geeignet und erforderlich gewesen sein. Da F den Mercedes von C mit einem Schlüssel zerkratzte, kommt eine Schadensersatzverpflichtung in Betracht, § 823
Abs. 1 BGB. Dies wird jedoch durch § 828 Abs. 1 BGB ausgeschlossen, da F als Kindergartenkind noch nicht deliktsfähig ist. Für eine Ersatzpflicht aus Billigkeitsgründen gemäß
§ 829 BGB fehlen Hinweise. Es besteht allenfalls eine Haftung der aufsichtspflichtigen Eltern oder Kindergärtner, § 832
BGB. Selbsthilfemaßnahmen sind jedoch nur gegen den
Verpflichteten möglich.50 Man könnte erwägen, ob C gegenüber F einen Anspruch auf Auskunft über die Person des
Aufsichtspflichtigen hat. Zur Selbsthilfe berechtigende Auskunftsansprüche nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) wurden durch die Rechtsprechung bereits innerhalb bestehender
vertraglicher Schuldverhältnisse anerkannt.51 Eine vergleichbare besondere rechtliche Beziehung kann durch ein gesetzliches Schuldverhältnis etwa aus unerlaubter Handlung begründet werden.52 Bislang ungeklärt ist, ob auch eine unerlaubte Handlung genügt, die eine Verpflichtung nicht gegen
den Schädiger, sondern gegen Dritte begründet.53 Zur Sicherung eines solchen Auskunftsanspruchs müsste das Festhalten
aber erforderlich gewesen sein, § 230 Abs. 1 BGB. C hätte F
direkt um Auskunft bitten können. Zudem befanden sich beide
in unmittelbarer Nähe des Kindergartens. Die Identität des
Aufsichtspflichtigen wäre dort viel schneller festzustellen
gewesen als in einer Polizeiinspektion. Die geplante Übergabe ist daher nicht durch § 229 BGB zu rechtfertigen.
50
Wagner, in: Erman, Handkommentar zum BGB, 12. Aufl.
2008, § 229 Rn. 6.
51
BayObLG NJW 1991, 934 (Gänsebrust-Fall); für Studenten eingehend besprochen von Duttge, Jura 1993, 416.
52
BGHZ 95, 274 (278 f.); 149, 165 (174 f.).
53
Nur ausnahmsweise kann sich aus § 242 BGB eine Auskunftspflicht von Dritten ergeben, die nicht Schuldner des
Hauptanspruches sind; Heinrichs, in: Palandt, Bürgerliches
Gesetzbuch, 67. Aufl. 2008, § 261 Rn. 14 m.N. zur Rechtsprechung. Die Sicherung einer Auskunftsverpflichtung
durch vorläufige Festnahme ist aber ihrerseits problematisch.
Eine Auffassung folgert aus § 230 Abs. 3, dass sie nur unter
den zusätzlichen Voraussetzungen des persönlichen Sicherheitsarrestes nach §§ 916, 918 ZPO zulässig sei; Hefermehl,
in: Erman (Fn. 50), 10. Aufl. 2000, § 229 Rn. 8; Heinrichs,
a.a.O., § 229 Rn. 7. Arrestanspruch im Sinne des § 916
Abs. 1 ZPO ist jedoch eine Geldforderung oder eine Forderung, die darin übergehen kann. Ein Auskunftsanspruch dürfte
demnach nicht durch Festnahme gesichert werden; Duttge,
Jura 1993, 416 (419 f.); Laubenthal, JR 1991, 519 (520). Die
Gegenauffassung verneint zusätzliche Voraussetzungen aus
§§ 916, 918 ZPO; BayObLG NJW 1991, 934; Schauer/Wittig, JuS 2004, 107 (109 f.); Wagner (Fn. 50), § 229
Rn. 7. Problematisch ist darüber hinaus, das die Selbsthilfe in
Bezug auf den Auskunftsanspruch nicht zur Sicherung, sondern durch Erhalt der Informationen zu seiner Befriedigung
führt; vgl. W. Schünemann, Selbsthilfe im Rechtssystem,
1985, S. 83 m.w.N.
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525
ÜBUNGSFALL
Niclas Börgers/Ralph Grunewald
3. Zwischenergebnis
Da sonstige tatsächliche oder vorgestellte Gefahren nicht
ersichtlich sind, kommen andere Rechtfertigungsgründe nicht
in Betracht. C verhielt sich rechtswidrig.
III. Schuld, Rücktritt und Ergebnis
C handelte schuldhaft.
Hinweis: Wenn die Erforderlichkeit des Festhaltens angenommen, aber dennoch eine Rechtfertigung als
Selbsthilfe aus den zuvor (in Fn. 53) genannten Gründen
verneint wird, kommt noch ein gemäß § 17 S. 1 schuldausschließender Erlaubnisirrtum in Betracht.
Mangels Rücktritts (§ 24 Abs. 1)54 hat er sich gemäß §§ 239
Abs. 1 2. Fall, Abs. 2, 22, 23 Abs. 1 wegen versuchter Freiheitsberaubung strafbar gemacht.
C. Strafbarkeit wegen Nötigung, § 240 Abs.1, Abs. 2
Durch dieselbe Handlung könnte C sich gemäß § 240 Abs. 1,
Abs. 2 wegen Nötigung strafbar gemacht haben. Möglicherweise hat er F durch Gewalt zu einem Handeln, Dulden oder
Unterlassen genötigt. Gewalt ist zumindest jede Kraftentfaltung, die unmittelbar zu einer körperlichen Zwangseinwirkung auf das Opfer führt und seine Willensentschließungsfreiheit nicht ausschließt.55 C hielt den fünfjährigen F für
einen Augenblick fest, bis dieser davon lief. Er hat somit
Gewalt angewendet. Da er den Jungen jedoch nicht zur Polizei führen konnte, bestehen Zweifel an der Tatbestandsmäßigkeit der Opferreaktion. Bei der Auslegung strafrechtlicher
Tatbestände müssen geringfügige Beeinträchtigungen ausgeschieden werden, um die Funktion des Strafrechts als ultima
ratio des Staates zu sichern (so genanntes Geringfügigkeitsoder Bagatellprinzip).56
Hinweis: In einer Übungshausarbeit sollten solche Hervorhebungen im Haupttext vermieden werden.
Minimale Freiheitsverluste auf der Opferseite sollen keine
Kriminalstrafen nach sich ziehen, weswegen Zwangseinwirkungen von geringer Dauer und mit geringen Folgen nicht
den Tatbestand der Nötigung erfüllen.57 F wurde lediglich für
54
Wie man § 24 Abs. 1 anhand seiner Merkmale und unter
Verzicht auf die herkömmlichen strafrechtsdogmatischen
Figuren prüft, beschreibt Scheinfeld, JuS 2002, 250.
55
Gropp/Sinn in: Joecks/Miebach (Fn. 2), § 240 Rn. 60.
56
OLG Hamm NJW 1980, 2537; Ostendorf, GA 1982, 333,
(338 ff.) und Roxin (Fn. 41), § 10 Rn. 40, Fn. 79 verstehen es
zu Recht als Auslegungsregel für alle Straftatbestände. Anerkannt ist das Prinzip jedoch nur bei einzelnen Delikten wie
etwa §§ 239, 240 (vgl. N.w. in Fn. 7 ff.; Gropp/Sinn [Fn. 55],
§ 240 Rn. 136 m.w.N.).
57
Üblicherweise wird das Geringfügigkeitsprinzip bei der
Verwerflichkeitsprüfung berücksichtigt, vgl. Gropp/Sinn
(Fn. 56), und zur Reduktion des Tatbestandes BGHSt 41, 231
(240).
einen Augenblick davon abgehalten, davon zu laufen. Diese
nur bagatellartige Beschränkung seiner Willensbetätigungsfreiheit beinhaltet keinen hinreichenden Taterfolg. C hat sich
daher nicht gemäß § 240 Abs. 1, Abs. 2 wegen Nötigung
strafbar gemacht.
D. Strafbarkeit wegen versuchter Nötigung, §§ 240
Abs. 1-3, 22, 23 Abs. 1
Durch dieselbe Handlung könnte sich C gemäß §§ 240
Abs. 1-3, 22, 23 Abs. 1 wegen versuchter Nötigung strafbar
gemacht haben.
I. Tatentschluss
Dazu müsste er einen Tatentschluss gefasst haben. Tatentschluss gemäß § 240 Abs. 1 liegt jedenfalls vor, wenn der
Täter beabsichtigt,58 einen Menschen mit Gewalt zu einer
Handlung, Duldung oder Unterlassung zu nötigen. Fraglich
ist, ob der Nötigungserfolg nur in einem menschlichen Verhalten bestehen kann, das vom Willen des Opfers beherrscht
wird oder beherrschbar ist. Die Minderheitsansicht unterscheidet in diesem engeren Sinne zwischen Gewalt, die ein
vom Täter erstrebtes Verhalten bewirkt (vis compulsiva), sowie körperlichen Zwangseinwirkungen, die eine Bildung oder
Betätigung des Willens unmöglich machen (vis absoluta).59
Letztere Art von Gewalt sei ungeeignet, eine menschliche
Handlung, Duldung oder Unterlassung hervorzurufen.60 C
beabsichtigte, F an der Hand zu halten, damit dieser nicht
fortläuft und stattdessen mit ihm zur Polizei geht. Nach seiner
Vorstellung war F das Fortlaufen absolut unmöglich, so dass
das Festhalten nach der Minderheitsansicht keine nötigende
Gewalt darstellt. Das Ziehen am Arm des Jungen sollte diesen aber zugleich dazu veranlassen, mit ihm zur Polizei zu
laufen. Weil die Anwendung des körperlich wirkenden Zwanges
insofern nicht die Willensentschließungsfreiheit des F ausschloss, stellt sie nötigende Gewalt dar. Die herrschende
58
Umstritten ist, ob der Nötigungserfolg beabsichtigt werden
muss; zum Meinungsstand Fischer, Strafgesetzbuch und
Nebengesetze, Kommentar, 55. Aufl. 2008, § 240 Rn. 53.
Bejaht wird dies mit einem Argument aus § 240 Abs. 2, der
mit dem Merkmal „Zweck“ die tatbestandliche Opferreaktion
meine; Gropp/Sinn (Fn. 55), § 240 Rn. 103 m.w.N. Die Verwerflichkeit wird üblicherweise durch eine umfassende „Abwägung unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des
Einzelfalls“ bestimmt; Eser (Fn. 17), § 240 Rn. 17 m.N. zur
Rechtsprechung von BVerfG und BGH. Zumindest muss
man Mittel und Zweck in Beziehung zueinander setzen;
Gropp/Sinn (Fn. 55), § 240 Rn. 124. Da in § 240 Abs. 2 als
Rechtsfolge nur objektive Rechtswidrigkeit gemeint sein
kann, würde aber über das Verständnis des Zwecks als beabsichtigter Nötigungserfolg ein innerpsychischer Umstand auf
die objektive Verhaltensberechtigung Einfluss nehmen. Vgl. dagegen für eine systemkonforme Interpretation Fn. 98.
59
Gropp/Sinn (Fn. 55), § 240 Rn. 29.
60
Gropp/Sinn (Fn. 55), § 240 Rn. 59; Hruschka, NJW 1996,
160 (162 ff.); Sinn, Nötigung im System des heutigen Strafrechts, 2000, S. 195 ff.
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ZJS 5/2008
526
Straftaten gegen Kraftfahrzeuge
Meinung lässt zusätzlich vis absoluta etwa durch Festhalten
als nötigende Gewalt genügen.61 C wollte somit nach beiden
Auffassungen Gewalt im Sinne des § 240 Abs. 1 anwenden,
um den Jungen zu einem Verhalten zu veranlassen.62 Er hatte
den geforderten Tatentschluss.
II. Unmittelbares Ansetzen
C müsste nach seiner Vorstellung von der Tat zu ihrer Verwirklichung unmittelbar angesetzt haben, § 22. Ein Nötigungsversuch beginnt spätestens mit dem bewussten Einsatz des
Nötigungsmittels.63 Indem er sich den Jungen gewaltsam
schnappte, um ihn zur Polizei zu bringen, setzte er nach seiner Vorstellung unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung
an.
III. Rechtswidrigkeit und Schuld
Wie bereits festgestellt scheidet eine Rechtfertigung gemäß
§§ 127 Abs. 1 StPO, 229 BGB aus. C handelte aber nur
rechtswidrig, wenn die vorgestellte Gewaltanwendung zu
dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist,64
§ 240 Abs. 2. Nach gängigem Verständnis kann sich die
Verwerflichkeit aus dem Zweck, dem angewandten Mittel
oder aus der Relation zwischen beiden ergeben.65 Vor allem
die sonstige Strafbarkeit eines Nötigungsmittels wird dabei
als Indiz für seine Verwerflichkeit gesehen.66 Das geplante
Mittel war eine Freiheitsberaubung auf andere Weise, § 239
Abs. 1 2. Fall. C wollte den kleinen Jungen der Polizei übergegeben. Die angestrebte Gewaltanwendung war zwar geeignet, die Durchsetzung eines Schadensersatzanspruchs gegen
die Eltern oder andere Aufsichtspersonen abzusichern. Weil
dies aber auch durch mildere Mittel [siehe oben B. III. 2.]
hätte geschehen können, ist die geplante Gewaltanwendung
als verwerflich anzusehen. C handelte daher rechtswidrig und
im Übrigen auch schuldhaft.
61
Eser (Fn. 17), Vorbem §§ 234 ff. Rn. 13; Träger/Altvater
(Fn. 3), § 240 Rn. 38 ff. (beide) m.w.N. zur „heute nahezu
uneingeschränkt herrschende[n] Meinung“.
62
Die Unterscheidung hat ebenfalls keine konkurrenzrechtlichen Auswirkungen auf das Gesamtergebnis; vgl. dort.
63
Träger/Altvater (Fn. 3), § 240 Rn. 118.
64
Es ist umstritten, ob es sich hierbei um ein Merkmal des
Tatbestandes oder der Rechtfertigung handelt. Nach der Lehre von der eingeschränkten Schuldtheorie (ausführlicher dazu
im 2. Tatkomplex A. II. 4.) lassen sich diese jedoch nicht
inhaltlich, sondern nur formell unterscheiden; vgl. Schlehofer, Vorsatz und Tatabweichung, 1996, S. 69. Sofern man
nicht schon der Formulierung des § 240 Abs. 2 eine formelle
Zuweisung zur Rechtswidrigkeit entnehmen möchte, spricht
dafür zumindest ein pragmatischen Grund. Sie ermöglicht es,
zuvor die konkreter gefassten allgemeinen Rechtfertigungsgründe zu prüfen, so dass man sich teilweise die schwierigere
Abwägung nach § 240 Abs. 2 erspart.
65
Kindhäuser (Fn. 4), § 240 Rn. 48 ff.
66
BGHSt 44, 34 (42); Eser (Fn. 17), § 240 Rn. 19; Gropp/Sinn
(Fn. 55), § 240 Rn. 127.
STRAFRECHT
IV. Rücktritt und Ergebnis
Mangels Rücktritts hat sich C gemäß §§ 240 Abs. 1-3, 22, 23
Abs. 1 wegen versuchter Nötigung strafbar gemacht.
Hinweis: Mit entsprechender Begründung ist hier eine
andere Ansicht vertretbar.
2. Tatkomplex: Die Reifenentlüftung
A. Strafbarkeit wegen Sachbeschädigung, § 303 Abs. 1
Indem C mit einem Schlüssel alle vier Reifen des geklauten
Wagens entlüftete, könnte er sich gemäß § 303 Abs. 1 wegen
Sachbeschädigung strafbar gemacht haben.
I. Tatbestand
Möglicherweise hat C damit eine fremde Sache beschädigt.
Der Wagen ist ein körperlicher Gegenstand, der im Eigentum
eines Dritten steht, also eine fremde Sache. Eine Beschädigung erfordert nach ganz herrschender Meinung67 keine Substanzverletzung, sondern ist auch bei einer nicht unerheblichen Minderung der bestimmungsgemäßen Brauchbarkeit
gegeben.68 Das Ablassen von Luft aus Autoreifen bei Fehlen
einer schnellen und einfachen Reparaturmöglichkeit ist dafür
ein typisches Beispiel.69 C hat daher eine fremde Sache beschädigt.
Hinweis: Aus prüfungstaktischen Erwägungen sollte der
objektive Tatbestand des § 303 Abs. 1 zumindest dann
angenommen werden, wenn man mit diesem Lösungsvorschlag nachfolgend eine Nötigung verneint. Andernfalls entfällt die Möglichkeit, den umgekehrten Erlaubnistatbestandsirrtum zu erörtern.
Weil C diese Umstände bekannt waren und es ihm auf ihre
Verwirklichung gerade ankam, um dem Fahrer eine Lektion
zu erteilen, handelte er absichtlich.
II. Rechtswidrigkeit
Da C durch die Reifenentlüftung zugleich die Festnahme
eines Bankräubers und die Sicherstellung seiner Beute be67
So die Einschätzung von Kindhäuser (Fn. 4), § 303 Rn. 5
ff., 8 m.w.N.
68
Auf die Erörterung der Gegenansicht durfte hier verzichtet
werden. Kargl, JZ 1997, 283 fordert allerdings mit gewichtigen Argumenten eine Begrenzung auf das klar konturierte
Kriterium der Substanzverletzungen. Wer mit der h.M. zusätzlich die perspektivisch zu bestimmenden Brauchbarkeitsbeeinträchtigungen erfasst, muss mit dem Bagatellprinzip
korrigierend eingreifen. Andernfalls kommt man dazu, „das
Zuschlagen eines Buches, in dem der Leser nach langer Suche die ersehnte Stelle gefunden hat“ (Schroeder [Fn. 5], § 36
Rn. 17 mit weiteren Beispielen), oder das Luftablassen aus
einem Fahrradreifen ohne Entfernung des Ventils und trotz
vorhandener Pumpe (BayObLG JR 1988, 217) als Sachbeschädigung zu bestrafen.
69
BGHSt 13, 207; Kindhäuser (Fn. 4), § 303 Rn. 8; Klug,
JZ 1960, 226.
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ÜBUNGSFALL
Niclas Börgers/Ralph Grunewald
wirkte, ist ihre Rechtswidrigkeit fraglich. Nothilfe darf sich
gemäß § 32 nur gegen den Angreifer richten. Die Sachbeschädigung belastet aber den unbeteiligten Autoeigentümer. In
Betracht kommt deshalb nur eine Rechtfertigung durch § 34.
Voraussetzung ist, dass die Reifenentlüftung erforderlich und
angemessen war, um ein gegenwärtig gefährdetes und wesentlich überwiegendes Rechtsgut zu schützen. Zum Zeitpunkt der Sachbeschädigung wurde durch den Bankräuber
das Eigentum der Sparkasse gegenwärtig gefährdet. Das
Entlüften der Reifen war im Zusammenspiel mit dem Eingreifen der Polizei geeignet, die Gefahr zu beseitigen, und als
mildestes Mittel dazu erforderlich. Sowohl auf Seiten der
Sparkasse als auch auf der des Autoinhabers ist das Rechtsgut
Eigentum betroffen. Weil der Bank ein sehr viel höherer
Schaden drohte, überwiegen ihre Interessen wesentlich. Das
Entlüften der Reifen war zudem sozialadäquat und daher
angemessen.70 Diese rechtfertigenden Umstände waren dem
C jedoch nicht bekannt. Welche Folgen ein solcher umgekehrter Erlaubnistatbestandsirrtum hat, wird unterschiedlich
beurteilt.71
1. Straflosigkeit
Nach einer rein objektiven Unrechtsauffassung begründen
nicht Vorsatz oder Fahrlässigkeit in erster Linie das rechtliche Unwerturteil, sondern die Gefährlichkeit oder Schädlichkeit des Verhaltens.72 Dementsprechend sei die subjektive
Zielstrebigkeit wie etwa ein Hilfewille des Handelnden unerheblich im Gegensatz zur objektiven Zweckmäßigkeit der
Handlung.73 Weil die äußere Tendenz zur (Gefahren-)Abwehr
über die Rechtmäßigkeit entscheide, finden subjektive Rechtfertigungselemente wie etwa das Bewusstsein einer Notstands- oder Notwehrlage auf der Unrechtsebene keine Berücksichtigung. Die innere Haltung des Täters bilde vielmehr
den Gegenstand eines anderen Unwerturteils und qualifiziere
sich als Schuld.74 Die Vorstellung des Fehlens von Rechtfertigungsgründen steht danach einer vollständigen Rechtfertigung nicht im Wege.75 Nach dieser Ansicht hätte sich C nicht
wegen vollendeter oder versuchter Sachbeschädigung strafbar
gemacht.
70
Die Angemessenheit wird überwiegend als zweite Wertungsstufe nach der Interessenabwägung verstanden, während
die Gegenauffassung in ihr keine unabhängige Notstandsvoraussetzung sieht; vgl. Erb, in: Joecks/Miebach (Fn. 2), § 34
Rn. 66 ff.
71
Vgl. zum Sonderfall einer fehlenden Verteidigungs- oder
Hilfeleistungsabsicht Staudinger, in: Frister (Hrsg.), Die
strafrechtliche Klausur, 1998, S. 25 ff. und zum reinen Erlaubnistatbestandsirrtum Deiters, in: Frister, a.a.O., S. 1 ff.
72
Spendel, in: Kaufmann (Hrsg.), Festschrift für Paul Bockelmann zum 70. Geburtstag, 1978, S. 251.
73
Spendel, in: Herzberg (Hrsg.), Festschrift für Dietrich Oehler zum 70. Geburtstag, 1985, S. 203.
74
Spendel (Fn. 72), S. 252.
75
Spendel, in: Jähnke/Odersky/Laufhütte (Fn. 3), § 32 Rn. 138 ff.
m.w.N.; Rohrer, JA 1986, 364 mit kritischer Anmerkung von
Herzberg, JA 1986, 541.
2. Vollendetes Vorsatzdelikt
Die Gegenauffassung nimmt an, Umstände, die die Motivation des Täters nicht bestimmen, könnten ihm auch nicht zugute kommen.76 Ohne Vorliegen ihrer gesetzlich vorausgesetzten subjektiven Merkmale sollen Erlaubnissätze deshalb nicht
eingreifen.77 Fehlten sie, sei folglich insgesamt eine Rechtfertigung abzulehnen. Wer etwa in Unkenntnis der Voraussetzungen einer Erlaubnisnorm einen Menschen verletzt, verwirkliche eine vollständige Beeinträchtigung des Guts Gesundheit und habe allein deshalb normwidrig gehandelt, ohne
dass der zusätzliche Kollisionssachverhalt daran etwas ändere.78 Im Falle des umgekehrten Erlaubnistatbestandsirrtums
sei daher eine vollendete rechtswidrige Tat anzunehmen.79
Vereinzelt wird dem Täter wegen der aus dem Fehlen objektiver Unrechtmerkmale folgenden Unrechtsminderung aber
eine Strafmilderung nach § 49 Abs. 1 zugestanden.80 C wäre
dieser Auffassung zufolge wegen Sachbeschädigung gemäß
§ 303 Abs. 1 zu bestrafen, sofern er schuldhaft handelte.
3. Versuch
Die herrschende Auffassung geht davon aus, dass man zwischen einem objektiven und einem subjektiven Teil des Unrechts (so genanntes Erfolgs- und Handlungsunrecht)81 eines
Vorsatzdeliktes unterscheiden muss. Die Bestrafung wegen
vollendeten Vorsatzdeliktes erfordert das Vorliegen beider
Komponenten. Für den Versuch genüge hingegen der subjektive Anteil. In den Fällen des umgekehrten Erlaubnistatbestandsirrtums schließe das Vorliegen der objektiven Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes objektives Unrecht
und damit das vollendete Delikt aus. Es verbleibe subjektives
Unrecht, so dass eine Bestrafung wegen Versuchs in Betracht
komme. Wenn der Versuch nicht mit Strafe bedroht ist, führt
dies zur Straflosigkeit.82 C könnte demnach nur wegen ver76
B. Heinrich, Jura 1997, 366 (374).
Triffterer, in: Herzberg (Fn. 73), S. 225.
78
Gössel, in: Schmoller (Hrsg.), Festschrift für Otto Triffterer
zum 65. Geburtstag, 1998, S. 99.
79
Alwart, GA 1983, 433 (454 f.); Hirsch, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Fn. 3), vor § 32 Rn. 59; Tröndle, in: ders./Fischer,
Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 49. Aufl. 1999,
§ 32 Rn. 14.
80
Hirsch, a.a.O.
81
Vgl. etwa Graul, JuS 2000, L 41 (42 f.); weil diese Begriffe jedoch sehr uneinheitlich verwendet werden und nicht nur
die Abgrenzung zwischen objektiv und subjektiv beschreiben
(vgl. Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, Allgemeiner Teil I,
5. Aufl. 2004, § 8 Rn. 60), ist es insgesamt einfacher, auf sie
zu verzichten.
82
BGHSt 38, 144 (155); Wessels/Beulke (Fn. 18), Rn. 279;
Fischer (Fn. 58), § 16 Rn. 23; Graul, JuS 2000, L 41 (42 f.);
Hardtung, Jura 1996, 293 (296); Joecks, Strafgesetzbuch,
Studienkommentar, 7. Aufl. 2007, vor § 32 Rn. 12 f.; Kindhäuser (Fn. 4), vor §§ 32-35 Rn. 19; Mitsch, in: Baumann/Weber/ders., Strafrecht, Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2003,
§ 16 Rn. 68; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 81), § 9 Rn. 153, jeweils
m.w.N.
77
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Straftaten gegen Kraftfahrzeuge
suchter Sachbeschädigung gemäß §§ 303, 22, 23 Abs. 1 bestraft werden.
4. Diskussion
Das Modell der objektiven Unrechtsauffassung bekommt
erste Risse, wenn man die Behandlung des „normalen“ Erlaubnistatbestandsirrtums betrachtet. Geht der Täter von
Umständen aus, die ihn bei ihrem wirklichen Vorliegen rechtfertigen würden, will ihr Hauptvertreter § 16 Abs. 1 S. 1
analog anwenden, weil dieser Tatsachenirrtum genau dem
vorsatzausschließenden (Delikts-)Tatbestandsirrtum entspricht.83
Das ist zwar nach der noch darzustellenden eingeschränkten
Schuldtheorie richtig, lässt sich aber nicht anhand der rein
objektiven Unrechtslehre entwickeln. Stellt man bei der Prüfung des Erlaubnistatbestandes lediglich auf Umstände außerhalb der Täterpsyche ab, kann eine Vorstellung von deren
Vorliegen insofern keine privilegierende Wirkung haben.84
Gegen eine anhand der objektiven Unrechtsauffassung begründete Straflosigkeit wird zudem mit der Strafbarkeit des
untauglichen Versuchs (§ 23 Abs. 3) argumentiert. Ihr zufolge würde der Täter im Falle eines umgekehrten Erlaubnistatbestandsirrtums wegen der objektiven Rechtfertigungslage
trotz eines vollständigen – das Vorliegen der den Tatbestand
erfüllenden und das Fehlen rechtfertiger Umstände umfassenden – Deliktsvorsatzes nicht wegen Versuchs bestraft
werden. Nach § 23 Abs. 3 können dafür jedoch keine außerpsychischen Umstände, sondern nur Tätervorstellungen entscheidend sein.85
Mit der Gewährung einer Strafmilderung für die Fälle des
untauglichen Versuchs gibt diese Norm zu erkennen, dass
dessen Strafbarkeit gesetzlich vorgesehen ist. Allerdings
bezieht sich § 23 Abs. 3 nur auf die Ungeeignet der Tatobjekte oder -werkzeuge. Man könnte daher annehmen, strafbare
untaugliche Versuche sind nur diese Fälle, in denen der objektive Tatbestand nicht erfüllt ist, während hingegen das
Vorliegen des objektiven Rechtfertigungstatbestandes die
Strafbarkeit gänzlich ausschließt.86 Hier wird deutlich, dass
sich die Rechtsfolge bei Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements genau so wie beim „normalen“ Erlaubnistatbestandsirrtum87 in erster Linie nach dem Verhältnis von
Tatbestand und Rechtswidrigkeit bestimmt.88 Nach der einge-
83
Spendel (Fn. 75), § 32 Rn. 343.
Rinck, Der zweistufige Deliktsaufbau, 2000, S. 211 f.
85
Frisch, in: Küper (Hrsg.), Festschrift für Karl Lackner zum
70. Geburtstag, 1987, S. 126 ff.; Roxin (Fn. 41), § 14 Rn. 96.
86
Wer die Nichtvollendung lediglich aus dem Fehlen objektiver Tatbestandsmerkmale ableitet, kann die Versuchsregeln
beim umgekehrten Erlaubnistatbestandsirrtum nur analog
(Kühl [Fn. 27], § Rn. 15 f.) oder entsprechend Wessels/Beulke
(Fn. 18), Rn. 279 anwenden; dagegen mit Recht Hardtung,
Jura 1996, 297 f. und Rönnau, in: Laufhütte/Rissing-van
Saan/Tiedemann (Fn. 3), 12. Aufl. 2006 ff., vor § 32 Rn. 90.
87
Eingehende Darstellung bei Rinck (Fn. 84), S. 74 ff.
88
Triffterer (Fn. 77), S. 214 ff.; vgl. auch Alwart, GA 1983,
454, die jedoch beide von einem inhaltlichen Unterschied
ausgehen.
84
STRAFRECHT
schränkten Schuldtheorie89 haben beide als einheitliche Wertungsstufe die gleiche sachliche Bedeutung für das Unrecht
der Tat.90 Um einen für das Strafrecht relevanten inhaltlichen
Unterschied zwischen unrechtsbegründenden und -ausschließenden Merkmalen zu belegen, müsste man strafrechtliche Vorschriften anführen, die in ihren Rechtsfolgen nach dem Vorliegen von Tatbestand und Rechtswidrigkeit unterscheiden.
Solche Normen gibt es jedoch nicht.91
Die Strafmilderung in § 23 Abs. 3 setzt voraus, dass das
Fehlen der den Tatbestand erfüllenden Umstände die Versuchsstrafbarkeit nicht hindert. Wenn aber der das objektive
Unrecht begründende Tatbestand unerheblich ist, dann kann
es ebenso auf die Rechtfertigung nicht ankommen, weil sie
wesensgleiche (der Sache nach negative Tatbestands-) Merkmale beinhaltet. Der Versuch enthält somit ein lediglich subjektives Unrecht,92 das in den Fällen des umgekehrten Erlaubnistatbestandsirrtums gegeben ist. Es liegen deshalb
entgegen der objektiven Unrechtslehre die Voraussetzungen
für eine Versuchsbestrafung vor. Fraglich bleibt, ob zusätzlich ein deckungsgleiches objektives Unrecht gegeben ist, das
eine Bestrafung wegen Vollendung stützen könnte. Die Vertreter der Vollendungslösung berufen sich darauf, dass ein
89
Ihre Bezeichnung erläutern Roxin (Fn. 41), § 14 Rn. 56 und
Rinck (Fn. 84), S. 145 ff. Sie wird im Hinblick auf den Erlaubnistatbestandsirrtum häufig durch das Attribut „vorsatzunrechtverneinend“ präzisiert; vgl. Kühl (Fn. 27), § 13 Rn. 73.
90
Herzberg, JA 1989, 243 (245); Rinck (Fn. 84), passim;
Roxin (Fn. 41), § 14 Rn. 55 f., 64 ff. m.w.N. Das schließt es
nicht aus, aus Gründen der Tradition (Samson, in: Rudolphi
u.a. [Hrsg.], Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 5. Aufl. 1992, 19. Lieferung, Stand: Dezember 1992,
vor § 32 Rn. 30) weiterhin den anerkannten und auch gesetzlich vorgesehenen dreistufige Verbrechensaufbau zu verwenden; Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 26. Aufl.
2007, vor § 13 Rn. 17 m.w.N. Angedeutet wird die Einheitlichkeit der Wertungsstufe „Unrecht“ durch die umstrittene
Einordnung mancher formell nicht gekennzeichneter Deliktsmerkmale als tatbestandlich oder die Rechtswidrigkeit
betreffend; Puppe, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.),
Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2005, vor § 13
Rn. 13 f. und Rinck (Fn. 84), S. 459 f. Tradition hat etwa die
bereits angesprochene Diskussion um die Einordnung der
Verwerflichkeit in § 240 Abs. 2 (Fn. 64). Würden sich Tatbestand und Rechtswidrigkeit in strafrechtlich relevanter Weise
unterscheiden, ließen sich solche Merkmale leichter einordnen.
91
Die eingeschränkte Schuldtheorie lässt sich zudem nicht
durch die begriffliche Unterscheidungen im StGB widerlegen. Diese dient der Übersichtlichkeit und gesetzestechnischen Ökonomie; Hassemer, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen
(Fn. 90), Vor § 1 Rn. 252.
92
Es ist daher entgegen verbreiteter Auffassung (Wessels/Beulke
[Fn. 18], Rn. 599; Kühl [Fn. 27], § 15 Rn. 7a) unpassend, das
unmittelbare Ansetzen als objektiven Tatbestand des Versuchs zu bezeichnen; siehe Frister, Strafrecht, Allgemeiner
Teil, 2. Aufl. 2007, § 23 Rn. 16 und Herzberg, in:
Joecks/Miebach (Fn. 2), § 22 Rn. 30 ff.
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529
ÜBUNGSFALL
Niclas Börgers/Ralph Grunewald
Rechtfertigungsgrund nur eingreifen kann, wenn alle, auch
die subjektiven Voraussetzungen vorliegen. Widersprüchlich
ist es jedenfalls, wenn Vertreter dieser Auffassung eine Unrechtsminderung sehen, die zwar nicht für die Versuchsbestrafung, wohl aber für die obligatorische Anwendung von
§ 49 Abs. 1 genügt. Der Versuch würde gemäß §§ 23 Abs. 2,
49 lediglich eine fakultative Strafmilderung eröffnen.
Die These der Vollendungslösung lautet, dass es keine nur
objektiv wirkenden Rechtfertigungsgründe gibt. Dies hätte
zur Konsequenz, dass jeder, der eine bestehende Rechtfertigungslage kennt, zunächst Notwehr gegen einen unwissenden
Helfer üben und danach dessen Handlung selbst vornehmen
kann. Man stelle sich etwa vor, jemand merkt nicht, dass er
durch das Aufbrechen der Türe zu einer fremden Wohnung
eine rechtswidrig eingesperrte Person befreit. Weil der Eindringling die Notwehr- oder Notstandslage nicht kennt, könnte sie ihn nicht objektiv rechtfertigen. Sein Verhalten dürfte
also vom informierten Dritten abgewehrt und danach selbst
vorgenommen werden.93 Dieses unsinnige Ergebnis lässt sich
mit der eingeschränkten Schuldtheorie vermeiden. Da Tatbestands- und Rechtfertigungsmerkmale keinen inhaltlichen
Unterschied aufweisen, kann ein objektiv tatbestandsloses Verhalten nicht richtiger beziehungsweise rechtmäßiger sein als
ein objektiv tatbestandsmäßiges Verhalten bei Eingreifen
objektiver Rechtfertigungsmerkmale. Das durch den objektiven Tatbestand begründete Unrecht wird somit durch das
Vorliegen objektiver Rechtfertigungsumstände beseitigt. Der
Täter kann daher bei Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselementes nicht wegen vollendeten Vorsatzdeliktes, sondern
nur wegen Versuchs bestraft werden.
III. Ergebnis
C hat sich nicht gemäß § 303 Abs. 1 wegen Sachbeschädigung strafbar gemacht.
B. Strafbarkeit wegen versuchter Sachbeschädigung,
§§ 303 Abs. 1, Abs. 2, 22, 23 Abs. 1
Durch dieselbe Handlung könnte C sich gemäß §§ 303
Abs. 1, Abs. 2, 22, 23 Abs. 1 wegen versuchter Sachbeschädigung strafbar gemacht haben. Er handelte in Sachbeschädigungsabsicht und hatte daher den erforderlichen Tatentschluss. Als C die Reifen entlüftete, glaubte er, alles zur
Verwirklichung des Tatbestandes Erforderliche getan zu
haben, so dass er gemäß § 22 nach seiner Vorstellung von der
Tat zu ihrer Verwirklichung unmittelbar ansetzte. Seine Unkenntnis der rechtfertigenden Umstände begründet – nach
den Überlegungen zum umgekehrten Erlaubnistatbestandsirrtum – die subjektive Rechtswidrigkeit des Versuchs. Da er
schuldhaft handelte und nicht gemäß § 24 Abs. 1 zurückgetreten ist, hat sich C gemäß §§ 303 Abs. 1, Abs. 2, 22, 23
Abs.1 wegen versuchter Sachbeschädigung strafbar gemacht.
93
Jakobs (Fn. 24), § 11 Rn. 22 mit einem weiteren Argument
zu Fällen der Teilnahme.
C. Strafbarkeit wegen Nötigung, § 240 Abs. 1, Abs. 2
Durch dieselbe Handlung hat sich C möglicherweise gemäß
§§ 240 Abs. 1, Abs. 2 wegen Nötigung strafbar gemacht. C
müsste B durch Gewalt zu einem Handeln, Dulden oder Unterlassen genötigt haben. Der Gewaltbegriff ist sehr umstritten. Das BVerfG hat klargestellt, dass eine lediglich psychische Zwangseinwirkung beim Opfer nicht genügt.94 Dem
folgend verlangen der BGH und die herrschende Meinung in
der Literatur eine körperliche Einwirkung, wobei deren Inhalt
bislang ungeklärt ist.95 Die Einstufung der Beschränkung von
Handlungsmöglichkeiten durch Beschädigung oder Zerstörung einer Sache als nötigende Gewalt bedarf dabei besonderer Zurückhaltung. Andernfalls würde jede Sachbeschädigung, die eine genutzte Funktion beeinträchtigt oder aufhebt,
zugleich den Tatbestand der Nötigung erfüllen.96 Wer so genannte Gewalt gegen Sachen anwendet, der vermeidet im
Gegenteil typischerweise eine unmittelbare physische Konfrontation mit dem Opfer.97
Nötigende Gewalt wäre vorliegend jedenfalls auszuschließen, wenn die Reifenentlüftung als vis absoluta eine
Bildung oder Betätigung des Willens unmöglich macht und
diese Gewaltform nicht den Nötigungstatbestand erfüllt.
Damit eine körperliche Zwangseinwirkung demgegenüber als
vis compulsiva ein – vom Willen des Opfers beherrschtes
oder beherrschbares – Verhalten bewirken kann, muss sie
entsprechend der Drohung eine zusätzliche kommunikative
Steuerungsfunktion haben und dem Opfer zumindest konkludent vorgeben, wie es handeln, dulden oder unterlassen soll.98
94
E 92, 1, 17; zu deren Bindungswirkung Altvater, NStZ
1995, 278 (280) und Sinn (Fn. 60), S. 181 f.
95
Das OLG Köln (NZV 1995, 405) hat etwa die durch dichtes Auffahren im Straßenverkehr beim Vordermann hervorgerufene Einwirkung auf dessen Nervensystem für hinreichend erachtet. Das Abstellen auf die Nervenerregung ist
indes kein neuer Ansatz und schon vor 30 Jahren mit Recht
abgelehnt worden, Jakobs, in: Wasserburg (Hrsg.), Festschrift für Karl Peters zum 80. Geburtstages, 1984, S. 77. Da
jede Sinneswahrnehmung (z.B. Tasten, Sehen oder Hören)
über Nervenerregungen weitergeleitet wird, erlaubt das Kriterium keine Unterscheidung zwischen physischer und psychischer Einwirkung. Es ist daher zur Umsetzung der verfassungsgerichtlichen Vorgaben ungeeignet. Der Bundesgerichtshof hat stattdessen in seiner Entscheidung zur Straßenblockade durch Kraftfahrzeuge auf die körperliche Unüberwindbarkeit eines durch geringe Kraftentfaltung verursachten Hindernisses abgestellt; BGHSt 41, 182 (183 ff.); ablehnend
Hruschka, NJW 1996, 160 und Amelung, NStZ 1996, 230.
96
Träger/Altvater (Fn. 3), § 240 Rn. 50 m.w.N. in Fn. 329.
Daher fordern viele Autoren Absicht hinsichtlich des Nötigungserfolges, a.a.O. und Rn. 115 m.w.N.
97
Vgl. Gropp/Sinn (Fn. 55), § 240 Rn. 63; Hruschka, NJW
1996, 160 (161 f.).
98
Vgl. Weber, in: Arzt/ders., Strafrecht, Besonderer Teil,
2000, § 9 Rn. 61. Haben alle Nötigungsmittel eine kommunikative Wirkung, liegt es nahe, dass der angestrebte Zweck
(§ 240 Abs. 2) das Verhalten meint so wie der Täter es von
seinem Opfer ausdrücklich oder konkludent verlangt hat.
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ZJS 5/2008
530
Straftaten gegen Kraftfahrzeuge
Ihm muss klar gemacht werden, welches Verhalten erwartet
wird. Nur dann kann es sich gezwungenermaßen dafür oder
dagegen entscheiden. Da alle vier Reifen entlüftet wurden,
konnte B von einem Menschen und nicht vom Zufall als
Urheber ausgehen. Allerdings wird ihm durch die Gewaltanwendung lediglich vermittelt, dass er das Fahrzeug erst einmal nicht benutzen soll. Weil B die Nutzung des Wagens
sowieso physisch unmöglich ist, war dieser Nichtgebrauch
jedoch nicht von seinem Willen abhängig. Die Reifentlüftung
stellt sich daher als vis absoluta dar. Ob der Nötigungstatbestand diese Gewaltform erfasst, ist umstritten.
Die Minderheitsansicht verneint dies und argumentiert
mit dem Wortlaut des § 240 Abs. 1, der als tatbestandsmäßige Opferreaktion eine Handlung, Duldung oder Unterlassung
verlangt. Der Nötigungserfolg bestehe somit aus einem
menschlichen Verhalten,99 das nach allgemeinem Verständnis
vom Willen beherrscht werden oder zumindest beherrschbar
sein muss.100 Körperliche Zwangseinwirkungen, die eine
Bildung oder Betätigung des Willens unmöglich machen,
können daher keine Handlung, Duldung oder Unterlassung
verursachen, weswegen der Begriff der nötigenden Gewalt
auf die vis compulsiva zu beschränken sei. Die herrschende
Meinung will hingegen auch die vis absoluta dem Nötigungstatbestand subsumieren.101 Dies ist ihr nur möglich, indem sie
beim Merkmal der tatbestandsmäßigen Opferreaktion auf
eine „Handlung im Rechtssinne“ verzichtet und demgegenüber Handlungen, Duldungen oder Unterlassungen im uneigentlichen, untechnischen Sinne genügen lässt.102 Unklar
bleibt dabei, wie sich eine solche uneigentliche Handlung,
Duldung oder Unterlassung positiv definiert. Wenn sie keine
Handlung, Duldung oder Unterlassung im eigentlichen Sinne
sein soll, liegt die Vermutung nahe, dass sie überhaupt keine
Handlung, Duldung oder Unterlassung ist.103
Dessen ungeachtet weicht diese Interpretation des Nötigungserfolges vom allgemein anerkannten Verständnis ab,
wonach eine willentliche Steuerung beziehungsweise Beeinflussbarkeit Mindestvoraussetzung menschlichen Verhaltens
ist.104 Geduldet werden demzufolge etwa nur solche Ereignis-
Entnimmt man den Zweck einem Kommunikationsakt, handelt es sich grundsätzlich um ein außerpsychisches und daher
objektives Merkmal; vgl. Fn. 58.
99
Vgl. Kindhäuser (Fn. 4), § 240 Rn. 37, der jedoch nicht die
Schlussfolgerung der m.M. zieht.
100
Otto, Grundkurs Strafrecht, Allgemeine Strafrechtslehre,
7. Aufl. 2004, § 5 Rn. 37 ff.; Freund, in: Joecks/Miebach
(Fn. 2), vor §§ 13 ff., Rn. 124; vgl. auch zum insofern unerheblichen Streit um das Wesen menschlichen Verhaltens
Roxin (Fn. 41), § 8 Rn. 7 ff.
101
Vgl. N.w. in Fn. 60 f.
102
Eser (Fn. 17), Vorbem §§ 234 ff. Rn. 13 und § 240
Rn. 12; Horn, in: Rudolphi u.a. (Fn. 90), 7. Aufl., 59. Lieferung, Stand: Oktober 2003, § 240 Rn. 23; Wolter, NStZ 1985,
245 (248).
103
Hruschka, NJW 1996, 160 (162).
104
Vgl. Kargl, in: Schünemann (Hrsg.), Festschrift für Claus
Roxin zum 70. Geburtstag, 2001, S. 908.
STRAFRECHT
se, die man auch verhindern kann.105 Die gleichzeitige Behauptung dieses anerkannten Grundsatzes und einer unbegründeten Ausnahme wäre widersprüchlich. Wer von ihm
abweichen möchte, den trifft daher zugleich die argumentative Beweislast für das Vorliegen einer sich entziehenden Besonderheit.106 Das gängige argumentum a fortiori lautet:107
Wenn bereits vis compulsiva den Nötigungstatbestand erfüllt,
dann muss dies vis absoluta erst recht können.108 Jedoch ist
bereits die allgemeine Aussage falsch, dass ein Tatbestand,
der bestimmte Verhaltensweisen unter Strafe stellt, auch
strafwürdigere Fälle erfassen muss.109 In vielen der dazu
gebildeten konkreten Fällen verdient der härter und radikaler
gegen sein Opfer vorgehende Täter zudem nicht wegen der
Erzwingung einer uneigentlichen – weil unwillkürlichen –
Duldung die höhere Strafe, sondern wegen der dazu benutzten Körperverletzung, §§ 223 ff.110
Vergleichbar sind stattdessen nur Fälle, in denen der absolute Zwang keinen zusätzlichen Straftatbestand erfüllt,
etwa wenn das Opfer vom Beckenrand ins eiskalte Wasser
gestoßen wird oder wegen Androhung von Prügel selbst
springt. Hier erscheint es widersprüchlich, nur das zweite
Verhalten als Nötigung zu bewerten, obwohl es dem Opfer
doch wenigstens eine Wahlmöglichkeit ließ.111 Die herrschende Meinung würde dementsprechend im Stoß die intensivere Beschränkung der ihr zufolge geschützten Freiheit der
Willensbildung und -betätigung sehen.112 Damit setzte man
jedoch etwas noch zu beweisendes voraus, dass nämlich im
Falle der vis absoluta überhaupt der von § 240 sanktionierte
Unwert gegeben ist. Das geschützte Rechtsgut lässt sich
lediglich anhand des Normtextes entwickeln, der aber der
herrschenden Meinung keine Stütze liefert. Ihre rechtsgutsbezogene Auslegung kann daher nur zur Umdeutung des Nötigungstatbestandes führen.113 Entsprechend der Minderheitsansicht stellt somit vis absoluta keine nötigende Gewalt dar.
105
Hruschka, NJW 1996, 160.
Vgl. Puppe, GA 1981, 1 (4); Angioni, Il pericolo concreto,
2. Aufl. 1994, S. 66; Hardtung, Jura 1996, 293.
107
Vgl. zur Fragwürdigkeit dieser Argumentationsform Schneider, Logik für Juristen, 5. Aufl. 1999, S. 158 ff.
108
Vgl. Krey, Was ist Gewalt? 1986, Bd. 1, Rn. 143 ff.; Träger/Altvater (Fn. 3), § 240 Rn. 2, 39; Tröndle (Fn. 79), § 240
Rn. 13.
109
Hruschka, NJW 1996, 160 mit Beispiel.
110
Kargl (Fn. 104), S. 909 f.
111
Vgl. Kargl (Fn. 104), S. 910.
112
Vgl. Träger/Altvater (Fn. 3), § 240 Rn. 1 f., 39 m.w.N.
113
Hruschka, JZ 1995, 737 (743). Man könnte noch argumentieren, dass die beiden Begriffe Duldung und Unterlassung inhaltlich nicht zu unterscheiden sind, wenn sie als
Unterfall des Verhaltens im eigentlichen Sinne verstanden
werden und daher jeweils die Möglichkeit voraussetzten, eine
Handlungsalternative zu ergreifen; vgl. dazu auch Kindhäuser (Fn. 4), § 240 Rn. 39. Sofern aber schon schlichtes Erleiden einen Nötigungserfolgt darstellte, wären umgekehrt
sogar die Tatbestandsmerkmale Handlung, Duldung oder
Unterlassung gänzlich überflüssig, Kargl (Fn. 104), S. 909.
106
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531
ÜBUNGSFALL
Niclas Börgers/Ralph Grunewald
C hat sich nicht gemäß § 240 Abs. 1, Abs. 2 wegen Nötigung
strafbar gemacht.114
D. Strafbarkeit des K wegen Anstiftung zur versuchten
Sachbeschädigung, §§ 303, 22, 23 Abs. 1, 26
K könnte sich gemäß §§ 303 Abs. 1, Abs. 2, 22, 23 Abs. 1,
26 wegen Anstiftung zur versuchten Sachbeschädigung strafbar gemacht haben, indem er C vorschlug, die vier Autoreifen
zu entlüften. Der objektive Tatbestand verlangt, dass K den C
zu einer vorsätzlichen rechtswidrigen Tat bestimmt hat. C hat
sich gemäß §§ 303 Abs. 1, Abs. 2, 22, 23 Abs. 1 wegen versuchter Sachbeschädigung strafbar gemacht. Ohne seinen
Rat, mit einem Schlüssel alle vier Reifen des Fluchtautos zu
entlüften, wäre C nicht zu diesem Entschluss gelangt. K hat C
damit zu einer vorsätzlichen rechtswidrigen Tat bestimmt. Er
hat den objektiven Tatbestand erfüllt, müsste dies aber auch
mit Vorsatz hinsichtlich aller zugrunde liegenden Umstände
getan haben.115 K ging davon aus, dass er durch seine Anregung bei C einen entsprechenden Tatentschluss hervorrufen
und dieser die Reifen ohne Kenntnis der rechtfertigenden
Umstände entlüften würde. Er hatte somit den Vorsatz, C
zum Versuch einer Sachbeschädigung zu bestimmen.
Da er C zu einem objektiv rechtmäßigen Verhalten veranlasst hat, stellt sich die Frage, ob diese ausdrücklichen
Merkmale des Tatbestandes das Anstiftungsunrecht abschließend beschreiben.116 Die Notwendigkeit seiner Reduktion
könnte sich aus dem Strafgrund der Anstiftung ergeben, den
die akzessorietätsorientierte Verursachungstheorie zu Recht
in der mittelbaren – durch die vorsätzlich rechtswidrige
Haupttat bewirkten – Gefährdung oder Verletzung des straftatbestandlich geschützten Rechtsgutes sieht.117 Entscheidend
114
Eine andere Beurteilung ist vor allem auch in Anbetracht
der obergerichtlichen Rechtsprechung natürlich sehr gut
vertretbar. Nach dem Beschluss des BVerfG (Fn. 94) wurden
etwa das Ausräumen einer Wohnung (OLG Köln NJW 1996,
472) oder die Verursachung einer Gefahrenlage, die geeignet
ist, einen durchschnittlich empfindenden Verkehrsteilnehmer
in unüberwindbare Furcht zu versetzen (OLG Karlsruhe
NStZ-RR 1998, 58), als nötigende Gewalt angesehen. Das
Verhalten ist hier aber in objektiver Hinsicht als Nothilfe
(§ 32) zum Schutze des Eigentums der Sparkasse gerechtfertigt.
115
Bei der Beteiligung wird häufig von einem doppelten
Teilnehmervorsatz gesprochen. Diese Bezeichnung hat allein
deskriptive Bedeutung; der Vorsatz des Gehilfen muss sich
nach §§ 26 f. auf Umstände beziehen, die zwei Tatbestandsmerkmale erfüllen. Aus diesem Grund ist der Begriff verzichtbar; siehe Frister (Fn. 92), § 28 Rn. 28 und Samson, in:
Rudolphi u.a. (Fn. 90), 22. Lieferung, Stand: September
1993, vor § 26 Rn. 37.
116
Dieses Problem wird üblicherweise am Beispiel des agent
provocateur diskutiert; vgl. dazu Deiters, JuS 2006, 302.
117
Roxin, Strafrecht, Allgemeiner, Bd. 2, 2003, § 26 Rn. 26 ff.
Die Schuld- und Unrechtsteilnahmetheorien deuten die Anstiftung als Delikt gegen den Täter, das ihn in Schuld und
Strafe verstrickt beziehungsweise sonstiger sozialer Desinteg-
ist, dass sich das mit der Haupttat verursachte Unrecht auch
in der Person des Teilnehmers als Rechtsgutsangriff darstellt.118 Ungeschriebene Merkmale des Anstiftungstatbestandes sind daher die Voraussetzungen dieser Überleitung des
Haupttatunrechts auf den Teilnehmer. Das zugerechnete
Unrecht vermag sich – wegen der Akzessorietätslockerung in
§ 28 Abs. 2 – in seinem Umfang zu vergrößern oder verkleinern, ist aber im Grunde an das Haupttatunrecht gebunden.119
Den Anknüpfungspunkt bildet hier das subjektive Unrecht
eines versuchten Delikts. Dieses ist nach herrschender Eindruckstheorie in der Gefährdung der Normanerkennung
durch die Betätigung eines rechtsfeindlichen Willens, der auf
andere Normadressaten eine negative Vorbildwirkung haben
kann, zu sehen.120
Selbst wenn formell objektive Tatbestandsmerkmale geprüft werden, kann die Anstiftung zum Versuch folglich
materiell nur ein solches subjektives Unrecht darstellen. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass der Anstifter durch das Hervorrufen des Tatentschlusses beim Haupttäter seinerseits die
(sekundär geschützte)121 Normanerkennung gefährdet. Stellt
er sich Umstände vor, nach denen das Verhalten, zu dem er
einen anderen bestimmt, nicht tatbestandsmäßig oder aber
gerechtfertigt ist, demonstriert er damit jedoch nicht, dass die
strafrechtliche Norm für ihn nicht gelten soll. Wenn er von
einem die Versuchsstrafbarkeit begründenden Unrechtsvorsatz des anderen ausgeht, bringt er nur zum Ausdruck, dass
dieser die Norm nicht befolgen will.122 Während im objektiven Tatbestand der Anstiftung eine ausschließlich subjektiv
rechtswidrige Tat wie das versuchte Delikt genügt, muss
daher der Anstiftervorsatz eine subjektiv und objektiv
ration aussetzt; vgl. Darstellung und Kritik bei Jakobs
(Fn. 24), § 22 Rn. 1 ff.; Roxin, a.a.O., § 26 Rn. 16 ff.
118
Roxin (Fn. 117), § 26 Rn. 27.
119
Vgl. Kindhäuser, NStZ 1997, 273. Die Darstellung beinhaltet Abweichungen von der ursprünglichen akzessorietätsorentierten Verursachungstheorie, die zum Teil als eigene
Auffassungen beschrieben werden; vgl. Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Begehung, 1997, S. 34 ff.
Auf diese Differenzierungen kommt es hier aber nicht an.
120
Eser (Fn. 17), Vorbem § 22 Rn. 22 m.w.N. Es handelt es
sich dabei um die Anwendung der Theorie positiver Generalprävention und damit um den Strafgrund nicht nur des Versuchs, sondern aller Delikte; vgl. Kindhäuser (Fn. 4), vor
§§ 22-24 Rn. 4.
121
Vgl. zur Unterscheidung von primärem und sekundärem
Rechtsgüterschutz Freund, Strafrecht, Allgemeiner Teil,
1998, § 1 Rn. 5 ff., § 2 Rn. 10 ff.
122
Man könnte noch erwägen, dem Anstifter bereits eine
fremde Gefährdung der Normanerkennung zum Vorwurf zu
machen. Voraussetzung dafür wäre zunächst ein vorwerfbarer
Verstoß gegen strafrechtliche Verhaltensnormen, also schuldhaftes Verhalten in der Person des Angestifteten. Dagegen
spricht, dass der Gesetzgeber bei der Neuformulierung der
§§ 26 f. das Schulderfordernis abschaffen wollte; vgl. Jakobs
(Fn. 24), § 23 Rn. 16.
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ZJS 5/2008
532
Straftaten gegen Kraftfahrzeuge
rechtswidrige Haupttat umfassen.123 Weil K eine entsprechende Vorstellung fehlt, ist der subjektive Tatbestand der
Anstiftung nicht erfüllt. Er hat sich nicht wegen Anstiftung
zu einer versuchten Sachbeschädigung gemäß §§ 303 Abs. 1,
Abs. 2, 22, 23 Abs. 1, 26 strafbar gemacht.
3.Tatkomplex: Auf dem Werksgelände
A. Strafbarkeit wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, § 315b Abs. 1 Nr. 3
C könnte sich gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 3 wegen gefährlichen
Eingriffs in den Straßenverkehr strafbar gemacht haben, indem
er den Wagen des A rammte. In Betracht kommt die Vornahme eines unbenannten gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, durch den die Sicherheit des Straßenverkehrs
beeinträchtigt wurde.124 Dies setzt zunächst voraus, dass die
Kollision auch im Straßenverkehr stattfand. Den Gesetzgebungsmaterialien ist zu entnehmen, dass der Begriff im Strafgesetzbuch wie in der Straßenverkehrsordnung auf den öffentlichen Straßenverkehr beschränkt werden sollte.125 Diese
Zielsetzung bestätigt sich durch die Einordnung des § 315b in
die gemeingefährlichen Straftaten des 28. Abschnitts, weshalb lediglich für die allgemeine Verkehrssicherheit riskante
Vorgänge im öffentlichen Verkehrsraum gemeint sein können.126 Rechtlich-öffentlich nennt man Wege, die nach Bundes- oder Landeswegerecht dem allgemeinen Straßenverkehr
gewidmet sind.127 Der Zusammenstoß erfolgte hier jedoch
auf einer Straße im Werksgelände.
Erfasst wird nach ständiger Rechtsprechung des BGH
auch ein tatsächlich-öffentlicher Verkehrsraum, der durch
ausdrückliche Gestattung oder stillschweigende Duldung
einer verfügungsberechtigten Privatperson zur Benutzung zumindest für eine allgemein bestimmte größere Personengruppe zur Benutzung zugelassen ist und entsprechend genutzt
123
Da der Versuch ein um das objektive Unrecht gekürztes
vollendetes Delikt darstellt und sich davon in subjektiver
Hinsicht nicht unterscheidet, bildet dieser so genannte
Vollendungsvorsatz ein allgemeines Anstiftungserfordernis;
vgl. Jakobs (Fn. 24), § 23 Rn. 16 ff.; Roxin (Fn. 117), § 26
Rn. 150 ff.
124
Zwar richtet sich § 315b nicht wie § 315c an die Teilnehmer des Straßenverkehrs, sondern verbietet von außen kommende, verkehrsfremde Einwirkungen. Weil jedenfalls die
Rechtsprechung beim Zufahren auf einen anderen Autofahrer
in verkehrsfeindlicher Absicht einen „verkehrsfremden Inneneingriff“ und daher § 315b annimmt (vgl. dazu Küper
[Fn. 2], S. 126 ff. m.w.N.), lag seine Prüfung hier nahe. Im
Ergebnis kommt es jedoch nicht darauf an, da beide Normen
ausschließlich Gefährdungen des öffentlichen Straßenverkehrs thematisieren.
125
BT-Drs. I/2674, S. 15.
126
Geppert, Jura 1996, 639 (640); Kudlich, JuS 2004, 832
(833).
127
König, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Fn. 3), § 315b Rn. 6.
STRAFRECHT
wird.128 Durch die Einfriedung eines Geländes, die Zuteilung
von Berechtigungsausweisen und Einlasskontrollen gibt ein
Verfügungsberechtigter hingegen zu erkennen, dass er den
Zugang auf einen durch persönliche Beziehung miteinander
verbundenen Personenkreis beschränken und die Öffentlichkeit ausschließen will.129 Der Unfallort war eine Straße im
Werksgelände, die nur über ein Tor zugänglich ist. Ein Pförtner kontrolliert, dass ausschließlich Firmenangehörige mit
einem Berechtigungsausweis Zufahrt erhalten. Der Verfügungsberechtigte will also keine Benutzung durch eine allgemein bestimmte Personengruppe, weswegen die Straße nicht
öffentlich war. Indem C den A auf der Werksstraße rammte,
konnte er somit keinen ähnlichen, ebenso gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr vornehmen und dadurch dessen
Sicherheit beeinträchtigen. Er hat sich nicht gemäß § 315b
Abs. 1 Nr. 3 strafbar gemacht.
B. Strafbarkeit wegen Sachbeschädigung, § 303 Abs. 1
Durch die genannte Handlung hat sich C wegen Sachbeschädigung (§ 303 Abs. 1) strafbar gemacht.
Gesamtergebnis
Im ersten Tatkomplex hat C, indem er sich F schnappte, eine
versuchte Freiheitsberaubung (§§ 239 Abs. 1 2. Fall, Abs. 2,
22, 23 Abs. 1) und eine versuchte Nötigung (§§ 240 Abs. 1-3,
22, 23 Abs. 1) begangen. Eine versuchte Nötigung tritt hinter
die insofern speziellere versuchte Freiheitsberaubung zurück,
wenn der Täter mit ihr nicht mehr als den Freiheitsentzug
erreichen will.130 Das Festhalten des Opfers, um es ausschließlich am Weglaufen zu hindern, kann daher nur als
versuchte Freiheitsberaubung bestraft werden.131 Es ist dagegen Tateinheit anzunehmen, wenn der Täter neben der Freiheitsberaubung ein weitergehendes Verhalten bezweckt. Als
typisches Beispiel dafür gelten eine Festnahme und der Zwang
zum Mitgehen zur Polizeiwache.132 C wollte den Jungen jedoch nicht nur dazu bringen, das Fortlaufen zu unterlassen,
sondern auch, mit zur Polizei zu kommen. Er hat sich daher
gemäß §§ 239 Abs. 1 2. Fall, Abs. 2, 240 Abs. 1-3, 22, 23
Abs. 1, 52 strafbar gemacht. Durch die Reifenentlüftung im
zweiten Tatkomplex beging C eine versuchte Sachbeschädigung (§§ 303 Abs. 1, Abs. 2, 22, 23 Abs. 1). Im dritten Tatkomplex rammte C ein Auto und machte sich wegen Sachbeschädigung (§ 303 Abs. 1) strafbar. Sie steht zu den in den
ersten beiden Tatkomplexen begangenen Delikten jeweils in
Tatmehrheit, §§ 53 f. K hat sich nicht strafbar gemacht.
128
BGH NJW 1961, 1124 (1125); 2004, 1965; für Studenten
besprochen von Kudlich, JuS 2004, 832; König (Fn. 127),
§ 315b Rn. 6.
129
BGH NJW 1963, 152; 2004, 1965.
130
Vgl. Träger/Altvater (Fn. 3), § 240 Rn. 124 m.w.N.
131
Nach der hier vertretenen Auffassung ist schon der Nötigungstatbestand nicht erfüllt; vgl. zur Untauglichkeit von vis
absoluta als Nötigungsmittel im zweiten Tatkomplex unter C.
132
Gropp/Sinn (Fn. 55), § 240 Rn. 164 m.w.N.
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BGH, Urt. v. 24.4.2008 – III ZR 252/06
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E nt s ch ei d ung s be sp rec h u ng
Vertrauensschutz und Mitverschulden im Rahmen des
Amtshaftungsanspruchs
Eine Einschränkung des Amtshaftungsanspruchs des
Bauherrn bei rechtswidrig erteilter Baugenehmigung
wegen Mitverschuldens kommt erst ab Kenntnis von dem
eingelegten Nachbarwiderspruch in Betracht, auch dann
aber nur, wenn der Bauherr nach den Umständen dem
Widerspruch Erfolgsaussichten beimessen musste (nicht
amtlicher Leitsatz).
BGB § 839, GG Art. 34; VwVfG § 48 Abs. 2, Abs. 3 § 50
BGH, Urteil vom 24.4.2008 – III ZR 252/061
I. Rechtsgebiet, Problemstellung und Examensrelevanz
Die Entscheidung des für Staatshaftungssachen zuständigen
3. Senats des BGH betrifft ein schwieriges, in der jüngeren
Rechtsprechung schon wiederholt behandeltes Problem aus
dem Themenkreis der Einschränkungen des Amtshaftungsanspruchs, wie sie durch die Judikatur im Laufe der Zeit herausgebildet worden sind. Diese gegebenenfalls sogar zum
völligen Wegfall des Haftungsanspruchs führenden Einschränkungen knüpfen zwar an die tatbestands- und rechtsfolgenprägenden Merkmale des § 839 BGB an, insbesondere
an die (Merkmale der) Amtspflichtverletzung, die Drittgerichtetheit der Amtspflicht, die Schadenskausalität und schließlich
das (anspruchsmindernd wirkende) Mitverschulden (§ 254
BGB). Sie sind aber über die textlichen Anhaltspunkte der
Vorschrift hinaus in der Rechtsprechung zu derartiger Komplexität ausdifferenziert und richterrechtlich aufgeladen worden, dass ohne Kenntnis dieser Rechtsprechung oder jedenfalls
entsprechendes Problembewusstsein Amtshaftungsfälle allein
aus dem Gesetz kaum erfolgreich bewältigt werden können. Die
Dogmatik der Amtshaftung, aber auch der anderen staatshaftungsrechtlichen Ansprüche (insbesondere des enteignungsgleichen Anspruchs und der Aufopferung) ist wesentlich eine
Dogmatik der Begrenzung dieser Haftung. Ausschlaggebend
dafür sind vor allem Schutzzwecküberlegungen, die danach fragen, unter welchen Umständen und inwieweit Haftungsrisiken
dem Staat oder aber dem Schadensbetroffenen zu seiner Eigenverantwortung zugeordnet sein sollen. Zur Bestürzung
vieler Kläger und entgegen dem, was man vielleicht zunächst
annehmen könnte, ergibt sich aus der Bejahung einer Amtspflichtverletzung eben noch lange nicht auch schon der Haftungsanspruch. Dieser kann noch an vielen kaum als solchen
aus dem Gesetzestext erkennbaren Hürden scheitern. Zwar
gehört das Staatshaftungsrecht regelmäßig nur „im Überblick“ zu den Pflichtgegenständen der juristischen Staatsprüfung. Und so kann gewiss nicht die Kenntnis einer jeden (regelmäßig in der Literatur heftig umstrittenen) kasuistischen Pirouette der Rechtsprechung verlangt werden. Jedenfalls grundsätzliche Vorstellungen von den Intentionen und rechtstech1
Download auf der website des Bundesgerichtshofs
(www.bundesgerichtshof.de) und bei juris.de.
nischen Umsetzungen der richterrechtlich entwickelten „Haftungsbremsen“ im Recht der öffentlichen Ersatzleistungen
sollten aber doch vorhanden sein. Die vorliegende Entscheidung des Bundesgerichtshofs begreift sich selbst als präzisierendes und ergänzendes Folgejudikat zu älteren Entscheidungen von 20012 und 20033, in denen die Grundzüge einer
Dogmatik des „amtshaftungsrechtlichen Vertrauensschutzes“
(und vor allem von dessen Grenzen) des Bauherrn in der Fallgruppe rechtswidrig erteilter, indes von Dritten angefochtener
und später aufgehobener Baugenehmigungen entwickelt worden
sind.
II. Die Entscheidung
1. Der dem Urteil zu Grunde liegende Sachverhalt ist leicht
zu fassen: Der klagenden Grundeigentümerin war die Baugenehmigung für die Errichtung eines Mehrfamilienhauses
erteilt worden. Schon während des Baugenehmigungsverfahrens waren Einwände des Eigentümers eines landwirtschaftlich genutzten Nachbargrundstücks, der die Unverträglichkeit
der beabsichtigten Wohnnutzung mit seinem Landwirtschaftsbetrieb geltend machte, geprüft, jedoch von der Genehmigungsbehörde als nicht durchgreifend verworfen worden. Wenige Tage nach Erteilung der Baugenehmigung legte
der Landwirt Widerspruch ein, von dem die Klägerin indessen erst knapp zwei Wochen später Kenntnis erlangte. Wiederum einige Zeit später ordnete das Verwaltungsgericht auf
Antrag des Landwirts die aufschiebende Wirkung seines
Widerspruchs (§ 80 Abs. 5 VwGO) an. Auch in der Hauptsache war der Landwirt erfolgreich: Das Verwaltungsgericht hob
die Baugenehmigung wegen der Unverträglichkeit des geplanten Mehrfamilienhauses mit dem landwirtschaftlichen
Betrieb infolge der von diesem ausgehenden Immissionen als
rechtswidrig auf. Die Klägerin begehrte vom Träger der Genehmigungsbehörde Schadensersatz in Höhe ihrer fehlgeschlagenen Aufwendungen von mehr als 350.000 € zuzüglich
Zinsen.
2. Der BGH gab der gegen das klageabweisende Urteil
des Berufungsgerichts gerichteten Revision der Klägerin statt
und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung zurück. Die
Vorinstanzen hatten einen völligen Ausschluss des Schadensersatzanspruchs wegen überwiegenden Mitverschuldens der
Klägerin angenommen, eine Bewertung, der sich der BGH
nicht anschließen mochte.
a) Am Vorliegen der Haftungsvoraussetzungen des § 839
Abs. 1 BGB war indes kein Zweifel: Die Baugenehmigung
war wegen von den Verwaltungsgerichten festgestellten Verstoßes gegen öffentlich-rechtliche Genehmigungsvoraussetzungen4 objektiv rechtswidrig und hätte nie erteilt werden
2
BGH, Urt. v. 11.10.2001, III ZR 63/00 (juris) = BGHZ 149,
50.
3
BGH, Urt. v. 9.10.2003, III ZR 414/02 (juris) = NVwZ 2004,
638.
4
Vermutlich – die Entscheidung verhält sich nicht im genaueren zu den Gründen der Rechtswidrigkeit des Vorhabens –
des Bauplanungsrechts (etwa: § 15 BauNVO: rücksichtsloses, das heißt mit existierender Bebauung unvereinbares
Hinzutreten einer Neubebauung).
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BGH, Urt. v. 24.4.2008 – III ZR 252 /06
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dürfen. Die Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung begründet
den Vorwurf der Amtspflichtverletzung, da die allererste
Amtspflicht der Baugenehmigungsbehörde darin besteht,
keine rechtswidrigen Baugenehmigungen zu erlassen. Geklärt
ist auch, dass diese Amtspflicht auch im Interesse des Bauherrn besteht,5 dieser also „Dritter“ im Sinne des Haftungstatbestandes ist und sich auf die Pflichtverletzung berufen
kann. Das durch § 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG geforderte Verschulden des die Genehmigung erteilenden Amtswalters wird in dem Revisionsurteil nicht mehr thematisiert,
sondern vorausgesetzt. Insoweit bleibt anzumerken, dass es
für das Fahrlässigkeitsurteil wie auch sonst bei § 246 BGB
nicht auf die tatsächlichen individuellen Fähigkeiten des
Amtswalters ankommt, sondern auf die einem durchschnittlichen pflichtbewussten Amtswalter obliegende Sorgfalt (objektiviertes Verschulden).6 Auch reicht der Nachweis aus,
dass innerhalb der Behörde ein Sorgfaltsverstoß im Hinblick
auf die Amtspflicht stattgefunden hat, ohne dass dem Geschädigten auch der handelnde Amtswalter in Person bekannt
sein muss („entindividualisiertes“ Verschulden).7
b) Die Problematik und auch die Divergenz in der Beurteilung durch die Vorinstanzen und den BGH konzentrierte
sich mithin auf die Einschätzung und Bedeutung eines etwaigen Mitverschuldens der Klägerin nach dem Maßstab des
§ 254 BGB. Ansatzpunkt für ein solches vom Berufungsgericht angenommenes Mitverschulden war der Umstand, dass
der benachbarte Landwirt gegen die Baugenehmigung verwaltungsgerichtliche Rechtsbehelfe (Widerspruch und später
Klage sowie Aussetzungsantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO) eingelegt hatte. Dies hätte die Klägerin, so das Berufungsgericht,
veranlassen müssen, bis zur verwaltungsgerichtlichen Klärung der Rechtsbeständigkeit der Baugenehmigung soweit als
möglich alle Aufwendungen auf das Bauvorhaben zu vermeiden. Der BGH wies diese Einschätzung zurück und sah ein
überwiegendes Mitverschulden, das den Entfall des gesamten
Ersatzanspruchs hätte rechtfertigen können, nicht als erwiesen an. Rückgrat seiner Argumentation ist eine schon in dem
grundlegenden Urteil aus dem Jahr 2001 begründete „mittlere
Linie“ eines haftungsrechtlichen Vertrauensschutzes, der
zwar großzügiger ausfällt als im Verwaltungsrecht (§ 48
i.V.m. § 50 VwVfG), andererseits aber dem Genehmigungsempfänger durchaus eine eigene Verantwortung und Prüfpflichten zuweist, sobald die Genehmigung durch Dritte angefochten und ihr Bestand mithin ungewiss ist.8 Nach diesem
mittleren Maßstab kommt einerseits die Baugenehmigung als
„Vertrauensgrundlage“ (oder auch: „Verlässlichkeitsgrundlage“, beide Begriffe werden vom BGH verwandt) nicht schon
allein deshalb in Wegfall, weil sie durch einen Dritten angefochten wird, solange sie vollziehbar ist und also noch ihre
Rechtswirkungen (Feststellungs- und Gestattungswirkung)
5
BGHZ 60, 112; 109, 380; 144, 394.
Näher Baldus/Grzeszick/Wienhus, Staatshaftungsrecht, 2005,
Rn. 116 ff.
7
RGZ 100, 102; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl. 1998,
S. 77.
8
BGHZ 149, 50, Rn. 13.
6
entfaltet.9 Insofern gewährt die (wenngleich angefochtene)
Baugenehmigung dem Genehmigungsinhaber haftungsrechtlich einen weitergehenden Vertrauensschutz als das Verwaltungsrecht hinsichtlich des Bestandes der Baugenehmigung:10
§ 50 VwVfG schließt den durch § 48 Abs. 3 VwVfG sonst
gewährten, freilich nur auf Vermögensausgleich gerichteten
Vertrauensschutz bei Drittanfechtung ja aus. Der Genehmigungsinhaber darf demgegenüber haftungsrechtlich grundsätzlich auch bei Drittanfechtung damit rechnen, aus § 839
BGB i.V.m. Art. 34 GG seinen Ersatzanspruch auf die Aufwendungen für bereits begonnene Bauarbeiten zu behalten,
wenn sich später die Drittanfechtung als erfolgreich herausstellt und die Genehmigung aufgehoben wird. Andererseits
sieht der BGH11 aber unter dem Gesichtspunkt des § 254
BGB ab dem Vorliegen von Drittanfechtungen sehr wohl
eine „größere Eigenverantwortung“ des Bauherrn. Dies äußert
sich darin, dass der Bauherr die „Möglichkeit der Rechtswidrigkeit der ihm erteilten Genehmigung jedenfalls dann ernsthaft
in Betracht ziehen muss, wenn Anfechtungsgründe vorgebracht werden, deren Richtigkeit nicht ohne weiteres von der
Hand zu weisen ist“.12 Ist dies der Fall und hat der Nachbar
zudem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung
gestellt, so fällt das haftungsrechtliche Risiko einer gleichwohl
betriebenen Fortsetzung der Bauarbeiten dem Bauherrn zur
Last; dieser nimmt dann „das in der Drittanfechtung liegende
Risiko bewusst auf sich“.13 Diese Eigenverantwortung und
Risikozurechnung zum Bauherrn geht erheblich weiter als
dies in der Literatur14 (und von der Klägerin in unserem Fall)
angenommen worden ist; sie greift keineswegs nur in Ausnahmefällen, in denen sich die Richtigkeit der Anfechtungsgründe (und damit die Rechtswidrigkeit der Baugenehmi9
Wegen § 212a BauGB haben der Widerspruch und die Anfechtungsklage des Nachbarn gegen die Baugenehmigung
keine aufschiebende Wirkung und hemmen mithin ihre Vollziehbarkeit nicht, das heißt insbesondere nicht das Recht des
Bauherrn, von der Genehmigung Gebrauch zu machen. Erst
die (in unserem Fall einige Wochen später ergangene) verwaltungsgerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 5 VwGO) suspendiert die innere Wirksamkeit der Baugenehmigung, die von diesem Zeitpunkt an
selbstverständlich keine Grundlage für eine Fortsetzung von
Bauarbeiten und also auch nicht für Ersatzansprüche für
Aufwendungen für derartige Arbeiten sein kann.
10
Strenger insoweit de Witt/Burmeister, NVwZ 1992, 1039
(1041 f.): tatbestandlicher Ausschluss des Vertrauensschutzes
und damit der Haftung bei jeder Drittanfechtung (entspr. § 50
VwVfG), es sei denn, in einem Aussetzungsverfahren nach
§ 80 Abs. 5 VwGO ist der Antrag des Nachbarn auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung wegen prognostizierter
Erfolglosigkeit der Hauptsacheklage zurückgewiesen worden.
11
Dieser (den Geschädigten verpflichtende) Teil der Risikozurechnungsformel stammt schon aus der wichtigen Entscheidung BGH, Urt. v. 16.1.1997, III ZR 117/95 – Mülheim-Kärlich, Rn. 119 = BGHZ 134, 268.
12
BGH (Fn. 1), Rn. 11; BGHZ 149, 50, Rn. 13.
13
BGHZ 149, 50, Rn. 13; BGHZ 134, 268, Rn. 119.
14
Gallois, BauR 2002, 884 (885).
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gung) „jedermann in der gleichen Situation geradezu aufdrängen muss“, sondern schon bei ernst zu nehmenden Anfechtungsgründen, mit anderen Worten also nicht erst bei
Wahrscheinlichkeit, sondern schon bei Möglichkeit eines
Erfolges der Drittanfechtung. Die „mittlere Linie“ entpuppt
sich daher bei Licht besehen doch als ziemlich strenge, dem
Bauherrn bei Drittanfechtung kaum Raum für eine risikolose
Fortsetzung der Bautätigkeit lassende Position.
c) Diese dem Genehmigungsinhaber ungünstige Schärfe
des Maßstabs, der ja immerhin die Vorinstanzen auch zur
Klageabweisung geführt hatte, wird nun freilich vom BGH
im Rahmen der Subsumtion des konkreten Falls wieder in
bemerkenswerter Weise relativiert – darin liegt wohl die
wichtigste Bedeutung gerade dieser Entscheidung in Ergänzung der älteren Urteile. Wenig spektakulär und völlig einleuchtend ist dabei zunächst die Aussage, dass der Risikoübergang auf den Bauherrn und also ein Mitverschulden überhaupt
erst ab Kenntnis von der Drittanfechtung in Betracht kommt.
Bis zu diesem Zeitpunkt durfte die Klägerin also unbekümmert bauen und den angefallenen Bauaufwand als Schaden in
Rechnung stellen. Zu präzisieren wäre allenfalls, dass es natürlich auch hier15 nicht auf die tatsächliche Kenntnis, sondern
auf die Kenntnisnahmemöglichkeit (potentielle Kenntnis) ankommen kann. Weniger selbstverständlich, dafür aber um so
wichtiger ist dann aber die Annahme des BGH, dass der
Klägerin auch nach Kenntnis von der Drittanfechtung nicht
die gleichwohl weiterbetriebenen Bauinvestitionen ohne
weiteres zu ihrer eigenen Risikosphäre hätten zugerechnet
werden dürfen (so aber das Berufungsgericht). Entscheidende
Bedeutung kam hier aus Sicht des BGH dem Umstand zu,
dass die rechtlichen Bedenken gegen die Errichtung des Mehrfamilienhauses der Genehmigungsbehörde im Verfahren bereits vorgetragen worden waren. Vor diesem Hintergrund
könne sich der Bauherr auf den allgemeinen Grundsatz berufen, dass er nicht klüger zu sein brauche als die mit der Bearbeitung des Verwaltungsvorgangs betrauten sachkundigen
Beamten. Wenn diese also die Genehmigung in Kenntnis der
Einwände erteilten, durfte auch die Klägerin davon ausgehen,
dass der Drittanfechtung keine Erfolgsaussichten beschieden
sein würden. Im Ergebnis wird die aus BGHZ 134, 268
(Mülheim-Kärlich) und BGHZ 149, 50 kombinierte alte Risikozurechnungsformel des BGH für die Baugenehmigungsfälle jetzt durch die neue Entscheidung ganz wesentlich zu
Gunsten des Bauherrn entschärft: Jedenfalls dann, wenn die
Behörde schon bei Genehmigungserteilung die Tatsachen
und rechtlichen Erwägungen, auf die sich die Drittanfechtung
stützt, genauso gut kannte wie der Genehmigungsinhaber ab
Kenntnis von der Drittanfechtung, geht das Haftungsrisiko
nicht ab diesem Zeitpunkt auf diesen über und darf ihm kein
anspruchsausschließendes Mitverschulden attestiert werden.
15
Wie auch etwa bei der Verwirkung des Anfechtungsrechts
des Nachbarn, dem die Genehmigung nicht bekannt gegeben
worden ist (in Anwendung der Frist des § 58 Abs. 2 VwGO),
BVerwGE 44, 294 (300); Czybulka, in: Sodan/Ziekow (Hrsg.),
Verwaltungsgerichtsordnung, 2. Aufl. 2006, § 58 Rn. 76.
III. Einordnung in den Zusammenhang der Rechtsprechung und Bewertung
Das Urteil stärkt die Position der Haftungskläger in den Fällen rechtswidrig erteilter Baugenehmigungen und schneidet
die in der bisherigen Rechtsprechung entwickelten Mechanismen einer Haftungsbegrenzung aus Gründen (angeblich)
nicht schutzwürdigen Vertrauens in die ordnungsrechtliche
Genehmigung deutlich zurück – zumindest für die Fälle drittangefochtener Baugenehmigungen. Diese wichtige Bedeutung des Urteils wird in ihrer vollen Tragweite erst erkennbar,
wenn man sie in den größeren Zusammenhang der Rechtsprechung zum schutzwürdigen Vertrauen des Geschädigten
als entscheidendem Faktor für den Amtshaftungsanspruch
stellt. Man kann insoweit zwei Stufen unterscheiden.
1. Auf der ersten – hoch umstrittenen16 – Stufe, von der in
der hier behandelten Entscheidung nicht mehr die Rede war,
wird das schutzwürdige Vertrauen des Genehmigungsempfängers in die Rechtmäßigkeit und damit den Fortbestand der
Genehmigung als Verlässlichkeitsgrundlage für Investitionen
als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Amtshaftung
behandelt, also (anders als noch in der älteren Rechtsprechung)17 nicht erst als Umstand, der im Rahmen des Mitverschuldens zum Tragen kommt. Diese Fälle sind dadurch gekennzeichnet, dass trotz gegebener Amtspflichtverletzung überhaupt kein Haftungsgrund angenommen wird; die Amtspflichtverletzung also haftungsrechtlich folgenlos bleibt („Alles-oder-Nichts-Lösung“): Die Amtshaftung ist nicht nur
teilweise oder im Hinblick auf bestimmte Schadensfolgen, sondern schon tatbestandlich und daher ganz ausgeschlossen,
weil die Zurechnung der Rechtsgutsverletzung, aus der der
Schaden entsteht, zur haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit
der Behörde, die die Amtspflichtverletzung begangen hat,
schlechthin verneint wird. Das amtshaftungsrechtliche Vertrauensschutzerfordernis bedeutet mithin, dass auch dann,
wenn die verletzte Amtspflicht grundsätzlich den Schutzzweck hat, den Bauherrn vor Vermögensschäden aus ihm
erteilter rechtswidriger Baugenehmigung zu schützen, dieser
Schutz doch dann entfällt, wenn der Bauherr auf die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung nach den konkreten Umständen des Schadensfalles nicht vertrauen durfte. Der ohnehin
begrenzte sachliche und persönliche (nur „Dritte“ sind geschützt!) Schutzzweck der Amtspflicht steht mithin unter
dem zusätzlichen Vorbehalt, dass der Geschädigte auf das
amtspflichtwidrige Verhalten auch subjektiv-individuell
vertrauen und darauf seine Vermögensdispositionen aufbauen
durfte. Fehlt es an diesem Vertrauen, ist die Schadensfolge
nicht der Amtspflichtverletzung, sondern dem eigenen Verhalten des Geschädigten zuzurechnen. Man kann insoweit
16
Insbesondere im Hinblick auf das Mülheim-Kärlich-Urteil
(BGHZ 134, 268), vgl. Ossenbühl (Fn. 7), S. 52; Bömer, NVwZ
1996, 749; eingehend zum Vertrauensschutz als haftungsbegründendem und -begrenzendem Element der Amtshaftung
Florian Küch, Vertrauensschutz durch Staatshaftung, 2003.
17
Dazu im Überblick Grzeszick, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.),
Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl. 2006, § 43 Rn. 22
m. Fn. 79.
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zwei Gruppen fehlender Schutzwürdigkeit des Vertrauens
unterscheiden.
a) In der ersten Gruppe geht es darum, dass nach dem
Schutzzweck der Genehmigungsvorschriften die Behörde
nicht in jeder Hinsicht für die Vereinbarkeit des genehmigten
Vorhabens mit der Rechtsordnung verantwortlich ist, sondern
nur für solche Fehler des Vorhabens, die sie im Genehmigungsverfahren hätte aufdecken können und müssen, die also
in ihr Prüfprogramm fielen.18 Es gibt also Gründe für die
Rechtswidrigkeit von Genehmigungen, die objektiv nicht in
die haftungsrechtliche Verantwortung der Behörde fallen.
Insoweit darf sich der Genehmigungsinhaber von vornherein
nicht auf die Genehmigung verlassen, weil die Genehmigung
dieses Risiko gar nicht abdeckt.
b) Die andere – problematischere – Fallgruppe19 ist dadurch gekennzeichnet, dass die Behörde zwar grundsätzlich
für den konkreten Grund der Amtspflichtverletzung durchaus
verantwortlich wäre (auch haftungsrechtlich), insbesondere
weil sie den Rechtswidrigkeits-Grund hätte vermeiden können, dass gleichwohl aber keine Zurechnung des Schadens
zur Behörde stattfindet, weil der Geschädigte aus in seiner
Person liegenden Gründen (insbesondere: Bösgläubigkeit, überlegenes Wissen) auf die Rechtmäßigkeit des Handelns der
Behörde nicht vertrauen durfte. Als Gesichtspunkte, die der
Annahme haftungsrechtlich schutzwürdigen Vertrauens auf
einen begünstigenden Verwaltungsakt – in bereits den Tatbestand des § 839 Abs. 1 S. 1 BGB ausschließender Weise –
entgegenstehen können, kommen mithin „nicht nur objektive
Umstände“ (wie oben in der ersten Fallgruppe), sondern auch
„subjektive Kenntnisse und sich aufdrängende Erkenntnismöglichkeiten des Empfängers in Betracht“.20 Solche Situationen liegen insbesondere dann vor, wenn der betroffene Verwaltungsakt entschädigungslos zurückgenommen werden
dürfte, weil der Betroffene den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung, Bestechung oder durch unrichtige
Angaben erwirkt hat, die in wesentlicher Beziehung unrichtig
oder unvollständig waren oder wenn er die Rechtswidrigkeit
des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (§ 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1-3 VwVfG). Der
verwaltungsrechtliche Ausschluss der Schutzwürdigkeit eines
Vertrauens nach dieser Vorschrift ist mithin hier auch haftungsrechtlich beachtlich: Vom haftungsrechtlichen Schutzzweck der verletzten Amtspflicht ist jedenfalls der Schutz vor
solchen Schäden nicht umfasst, die auf ein Verwaltungshandeln zurückgehen, hinsichtlich dessen Rechtmäßigkeit oder
18
Anschauliches Beispiel aus jüngerer Zeit: ThürOLG LKV
2005, 566: keine Haftung des Trägers der Baugenehmigungsbehörde für unerkannte materialbedingte statische
Mängel des Bauwerks, weil sich darauf die Prüfpflicht der
Genehmigungsbehörde nicht erstreckt; klassisch dazu die
Altlastenrechtsprechung des BGH, vgl. BGH, Urt. v. 19.3.1992,
III ZR 16/90 (BGHZ 117, 363), Rn. 24; BGHZ 123, 191
(199 f.).
19
Grundlegend BGHZ 134, 268 – Mülheim-Kärlich,
Rn. 38 ff.
20
BGHZ 134, 268, 3. Leitsatz; BGH NVwZ 2004, 638, Rn. 9.
Bestand der Geschädigte aufgrund eigenen Verhaltens kein
schutzwürdiges Vertrauen entwickeln durfte.
c) Ein so (im Sinne der soeben dargestellten zweiten Fallgruppe) begründeter Ausschluss der Schutzwürdigkeit der
Vertrauens, der auch zum Totalverlust des Haftungsanspruchs führen würde, ist, wie der BGH schon in dem Urteil
von 2001 entschieden hat,21 jedoch nicht schon dann anzunehmen, wenn der Rechtsanwendungsfehler der Behörde
(insbesondere in Anwendung des § 15 BauNVO) auch – und
angesichts seiner besseren Kenntnis des Bauvorhabens vielleicht sogar besser – vom Bauherrn hätte erkannt werden
können. Die sachgemäße Handhabung der baurechtlichen
Vorschriften fällt in erster Linie in den Verantwortungsbereich der Bauaufsichtsbehörde. Ebenfalls schon in dem Urteil
von 2001 ist entschieden worden, dass auch die Anfechtung
durch einen Dritten (Nachbarn) nicht kategorisch die Schutzwürdigkeit des Vertrauens und damit den Amtshaftungstatbestand entfallen lässt. Insoweit (anders also als bei § 48 Abs. 2
S. 3 VwVfG) nimmt der BGH keine Akzessorietät der haftungsrechtlichen gegenüber der verwaltungsrechtlichen Vertrauensschutzbetrachtung an. Wenn und soweit eine Genehmigung geeignet ist, schutzwürdiges Vertrauen des Adressaten in ihren Bestand zu begründen, fällt diese Vertrauensbasis
im Falle der Anfechtung des Bescheids durch einen Dritten
danach jedenfalls dann nicht ohne weiteres gänzlich weg,
wenn der Verwaltungsakt sofort vollziehbar ist. Diese haftungsrechtliche „Großzügigkeit“ erscheint in der Tat sachlich
gerechtfertigt:22 Auch wenn der Genehmigungsempfänger
verwaltungsrechtlich (im rechtlich geschützten Interesse des
Nachbarn) mit der durchaus harten Konsequenz leben muss,
dass eine ihm erteilte fehlerhafte, durch einen Nachbarn angefochtene Genehmigung ohne Vermögensausgleich gem.
§ 48 Abs. 3 VwVfG aufgehoben wird, so rechtfertigt dies
doch nicht gleichermaßen auch den Verlust des Anspruchs
auf Schäden, die ihm durch schuldhaftes Fehlverhalten der
Genehmigungsbehörde aufgrund seines Vertrauens in den
Bestand der Genehmigung entstanden sind.
2. Schied also schon nach den Grundsätzen des Urteils
von 2001 ein totaler Anspruchsverlust wegen Verneinung des
Haftungstatbestandes (also auf der ersten Stufe) mangels
schutzwürdigen Vertrauens aus, so kommt jedoch immer
noch eine Anspruchsminderung oder gar ein Anspruchsverlust aus dem Gesichtspunkt des Mitverschuldens, also auf der
zweiten Stufe, auf der Vertrauensschutzerwägungen Platz
greifen können, in Betracht. Hier findet die aktuelle Entscheidung nunmehr zu wichtigen Klarstellungen, die den
haftungsrechtlichen Vertrauensschutz des Bauherrn auch
nach der Flanke des Mitverschuldens hin absichern und so im
Zusammenhang mit den älteren Entscheidungen wirksam
stärken. Der BGH tritt dem Vorgehen der Vorinstanzen entgegen, die Drittanfechtung der Baugenehmigung zwar nicht
im Haftungstatbestand (erste Stufe), jedoch ohne sachlichen
Unterschied beim Mitverschulden (zweite Stufe) als vertrauenszerstörende und damit haftungsausschließende Tatsache zu
werten. Dies erscheint konsequent. Wenn die Risikozurech21
22
BGHZ 149, 50, Rn. 12.
Anders de Witt/Burmeister (Fn. 10), 1041.
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nung aus guten Gründen (s.o.) so ausfällt, dass die Drittanfechtung allein den amtshaftungsrechtlichen Vertrauensschutz nicht ausschließt – weil sie keinen Grund dafür abgibt,
die Behörde von ihrem (schuldhaften!) Sorgfaltsverstoß zu
entlasten –, dann muss diese Zurechnung zu Lasten der Behörde sich auch im Rahmen des § 254 BGB durchsetzen
können. Dies bedingt aber dann auch, dass keine zu scharfen
Sorgfaltsanforderungen hinsichtlich der Prüfung der Erfolgsaussichten des Anfechtungsrechtsbehelfs des Nachbarn
an den Bauherrn gerichtet werden dürfen. Würde man dem
Bauherrn immer schon dann, wenn der Erfolg der Drittanfechtung nicht von vornherein sicher ausgeschlossen werden
kann (wann ist das schon der Fall?), das Haftungsrisiko für
eine gleichwohl weiterbetriebene Ausnutzung der Baugenehmigung auferlegen, so liefe das in der Sache doch auf
einen weit gehenden Haftungsausschluss bei eingelegtem
Nachbarwiderspruch hinaus. Das Risiko der rechtlichen Beurteilung wäre von der Genehmigungsbehörde auf den Bauherrn verlagert, die immerhin sofort vollziehbare Genehmigung in ihrer Wirkung jedenfalls wirtschaftlich entwertet,
§ 212a BauGB konterkariert. Es ist richtig, dass der BGH
hier den Blick wieder auf die Behörde und deren Verantwortung für die von ihr erteilte Genehmigung gerichtet hat, insbesondere auch in Betonung des Grundsatzes, dass der Bürger nicht klüger sein muss als die Behörde.
Privatdozent Dr. Matthias Cornils, Mainz
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Artz
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Ort und Datum des Vorgangs) für an mich gerichtete
Werbung (z.B. Informationen über Sonderangebote, Rabattaktionen) per Post und mittels ggfs. von mir beantragter Services (SMS oder E-Mail-Newsletter) sowie zu
Zwecken der Marktforschung ausschließlich von der L.
GmbH und den Partnerunternehmen gemäß Nummer 2
der beiliegenden Hinweise zum Datenschutz gespeichert
und genutzt werden.
□ Hier ankreuzen, falls die Einwilligung nicht erteilt wird.
der Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1
BGB nicht stand, soweit sie die Einwilligung in die Speicherung und Nutzung der Daten für die Zusendung von
Werbung per SMS oder E-Mail-Newsletter betrifft.
Soweit die Klausel die Einwilligung in die Speicherung
und Nutzung der Daten für die Zusendung von Werbung
per Post sowie zu Zwecken der Marktforschung betrifft,
unterliegt sie gemäß § 307 Abs. 3 S. 1 BGB nicht der Inhaltskontrolle. (Amtlicher Leitsatz Teil a ohne Hervorgebungen)
BGB §§ 307 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3
BGH, Urt. v. 16.7.2008 – VIII ZR 348/06 (OLG München)1
I. Rechtsgebiet, Problemstellung und Examensrelevanz
1. Die Entscheidung ist angesiedelt an der Schnittstelle von
AGB-Recht und UWG. Geprüft werden könnten die auftretenden Probleme in erster Linie im Rahmen des mündlichen
Teils der Examensprüfung, da anhand des Falls in einem
Prüfungsgespräch zum einen sehr anschaulich das Zusammenspiel von Wettbewerbsrecht und AGB-Recht dargestellt
und zum anderen einige Besonderheiten der Voraussetzungen
und Rechtsfolgen der AGB-rechtlichen Klauselkontrolle erarbeitet werden können.
2. Es geht in dem hier vorgestellten Teil der Entscheidung
um Folgendes: Das in dem Verfahren beklagte Unternehmen
bietet Verbrauchern die Möglichkeit, mit ihm einen auf Rabattgewährung gerichteten Vertrag abzuschließen, und verpflichtet sich dabei, den Teilnehmern eine Kundenkarte („PaybackKarte“) zur Legitimation bei einem der angeschlossenen
Wirtschaftsunternehmen („Partnerunternehmen“) und zur Erfassung der Rabattansprüche zu erteilen, ein Bonuskonto einzurichten und nach Erwerb einer Ware oder Inanspruchnahme
1
http://www.bundesgerichtshof.de/ (23.09.2008).
einer Dienstleistung darauf eingehende Bonuspunkte gutzuschreiben. Die Teilnehmer können die gesammelten Punkte
gegen Prämien einlösen oder sich Bargeld auszahlen lassen.
Mit der Abwicklung des Systems und der Verwaltung dabei
anfallender Daten wurde eine „L. GmbH“ beauftragt. In dem
– papiergebundenen – Anmeldeformular („Ihre Payback
Anmeldung“), welches vor Ausstellung der Kundenkarte
auszufüllen ist, heißt es dazu: „Die Verwaltung Ihrer Daten
(Basisdaten, freiwillige Angaben und Rabattdaten) erfolgt
durch die Payback Betreibergesellschaft L. GmbH gemäß Ziffer
1 der beiliegenden Hinweise zum Datenschutz.“ Das Anmeldeformular ist in fünf Abschnitte unterteilt. Zunächst wird im
Abschnitt „Persönliche Angaben“ nach Name, Geburtsdatum,
Anschrift und Telefonnummer des Teilnehmers gefragt. Daran schließt sich der Abschnitt „Freiwillige Angaben“ an, in
dem der Teilnehmer Angaben über seinen Familienstand, das
monatliche Haushaltsnettoeinkommen, den Besitz eines PC
sowie Anzahl und Geburtsjahr der Kinder machen kann. In
einem weiteren Abschnitt wird angeboten, eine Zweitkarte
ausstellen zu lassen. Der vierte Abschnitt sieht unter der Überschrift „Profitieren Sie von zusätzlichen exklusiven Angeboten und Einkaufsvorteilen!“ die Möglichkeit vor, durch Angabe der Mobiltelefonnummer und/oder der E-Mail-Adresse
des Teilnehmers Mitteilungen über den erreichten Punktestand sowie Informationen über „Extra-Punktechancen, TopAktionen und Neuigkeiten zu Payback“ per SMS bzw. „E-MailNewsletter“ zu erhalten.
Den Schluss bildet der hier näher zu betrachtende Abschnitt mit der Überschrift „Ihre Unterschrift“. Dieser enthält
unter dieser Überschrift und oberhalb der in gelber Farbe gehaltenen Unterschriftszeile eine zusätzlich schwarz umrandete
und durch Fettdruck hervorgehobene „Einwilligung in Werbung und Marktforschung“, die mit nachstehend kenntlich
gemachten Hervorhebungen durch Fettdruck/Unterstreichung
wie folgt lautet, wobei das zum Ankreuzen vorgesehene
Kästchen rechts neben dem übrigen Text der Klausel angeordnet ist: „Mit meiner Unterschrift erkläre ich mich einverstanden, dass die von mir oben angegebenen Daten sowie die
Rabattdaten (Waren/Dienstleistungen, Preis, Rabattbetrag, Ort
und Datum des Vorgangs) für an mich gerichtete Werbung
(z. B. Informationen über Sonderangebote, Rabattaktionen)
per Post und mittels ggfs. von mir beantragter Services (SMS
oder E-Mail-Newsletter) sowie zu Zwecken der Marktforschung ausschließlich von der L. GmbH und den Partnerunternehmen gemäß Nummer 2 der beiliegenden Hinweise zum
Datenschutz gespeichert und genutzt werden. [...]
Hier ankreuzen, falls die Einwilligung nicht erteilt wird.“
Die entscheidende Frage bestand nun darin, ob in der
durch die vorstehende Formulierung gewählte sog. „opt-out-Erklärung“ ein Verstoß gegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB liegt.
II. Kernaussagen
1. Vorliegen von AGB
Zunächst stellt der 8. Senat fest, dass die beanstandete Klausel eine Allgemeine Geschäftsbedingung im Sinne des § 305
Abs. 1 S. 1 BGB ist. Dies hätte man insoweit in Zweifel
ziehen können, als es sich bei der Bestimmung nicht um eine vertragliche Vereinbarung im engeren Sinne, sondern um eine
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539
BGH, Urt. v. 16.7.2008 – VIII ZR 348/06
Artz
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vorformulierte einseitige Erklärung handelt, die im gegebenen Fall wiederum die andere Partei abgibt. Mit Rücksicht
auf ihren Schutzzweck sind die §§ 305 ff. BGB nach Auffassung des BGH aber auch auf eine vom Verwender vorformulierte einseitige Erklärung des anderen Teils anzuwenden, die
im Zusammenhang mit dem Vertragsverhältnis steht.2
2. Verstoß gegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB
Ein Verstoß gegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB kommt nur in Betracht, soweit eine Rechtsvorschrift existiert, von der zu Lasten des Verbrauchers abgewichen werden kann. Eine solche
enthält das UWG jedenfalls insoweit, als es darum geht, dass
die Werbung nicht per Post, sondern mittels SMS oder EMail zugehen soll.
Nach § 7 Abs. 2 Nr. 3 Var. 3 UWG stellt Werbung unter
Verwendung elektronischer Post, insbesondere E-Mail und
SMS, eine unzumutbare Belästigung dar, sofern keine Einwilligung des Adressaten vorliegt. Einwilligungsklauseln, die so
gestaltet sind, dass der Kunde tätig werden und ein Kästchen
ankreuzen muss, wenn er seine Einwilligung in die Zusendung
von Werbung unter Verwendung von elektronischer Post
nicht erteilen will („Opt-out“-Erklärung), sind von dieser Vorschrift nicht gedeckt. § 7 Abs. 2 Nr. 3 UWG verlangt vielmehr, dass die Einwilligung mittels einer gesonderten Erklärung erteilt wird („Opt-in“-Erklärung). Es bedarf einer ausdrücklichen Einwilligung des Verbrauchers.
Dem werden Allgemeine Geschäftsbedingungen nicht gerecht, wenn die Einwilligung in Textpassagen enthalten ist,
die auch andere Erklärungen oder Hinweise enthalten. Es fehlt
bei derart vorformulierten Erklärungen an der geforderten
spezifischen Einwilligungserklärung, wenn der Kunde weder
ein bestimmtes Kästchen anzukreuzen hat noch sonst eine
vergleichbar eindeutige Erklärung seiner Zustimmung abzugeben braucht. Eine solche Erklärung liegt insbesondere
nicht allein schon in der Unterschrift, mit der der Kunde das
auf Rabattgewährung gerichtete Vertragsangebot annimmt. Die
geforderte spezifische Angabe verlangt vielmehr eine gesonderte Erklärung durch zusätzliche Unterschrift oder individuelles
Markieren eines entsprechenden Feldes („Opt-in“-Erklärung).
Der Inhaltskontrolle hält die Klausel daher nicht stand.
Soweit sie sich bei der Einwilligung in Werbung per E-Mail
oder SMS auf eine „Opt-out“-Erklärung beschränkt, ist sie
mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung,
von denen sie abweicht, nicht zu vereinbaren und benachteiligt die Vertragspartner des Beklagten damit unangemessen,
weil hierin die Einwilligung nicht mit der geforderten spezifischen Angabe, sich gerade auch auf eine Werbung per EMail oder SMS einlassen zu wollen, zum Ausdruck kommt
(§ 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB).
3. Übereinstimmung mit dem 1. Zivilsenat des BGH
Der 8. Zivilsenat hat sich erfolgreich bemüht, insofern eine
übereinstimmende Würdigung mit der wettbewerbsrechtlichen
Rechtsprechung des 1. Zivilsenats zu erzielen3: „Dem steht
die Rechtsprechung des für Rechtsstreitigkeiten über Ansprüche aus dem Gesetz über den unlauteren Wettbewerb zuständigen 1. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs nicht entgegen,
soweit dort zur belästigenden Werbung im Sinne von § 1
UWG a.F. bzw. nunmehr § 7 Abs. 2 Nr. 3 UWG ausgeführt
ist, dass durch die Zusendung von E-Mails zu Werbezwecken
eine Belästigung für den Empfänger entstehe, die dieser nicht
hinzunehmen brauche, wenn er nicht ausdrücklich oder konkludent sein Einverständnis erklärt habe (Urteile vom 11.
März 2004 - I ZR 81/01, GRUR 2004, 517, unter II 2 b aa E-Mail-Werbung; vom 1. Juni 2006 - I ZR 167/03, GRUR
2007, 164, Tz. 8 - Telefax-Werbung II). Der 1. Zivilsenat hat
auf Anfrage erklärt, dass dem von § 7 Abs. 2 Nr. 3 UWG
geforderten bewussten Einverständnis („Opt-in“) auch nach
seiner Auffassung in Allgemeinen Geschäftsbedingungen nur
durch eine ausdrückliche Erklärung Rechnung getragen werden könne und eine „Opt-out“-Klausel der hier zu beurteilenden Art von der gesetzlichen Regelung abweiche.
Mangels zureichender Einverständniserklärung würde es
sich deshalb bei Werbung, die auf Grund der Klausel per
SMS oder E-Mail versandt wird, um unverlangte Werbung
handeln. Eine solche Werbung stellt nach § 7 Abs. 2 UWG eine
unzumutbare Belästigung dar. Diese belästigende Wirkung geht
nicht nur von einer Versendung von Werbe-E-Mails ohne
Einwilligung des Empfängers aus („Spam“; vgl. Köhler in:
Hefermehl/Köhler/Bornkamm, UWG, 26. Aufl., § 7 Rn. 81).
Der unverlangte Versand von Werbung mittels SMS greift
ähnlich stark in die Privatsphäre des Adressaten ein (Koch in:
Ullmann, jurisPK-UWG, Stand: 4. Oktober 2007, § 7
Rn. 284).“
4. Keine Gesamtnichtigkeit der Klausel
AGB-rechtlich beachtlich ist, dass der BGH vorliegend eine
fein differenzierte Betrachtungsweise anstellt und die Klausel
trotz ihrer äußerlichen Einheitlichkeit teilweise bestehen lässt.
Die Unangemessenheit des dargestellten Regelungsteils führt
nach Auffassung des Senats nicht zur Unwirksamkeit der
gesamten Klausel (§ 306 Abs. 1 BGB): „Lässt sich eine komplexe Formularbestimmung inhaltlich und nach ihrem Wortlaut aus sich heraus verständlich und sinnvoll in einen zulässigen und in einen unzulässigen Regelungsteil trennen, so ist
die Aufrechterhaltung des zulässigen Teils nach der ständigen
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs rechtlich unbedenklich (siehe nur Senatsurteil vom 25.3.1998 - VIII ZR 244/97,
WM 1998, 1452 unter II 1 a cc m.w.N.). So ist es hier.
Sprachlich und gegenständlich verbleibt nach Streichung des unwirksamen Regelungsteils „ […] mittels von mir beantragter
Services (SMS oder E-Mail-Newsletter […])“ ein aus sich
heraus verständlicher, selbständiger Klauseltext, der die Einwilligung in Werbung per Post betrifft und – wie aufgezeigt –
Gegenstand einer gesonderten Wirksamkeitsprüfung sein
kann.“
2
Rn. 18 des vorliegenden Urteils und BGH GRUR 2000, 818
= WRP 2000, 722, unter II 3 a (Telefonwerbung VI).
3
Rn. 33 f.
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ZJS 5/2008
540
BGH, Urt. v. 16.7.2008 – VIII ZR 348/06
Artz
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III. Würdigung
1. Unerbetene E-Mail-Werbung nervt! Ebenso wie bei der Inanspruchnahme eines Telefonanschlusses bricht der Werbende in die Intimsphäre des Verbrauchers ein und zwingt ihn,
hier oftmals mit unterdrückter Telefonnummer, zu einer Reaktion, sei es auch nur, das Gespräch anzunehmen oder die
eingegangene E-Mail zu löschen. Allein darin und unabhängig von dem transportierten Inhalt liegt eine unzumutbare
Belästigung des Verbrauchers (§ 7 UWG). Daher ist dem BGH
umfänglich zuzustimmen, dass der Empfänger derartige Marketingmethoden nur ertragen muss, wenn er ihnen ausdrücklich zustimmt und an diese Zustimmung hohe Anforderungen
zu stellen sind. Es reicht weder aus, dass der Verbraucher einen
Ausschluss nicht ankreuzt, noch, dass er einen Vertag als solchen unterzeichnet. Es bedarf vielmehr der ausdrücklichen, separaten Einwilligung des Adressaten mit dem Empfang derartiger Werbung (§ 7 Abs. 2 Nr. 3 UWG).
2. AGB-rechtlich führt das Urteil zwei Grundsätze ganz
deutlich vor Augen. Ein Verstoß gegen § 307 Abs. 2 Nr. 1
BGB kommt nur in Betracht, wenn es eine entsprechende
Vorschrift gibt, von der abgewichen werden kann. Mangelt es
an einer solchen, wie vorliegend hinsichtlich der Anforderungen an eine Einwilligung des Empfängers betreffend die
Werbung per Post, ist stets zu überprüfen, ob die infizierte
Klausel nach Streichung des unwirksamen Teils einen überlebensfähigen Stamm behält. Dies kann, wie vorliegend, sogar der Fall sein, wenn die Klausel überwiegend unwirksam
ist.
Privatdozent Dr. Markus Artz, Trier/Heidelberg/Bielefeld
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541
BGH, Urt. v. 15.7.2008 – VIII ZR 211/07
Gsell
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E nt s ch ei d ung s a n me r ku ng
ten auslöste. Das aber hing davon ab, ob die Nacherfüllungspflicht überhaupt den Einbau umfasste.
Nachlieferungsanspruch des Käufers erstreckt sich nicht
auf Einbau der mangelfreien Ersatzsache
1. Der Verkäufer mangelhafter Parkettstäbe schuldet im
Zuge der Nacherfüllung durch Ersatzlieferung (§ 439
Abs. 1 BGB) nur die Lieferung mangelfreier Parkettstäbe, das heißt die Verschaffung von Besitz und Eigentum
an einer mangelfreien Kaufsache (§ 433 Abs. 1 BGB); zur
Verlegung ersatzweise gelieferter Parkettstäbe ist der
Verkäufer im Wege der Nacherfüllung auch dann nicht
verpflichtet, wenn der Käufer die mangelhaften Parkettstäbe bereits verlegt hatte.
2. Eine Haftung des Verkäufers mangelhafter Parkettstäbe, die der Käufer vor der Entdeckung des Mangels auf
seine Kosten hat verlegen lassen, für die Kosten der Neuverlegung mangelfreier Parkettstäbe kommt nur unter
dem Gesichtspunkt des Schadensersatzes statt der Leistung (§ 437 Nr. 3, § 280 Abs. 1, 3, §§ 281 ff. BGB) in Betracht. Der Verkäufer haftet nicht, wenn er die in der
mangelhaften Lieferung liegende Pflichtverletzung (§ 280
Abs. 1 S. 1, § 433 Abs. 1 S. 2 BGB) nicht zu vertreten hat
(§ 280 Abs. 1 S. 2 BGB). (Amtliche Leitsätze)
BGB §§ 280, 437, 439
BGH, Urt. v. 15.7.2008 – VIII ZR 211/07 (LG Osnabrück)1
I. Rechtsgebiet, Problemstellung und Examensrelevanz
1. Die Entscheidung bringt ein Stück Klarheit in einer viel
diskutierten und damit besonders examensrelevanten Frage
des neuen Kaufgewährleistungsrechts: Ist der Käufer einer
mangelhaften Sache im Rahmen seines Anspruches auf
Nachlieferung nach § 439 Abs. 1 BGB berechtigt, den Einbau
der mangelfreien Ersatzsache zu verlangen, wenn er die mangelhafte Sache zuvor eingebaut hatte? Oder allgemeiner formuliert: Ist für die geschuldete Beschaffenheit der Ersatzsache der ursprüngliche Leistungszeitpunkt maßgeblich oder
muss der Verkäufer Veränderungen nachvollziehen, die der Käufer an der mangelhaften Sache vorgenommen hat, die Ersatzsache also in denjenigen Zustand versetzen, in dem sich die
Kaufsache im Nacherfüllungszeitpunkt befände, wenn sie sogleich mangelfrei geliefert worden wäre?
2. Im Streitfall ging es um Parkettstäbe, die der Käufer
vom Händler erworben und dann von einem Dritten hatte verlegen lassen. Die Parkettstäbe erwiesen sich später wegen eines
Produktionsfehlers als irreparabel mangelhaft. Der Käufer,
der den Kaufpreis noch nicht bezahlt hatte, forderte den Verkäufer unter Fristsetzung zum Austausch des Parkettbodens
auf und verlangte nach fruchtlosem Fristablauf Ersatz der
Kosten für die Neuverlegung. Fraglich war, ob in der Weigerung des Verkäufers, neues Parkett zu verlegen, eine schuldhafte Verletzung seiner Nacherfüllungspflicht lag, die nach §§ 437
Nr. 3, 280, 281 BGB eine Pflicht zum Ersatz der Einbaukos-
1
http://www.bundesgerichtshof.de/ [23.09.2008].
II. Kernaussagen
1. Der BGH sieht die Nachlieferungspflicht des Verkäufers in
Übereinstimmung mit der herrschenden Auffassung2 dahin
begrenzt, dass nur Übergabe und Übereignung einer mangelfreien Ersatzsache geschuldet werden, in casu also die Lieferung mangelfreier Parkettstäbe, nicht dagegen Neuverlegung
oder Übernahme der Kosten der Neuverlegung. Die Modifikation, die der Nacherfüllungsanspruch gegenüber dem ursprünglichen Erfüllungsanspruch aufweist, reicht nach Ansicht des
BGH nur soweit, wie dies durch die Mangelhaftigkeit der
Sache bedingt sei. Bei der Ersatzlieferung deckten sich Nacherfüllungsanspruch und ursprünglicher Leistungsanspruch
hinsichtlich der geschuldeten Leistungen und sei demnach eine
vollständige Wiederholung der Leistung erforderlich. Der Verkäufer schulde nochmals Übergabe des Besitzes und Verschaffung des Eigentums an einer mangelfreien Sache – nicht
weniger, aber auch nicht mehr. Vermögensschäden, die dem Käufer daraus entstünden, dass nicht bereits beim ersten Erfüllungsversuch eine mangelfreie Sache geliefert werde, seien
nicht im Zuge der Nacherfüllung zu beseitigen, sondern nur im
Rahmen eines Schadens- oder Aufwendungsersatzanspruchs
nach §§ 280 ff. BGB, was nicht nur für einen etwaigen Nutzungsausfall3 gelte, sondern auch für zusätzlich entstehende
oder vergeblich aufgewendete Kosten wie etwa nutzlos gewordene Zulassungs- und Überführungskosten beim KfzKauf4.
2. Ein abweichendes Ergebnis zum Umfang der Nacherfüllungspflicht wird nach Ansicht des BGH auch nicht durch
§ 439 Abs. 2 BGB gerechtfertigt, wonach der Verkäufer die
zum Zwecke der Nacherfüllung erforderlichen Aufwendungen, insbesondere Transport-, Wege-, Arbeits- und Materialkosten zu tragen hat. Gegenstand der Bestimmung seien nur
die zur Nacherfüllung erforderlichen Aufwendungen, ohne
dass der Leistungsumfang gegenüber § 439 Abs. 1 BGB
erweitert werde. Genauso legt der Senat die – allerdings auf
das vereinbarte Nachbesserungsrecht beschränkte – Vorläu-
2
Vgl. OLG Köln NJW-RR 2006, 677; OLG Stuttgart, Urt. v.
8.11.2007 – 19 U 52/07; OLG Frankfurt, Urt. v. 14.2.2008 – 15
U 5/07
(verfügbar in Juris, http://www.juris.de, unter:
http://www.juris.de/jportal/portal/t/109y/page/jurisw.psml?doc.h
l=1&doc.id=KORE210702008%3Ajurisr00&showdoccase=1&documentnumber=1&numberofresults=1
&doc.part=K&doc.price=0.0&paramfromHL=true#focuspoint
[23.09.2008]); Lorenz, ZGS 2004, 408; Thürmann, NJW
2006, 3457; Schneider/Katerndahl, NJW 2007, 2215; für
Erstreckung des Nacherfüllungsanspruchs auf Einbau der
Ersatzsache aber OLG Köln ZGS 2004, 432; Faust, in:
Beck´scher Online-Kommentar zum BGB, Stand 1.2. 2007,
§ 439 Rn. 18; Weidenkaff, in: Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008,
§ 439 Rn. 11.
3
Dazu BGHZ 174, 290, dazu Gsell, NJW 2008, 912.
4
Dazu BGHZ 163, 381.
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ZJS 5/2008
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BGH, Urt. v. 15.7.2008 – VIII ZR 211/07
Gsell
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ferregelung in § 476a S. 1 BGB a.F.5 aus sowie die europäische Vorgaben für den Verbrauchsgüterkauf in Art. 3 Abs. 2-4
Verbrauchsgüterkaufrichtlinie6, die mit § 439 Abs. 2 BGB umgesetzt wurden.
3. Weiter lehnt es der Senat ab, aus der sog. DachziegelEntscheidung7 zu § 467 S. 2 BGB a.F.8 Schlussfolgerungen
zu ziehen für den Umfang der Nacherfüllungspflicht. Zwar
habe der Senat seinerzeit die nutzlos aufgewendeten Kosten
für die Verlegung mangelhafter Dachziegel als ersatzfähige
Vertragskosten anerkannt. Jedoch sei die Vorschrift im Zuge
der Schuldrechtsmodernisierung gestrichen worden. Seither
seien Vertragskosten nicht mehr verschuldensunabhängig,
sondern nur noch unter den Voraussetzungen des § 284 BGB
ersatzfähig.
4. Schließlich will der BGH nicht Abweichendes aus der
für das neue Recht übernommenen9 Rechtsprechung zum Werkvertrag herleiten, nach der als Erfüllungsort der Nacherfüllung der Ort anzusehen ist, an dem sich die Sache zum Zeitpunkt der Gewährleistung bestimmungsgemäß befindet. Ob
beim Kauf beweglicher Sachen ohne Einschränkung dasselbe
gelte, könne offen bleiben, da aus der Bestimmung des Erfüllungsortes nicht folge, dass an diesem Ort mehr geschuldet
werde als die Verschaffung von Besitz und Eigentum.
5. Da somit in casu aufgrund der Ablehnung einer Einbaupflicht des Verkäufers die Kosten der (erneuten) Parkettverlegung keinen Schaden aus der schuldhaften Verletzung der
5
§ 476a BGB a.F. lautete: „[…] Ist an Stelle des Rechts des
Käufers auf Wandlung oder Minderung ein Recht auf Nachbesserung vereinbart, so hat der zur Nachbesserung verpflichtete Verkäufer auch die zum Zwecke der Nachbesserung
erforderlichen Aufwendungen, insbesondere Transport-,
Wege-, Arbeits- und Materialkosten, zu tragen.“
6
Die Vorschrift lautet: „Artikel 3 Rechte des Verbrauchers
(1) […].
(2) Bei Vertragswidrigkeit hat der Verbraucher entweder
Anspruch auf die unentgeltliche Herstellung des vertragsgemäßen Zustands des Verbrauchsgutes durch Nachbesserung
oder Ersatzlieferung nach Maßgabe des Abs. 3 oder auf angemessene Minderung des Kaufpreises oder auf Vertragsauflösung in Bezug auf das betreffende Verbrauchsgut nach
Maßgabe der Abs. 5 und 6.
(3) Zunächst kann der Verbraucher vom Verkäufer die unentgeltliche Nachbesserung des Verbrauchsgutes oder eine
unentgeltliche Ersatzlieferung verlangen, sofern dies nicht
unmöglich oder unverhältnismäßig ist. […].
(4) Der Begriff "unentgeltlich" in den Absätzen 2 und 3 umfasst die für die Herstellung des vertragsgemäßen Zustands
des Verbrauchsgutes notwendigen Kosten, insbesondere
Versand-, Arbeits- und Materialkosten.
[…].“
7
BGHZ 87, 104.
8
§ 467 BGB a.F. lautete: „Auf die Wandelung finden die für
das vertragsmäßige Rücktrittsrecht geltenden Vorschriften
der §§ 346 bis 348, 350 bis 354, 356 entsprechende Anwendung; […]. Der Verkäufer hat dem Käufer auch die Vertragskosten zu ersetzen.“
9
BGH NJW-RR 2008, 724 Rn. 13.
Nacherfüllungspflicht darstellten, kam ein Schadensersatzanspruch nur noch unter dem Gesichtspunkt in Betracht, dass
bereits in der Lieferung des mangelhaften Parketts eine zu vertretende Pflichtverletzung lag. Jedoch traf den Verkäufer als
Händler hinsichtlich des Produktionsfehlers kein Verschulden
und war dieser Fehler für ihn auch nicht erkennbar. Folgerichtig verneint der BGH ein Vertretenmüssen der Mängellieferung, wobei er die ständige Rechtsprechung10 bestätigt,
nach welcher der Hersteller nicht Erfüllungsgehilfe des Verkäufers ist.
III. Würdigung
1. Die Entscheidung erscheint schlüssig, soweit sie § 439 Abs. 2
BGB und seiner Genese keine hinreichenden Anhaltspunkte
dafür zu entnehmen vermag, dass der Ersatzlieferungsanspruch
auf nachträgliche Veränderungen der Kaufsache Rücksicht
nimmt. Auch erscheint es in einem Haftungssystem, das wie
das BGB den Schadensersatz grundsätzlich an das Verschulden knüpft, durchaus folgerichtig, wenn die Nacherfüllung
als verschuldensunabhängiger Rechtsbehelf nicht sämtliche
vom Käufer erlittenen nachteiligen Folgen beseitigt.11 Obwohl der BGH auf den Ausbau des mangelhaften Parketts
nicht einzugehen brauchte, da der Verkäufer die Ausbaukosten bereits erstattet hatte, wird man der strikten Begrenzung
des Ersatzlieferungsanspruchs auf Übereignung und Übergabe entnehmen müssen, dass der Ausbau der mangelhaften
Sache ebenfalls jenseits der geschuldeten Ersatzlieferung liegt.12
Auch dies erscheint konsequent.
2. Was das Urteil aber leider nicht leistet, ist ein übergreifender Blick auf den Vorrang der Nacherfüllung. Vor allem
10
Vgl. nur BGHZ 48, 118.
Dass der Käufer, wie Faust (Fn. 2), § 439 Rn. 18 annimmt,
durch die Nacherfüllung in die Lage versetzt werden soll, mit
der Kaufsache so zu verfahren, als wäre diese mangelfrei
gewesen, ist zwar richtig, sagt aber nichts darüber, in welchem Maße der Nacherfüllungsanspruch diesem Interesse
Rechnung trägt. War etwa der vom Käufer erworbene Pflanzendünger verunreinigt und sind deshalb dessen Balkonpflanzen eingegangen, so ist offensichtlich, dass er ersatzweise gelieferten mangelfreien Pflanzendünger erst wieder verwenden kann, wenn er auch neue Pflanzen erhält. Trotzdem
sind die Pflanzen auch nach Ansicht von Faust (Fn. 2), § 439
Rn. 17 nicht im Wege der Nacherfüllung zu ersetzen.
12
Ebenso Thürmann, NJW 2006, 3457 (3460); abw. OLG
Frankfurt, Urt. v. 14.2.2008 – 15 U 5/07 Rn. 34 ff. (verfügbar
in
Juris,
http://www.juris.de,
unter:
http://www.juris.de/jportal/portal/t/109y/page/jurisw.psml?do
c.hl=1&doc.id=KORE210702008%3Ajurisr00&showdoccase=1&documentnumber=1&numberofresults
=1&doc.part=K&doc.price=0.0&paramfromHL=true#focusp
oint [23.09.2008]); OLG Köln NJW-RR 2006, 677; Lorenz,
ZGS 2004, 408 (410 f.), der die altrechtliche Dachziegelrechtsprechung (BGHZ 87, 104 [109]) insoweit für weiterhin
relevant hält, als angenommen wurde, dass mit dem Rückforderungsrecht des Verkäufers nach vollzogener Wandelung
ein Rücknahmeanspruch des Käufers korrespondiere; i.E.
ebenso Schneider/Katerndahl, NJW 2007, 2215 (2216).
11
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BGH, Urt. v. 15.7.2008 – VIII ZR 211/07
Gsell
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wird nicht diskutiert13, was bei Nachbesserung hinsichtlich
eventueller Aus- und Einbaukosten gilt14 und ob sich aus dem
Umfang des Nachbesserungsrechts nicht Konsequenzen auch
für die Reichweite der Ersatzlieferung ergeben müssen oder
umgekehrt. Die gesetzliche Konzeption der beiden Nacherfüllungsvarianten als gleichwertig legt dies – in die eine oder
andere Richtung – durchaus nahe.15
Prof. Dr. Beate Gsell, Augsburg
13
Vgl. Rn. 20 der Entscheidungsgründe, wo eine Orientierung der Nacherfüllung am hypothetischen Zustand, den eine
anfänglich mangelfreie Sache aktuell hätte, „jedenfalls für die
hier zu beurteilende Ersatzlieferung“ verworfen wird.
14
Für das Werkvertragsrecht nahm die Rechtsprechung zum
alten Recht an, dass die Mängelbeseitigung auch die erforderlichen Vor- und Nacharbeiten umfasst einschließlich der
Beseitigung der aus der Nachbesserung resultierenden Schäden am sonstigen Eigentum des Bestellers, vgl. BGH NJW
1963, 805 (806): Malerarbeiten bei Nachbesserung einer
Abflussleitung; BGHZ 58, 332 (339): Aufreißen und Wiederherstellung der Straßendecke, Erdarbeiten, Entfernung und
Wiederanbringung der Isolierung bei Nachbesserung einer
Rohrleitung. Dagegen waren mängelbedingte Schäden am
sonstigen Eigentum des Bestellers, die sich nicht erst aus der
Nachbesserung ergaben, nicht von der Mängelbeseitigungspflicht gedeckt, vgl. BGHZ 96, 221 (225 f.): Mängelbedingte
Schäden an einer Spundwand aufgrund unzureichender Erdarbeiten.
15
Konsequent insofern Faust (Fn. 2), § 439 Rn. 18; für eine
auf die Nachbesserung beschränkte Einbaupflicht des Käufers hingegen Lorenz, ZGS 2004, 408 (409); Thürmann, NJW
2006, 3457 (3459).
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BGH, Urt. v. 29.4.2008 – XI ZR 371/07
Langenbucher
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E nt s ch ei d ung s a n me r ku ng
Die Bank kann von dem gutgläubigen Zahlungsempfänger die irrtümliche Zuvielüberweisung nicht im Wege der
Nichtleistungskondiktion (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB)
herausverlangen (im Anschluss und in Ergänzung zu BGH
WM 1986, 1381). (Amtlicher Leitsatz)
BGB § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2
BGH, Urt. v. 29.4.2008 – XI ZR 371/07 (LG Bonn)1
I. Bedeutung für Studenten, Fallkonstellation
Das private Bankrecht bietet eine Fülle klassischer privatrechtlicher Fragestellungen schuld- und bereicherungsrechtlicher Herkunft, die sich wegen ihrer ungewohnten Einkleidung besonders zur Wiederholung im Rahmen der Examensvorbereitung eignen. Vereinfacht man den vorliegenden Fall,
geht es im Kern um einen Bereicherungsausgleich im Dreipersonenverhältnis: Ein Käufer wies die klagende Bank an,
den „Teilbetrag einer Schlussrate“ des der Verkäuferin geschuldeten Kaufpreises zu überweisen. Die Bank, die das
Geschäft auch finanziert und wohl deshalb Kenntnis von der
Höhe der insgesamt geschuldeten Raten hatte, überwies versehentlich die volle Schlussrate. Erst nach der Gutschrift auf
ihrem Konto erhielt die beklagte Verkäuferin ein Schreiben
des Käufers, in welchem dieser ankündigte, den – aus seiner
Sicht noch offenen – Teilbetrag wegen Mängeln zurückzuhalten. Die Bank forderte den zuviel überwiesenen Betrag auf
der Grundlage einer Nichtleistungskondiktion direkt von der
Verkäuferin zurück. Das LG Bonn und der BGH haben die
Klage abgewiesen. Sie meinen, der Bereicherungsausgleich
habe sich entlang der Leistungsbeziehungen zu vollziehen.
II. Wiederholung: Der Bereicherungsausgleich im Dreieck
Ein bereicherungsrechtliches Dreipersonenverhältnis ist typischerweise dadurch gekennzeichnet, dass ein Anweisender
(hier: der Käufer) einem Anweisungsempfänger (hier: die beklagte Verkäuferin) vermittelt durch den Angewiesenen (hier:
die klagende Bank) etwas zukommen lässt.2 Es entspricht inzwischen herrschender Lehre und Rechtsprechung, den Bereicherungsausgleich in einem solchen Dreieck auf der Basis der
jeweiligen Leistungsbeziehung abzuwickeln.3 Das bedeutet,
Rückforderungsansprüche existieren nur zwischen Anweisendem und Anweisungsempfänger bzw. zwischen Anweisendem und Angewiesenem. Dafür spricht, dass bei dieser
Lösung jede Partei ausschließlich mit den Einwendungen und
mit dem Insolvenzrisiko desjenigen Partners belastet ist, mit
welchem sie freiwillig in ein Vertragsverhältnis getreten ist.
Auf den vorliegenden Fall angewandt hieße das: Die Bank
könnte nicht gegen die Verkäuferin vorgehen, weil diese
Parteien nicht in einer Leistungsbeziehung stehen. Stattdessen wäre es an dem Käufer, von seiner Bank die Stornierung
der Überweisung zu verlangen. Der Bank stünde im Gegenzug ein Bereicherungsanspruch gegen ihren Kunden, den
Käufer, zu. Dieser wäre auf Herausgabe etwa erlangter Vorteile aus dem Zahlungsvorgang gerichtet.4
Dieser Grundsatz gilt freilich nicht ohne Ausnahme. Hat
der Anweisende überhaupt keine Anweisung erklärt oder lässt
sich ihm diese jedenfalls nicht zurechnen, etwa weil er minderjährig ist, steht dem Angewiesenen eine sogenannte Direktkondiktion gegen den Anweisungsempfänger zu. Er darf
mithin das Geleistete auf der Grundlage einer Nichtleistungskondiktion unmittelbar von dem Empfänger der Leistung zurückfordern. Davon war wohl die klagende Bank ausgegangen, als sie einen Prozess gegen die Verkäuferin anstrengte.
Eine Direktkondiktion ist immer dann vorzugswürdig, wenn
der nur angeblich Anweisende davor geschützt werden soll,
sich mit dem von ihm nicht zurechenbar veranlassten Zahlungsvorgang auseinandersetzen zu müssen.5 Eine solche
Auseinandersetzung ist für den Anweisenden nämlich mitunter aufwendig: Kann die Bank von ihrem Kunden die Herausgabe von Vorteilen aus dem irrtümlich durchgeführten
Zahlungsvorgang verlangen, wird sie nicht nur einen solchen
Anspruch im Regelfall im Kontokorrent6 mit dem Stornoverlangen des Kunden verrechnen, sodass dieser die Last der
Klage gegen seine Bank trägt. Hinzu kommt, dass der anweisende
Kunde sich in der prozessual ungünstigen Situation befindet,
über die Einzelheiten des Valutaverhältnisses mit dem Anweisungsempfänger (im vorliegenden Fall: über etwaige
Mängel des Kaufvertrages) mit einer außen stehenden Partei
streiten zu müssen.
III. Der Argumentationsgang des Gerichts
Der BGH hat die typischen Fallkonstellationen durchgemustert, in welchen man die Direktkondiktion des Angewiesenen
gegen den Anweisungsempfänger zulässt: das Fehlen einer
Anweisung, ihre Fälschung oder Verfälschung, die Geschäftsunfähigkeit oder die fehlende Vertretungsmacht des
Anweisenden. Für diese Fälle folgt das Gericht der überwiegenden Ansicht, wonach ein etwa entstandener Rechtsschein
auf der Seite des Überweisungsempfängers dem angeblich
Anweisenden nicht zugerechnet werden kann.
Dem stellt das Gericht den Widerruf einer Überweisung
entgegen. In diesem Fall lehnt die herrschende Meinung eine
Direktkondiktion zu Recht ab, wenn dem Anweisenden der
einmal in Gang gebrachte Zahlungsvorgang analog §§ 170173 BGB zugerechnet werden kann.7
Die im vorliegenden Fall gegebene Zuvielüberweisung
setzt der BGH in eins mit dem Widerruf der Überweisung. In
beiden Fällen habe der Überweisende immerhin einen Zah4
1
http://www.bundesgerichtshof.de/ [23.09.2008].
2
Hierzu demnächst Grigoleit/Auer, Beck’sches Examinatorium, Bereicherungsrecht.
3
Zum Folgenden statt aller Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2,
13. Aufl. 1994, § 70 II.
Hierzu im Einzelnen unten V.
Larenz/Canaris (Fn. 3), § 70 IV 2b.
6
Hierzu Langenbucher, in: Münchener Kommentar zum HGB,
2. Aufl. 2009, § 355 Rn. 3 ff.
7
Zu den Einzelheiten Canaris, JZ 1987, 201; Lorenz, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2007, § 812 Rn. 51.
5
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BGH, Urt. v. 29.4.2008 – XI ZR 371/07
Langenbucher
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lungsvorgang angestoßen. Ergänzend weist das Gericht darauf hin, bei Zulassung einer Direktkondiktion werde das schutzwürdige Vertrauen des Empfängers beeinträchtigt, der sich darauf verlasse, eingehende Zahlungen endgültig behalten zu
dürfen. Die Belange der überweisenden Bank hätten demgegenüber zurückzutreten.
IV. Kritik
Die Entscheidung greift zu kurz. Auf die Interessen des Empfängers kann die Ablehnung einer Direktkondiktion der Bank
schon deshalb nicht gestützt werden, weil sich dessen Schutz
über § 818 Abs. 3 BGB verwirklichen lässt.8 Durfte er sich
gutgläubig darauf verlassen, den eingehenden Betrag behalten
zu dürfen, ist er entreichert. Ist der Empfänger dagegen im
Sinne des § 819 Abs. 1 BGB bösgläubig, ist nicht einzusehen, warum er der Bank das empfangene Buchgeld nicht herausgeben soll.
Zu wenig Gewicht misst die Entscheidung den Belangen
des angeblich Anweisenden zu. Mit dem farblosen Hinweis
auf das „Veranlassungsprinzip“9 und eine „näher-dran-Betrachtung“10 werden dessen Interessen denjenigen des Zahlungsempfängers untergeordnet. Das belastet den angeblich
Anweisenden unabhängig von der Schutzwürdigkeit des
Zahlungsempfängers mit der Last, die Zahlung von der Bank
zurückzuholen (s. o. II. am Ende), obgleich die Zulassung der
Direktkondiktion mit Blick auf den durch § 818 Abs. 3 BGB
gewährleisteten konkreten Vertrauensschutz die viel flexiblere Lösung bietet.11 Mit dem Entreicherungseinwand aus
§ 818 Abs. 3 BGB hat sich das Gericht freilich überhaupt
nicht auseinandergesetzt.12 Das Veranlassungsprinzip, auf welches der BGH seine Entscheidung stützt, ist viel zu radikal,
an seine Stelle hat die zutreffende Ansicht in der Literatur
längst das Risikoprinzip gesetzt.13 Wer nämlich nichts weiter
tut, als ein korrektes Angebot zum Abschluss eines Überweisungsvertrages abzugeben, hat das Risiko einer Fehlüberweisung nicht zurechenbar erhöht.14 Anders ist es, wenn der
Überweisende einen eigenständigen Rechtsscheintatbestand gesetzt, beispielsweise seine Überweisung angekündigt hat. Ob
im vorliegenden Fall davon auszugehen war, etwa weil infol-
ge des Eingangs von Raten in stets gleicher Höhe mit der
Ankündigung einer Minderzahlung zu rechnen gewesen wäre,15 ist Tatfrage.
V. Zum Weiterdenken
Schwierige Fragen stellen sich, wenn es um die praktischen
Folgen der Ansicht der Rechtsprechung für das Verhältnis
des angeblich Anweisenden zu seiner Bank geht. Das Gericht
geht davon aus, diese könne nur die Abtretung eines Bereicherungsanspruchs des angeblich Überweisenden gegen den
Zahlungsempfänger verlangen.16 Immerhin, so der Gedankengang, hat der Zahlungsempfänger die Schlussrate vollständig erhalten, die – möglicherweise – darauf gerichtete Forderung des Zahlungsempfängers gegenüber dem Überweisenden ist mithin erloschen. Den Wert dieses Erlangten kann der
angeblich Überweisende kondizieren, wenn für diesen Empfang kein Rechtsgrund bestand. Im vorliegenden Fall hieße
das: wenn tatsächlich Mängel vorlägen, welche den Käufer
zur Minderung der Schlussrate berechtigt hätten. Canaris hat
dem entgegengehalten, der Anspruch der Bank gegen den
Anweisenden richte sich mitnichten auf die Abtretung eines
etwaigen Bereicherungsanspruchs. Stattdessen geht Canaris
von einer Rückgriffskondiktion der Bank gegenüber ihrem
Kunden aus: Ist im Valutaverhältnis zwischen Zahlungsempfänger und Anweisendem eine Forderung erloschen, hat der
Anweisende zunächst einmal die Befreiung von einer Verbindlichkeit erlangt. Das führt nach § 818 Abs. 2 BGB nicht
zu einem Anspruch auf Abtretung, sondern zu Wertersatz in
Höhe der getilgten Forderung.17 Zu einer Kondiktion der
Kondiktion, von welcher das Gericht als Regelfall ausgeht,
kommt es nur, wenn die Forderung im Valutaverhältnis nicht
bestand. Über diese Frage, ob mithin die Forderung im Valutaverhältnis bestand und ob ihr Einreden entgegengehalten
werden können, sollte sich der Schuldner aber mit dem Zahlungsempfänger auseinandersetzen dürfen, nicht mit seiner
Bank.
Prof. Dr. Katja Langenbucher, Frankfurt a.M.
8
Canaris, JZ 1987, 201 (202); Langenbucher, in: Lorenz
(Hrsg.), Festschrift für Andreas Heldrich, 2005, S. 285 (290);
Lorenz (Fn. 7), § 812 Rn. 51.
9
Rn. 14 der Entscheidung.
10
Rn. 17, 24 der Entscheidung.
11
Hierzu bereits Canaris, JZ 1987, 201 (202); s. a. Lieb, in:
Feschrift 50 Jahre BGH, S. 547 (552); Lorenz (Fn. 7), § 812
Rn. 51; Wendehorst, in: Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2008, § 812
Rn. 166; wie der BGH aber Hopt, in: Baumbach/Hopt, HGB,
33. Aufl. 2008, (7) BankGesch C/19; Nobbe, WM Sonderbeilage 4/01, 8; Schimansky, in: Schimansky u.a. (Hrsg.), Bankrechtshandbuch, 3. Aufl. 2007, § 50 Rn. 19.
12
Fernliegend deshalb die Erwägungen in Rn. 25: Typischerweise wäre der Empfänger hier entreichert und deshalb
gerade keiner Direktkondiktion ausgesetzt.
13
Lorenz (Fn. 7), § 812 Rn. 51.
14
Zu Recht krit. Lorenz, LMK 264831.
15
So Lorenz, LMK 264831.
Rn. 26 der Entscheidung.
17
Canaris, JZ 1987, 201 (202); so auch Lorenz, LMK 264831.
16
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ZJS 5/2008
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BGH, Urt. v. 16.4.2008 – XII ZR 144/06
Heiderhoff
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E nt s ch ei d ung s a n me r ku ng
1. Die Rechtsausübungssperre des § 1600d Abs. 4 BGB
kann im Regressprozess des Scheinvaters gegen den
mutmaßlichen Erzeuger des Kindes in besonders gelagerten Einzelfällen mit der Folge durchbrochen werden, dass
die Vaterschaft des Beklagten inzident festgestellt werden
kann.
2. Nach Abschaffung der gesetzlichen Amtspflegschaft für
nichteheliche Kinder zum 1. Juli 1998 kommt dies in Betracht, wenn der Kläger andernfalls rechtlos gestellt wäre, weil weder die Kindesmutter noch der mutmaßliche
Erzeuger bereit sind, dessen Vaterschaft gerichtlich feststellen zu lassen (Abgrenzung zu Senatsurteil BGHZ 121,
299). (Amtliche Leitsätze)
BGB §§ 1607 Abs. 3 Satz 2, 1600d Abs. 4, 1600e Abs. 1,
1629 Abs. 2 Satz 3, 1712 Abs. 1 Nr. 1
BGH, Urt. v.16.4.2008 – XII ZR 144/06 ( OLG Celle)1
I. Rechtliche Ausgangslage
Nach § 1601 BGB ist der rechtliche Vater – als Verwandter
in gerader Linie – den Kindern zum Unterhalt verpflichtet.
Die rechtliche Vaterschaft muss aber nicht immer die richtige
(biologische) Vaterschaft sein. Nicht selten gilt ein Mann als
rechtlicher Vater, der in Wirklichkeit nicht der Erzeuger der
Kinder ist. So ist es insbesondere, wenn eine verheiratete Frau
Kinder von einem anderen Mann bekommt. Dann wird nach
§ 1592 Nr. 1 BGB der Ehemann zum rechtlichen Vater und
damit zum Unterhaltsverpflichteten, obwohl ein anderer Mann
der Erzeuger der Kinder ist. So war es auch im vorliegenden
Fall. Der BGH spricht von dem falschen rechtlichen Vater als
„Scheinvater“. Der Scheinvater hatte hier erfahren, dass die Kinder nicht von ihm abstammen, und daraufhin nach § 1600
Abs. 1 Nr. 1 BGB die Vaterschaft angefochten. Gemäß
§ 1599 BGB gilt die Vaterschaft nach der Anfechtung als nie
begründet – die Unterhaltspflicht erlischt also rückwirkend.
Fraglich ist aber, was mit den bereits erfolgten Unterhaltsleistungen geschieht. Nach § 1607 Abs. 3 S. 2 BGB geht der
Unterhaltsanspruch des Kindes auf den Scheinvater über,
soweit dieser zu Unrecht anstelle des wirklichen Vaters Unterhalt an das Kind bezahlt hat. Aus dieser Norm geht auch
hier der ehemalige Scheinvater gegen den Erzeuger der Kinder vor.
Nun stand dem Erfolg seiner Klage jedoch § 1600d Abs. 4
BGB entgegen. Denn nach § 1600d Abs. 4 BGB dürfen die
Rechtswirkungen der Vaterschaft erst vom Zeitpunkt der gerichtlichen Feststellung an geltend gemacht werden. Diese Norm
sagt deutlich, dass gegen den Erzeuger der Kinder ein Anspruch, der sich aus dessen Vaterstellung ergibt, erst geltend
gemacht werden kann, wenn die Vaterschaft gerichtlich festgestellt ist.
Problematisch war dies, weil der Erzeuger im vorliegenden
Fall zwar feststand und auch gar keinen Hehl daraus machte,
1
http://www.bundesgerichtshof.de [23.09.2008].
dass es sich bei den drei betroffenen Kindern um seine leiblichen Kinder handelte. Jedoch gab es niemanden, der zur Erhebung der Vaterschaftsfeststellungsklage gleichzeitig bereit
und berechtigt war. Nach § 1600e Abs. 1 BGB können der
Vater, die Mutter und das Kind die Vaterschaft feststellen
lassen. Diese hatten hier jedoch überhaupt kein Interesse an
einer solchen Feststellung. Der Scheinvater, der als einziger
auf die Feststellung angewiesen war, ist dagegen nicht klagebefugt.
Somit saß der Scheinvater in einer Art rechtlichen Falle:
Er hatte zwar seine Vaterstellung wirksam beseitigt. Er kannte
auch den Erzeuger der Kinder. Er konnte daraus aber – nach
Auffassung des Berufungsgerichts – keine Regressansprüche
ableiten, weil die Vaterschaft des Erzeugers nicht festgestellt
werden konnte.
II. Entscheidung des BGH
Mit dieser Lage war der BGH konfrontiert. Dabei hatte der
BGH selbst gerade für die vorliegende Fallkonstellation
schon ausdrücklich entschieden, dass Regress vor einer Feststellung der Vaterschaft in der Tat nicht möglich sei. Dennoch entschied er vorliegend gerade umgekehrt. Er ließ die inzidente Feststellung der Vaterschaft ausnahmsweise zu. Einen Anker im Gesetz konnte er dafür allerdings nicht finden.
So heißt es denn auch im Leitsatz, § 1600d Abs. 4 BGB könne „in besonders gelagerten Einzelfällen“ durchbrochen werden.
Für die Änderung seiner Rechtsprechung konnte der BGH
aber immerhin mit einer einfachen Begründung aufwarten, denn
die Rechtslage hatte sich seit dem letzten Urteil entscheidend
verändert. Bis 1998 hatte nämlich jedes uneheliche geborene
Kind einen Amtspfleger, der insbesondere für die Feststellung der Vaterschaft zuständig war. Der Amtspfleger konnte
als gesetzlicher Vertreter des Kindes die Vaterschaft feststellen lassen (§ 1706 BGB a.F.).
III. Nachteile der Inzidentfeststellung der Vaterschaft
Von Inzidentfeststellung der Vaterschaft spricht man, wenn
die Vaterschaft nicht der eigentliche Gegenstand des Verfahrens ist, sondern wenn über das Bestehen der Vaterschaft nur als
Vorfrage für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch
mit entschieden wird. In Rechtskraft erwächst die Entscheidung über eine solche Vorfrage nicht.
Da die rechtliche Vaterschaft Voraussetzung für viele Ansprüche und Rechte ist, ist ihr Bestehen eine häufige Vorfrage. Würde die Vaterschaft jedes Mal inzident geklärt, hätte
das zum einen den Nachteil, dass die Gerichte sich immer
wieder mit derselben Frage beschäftigen müssten. Das wäre
wenig effizient. Vor allem aber könnte es sein, dass die Gerichte zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen würden. Dann
würde für ein und dasselbe Kind im einen Fall A, im anderen
B und in einem dritten Fall vielleicht C als Vater gelten.
Denn im Inzidentverfahren wird die Vaterschaft nicht immer
direkt, sondern auch indirekt aufgrund der Abstammungsvermutung festgestellt.
Eine Inzidentfeststellung der Vaterschaft hat also erhebliche
Nachteile. Es ist daher grundsätzlich richtig, dass sie in
§ 1600d Abs. 4 BGB ausgeschlossen ist. Will jemand An-
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BGH, Urt. v. 16.4.2008 – XII ZR 144/06
Heiderhoff
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sprüche durchsetzen, die das Bestehen der rechtlichen Vaterschaft voraussetzen, so muss er zunächst das Feststellungsverfahren betreiben, bevor er den eigentlichen Anspruch gerichtlich geltend machen kann.
IV. Inzidentfeststellung der Vaterschaft beim Unterhaltsregress
Nun hat sich im vorliegenden Fall gezeigt, dass es für den Inhaber von Ansprüchen gegen den rechtlichen Vater nicht
immer möglich ist, zuerst die Vaterschaftsfeststellung zu betreiben. Handelt es sich nämlich nicht um Ansprüche von Mutter
oder Kind, sondern um Ansprüche eines Dritten, hat dieser
gar keine Klagebefugnis für das Feststellungsverfahren. So
ergeht es stets dem Scheinvater im Unterhaltsregressverfahren.
De lege lata sah der BGH nur die Möglichkeit, von § 1600d
Abs. 4 BGB für diese „besonders gelagerten Einzelfälle“ eine
Ausnahme zuzulassen. Er nimmt allerdings eine gründliche
Interessenabwägung vor und zeigt dabei insbesondere auf,
dass weder Vater noch Kind ein geschütztes Interesse daran
haben, dass die Vaterschaft „offen“ bleibt. Zugleich verneint
der BGH die Möglichkeit für den Scheinvater, „ins Blaue
hinein“ einen Erzeuger zu benennen. Er verlangt vielmehr,
dass der Scheinvater wenigstens substantiiert darlegt und,
wenn dies streitig ist, beweist, dass der Beklagte der Mutter
während der Empfängniszeit beigewohnt hat (§ 1600 d Abs.
2 BGB).
Im Ergebnis muss das richtig sein.2 Anhand des geltenden
Rechts begründen lässt sich diese Rechtsprechung aber wohl
nicht. Der BGH jedenfalls fand keine Begründung – außer
der unbedingten Notwendigkeit, dem Scheinvater zu helfen.
De facto ist das Problem damit weitgehend gelöst.
Es lohnt wohl auch nicht der Ruf nach dem Gesetzgeber.
Denn die Klagebefugnis für die Vaterschaftsfeststellung zu erweitern, kann nicht richtig sein. Anders als bei der Inzidentfeststellung, die nicht in Rechtskraft erwächst und nur zwischen den Parteien wirkt, würde dann nämlich ein Außenstehender darüber entscheiden können, ob ein Kind einen Vater
bekommt, und ob ein Erzeuger zum rechtlichen Vater wird.
Damit würde in der Tat erheblich in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Betroffenen eingegriffen.
Insofern könnte der Gesetzgeber nur versuchen, die Entscheidung des BGH in Gesetzesworte zu fassen: § 1600d Abs. 4
BGB ist nicht anzuwenden, wenn ein Scheinvater den nach
§ 1607 Abs. 3 S. 2 BGB auf ihn übergegangenen Unterhaltsanspruch gegenüber dem nach § 1600d Abs. 2 BGB zu vermutenden Erzeuger der Kinder geltend macht.
Prof. Dr. Bettina Heiderhoff, Hamburg
2
So auch Wellenhofer, FamRZ 2008, 1427.
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BGH, Urt. v. 28.4.2008 – II ZR 264/06
Geibel
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E nt s ch ei d ung s a n me r ku ng
Zur Durchgriffshaftung wegen materieller Unterkapitalisierung einer GmbH
Unterlässt der Gesellschafter einer GmbH es, die Gesellschaft im Hinblick auf ihren Unternehmensgegenstand
mit hinreichend Kapital auszustatten, haftet der Gesellschafter weder unter dem Gesichtspunkt der in § 826
BGB einzuordnenden Haftung wegen „existenzvernichtenden Eingriffs“ noch aufgrund eines Haftungsdurchgriffs wegen materieller Unterkapitalisierung abweichend
von § 13 Abs. 2 GmbHG. Individuelle Ansprüche Dritter
aus § 826 BGB, die sich gegen den Gesellschafter auf
Ersatz des negativen Interesses richten, weil der Gesellschafter den Dritten die unterlassenen Sicherungsmaßnahmen verschwiegen hat, kann der Insolvenzverwalter über
das Vermögen der GmbH nicht geltend machen. (Redaktioneller Leitsatz)
GmbHG § 13 Abs. 2, BGB § 826
BGH, Urt. v. 28.4.2008 – II ZR 264/06 (OLG Düsseldorf)1
I. Rechtsgebiet und Problemstellung
1. Das Urteil betrifft Kerngebiete des GmbH-Rechts sowie
des Deliktsrechts und streift Fragen des Insolvenzrechts. Es
geht um das Problem, ob und unter welchen Voraussetzungen
der Gesellschafter einer GmbH abweichend von § 13 Abs. 2
GmbHG mit seinem persönlichen Vermögen einem Gläubiger der GmbH im Fall einer materiellen Unterkapitalisierung
der GmbH haftet. Eine solche Unterkapitalisierung liegt vor,
wenn der Gesellschafter es unterlassen hat, die GmbH ausreichend mit soviel Kapital auszustatten, das notwendig ist,
damit die GmbH ihrem Unternehmensgegenstand nachgehen
kann. Insbesondere war bislang umstritten, inwieweit sich ein
Haftungsdurchgriff auf den Gesellschafter rechtfertigen lässt
und auf welche Anspruchsgrundlage er zu stützen ist. Zu
klären war zudem das Verhältnis eines solchen Haftungsdurchgriffs zu der jüngst im Trihotel-Urteil entwickelten
„Existenzvernichtungshaftung“ des BGH.2
2. Im Streitfall (Gamma) ging es um die Klage eines Insolvenzverwalters in dem Insolvenzverfahren über das Vermögen einer GmbH, die als Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft („BQG“) zur Sanierung einer in der Krise
befindlichen Gesellschaft, der B-KG, fungierte und eigens
dafür (mit dem Mindeststammkapital von 25.000 €) gegründet wurde. Zwischen der GmbH und der B-KG wurde zu
diesem Zweck ein Vertrag geschlossen, in dem sich die
GmbH verpflichtete, einige Arbeitnehmer der B-KG zu übernehmen, anzustellen, zu qualifizieren und weiterzuvermitteln.
Die GmbH sollte sich vorwiegend aus öffentlichen Geldern
1
BGH NJW 2008, 2437. Das Urteil kann auch auf
www.bundesgerichtshof.de oder auf www.juris.de abgerufen
werden.
2
BGHZ 173, 246 = BGH NJW 2007, 2689 = ZJS 2008, 90
(m. Anm. Geibel).
wie Kurzarbeitergeld und Qualifizierungsmittel finanzieren.
Den restlichen Teil der Arbeitskosten für die Arbeitnehmer –
die so genannten Remanenzkosten – sollte die B-KG monatlich bezahlen. Eine Zeit lang ging dies gut, dann jedoch meldete die B-KG Insolvenz an. Dies führte auch zur Eröffnung
des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der GmbH, weil
die Remanenzkosten nicht mehr überwiesen wurden. Der
Insolvenzverwalter klagte nun gegen die Gesellschafter der
GmbH, weil die GmbH wegen ihres eingeschränkten Unternehmensgegenstands als BQG auf die Deckung der Remanenzkosten angewiesen war und weil unterlassen wurde, die
Remanenzkostenansprüche der GmbH in branchenüblicher
Weise z.B. durch eine Bankbürgschaft abzusichern. Deshalb würden die Gesellschafter wegen „existenzvernichtenden Eingriffs“
und wegen materieller Unterkapitalisierung haften.
II. Kernaussagen des Urteils
1. Der BGH lehnt zunächst eine Haftung wegen „existenzvernichtenden Eingriffs“ ab. An seinen Ausführungen zur
„Existenzvernichtungshaftung“ im Trihotel-Urteil hält der BGH
fest. Hiernach rechtfertigt er die Haftung des Gesellschafters
einer GmbH im Fall missbräuchlicher kompensationsloser und
insolvenzverursachender bzw. -vertiefender Ein-griffe in das
zweckgebundene Gesellschaftsvermögen der GmbH nicht mehr
mit einer Durchgriffsaußenhaftung abweichend von § 13
Abs. 2 GmbHG. Vielmehr stütze sich die Haftung auf § 826
BGB und sei eine Innenhaftung gegenüber der GmbH. Dass
unterlassen worden sei, die GmbH mit hinreichenden Mitteln
auszustatten, damit die Remanenzkosten gedeckt sind, stelle
schon begrifflich keinen „Eingriff“ in das Gesellschaftsvermögen dar. Ein solches Unterlassen sei einem Eingriff auch
nicht gleich zu stellen, weil durch das Unterlassen „das Stammkapital [...] nicht angetastet“3 worden sei. Schon „im Ansatz“4 lehnt der BGH es ab, die Fälle einer materiellen Unterkapitalisierung der „Existenzvernichtungshaftung“ zuzuordnen.
2. Der BGH verneint auch einen Haftungsdurchgriff wegen materieller Unterkapitalisierung. Er lässt die Rechtsprechung zum Thema „piercing the corporate veil“ Revue passieren und stellt fest, dass sich in der höchstrichterlichen
Rechtsprechung (von BGH, BAG und BSG) kein spezielles
Haftungsinstitut bei materieller Unterkapitalisierung herausgebildet habe. Auch in den Motiven zur Novelle des GmbHG
von 1980 sowie in den Motiven zum MoMiG 2008 sei die
Normierung einer allgemeinen Haftung in diesen Fällen abgelehnt worden.5 Ein GmbH-Gesellschafter habe keine „Finanzausstattungspflicht“.6 Eine richterliche Rechtsfortbildung
scheitere an der fehlenden Regelungslücke. Ob die materielle
Unterkapitalisierung eine sittenwidrige Schädigung nach
§ 826 BGB darstellen kann, lässt der BGH ausdrücklich offen.
3
BGH NJW 2008, 2437 (2438 Rn. 12 a.E.).
BGH NJW 2008, 2437 (2438 Rn. 13 a.E.).
5
BGH NJW 2008, 2437 (2439 Rn. 19, 20), unter Verweis auf
BT-Drs. 8/1347, S. 39, und auf BR-Drs. 354/07, S. 66.
6
BGH NJW 2008, 2437 (2439 Rn. 23).
4
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Geibel
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3. Am Ende seines Urteils erwägt der BGH, ob die Gesellschafter den Arbeitnehmern direkt aus §§ 826, 830 BGB
haften, weil sie die fehlende Absicherung der Remanenzkosten
arglistig verschwiegen hätten, bevor die dreiseitigen Übernahme- und Anstellungsverträge zwischen der GmbH, der BKG und den Arbeitnehmern geschlossen wurden.7 Die aus
einer solchen Haftung resultierenden Ansprüche könne jedoch
der Insolvenzverwalter weder nach § 92 InsO noch nach § 93
InsO geltend machen.
III. Würdigung
1. Das Urteil bildet den vorläufigen Schlussstein einer langen
Reihe von Entscheidungen zu möglichen Fällen einer Durchgriffshaftung. Die Entwicklung in der Rechtsprechung des
BGH war keineswegs geradlinig.8 In jüngerer Zeit können
zwei Tendenzen beobachtet werden: erstens eine Tendenz weg
von einer Zustandshaftung (analog § 302 AktG, „qualifiziert
faktischer Konzern“) hin zu einer Verhaltenshaftung9 und
noch weiter zu einer Verschuldenshaftung; zweitens die Tendenz weg von dem Argument, eine Durchgriffshaftung sei
allein schon durch einen Rechtsmissbrauch gerechtfertigt, hin
zur Anwendung der einschlägigen gesetzlichen Vorschriften.
Beide Tendenzen treffen sich in der Anwendung von § 826
BGB. Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage, ob allein
durch ein Unterlassen eine sittenwidrige Schädigung begangen werden kann. Das setzt voraus, dass die unterlassene
Handlung sittlich gefordert ist; allein die fehlende Erfüllung
einer rechtlichen oder vertraglichen Pflicht genügt nicht.10
Die jederzeit ausreichende Ausstattung der GmbH mit Kapital und Liquidität wird von den Gesellschaftern der GmbH
rechtlich nicht gefordert, erst recht nicht entspringt diese
Ausstattung einem sittlichen Gebot. Auf § 826 BGB kann
mithin eine Haftung allein wegen unterlassener ausreichender
Kapitalisierung ohne Hinzutreten weiterer Umstände nicht gestützt werden.
2. Die Begründung des BGH, dass eine „Existenzvernichtung“ durch Unterlassen mangels eines „Eingriffs“ in das
Gesellschaftsvermögen begrifflich zu verneinen sei, überzeugt dagegen nicht. Denn der Anknüpfungspunkt für ein Fehlverhalten der Gesellschafter kann im entschiedenen Fall auch
in einem Tun gesehen werden, nämlich dass sie die GmbH zu
einem nachteiligen Rechtsgeschäft veranlasst haben. Entscheidend ist aber nicht die Qualifizierung als Tun oder Unterlassen, sondern dass es sich bei dem Abschluss der dreiseitigen Verträge ohne Insolvenzabsicherung der Remanenzkosten um einen „Managementfehler“ handelte, den die Gesellschafter nicht vorsätzlich begangen haben. Eine sittenwidrige
Schädigung der GmbH scheidet daher aus. Vielmehr haften
u.U. diejenigen Gesellschafter, die zugleich Geschäftsführer
sind,11 gemäß § 43 Abs. 2 GmbHG. Diese Geschäftsführerhaftung ist eine Innenhaftung gegenüber der Gesellschaft und
setzt nicht wie § 826 BGB ein vorsätzliches Verhalten voraus.
3. Der Schlussteil der Entscheidung zeigt, dass neben einer
Innenhaftung der Gesellschafter gegenüber der GmbH auch
eine Außenhaftung gegenüber Gläubigern der Gesellschaft in
Betracht kommt. Gründen die Ansprüche der Arbeitnehmer
auf einem persönlichen Verhalten der Gesellschafter, nämlich
auf dem arglistigen Verschweigen eines wichtigen Umstandes, richten sie sich nicht gegen die GmbH, sondern an der
Masse vorbei gegen die Gesellschafter persönlich. Dass der
Insolvenzverwalter solche Ansprüche nicht geltend machen
darf, versteht sich von selbst. Wäre ein dolus in contrahendo
bewiesen, würden die Arbeitnehmer nach § 826 BGB im Wege
des Schadensersatzes so zu stellen sein, als wenn der dreiseitige Vertrag nicht geschlossen worden wäre. In diesem Fall
hätte aber mit hoher Wahrscheinlichkeit die B-KG sofort den
Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt. Es ist
daher fraglich, ob den Arbeitnehmern ein Schaden entstanden
ist. Dies konnte aber im vorliegenden Urteil offen gelassen werden, weil nicht die Arbeitnehmer geklagt hatten, sondern der
Insolvenzverwalter über das Vermögen der GmbH.
Privatdozent Dr. Stefan J. Geibel, Tübingen/Konstanz
7
BGH NJW 2008, 2437 (2440 Rn. 26 ff.).
Vgl. z.B. Hueck/Fastrich, in: Baumbach/Hueck, GmbHG,
18. Aufl. 2006, § 13 Rn. 16.
9
Vgl. z.B. für die Durchgriffshaftung wegen Vermögensvermischung BGH ZIP 2006, 467.
10
Vgl. z.B. BGH NJW 2001, 3702; Schiemann, in: Erman,
BGB, 12. Aufl. 2008, § 826 Rn. 13.
8
11
In dem entschiedenen Fall war einer der Gesellschafter, der
Beklagte zu 1, zugleich Geschäftsführer.
_____________________________________________________________________________________
ZJS 5/2008
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EuGH, Urt. v. 3.9.2008, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05
Rossi
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E nt s ch ei d ung s a n me r ku ng
Gemeinschaftsrechtlicher Grundrechtsschutz gegen europarechtlich umgesetzte VN-Sanktionen
Gemeinschaftsgerichte sind zuständig für die Prüfung
von Maßnahmen, die von der Gemeinschaft zur Umsetzung von Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten
Nationen erlassen werden. (nicht amtlicher Leitsatz)
EGV Art. 60, 301, 308; VO (EG) 881/2002; VO (EG)
467/2001
EuGH, Urt. v. 3.9.2008, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/051
I. Rechtsgebiet, Problemstellung und Examensrelevanz
Das Urteil setzt einen (vorläufigen) Schlussstrich unter einen
Rechtsstreit, der materiell in der internationalen Terrorismusbekämpfung und damit in der Schnittmenge zwischen Völkerrecht, Europarecht und nationalem Recht spielt und prozedural zunächst das Europäische Gericht 1. Instanz befasst
hat.2 Das EuG war mit Nichtigkeitsklagen gegen zwei Verordnungen angerufen worden, die ihrerseits zur Umsetzung
mehrerer Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen erlassen worden waren. Mit diesen Resolutionen reagierte der Sicherheitsrat auf Terrorakte durch die Taliban
und später auch durch Al-Qaida: Als „intelligente Sanktion“
(„smart sanctions“) sehen diese Resolutionen vor, sämtliche
Gelder der Taliban und der Al-Qaida einzufrieren. Wer zum
Umfeld dieser Terrororganisationen zu zählen ist, ergibt sich
aus einer vom Sanktionsausschuss des VN-Sicherheitsrats geführten Liste, die ständig aktualisiert wird. An diese Liste wird
wiederum auf EG-Ebene der Anhang zu den entsprechenden
Verordnungen angepasst. Als die Kläger, der saudische
Staatsangehörige Yassin Abdullah Kadi und die in Schweden
ansässige Al Barakaat International Foundation, sich auf dieser Liste wieder- und ihre Gelder eingefroren fanden, riefen
sie das EuG an. Dieses sah sich dem Problem ausgesetzt, zwei
Verordnungen am Maßstab des Gemeinschaftsrechts überprüfen zu müssen, die eins zu eins den Resolutionen des Sicherheitsrates entsprechen und damit zwar formell als Sekundärrecht der Europäischen Gemeinschaft zu qualifizieren sind,
materiell aber solches der Vereinten Nationen wiedergeben. Das
EuG scheute den Konflikt mit dem Völkerrecht und wies die
Klagen ab: In formeller Hinsicht seien die Verordnungen von
der Rechtsetzungszuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft
gedeckt, und in materieller Hinsicht verbiete sich eine Prüfung am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte, da die Mitgliedstaaten nach dem Wortlaut der Charta der Vereinten
Nationen den Resolutionen des Sicherheitsrats nachkommen
müssten und diese Norm Vorrang vor dem Gemeinschafts1
Das Urteil ist auf den Seiten des EuGH abrufbar:
http://curia.europa.eu/
2
Vgl. EuG, Urt. v. 21.9.2005, Rs. T-315/01, Slg. 2005, II3649 (Kadi/Rat und Kommission) sowie EuG, Urt. v. 21.9.2005,
Rs. T-306/01, Slg. 2005, II-3533 (Yusuf u.a./Rat und Kommission).
recht habe. Gegen dieses im deutschen Schrifttum viel beachtete Urteil3 legten die beiden Kläger vor dem Europäischen
Gerichtshof Rechtsmittel ein, der daraufhin nun die Nichtigkeit der relevanten Verordnung feststellte, soweit sie die Kläger betrifft.
II. Die Entscheidung
Dem Urteil ist im Grundansatz und im Ergebnis, nicht jedoch
in der konkreten Begründung zuzustimmen. Denn die Nichtigkeit der streitbefangenen Verordnung ergibt sich schon aus
der fehlenden Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft (1)
und nicht erst aus ihrer materiellen Unvereinbarkeit mit verschiedenen Grundrechtsgewährleistungen (3). Die Annahme
einer grundsätzlichen Prüfungsbefugnis der Gemeinschaftsgerichte zur Prüfung auch solcher sekundärrechtlicher Normen, die der Umsetzung von VN-Resolutionen dienen, ist dagegen zu begrüßen (2). Besondere Beachtung verdient schließlich auch der Rechtsfolgenausspruch (4).
1. Zuständigkeitsverteilung zwischen EU, EG und Mitgliedstaaten
Das Recht der Europäischen Union ist geprägt vom Prinzip
der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. EUV, Art. 5
Abs. 1 EGV). Danach bedarf es für das Handeln der Union
bzw. der Gemeinschaft einer Rechtsgrundlage in den Verträgen.
Ob und in welchen Vorschriften eine solche für den Erlass
der streitbefangenen Verordnung der Europäischen Gemeinschaft vorliegt, war schon in dem Verfahren vor dem EuG umstritten. Gestützt ist die Verordnung auf die Art. 60, 301 und
308 EGV. Art. 60 EGV steht systematisch im Kapitel über
den freien Kapital- und Zahlungsverkehr und erlaubt dessen
Einschränkung auf Grund von Maßnahmen nach Art. 301
EGV. Art. 301 EGV wiederum erlaubt der Gemeinschaft, auf
der Grundlage von Beschlüssen im Rahmen der GASP – hier
knüpft das Gemeinschaftsrecht an das politische Handeln der
Union an – Wirtschaftssanktionen gegenüber Drittstaaten zu
erlassen. Die Schwierigkeit im Fall der streitigen Verordnung
besteht darin, dass sie abstrakt gegen die Taliban bzw. AlQaida und konkret gegen die im Anhang genannten Personen
gerichtet ist, nicht aber gegen dritte Staaten. Das EuG erkannte in Maßnahmen gegen einzelne Personen aber eine notwendige Ergänzung der drittstaatsgerichteten Art. 60 und 301
3
Vgl. v. Arnauld, UN-Sanktionen und gemeinschaftsrechtlicher Grundrechtsschutz, AVR 44 (2006), 201; Steinbarth,
Individualrechtsschutz gegen Maßnahmen der EG zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus, ZEuS 2006, 269;
Möllers, Das EuG konstitutionalisiert die Vereinten Nationen, EuR 2006, 426; Ohler, Die Verhängung von „smart
sanctions“ durch den UN-Sicherheitsrat – eine Herausforderung für das Gemeinschaftsrecht, EuR 2006, 848; Haltern,
Gemeinschaftsgrundrechte und Antiterrormaßnahmen der UNO,
JZ 2007, 537; Kämmerer, Die Urteile „Kadi“ und „Yusuf“
des EuG und ihre Folgen, EuR 2008, Beiheft 1, 65.
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EuGH, Urt. v. 3.9.2008, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05
Rossi
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EGV und stützte diese Ergänzung auf die subsidiäre Rechtsetzungsbefugnis des Art. 308 EGV.4
Wie der EuGH zu diesem Kompetenzmosaik aus Art. 60,
301 und 308 EGV steht, ist aufgrund der stark vom Vorbringen der Parteien im Rechtsmittelverfahren geprägten Argumentationsgliederung und der kaum mehr verständlichen Sprache des Gerichts mit ihrer Mischung aus direkter und indirekter Rede und zahlreichen doppelten Verneinungen nicht leicht
zu erkennen. Was bleibt, ist der Eindruck einer vielfältig widersprüchlichen und inkonsistenten Begründung, die das Ergebnis als große Überraschung erscheinen lässt.
Zunächst hebt der EuGH hervor, dass die Art. 60 und 301
EGV für sich genommen keine geeignete und hinreichende
Rechtsgrundlage für die streitige Verordnung darstellen, da
sich die in der Verordnung vorgesehenen Maßnahmen nicht
gegen Drittstaaten, sondern gegen Individualpersonen richten
(Rn. 167 f.). Begründet wird dies neben Wortlaut und Kontext auch mit dem Ziel der Verordnung: Dieses bestehe darin,
den internationalen Terrorismus zu bekämpfen, nicht jedoch
darin, auf die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Gemeinschaft und Drittstaaten einzuwirken.
Sodann erteilt der EuGH der Konzeption des EuG eine Absage, Art. 308 EGV auf solche Maßnahmen zu erstrecken,
mit denen nicht ein Ziel der Gemeinschaft, sondern ein Ziel
der Union verfolgt wird. Indem Art. 308 EGV ausschließlich
auf die Ziele der Gemeinschaft, nicht jedoch auf diejenigen der
Union rekurriert, bildet er keine Rechtsgrundlage für Maßnahmen, die Ziele der Union verwirklichen sollen, wie dies
für den Kampf gegen die Finanzierung des internationalen Terrorismus der Fall ist. Dieses enge Verständnis des Gemeinschaftsbezugs des Art. 308 EGV ist zu begrüßen, soll nicht
die das geltende Primärrecht prägende Unterscheidung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen
Union zu Lasten der Kompetenzen der Mitgliedstaaten nivelliert werden.
Um so erstaunlicher und im Ergebnis nicht nachvollziehbar ist deshalb die Argumentation, mit der der EuGH sich
sodann doch für die zulässige Abstützung der streitigen Verordnung auf Art. 60, 301 und 308 EGV ausspricht: „Soweit
mit dieser Verordnung wirtschaftliche und finanzielle Restriktionen verhängt werden, fällt sie offenkundig in den sachlichen Anwendungsbereich der Art. 60 und 301 EGV“, heißt es
unter Rn. 213. Und weiter differenziert der EuGH – der Ansicht des Vereinigten Königreichs folgend – zwischen dem
eigentlichen Ziel, „das unter die GASP falle und die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit
betreffe“, und dem der streitigen Verordnung eigenen, „rein
instrumentellen Ziel“, das in der Einführung wirtschaftlicher
Zwangsmaßnahmen liege (Rn. 221 f.). Mit dieser Erhebung
des eigentlichen Mittels zum „instrumentellen Ziel“ geht eine
derartige Erweiterung und Aufweichung des final konstruierten Art. 308 EGV einher, dass es sodann nicht mehr wundert,
wenn der EuGH ausführt: „Indem die Art. 60 und Art. 301
EGV eine Gemeinschaftsbefugnis zur Verhängung wirt4
Skeptisch schon Rossi, in: Calliess/Ruffert, EGV/EUV,
3. Aufl. 2007, Art. 308 Rn. 28.
schaftlicher Restriktionen vorsehen, die der Umsetzung im
Rahmen der GASP beschlossener Handlungen dienen, sind
sie nämlich Ausdruck eines ihnen zugrunde liegenden impliziten Ziels, nämlich, den Erlass solcher Maßnahmen durch
die wirksame Nutzung eines gemeinschaftsrechtlichen Instruments zu ermöglichen.“ (Rn. 226). Diese „instrumentelle“
Interpretation des Zielbegriffs nivelliert nicht nur die zuvor
betonte Unterscheidung zwischen der Union und der Gemeinschaft „als integrierte, aber verschiedene Rechtsordnungen“ (Rn. 202), sondern missachtet vor allem die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten: Die Mitgliedstaaten sind für die Durchsetzung der für
sie verbindlichen VN-Resolutionen des Sicherheitsrates zuständig, nicht die Europäische Gemeinschaft, die gar nicht
Mitglied des Vereinten Nationen ist und als Internationale
Organisation nach der geltenden VN-Charta auch nicht werden kann. Sollte der Anwendungsbereich des Art. 308 EGV
auch in Zukunft und in anderen Sachbereichen mittels einer
instrumentellen Interpretation um implizite Ziele der Gemeinschaft ausgeweitet werden, wäre die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaften und den Mitgliedstaaten
erheblich aus dem Gleichgewicht gebracht. Dass Art. 352
Abs. 1 AEUV, so der Lissabonner Vertrag denn in Kraft tritt,
nicht mehr zwischen den Zielen der Gemeinschaft und denen der
Union unterscheidet, sondern konsequent nur noch von den
Zielen der Union und darüber hinaus auch von den Verträgen
im Plural spricht, nimmt dieser Kritik nicht die Schärfe. Denn
erstens wird die neue, dann als „Flexibilitätsklausel“ bezeichnete subsidiäre Rechtsetzungsbefugnis prozedural flankiert
durch die Einbindung der nationalen Parlamente, und zweitens besteht die Gefahr, die tatbestandlich erweiterte Flexibilitätsklausel des Art. 352 Abs. 1 AEUV mittels der nun gefundenen Interpretation noch weiter auszulegen.
2. Prüfungsbefugnis der Gemeinschaftsgerichte
Fällt die Verordnung nach Auffassung des EuGH in den Kompetenzbereich der Gemeinschaft, ist es nur konsequent, sie
sodann ungeachtet der Tatsache, dass sie materiell Resolutionen des VN-Sicherheitsrates wiedergibt, vorbehaltlos der Rechtmäßigkeitskontrolle durch die Gemeinschaftsgerichte zu unterwerfen. Denn die Gemeinschaft ist eine Rechtsgemeinschaft,
in der weder ihre Mitgliedstaaten noch ihre Organe der
Rechtmäßigkeitskontrolle entzogen sind (Rn. 281). In diesem
Punkt unterscheidet sich der EuGH somit eklatant von dem
angegriffenen Urteil des EuG, das die Verordnung in materieller Hinsicht nur insoweit für justiziabel hielt, wie es um
die Vereinbarkeit mit den Normen des ius cogens ging.
Zugleich hebt der EuGH ausdrücklich hervor, dass sich die
den Gemeinschaftsgerichten obliegende Rechtmäßigkeitskontrolle auf den Gemeinschaftsrechtsakt bezieht, mit dem die betreffende internationale Übereinkunft umgesetzt werden soll,
und nicht auf diese Übereinkunft als solche (Rn. 286). Sofern
eine Maßnahme der Gemeinschaft, die der Umsetzung einer
Resolution des VN-Sicherheitsrates dienen soll, wegen Verstoßes gegen höherrangiges Gemeinschaftsrecht von einem Gemeinschaftsgericht für unwirksam erklärt wird, wird deshalb
der Vorrang der Resolution als solcher nicht in Frage gestellt.
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ZJS 5/2008
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EuGH, Urt. v. 3.9.2008, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05
Rossi
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Die volle Justiziabilität sämtlichen Handelns der Gemeinschaft
ist dem EuGH aber zu Recht wichtiger als die Völkerrechtskonformität, so dass der Preis, eventuell völkerrechtswidrig
zu handeln, für die Einhaltung der Gemeinschaftsrechtsordnung allemal gerechtfertigt erscheint. Der EuGH führt hierzu
aus: „Die Kontrolle der Gültigkeit einer jeden Handlung der
Gemeinschaft im Hinblick auf die Grundrechte durch den
Gerichtshof ist als Ausdruck einer Verfassungsgarantie in
einer Rechtsgemeinschaft zu betrachten, einer Garantie, die
sich aus dem EG-Vertrag als autonomem Rechtssystem ergibt
und durch ein völkerrechtliches Abkommen nicht beeinträchtigt werden kann“ (Rn. 316).
3. Grundrechtliche Gewährleistungen
Die nachfolgende materielle Überprüfung der Verordnung
nimmt der EuGH vor allem am Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes sowie am Grundrecht der Eigentumsfreiheit vor.
Was den aus dem Grundsatz des effektiven gerichtlichen
Rechtsschutzes abgeleiteten Anspruch auf rechtliches Gehör
betrifft, so geht der EuGH von einer Beschränkbarkeit zu
Gunsten der Wirksamkeit der streitigen Maßnahmen sowie
aus zwingenden Gründen der Sicherheit oder der Gestaltung
der internationalen Beziehungen der Gemeinschaft und ihrer
Mitgliedstaaten aus (Rn. 338 ff.). Im konkreten Fall allerdings sieht weder die streitige Verordnung noch der Gemeinsame Standpunkt, auf den die Verordnung verweist, ein Verfahren vor, in dem die Betroffenen über die Umstände und
Gründe informiert werden, die zu ihrer Aufnahme in den Anhang geführt haben. Auch dem EuGH sind diese Gründe
nicht vorgelegt worden, so dass der Gerichtshof konsequent
feststellt, „dass er nicht in der Lage ist, die Rechtmäßigkeit
der streitigen Verordnung zu prüfen, sowie sie die Rechtsmittelführer betrifft, woraus der Schluss zu ziehen ist, dass deren
Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz auch aus diesem
Grund [...] nicht gewahrt worden ist“ (Rn. 351).
In Bezug auf das Eigentumsrecht geht der EuGH davon
aus, dass das Einfrieren von Geldern angesichts der bedeutenden Ziele des Kampfes gegen die Bedrohungen, die durch
terroristische Handlungen auf dem Weltfrieden und der internationalen Sicherheit lasten, für sich genommen nicht als unverhältnismäßig angesehen werden kann (Rn. 363). Im konkreten Fall des Herrn Kadi sei dessen Eigentumsgrundrecht allerdings „ungerechtfertigt beschränkt“, weil die streitige Verordnung erlassen wurde, „ohne ihm irgendeine Garantie zu geben, dass er sein Anliegen den zuständigen Stellen vortragen
kann, und dies in einer Situation, in der die Beschränkung
seiner Eigentumsrechte im Hinblick auf die umfassende Geltung und effektive Dauer der gegen ihn verhängten Restriktionen als erheblich betrachtet werden muss.“ (Rn. 369). Die
Verletzung des materiellen Eigentumsgrundrechts stellt sich
im konkreten Urteil somit als unmittelbare Folge der Verletzung des primär prozeduralen Grundrechts auf effektiven
Rechtsschutz dar.
4. Rechtsfolge: Personell beschränkte und aufschiebend
befristete Nichtigkeit
Beim Ausspruch der Rechtsfolge verlässt den EuGH der Mut,
den er mit der grundsätzlichen Eröffnung der Prüfungsbefugnis auch gegenüber solchen Maßnahmen, die inhaltlichgleich
Resolutionen des VN-Sicherheitsrates wiedergeben und „umsetzen“, bewiesen hat. Denn obwohl der EuGH jedenfalls in
Bezug auf den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes erkannt hat, dass der Verstoß schon in der abstrakten Verordnung und nicht erst in ihrer konkreten Anwendung zu sehen
ist, beschränkt er die Nichtigkeit der Verordnung auf die
Rechtsmittelführer. Grundsätzlich dagegen wirken Nichtigkeitsurteile nach Art. 231 Abs. 1 EGV dagegen erga omnes.5
Außerdem hat der EuGH von seiner Befugnis nach Art. 231
Abs. 2 EGV Gebrauch gemacht, die Nichtigkeit der Verordnung (soweit sie die Rechtsmittelführer betrifft), aufschiebend zu befristen: Weil die Nichtigkeit allein auf Verfahrensfehlern beruht, so der ductus des EuGH, lasse sich nicht ausschließen, dass sich die Anordnungen gegenüber den Rechtsmittelführern in der Sache gleichwohl als gerechtfertigt erweisen können. Dem Rat steht deshalb nun ein Zeitraum
von drei Monaten zur Verfügung, in dem er die festgestellten
Verstöße heilen kann. Bis zum Ablauf dieser Frist bleibt die
Verordnung auch gegenüber den Rechtsmittelführern gültig.
Eine solch weitgehende Heilungsmöglichkeit erscheint unangemessen und wird dem Grundsatz auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz weder abstrakt noch im konkreten Fall
gerecht. Eine Heilung innerhalb der Gerichtsverfahren vor dem
EuG und dem EuGH mag sinnvollerweise in Betracht kommen; eine Heilungsmöglichkeit darüber hinaus schwächt die
praktische Bedeutung des Verfahrensgrundrechts erheblich
ab und führt vor allem nicht zur Rechtssicherheit und zum
Rechtsfrieden. Denn die nachgetragenen Gründe können ihrerseits zu einem neuen Rechtsstreit führen. Schon deshalb setzt
das Urteil des EuGH eben nur einen vorläufigen Schlussstrich unter diesen Rechtsstreit.
Prof. Dr. Matthias Rossi, Augsburg
5
Statt vieler Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV,
4. Aufl. 2007, Art. 231 Rn. 2 m.w.N.
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BGH, Urt. v. 10.6.2008 – 5 StR 38/08
Brüning
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E nt s ch ei d ung s a n me r ku ng
Beweisantragsrecht – Zum Konnexitätserfordernis bei
fortgeschrittener Beweisaufnahme
1. Ein Beweisantrag i.S.d. § 244 Abs. 6 StPO liegt nur
dann vor, wenn die Konnexität zwischen Beweisbehauptung und Beweismittel besteht (nicht-amtlicher Leitsatz).
2. Zum Erfordernis der Konnexität zwischen Beweisbehauptung und Beweismittel in einem Beweisantrag bei
fortgeschrittener Beweisaufnahme, welche die Wahrnehmungssituation des benannten Zeugen eingeschlossen hat.
3. Bei fortgeschrittener Beweisaufnahme kann sich der
Anspruch auf weitere Beweiserhebung nur auf eine Ausweitung oder Widerlegung, nicht aber auf eine bloße
nicht weiter ergiebige Wiederholung des bisher erhobenen Beweisstoffs beziehen. Die Darlegung der Eignung
des Begehrens für eine weitere Sachaufklärung hat auf
der Grundlage des bisherigen Beweisergebnisses zu erfolgen und kann beim Zeugenbeweis die Darlegung der
Wahrnehmungssituation des Zeugen erfordern (nichtamtlicher Leitsatz).
StPO § 244 Abs. 3, Abs. 6
BGH, Urt. v. 10.6.2008 – 5 StR 38/08 (LG Berlin)
I. Einleitung
Die zum Abdruck in der amtlichen Sammlung vorgesehene
Entscheidung behandelt ein Problem aus dem in den
§§ 244 ff. StPO geregelten Beweisantragsrecht. Im Kern geht
es um die Frage, welche Anforderungen an die sog. Konnexitätsvoraussetzungen zu stellen sind.
Gem. § 244 Abs. 2 StPO hat das Gericht eine sog. Aufklärungspflicht. Das bedeutet, über alle Tatsachen, die für
eine Entscheidung relevant sind, muss Beweis erhoben werden.
Trotz der Aufklärungspflicht des Gerichts haben auch die
übrigen Verfahrensbeteiligten – insbesondere die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung – das Recht, mit Anträgen
und Anregungen Einfluss auf die Beweisaufnahme zu nehmen. Dabei ist der Beweisantrag vom sog. Beweisermittlungsantrag und der Beweisanregung zu unterscheiden. Diese
Differenzierung ist deswegen wichtig, weil unterschiedliche
Anforderungen an eine Ablehnung eines Beweisantrages
einerseits bzw. eines Beweisermittlungsantrages oder einer
Beweisanregung andererseits gestellt werden. Während der
Vorsitzende über Beweisanregungen oder Beweisermittlungsanträge gem. § 238 Abs. 1 StPO formlos entscheiden
kann, können Beweisanträge nur durch einen Gerichtsbeschluss abgelehnt werden und auch nur dann, wenn einer der
in §§ 244 Abs. 3 bis 5, 245 StPO abschließend genannten
Ablehnungsgründe vorliegt.1
Ein Beweisantrag ist das Verlangen des Antragstellers,
über eine bestimmte, die Schuld und Rechtsfolge betreffende
1
Beulke, JuS 2006, 597 (599).
Tatsachenbehauptung mit einem gesetzlich bestimmten Beweismittel Beweis zu erheben.2
Die Beweiserhebung darf nicht in das Ermessen des Gerichts gestellt werden. Im Gegensatz dazu wird mit der Beweisanregung dem Gericht lediglich nahegelegt, einen Beweis zu erheben. Die Beweisanregung unterscheidet sich also
vom Beweisantrag ausschließlich in der Intensität des Begehrens. In zeitlicher Hinsicht können die Beweisanträge auch
noch nach Abschluss der Beweisaufnahme (§ 258 StPO) bis
zum Beginn der Urteilsverkündung gestellt werden. Aus
diesem Grund darf ein Beweisantrag nach § 246 StPO nicht
wegen verspäteten Vorbringens zurückgewiesen werden.
Der Beweisantrag muss weiter eine bestimmte Beweisbehauptung enthalten. Dies verlangt zunächst, dass der Antrag
eine Tatsachenbehauptung aufstellt, d.h. erkennbar – sei es
nur im Wege der Auslegung – auf die Feststellung einer vergangenen oder gegenwärtigen Tatsache gerichtet ist. Ferner
muss das Beweisthema bestimmt bezeichnet werden, d.h. es
sind stets die konkreten Umstände oder Geschehnisse anzugeben, zu denen das Beweismittel etwas belegen kann. Darüber hinaus muss der Antragsteller die zu beweisende Tatsache als feststehend behaupten. Dies setzt nicht voraus, dass er
von der Wahrheit der behaupteten Tatsache überzeugt ist.
Ausreichend ist, wenn er diese Tatsache lediglich vermutet
oder nur für möglich hält. Nicht genügend sind dagegen sog.
Behauptungen ins Blaue, wobei der 3. Senat des BGH vor
kurzem diesbezüglich systematische Bedenken erhoben hat,
die Problematik allerdings nicht weiter vertiefte, weil sie nicht
entscheidungserheblich war.3
Schließlich muss der Beweisantrag ein bestimmtes Beweismittel des Strengbeweisverfahrens bezeichnen. In Betracht kommen folglich nur Zeugen, Sachverständige, Urkunden und
Augenschein.
Im Unterschied zum Beweisantrag fehlt dem Beweisermittlungsantrag die Behauptung einer bestimmten Beweistatsache oder die Bezeichnung eines bestimmten Beweismittels.
Ein Beweisermittlungsantrag liegt demnach vor, wenn der
Antragsteller vom Gericht verlangt, in bestimmter Weise
ermittelnd tätig zu werden.
Der BGH hat in einer Leitentscheidung aus dem Jahr
1993 als weitere Voraussetzung für das Vorliegen eines Beweisantrages das Merkmal der Konnexität entwickelt. Danach liegt ein Beweisantrag nur dann vor, wenn ein Konnex
zwischen Beweistatsache und Beweismittel erkennbar ist.4
Dies folge letztlich aus der Notwendigkeit, dem Gericht eine
sinnvolle Prüfung der in §§ 244 f. StPO normierten Ableh2
Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, Kommentar, 51. Aufl.
2008, § 244 Rn. 18; vgl. zu den Voraussetzungen Beulke, JuS
2006, 597; Ellenbogen, JA 2007, 880; Beispiel: Zum Beweis
der Tatsache, dass sich der Angeklagte am 5.7.2008 in der
Wohnung, Jungiusstraße 6, 20355 Hamburg, von 14 bis 16
Uhr aufgehalten hat, beantrage ich die Vernehmung des Zeugen Max Mustermann.
3
BGH StV 2008, 9 (10).
4
BGHSt 40, 3 (6); (genau genommen hat der BGH in dieser
Entscheidung nur negativ formuliert, unter welchen Umständen keine Konnexität vorliegt).
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ZJS 5/2008
554
BGH, Urt. v. 10.6.2008 – 5 StR 38/08
Brüning
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nungsgründe zu ermöglichen.5 Ist diese Voraussetzung nicht
erfüllt, so liegt kein Beweisantrag, sondern lediglich ein formlos zu bescheidender Beweisermittlungsantrag vor.
Dieses Kriterium der Konnexität ist im Schrifttum teilweise auf heftige Kritik gestoßen.6 Gleichwohl hat es sich in
der Rechtsprechung durchgesetzt und auch in der Literatur
viele Anhänger gefunden.7
In Fällen des Zeugenbeweises verlangt das Konnexitätserfordernis, dass das Beweisbegehren erkennen lassen muss,
aus welchem Grund der Zeuge etwas zu dem Beweisthema
bekunden können soll.8 Dabei soll es ausreichen, wenn der
Konnex zwischen Beweismittel und Beweistatsache in Umrissen erkennbar ist.9 Insoweit wurde im Schrifttum darauf
hingewiesen, dass sich in den meisten Fällen besondere Ausführungen zu einem solchen Zusammenhang erübrigten, weil
schon der Beweisantrag diesen Zusammenhang ersehen ließe.10
Mit der hier zu besprechenden Entscheidung hat der 5. Senat
des BGH die Anforderungen an das Konnexitätserfordernis
beim Zeugenbeweis allerdings deutlich verschärft.
II. Die Entscheidung
1. Sachverhalt
Aufgrund eines Streits stach der Angeklagte A dem Nebenkläger mit einem Messer in den Bauch. Dabei hatte ihm der
Mitangeklagte H zugerufen: „Steche ihn mit dem Messer.“
Die Verletzung des Nebenklägers machte eine operative
Inspektion der Bauchhöhle erforderlich. Der Vater der Angeklagten, I, besuchte den Nebenkläger mehrfach im Krankenhaus und trug die Bitte vor, die Anzeige aufgrund des freundschaftlichen Verhältnisses beider Familien zurückzuziehen.
Dieser Bitte hat der Nebenkläger jedoch nicht entsprochen.
Bei seinen Besuchen wurde I teilweise von E und L begleitet.
Das LG hat zunächst den I und sodann den E als Zeugen
vernommen. Im Anschluss an die letzte Vernehmung am
dritten Verhandlungstag haben die Verteidiger beantragt, den
Zeugen L zu laden. Dieser solle bekunden, den Nebenkläger
besucht zu haben, wo ihm dieser „aus freien Stücken gesagt
hat, A und H haben ihm nicht die Stichverletzungen zugefügt“. Diesen Antrag hat das LG mit folgender Begründung
abgelehnt: I habe den Nebenkläger sowohl in Gegenwart des
Zeugen E als auch des Zeugen L besucht, wobei I die in dem
Beweisantrag behauptete Äußerung des L nicht bestätigte. Es
bestünden daher keine Anhaltspunkte dafür, ob, wann und
unter welchen Umständen die in dem Beweisantrag behauptete Äußerung des Nebenklägers gegenüber dem Zeugen L
5
BGHSt 40, 3 (6); Widmaier, NStZ 1994, 248.
Vgl. Herdegen, in: Pfeiffer (Hrsg.), Karlsruher Kommentar
zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz
mit Einführungsgesetz, 5. Aufl. 2003, § 244 Rn. 48 m.w.N.
7
Meyer-Goßner (Fn. 2), § 244 Rn. 21; Senge, NStZ 2002,
225 (231).
8
BGH NStZ 2000, 437 (438).
9
Widmaier, NStZ 1994, 248 m.w.N. in Fn. 4.
10
Gollwitzer, in: Rieß (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 25. Aufl.
1998, § 244 Rn. 107.
6
erfolgt ist. Daher handele es sich um ein Beweisverlangen ins
Blaue hinein, dem nicht nachzukommen sei.
Die Antragsteller hatten zuvor die Gelegenheit zur Ergänzung
des Beweisantrages nicht wahrgenommen.
2. Rechtliche Würdigung
Der BGH stimmt der Vorinstanz zu und meint, die Ablehnung des Beweisantrages enthalte keine Rechtsfehler. Er
nimmt an, dass es an einer bestimmten Beweisbehauptung
fehlt, weil keine ausreichende Konnexität dargelegt worden
sei.
Der BGH konkretisiert seine bisherige Rechtsprechung
zur Konnexität dahingehend, dass sich der Anspruch auf eine
weitere Beweiserhebung bei fortgeschrittener Beweisaufnahme nur auf eine Ausweitung oder Widerlegung des bisher
erhobenen Beweisstoffs beziehen kann, nicht aber auf eine
bloße Wiederholung. Die Darlegung der Eignung des Begehrens für die weitere Sachaufklärung müsse auf der Grundlage
des bisherigen Beweisergebnisses erfolgen. Der Beweisantragsteller begebe sich dabei in eine Art Dialog über die Eignung und die Notwendigkeit der erstrebten Beweiserhebung.
In Abhängigkeit von der bei Antragstellung vorgefundenen
und darin einzubeziehenden Beweislage müsse die Wahrnehmungssituation des benannten Zeugen in einem Beweisantrag konkret genug bezeichnet werden. War eine von mehreren möglichen Wahrnehmungssituationen bereits Gegenstand der Beweisaufnahme, so reiche die abstrakte Beschreibung der Wahrnehmungssituation – Krankenhausbesuch –
nicht aus. Die Tatsache, dass die Zeugen I und E die behauptete Bekundung nicht bestätigten, obgleich sie bei einem
Besuch des L anwesend waren, erfordere, dass der Antragsteller die konkrete Wahrnehmungssituation beschreibe,
etwa ob die behauptete Äußerung während eines anderen
Besuches erfolgte oder während die anderen Zeugen das
Krankenzimmer verließen.
III. Bewertung
Mit diesem Urteil setzt der BGH seine Rechtsprechung zum
Konnexitätserfordernis fort und verschärft die Anforderungen
an einen Beweisantrag bei fortgeschrittener Beweisaufnahme.
Während es früher ausreichte, dass der Konnex zwischen
Beweismittel und Beweistatsache in Umrissen erkennbar ist,
verlangt der BGH nunmehr die Darlegung der konkreten
Wahrnehmungssituation unter Berücksichtigung des bisherigen Beweisergebnisses. Dieser Tendenz ist mit Skepsis zu
begegnen.
Auch wenn man auf den ersten Blick mit der Entscheidung sympathisiert, weil nicht recht nachzuvollziehen ist, aus
welchem Grund die Verteidigung den Beweisantrag trotz
Aufforderung nicht konkretisiert hat, so vermag die Begründung des BGH nicht zu überzeugen. Zum einen kollidiert die
Forderung des BGH, dass bei fortgeschrittener Beweisaufnahme die Wahrnehmungssituation des Zeugen geschildert
werden muss, mit dem in § 246 Abs. 1 StPO normierten
Rechtsgedanken. Zum anderen bewirkt das Urteil letztlich
eine Umkehr der Begründungspflicht und verabschiedet sich
von der Bindungswirkung der in § 244 Abs. 3 bis 5 StPO
normierten gesetzlichen Ablehnungsgründe.
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BGH, Urt. v. 10.6.2008 – 5 StR 38/08
Brüning
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Nach § 246 StPO darf der Beweisantrag nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass er zu spät gestellt wurde.
Das bedeutet, dass der Zeitpunkt der Antragstellung grundsätzlich ohne Relevanz ist. Denn eine Präklusionswirkung
verträgt sich nicht mit dem Grundsatz einer erschöpfenden
Sachverhaltsaufklärung. Dieser Rechtsgedanke wird aber
unterlaufen, wenn an das Vorliegen eines Beweisantrages bei
fortgeschrittener Beweisaufnahme – also zu einem späteren
Zeitpunkt – strengere Voraussetzungen gestellt werden. Im
Übrigen vernachlässigt eine Steigerung der Voraussetzungen
der Konnexität bei fortschreitender Beweisaufnahme das
Wesen der Hauptverhandlung als eines sich lebendig entwickelnden Prozessgeschehens, das sich der exakten Vorausplanung entziehen muss. „Eine Hauptverhandlung, die in
einen derartigen Planungspanzer eingeengt ist, verliert ihren
Gehalt als konzentriertes und lebendiges Bemühen um die
Wahrheitsfindung.“11
Ferner verlagert das Urteil die Darlegungslast im Beweisantragsrecht. Ein Beweisantrag darf nur aus den in § 244
Abs. 3 bis 5 StPO abschließend normierten Gründen abgelehnt werden. Zwar hat der BGH angedeutet, dass es außerordentliche Fallkonstellationen geben mag, in denen sich die
Stellung eines Beweisantrages als grober Missbrauch der
verfahrensrechtlichen Befugnis darstellt, mit der Folge, dass
der Beweisantrag jenseits der gesetzlichen Ablehnungsgründe
als unzulässig zurückgewiesen werden kann.12 Auf diese
Rechtsmissbräuchlichkeit hat sich der BGH im vorliegenden
Fall aber gar nicht gestützt, sondern dem Antrag vielmehr die
Qualität eines Beweisantrages abgesprochen. Dies hat zur
Folge, dass es auf das Vorliegen eines Ablehnungsgrundes
nicht mehr ankommt, da über einen Beweisermittlungsantrag
formlos entschieden werden kann. Indem die Rechtsprechung
das Konnexitätserfordernis erfand, hat sie also eine Möglichkeit geschaffen, Anträge ablehnen zu können, ohne das Vorliegen eines Ablehnungsgrundes prüfen zu müssen.
Unabhängig davon, ob man die Kritik an dem Konnexitätserfordernis teilt, dürfen jedoch an das Vorliegen dieser
ungeschriebenen Voraussetzung keine überspitzten Anforderungen gestellt werden. Insbesondere darf das Konnexitätserfordernis nicht dazu führen, dass die hohen Anforderungen,
die das Gesetz an die Ablehnung eines Beweisantrages stellt,
unterlaufen werden. Dies gilt vor allem für den Ablehnungsgrund der Prozessverschleppung und der Ungeeignetheit.
Will der Antragsteller vermeiden, dass das Gericht seinen
Antrag mangels Konnexität zum Beweisermittlungsantrag
herabstuft, so muss er letztlich das Nichtvorliegen des Ablehnungsgrundes der Ungeeignetheit vortragen.
War bereits eine (von mehreren) der in Betracht kommenden Wahrnehmungssituationen Gegenstand der Beweisaufnahme, so verlangt der BGH, dass der Antragsteller die
Eignung des Begehrens für die weitere Sachaufklärung darlegen muss. Damit bürdet der BGH dem Antragsteller die Darlegungslast für das Vorliegen eines Beweisantrages auf. Diese gesteigerte Darlegungspflicht lässt sich im Grunde nur
11
12
Widmaier, NStZ 1994, 414 (417).
BGH NStZ 1986, 371.
damit erklären, dass das Gericht die Beweisbehauptung eigentlich aufgrund der vorangegangenen Beweisaufnahme
schon als widerlegt ansieht und den später beantragten Beweis als „wertlos brandmarkt“13. Dies aber lässt sich nicht
mit dem Verbot der Beweisantizipation in Einklang bringen,
das eine vorweggenommene Beweiswürdigung untersagt.14
IV. Fazit
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der BGH
mit der vorliegenden Entscheidung erneut eine Möglichkeit
sucht und findet, um den strengen Anforderungen der gesetzlichen Beweisablehnungsgründe auszuweichen.
Vor dem Hintergrund, dass die Befugnis, Beweisanträge
zu stellen, Ausfluss des grundgesetzlich geschützten Anspruchs auf rechtliches Gehör ist, bestehen gegenüber dieser
Entwicklung der Rechtsprechung erhebliche Vorbehalte. Dies
gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass der Beschuldigte im
Ermittlungsverfahren keine Möglichkeit hat, auf den Gang
der Ermittlungen durch Beweisanträge Einfluss zu nehmen.15
Berücksichtigt man die prägende Kraft des Ermittlungsverfahrens für den Ausgang des Hauptverfahrens, so besteht ein
starkes Interesse der Verteidigung, jedenfalls in der Hauptverhandlung durch Beweisanträge Einfluss auf die Wahrheitserforschung nehmen zu können. Dieses Recht darf nicht
durch gesetzlich nicht festgeschriebene Einschränkungen
ausgehöhlt werden.
Wiss. Assistentin Dr. Janique Brüning, Hamburg/Greifswald
13
So Eidam, demnächst in JR 2008 (im Erscheinen).
Ein Verstoß gegen das Verbot der Beweisantizipation sieht
auch Eidam (Fn. 13) und tendenziell auch Eisenberg, in ZIS
9/2008 (im Erscheinen).
15
Vgl. auch Eisenberg (Fn. 14).
14
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556
Jakob, Einkommensteuer
Meininghaus
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B uc hre ze ns io n
Wolfgang Jakob, Einkommensteuer, 4. Aufl., Verlag C.H.
Beck (Studium und Praxis), München 2008, 512 S., br.,
€ 29.In nunmehr 4. Auflage stellt sich Jakob dem Kampf mit der Hydra
des Deutschen Einkommensteuerrechts. Seit der letzten Auflage sind rund 5 Jahre vergangen und zwischenzeitlich hat sich
– wie der Verfasser in seinem Vorwort (S. V) trefflich anmerkt – eine wahre „Neuerungsflut“ in Hinblick auf Gesetzgebung und Rechtsprechungsänderungen über das Einkommensteuergesetz gebreitet. Dem ist es wohl geschuldet, dass
das Buch deutlich im Umfang (rund 100 S.) gewachsen ist
und – nicht immer zur Erhöhung der Lesbarkeit – weitere
Ausführungen in den „Kleindruck“ bzw. die Fußnoten verbannt wurden.
„Einkommensteuer“ erscheint gewohnt in der Reihe „Studium und Praxis“. Jakob ist schon insofern ein singuläres Werk
gelungen, als dass er tatsächlich Wort hält und die Bedürfnisse des Studierenden, der sich erstmals an diese komplexe Materie heranwagt, gleichermaßen befriedigt wie die des schnell
ratsuchenden Praktikers. Der Spagat gelingt vor allem wegen
der ungemein systematischen Herangehensweise, die dem Leser nach einer jeweils sorgfältigen Aufarbeitung der einkommensteuerrechtlichen Grundfragen auch schwierige Problemstellungen rasch näher bringt. Das alles geschieht mit dem
unverkennbar frischen Schreibstil Jakobs. Seine Ausführungen sind durchgängig mit anschaulichen Beispielen durchsetzt.
Besonders wichtige Fallkonstellationen oder einprägenswerte
Aussagen sind zudem in Kästen hervorgehoben.
Nach einer historischen und verfassungsrechtlichen Standortbestimmung (§ 1) sowie einer Schilderung des „Bausystems des Einkommensteuergesetzes“ (§ 2), die von einer sehr
eingängigen Darstellung der Einkünftequalifikation dominiert
wird, erreicht das Buch seine beiden Hauptkapitel: Der Analyse der Überschusseinkünfte (§ 3) folgt die der Gewinneinkünfte (§ 4).
Jakob hat bei den Überschusseinkünften aus Kapitalvermögen (Rn. 376 ff.) ebenso wie bei der Darstellung der Körperschaft im Einkommensteuerrecht (§ 6 C, Rn. 1138 ff.) und
anderen relevanten Stellen das Unternehmenssteuerreformgesetz 2008 bereits vollständig berücksichtigt. Sorgfältig werden hier die tief greifenden Änderungen mit der bisherigen
Rechtslage verglichen. Diese Stellen sind besonders in Zukunft
für Steuerrechtsnovizen interessant, die sich, ohne ein großes
Quantum an Lesezeit investieren zu müssen, einen raschen
Überblick über die alte Rechtslage verschaffen wollen.
Scheinbar stiefmütterlich im Vergleich zu anderen Büchern
zum Einkommensteuerrecht wird der doch so relevante § 4
Abs. 3-Rechner (Rn. 930 ff.) knapp am Ende des Kapitels Gewinneinkünfte (§ 4) behandelt. Dieses vermeintliche Paradoxon löst Jakob gleichermaßen bestimmt aber auch richtig –
„nur wer § 4 Abs. 1 versteht, versteht auch § 4 Abs. 3“ (Rn. 930).
Entsprechend engagiert geht der Verfasser die Darstellung
der Gewinnermittlung nach §§ 4 Abs. 1, 5 EStG an. Das
Ergebnis kann sich sehen lassen. Der von Jakob in seine
Ausführungen integrierte Kurs zur Buchführung und Bilan-
zierung ist didaktisch toll gelungen. Lässt man sich nur auf
seine Ausführungen ein, ist diese Technik – wie von ihm versprochen (Rn. 624) – tatsächlich viel leichter zu erlernen als
man zunächst glaubt.
Entsprechend der einkommensteuerrechtlichen Prüfungsreihenfolge schließt sich ein weiteres Kapitel (§ 5) zur Erfassung der subjektiven Leistungsfähigkeit an. Abgerundet wird
das Werk durch die bereits erwähnte Darstellung der Gesellschaften im Einkommensteuerrecht (§ 6) und eine Anleitung
zur Handhabung internationaler Sachverhalte (§ 7).
Schlussendlich kann nur ein uneingeschränkt positives
Fazit gezogen werden. Das Buch ist vorzüglich zur Vorbereitung auf den Schwerpunktbereich Steuerrecht geeignet. Jakob
gibt mit großer Sachkunde und Gelassenheit bereitwillig zu
allen examensrelevanten Problemen des Einkommensteuerrechts Auskunft. Auch dem Kreis derer, die nicht täglich mit
diesem Rechtsgebiet konfrontiert sind, sich aber dennoch einen
gewisses steuerrechtliches Grundwissen aneignen wollen, ist
dieses Werk wärmstens zu empfehlen.
Ref. iur. Dr. Florian Meininghaus, Diplom-Jurist (Univ.),
Regensburg
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557
Richard H. Fallon, Jr., The Dynamic Constitution – An Introduction to American Constitutional Law
Lange
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B uc hre ze ns io n
Richard H. Fallon, Jr., The Dynamic Constitution – An
Introduction to American Constitutional Law, 1. Aufl., Cambidge University Press, Cambridge 2005, 358 S., br., ca. € 22.Auch die Rechtswissenschaft kommt um einen Blick über
den nationalen Tellerrand schon längst nicht mehr herum.
Dabei rückt nicht nur zwangsläufig das Völker- und vor allem das Europarecht, welche die deutsche Rechtsordnung in
erheblichem Maße mit prägen, in das Blickfeld. Auch ein
Seitenblick auf die nationale Rechtsordnung anderer Staaten
ist lohnenswert und dementsprechend auch schon in der juristischen Ausbildung erwünscht und gefordert.1 Die Rechtsordnung der Vereinigten Staaten von Amerika bietet sich
dabei als Vergleichsobjekt an, da die USA zwar ebenso wie
die Bundesrepublik unzweifelhaft zur Gruppe „westlicher“,
freiheitlich verfasster Demokratien gehören, sich die kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Vorzeichen aber mitunter deutlich von denen Deutschlands unterscheiden.
Richard H. Fallon, Jr., Professor an der Harvard Law
School, hat ein Buch vorgelegt, das „intelligenten Lesern“ –
so das Vorwort –, die (noch) keine Juristen sind, eine Einführung in das amerikanische Verfassungsrecht bieten soll. Aus
diesem Grund ist das Buch vergleichsweise knapp gehalten
und in einem nicht-juristischen Stil verfasst. Damit ist das
Programm des Buchs umrissen. Es ist klargestellt, dass Fallons Buch keine umfassende Abhandlung sein will, sondern
sich bewusst darauf beschränkt, eine Einführung zu geben.
Aus dieser Zielsetzung ergibt sich, dass etliche Fragestellungen gänzlich ausgeklammert werden müssen oder lediglich
am Rande erwähnt sind. So finden sich etwa keine Ausführungen zum Zweiten Verfassungszusatz und dem damit verbundenen Recht auf Waffenbesitz oder zur Todesstrafe. Derartige Auslassungen sind jedoch keine Schwäche des Buchs.
Im Gegenteil, es gelingt Fallon durchgehend, seinem Programm
treu zu bleiben und eine prägnante, auf die wesentlichen Strukturen beschränkte Einführung zu geben.
Das Buch beginnt mit einem Prolog, in welchem vor dem
Hintergrund der Entscheidung des Supreme Court zu den Nachzählungen in Florida anlässlich der Präsidentenwahl im Jahr
20002 einige erste Thesen zum amerikanischen Verfassungsrecht aufgestellt werden. In der folgenden Einführung wird in der
jeweils gebotenen Kürze die Entstehungsgeschichte der amerikanischen Verfassung sowie ihr Aufbau, die grundlegende
Entscheidung Marbury v. Madison3, in welcher der Supreme
Court erstmals für sich ein Normenkontrollrecht in Anspruch
nahm, sowie die Geschichte der Rechtsprechung des Supreme
1
So etwa in § 7 Abs. 1 Nr. 3 NWJAG, der für die Zulassung
zur staatlichen Pflichtfachprüfung die erfolgreiche Teilnahme
an einer fremdsprachigen rechtswissenschaftlichen Veranstaltung oder einem rechtswissenschaftlich ausgerichteten
Sprachkurs zur Voraussetzung macht. Auch bieten schon
heute etliche Fakultäten besondere fremdsprachliche Programme an.
2
Bush v. Gore, 531 U.S. 98 (2000).
3
5 U.S. 137 (1803).
Court beschrieben und zudem erstmals die Frage angerissen,
wie denn die Verfassung auszulegen ist und welche Rolle dabei „politische“ Erwägungen spielen (dürfen).
Im in drei Abschnitte untergliederten Hauptteil widmet
sich Fallon zunächst ausgewählten Grundrechten (Redefreiheit, Religionsfreiheit, Schutz ökonomischer Freiheiten, prozedurale Rechte, „Fundamental Rights“ und „Equal Protection“), beleuchtet anschließend die drei Staatsgewalten und setzt
sich daraufhin mit Einzelfragen auseinander, die sich seiner
Ansicht nach nicht eindeutig einem der vorangegangenen
Abschnitte zuordnen lassen, wie etwa dem Wahlrecht, der
Verfassung in Zeiten von Krieg und Notstand oder strukturellen Begrenzungen der Rechte der Bundesstaaten. Das Buch
schließt mit einem Abschnitt, in welchem er die vorangegangenen Kapitel in Thesenform zusammenfasst. Im Anhang ist
zudem die Verfassung selbst abgedruckt.
Zu Fallons oben wiedergegebenem Programm gehört es,
die verfassungsrechtliche Praxis darzustellen. Dementsprechend
wird nicht der nackte Verfassungstext analysiert, sondern
anhand seiner Entstehungsgeschichte und Auslegung durch den
Supreme Court erörtert. Bei dabei auftretenden Streitfragen
bezieht der Autor zumeist nicht selbst Stellung, sondern zeigt
lediglich die dazugehörigen Argumente und Fragestellungen
auf. Auch dies gehört zum Programm des Autors, der davon
ausgeht, dass es im amerikanischen Verfassungsrecht weit
weniger einfache Wahrheiten gibt als gemeinhin angenommen wird und der das Verfassungsrecht dementsprechend als
argumentatives Fach begreift und den Leser folgerichtig
durch seine neutrale Darstellung zu eigenständiger Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Argumenten und Fragen
anregen will. So erklärt es sich auch, dass sich im Abschnitt
über die drei Gewalten keine in die technischen Einzelheiten
gehenden Ausführungen zu Wahl, Zusammensetzung und
Arbeitsweise des Kongresses, der Administration oder der
Bundesgerichtsbarkeit finden. Auch hier wendet sich Fallon
unmittelbar strukturelleren Fragen zu, etwa den Gesetzgebungskompetenzen des Kongresses unter der „Commerce
Clause“ oder den Grundlagen und der Reichweite richterlicher Entscheidungsgewalt. Ebenso stehen im grundrechtlichen Teil die schwierigen und häufig erbittert umstrittenen
Fragestellungen im Vordergrund, etwa bei der Frage nach der
Reichweite von Rede- oder Religionsfreiheit, den Rechten
von Afroamerikanern oder Homosexuellen oder der Anerkennung „fundamentaler Rechte“ wie beispielsweise dem auf
Abtreibung. Schon der Titel des Buchs lässt allerdings erahnen, dass Fallon in einer Frage doch von seiner neutralen
Darstellungsweise abrückt und Farbe bekennt, nämlich in der
umstrittenen Frage, ob bei der Auslegung der Verfassung von
einem originalistischen Ansatz auszugehen ist, der allein den
Wortlaut der Verfassung und dessen ursprüngliche, ihm von
den Verfassungsvätern beigemessene, Bedeutung als maßgeblich ansieht4, oder ob die Auslegung dynamisch sein und
auch dem im Verlauf der nunmehr über 200 Jahre währenden
Geschichte der US-Verfassung aufgetretenen Wandel der
4
Die derzeit wohl prominentesten Vertreter dieser Auffassung sind die Supreme Court-Richter Antonin Scalia und
Clarence Thomas.
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558
Richard H. Fallon, Jr., The Dynamic Constitution – An Introduction to American Constitutional Law
Lange
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Verhältnisse Rechnung tragen sollte. Fallon bekennt sich zur
pragmatischen Auffassung und verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Rolle der durch den Supreme Court
geschaffenen Präjudizien.
Das Buch ist (wie schon der Titel verrät) auf Englisch geschrieben. Allerdings wird Fallon auch hier seiner Zielsetzung, sich einer verständlichen Sprache zu bedienen, gerecht und schreibt durchgängig in einem eingängigen, narrativen Stil, dem man mit einem belastbaren Schulenglisch ohne
weiteres zu folgen vermag. Sollten juristische Fachbegriffe
verwendet werden, werden diese erklärt.
Das Werk bietet also einen ebenso lesenswerten wie lesbaren, weil gut geschriebenen und auch vom Umfang her leserfreundlichen, Einblick in das amerikanische Verfassungsrecht.
Der Reiz der Lektüre liegt für den im deutschen Staatsrecht
vorgebildeten Leser zusätzlich darin, dass er viele Fragestellungen des deutschen Staatsrechts wieder erkennt und sie von
einer anderen Seite beleuchtet sieht. Das Buch ist, wie erwähnt, bewusst knapp gehalten. Ansprüchen an ein umfassendes Lehrbuch genügt es damit nicht – das will es aber
auch gar nicht. Seiner Zielsetzung, eine Einführung zu bieten,
wird Fallon jedoch vollends gerecht, denn gerade aufgrund
der Beschränkung auf die Grundstrukturen und des damit
verbundenen Ver-zichts auf verästelte Detaildarstellungen
treten diese umso deutlicher hervor.
Tammo Lange, Münster
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Rengier, Strafrecht – Besonderer Teil I, II
Kische
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B uc hre ze ns io n
Rudolf Rengier, Strafrecht – Besonderer Teil I: Vermögensdelikte. Verlag C.H. Beck, München 2008 (Grundrisse des Rechts),
409 S., kart., € 17,90.Rudolf Rengier, Strafrecht – Besonderer Teil II: Delikte gegen die Person und die Allgemeinheit. Verlag C.H. Beck, München 2008 (Grundrisse des Rechts), 522 S., kart., € 19,90.An der Vielzahl und auch Vielfalt strafrechtlicher (Kurz-)
Lehrbücher mangelt es sicher nicht. Dass sich unter diesen
Werken bereits eine Lehrbuchreihe in der 10. bzw. 9. Auflage
befindet, verdient besondere Beachtung. Wenngleich in der
Verlagswerbung als Zielgruppe immer noch ausdrücklich Studenten und Referendare angesprochen sind, dürften die Lehrbücher darüber hinaus auch für im strafrechtlichen Bereich
tätige Praktiker – Hilfe suchend nach dem Motto: „Wie war
das noch gleich?“ – als Nachschlagewerk durchaus von Nutzen
sein.
Über den Inhalt der beiden Lehrbücher wäre eine ganze
Menge anzumerken, was den hier gegebenen Umfang der Rezension jedoch deutlich sprengen würde. Die gegenüber den
Vorauflagen aus 2007 zeitnahen Neuerscheinungen waren unter anderem wegen des 41. StrÄndG vom 7.8.2007 erforderlich. Entsprechend konnte zugleich neuere ausbildungsrelevante, aber eben auch praxisbedeutsame Rechtsprechung und
Literatur bis Dezember 2007 berücksichtigt und an verschiedenen Stellen eingearbeitet werden. Die Lehrbücher vermitteln daher höchste Aktualität an der höchstrichterlich geprägten Ge-setzeslage im materiellen Strafrecht und dem Meinungsbild im strafrechtswissenschaftlichen Schrifttum. Die
nachfolgenden Ausführungen bemühen sich vordergründig
um eine Vor-stellung der wesentlichen Grundkonzeption der
beiden Werke, um dem einen oder anderen interessierten
Leser die „Qual der Wahl“ unter den angebotenen Lehrbüchern zum Besonderen Teil des Strafgesetzbuches etwas
abzunehmen.
Das Konzept von Rengier ist bereits aus den Vorworten
seiner Lehrbücher zu entnehmen. Sein Anliegen ist es nämlich, dem Leser eine didaktisch orientierte Mischung zwischen
systematischer und fallorientierter Darstellung „an die Hand
zu geben“. Ersteres drückt sich schon dadurch aus, dass die
jeweiligen Lehrbücher weitestgehend dem gesetzlichen Vorbild nachgestellt sind und dem Leser in der Tat ein schnelles
Nachschlagen ermöglichen. Inhaltlich liegt der Schwerpunkt
verständlicherweise auf denjenigen Delikten, die erfahrungsgemäß im Vordergrund sowohl der strafrechtlichen Ausbildung als auch der Rechtsanwendung liegen. Daneben ist es
aber die fallmethodische Vorgehensweise von Rengier, die
die Lehrbücher zu einem unverzichtbaren Bestandteil der
Vor- und/oder Nachbereitung einer strafrechtlich bedeutsamen Problematik macht. Allein schon durch die jedem Themengebiet bzw. einzelnen Straftatbeständen vorangestellten
Fälle sollen gleichermaßen Studienanfänger wie auch Fortgeschrittene dazu ermuntert sein, vorab ihren eigenen Wissensstand (oder auch ihr Rechtsgefühl) zu überprüfen. Dies hat
aus Sicht des Rezensenten zugleich den vorteilhaften Effekt,
dass die sich anschließenden rechtlichen Ausführungen auf den
Leser nicht nur abstrakt, sondern vielmehr lebendiger und
durch den auch unbewussten Rückgriff auf die „Fälle im Hinterkopf“ anschaulicher wirken. Wer dies als Leser ernst nimmt,
dem ist der Weg zu einem künftig besseren Strafrechtsverständnis bestens geebnet. Ein solches wächst nun einmal zuallererst durch die wiederholte und problemorientierte Auseinandersetzung des Stoffes anhand tatsächlicher Lebenssachverhalte.
Im Einzelnen gliedert sich ein Themengebiet bzw. ein
vorzustellender Straftatbestand nach einem stets wiederkehrenden und gleichfalls einprägsamen Muster: Nach den Grundlagen und Aufbaufragen mit einem empfohlenen Aufbauschema für das von Studierenden und Referendaren geforderte Gutachten mit vereinzelten wertvollen (Anschluss-)Hinweisen wird
regelmäßig der entsprechende Straftatbestand mit den Besonderheiten und einer ausgiebigen Diskussion von Problemfällen – unter umfänglicher Einbeziehung und Darsteerllung der
unterschiedlichen Meinungen von Rechtsprechung und Literatur – erörtert. Besonders vorteilhaft sind hierbei vielfache
Verweisungen auf speziell ausgewählte Fallbesprechungen in
den Ausbildungszeitschriften JA, Jura und JuS, deren Lektüre
– um es gleich vorwegzunehmen – neben der dieser Lehrbücher anzuraten ist. Abschließend werden noch Besonderheiten bei Versuch, Täterschaft und Teilnahme sowie Konkurrenzfragen zu anderen Tatbeständen benannt sowie ausgewählte „Empfehlungen zur vertiefenden Lektüre“ gegeben.
Der Nutzen der Lehrbücher lässt sich gar nicht genug
würdigen. Jedes Kapitel bietet dem gleichsam unerfahrenen
wie auch erfahrenen Leser – insbesondere durch den leicht
verständlichen Sprachstil – einen auf die wesentlichen Probleme komprimierten Überblick über den jeweiligen Straftatbestand. Gerade die Studierenden in den Anfangssemestern
dürfen aber keinesfalls erwarten, die bevorstehende Zwischenprüfung oder Fortgeschrittenenübung allein mit diesen Lehrbüchern bewältigen zu können. So sind es die von Rengier
unter didaktischen Gesichtspunkten mitgegebenen Empfehlungen zur vertiefenden Lektüre, die für das weitere Studium
(und gerade auch für die Referendarzeit, in der Kenntnisse
des materiellen Strafrechts einfach vorausgesetzt sind) befolgt werden sollten. Dies macht die Lehrbücher – so aus
Sicht des Rezensenten aus eigener Erfahrung – insbesondere
für fortgeschrittene Studierende und Referendare, die sich auf
die jeweiligen Examina allein oder in privater Arbeitsgemeinschaft vorbereiten wollen, besonders wertvoll. Auch Praktiker
sind hier nicht zu vergessen, denen durch die Werke von Rengier ein Kompendium an Basiswissen zur Seite steht. Sie
können daher als ideale Ergänzung zur herkömmlichen Kommentarliteratur herangezogen werden.
Die Lehrbücher von Rengier haben in den vergangenen
Jahren in unzähligen Rezensionen etliche Lobeshymnen
erfahren, denen ich mich nur anschließen kann und möchte.
Es fällt hierbei schwer, neues Lob hinzuzufügen und hierdurch neue Begeisterung zu erwecken. In der Juristenausbildung entscheidet bekanntlich der Übungs- bzw. Examensfall
über das Bestehen und Weiterkommen. Den Studierenden
und Referendaren sei versprochen, dass sie mit dem Rengier
dafür bestens gerüstet sind. Allen Lesern können die beiden
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Rengier, Strafrecht – Besonderer Teil I, II
Kische
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„Lehrbücher“ sehr wohl als profunde und systematisch aufgearbeitete Nachschlagewerke zum materiellen Strafrecht
dienen, die eine überzeugende Zusammenstellung der nahezu
in jedem Straftatbestand vorkommenden Problemkreise geben und damit auf erfreuliche Art und Weise zum vertieften
Selbststudium ermuntern.
Wiss. Mitarbeiter Sascha Kische, LL.M., Osnabrück
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Russack, Die Strafrechtliche Assessorklausur
Weber
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Marc Russack, Die Revision in der strafrechtlichen Assessorklausur, 2. Aufl. 2008, C.F. Müller Verlag, Heidelberg,
298 S., br., € 19.Die Suche des Rechtsreferendars nach Büchern ist stets auf
„examensrelevante Literatur“ gerichtet. Weil in allen Bundesländern auch revisionsrechtliche Themen im Bereich der
strafrechtlichen Klausuren und Aktenvorträge gestellt werden, ist es für jeden Rechtskandidaten unausweichlich sich
mit dem Revisionsrecht auseinander zu setzen. Beinahe wie
ein Privatrepetitor hat Marc Russack, Richter am OLG Düsseldorf, die revisionsrechtlichen Themen von etwa 65 Nordrheinwestfälischen Examensklausuren ausgewertet und stellt
seine Ergebnisse als langjähriger Referendar-Arbeitsgemeinschaftsleiter den Prüflingen in seinem Werk zur Verfügung.
Seit nunmehr vier Auflagen erhalten Referendare die Möglichkeit, auf die Erkenntnisse Russacks zurückzugreifen: Die
Revision in der strafrechtlichen Assessorklausur ist nunmehr
in neu bearbeiteter und aktualisierter Auflage erschienen.
In seinem unermüdlichen Streben nach Aktualität berücksichtigt der Autor zuletzt auch diejenigen Klausurinhalte, die
seit dem Erscheinen der ersten Ausgabe von den Prüfungsämtern gestellt wurden. Damit seien bis Anfang 2006 alle
Strafrechtsklausuren der letzten Jahre in die Darstellung des
Buchs eingeflossen. Wie man erfahren konnte, stand einer
noch größeren Aktualität einzig der Umstand entgegen, dass
diese Klausuren vom Prüfungsamt (LJPA) noch nicht zur
Veröffentlichung „freigegeben“ sind. Es scheint hingegen für
den Autor schon jetzt festzustehen: Die Analyse-Ergebnisse
freigegebener Klausuren werden in die nächste Ausgabe
einfließen. Wer Russack kennt, der weiß: Der Mann hält
Wort.
Das Konzept, auf dem das Buch beruht, überzeugt. Es
fußt im Wesentlichen auf zwei Überlegungen: Zum einen,
dass dem Prüfling in der Klausursituation nur zwei Kommentare zur Verfügung stehen; zum anderen, dass sich viele
Problemfragen wie immerwährende Mosaiksteine in den
Klausuren wiederfinden. So unterscheidet sich der Aufbau
maßgeblich von vielen anderen Lehrmaterialien. Indem Russack bereits von Prüfungsämtern gestellte Klausuren- und
Aktenvorträge auswertet, gelingt es ihm vortrefflich, die
maßgeblichen Themenschwerpunkte zu problematisieren und
für eine echte Examensrelevanz zu sorgen. Russack gewährt
dem Leser/Nutzer sozusagen „Einblicke in die Gewürzküche
der Prüfungsämter“. Dort werden in klassischer Manier einschlägige und nutzbare Revisionsfälle mit dem Rückgriff auf
bewährte Klausurprobleme gespickt, so dass im Ergebnis ein
scharf feuriges Problempotpourri entsteht. Immer mit dem
Fingerzeig auf die Taktik der Extraktion und den richtigen
Umgang mit gefundenen Problemen, erläutert der Verf. die so
auftretenden juristischen Fragestellungen und zeigt Lösungsmöglichkeiten auf, die im Ergebnis zum Klausurerfolg
führen müssen. Dabei wird er nicht müde, an vielen Stellen
auf die einschlägigen Kommentarstellen von Meyer-Goßner
und Fischer zu verweisen. Und das ist auch gut so: Denn
einzig diese beiden Kommentare liegen in der Prüfungssituation vor.
Wer den richtigen Umgang mit den Kommentaren pflegt,
übt nach Russack die Klausur-Probleme zeitnah und zur Zufriedenheit der Prüfer zu lösen. Daher erscheinen die Querverweise doppelt konstruktiv: Sie erleichtern die Einarbeitung in die Lösungen und stärken den Umgang mit den Kommentaren, die inhaltlich offenbar – jedenfalls für die Assessorprüfung und die Korrekturanweisungen – das non plus
ultra aus der Sicht der Landesjustizprüfungsämter darstellen.
Auflockernd wirken die zuweilen augenzwinkernden Kommentare des Autors: So belegt er beispielsweise in Rn 190a,
wie sich das LJPA anstrengte, um eine Kommentierung aus
Meyer-Goßners Rn. 15 zu § 275 StPO in den Klausurzusammenhang „einzupflegen“. Im Sachverhalt lief die FünfWochen-Frist am 12. Januar ab. Die Fristproblematik wurde
folgendermaßen in den Sachverhalt integriert: Der Berichterstatter erlitt auf dem Weg vom Gericht nach Hause einen
Fahrradunfall mit Beinbruch. Ergänzend habe es in einem
dem Klausurtext beigefügten Schreiben des Gerichts an die
Verteidigerin geheißen: „Das Urteil sei zum Unfallzeitpunkt
bereits begonnen, aber noch nicht fertig gestellt gewesen.
Unter normalen Umständen wäre die Fertigstellung noch am
Abend des 11. Januars erfolgt“.
Doch Russack leistet mit dem Buch noch mehr: Ihm gelingt der Spagat zwischen (zuweilen) abstrakt trockenem
Thema und einer angenehmen Lektüre, indem er mittels
gradliniger Sprache den Leser eine Problemlupe zur Verfügung stellt und mit Verweisen auf die o.g. Kommentare die
juristischen Probleme kurz, prägnant und gut verständlich
löst.
„Die Revision in der strafrechtlichen Assessorklausur“:
Ein notwendiger und hilfreicher Begleiter auf dem Weg zum
Examen. Neben vielen Aufbau- und Darstellungstipps enthält
das Lehrbuch zahlreiche Hinweise auf typische Klausurfehler
und Möglichkeiten ihrer Vermeidung. Auch vermitteln die
Ausführungen einen Eindruck von den Wahrnehmungen der
Prüfer und deren Benotungsprozess. Kauf und Durcharbeit
des Buches sind unbedingt empfehlenswert!
Rechtsanwalt Roman G. Weber, LL.M., Detmold
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Hellmann/Beckemper, Fälle zum Wirtschaftsstrafrecht
Weber
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Uwe Hellmann, Katharina Beckemper, Fälle zum Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 2008, Kohlhammer Verlag, Stuttgart, 155 S., kart., € 18.Wer die „Fälle zum Wirtschaftsstrafrecht“ von Uwe Hellmann und Katharina Beckemper, erschienen im Kohlhammer-Verlag, zur Hand nimmt, dem offenbaren sich in kurzer
Zeit die Parallelen zu einem Klassiker der strafrechtlichen
Juristenausbildung: den erfolgreichen Lehrbüchern von Volker Krey. Der für Krey typische Prüfungs- und LehrbuchAufbau-Stil in Gutachtenform zieht sich auch durch die Fälle
zum Wirtschaftsstrafrecht. In guter alter Manier wird in elf
Episoden das Spektrum des Wirtschaftsstrafrechts beleuchtet.
Gleich der erste Fall scheint dem aktuellen Wirtschaftsleben
im Süden der Republik entrissen, wenn es in der Sachverhaltsdarstellung darum geht, wie sich Vorstand und Mitarbeiter jeweils strafbar machten: Eine AG möchte im ausländischen Markt ihre Produkte absetzen. Der Vorstand stellt M
als Vertriebsleiter ein. Weder im Vorstand, noch in einem
Gespräch mit M wird der Umstand problematisiert, dass es in
China üblich sei, Geschäftsabschlüsse mit großen Zahlungen
zu „fördern“. M geht deshalb davon aus, er habe bei der Entscheidung über solche Zahlungen freie Hand. Um den Geldfluss zu verschleiern, bildet er sodann eine „schwarze Kasse“.
Hierzu schließt er mit dem selbständigen Unternehmensberater O einen Vertrag über Beratungstätigkeiten, die O allerdings nicht erbringen soll. Gegen einen Steuernachweis mittels Rechnung erhält O die Summe von 250.000 €, führt Umsatzsteuer ab, und überweist sie nach Abzug einer Provision
auf eine Konto, zu dem nur M eine Vollmacht hat. Das Geld
wird schließlich zur Bestechung an einen chinesischen Amtsträger überwiesen, der als Gegenleistung unter Verstoß gegen
geltende Einfuhrbestimmungen eine notwendige Einfuhrgenehmigung ausstellt. Weiter heißt es: Der Vorstand hatte
anfangs von diesen Transaktionen keine Kenntnis. „Im Zuge
einer im November 2006 durchgeführten Revision erfuhr er
aber von den schwarzen Kassen, unternahm jedoch nichts, da
er durchschaute, dass es ohne Zahlung kaum möglich sei, in
China Geschäfte zu machen.“
Die Parallelen zu den in der Presse geäußerten Vorwürfen
gegenüber Siemens-Managern drängen sich geradezu auf. Ob
die von Hellmann/Beckemper vorgestellte Lösung ihren Niederschlag in denkbaren Prozessen finden, wird eine spannende wie zukünftige Frage sein. Der Nutzer wird jedenfalls im
realen Fall kaum mehr von staatsanwaltlichen Überlegungen
überrascht werden können: Die Verfasser sind insoweit bereits in Vorleistung getreten.
Neben Fällen aus Korruption und der Bestechung von
Amtsträgern löst das Autorenteam u.a. Fälle zum faktischen
Geschäftsführer, den Varianten des Untreuetatbestandes, den
Vermögensbetreuungspflichten der Gesellschafter, dem Subventionsbetrug nebst Umweltstrafrecht sowie dem Bankrott
und den Marktmanipulationen. Die Verfasser blättern so auf
144 Seiten beinahe das gesamte Spektrum des wirtschaftsstrafrechtlichen Arbeitsbereichs auf. Auch jüngst von den
Obergerichten bearbeitete Problematiken wie beispielsweise
die Bestechlichkeit von kommunalen Mandatsträgern werden
angerissen. Leider bleibt es meist bei einem kurzen Anreißen
der streitigen Fragen. Obgleich dies wohl dem Umfang und
Aufbaukonzept des Buches (Gutachten-Stil) geschuldet sein
mag: Für die nächste Ausgabe wäre eine tiefer gehende Befassung mit den in der Praxis oft so bedeutsamen Streitansätzen wünschenswert. Dann würde auch der Leser, der sich
mittels dieses Buches neu in das Thema einlesen resp. einen
schnellen Einblick in das Wirtschaftsstrafrecht erhalten möchte, besser nachvollziehen können, dass gerade die Auslegung
tatbestandlicher Determinanten mit wirtschaftsstrafrechtlichem Gepräge (Abfallbegriff, Insolvenzvoraussetzungen etc.)
zu den zentralen Problemen dieses Rechtsgebietes gehören.
Dies wäre umso wichtiger, als gerade die inhaltliche Füllung
von Tatbestandsmerkmalen ein Grund für die lange Verfahrensdauern und – im Ergebnis – elementare Beweggründe für
den Abschluss eines verfahrensbeendenden Deals sind.
Das Buch eignet vor allem als Begleitbuch für wirtschaftsstrafrechtliche Vorlesungen; als Fallsammlung zu einer
parallelen Lektüre eines wirtschaftsstrafrechtlichen Lehr- oder
Handbuches. Dem erfahrenen Referendar oder Praktiker hilft
es sicherlich, Aspekte des Wirtschaftsstrafrechts wieder in
das Bewusstsein zurück zu bringen.
Rechtsanwalt Roman G. Weber, LL.M., Detmold
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563
Murmann, Prüfungswissen Strafprozessrecht
Paul
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B uc hre ze ns io n
Uwe Murmann, Prüfungswissen Strafprozessrecht, Verlag
C.H. Beck, München 2008, 125 S., kart., € 14,90.Murmann wendet sich mit seines Anfang diesen Jahres in der
JuS-Schriftenreihe (C.H. Beck Verlag) unter dem Titel „Prüfungswissen Strafprozessrecht“ erschienenen Buch nicht nur
an Examenskandidaten, die im schriftlichen Teil des Ersten
Juristischen Staatsexamens ganz regelmäßig mit einer strafprozessualen Zusatzfrage konfrontiert werden, sondern auch
an die Hörer der Vorlesung zum Strafprozessrecht sowie
diejenigen Studenten, die an Zwischenprüfungsklausuren
teilnehmen. Dass der Autor keinerlei Vorkenntnisse des
Strafprozessrechts voraussetzt, ist daher konsequent; schon
nach Lektüre des Vorwortes ist man gespannt, ob es der Autor schafft, die durchaus nicht ganz homogenen Bedürfnisse
innerhalb der angesprochenen Zielgruppe gleichmäßig zu
befriedigen.
Nach einem kurzen, aber lehrreichen Überblick über das
Ziel und den Gang des Strafverfahrens (unter besonderer
Berücksichtigung des Ablaufs der Hauptverhandlung) sowie
die Grundlagen der Gerichtsverfassung vertieft Murmann das
verfassungsrechtliche Postulat des gesetzlichen Richters
(Art. 101 GG), indem er die insofern nicht unproblematische
Zuständigkeitsregelung des § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG (sog.
„bewegliche Zuständigkeit“) auf ihre Verfassungsmäßigkeit
hin untersucht (Kapitel B und C).
Im sich anschließenden Kapitel D („Verfassung, EMRK
und Prozessgrundsätze“) weist der Autor zunächst auf die
verfassungsrechtlichen Vorgaben für das Strafverfahren,
insbesondere die herausragende Bedeutung der Grundrechte,
hin und gibt dann einen schönen Überblick über den Einfluss
der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg auf das deutsche Strafverfahrensrecht. Dabei
versäumt es Murmann nicht, auch die Verzahnung mit dem
deutschen Strafprozessrecht (über den Wiederaufnahmegrund
des § 359 Nr. 6 StPO) im Falle einer erfolgreichen Individualbeschwerde beim EGMR darzustellen. Sodann werden
zunächst in knapper, aber durchaus anschaulicher Art die
einzelnen Prozessmaximen vorgestellt, um diese – dem
Grundkonzept des gesamten Buches folgend – anschließend
exemplarisch zu vertiefen. Stets behält der Verfasser dabei
das eigentliche Anliegen des Buches, Studierenden die Herangehensweise an strafprozessuale Prüfungsaufgaben zu
vermitteln, im Auge; beispielhaft hierfür findet sich in Rn. 37
– durch die gewählte Schriftgröße fast ein wenig versteckt –
ein prüfungstechnisch außerordentlich wertvoller Hinweis,
worauf bei den häufig vorkommenden strafprozessualen
Prüfungsaufgaben, die eine Kollision von Prozessgrundsätzen
untereinander oder mit Verfassungsrecht zum Gegenstand
haben, zu achten ist.
Es würde den Rahmen einer Rezension sprengen, die von
Murmann zur Vertiefung des Komplexes „Prozessmaximen“
gewählten Beispiele im Einzelnen darzustellen. Nur soviel:
Geschickt versteht es der Autor, im Rahmen der Falllösungen
immer wieder auch über die eigentliche Thematik hinausge-
hende Fragen mit abzuhandeln. So beleuchtet Murmann im
Rahmen der Vertiefung des Legalitätsprinzips am Beispiel
der umstrittenen Frage einer Bindung der Staatsanwaltschaft
an Präjudizien zugleich die Stellung der Anklagebehörde im
Verhältnis zu den Gerichten und zum Gesetzgeber sowie
deren innerorganisatorischen Aufbau. Ganz ähnlich streift der
Autor bei seinem vertiefenden Fallbeispiel zum Beschleunigungsgrundsatz zugleich die prozessualen Möglichkeiten, die
im Falle der Verletzung dieses Prinzips diskutiert werden.
Nur auf diese Weise war es möglich, das „Prüfungswissen
Strafprozessrecht“ auf so angenehm überschaubarem Raum
darzustellen.
Kapitel E beschäftigt sich dann schwerpunktmäßig mit
den der Staatsanwaltschaft – unter Einbeziehung der Aufgaben und Funktion des Ermittlungsrichters – im Ermittlungsverfahren zur Verfügung stehenden Zwangsmaßnahmen. Nach
allgemeinen Ausführungen zum Gesetzlichkeitsprinzip sowie
den von der StPO je nach Ermittlungsmaßnahme verlangten,
unterschiedlichen Verdachtsgraden wendet sich Murmann zur
Vertiefung ausführlich einigen besonders wichtigen Zwangsmaßnahmen (Untersuchungshaft mit anschaulicher Übersicht
S. 29, körperliche Untersuchung nach § 81a StPO, Durchsuchung und Beschlagnahme) zu, die wiederum anhand zum
Teil klassischer Fallbeispiele (z.B. „Brechmitteleinsatz“ –
OLG Frankfurt, NJW 1997, 1647) illustriert werden. Sodann
erörtert der Autor die ebenfalls als „Klassiker“ zu bezeichnende Hörfallen-Problematik (BGHSt GS 42, 139) und beleuchtet dabei die vielfältigen insoweit aufgeworfenen Fragen
wiederum auf einem Raum, der den ohnehin begrenzten
Möglichkeiten der Darstellung in einer Prüfungssituation
Rechnung trägt, ohne wesentliche Gesichtspunkte einfach
wegzulassen. Kapitel E schließt mit einer prägnanten Darstellung des Rechtsbehelfssystems gegen Maßnahmen im Ermittlungsverfahren – fast überflüssig zu erwähnen ist, dass der
Autor hierbei die neuere, zu einer deutlichen Vereinfachung
führende Rechtsprechung des BGH hinsichtlich erledigter
Zwangsmaßnahmen berücksichtigt. „Nebenbei“ ist in dieses
Kapitel auch die Rolle des Verteidigers – den Murmann als
„Gegenspieler zur Staatsanwaltschaft“ bezeichnet – im Ermittlungsverfahren eingearbeitet. Am Beispiel des Akteneinsichtsrechts wird eindrucksvoll die besondere Schwierigkeiten aufweisende Stellung des Verteidigers als unabhängiges
Organ der Rechtspflege einerseits, Vertrauensperson des
Mandanten andererseits aufgezeigt.
Nach einem kurzen Überblick über die Möglichkeiten des
Abschlusses des Ermittlungsverfahrens beschäftigt sich
Murmann in Kapitel F vertiefend mit den beiden besonderen
Verfahrensarten Klageerzwingungsverfahren und Privatklageverfahren und beleuchtet abschließend die praktisch außerordentlich bedeutsame Vorschrift des § 153a StPO.
Das umfangreichste Kapitel (Kapitel F) ist dann der strafprozessualen Hauptverhandlung gewidmet. Nach Ausführungen zum prozessualen Tatbegriff befasst sich der Autor eingehend mit der gerade in strafprozessualen Zusatzfragen beliebten Problematik des „befangenen Staatsanwaltes“ und
zeigt die insoweit vertretenen Lösungsansätze auf. Bei der
Falllösung zu Fallfrage b) vermittelt Murmann über einen
kleinen „Ausflug“ ins Revisionsrecht wieder einmal en pas-
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Murmann, Prüfungswissen Strafprozessrecht
Paul
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sant mehr als den bloßen Umgang mit dem gerade behandelten Sachproblem, indem er das in Zusatzfragen häufig benötigte Schema zur Prüfung relativer Revisionsgründe anwendet. Nach kurzen Ausführungen zu einigen Grundbegriffen
des Beweisrechts widmet sich der Verfasser ausführlich der
vielschichtigen Thematik strafprozessualer Beweisverbote.
Nach einer prägnanten Darstellung der Frage, unter welchen
Voraussetzungen ein Verstoß gegen ein sog. Beweiserhebungsverbot auch ein sog. Beweisverwertungsverbot nach
sich zieht, vertieft der Verfasser den Gesamtkomplex an einer
ganzen Reihe klassischer Fallgestaltungen – etwa der sog.
Tagebuchentscheidung des BGH1 oder der V-Mann-Problematik. Besonders gelungen erscheint die Darstellung der
Problematik verfahrensbeendender Absprachen (sog. „Deal“),
die das Spannungsverhältnis dieser Form der Verfahrenserledigung zu einer Vielzahl strafprozessualer Prinzipien aufzeigt.
Murmanns „Prüfungswissen Strafprozessrecht“ endet in
Kapitel H mit Ausführungen zur Rechtskraft strafprozessualer
Entscheidungen und den damit in Zusammenhang stehenden
Themen Strafklageverbrauch, Rechtsmittelverzicht (insbes.
beim sog. „Deal“) und Wiederaufnahmeverfahren (als Durchbrechung der Rechtskraft).
Wenn Murmann in seinem Vorwort den Versuch, das
examensrelevante Wissen im Rahmen eines nur etwas mehr
als 120 Seiten starken Büchleins zu vermitteln, selbst als
„Gratwanderung“ bezeichnet, kann man nach der Lektüre des
Buches eigentlich nur gratulieren: Der Band stellt ein gelungenes, für die Leserschaft unter arbeitsökonomischen Gesichtspunkten außergewöhnlich effizientes Hilfsmittel zur gezielten
Aneignung derjenigen Kenntnisse, die zur Bewältigung einer
strafprozessualen Prüfungsaufgabe unerlässlich sind, dar.
Dass dabei nicht jedes denkbare Einzelproblem behandelt werden kann, versteht sich angesichts der Konzeption des Buches
von selbst: durch Vermittlung der verfassungsrechtlichen und
strafprozessualen Grundlagen anhand exemplarisch herausgegriffener, typischer Standardprobleme soll der Leser in die
Lage versetzt werden, auch unbekannte Fallkonstellationen
einer fundierten und argumentativ abgesicherten Lösung zuzuführen.
Schließlich ist auf die Aktualität der Neuerscheinung hinzuweisen. Das Buch berücksichtigt nicht nur bereits die zum
1.1.2008 in Kraft getretenen Änderungen der StPO, sondern
immer wieder auch wichtige, neuere (und daher für die Prüfungsämter erfahrungsgemäß besonders „interessante“) Entscheidungen der Obergerichte. Angesichts der auch im Ersten
Juristischen Staatsexamen nicht zu unterschätzenden Bedeutung des Strafprozessrechts erscheint die Anschaffung des
auch für Studierende erschwinglichen Büchleins (Kaufpreis
€ 14,90,-) als ausgesprochen kluge Investition!
Dr. Tobias Paul,
Richter beim Amtsgericht Waldshut-Tiengen
1
BGHSt 19, 325.
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565
Corporate Governance in einer monistisch verfassten Societas Europaea deutscher
Provenienz
Von Fabian Walla, LL.B., Hamburg*
Der folgende Beitrag behandelt besondere Aspekte der Europäischen Gesellschaft (Societas Europaea, SE), die seit der
Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 vom 8. Oktober 2001 als eigenständige Rechtsform (so genannter „28. Weg“) neben den
Rechtsformen gewählt werden kann, welche die nationalen
Rechtsordnungen ansonsten bereitstellen (in Deutschland
z.B. AG, GmbH). Im Studienkanon tauchen diese Aspekte vor
allem in den Schwerpunktbereichen auf, welche das Unternehmensrecht, speziell das Kapitalgesellschaftsrecht und das
Mitbestimmungsrecht zum Gegenstand haben. In dem Beitrag
wird speziell die SE nach dem monistischen System („onetier-system“) untersucht, welche kein Aufsichtsorgan, also keinen Aufsichtsrat, sondern nur Verwaltungsorgane hat und
sich mithin von einer Aktiengesellschaft nach deutschem Recht
grundlegend unterscheidet. Der Beitrag beleuchtet, wie dennoch
eine monistische SE nach ihrer Organisationsverfassung und
Mitbestimmung in das deutsche Recht eingepasst werden
kann, stellt hinsichtlich der Corporate-Governance-Modelle rechtsökonomische und rechtsvergleichende Überlegungen an und
bietet Lösungen an, wie die Kontrolldefizite verringert werden können.
I. Einleitung
„Größte Innovation“1, „Paradigmenwechsel“2, „revolutionäres
Ergebnis“3 – die Stellungnahmen im Schrifttum zu einem
Aspekt der neuen Rechtsform Societas Europaea (SE),4 waren geradezu überschwänglich: Nunmehr ist es möglich, eine
Aktiengesellschaft (AG) in Deutschland mittels einer monistischen Organisationsverfassung zu führen. Damit wird durch
die SE-Verordnung (SE-VO) ein Weg beschritten, von welchem sich das deutsche Aktienrecht bereits im Jahre 1870
abzuwenden begann5 und den es im Folgenden zugunsten
eines dualistischen Systems komplett aufgab.6 Die SE-VO
* Der Verf. ist Student an der Bucerius Law School in Hamburg. Er ist dort als studentischer Mitarbeiter am Institut für
Unternehmens- und Kapitalmarktrecht (geschäftsführender
Direktor: Prof. Dr. Rüdiger Veil) tätig.
1
Theisen/Hölzl, in: Theisen/Wenz (Hrsg.), Die Europäische
Aktiengesellschaft, 2. Aufl. 2005, S. 298.
2
Teichmann, in: Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), Europäische
Gesellschaft, 2005, S. 196.
3
Kallmeyer, ZIP 2003, 1531; ähnlich auch Hommelhoff, AG
2001, 279 (282).
4
Eingeführt wurde die SE durch die Verordnung (EG)
Nr. 2157/2001 des Rates vom 8.10.2001 über das Statut der
Europäischen Gesellschaft (SE), ABl. Nr. L 294, S. 1 vom
10. November 2001.
5
Dies geschah durch die erste Aktienrechtsnovelle, welche
den Aufsichtsrat als obligatorisches Organ einführte, siehe hierzu Assmann, in: ders. u.a. (Hrsg.), Großkommentar AktG,
4. Aufl. 2004, Einl. Rn. 74 f.
6
Vollendet wurde die Trennung von Leitung und Kontrolle
durch die Aktienrechtsreform 1937, siehe hierzu Stier-Somlo,
wirkt unmittelbar und bedarf als Verordnung keiner Umsetzung in nationales Recht, wie dies bei einer Richtlinie der
Fall wäre. Die SE-VO wird in Deutschland durch das SEAusführungsgesetz (SEAG) ausgeführt. Im Rahmen dieses
Beitrags soll auf der Grundlage der weltweit und interdisziplinär geführten Diskussion über Corporate Governance die
Unternehmensverfassung der recht jungen Rechtsform der
monistischen SE deutschen Rechts analysiert werden.
II. Grundbegriffe
1. Dualistische und monistische Unternehmensleitung
Monistische und dualistische Unternehmensverfassung unterscheiden sich grundlegend in der Trennung der Ebenen von
Unternehmensleitung und Unternehmenskontrolle. Das Paradebeispiel eines dualistischen Systems ist die Unternehmensfassung der deutschen AG mit ihrer Unterscheidung zwischen
dem Vorstand, welcher die Geschäfte des Unternehmens in eigener Verantwortung leitet, und dem den Vorstand kontrollierenden Aufsichtsrat. Ein monistisches System überträgt hingegen sämtliche Aufgaben einem einzigen Organ. Ein solches System ist vor allem im angelsächsischen Rechtsraum
zu finden. Die Entwicklungen hinsichtlich des monistischen
Leitungsmodells sind für den deutschen Gesetzgeber besonders
interessant, da sich auf europäischer Ebene Stimmen mehren,
die ein allgemeines Wahlrecht für Aktiengesellschaften zwischen monistischer und dualistischer Struktur in den nationalen Gesellschaftsrechtsordnungen fordern.7
2. Corporate Governance – eine Begriffskonkretisierung
Corporate Governance ist derzeit weltweit Forschungsgegenstand vieler wissenschaftlicher Disziplinen. Aus juristischem
Blickwinkel bezeichnet Hopt die Diskussion um gute Corporate
Governance als „letzte[n] Schrei der internationalen juristischen Mode“.8 Der Begriff Corporate Governance beinhaltet
die Elemente der Unternehmensführung sowie der Unternehmenskontrolle.9 Aus gesellschaftsrechtlicher Perspektive geht
es darum, für den Bereich privatrechtlich organisierter Unternehmen normative Vorgaben für beide Elemente zu entwickeln.10 Ziel guter Corporate Governance ist die Senkung von
Transaktionskosten, die Regulierung von Marktversagen sowie
ZHR 53 (1903), 20 zur Diskussion um die „Aufsichtsratfrage“.
7
Dies ist mittelfristiges Ziel des Aktionsplanes der EU-Kommission vom 21.5.2004 (Ziff. 3.1.3), abrufbar unter: http://eurlex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2003/com2003_0284de0
1.pdf (zuletzt abgerufen am 8.7.2008).
8
Hopt, in: Hommelhoff/Rowedder/Ulmer/Hachenburg (Hrsg.),
Dritte Gedächtnisvorlesung 1998, 2000, S. 9, 10.
9
Du Plessis/McConvill/Bagaric, Principles of Contemporary
Corporate Governance, 2005, S. 7; v. Werder, in: DCGKKommentar, 2. Aufl. 2005, Rn. 1.
10
Grundmann/Mülbert, ZGR 2001, 215 (220).
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566
Corporate Governance
teilweise die Durchsetzung von gewissen ideologischen und
gesellschaftspolitischen Vorstellungen.11 Die theoretische Grundlage der Corporate Governance besteht in dem von Berle/Means12 herausgearbeiteten principal-agent-conflict zwischen
shareholder und management,13 der durch Trennung von Eigentum und Unternehmensleitung entsteht.14 Dieser am shareholder orientierte Ansatz der Corporate Governance erfuhr im
Laufe der Zeit eine Erweiterung, indem besonders in der europäischen Diskussion die Interessen anderer stakeholder,
hierbei vor allem die der Arbeitnehmer, berücksichtigt wurden.15 Traditionell wird Corporate Governance dabei in zwei
Ebenen unterteilt.16 Die Differenzierung erfolgt dabei nach
dem Anknüpfungspunkt der Führungs- bzw. Kontrollmechanismen. So kann Unternehmensführung und -kontrolle entweder
über Marktkräfte (externe Corporate Governance) oder durch
die inneren Strukturen der Unternehmensverfassung (interne
Corporate Governance) ausgeübt werden.17
III. Die monistisch verfasste SE deutscher Provenienz de
lege lata
Die Organisationsverfassung der monistischen SE ist gekennzeichnet durch ein komplexes Zusammenspiel europäischer und
deutscher Rechtsquellen. Das Verständnis dieses Normgefüges und der sich hieraus ergebenen Gestaltungsvariationen
bildet die Grundlage für die diesen Beitrag abschließende Analyse unter Corporate Governance-Aspekten.
1. Der Rechtsrahmen der SE deutschen Rechts
Die Einführung der SE steht am Ende etwa 40-jähriger Bestrebungen, eine gemeinschaftsweit einheitliche Rechtsform zu
etablieren.18 Dabei war die Frage der unternehmerischen Mitbestimmung lange Zeit das entscheidende Hindernis einer
11
Baums, Bericht der Regierungskommission, 2001, S. 45.
Berle/Means, The Modern Corporation and Private Property, 1932, S. 112 ff.
13
Grundlegend hierzu Jensen/Meckling, 3 J. Fin. Econ. (1976),
305 (308 ff.); siehe ferner für das deutsche Schrifttum Teichmann, ZGR 2001, 645 (646).
14
Hopt (Fn. 8), S. 9, 12; Leyens, RabelsZ 67 (2003), 57 (62 f.);
Teichmann, ZGR 2001, 645 (646).
15
Grundmann/Mülbert, ZGR 2001, 215; Hopt (Fn. 8), S. 9,
12 f.; Monks/Minow, Corporate Governance, 3. Aufl. 2004,
S. 120; Schneider, DB 2000, 2412 (2414); siehe ferner insbesondere die OECD Principles of Corporate Governance, abgedruckt in AG 1999, 337 (mit Vorbemerkungen von Seibert) sowie deren Besprechung bei Hommelhoff, ZGR 2001,
239.
16
Leyens, RabelsZ 67 (2003), 857 (863 ff.); Teichmann, ZGR
2001, 645 (647 f.).
17
Köklü, Die Beteiligung der Arbeitnehmer und die Corporate Governance in der Europäischen Aktiengesellschaft, 2006,
S. 273 ff.; Sokolowski, Überwachung in einer Societas Europaea mit dem monistischen Leitungssystem, 2005, S. 50.
18
Vgl. Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 3. Aufl.
2006, § 12 Rn. 1 ff. für eine Übersicht der Entwicklungsstadien zur SE.
12
VARIA
Einigung.19 Der schließlich erzielte politische Minimalkompromiss ließ jedoch den Normengehalt der SE-VO lückenhaft,20
so dass die SE – obgleich als supranationale Rechtsform
konzipiert21 – durch die lückenfüllenden Vorschriften des
nationalen Rechts eine deutliche Prägung durch den jeweiligen Mitgliedsstaat erfährt, in dem sich ihr satzungsmäßiger
Sitz befindet.22
a) Die allgemeine Normenhierarchie in einer SE
Diese lückenhafte Struktur spiegelt sich in einer besonders komplexen Normenhierarchie wider, welche in Art. 9 SE-VO ihre
normative Verankerung findet. An der Spitze der Rechtsquellenpyramide der SE steht die SE-VO als sekundäres, unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht. Danach folgt die
Satzung der Gesellschaft, welche durch die SE-VO den Rang
„abgeleiteten Gemeinschaftsrechts“23 einnimmt, solange der
Satzungsgeber hierbei von durch die Verordnung erteilten Regelungsermächtigungen Gebrauch macht.24 Erst auf der nächsten
Ebene der Rechtsquellenpyramide ist das nationale Ausführungsrecht des Staates anwendbar, in dem die SE ihren satzungsmäßigen Sitz hat. In Deutschland sind dies das SEAusführungsgesetz (SEAG) sowie das die Arbeitnehmermitbestimmung regelnde SE-Beteiligungsgesetz (SEBG),25 welches
der Umsetzung einer gesonderten SE-Mitbestimmungsrichtlinie26 dient. Wenn in diesen Rechtsquellen keine Regelung
zu finden ist, muss das nationale Aktienrecht, in Deutschland
mithin etwa das AktG oder UmwG, angewendet werden.
Satzungsbestimmungen der Gesellschaft, welchen nicht durch
die SE-VO ein Vorrang vor dem nationalen Recht eingeräumt
19
Habersack (Fn. 18), § 12 Rn. 1; Hopt, in: Due u.a. (Hrsg.),
Festschrift für Everling, Bd. 1, 1995, S. 475 ff. (487); Krause,
BB 2005, 1221 (1222); Van Hulle, EWS 2000, 521 (522).
20
Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 4. Aufl. 2005,
§ 59 Rn. 4.
21
Assmann, in: Münchner Kommentar zum Aktiengesetz,
4. Aufl. 2004, Einf. SE Rn. 4; Kuhn, in: Jannott/Frodermann
(Hrsg.), Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 2005,
Kap. 2 Rn. 4; vgl. ebenso die sechste Begründungserwägung
zur SE-VO.
22
Kalss/Greda, in: Kalss/Hügel (Hrsg.), Europäische Aktiengesellschaft, SE-Kommentar, 2004, Allgemeiner Teil Rn. 11;
Raiser/Veil (Fn. 20) § 59 Rn. 4.
23
Raiser, in: Bierich u.a. (Hrsg.), Festschrift für Johannes
Semler, 1993, S. 277 ff. (283) (zum SE-Vorschlag von 1991).
24
Hommelhoff, in: Lutter/ders. (Hrsg.), Europäische Gesellschaft, 2005, S. 5, 15; Wagner, NZG 2002, 985 (986); anders
jedoch Schäfer, in: Münchner Kommentar zum Aktiengesetz,
2006, Art. 9 SE-VO Rn. 22, welcher die Satzung stets als
unterste Rechtsquelle ansieht, was jedoch der Sache nach zu
identischen Ergebnissen führt.
25
Eingeführt durch das Gesetz zur Einführung der Europäischen Gesellschaft (SEEG), BGBl. I 2004, S. 3675 ff.
26
Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8.10.2001 zur Ergänzung des Status der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer, ABl. Nr. L 294, S. 22.
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VARIA
Fabian Walla
wird, sind erst auf der letzten Stufe der Normenhierarchie zu
berücksichtigen.27
b) Das Normierungssystem hinsichtlich der Unternehmensverfassung
Diese komplexe Regelungstechnik findet ihren Niederschlag
in der Normierung der Unternehmensverfassung. Hierbei gewährt die SE-VO in Art. 38b dem Satzungsgeber die Freiheit,
zwischen dem dualistischen Führungssystem mit seiner organschaftlichen Trennung von Leitung und Aufsicht sowie dem
monistischen Ansatz, bei dem Kontrolle und Leitung in einem Verwaltungsorgan vereint sind, zu wählen. Darüber hinaus regelt die SE-VO die Unternehmensverfassung nur kursorisch.28 Um diese Lücken auszufüllen, hat der deutsche Gesetzgeber für das dualistische System in §§ 15 bis 19 SEAG
nur vereinzelte Regelungen getroffen, da das AktG ausführliche Regelungen für die dualistische Unternehmensverfassung
bereit hält.29 Dagegen trifft der deutsche Gesetzgeber für monistische Systeme in Gestalt der §§ 20 bis 49 SEAG umfangreiche Regelungen. § 20 SEAG stellt hierbei deklaratorisch
fest, dass die Regelungen der §§ 76 bis 116 AktG verdrängt
werden. Das Ausführungsrecht in Bezug auf die Organisationsverfassung geht der Satzung vor, da die SE-VO hier den
Satzungsgeber nicht zum Tätigwerden ermächtigt hat.
c) Anwendbarkeit des Deutschen Corporate Governance Kodex
Auf die börsennotierte SE findet zudem nach § 161 AktG die
Verpflichtung zur Ablegung einer Erklärung zu den Vorgaben
des Deutschen Corporate Governance Kodex Anwendung.30 Da
im Kodex keine Vorschriften hinsichtlich monistischer Leitungsstrukturen enthalten sind, ist er für die monistische SE
nach geltender Rechtslage von untergeordneter Bedeutung. Die
Regierungskommission Deutscher Corporate Governance
Kodex hat die zukünftige Aufnahme von Empfehlungen in
Bezug auf die monistische SE ausdrücklich unter den Vorbehalt gestellt, dass sich eine praktische Relevanz dieser Führungsstruktur auch tatsächlich abzeichnet.31
2. Die Organisationsverfassung der monistischen SE
Bei der folgenden Darstellung der Organisationsverfassung einer
monistischen SE nach der deutschen Umsetzungsgesetzgebung soll die Frage im Mittelpunkt stehen, ob diese Umsetzung mit den Vorgaben der SE-VO vereinbar ist. Überdies
27
Teichmann (Fn. 2), S. 195, 198.
Austmann, Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts,
Bd. 4, Aktiengesellschaft, 3. Aufl. 2007, § 85 Rn. 2.
29
Inhaltlich entspricht die Organisation der dualistischen SE
daher nahezu der AG, siehe Teichmann (Fn. 2), S. 195, 199,
der von einem déjà-vu-Erlebnis spricht.
30
Hoffmann-Becking, ZGR 2004, 355 (364); Merkt, in: Lutter/Hommelhoff (Fn. 24), Europäische Gesellschaft, 2005,
S. 179, 184.
31
Siehe hierzu die Pressemittelung der Regierungskommission vom 14.6.2007, abrufbar unter http://www.corporategovernance-code.de/ger/news/presse-20070614.html (zuletzt
abgerufen am 10.9.2007).
28
bietet die monistische SE vielfältige praktische Gestaltungsmöglichkeiten, die im Hinblick auf gute Corporate Governance Beachtung verdienen. Schließlich wird überblicksartig
auf die unternehmerische Mitbestimmung eingegangen.
a) Das Organgefüge einer monistischen SE
Die Grundlage des Organgefüges einer monistischen SE ist
gemäß Art. 38b SE-VO die Hauptversammlung als Vertretung der Anteilseigner. Diese wird gemäß Art. 43 Abs. 1 SEVO um ein Verwaltungsorgan ergänzt. Der deutsche Gesetzgeber hat jenes Verwaltungsorgan in § 20 SEAG Verwaltungsrat genannt. Dieser ist ein Kollegialorgan, an dessen Spitze
nach § 34 Abs. 1 SEAG ein Vorsitzender steht. Nach § 23
SEAG besteht der Verwaltungsrat aus mindestens drei Mitgliedern, wobei bei einem Grundkapital von weniger als drei
Millionen Euro hiervon durch Satzung nach unten abgewichen werden kann. Darüber hinaus legt der deutsche Gesetzgeber in § 40 Abs. 1 SEAG fest, dass zwingend geschäftsführende Direktoren durch den Verwaltungsrat zu bestellen sind.
Geschäftsführende Direktoren können sowohl Mitglieder des
Verwaltungsrats als auch unternehmens-externe Personen sein.
Innerhalb des Verwaltungsrats muss daher gegebenenfalls
zwischen geschäftsführenden (internen) und nicht-geschäftsführenden (externen) Mitgliedern unterschieden werden. Das
SEAG schränkt in § 40 Abs. 1 S. 2 die Anzahl der möglichen
geschäftsführenden Verwaltungsratsmitglieder ein, indem es
vorschreibt, dass die Mehrheit des Verwaltungsrats stets aus
nicht-geschäftsführenden Mitgliedern bestehen muss.
b) Kompetenzabgrenzung zwischen den Organen
Im Folgenden wird untersucht, wie sich das Zusammenspiel
von Hauptversammlung, Verwaltungsrat und geschäftsführenden Direktoren konkret vollzieht. Ein Spannungsfeld zeigt
sich hierbei insbesondere im Verhältnis zwischen Verwaltungsrat und geschäftsführenden Direktoren.
aa) Stellung der Hauptversammlung
Geringe Schwierigkeiten bereitet zunächst das Verhältnis
zwischen Hauptversammlung und Verwaltung. Es bestimmt
sich nach Art. 52 SE-VO, wonach die Hauptversammlung
zuständig ist, wenn es die SE-VO oder das nationale Aktienrecht vorsehen. Dies beinhaltet nach herrschender Meinung auch
ungeschriebene Kompetenzen, insbesondere nach den Grundsätzen der „Holzmüller“ und „Gelatine“-Rechtsprechung32.33
bb) Spannungsfeld zwischen Verwaltungsrat und geschäftsführenden Direktoren
Das Kompetenzgefüge zwischen Verwaltungsrat und geschäftsführenden Direktoren verursacht wegen der unklaren Normie32
Vgl. BGHZ 83, 122 (Holzmüller); BGHZ 159, 30 (Gelatine I); BGH ZIP 2004, 1001 (Gelatine II); siehe hierzu Raiser/Veil (Fn. 2), § 16 Rn. 11 ff. m.w.N.
33
Drinhausen, in: Van Hulle/Maul/Drinhausen. (Hrsg.), Handbuch zur Europäischen Gesellschaft, 2007, Abschnitt 5, § 3
Rn. 29; Teichmann (Fn. 2), S. 206; Thümmel, Die Europäische Aktiengesellschaft, 2005, Rn. 258.
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Corporate Governance
rung Abgrenzungsschwierigkeiten.34 § 22 Abs. 1 SEAG bestimmt grundlegend, dass dem Verwaltungsrat neben der Bestimmung von Grundlinien für die Tätigkeit der Gesellschaft
und deren Überwachung auch die Kontrolle der Umsetzung
der strategischen Leitlinien obliegt. Den geschäftsführenden
Direktoren hingegen wird durch § 40 Abs. 2 S. 1 SEAG die
Geschäftsführung zugewiesen. Ihnen steht nach § 41 Abs. 1
SEAG die gesetzliche Vertretung der Gesellschaft zu. § 44
Abs. 2 SEAG bestimmt jedoch, dass geschäftsführende Direktoren hinsichtlich ihrer Geschäftsführung die Anweisungen und Beschränkungen (unter anderem) von Seiten des
Verwaltungsrats zu beachten haben. Hieraus wird nach ganz
überwiegender Ansicht im Schrifttum ein umfassendes Weisungsrecht des Verwaltungsrats gegenüber den geschäftsführenden Direktoren in Geschäftsführungsangelegenheiten
abgeleitet.35 Geschäftsführende Direktoren können ferner
vom Verwaltungsrat gemäß § 40 Abs. 5 SEAG jederzeit, mithin auch ohne wichtigen Grund,36 abberufen werden, sofern
die Satzung nichts Abweichendes regelt. Aus dieser systematischen Stellung der geschäftsführenden Direktoren wird gefolgert, dass ihre Geschäftsführungsbefugnis auf die Führung
der laufenden Geschäfte beschränkt ist und die strategische
Unternehmensleitung von dieser Befugnis ausgeklammert
sei.37 Die strategische Ausrichtung des Unternehmens sowie
die Kontrolle des Geschäftsverlaufs obliegen exklusiv dem
Verwaltungsrat.38
Gegen diese funktionelle Kompetenzabgrenzung wendet
sich jedoch Teichmann, der davon ausgeht, dass die Kompetenz der geschäftsführenden Direktoren funktionell unbegrenzt
sei und sie stattdessen vielmehr hierarchisch dem Verwaltungsrat nachgeordnet seien.39 Diese Sicht widerspricht jedoch der Intention des Gesetzgebers, der die geschäftsführenden Direktoren mit GmbH-Geschäftsführern vergleicht.40
34
Hoffmann-Becking, ZGR 2004, 355 (369) (zum damaligen
Diskussionsentwurf).
35
Austmann (Fn. 28), § 85 Rn. 17; Drinhausen (Fn. 33),
Abschnitt 5, § 3 Rn. 23; Frodermann, in: Jannott/Frodermann.
(Hrsg.), Handbuch der Europäischen Gesellschaft, 2005, Kap. 5
Rn. 228; Manz, in: Manz/Meyer/Schröder (Hrsg.), Nomos Kommentar SE, 2005, Art. 43 SE-VO Rn. 161; Teichmann (Fn. 2),
S. 743; anderer Ansicht Schönborn, Die monistische SE in
Deutschland im Vergleich zum englischen Recht, 2007, S. 94 f.,
für den § 44 SEAG nur die Grundlage für Beschränkungen
der Geschäftsführungsbefugnis ist.
36
Austmann (Fn. 28); Drinhausen (Fn. 33), Abschnitt 5, § 3
Rn. 3; Frodermann (Fn. 35), Kap. 5 Rn. 168.
37
Drinhausen (Fn. 33), Abschnitt 5, § 3 Rn. 18; Frodermann
(Fn. 35), Kap. 5 Rn. 139; Köklü (Fn. 17), S. 91 ff.; Reichert/Brandes, in: Münchner Kommentar zum Aktiengesetz,
2. Aufl. 2006, Art. 38 SE-VO Rn. 6; Schönborn (Fn. 35),
S. 62.
38
Drinhausen (Fn. 33), Abschnitt 5, § 3 Rn. 5, 23; HoffmannBecking, ZGR 2004, 355 (368); Köklü (Fn. 17), S. 91 ff.;
Reichert/Brandes (Fn. 37), Art. 38 SE-VO Rn. 6.
39
Teichmann (Fn. 2), S. 195, 205 f.
40
RegBegr., BT-Drs. 15/3405, S. 39; dies aufnehmend Frodermann (Fn. 35), Kap. 5 Rn. 141; Köklü (Fn. 17), S. 92;
VARIA
Rechtsprechung und überwiegende Literatur verwehren GmbHGeschäftsführern im Allgemeinen die Kompetenz, grundlegende Entscheidungen der Unternehmenspolitik zu treffen.41
Somit ist von einer alleinigen Kompetenz des Verwaltungsrats
für Maßnahmen der Unternehmensleitung auszugehen. Den geschäftsführenden Direktoren steht lediglich die Kompetenz
für Maßnahmen der laufenden Geschäftsführung zu, diese
üben sie zudem in Abhängigkeit von Anweisungen des Verwaltungsrats aus.
c) Europarechtswidrigkeit der deutschen Umsetzung?
Teilweise wird die skizzierte Organisationsverfassung der monistischen SE nach dem SEAG im Schrifttum für europarechtswidrig gehalten, da die deutsche Umsetzungsgesetzgebung im Widerspruch zur SE-VO stehe.42
aa) Unvereinbarkeit des SEAG mit der SE-VO?
Insbesondere Hoffmann-Becking wirft dem deutschen Gesetzgeber vor, dass die Schaffung von geschäftsführenden Direktoren, denen anstelle des Verwaltungsrats exklusiv die Vertretung der Gesellschaft sowie – vorbehaltlich der Weisungsabhängigkeit gegenüber dem Verwaltungsrat – auch die Geschäftsführung obliegt, Art. 38b SE-VO missachten würde.
Die SE-VO gebiete zwingend, dass eine monistische SE mit
nur einem Verwaltungsorgan von Seiten die Mitgliedsstaaten
zu ermöglichen sei.43 Die Umsetzung durch das SEAG stelle
lediglich ein „versteckt dualistisches System“ dar.44
bb) Entkräftung der Kritik
Hiergegen ist einzuwenden, dass Art. 38b SE-VO lediglich
fordert, die Möglichkeit der Wahl eines monistischen Systems durch den Satzungsgeber zu gewährleisten. Zur Ausgestaltung der monistisch verfassten SE macht die Norm keine
Angaben. Entscheidende Frage für die Stichhaltigkeit des Einwandes ist daher, ob das System des SEAG als „monistisch“
im Sinne der SE-VO zu verstehen ist. Die SE-VO ist hierbei
als Gemeinschaftsrecht autonom von nationalen Rechtsordnungen
auszulegen.45 Hierfür können insbesondere rechtsverglei-
Nagel, NZG 2004, 833 (836); Theisen/Hölzl (Fn. 1), S. 302;
P. Schmidt, Die monistische SE in Deutschland, 2006, S. 197.
41
BGH NJW 1991, 1681; Raiser/Veil (Fn. 22), § 31 Rn. 2;
K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 1069.
42
DAV, NZG 2004, 957 (959); DAV, NZG 2004, 75 (82);
Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2006,
§ 12 Rn. 31; kritisch auch Kallmeyer, ZIP 2003, 1531.
43
Hoffmann-Becking, ZGR 2004, 355 (369 ff.) zum Diskussionsentwurf, der jedoch bezüglich der monistischen Organisationsverfassung nahezu deckungsgleich mit dem SEAG ist.
44
Hoffmann-Becking, ZGR 2004, 355 (369); in Anlehnung
an DAV, NZG 2004, 75 (82).
45
EuGH, Rs. 64/81, Slg. 1982 I-13, Rn. 13 (Corman); EuGH,
Rs. C-287/98, Slg. 2000 I-6917, Rn. 93 (Linster); Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, 2006, S. 188 f.
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569
VARIA
Fabian Walla
chende Erwägungen als Erkenntnisquelle bei der Auslegung
herangezogen werden.46
Bei einem Blick in das Recht verschiedener Mitgliedstaaten
ist zu konstatieren, dass manche monistische Systeme die
Möglichkeit kennen, die Geschäftsführungsbefugnisse von Leitungs- und Aufsichtsorganen zu delegieren. So ist in Frankreich ein directeur général zu bestellen, dem umfassende Geschäftsführungskompetenzen sowie Vertretungsmacht zukommen und der dem Verwaltungsrat angehören kann, jedoch
nicht muss.47 Auch im britischen Gesellschaftsrecht wird in der
Rechtsfigur des company secretary ein Organ neben dem
board of directors gesehen.48 Ebenfalls nach schwedischem
Recht kann das Verwaltungsorgan ein weiteres Organ zur
Führung der laufenden Geschäfte einsetzen.49 Dies lässt darauf schließen, dass die Wortlautgrenze des Begriffs „monistisch“ durch das deutsche System nicht überschritten ist.
Zu berücksichtigen ist ferner, dass die Spezialermächtigung
in Art. 43 Abs. 1 S. 2 SE-VO zur Schaffung von Geschäftsführern neben dem Verwaltungsorgan auf Drängen Schwedens in den Text der SE-VO aufgenommen wurde,50 um eine
monistische SE nach hergebrachter schwedischer Prägung zu
ermöglichen. Hieraus lässt sich in historisch-genetischer Auslegung51 ableiten, dass der Verordnungsgeber das schwedische
System trotz des Bestehens von zwei Organen als monistisch
einstuft. Bezieht man ferner den vierzehnten Erwägungsgrund zur SE-VO in die Auslegung mit ein, in dem es heißt,
dass eine klare Abgrenzung zwischen Leitung und Kontrolle
wünschenswert ist, erscheint das deutsche System nach teleologischer Auslegung als monistisch im Sinne der SE-VO. Die
von manchen geäußerte Sorge einer Europarechtswidrigkeit
der deutschen Umsetzungsgesetzgebung ist mithin zu weitgehend.
d) Gestaltungsmöglichkeiten in der monistischen SE durch
die Satzung
Es werden nunmehr die praktischen Gestaltungsmöglichkeiten dargestellt, die dem Satzungsgeber im Rahmen des skizzierten rechtlichen Grundgerüsts zugestanden werden. Hierbei ist eine große Bandbreite an möglichen Ausgestaltungen
einer monistischen SE zu konstatieren.52
46
EuGH, Rs. 155/79, Slg. 1982 I-1575, Rn. 19 ff. („AM&S/
Kommission“); siehe ferner P. Schmidt (Fn. 40), 2006, S. 114 f.
47
Siehe Storp, RIW 2002, 409 (411 f.) zur Stellung des directeur général im französischen Recht.
48
Teichmann (Fn. 2), S. 195, 218; vgl. J. Schmidt, „Deutsche“
vs. „britische“ Societas Europaea (SE), 2006. S. 486 ff. für
eine ausführliche Darstellung zu den Aufgaben des company
secretary.
49
Krage, AG 1998, 226 (229 f.).
50
Neye/Teichmann, AG 2003, 169 (176 [Fn. 38]); Teichmann, ZIP 2002, 1109 (1113 f.).
51
Zur historisch-genetischen Auslegung des Sekundärrechts
Casper, in: Beier (Hrsg.), Festschrift für Ulmer, 2003, S. 51
(56).
52
Minuth, Führungssysteme der Europäischen Aktiengesellschaft (SE), 2005, S. 293; Teichmann (Fn. 2), S. 207.
Dies liegt zum einen an der Möglichkeit, sowohl Verwaltungsratsmitglieder als auch Außenstehende zu geschäftsführenden Direktoren zu bestellen. Überdies besteht ein hohes
Maß an Satzungsfreiheit. Zwar gewährt Art. 9 Abs. 1 b) SEVO ebenso wie das deutsche Aktienrecht durch § 23 Abs. 5
AktG nur in ausdrücklich vorgesehenen Fällen Satzungsautonomie, jedoch sind die Satzungsermächtigungen – anders als
im deutschen Recht53 – relativ zahlreich. So kann die Binnenorganisation des Verwaltungsrats weitgehend frei gestaltet
werden,54 insbesondere können Einzelfragen der Geschäftsordnung geregelt werden (§ 34 Abs. 2 S. 2 SEAG). Zudem
besteht Satzungsautonomie für die Bestellung mehrerer geschäftsführender Direktoren und ihr Verhältnis zum Verwaltungsrat (§ 40 Abs. 1 S. 5 SEAG).55 In der anwaltlichen Praxis wird daher erwartet, dass die monistische SE sowohl als
Publikumsgesellschaft als auch als personalistische Gesellschaft praktische Relevanz erlangen wird.56
aa) Die monistische SE als personalistisch geprägte Rechtsform
Eine monistische SE ist beispielsweise in Form einer Familiengesellschaft denkbar, wenn Familiengesellschafter den Verwaltungsrat bilden, um ihre Erfahrung in die Gesellschaft einzubringen und die strategischen Leitlinien der Gesellschaft
bestimmen zu können.57 Das Tagesgeschäft könnten sie an
externe Manager als geschäftsführende Direktoren delegieren
und sich auf die Kontrolle von deren Tätigkeit beschränken.58
Dieses Modell bewirkt somit eine größtmögliche Annäherung
an das dualistische System, zumal auch der Aufsichtsrat der AG
teilweise an der strategischen Ausrichtung des Unternehmens
beteiligt ist.59 In der monistischen SE läge die strategische
Unternehmensleitung jedoch gänzlich in den Händen des
Verwaltungsrats. Zudem könnte von Seiten dieser Familiengesellschafter durch das Weisungsrecht gegenüber den geschäftsführenden Direktoren bei Bedarf direkt Einfluss auf
die Geschäftsführung genommen werden.
bb) Die monistische SE als börsennotierte Publikumsgesellschaft
Allgemein wird davon ausgegangen, dass im Bereich der Großunternehmen die größte Nachfrage nach der Rechtsform der
SE besteht.60 Aufgrund der Möglichkeit der Börsennotierung
53
Siehe Hüffer, Aktiengesetz, 7. Aufl. 2006, § 23 Rn. 35 für
eine Übersicht der Abweichungen bei der AG.
54
Seibt, in: Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), Europäische Gesellschaft, 2005, S. 67, 81.
55
RegBegr., BT-Drs. 15/3405, S. 39.
56
Seibt/Saame, AnwBl. 2005, 225 (228); Seibt (Fn. 54),
S. 67, 92.
57
Seibt (Fn. 54), S. 67, 92.
58
Kallmeyer, ZIP 2003, 1531 (1534); Seibt/Saame, AnwBl.
2005, 225 (228).
59
BGHZ 135, 244 (251 f.), (Arag-Garmenbeck); Raiser/Veil
(Fn. 20), § 15 Rn. 11.
60
Brandi, NZG 2003, 889 (890); Hirte, NZG 2002, 1 (9);
Teichmann, ZGR 2002, 383 (388). Siehe beispielhaft die in
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ZJS 5/2008
570
Corporate Governance
einer monistischen SE sowie ihrer Internationalität bietet sich
die monistische SE durchaus auch als Rechtsform für große,
in mehreren Mitgliedstaaten tätige, Publikumsgesellschaften
an, da für diese der Vorzug der SE interessant sein dürfte, in
allen Mitgliedsstaaten unter einer relativ einheitlichen Struktur sowie unter der einheitlichen Firma einer „SE“ auftreten
zu können.
cc) Die monistische SE mit einem „CEO-Modell“
Im Schrifttum wird – vorwiegend in Bezug auf die SE als
Publikumsgesellschaft – unter dem Schlagwort „CEOModell“ diskutiert, wie weit der Einfluss einer einzelnen
Person in der monistischen SE reichen kann.61 Gegenstand
dieser Debatte ist jedoch nicht so sehr die Ausrichtung der
Geschäftsführung an den Kompetenzen eines angloamerikanischen chief executive officer (CEO),62 sondern vielmehr
die Übernahme der angloamerikanischen Übung, die Position
des CEO und des chairman of the board in Personalunion zu
besetzen.63 Übertragen auf die SE entspricht dies der Konstellation, den Vorsitzenden des Verwaltungsrats zum geschäftsführenden Direktor zu bestellen bzw. ihm sogar den Vorsitz
der geschäftsführenden Direktoren einzuräumen. Prominente
Vertreter des Wirtschaftslebens wie Josef Ackermann64 oder
Roland Berger65 haben die Einführung einer „starken“ Persönlichkeit an der Unternehmensspitze stets öffentlich gefordert, weshalb man zumindest von einem Grundinteresse an
einer solchen Organisationsform in der Wirtschaft ausgehen
kann. Somit ist die Machtfülle einer einzelnen Person in der
monistischen SE von besonderer Relevanz.
Ein wesentliches Element der Machtkonzentration ist bereits in dem dargelegten Organgefüge gesetzlich angelegt, da
der Vorsitzende des Verwaltungsrats zum geschäftsführenden
Direktor bestellt werden kann. Auch wenn dies in der Regierungsbegründung zum SEAG ausdrücklich als „nicht sinnvoll“ bezeichnet wird,66 ist eine solche Gestaltung zweifellos
zulässig.67 Ergänzend kann die Position des Verwaltungsratsvorsitzenden dadurch gestärkt werden, dass er durch die
Satzung zum Vorsitzenden der Geschäftsleitung ernannt wird.
Dies ist ausweislich der Regierungsbegründung zum SEAG
möglich.68 Satzungsmäßig kann die Stellung des Vorsitzenden der Geschäftsleitung überdies verfestigt werden, indem
VARIA
ihm Einzelgeschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis zugebilligt wird. Ein Alleinentscheidungsrecht ist jedoch nach überwiegender Ansicht unzulässig.69 Allerdings kann eine Abberufung aus der Geschäftsführung vom Vorliegen eines wichtigen Grundes abhängig gemacht werden.70 Auf Ebene des
Verwaltungsrats könnte das Quorum einer Abberufung von
Verwaltungsräten durch die Hauptversammlung angehoben sowie die Amtszeit der Verwaltungsräte auf die nach Art. 46
Abs. 1 SE-VO maximal zulässigen sechs Jahre erhöht werden.71 Unzulässig ist jedoch die Einräumung eines Vetorechts
im Verwaltungsrat, da der Gesetzgeber in der Regierungsbegründung die Stellung des Verwaltungsrats an die des Aufsichtsrates in der AG angelehnt hat,72 bei dem nach allgemeiner Meinung ein solches Vetorecht unzulässig ist.73
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in der monistischen SE zwar keine Allmacht für einen Verwaltungsratsvorsitzenden und Vorsitzenden der Geschäftsleitung bestehen kann, da die Kontrollelemente durch die Hauptversammlung sowie durch die weiteren Verwaltungsräte nicht
dispositiv sind. Dennoch besteht die Möglichkeit, eine Person
mit einer Machtfülle auszustatten, die deutlich weiter reicht
als etwa die des Vorstandsvorsitzenden einer deutschen Aktiengesellschaft.
e) Die Mitbestimmung in der monistischen SE
Die unternehmerische Mitbestimmung stellt die Organisation
der monistischen SE vor besondere Probleme, die durch das
SEBG in Umsetzung der SE-Richtlinie geregelt werden. Aufgrund der erheblichen Komplexität des Mitbestimmungsregimes
der monistischen SE deutschen Rechts kann dieser Problemkreis im Folgenden nur skizziert werden.
aa) Die Mitbestimmungs-Konzeption nach dem SEBG
Das SEBG sieht vor, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber
über das Modell der Mitbestimmung prinzipiell in einem detaillierten Verfahren verhandeln (§§ 11 ff. SEBG).74 Scheitert
diese Verhandlungsphase, ordnet das Gesetz in den §§ 34 ff.
SEBG bei Verschmelzungen als Auffanglösung an, dass die
Zahl der Arbeitnehmervertreter sich nach dem höchsten An69
eine dualistische SE umgewandelten Unternehmen Allianz
oder BASF.
61
Eder, NZG 2004, 544 (545); Schönborn (Fn. 35), S. 72 ff.;
Teichmann, BB 2004, 53 (54).
62
Zur Rezeption des CEO-Systems in Deutschland, vgl. nur
v. Hein, ZHR 166 (2003), 465 (493 ff.).
63
Siehe hierzu im Folgenden unter III. 2. b).
64
FAZ vom 26.11.2001.
65
FAZ vom 17.1.2002.
66
RegBegr., BT-Drucks. 15/3405, S. 39.
67
Theisen/Hölzl (Fn. 1), S. 305 f.; Schwarz, SE-Verordnung,
2006, Art. 43 Anh. Rn. 297.
68
RegBegr., BT-Drs. 15/3405, S. 39. Ohne satzungsmäßige
Grundlage ist dagegen lediglich eine Ernennung zum Sprecher des Verwaltungsrats möglich, siehe Drinhausen (Fn. 33),
Abschnitt 5, § 3 Rn. 38.
Kallmeyer, ZIP 2003, 1531 (1534); Schönborn (Fn. 35),
S. 87 ff.; P. Schmidt (Fn. 40), S. 199 f.; anderer Ansicht
Thümmel, Die Europäische Aktiengesellschaft, 2005, Rn.
236.
70
Aufgrund des Wortlautes von § 40 Abs. 5 S. 1 ist hier jedoch eine Gleichbehandlung der geschäftsführenden Direktoren zwingend, siehe hierzu Schönborn (Fn. 35), S. 84 f.
71
Eder, NZG 2004, 544 (545); dem folgend Seibt (Fn. 54),
S. 67, 87.
72
RegBegr., BT-Drs. 15/3405, S. 38.
73
Hüffer (Fn. 53), § 108 Rn. 8; Semler, in: Münchner Kommentar zum Aktiengesetz, 4. Aufl. 2004, § 108 Rn. 48, 119
m.w.N.
74
Siehe zu den Details dieses Verfahrens Güntzel, Die Richtlinie über die Arbeitnehmerbeteiligung in der Europäischen
Aktiengesellschaft (SE) und ihre Umsetzung in das deutsche
Recht, 2006, S. 144 ff.
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571
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teil der Arbeitnehmervertreter in den Gründungsgesellschaften bemisst („Vorher-Nachher-Prinzip“).75 Berücksichtigt wird
hierbei das Mitbestimmungsniveau einer Gesellschaft nur
dann, wenn gemäß § 34 SEBG ein je nach Gründungsform
variierendes Quorum an Arbeitnehmern im Vergleich zur
Gesamtbelegschaft der neu zu gründenden SE erreicht wird.
Die eigentliche Brisanz des SEBG liegt jedoch darin, dass
dieser Mechanismus nicht nur auf die dualistische, sondern
gemäß §§ 34, 35 SEBG auch auf die monistisch verfasste SE
Anwendung findet. Der deutsche Gesetzgeber unternahm damit ein Vorhaben, das etwa Lutter als schlechterdings unmöglich einstufte,76 nämlich die Implementierung der Mitbestimmung in ein monistisches Leitungssystem. So ist nach
der gesetzlichen Konzeption im Falle des Scheiterns der Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern –
etwa bei der Beteiligung einer paritätisch-mitbestimmten
deutschen Gesellschaft mit einem hinreichenden Arbeitnehmeranteil – der Verwaltungsrat der neu gegründeten SE gem.
§ 35 Abs. 1 SEBG hälftig mit Arbeitnehmervertretern zu besetzen. Es wird also die derzeitige Rechtslage in Bezug auf
die Mitbestimmung im Aufsichtsrat quantitativ eins zu eins
auf die monistische SE übertragen. Ergänzt wird dies durch
Mechanismen, welche nach dem Vorbild von § 29 Abs. 2 S.1
MitbestG Mehrheiten der Arbeitnehmervertreter gegenüber
den Anteilseignervertretern im Verwaltungsrat verhindern sollen. So sieht die SE-VO in Art. 50 Abs. 2 ein Zweitstimmrecht des Verwaltungsratsvorsitzenden bei Stimmengleichheit
vor, wobei diese Position nach Art. 45 S. 2 SE-VO bei paritätischer Mitbestimmung zwingend mit einem Anteilseignervertreter zu besetzen ist. Ein Mehrstimmrecht hat der Verwaltungsratsvorsitzende zudem nach § 35 Abs. 3 SEAG, wenn
Verwaltungsratsmitglieder zugleich geschäftsführende Direktoren sind und aus rechtlichen Gründen einem Stimmverbot
unterliegen.
bb) Vereinbarkeit mit Verfassungs- und Europarecht
Diese Umsetzung ist wegen seiner qualitativen Ausweitung
der Mitbestimmung77 auf das Leitungsorgan bereits im Gesetzgebungsverfahren Gegenstand kontroverser Diskussionen
gewesen.78 Im Schrifttum wird die Vereinbarkeit des Modells
mit der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG vor dem Hintergrund eines Verlusts der Befugnis zur Letztentscheidung durch
die Vertreter der Anteilseigner79 bei paritätischer Mitbestim75
Problematisch ist hierbei vor allem, dass durch diese
Rechtsfolge kein Gleichgewicht in der Verhandlungsposition
zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgebern besteht. Dies folgt
aus der default rule der Spieltheorie, siehe hierzu Fleischer,
AcP 204 (2004), 502 (535) m.w.N.
76
Lutter, ZHR 159 (1995), 287 (297).
77
Jacobs, in: Münchner Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl.
2006, § 36 SEGB Rn. 18; Kämmerer/Veil, ZIP 2005, 369
(370).
78
Siehe hierzu die Stellungnahme der Bundesregierung, BTDrs. 15/3654, S. 1 f.
79
Siehe hierzu grundlegend BVerfGE 50, 290 (350) (zum
MitbestG von 1976).
mung kontrovers diskutiert, wobei wohl überwiegend von
einer Verfassungswidrigkeit der Regelung ausgegangen wird.80
Zudem wird das Mitbestimmungsmodell teilweise für europarechtswidrig gehalten, da das deutsche Modell das in Art.
38b SE-VO normierte Wahlrecht zwischen monistischer und
dualistischer Organisationsverfassung faktisch entwerte.81
cc) Die SE als Mittel zur Vermeidung der Mitbestimmung
In Bezug auf die Mitbestimmung verdient ein weiterer Aspekt der SE im Allgemeinen besondere Beachtung: Durch die
Umwandlung in eine SE eröffnet das geltenden Recht die
Möglichkeit, der unternehmerischen Mitbestimmung zu entrinnen bzw. ein niedriges Mitbestimmungsniveau in einer Gesellschaft zu perpetuieren. Als Folge des Vorher-NachherPrinzips ist es nämlich möglich, eine Gesellschaft, die mangels der erforderlichen Zahl von Arbeitnehmern82 noch nicht
der Mitbestimmung unterliegt bzw. knapp unter der Schwelle
zur obligatorischen paritätischen Mitbestimmung (vgl. § 1 Abs. 1
Nr. 2 MitbestG) liegt, durch die Umwandlung in eine SE
auch bei einem zukünftigen Wachstum der Mitarbeiterzahl
von der Mitbestimmung frei zu stellen, da eine Änderung eines
einmal bestehenden Mitbestimmungsmodells in einer SE
weder durch die SE-VO noch durch das SEBG gefordert
wird.83
3. Rechtstatsächliche Erkenntnisse
Vor allem aufgrund der Schwierigkeiten der Umsetzung der
deutschen Mitbestimmung wurde der monistischen SE überwiegend eine Zukunft als „totes Recht“ vorausgesagt.84 Unter
80
So Gruber/Weller, NZG 2003, 297 (299); Henssler, in:
Beier (Hrsg.), Festschrift für Ulmer, 2003, S. 193, 202; Jacobs (Fn. 77), § 35 SEBG Rn. 17 ff.; Kämmerer/Veil, ZIP
2005, 369 (370 ff.); Roth, ZfA 2004, 431 (452 ff.); Seibt/
Wilde, in: Hommelhoff/Hopt/v.Werder (Hrsg.), Handbuch
Corporate Governance, 2003, S. 377, 397; Scherer, Die Qual
der Wahl: Dualistisches oder monistisches System?, 2006,
S. 148. Die Vereinbarkeit mit Art. 14 GG befürwortend Frodermann in: Jannott/Frodermann (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 2005, Rn. 196; Niklas, NZA
2004, 1200 (1204); Scheibe, Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der SE unter besonderer Berücksichtigung des
monistischen Systems, 2007, S. 211 f.; Reichert/Brandes,
ZGR 2003, 767 (790).
81
Roth, ZfA 2004, 431 (444 f.).
82
Die unternehmerische Mitbestimmung beginnt – vorbehaltlich einiger Sonderfälle – gem. § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 2 DrittelbG in Form der Drittelmitbestimmung bei einer Arbeitnehmerzahl von in der Regel über 500. Die sog. paritätische
Mitbestimmung beginnt bei einem Mitarbeiterbestand von in
der Regel über 2.000 (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 MitbestG).
83
Zu den möglichen Grenzen wegen eines Verstoßes gegen das
Missbrauchverbot siehe Köstler, in: Theisen/Wenz (Hrsg.), Die
Europäische Aktiengesellschaft, 2. Aufl. 2005, S. 369 ff.
84
Reichert/Brandes, ZGR 2003, 767 (790); ebenso zweifelnd
Blanquet, ZGR 2002, 20 (49); Heinze, ZGR 2002, 67 (94);
Lutter, BB 2002, 1 (4); Schiessl, ZHR 167 (2003), 235 (250).
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ZJS 5/2008
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Corporate Governance
rechtstatsächlichen Gesichtspunkten lässt sich jedoch festhalten, dass Anfang 2008 in Deutschland acht monistische SE
existierten, die ein operatives Geschäfts betreiben.85 Hierbei
ist besonders bemerkenswert, dass die größte Gesellschaft
unter ihnen fast 4.000 Mitarbeiter beschäftigt86 und mit der
Mensch und Maschine SE bereits eine monistische SE am
Kapitalmarkt notiert ist.87 Die monistisch verfasste SE ist
somit in der Rechtswirklichkeit „angekommen“.
III. Monistische Systeme aus Sicht der Corporate Governance-Debatte
Mangels empirischer Erfahrungen mit eingliedrigen Leitungssystemen in Deutschland soll nunmehr auf der Grundlage der
monistischen SE die Internationalität und Interdisziplinarität
der Corporate Governance-Diskussion genutzt werden. Hierfür erfolgt zunächst eine Analyse monistischer Führungssysteme aus rechtsökonomischer Sicht, um schließlich mittels
Erkenntnissen aus der Rechtsvergleichung zu den USA Maßnahmen zur Verbesserung der Corporate Governance in monistischen Führungssystemen zu identifizieren.
1. Rechtsökonomische Perspektive
Die Grundfrage nach der Vorzugswürdigkeit des monistischen
oder des dualistischen Systems ist in der Rechtsökonomie seit
langem viel diskutiert. Mittlerweile scheint sich die Ansicht
durchgesetzt zu haben, dass keines der Systeme dem anderen
per se überlegen ist.88 Jedoch können durchaus Aussagen über
Vorzüge und Defizite monistischer Strukturen gemacht werden.
a) Ausgangsmodell
Theoretischer Ausgangspunkt dieser Überlegungen sind die
Rollen der Unternehmensleitung als agent und der Anteilseigner des Unternehmens als principal. Die Belange anderer
stakeholder sind im Rahmen dieses Modells ausgeklammert.
Gegenstand guter Unternehmensführung muss es sein, opportunistisches Verhalten des agent zu verhindern.89 Aufgabe der
Unternehmensleitung als agent ist es, Entscheidungsprozesse
für die Anteilseigner durchzuführen, da dies bei einer großen
Anzahl von Anteilseignern durch diese nicht effektiv gesche-
85
Schwimbersky/Kelemen, SE Overview Table, abrufbar
unter eu/http://www.workerparticipation-.european_compny/se_companies/overview_table__1/se_overview_table_januar
y_2008 (zuletzt abgerufen am 22.3.2008).
86
Schwimbersky/Kelemen (Fn. 86), S. 2.
87
Vgl. hierzu den Geschäftsbericht aus dem Jahr 2008, abrufbar unter http://www.equitystory.com/Download-/Companies
/mensch/Annual%20Reports/DE0006580806-JA-2007-EQD-00.pdf (zuletzt abgerufen am 21.3.2008).
88
Berrar, Die Entwicklung der Corporate Governance in Deutschland im internationalen Vergleich, 2001, S. 49 ff.; Roe, 102
Yale L. J. (1992-93), 1927 (1997); Romano, 102 Yale L. J.
(1992-93), 2021 (2036); mittels einer empirischen Analyse
jüngst Jungmann, ECFR 2006, 426 (441 ff.).
89
Hansmann/Kraakman, The Anatomy of Corporate Law,
2004, S. 22.
VARIA
hen kann.90 Solche Entscheidungsprozesse laufen nach Fama/Jensen in vier Phasen ab:91
- Vorschlag – Vorlage von Vorschlägen zur Nutzung der
Produktionsmittel.
- Bestätigung – Beschluss über durchzuführende Entscheidungsvorschläge.
- Durchführung – Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen.
- Überwachung – Messung der Leistungen der Entscheidungsträger und Festsetzung von Belohungsmechanismen.
b) Flexibilitätsvorteile
Dadurch, dass alle Stadien dieses viergliedrigen Entscheidungsprozesses in einem Organ vereint sind, besteht die Möglichkeit, auf äußere Einflüsse zu reagieren, indem Ressourcen
zwischen den Ebenen des dargestellten Entscheidungsprozesses flexibel verteilt werden, während dies bei organschaftlicher Trennung von Leitung und Kontrolle strukturell erschwert
wird. Somit identifiziert die Rechtsökonomie eine größere Flexibilität als Vorteil monistischer Führungsstrukturen.92
c) Informationsvorteile
Ferner geht die Rechtsökonomie davon aus, dass das für
diesen viergliedrigen Entscheidungsprozess benötigte Wissen
in komplexen Organisationsstrukturen wie der eines Unternehmens auf zahlreiche Akteure verteilt ist.93 Daher bietet
sich aus Sicht der Institutionenökonomie an, eine Separierung
der Akteure in das Entscheidungsmanagement – mithin die
ersten drei Stadien des oben beschriebenen Entscheidungsprozesses – einerseits und anderseits der Entscheidungskontrolle als letztes Stadium dieses Prozesses durchzuführen. Die
Separierung von Kontrolle und Leitung ist sinnvoll, da beide
Teile des Entscheidungsprozesses jeweils spezialisiertes Wissen voraussetzen.94 Hierbei stellen die Akteure des Entscheidungsmanagements, die über einen Vorsprung an Information
aus dem Tagesgeschäft verfügen, den Informationsfluss zu
den Entscheidungskontrolleuren sicher.95 Durch die organschaftliche Verflechtung in monistischen Systemen, welche
sich in der monistischen SE im Verwaltungsrat vollzieht,
kann ein besserer Informationsfluss zwischen beiden Akteuren stattfinden, was Transaktionskosten senkt und somit als
abstrakter Vorteil monistischer Systeme gewertet werden
90
Adams, Ökonomische Theorie des Rechts, 2. Aufl. 2004,
S. 284; Ruffner, Die ökonomischen Grundlagen eines Rechts
der Publikumsgesellschaft, 2000, S. 140.
91
Fama/Jensen, 26 Journal of Law and Economics (1983),
301 (303).
92
Albach u.a. (Hrsg.), Deregulierung des Aktienrechts: Das
Drei-Stufen-Modell – Ein Entwurf zur Modifizierung des
Aktienrechts im Hinblick auf personalistische Gesellschaftsstrukturen und einen erleichterten Börsengang, 1988, S. 107;
Bleicher/Paul, DBW 46 (1986), 263 (265).
93
Fama/Jensen, 26 Journal of Law and Economics (1983),
301 (308).
94
Ruffner (Fn. 90), S. 139.
95
Ruffner (Fn. 90), S. 140.
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573
VARIA
Fabian Walla
kann.96 Abgeschwächt wird dies jedoch durch das in der
Verhaltenswissenschaft als agenda setting bekannte Phänomen, nach dem Menschen dazu neigen, den Informationsfluss
zu kontrollierenden Akteuren zu manipulieren.97 Dies geschieht, indem Informationen selektiv weitergegeben werden,
um Informationsasymmetrien zu kreieren.98
d) Kontrolldefizit
Die Kehrseite dieses effizienten Informationsflusses ist jedoch,
dass im monistischen System die latente Gefahr besteht, dass
die Akteure beider Ebenen des Entscheidungsprozesses, mithin der Entscheidungsfindung und der Entscheidungskontrolle, kollusiv zusammenwirken.99 Nach Erkenntnissen der Verhaltenswissenschaften besteht bei einer solch engen organschaftlichen Bindung zwischen Leitung und Kontrolle die
Tendenz zu einer natürlichen Gruppendynamik in Form einer
Solidarisierung von Kontrolle und Leitung, welche die Effektivität der Überwachung verringert.100 Ausgelöst wird dies durch
einen Gleichlauf der Interessen: Da die Entscheidungskontrolleure im Leitungsorgan auch die Richtlinien des Entscheidungsmanagements bestimmen, ist diese Gruppe nunmehr
berufen, auf eigenen Entscheidungen beruhende Maßnahmen zu
kontrollieren.101 Letztendlich verfolgen beide Gruppen also
das identische Ziel, was opportunistische, mithin lediglich am
eigenen Wohl und nicht am Wohl der Gesellschaft ausgerichtete Entscheidungen des Entscheidungsmanagements ermöglicht. Verstärkt wird dieser Effekt der Gruppendynamik dadurch,
dass bei Fehlentscheidungen nur selten zwischen jenen Stadien des Entscheidungsprozesses unterschieden werden kann,
so dass beide Gruppen von einer Haftung gegenüber dem
principal – also bei einer monistischen SE gegenüber den
Aktionären – bedroht sind.102 Besonders ausgeprägt können
sich solche Solidarisierungseffekte darstellen, wenn ein als stark
empfundener Akteur hierarchisch an der Spitze sowohl des
96
Davis, ZGR 2001, 268 (284); Scherer (Fn. 80), S. 113.
Jensen, 48 J. Fin. (1993), 831, (864); Langevoort, 89 Geo.
L. J. (2000-01), 797, 813.
98
Grundlegend Milgrom/Roberts, 94 Am. J. Soc. Sup. (1988),
154 (156 f.). („decision makers may strongly suspect that
individuals or groups may attempt to manipulate their decision“).
99
Ruffner (Fn. 90), S. 140 f.
100
Ezzamel/Watson, in: Keasy/Wright (Hrsg.), Corporate Governance: Economic Management and Financial Issues, 1997,
S. 62, 71; dies aus juristischer Perspektive aufnehmend Böckli,
in: Hommelhoff/Hopt/v.Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate
Governance, 2003, S. 201, 214; Fleischer, AcP 204 (2004),
502 (527); Langevoort, 89 Geo. L. J., 797, 800; Lutter, in:
Scheffler (Hrsg.), Corporate Governance, 1995, S. 5, 17. Siehe
ferner Bainbridge, 61 Geo. Wash. L. Rev. (1992-93), 1033
(1059 ff.) und Meier-Schatz, in: Schweizer, Festschrift für
Jean Nicolas Druey, 2002, S. 470 ff. (493) für eine Erklärung
dieser Solidarisierung unter soziologischen Gesichtspunkten.
101
Ezzamel/Watson, in: Keasy/Thompson/Wright (Hrsg.), Corporate Governance, 1997, S. 54, 65.
102
Siehe zu dieser Problematik bei der monistischen SE
Merkt, ZGR 2003, 650 (671 ff.).
97
Entscheidungsmanagements als auch der Entscheidungskontrolle steht, sich also „eine monistische Spitze im monistischen System“ bildet.103 Hier entsteht ein besonders starker
Interessengleichlauf zwischen Leitung und Überwachung.104
Zudem besteht aus verhaltenswissenschaftlicher Sicht die Gefahr, dass den Kontrolleuren eine Führungsfigur zu ihrer Koordination fehlt.105 Im Ergebnis besteht die Gefahr einer ineffizienten Kontrolle des Entscheidungsmanagements in monistischen Führungssystemen.
2. Rechtsvergleichende Perspektive
Nachdem nunmehr in der rechtsökonomischen Theorie ein latentes Kontrolldefizit als Eigenheit monistischer Systeme identifiziert wurde, sollen vor dem Hintergrund dieses Defizits
durch einen Blick in die traditionell durch eingliedrige Führungssysteme geprägte US-amerikanische Rechtspraxis mögliche Lösungsmechanismen für die Behebung dieses Kontrolldefizits vorgestellt werden.
a) Übertragbarkeit US-amerikanischer Erkenntnisse
Zweifel an der Zulässigkeit rechtsvergleichender Lösungen
aus den USA ergeben sich zunächst prima facie aus den durchaus signifikanten Unterschieden in den rechtstatsächlichen
Rahmenbedingungen zwischen Deutschland und den USA.
So ist zunächst die Orientierung am Kapitalmarkt in den USA
traditionell wesentlich stärker als in Deutschland106 und stellt
den wichtigsten Teil des Kontrollgefüges für US-Unternehmen dar,107 was vor allem darin begründet liegt, dass in den
USA der Aktienbesitz stark fragmentiert ist.108 Ferner ist die
US-Wirtschaft durch das Phänomen institutioneller Investoren geprägt, die aktiven Einfluss auf die Unternehmensführung nehmen.109 In Deutschland herrscht stattdessen traditionell ein Kontrollsystem vor, das auf Großaktionären beruht,
weil der Aktienbesitz tendenziell bei wenigen Anteilseignern
konzentriert ist.110 Hierbei kommt insbesondere den Banken
durch das Depotstimmrecht besonderes Gewicht zu.111 Zu103
Böckli (Fn. 100), S. 201 (214).
Rechner/Dalton, 12 Strategic Management Journal (1991),
155.
105
Jensen, 48 J. Fin. (1993), 831 (866).
106
Escher-Weingart, ZVglRWiss 99 (2000), 387 (390 ff.).
107
Nicklisch, Die Auswirkungen des Sarbanes-Oxley Act auf
die deutsche Corporate Governance, 2007, S. 85 f.; Schneider-Lenné, in: Scheffler (Hrsg.), Corporate Governance, 1995,
S. 35 (40).
108
Abeltshauser, in: Abeltshauser./Buck (Hrsg.), Corporate
Governance, 2004, S. 1, 9.
109
Leyens, RabelsZ 67 (2003), 57 (67); siehe ferner Götz,
Managementkontrolle durch institutionelle Investoren in
Deutschland und den USA, 2000, S. 143 ff. zu den Mittel der
Einflussnahme von institutionellen Investoren in den USA.
110
Holland, Das amerikanische „board of directors“ und die
Führungsorganisation einer monistischen SE in Deutschland,
2006, S. 114 f.; Hopt, ZGR 2000, 779 (802 ff.).
111
Holland (Fn. 110), S. 114; Marseguerra, Corporate Financial Decisions and Market Value, 1998, S. 147 ff.; Mülbert,
104
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Corporate Governance
dem haben die Banken auch aufgrund ihres hohen Anteils an
der Unternehmensfinanzierung einen weitgehenden Einfluss.112
Schließlich besteht in Deutschland mit der Mitbestimmung
eine Corporate Governance-Komponente, die den USA gänzlich unbekannt ist.
Betrachtet man jedoch die aktuelle Entwicklung, so ist eine Konvergenzbewegung zwischen Deutschland und den
USA auszumachen.113 Der Kapitalmarkt in Deutschland hat
in den letzten Jahren deutlich an Bedeutung gewonnen.114 Dies
zeigt sich etwa am zunehmenden Einfluss institutioneller Investoren auf das Wirtschaftsleben115 sowie in der Angleichung des regulatorischen Umfelds der Kapitalmärkte an das
US-System.116 Zwar gibt es weiterhin fundamentale Systemunterschiede in den für die Corporate Governance relevanten
Rahmenbedingungen, etwa den Einfluss der Banken in Deutschland. Dennoch erscheinen Erkenntnisse aus dem US-amerikanischen Recht zunehmend geeignet, Eingang ins deutsche
Recht zu finden. Besonders im Bereich der internen Corporate Governance sind die systemimmanenten Unterschiede mit
Ausnahme der Mitbestimmung von untergeordneter Natur.
Im Ergebnis sind die Erkenntnisse aus den USA also durchaus übertragbar, jedoch sind hierbei stets die Eigenarten des
deutschen Corporate Governance-Systems zu berücksichtigen.
b) Das board-System im US-amerikanischen Gesellschaftsrecht
Betrachtet man die Grundstrukturen der Unternehmensverfassung US-amerikanischer Prägung, erscheinen allgemeine
Aussagen über die US-amerikanische Aktiengesellschaft problematisch, da aufgrund der Regelungskompetenz der Bundesstaaten das Gesellschaftsrecht nicht einheitlich geregelt ist.
De facto hat sich jedoch eine repräsentative gesellschaftsrechtliche Ordnung durch den Einfluss von Modell-Gesetzen117 soin: Hopt u.a. (Hrsg.), Comparative Corporate Governance –
The State of the Art and Emerging Research, 1998, S. 445
(479 ff); Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse
des Zivilrechts, 4. Aufl. 2005, S. 656 f.
112
Dies empirisch belegend Gerum, Das deutsche Corporate
Governance-System – Eine empirische Untersuchung, 2007,
S. 87 ff.; siehe ferner Hopt, ZGR 2000, 779 (803 f.).
113
So spricht Seibert, AG 2004, 529 (531) etwa von einer
„Auflösung der Deutschland-AG“.
114
Merkt, Gutachten G für den 64. Deutschen Juristentag,
2002, S. 38 f.; Nicklisch (Fn. 107), S. 83.
115
Escher-Weingart, ZVglRWiss 99 (2000), 386 (402 ff.);
siehe zu den Formen der Unternehmenskontrolle durch institutionelle Finanzinvestoren Mackensen, Institutionelle Anleger im Unternehmensrecht Deutschlands und der USA, 2000,
S. 148 ff.
116
So lässt sich etwa die Einführung des WpHG im Jahre
1994 als Angleichung des deutschen an das US-Kapitalmarktrecht mit seinem Securities Exchange Act 1934 verstehen.
117
Als besonders einflussreich ist hierbei der Revised Model
Business Corporation Act von 1984 anzusehen, siehe hierzu
Windbichler, ZGR 1985 50 (51 ff.). Zum rechtshistorischen
VARIA
wie aus der allgemeinen Tendenz der Inkorporierung der
meisten Unternehmen im Bundesstaat Delaware herausgebildet.118 So hat sich für die Unternehmensverfassungen ein
statuary scheme119 herausgebildet, welches gleichermaßen für
die große börsennotierte public corporation, als auch für die
nicht-börsennotierte, personalistisch strukturierte closly held
corporation gilt:
Die Leitung des Unternehmens steht dem board of directors als Kollegialorgan zu.120 Dieses delegiert in der Praxis
die Führung der Tagesgeschäfte an executive officers.121 An
deren Spitze steht der chief executive officer (CEO), der zumeist weisungsbefugt gegenüber den anderen Mitgliedern der
Geschäftsführung ist.122 Gewählt wird ein board von den
Aktionären der Gesellschaft. Hierbei besteht durch das System des proxy votings, wonach die in der Hauptversammlung
nicht anwesenden Aktionäre den executive officers auf der
Basis ihrer Vorschläge die Vollmacht zur Stimmausübung
erteilen,123 ein signifikanter Einfluss der executive officers
auf die Wahl der board-Mitglieder.124 Ein board besteht in der
Praxis bei großen Gesellschaften in der Regel aus zehn bis
vierzehn directors.125 Jene directors sind executive directors,
soweit sie zugleich Managementaufgaben übernehmen126 und
non-executive directors, soweit sie nicht mit Managementaufgaben betraut sind.127 Hierbei ist es weit verbreitet, dass
der Vorsitzende des Verwaltungsrats (chairman of the board)
in Personalunion ebenfalls den Vorsitz der Geschäftsführung
als CEO innehat.128 Hauptaufgaben des board sind die Bestellung und Abberufung des CEO, die strategische Unternehmensplanung, die Beratung der Geschäftsführung, die Etab-
Hintergrund, ferner Buxbaum, in: Feddersen/Hommelhoff/
Schneider (Hrsg.), Corporate Governance – Optimierung der
Unternehmensführung und der Unternehmenskontrolle im
deutschen und amerikanischen Aktienrecht, 1996, S. 65,
71 ff.
118
Cary, 83 Yale L. J. (1973-74), 663 (668 ff.);
Merkt/Göthel, US-Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2006, Rn. 270.
119
Merkt/Göthel (Fn. 118), Rn. 566 ff.; Leyens, RabelsZ 67
(2003), 59 (69).
120
V. Hein, RIW 2002, 501 (502).
121
Elsing/Van Alistine, US-Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 1999,
Rn. 603; Merkt/Göthel (Fn. 118), Rn. 575.
122
Schander, Die Europa-AG und ihre Organverfassung vor
den Herausforderungen eines modernen Kapitalmarkts, 2003,
S. 167; Witt, Corporate Governance-Systeme im Wettbewerb,
2003, S. 65 f.
123
Escher-Weingart, ZVglRWiss 99 (2000), 387 (399); Holland (Fn. 110), S. 58; Merkt/Göthel (Fn. 118), Rn. 784; Werner, 81 Colum. L. R. (1981), 1611 (1635).
124
Fisch, 46 Vand. L. Rev. (1993), 1129 (1163 f.); Holland
(Fn. 110), S. 58 f.; Monks/Minow (Fn. 15), S. 203.
125
Holland (Fn. 110), S. 134.
126
Henn/Alexander, Laws of Corporations and Other Business Enterprises, 3. Aufl. 1983, S. 553 ff.
127
Holland (Fn. 110), S. 18.
128
Millstein/MayAvoy, 98 Colum. L. Rev. (1998), 1283,
(1287); Monks/Minow (Fn. 15), S. 208.
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lierung von Kontrollverfahren und das Risikomanagement.129
In der Praxis führt das board seine Aufgaben durch eine Reihe von Ausschüssen (sog. committees) aus. Diesen wird die
Entscheidungsbefugnis für ihren Aufgabenbereich übertragen.130
c) Vergleich zur monistischen SE deutschen Rechts
Im Vergleich zur monistischen SE deutschen Rechts zeigt sich,
dass eine weitgehende Konvergenz der grundlegenden Organisationsstrukturen besteht. Erwähnenswerte Unterschiede bestehen insbesondere in Bezug auf die Entscheidungskompetenz der committees, da in der monistischen SE einzig der
Verwaltungsrat Beschlüsse fassen kann und die Ausschüsse
diese Beschlüsse nach § 34 Abs. 4 SEAG lediglich vorbereiten bzw. die Ausführung von früheren Beschlüssen überwachen dürfen. Überdies ist es in der monistischen SE nicht möglich, dem Vorsitzenden der Geschäftsführung ein Weisungsbzw. Alleinentscheidungsrecht gegenüber den anderen geschäftsführenden Direktoren zuzugestehen.131
d) Reformbestrebungen in der US-Corporate-GovernanceDebatte
Angestoßen durch diverse Unternehmenskrisen,132 die auf jenes
unter rechtsökonomischer Perspektive entwickelte Defizit an
Kontrolle des Managements zurückgeführt wurden, kam es in
der US-amerikanischen Corporate Governance-Debatte zu umfangreichen Reformbemühungen im Bereich interner Corporate Governance.133 Als wesentliche Reformansätze lassen
sich hier drei Maßnahmenkreise systematisieren:
- Anzahl und Unabhängigkeit der non-executive directors
- Trennung der Ämter des CEO und des chairman of the
board
- Aufstellung von committees
aa) Anzahl und Unabhängigkeit der non-executive directors
So wurde bereits seit den 1980er Jahren als Reformmaßnahme gefordert, dass eine Stärkung des board gegenüber den
executives erfolgen solle.134 Erster Ansatzpunkt hierfür war
die Stärkung der Rolle der non-executive directors, um eine
effektive Überwachung der Unternehmensführung zu gewähr-
129
Siehe hierzu unter der Nennung weiterer Aufgabenbereiche Holland (Fn. 110), S. 23 f.
130
§ 141(c)(2) Delaware General Corporation Law; § 8.25 Revised Model Business Corporation Act; siehe hierzu Schneider-Lenné, in: Scheffler (Hrsg.), Corporate Governance,
1995, S. 27, 35.
131
Siehe hierzu unter III. 1. b) bb).
132
Auslöser waren etwa Betrugsfälle durch das Management,
siehe hierzu Goerdeler, ZGR 1987, 219 (220 ff.). In jüngerer
Zeit ist ferner an die öffentlichkeitswirksamen Zusammenbrüche von Unternehmen wie Enron oder WorldCom zu
denken, siehe Schwarz/Holland, ZIP 2002, 1661.
133
Siehe hierzu übersichtsartig Berrar (Fn. 88), S. 117 ff.
134
So bezeichnete Millstein, 48 Bus. Law. (1993), 1485 das
board als „parsley on the fish“.
leisten.135 Diese Betonung der Kontrollaufgabe des board
wird zurückgehend auf die Arbeiten von Eisenberg als monitoring model136 bezeichnet, welches seinen Ausdruck vor
allem in der Forderung nach einer Erhöhung des Anteils von
non-executive directors im board sowie in restriktiveren
Vorschriften zur Sicherstellung ihrer tatsächlichen Unabhängigkeit fand. Diese Forderungen wurden durch den Einsatz
von auf freiwilliger Befolgung basierenden Kodizes oder mittels
Änderungen der Börsenzulassungsbestimmungen umgesetzt.
Beispielhaft wurde in die Zulassungsbestimmungen der New
Yorker Börse (NYSE) aufgenommen, dass die Mehrheit des
board aus independent bzw. outside directors, also unabhängigen Mitgliedern bestehen muss. Um diese Qualifikation zu
erfüllen, dürfen board-Mitglieder selbst bzw. ihre Familie
neben ihrer Vergütung als non-executive director keine signifikanten Zahlungen von der Gesellschaft erhalten haben sowie gegenwärtig oder binnen drei Jahren keine executives der
Gesellschaft gewesen sein bzw. nicht in einem sonstigen Dienstverhältnis zu ihr gestanden haben. Ferner schließt eine Tätigkeit als Führungskraft in einem Unternehmen, das wesentliche Geschäfte mit der Gesellschaft unterhält, eine Qualifikation als unabhängig aus.137 Andere Empfehlungen hatten den
Kreis der nicht unabhängigen Personen sogar auf sämtliche
Mitarbeiter von Unternehmen ausgedehnt, die wesentliche
Geschäftsbeziehungen zur Gesellschaft unterhalten.138 Neuere Vorschläge gehen noch weiter und verlangen eine hauptamtliche Tätigkeit der directors139 oder fordern, die Anzahl
der executive directors im board pauschal auf zwei zu reduzieren.140
bb) Trennung von CEO und chairman of the board
Hieran anknüpfend gab es überdies Versuche, die tradierte
Praxis einer Personalunion von chairman of the board und
CEO zu beenden,141 da etwa der spektakuläre Zusammenbruch
des WorldCom-Konzerns142 maßgeblich auf die Machtfülle
der dortigen CEO zurückgeführt wurde.143 In die gleiche
135
Bainbrigde, 61 Geo. Wash. L. Rev. (1992-93), 1035 (1056 f.);
Bhagat/Black, 54 Bus. Law. (1999), 1097 (1101).
136
Eisenberg, 63 Cal. L. Rev. (1975), 375 (396); Eisenberg,
The Structure of the Corporation – A Legal Analysis, 1976,
S. 177 ff.; siehe auch Werner, 81 Colum. L. R. (1981), 1611,
(1654 f.).
137
§ 303A.01 und § 303A.02 NYSE Listed Company Manual, abrufbar unter http://www.nyse.com/Frameset.html?nyref=http%3A//www.nse.com/regulaton/listed/118250812442
2.html&displayPage=/lcm/lcm_section.html (zuletzt abgerufen am 10.9.2007).
138
ABA, 56 Bus. Law. (2001), 1571 (1590 f.).
139
Kraakman, in: Feddersen/Hommelhoff/U.H.Schneider (Hrsg.),
Optimierung der Unternehmensführung und der Unternehmenskontrolle im deutschen und amerikanischen Aktienrecht, 1996,
S. 129, 141 f.; Gilson/Kraakman, 43 Stan. L. Rev. (1990-91),
863 (884 ff.).
140
ABA, 56 Bus. Law. (2001), 1571 (1590).
141
ABA, 56 Bus. Law. (2001), 1571 (1592).
142
FAZ vom 9.8.2002.
143
Schwarz/Holland, ZIP 2003, 1661 (1664 f.).
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576
Corporate Governance
Richtung gingen Bestrebungen, durch die Schaffung eines lead
directors die Macht des CEO and chairman of the board zu
begrenzen.144 Diese Funktion soll ein non-executive oder gar
independent director übernehmen, der mit Sonderkompetenzen
ausgestattet wurde, etwa dem Recht, Sitzungen zu leiten und
die Tagesordnung zu bestimmen.145
cc) Aufstellung von committees, insbesondere eines audit
committees
Schließlich wurde in den Reformbestrebungen der Versuch
einer verstärkten Diversifizierung der board-Strukturen durch
Ausschüsse unternommen, die ausschließlich oder mehrheitlich mit independent directors besetzt sein sollten.146 Als
Höhepunkt dieser Bemühungen erließ der US-Bundesgesetzgeber in Folge des Enron-Skandals147 im Jahr 2002 den Sarbanes-Oxley Act. Dieses Gesetz erhebt seither die Aufstellung eines audit committee,148 also eines Prüfungsausschusses für börsennotierte Unternehmen in den Rang einer gesetzlichen Pflicht.149 Zweck eines solchen Ausschusses ist es, die
Finanzangelegenheiten der Gesellschaft zu überwachen sowie
insbesondere die Kontrolle der Wirtschaftsprüfer sicherzustellen.150
3. Schlussfolgerungen für die monistische SE deutschen
Rechts de lege ferenda
Die vorgestellten Maßnahmen aus der amerikanischen Corporate Governance-Debatte erscheinen im Ausgangspunkt grundsätzlich geeignet, das unter rechtsökonomischer Perspektive
festgestellte Kontrolldefizit im Rahmen der internen Corporate Governance einer monistischen SE deutschen Rechts zumindest zu verringern. Bei einer möglichen Implementierung
der Maßnahmen im Hinblick auf die monistische SE de lege
ferenda wird insbesondere darauf zu achten sein, die deutsche
Besonderheit der Mitbestimmung zu integrieren, welche dem
US-System naturgemäß fremd ist. Als Anknüpfungspunkt für
eine solche Umsetzung bietet es sich insbesondere an, ähnliche Regelungen wie in den USA im Wege der Aufnahme von
Empfehlungen für eine monistische SE in den Deutschen
Corporate Governance Kodex zu schaffen. Hiernach müssten
zwar nur die am Kapitalmarkt notierten monistischen SE
144
Eisenberg, 19 Cardozo L. Rev. (1998-99), 237 (239);
v. Hein, RIW 2002, 501 (506).
145
v. Hein, RIW 2002, 501 (506).
146
Siehe hierzu etwa § 3A.04 American Law Institute Principles
of Corporate Governance, abrufbar unter: http://www.ali.org/
index.cfm?fuseaction=publications.publicationscatalog (zuletzt abgerufen am 10.9.2007).
147
Siehe hierzu insbesondere das Interview mit Hopt, HB
vom 21.2.2002.
148
Sec. 301(1) Sarbanes-Oxley Act 2002.
149
Zur Umsetzung und exterritorialen Wirkung dieses Gesetzes,
vgl. Kersting, ZIP 2003, 2010.
150
Girnghuber, Das US-amerikanische Audit Committee als
Instrument zur Vermeidung bei der Überwachungstätigkeit
deutscher Aufsichtsräte, 1998, S. 34 ff.; Goerdeler, ZGR
1987, 219 (223).
VARIA
gemäß § 161 AktG erklären, ob sie den Empfehlungen des
Kodex Folge leisten. Dennoch könnte durch eine Aufnahme
von Empfehlungen in den Deutschen Corporate Governance
Kodex (DCGK) auch für nicht-börsennotierte Gesellschaften
erstmals eine best practice in Bezug auf monistische Führungssysteme in Deutschland festgeschrieben werden, welche
– anders als etwa die Kodizes in den USA – deutsche Besonderheiten wie etwa das Bestehen der unternehmerischen Mitbestimmung berücksichtigen. Berücksichtigt man die im
Rahmen dieses Beitrags genannten rechtstatsächlichen Erkenntnisse, welche eine durchaus gegebene praktische Existenz monistischer SEs erkennen lassen, und bedenkt man
zudem, dass gegenwärtig auf europäischer Ebene ein allgemeines Wahlrecht zwischen monistischer und dualistischer Organisation für das nationale Aktienrecht erwogen wird,151 so
ist die Aufnahme von Regelungen, welche die Entwicklung
der US-amerikanischen Corporate Governance-Diskussion
berücksichtigen, ein notwendiger Schritt, um die monistische
SE als attraktive Alternative auf dem Markt der Rechtsformen auszugestalten. Selbstverständlich bleibt jedoch auch der
deutsche Gesetzgeber gehalten, die Entwicklungen in Bezug
auf Kontrolldefizite in monistisch verfassten Gesellschaften
zu beobachten, um im Falle negativer Erfahrungen in der Unternehmenspraxis oder bei einer systematischen Nichtbefolgung des DCGK zu reagieren – wie etwa im Beispiel der
Offenlegung von Vorstandsvergütungen bei der AG152 – und
etwaigen Defiziten in den bestehenden monistischen SE auch
gesetzgeberisch zu begegnen.
IV. Zusammenfassung in Thesen
1. Die monistische SE deutschen Rechts ist das Produkt eines
komplexen Zusammenspiels von europäischem und deutschem Recht. Ihre Binnenverfassung gemäß der Ausführung
in deutsches Recht ist mit der SE-Verordnung vereinbar.
2. Inhaltlich orientiert sich die Unternehmensverfassung
bis auf wenige Unterschiede an der klassischen boardStruktur aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis, wobei
aufgrund der weit reichenden Satzungsautonomie vielfältige
Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der gesetzlichen Rahmenbedingungen bestehen.
3. Die „Ankunft“ der monistischen SE in der Rechtswirklichkeit ist anzuerkennen. Um das Corporate-GovernanceModell der monistischen SE zu verbessern, sollten die den
monistischen Leitungssystemen immanenten Kontrolldefizite
verringert werden.
4. Hierzu bietet sich rechtspolitisch zuvörderst das Mittel
der Aufnahme von Empfehlungen einer best practice in den
DCGK an, welche sich an den Entwicklungen der Corporate
Governance-Diskussion in den USA orientieren.
151
Siehe hierzu bereits Fn. 7.
So wurde der Gesetzgeber durch das VorstOG (BGBl. I 2005,
S. 2267 f.) tätig, da die Empfehlung in Ziff. 4. 2. 4. nicht hinreichend beachtet wurde, siehe hierzu Spindler, NZG 2005, 689.
152
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