Transparenz in der Pressenfertigung
Transcription
Transparenz in der Pressenfertigung
■ PRESSEN Transparenz in der Pressenfertigung Betriebssteuerung. Auf über 30 Pressen produziert die Aircabin GmbH unterschiedlichste GFK-Formteile für die Innenausstattung der Airbus-Flotte. Für höhere Transparenz, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit sorgt seit gut einem Jahr ein zentrales PC-basiertes Bedien- und Beobachtungssystem. JÜRGEN SPECK as als Bölkow Apparatebau Nabern 1960 gegründete Unternehmen Aircabin hat sich unter anderem als Teil von MBB und Deutscher Aerospace Airbus weltweit etabliert. Heute gehört die seit rund fünf Jahren eigenständige Tochterfirma von EADS Airbus Deutschland zur „Manufacturing Unit Cabin“ im neu organisierten Airbus-Verbund. Seit Anfang der 70er-Jahre finden sich im Innenraum sämtlicher von Airbus produzierter Flugzeuge Teile von Aircabin. Als bevorzugter Lieferant ist das Unternehmen mit rund 750 Mitarbeitern in zukunftsweisende Entwicklungen wie den neuen Airbus A380 eingebunden. In Laupheim werden auf drei Linien mit insgesamt 31 Pressen Bauteile für die Kabineninnenausstattung von jährlich bis zu 350 Flugzeugen produziert (Bild 1). Dazu zählen auch mehr als 70 000 Varianten von Schläuchen, Rohren und Kanälen zur Beund Entlüftung (Airducts). Hinzu kommen Großteile wie Seiten- und Decken- D 54 verkleidungen (Bild 2), Hatrack-Türen und Türrahmenverkleidungen mit Abmessungen bis zu 1300 × 1100 mm, die in der so genannten Crushed-Core-Technik auf vier Großpressen mit Zuhaltekräften von bis zu 250 Tonnen gefertigt werden. Dieses Verfahren liefert sehr leichte, hoch- feste und im Brandfall raucharme Verbundformteile aus glasfaserverstärkten Kunststoffmatten (GFK) und verdichtetem („crushed“) Wabenprofil. Die Schwaben haben jahrzehntelange Erfahrung in der Konzeption und Umsetzung anspruchsvoller Interior-Konzepte. Bild 1. Auf über 30 Pressen entstehen anspruchsvolle Innenraumbauteile für alle Airbusmodelle © Carl Hanser Verlag, München Kunststoffe 4/2003 PRESSEN ■ Sie veredeln ihre Produkte durch das Applizieren von Dekor- und Strukturfolie oder durch Lackieren. Abgerundet wird das Leistungsspektrum mit der Vormontage von Einzelteilen zu einbaufertigen Systembaugruppen, die in Liefereinheiten für jeweils eine Maschine „just-in-time“ an den Endmontagelinien in Hamburg und Toulouse bereitgestellt werden. Darüber hinaus versorgt Aircabin verschiedene Airlines auf Abruf mit Ersatzteilen. gängig neu automatisiert: Mit Regelsystemen, Controllern, dezentraler Peripherie und einem zentralen Bedien- und Beobachtungssystem (B&B-System) aus dem Simatic-Spektrum (Hersteller: Siemens). Zentrale Anlaufstelle Je eine Simatic S7-414-3 DP steuert jetzt den Betrieb von zehn Formenträgern.Vier dieser Kopfsteuerungen gibt es insgesamt. Hinzu kommt eine Simatic S7-314 IFM raturregelung, und dem zentralen Schichtspeicher. Das Multi-Point-Interface (MPI) der Simatic-Welt verbindet die fünf Kopfsteuerungen mit einer zentralen WinCCStation direkt an der Linie (Bild 3). Hier werden die Programme (Rezepturen) für die verschiedenen Formenträger verwaltet und fehlerfrei zugeordnet. Über das Einlesen eines Barcodes gelangen aus einer Datenbank die richtigen Rezepturen automatisch an den jeweiligen Formenträger; bei 40 verschiedenen Heizkreisen, 20 Re- Sichere und transparente Regelung gefordert Der Verarbeitungs- und Aushärteprozess von Verbundformteilen ist im Prinzip immer gleich: Automatisiert von der Rolle gefertigte Maßzuschnitte aus Epoxidbzw. Phenolharzmatten (Prepreg), partielle Verstärkungen und die Wabenstruktur werden von Hand in einen Formrahmen gebracht und mit diesem in den Formenträger der Presse eingelegt. Das eigentliche Aushärten dauert je nach Formenaufbau und verwendeten Materialien von einigen Minuten bis zu mehreren Stunden. Dabei muss die Temperatur einem exakten Zeitprofil folgen, zum Beispiel schnell auf 90 °C gebracht, eine Zeit lang gehalten, auf 140 °C erhöht, wieder gehalten und am Ende schnell auf das Anfangsniveau reduziert werden. Die dafür erforderlichen Regelsysteme waren veraltert, die Fehlerhäufigkeit hatte zugenommen, so dass sich die Prozesssicherheit nicht mehr gewährleisten ließ. Außerdem entsprach das Energiemanagement nicht mehr dem Stand der Technik, so dass sehr viel der zentral erzeugten Wärmeenergie ungenutzt verloren gegangen ist. Deshalb hat der Flugzeugausrüster die gesamten Produktionslinien mit Ausnahme der eigentlichen Pressensteuerungen durch- Bild 2. Seitenverkleidung für den Airbus A320 im Werkzeug einer Großpresse Kunststoffe 4/2003 Bild 4. Alle wichtigen Informationen des Wasserkreislaufs auf einem Bild für eine Großpresse. Alle Controller sind untereinander und auch mit dem Firmennetzwerk verbunden. Über Profibus-DP läuft die Kommunikation mit dezentralen Peripherieeinheiten an 30 eine Etage über der Produktion installierten Prozesswasserpumpen, den Stellgliedern der Tempe- zepturen und täglich vier bis fünf Formenwechseln an den 31 Pressen der Linie eine sinnvolle Investition.„Die Anbindung des Scanners ging schnell und reibungslos“, so Ulrich Mall (Leiter der Instandhaltung), „wir konnten uns ganz auf das V Wesentliche konzentrieren.“ Bild 3. Rechnerstation an der Linie vereinfacht die Bedienung und erhöht die Transparenz 55 Bild 5. Detaillierte Einstellungen der Temperaturregler lassen sich mit der Rezeptur speichern Dies war vor allem die einfache Gestaltung der Bedienabläufe und der Visualisierung. Basierend auf ihren langjährigen Erfahrungen definierten die Instandhalter die Grundstrukturen und betrauten Siemens I&S (Industrial Solutions and Services) mit der Umsetzung. „Die gesamte Umstellung musste bei laufender Produktion erfolgen, zu einer Zeit, in der wir besonders viele unserer anspruchsvollsten Teile zu fertigen hatten“, erinnert Ulrich Mall an die nicht einfachen Rahmenbedingungen. „Wir mussten um jede Unterbrechung im Dreischichtbetrieb ringen, haben die alte Steuerungstechnik vor die Schaltschränke gehängt und Schritt für Schritt auf die neuen Systeme umgestellt.“ Prozesstransparenz ohne Grenzen Insgesamt wurden deutlich über 100 Bildmasken generiert und gemeinsam mit dem Betreiber optimiert.Am WinCC-Rechner für jeden Formenträger separat abrufbar sind unter anderem Bilder des Wasserkreislaufs mit allen Ver- und Entsorgungsleitungen, Ventilen, Pumpen und Messstellen, den Wassertemperaturen vor und nach Wärmetauschern sowie im zentralen Schichtspeicher (Bild 4). An der Farbe der Anzeige erkennt der Bediener so- V Bild 6. Aktuelle Ist-Daten für jeden Formenträger der Produktlinie stehen auf Knopfdruck zur Verfügung Kunststoffe 4/2003 ■ PRESSEN fort, ob eine bestimmte Temperatur im Soll (grün), zu niedrig (blau) oder zu hoch (rot) ist, und kann gezielt eingreifen. Ebenso gibt es detaillierte Übersichten sämtlicher Regelungsparameter, die sich nun erstmals mit der Rezeptur abspeichern und bei Bedarf schnell wieder einlesen lassen (Bild 5). Autorisierte Bediener können die Einstellungen auch verändern i Anwender Aircabin GmbH Am Flugplatz D-88471 Laupheim Tel. +49 (0) 73 92/7 03-0 Fax. +49 (0) 73 92/7 03-186 www. aircabin.de und optimieren. Mit dem geplanten Umzug in eine neue Produktionshalle in ein bis zwei Jahren möchte die Instandhaltung alle Parameter über externe Variablen verarbeiten und das Leistungsvermögen der höchsten WinCC-Ausbaustufe nutzen, um noch schneller an die Daten der einzelnen Formenträger heranzukommen. Das gelingt mit einer Zusatzeinrichtung, mit der die Sammelübertragung der Variablen von jeweils zehn Formenträgern in einem Datenbaustein an das Visualisierungssystem möglich ist. Aber auch ohne diesen Komfort konnten durch die erhöhte Transparenz der Regelung die Zykluszeiten im Durchschnitt um rund 10 % verringert werden.„Die Integration aller Reglerparameter in die Rezepturen vereinfacht und verkürzt insbesondere Produktionswechsel an Formenträgern mit komplexen eigenbeheizten Werkzeugen deutlich“, so Ulrich Mall. Und die automatisierte Rezepturübernahme ist im Vergleich zur bisher praktizierten manuellen Eingabe ein ganzes Stück sicherer. Als besonders nützlich hat sich die Datenschreiberfunktion mit skalierbarer Zeitachse erwiesen, mit deren Hilfe sich zum Beispiel während der Spätschicht aufgetretene Fehler auch nachträglich lokalisieren und analysieren lassen (Bild 6). Mittlerweile kennen die Instandhalter ihr System so gut, dass sie unerfahrenen Bedienern in der Spätschicht auch am Telefon Hinweise zur Störungsbeseitigung geben können. Im Betrieb zeigt WinCC neben dem voreingestellten Soll-Profil den Kurvenverlauf des aktuellen Istwerts für den ausgewählten Formenträger sowie den aktuellen Prozessschritt. Alle Formenträger werden im Hintergrund kontinuierlich überwacht, und das System gibt eine detaillierte Störmeldung aus, wenn zum Beispiel ein Temperaturfühler ausfällt. Das kam früher relativ häufig vor, wie der bisherige Bedarf von über 100 Sensoren pro Jahr zeigt. Zum Problem wurde dies, da vorher je ein Temperaturfühler für den Regelprozess und einer für den Prozessschreiber getrennt installiert waren und Ausfälle oft erst nach langer Zeit erkannt wurden. Jetzt sind beide Sensoren über die Regelung geführt, werden gemeinsam überwacht, und einer kann automatisch die Aufgaben des anderen übernehmen. Der Prozess wird auch bei Ausfall eines Sensors sicher zu Ende geführt, und es gibt kaum noch Ausschussteile. i Hersteller Siemens Business Services SBS ITS AOS 13, Fr. Kaljumäe Würzburger Straße 121 D-90766 Fürth Fax: +49 (0) 9 11/9 78-3321 E-Mail: karin.kaljumae@fth2.siemens.de Kennwort: A&D GC 031/03 Im neuen System können auch die Temperaturkurven der getrennt beheizten oberen und unteren Werkzeughälfte an den Großpressen auf einfache Weise synchronisiert und transparent visualisiert werden, was bisher nicht möglich war. Weitere Applikationen geplant Die Transparenz lässt sich steigern, indem alle Prozessparameter der gesamten Linie in Form von Excel-Tabellen praktisch auch an jedem vernetzten Rechner im Unternehmen verfügbar sind. Außerdem ist der Betrieb in der Lage, sich bei Bedarf mit dem Programmiergerät an jeder Stelle des Industrial Ethernets in das System einzuklinken.Das sind Argumente genug für den Betreiber, auch an anderer Stelle der Fertigung ein vergleichbares System einzuführen. So sollen demnächst weitere Wärmeprozesse automatisiert, deren Betriebsdaten erfasst und via Ethernet zur Dokumentation der Qualität an die Bürowelt übermittelt werden. ■ DER AUTOR DIPL.-INF. (FH) JÜRGEN SPECK, geb 1959, ist bei der Siemens AG, Nürnberg, im Bereich Simatic HMI Promotion tätig; juergen.speck@siemens.com 58 © Carl Hanser Verlag, München Kunststoffe 4/2003