- Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft
Transcription
- Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft
Online MU 1/2010 Friederike Haslbeck Fortbildungsprogramme zur Musiktherapie mit Frühgeborenen – Eindrücke aus den USA und Anknüpfungspunkte für den deutschsprachigen Raum Musiktherapie mit Frühgeborenen ist ein junges, expandierendes und zugleich hoch sensibles Feld. Gerade die kleinsten Frühgeborenen werden vor schwierige gesundheitliche und prognostische Herausforderungen gestellt, die es in der intensivmedizinischen Versorgung zu bewältigen gilt (Wolke et al. 2001). Jegliche therapeutische Intervention muss speziell auf die Fragilität der Frühgeborenen ausgerichtet werden, so auch in der Musiktherapie. Sie erfährt in der Neonatologie seit einigen Jahren einen Professionalisierungsschub, insbesondere im angloamerikanischen Raum. Dabei handelt es sich sowohl um rezeptive als auch aktive musiktherapeutische Ansätze, in die unterschiedliche Arten von Musik, Gesang oder Instrumentalspiel sowie weitere Stimulationsangebote verwoben werden (Übersicht in Haslbeck 2009). Die Therapieangebote auf neonatologischen Intensivstationen richten sich bereits an frühstgeborene Kinder oder beginnen ab dem Säuglingsalter, mit oder ohne Einbeziehung der Mutter, der Eltern bis hin zur ganzen Familie und dem stationären Umfeld. Bei einigen Ansätzen liegt der therapeutische Fokus auf den Frühgeborenen, bei anderen Konzepten stehen eher die Eltern und die Förderung der Eltern-KindBeziehung im Vordergrund. Aus der Empirie liegen – ebenfalls vorwiegend aus den USA – zahlreiche Forschungsergebnisse zu Musiktherapie mit Frühgeborenen vor, deren positive Wirkung eine MetaAnalyse von Standley (2002) untermauert. Zugleich wird auf die Vulnerabilität dieser fragilen Patientengruppe hingewiesen und ein breites Spektrum an therapeutischer Kompetenz von allen professionellen Akteuren in der Neonatologie gefordert (Standley 2003a). Um diesem Kompetenzbedarf zu begegnen, sind in den USA zwei Fortbildungsangebote für Musiktherapie in der Neonatologie entwickelt worden, die auch für den deutschsprachigen Raum von Relevanz sein dürften. Der vorliegende Beitrag zielt darauf ab, beide US-amerikanischen Fortbildungsangebote – so genannte ‚Neonatal Intensive Care Unit-‘ oder kurz; ‚NICU-Trainings‘ – vorzustellen: das NICUTraining von Jayne M. Standley am National Institute for Infant and Child Medical Music Therapy an der Florida State University (FSU) und das NICU-Training von Joanne V. Loewy am Louis Armstrong Center For Music & Medicine in New York City. Die zwei unterschiedlich konturierten Fortbildungsangebote mit Zertifikat sind jeweils in Kooperation von Musiktherapieinstituten, Krankenhäusern, Universitäten und dem US-amerikanischen Musiktherapieverband, der American Music Therapy Association (AMTA) aufgestellt. Sie adressieren allgemein ausgebildete Musiktherapeuten und umfassen einen Zeitrahmen von einer oder mehreren Woche(n), in denen Module angeboten werden, die zwei bis drei Tage dauern. Die Fortbildungsgebühren variieren zwischen 425-500 US$, je nachdem, wie zeitintensiv der Kurs gestaltet ist. Inhaltlich bieten die Trainings sowohl einen detaillierten theoretischen als auch praktischen Einblick in Musiktherapie auf der Neonatologie. Das vermittelte theoretische Hintergrundwissen zu Ansätzen und Methoden der Musiktherapie mit Frühgeborenen bereitet auf die Hospitation bis hin zur Durchführung eigener Therapien unter Supervision vor. Zudem werden mit Hilfe von Videomaterial Therapieauszüge präsentiert und Assessment-, Auswertungs-, und Dokumentationsverfahren sowie aktuelle Forschungsergebnisse und Literatur zum Thema besprochen. Specialized Training in NICU MT1 am National Institute for Infant and Child Medical Music Therapy, Florida State University Das National Institute for Infant and Child Medical Music Therapy an der FSU wird von Dr. Standley geleitet. Es kooperiert mit dem Tallahassee Memorial HealthCare Hospital (TMH) und dem Florida Hospital in Orlando. In beiden Kliniken wird auf verschiedenen Stationen Musiktherapie angeboten, 1 MT = music therapy © März 10 Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft e.V. (DMtG), Libauer Straße 17, 10245 Berlin Internetredaktion news@musiktherapie.de Online im TMH bereits seit über 20 Jahren. Das NICU-Training wird von Standley und ihren sowohl in Forschung als auch Praxis tätigen Mitarbeiterinnen gestaltet. Die Fortbildung umfasst insgesamt 30 Stunden und richtet sich explizit an ausgebildete Musiktherapeuten (Übersicht s. Schaukasten). Bei erfolgreicher Teilnahme an einzelnen Trainings-Modulen werden an amerikanische Musiktherapeuten spezielle Bonuspunkte vergeben, die es in den USA während des beruflichen Werdegangs regelmäßig vorzuweisen gilt, um die erforderliche „Continuing Education“ aufzeigen zu können. Wird die gesamte Fortbildung erfolgreich absolviert, erhalten die Teilnehmer zusätzlich die Zertifizierung zum NICU-MT – ein Titel, der die Zusatzqualifikation des Musiktherapeuten für den Bereich der Neonatologie unterstreicht und für den des weiteren der MT-BC-Status2 Voraussetzung ist. Das vollständige NICU-Training setzt sich aus drei Modulen zusammen, die innerhalb eines Jahres absolviert werden müssen: • ein intensives theoretisches Training mit abschließendem schriftlichen Test, wahlweise in Seminarform an der FSU oder im Rahmen der jährlichen AMTA-Konferenz, wo es als achtstündiges Pre-Conference-Training angeboten wird • ein klinisches Training am Florida Hospital in Orlando oder am TMH, das ebenfalls mit einem schriftlichen Test abschließt und zwei Tage umfasst • eine abschließenden schriftlichen Prüfung, die auf der Lektüre von Fachliteratur basiert. Im ersten theoretisch ausgerichteten Modul wird medizinisches und entwicklungsneurologisches Hintergrundwissen zu frühgeborenen Kindern vermittelt. Im Mittelpunkt stehen ferner Theorie und Methode der Medical Music Therapy, einem Ansatz, der den behavioristisch basierten Musiktherapiemethoden in den USA zuzuordnen ist und der die von Standley entwickelten Musiktherapiemethoden für Frühgeborene prägt. Vorgestellt wird zum einen die Multimodale Stimulation (MMS), eine spezielle Musiktherapiemethode für frühgeborene Kinder, denen leise, einfache Wiegenlieder vorgesungen oder auf der Gitarre vorgespielt werden. Aufbauend auf die fortlaufende auditive Stimulation werden zeitnah Schritt für Schritt taktile, vestibuläre und visuelle Stimulationsformen unter sorgfältiger Beobachtung angeboten. Ziel dieser Methode ist es, die Toleranzgrenze der Frühgeborenen für multiple Stimuli zu heben sowie die allgemeine Homeostasis der Kinder zu fördern (Standley 1998). Auf Grund der möglichen Gefahr von Überreizung wird ausdrücklich darauf hingewiesen, die MMS Frühgeborenen erst ab dem korrigierten Alter von 30 oder gar 32 Schwangerschaftswochen (SSW) anzubieten und bei Zeichen von Überreizung das Stimulationsangebot zu reduzieren oder zu beenden. Zum anderen wird die Pacifier Activated Lullaby-Methode – kurz: PAL oder nun auch Luna 1 genannt – besprochen, eine Musiktherapiemethode für Frühgeborene ab der 34. SSW. Dieser Ansatz der FSU ist patentiert worden und soll die Dauer und Effektivität der Saug- und Schluckfähigkeit der Kinder und somit ihre Gewichtszunahme fördern. Das Saugen am Schnuller wird während der Therapie auf den mit dem Schnuller verbundenen CD-Spieler als elektrisches Signal übertragen, so dass nur Musik gespielt wird, wenn das Kind am Schnuller saugt bzw. mehr Musik erklingt, je stärker und öfter das Kind schnullert (Standley 1999, 2000, 2003b). Im zweiten Modul wird die theoretisch-methodische Heranführung an die Medical Music Therapy in der Neonatologie durch die Darstellung von Therapieplanung, -zielsetzung, -durchführung, dokumentation und -auswertung vertieft. Die Teilnehmer haben die Möglichkeit, bei der Musiktherapie im Krankenhaus zu hospitieren und einen Einblick in die praktische Umsetzung der MMS- und PAL-Methode zu erlangen. Darüber hinaus werden sie in der Durchführung eigener Therapien nach der MMS- und PAL-Methode geschult und supervidiert. Ergänzend werden Implementierungsmodelle bis hin zu detaillierten Kosten-Nutzen-Analysen vorgestellt, um Musiktherapieprogramme in der Neonatologie an Kliniken aufbauen zu können. Arrondiert wird das 2 In den USA ist die Ausbildung zum Musiktherapeuten einheitlich durch die AMTA geregelt und wird von einem unabhängigen Zertifizierungsgremium für Musiktherapeuten (Certification Board of Music Therapists, kurz: CBMT) geprüft. Der „Music Therapist-Board Certified“-Status (MT-BC) ist in den USA Vorraussetzung, um als Musiktherapeut arbeiten zu können. Er kann nur aufrechterhalten werden, wenn eine fortlaufende Weiterbildung in Form von Kreditpunkten, wie bspw. durch die Teilnahme an Trainings, erbracht oder aber die CBMT-Prüfung nach fünf Jahren wiederholt wird. © März 10 Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft e.V. (DMtG), Libauer Straße 17, 10245 Berlin Internetredaktion news@musiktherapie.de Online Trainingsangebot durch ausgehändigte Fachliteratur (Standley 2003a; Standley et al. 2005) und präsentationsbezogene Hand-outs, deren Lektüre im dritten Modul auf die abschließende Prüfung vorbereitet. Inhalte der beiden schriftlichen Abschlussprüfungen sind sowohl Multiple-ChoiceFragen als auch Fragen, in denen eigene Ausführungen und Therapie-Entwürfe gefordert sind. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das NICU-MT Training an der FSU in Kooperation mit der AMTA höchst professionell aufgestellt ist – von der Organisation über die abwechslungsreiche, kompetente Gestaltung der Module bis hin zur Präsentationsqualität einzelner Themenbereiche. Den Teilnehmern wird ein umfassendes Hintergrundwissen zur Entwicklungsneurologie des frühgeborenen Kindes vermittelt, um sich auf die sensible und anspruchsvolle klinische Versorgung Frühgeborener adäquat vorbereiten und die Medical Music Therapy in der Neonatologie entsprechend anwenden zu können. Die Vulnerabilität frühgeborener Kinder wird sehr ernst genommen und jegliche Wissensvermittlung durch Forschungsergebnisse fundiert sowie eine klare Altersbegrenzung zu den jeweiligen Therapieformen vorgegeben. Mit Hilfe der Präsentationen, Hand-outs und Videobeispiele werden theoretische und methodische Themen abwechslungsreich, eindrücklich und sehr professionell vorgetragen. Die Hospitation und Anleitung zur Durchführung eigener Therapien nach der MMS- und PAL-Methode wird intensiv vorbereitet und sorgsam supervidiert. Das Louis Armstrong NICU-Training am Beth Israel Medical Center, New York City Das Louis Armstrong Center for Music and Medicine befindet sich im Beth Israel Hospital in New York City und wird von Dr. Joanne Loewy geleitet. Ihr Team, bestehend aus sechs Musiktherapeuten und wechselnden Studenten im Praktikum, bietet Musiktherapie auf verschiedenen Stationen sowie im ambulanten Bereich der Klinik an. Darüber hinaus kooperiert das Department of Music Therapy mit der New York University, mit der Drexel University in Philadelphia, sowie mit der AMTA. Durch diese Kooperationen können Aus- und Fortbildung in Form von Praktika für Studenten und Fortbildungsangebote mit Zertifizierung sowie die Vergabe von Bonuspunkten realisiert werden. Neben dem kontinuierlichen Praktikumsangebot existiert ein Orientierungs- und Beobachtungstraining, das sich an Musiktherapeuten, Musiktherapiestudenten und interessierte Professionen der Gesundheitsversorgung richtet. Das Department offeriert insbesondere die berufliche Fortbildung mit Zertifikat für den Bereich der Neonatologie, das Louis Armstrong NICU-Training (s. Schaukasten). Es wird von Loewy und ihren Mitarbeitern gestaltet und richtet sich sowohl an US-amerikanische als auch international ausgebildete Musiktherapeuten. Bei erfolgreicher Teilnahme am Training können Bonuspunkte und ein entsprechendes Zertifikat erworben werden. Es findet im Department of Music Therapy und auf den Frühgeborenenstationen des Beth Israel Hospitals sowie des kooperierenden St. Lukes Hospitals statt und umfasst in der Regel eine Woche (35 Stunden). Hauptbestandteil des NICU-Trainings am Beth Israel Centers ist die tägliche Hospitation. Weitere praktische als auch theoretische Anteile des Trainings werden in ihrer genauen Abfolge und Schwerpunktsetzung jeweils auf die individuellen Erfordernisse, Interessen und Wünsche der Teilnehmer zugeschnitten und entsprechend flexibel gestaltet. Es werden theoretische Inhalte wie bspw. medizinisches und entwicklungsneurologisches Hintergrundwissen zum frühgeborenen Kind als auch psychologische Erkenntnisse zum Befinden der Eltern vermittelt. Die Teilnehmer erlangen sowohl einen theoretisch-methodischen als auch praktischen Einblick in die am Center praktizierte Medical Music Psychotherapy. Da es sich bei der Methode der Medical Music Psychotherapy um einen aktiven, psychotherapeutisch geprägten Musiktherapieansatz handelt, der die Eltern bis hin zur gesamten Familie mit in die Musiktherapie einschließt, sind Themen wie Eltern- bzw. Familiengespräche, einbindung und -anleitung von großer Bedeutung. Im Bereich der Neonatologie lehnt sich die Medical Music Psychotherapy an die akustischen Erfahrungen des Kindes im Mutterleib an. So wird entweder eine Ocean Drum gespielt, die an das Rauschen des Blutes im Mutterleib erinnert, oder es wird eine Gato-Box angewendet, die den Klang des Herzschlages imitiert. Darüber hinaus werden die Eltern im Erstgespräch nach dem ‚song of kin‘ gefragt, einer Art Lieblingslied, das eine © März 10 Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft e.V. (DMtG), Libauer Straße 17, 10245 Berlin Internetredaktion news@musiktherapie.de Online besondere Rolle während der Schwangerschaft oder im Leben der Mutter, der Eltern oder der Familie gespielt haben kann. Dieser ‚song of kin‘ wird als Grundlage der musiktherapeutischen Intervention verwendet und vom Musiktherapeuten allein, mit der Mutter oder den Eltern gemeinsam gesummt, gesungen oder auf der Gitarre gespielt (Azoulay/Loewy 2009; Loewy 2000). Neben der Musiktherapie für Eltern und Kind wird im NICU-Training bei Loewy auch die Environmental Music Therapy vorgestellt, bei der für die gesamte Station einschließlich des Teams aus Ärzten und Pflegekräften dezente Musik im Hintergrund live gespielt wird. Environmental Music Therapy verfolgt das Ziel, sowohl Stress bei professionellen Akteuren als auch bei Eltern abzubauen, Stationslärm zu maskieren und somit eine angenehme, positive und ruhige Atmosphäre auf der Intensivstation zu fördern (Loewy 2000). Um die praktische und theoretische Heranführung an die Medical Music Psychotherapy zu vertiefen und die Teilnehmer nun auf die Durchführung eigener Therapien unter Supervision auf der Frühgeborenenstation vorzubereiten, werden zudem Assessment-, Dokumentations- und Auswertungsmethoden dargestellt. Beobachtete und selbstgestaltete Therapien werden anschließend besprochen und diskutiert. Gegen Ende der Woche folgt eine schriftliche Abschlussprüfung, bei der sowohl Multiple-Choice-Fragen als auch Fragen, die eigene Ausführungen fordern, gestellt werden. Ferner werden themenbezogene Artikel als auch Assessment- und Dokumentationsmaterial ausgehändigt (ex. Loewy 2005). Bücher von Loewy können zusätzlich erworben werden (Azoulay/Loewy 2009; Loewy 2000). Die Fortbildungswoche endet mit einem persönlichen, reflektierenden Abschlussgespräch. Neben dem Bedürfnis musiktherapeutisches Fachwissen und persönliche Erfahrungen weiter zu geben, ist am Beth Israel Medical Center das Interesse groß, die Teilnehmer kennen zu lernen und das Training entsprechend individuell auszurichten. So kann neben der Hospitation bspw. die methodisch-musiktherapeutische Spielweise auf den in der Frühgeborenenmedizin speziell verwendeten Instrumenten, das Gespräch mit den Eltern oder aber die Vertiefung eher theoretischer Themen im Vordergrund stehen. Die Teilnehmer haben immer die Möglichkeit, theoretische und praktische Fragen zu stellen, sich mit eigenem Fachwissen und persönlichen Erfahrungen einzubringen und somit den professionellen Diskurs mit zu gestalten. Die Environmental Music Therapy wird zusammen mit den Teilnehmern in der gemeinsamen Improvisation offeriert. Beeindruckend am Training im Beth Israel Medical Center ist vor allem der Respekt, die hohe Sensibilität und Vorsicht gegenüber frühgeborenen Kindern, ihren Eltern, der Familie bis hin zum gesamten Team in der Neonatologie. Es wird großer Wert auf eine persönliche, bedürfnisorientierte Begegnung gelegt und das Therapieangebot entsprechend individuell ausgerichtet. Es ist gerade diese bedürfnisorientierte, flexible und persönliche Gestaltung der Therapien als auch des gesamten Trainings, die dieses Fortbildungsangebot auszeichnet. Die Mitarbeiter lassen sich offen und selbstverständlich bei der therapeutischen Arbeit ‘über die Schulter’ schauen, um einen möglichst unverfälschten Eindruck des Musiktherapiealltags auf den Frühgeborenenstationen zu vermitteln. Resümee – Schulung versus Förderung musiktherapeutischer Kompetenz in der Neonatologie In der Gesamtschau zeigt sich, dass sich die vorgestellten Fortbildungsangebote in den USA sowohl in ihrer Anlage als auch im inhaltlichen Detail durch hohe Qualität und Professionalität auszeichnen. Sie verfolgen das gemeinsame Ziel, ausgebildete Musiktherapeuten für den sensiblen Bereich der Neonatologie weiter zu qualifizieren, unterscheiden sich jedoch in inhaltlicher als auch struktureller Schwerpunktsetzung. Der grundlegende Unterschied zwischen beiden NICU-Trainings liegt im Musiktherapieansatz selbst: Die Medical Music Therapy für Frühgeborene nach Standley basiert auf behavioristischen Musiktherapieansätzen, die im NICU-Training von Loewy vermittelte Medical Music Psychotherapy ist dagegen psychotherapeutisch angelehnt. Im ‚Standley-Training‘ wird großer Wert auf eine evidenz-basierte, strukturierte Vorgehensweise gelegt und bei der Planung und Durchführung der MMS- und PAL-Methode explizit diesen Vorgaben Folge geleistet. Die Fortbildung bei Loewy ist hingegen bedürfnis- und situationsorientiert, das Musikangebot wird © März 10 Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft e.V. (DMtG), Libauer Straße 17, 10245 Berlin Internetredaktion news@musiktherapie.de Online individuell im therapeutischen Kontakt flexibel gestaltet und es werden ausführliche Gespräche mit Patienten, Eltern und Familien gesucht. Diese Unterschiede spiegelt auch der Aufbau der Trainingsangebote wider. So basiert die Fortbildung in Florida inhaltlich auf Forschungsergebnissen und fokussiert die professionelle Vermittlung der Medical Music Therapy für den Bereich der Neonatologie mit entsprechender Zertifizierung zum NICU-MT. Das Training in New York hingegen stützt sich sowohl auf Forschungsergebnisse als auch auf individuelle therapeutische Erfahrungen. Pointiert formuliert handelt es sich beim Fortbildungsangebot an der FSU um eine forschungsbasierte Schulung für Musiktherapie in der Neonatologie, wogegen das Training am Beth Israel Medical Center in New York auf eine individuelle, teilnehmerorientierte Förderung therapeutischer Kompetenzen von Musiktherapeuten abzielt, die in der Neonatologie tätig sind oder tätig werden wollen. Schaukasten: US-amerikanische Trainingsprogramme für Musiktherapie in der Neonatologie Ansatz NICU-Training FSU Medical Music Therapy (MMT) Zielgruppe Musiktherapeuten, MT-BC Ziel Fortbildung, Zusatzqualifizierung, Zertifizierung 30 Stunden 3 separate Module Vermittlung von medizinischem, entwicklungsneurologischem Hintergrundwissen. Evidenz-basierte Theorie und Methode der MMT (MMS, PAL), schriftliche Prüfungen, Hospitation mit praktischer Anleitung Strukturiert, nach Plan NICU-MT Dr. Jayne M. Standley, Director, National Institute for Infant and Child Medical Music Therapy, Florida State University URL: http://music.fsu.edu/NICUMT/specialized.html Umfang Struktur Inhalt Gestaltung Zertifizierung Kontakt NICU-Training Beth Israel Medical Music Psychotherapy (MMPT) US-amerikanische und international ausgebildete Musiktherapeuten Fortbildung, Zusatzqualifizierung, Erfahrungsaustausch, Networking Mind. 35 Stunden Mind. 5 aufeinanderfolgende Tage Anleitung > Vermittlung von medizinischem, neurologischen Hintergrundwissen, Theorie, Methode der MMPT, schriftliche Prüfung Flexibel, teilnehmerorientiert Urkunde Dr. Joanne Loewy, Director, Louis Armstrong Center for Music and Medicine, NYC; guest lectures at Drexel University, Philadelphia URL: www.musicandmedicine.org Anknüpfungspunkte – Überlegungen zu einem Fortbildungsprogramm für Musiktherapie in der Neonatologie im deutschsprachigen Raum Mit den NICU-Trainings in den USA ist ein wichtiger Schritt gegangen worden, um die sich etablierende Musiktherapie in der Neonatologie in Fragen der Qualitätssicherung und Fundierung von Erreichtem zu unterstützen und sie dadurch in ihrer Professionalisierung zu fördern – ein Schritt, der im deutschsprachigen Raum noch aussteht. Auch in Deutschland, Österreich und in der Schweiz erscheint es sinnvoll, der Frage nachzugehen, wie Musiktherapie in der Neonatologie durch entsprechende Fort- und Ausbildungsprogramme weiter ausgebaut und fundiert werden kann. Vor dem Hintergrund der dargestellten Erfahrungen mit den NICU-Trainings in den USA sollte die gelungene Verknüpfung von Theorie und Praxis beider Trainings Vorbild und Orientierungshilfe sein, wie Aspekte der beschriebenen Inhalte und Strukturen auch hierzulande umgesetzt werden können. Folgende Punkte erscheinen bei der Implementation eines Fortbildungsangebots beachtenswert, um eine Fortbildung zu realisieren, die Qualitätssicherung, Zusatzqualifizierung, © März 10 Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft e.V. (DMtG), Libauer Straße 17, 10245 Berlin Internetredaktion news@musiktherapie.de Online Zertifizierung, Netzwerkarbeit sowie inner- als auch interdisziplinären Austausch und Transparenz zu fördern vermag: • Anbindung an die Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft (DMtG): Ein Fortbildungsprogramm sollte in Kooperation mit der DMtG entwickelt und von dieser als übergeordnete Distanz geprüft werden. • Kooperation mit Ethik-Gremien: Aufgrund der Vulnerabilität von frühgeborenen Kindern und ihren Eltern ist ein Fortbildungskonzept einer Ethikkommission nicht nur zur Prüfung vorzulegen, sondern kooperativ zu entwickeln, um Grenzüberschreitungen und Risiken der Überreizung und Überforderung der frühgeborenen Kinder als auch ihrer Eltern soweit möglich zu vermeiden. Eine respektvolle und sensible Haltung muss das gesamte Fortbildungsangebot prägen, insbesondere was die Hospitation und Anleitung der Teilnehmer zum Durchführen eigener Therapien betrifft. • Anbindung an Hochschuleinrichtungen: Eine weitere wesentliche Voraussetzung ist eine tragfähige Kooperation von Klinik und Musiktherapieinstitution mit Hochschul- bzw. Universitätsanbindung. Dergestalt können Theorie und Praxis in der Fortbildung engmaschig verknüpft werden, um den Teilnehmern sowohl einen realitätsnahen Einblick in den Klinikalltag als auch in aktuelle Forschungsergebnisse zu ermöglichen. • Schulenübergreifender Ansatz: Es bedarf einer schulenübergreifenden Fortbildung, die sich an (inter-)national ausgebildete Musiktherapeuten richtet, die mit unterschiedlichen musiktherapeutischen Ansätzen arbeiten. Zugleich kann sich das Fortbildungsangebot in einzelnen Themenbereichen für interessierte Gesundheitsprofessionen öffnen • Modulare Aufbau: Strukturell ist – ähnlich dem Training in Florida – ein Aufbau in Modulen empfehlenswert, um bspw. berufsbegleitend Moduleinheiten als Wochenendseminare anbieten zu können. Die Module sind thematisch klar zu strukturieren, sollten aber flexibel anwendbar sein, um auf individuelle Bedürfnisse und Erfordernisse der Teilnehmer eingehen zu können. Die Gesamtstundenzahl ist analog zu den US-amerikanischen Trainings bei mindestens 35 Stunden anzusiedeln. • Theoretisches und evidenz-basiertes Fundament: Inhaltlich ist die Vermittlung von forschungsbezogenem, theoretischen und methodischen Hintergrundwissen von Relevanz. In diesem Zusammenhang sollte die Zusammenarbeit mit Experten aus weiteren, in die neonatologische Versorgung eingebundenen Gesundheitsprofessionen angestrebt werden, bspw., um physiotherapeutische Themen wie Handling und Berührung frühgeborener Kinder sowie psychologische Aspekte wie Krisenintervention und Gesprächsführung mit betroffenen Eltern interdisziplinär vermitteln zu können. • Teilnehmer-orientierte Hospitation und Reflexion: Zugleich ist den Teilnehmern – ähnlich dem Training in New York – genügend Raum für Hospitation im Klinikalltag und Durchführung eigener Therapien unter Supervision zu gewährleisten, um Austausch und Reflektion im professionellem Diskurs anzuregen und (erste) eigene Erfahrungen sammeln zu können. Um ein gelungenes Zusammenspiel von Theorie und Praxis in der Fortbildung zu ermöglichen, hat Loewy in einem persönlichen Gespräch betont, wie relevant es ist, die langjährige Erfahrung und Expertise von Lehrenden zu nutzen, die als Musiktherapeuten in der Neonatologie tätig sind. • Implementationshilfen: Insbesondere im deutschsprachigen Raum sind Implementions- und Finanzierungsmodelle zu entwickeln und vorzustellen. Dadurch können die Teilnehmer unterstützt werden, Konzepte für ein Musiktherapieangebot in neonatologischen Einrichtungen zu entwickeln und es leitenden Gremien von Kliniken vorstellen zu können. Ein Schwerpunkt sollte dabei auf Kosten-Nutzen-Analysen musiktherapeutischer Angebote in der Neonatologie liegen, einem Thema, dem hierzulande bislang wenig Aufmerksamkeit beigemessen wird. • Zertifikation: Dem Beispiel der US-amerikanischen Trainingsprogramme folgend kann bei einer erfolgreichen Teilnahme an der Fortbildung mit bestandener Abschlussprüfung ein Zertifikat ausgehändigt werden, das nach Möglichkeit durch Anbindung an eine Hochschuleinrichtung sowie durch Kooperation mit der DMtG ausgestellt wird. Darüber © März 10 Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft e.V. (DMtG), Libauer Straße 17, 10245 Berlin Internetredaktion news@musiktherapie.de Online hinaus ist zu erwägen – analog dem Training in Florida –, eine Zugangsvoraussetzung zur Zertifizierung nationaler Teilnehmer zu fordern, die etwa den in Deutschland seit Anfang diesen Jahres von der DMtG eingeführten Status des Musiktherapeuten bzw. der Musiktherapeutin DMtG darstellen kann. Für internationale Teilnehmer sollte ein Äquivalent festgelegt werden, wenn ein entsprechender Qualifikationsnachweis erbracht wird. Deutlich geworden sein dürfte, dass zur Realisierung eines Fortbildungsprogramms für Musiktherapeuten in der Neonatologie noch eine Vielzahl an strukturellen, inhaltlichen, aber auch finanziellen und administrativen Fragen zu thematisieren ist. Auch wenn sich einige Fragen nicht unmittelbar beantworten lassen, können erste Schritte zur Entwicklung eines Fortbildungsangebots für Musiktherapie in der Neonatologie eingeleitet werden. Denn dadurch – so die hier vertretene Auffassung – kann ein wichtiger Beitrag geleistet werden, dieses junge und sich expandierende Feld im deutschsprachigen Raum weiter zu fundieren und zu professionalisieren. Und mehr noch: Für andere Professionen im neonatologischen Team ist eine Zusatzqualifikation bereits Voraussetzung, um in diesem hochanspruchsvollen Setting überhaupt tätig sein zu können. Dies sollte für Musiktherapie richtungweisend sein, um nicht nur spezifische Kompetenzen im Umgang mit Frühgeborenen und ihren Eltern zu erwerben, sondern durch eine Zertifikation auch im interdisziplinären Kontext einen versorgungsspezifischen Kompetenznachweis vorweisen zu können. Schlussendlich ist das Thema der berufsbegleitenden Fortbildung und Qualitätssicherung auch auf berufspolitischer Ebene für Musiktherapie relevant, da in Deutschland seit Anfang diesen Jahres neben der qualifizierten Ausbildung und Berufserfahrung auch die Teilnahme an Fortbildung und Supervision vorzuweisen ist, um die neu eingeführte Zertifizierung zum Musiktherapeuten bzw. zur Musiktherapeutin DMtG zu erlangen sowie weiter aufrecht erhalten zu können. Literatur Azoulay, R.; Loewy, J. (Hg.) (2009): Music, the Breath and Health: Advances in Integrative Music Therapy. New York: Satchnote Press Haslbeck, F. (2009): Musiktherapie mit Frühgeborenen und ihren Eltern – Ansätze, Empirie und Erfordernisse. Musiktherapeutische Umschau (i. E.) Loewy, J. (Hg.) (2000): Musictherapy in Neonatal Care Unit. New York: Satchnote Press Loewy, J. (2005): Sleep/Sedation in Children Undergoing EEG-Testing: A Comparison of Chloral Hydrate and Music Therapy. Journal of Perinatal Anesthesia Nursing 20, Nr. 5, 323-332 Standley, J.M. (1998): The effect of music and multimodal stimulation on responses of premature infants in neonatal intensive care. Pediatric nursing 24, Nr. 6, 532-538 Standley, J.M. (1999): Music therapy in the NICU: Pacifier-activated-lullabies (PAL) for reinforcement of nonnutritive sucking. IJAM 6, Nr. 2, 17-21 Standley, J.M. (2000): The Effect of Contingent Music to Increase Non-Nutritive Sucking of Premature Infants. In: Loewy, J. (Hg.): Musictherapy in Neonatal Care Unit. New York: Satchnote Press, 57-69 Standley, J.M. (2002): A Meta-analysis of the Efficacy of Music Therapy for Premature Infants. J Pediatr Nurs 17, Nr. 2, 107-113 Standley, J.M. (2003a): Music therapy with premature infants: Research and developmental interventions. Silver Springs, MD: The American Music Therapy Association Standley, J.M. (2003b): The effect of music-reinforced nonnutritive sucking on feeding rate of premature infants. J Pediatr Nurs 18, Nr. 3, 169-173 Standley, J.M.; Gregory, D.; Whipple, J.; Walworth, D.; Nguyen, J.; Jarred, J. (Hg.) (2005): Medical Music Therapy. A Model Program for Clinical Practice, Education, Training, and Research. Silver Springs, MD: American Muisic Therapy Association Wolke, D.; Schulz, J.; Meyer, R. (2001): Entwicklungslangzeitfolgen bei ehemaligen, sehr unreifen Frühgeborenen. Bayrische Entwicklungsstudie. Monatsschrift Kinderheilkunde 149, Nr. [Suppl 1], 5357 Autorin: Friederike Haslbeck, E-mail: musiktherapie@haslbecks.info © März 10 Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft e.V. (DMtG), Libauer Straße 17, 10245 Berlin Internetredaktion news@musiktherapie.de