58-61 Toeten auf Distanz

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58-61 Toeten auf Distanz
GESELLSCHAFT Lebensstil
Töten auf Distanz
Kämpfe von Angesicht zu Angesicht auf Leben und Tod, wie
etwa bei der Schlacht bei Sempach, sind selten geworden.
Die moderne Kriegstechnik sucht die Distanz. Doch nach wie
vor braucht es neben Kriegsgerät vor allem Soldaten.
Um diese zum Morden und Zerstören willens und fähig zu
machen, setzen die Feldherren Drogen, psychologische Tricks
und per Knopfdruck zu bedienende Fernlenkwaffen ein.
Text: Walter Hess
D
as weltweite Morden wird ständig
ausgedehnt, pathologische Massenmörder haben Hochkonjunktur. Die Öffentlichkeit erfährt nur,
was ins politische Kalkül passt: «Die systematische Tötung von irakischen Soldaten, die
sich ergeben haben, hat keiner gefilmt»,
schrieb Peter Scholl-Latour in einem Bericht über den Golfkrieg 1991. Kriege und
polizeiähnliche Verhaftungswellen werden
heute aus politischem Kalkül auch vorbeugend geführt, was gegen das Völkerrecht
verstösst und auf allen Ebenen zu einer zusätzlichen Destabilisierung der Sicherheitslage führt. Ist die Gelegenheit günstig, wird
das Kriegsrecht ausgerufen und eigenwillig
interpretiert. Gleichzeitig wird der Überwachungsstaat ausgebaut. Verdächtige
Menschen und Gruppen werden verhaftet
oder ausradiert. Der Rechtsstaat und seine
Justiz werden allmählich ausgehebelt;
Militärtribunale machen kurzen Prozess.
Das ist der Nährboden für alle denkbaren
Arten von neuem Terrorismus. Die Gewaltforschung hat dadurch einen ergiebigen
Nährboden erhalten – und damit auch das
Nachdenken über die delikaten Fragen des
Soldatentums und des Tötens auf Befehl.
Die Tötungsschwelle
Laut Forschungsergebnissen aus dem Institut für Diaspora- und Genozidforschung
(IDG) der Universität Bochum ist nur jeder 5. Soldat für seine Aufgabe geeignet.
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Das heisst, dass nur bei jedem 5. Soldaten die «Tötungsschwelle» im «militärisch
nützlichen Bereich» liegt. Das deckt sich
mit den bekannten Beobachtungen aus
dem 2. Weltkrieg. Bei den Soldaten, die für
ihre Aufgabe ungeeignet sind, muss man
also versuchen, diese Schwelle zu senken.
Die für das US-Militär tätigen Wissenschaftler in der Forschungsabteilung
«Human Effectiveness Directorate» (Direktorat für menschliche Effektivität) suchen
schon lange nach Möglichkeiten, einen
Supersoldaten zu erschaffen, der Befehle
befolgt, keine Tötungshemmungen und
keine Angst vor dem Tod hat, körperlich
und geistig immer funktioniert, wenn
möglich einige Tage hintereinander. Die
Mittel dazu könnten die Verabreichung
von Drogen (wie etwa Amphetamine), genetische Manipulationen, elektromagnetische Felder und nanotechnologische Errungenschaften sein. Es bestehen bereits
Vermutungen, dass das Beschiessen von
eigenen Einheiten («friendly fire») auf
Piloten zurückgeführt werden könnte, die
unter Drogen standen. Bereits im 1. Golfkrieg mussten Piloten Aufputschmittel
wie «Dexedrin» einnehmen.
Jeder Mensch trägt eine angeborene
Tötungsschwelle in sich, eine psychische
Grundausstattung, die dem Aggressionstrieb entgegenwirkt. Doch Übung macht
den Meister – sogar in solchen Belangen:
Wenn ein Mensch diese Schwelle einmal
überschritten hat, baut sie sich von Tat zu
Tat immer mehr ab; und beim Massenmörder oder bei einem Soldaten, der sich
ständig zu töten gezwungen sieht, ist sie
mehr oder weniger vernichtet. Man weiss
das auch von US-Soldaten, die nach der
Heimkehr im Privatleben kriminell wurden, weil die Waffe jetzt zu locker im Halfter steckte. Sie finden sich im Zivilleben
nicht mehr zurecht, fallen in ein tiefes
Loch. Hier muss die Hemmschwelle dann
wieder heraufgesetzt werden, so weit das
noch möglich ist (der Mensch ist offenbar
leichter zu verrohen als zu erziehen).
Meistens werden sie aber ihrem Schicksal
überlassen: die USA haben die Beiträge an
Sanatorien für Kriegsveteranen wieder
gekürzt.
Verrohende Einflüsse
Drogen oder militärische Übungen an Simulatoren, wie sie für psychologische Trainingsmethoden bei Polizei und Militär eingesetzt werden, können die Kampftauglichkeit erhöhen und beschleunigen. Wie
an einem Flugsimulator, an dem das Fliegen geübt wird, kann einem Menschen
auch das Töten beigebracht werden. Amerikanische Militärpsychologen wenden zu
diesem Zwecke neben Computerspielen
auch Methoden der Konditionierung (Ausblenden bedingter Reaktionen), der Desensibilisierung und des Rollenlernens an.
Der Theologe und Schriftsteller Eugen
Drewermann schreibt in seinem Buch
Die Schlacht bei Sempach vom 9. Juli 1386:
Winkelried wirft sich in die feindlichen Speere.
grund» lässt Friedrich Nietzsche seinen
«Zarathustra» solch diffuse Verhältnisse
in einem treffenden Sprachbild zusammenfassen. Tatsächlich können die Soziologie und Psychologie der Gewalt nicht
auf Prozentzahlen reduziert und damit
simplifiziert werden.
Bild: Keystone
Aus dem Hinterhalt
dukte zu verkaufen. Und immer öfter verwischen sich dann bei den Anwendern
die Grenzen zwischen Scheinwelt und
Wirklichkeit, und bei vielen Gewaltdelikten spielt die Nachahmung eine Rolle.
Selbstredend müssen alle verallgemeinernden Feststellungen mit vielen Einschränkungen versehen werden. «Der
Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier
und Übermensch, ein Seil über einem Ab-
Deutsche Soldaten trainieren virtuell den Krieg: Auf einem Display erscheinen
Kriegssituationen; mit dem «Stinger» werden per Knopfdruck die Feinde vernichtet.
Foto: Keystone
«Krieg ist Krankheit, keine Lösung» zum
derart inszenierten Soldatentum: «Auf Befehl wird alles Befohlene getan, und zwar
bedingungslos. Es ist eine Illusion zu sagen:
Ein Soldat ist ein Bürger in Uniform, ein
demokratisches, mit der Gesellschaft in
ihrer zivilen Grösse identisch gebliebenes
Subjekt... Er ist Teil eines Räderwerks des
Todes. Er wird auf schizophrene Weise
paralysiert. Unter der Maske der zivilisierten Persönlichkeit lauert fortan die Grimasse
der andressierten Tötungsbereitschaft, der
anerzogenen Killerinstinkte, des angewiesenen Mordreflexes. Und da dieser Zustand
überall auf der Welt so besteht, stehen wir mit
einem Fuss noch immer in der Steinzeit. Das
Militär ist eine archaische und barbarische
Männerhorde, ein Hindernis aller Kultur.»
Ob auch Kriegsspiele, Brutalofilme
und die Jagd auf Wildtiere einen Beitrag
zum Absenken der Tötungsschwelle und
zum Vernichten des Mitleids leisten, ist
umstritten. Viele Untersuchungen und
Beobachtungen belegen einen eindeutigen
Zusammenhang, gerade auch mit Computerspielen, weil die Nutzer desensibilisiert und brutalisiert werden. Viele von
diesen Simulationen wurden für den
Armeegebrauch entwickelt. Diesen bezeichnenden Tatbeständen steht die verharmlosende Auffassung entgegen, die
betreffenden speziellen Medienangebote
würden zum Abbau von Aggressionen beitragen. Mit derartigen Argumenten versucht die Vergnügungsindustrie, ihre Pro-
Kämpfe von Angesicht zu Angesicht auf
Leben und Tod wie etwa während der
Schlacht bei Sempach sind selten geworden. Auf das vom ehemaligen irakischen
Vizepräsidenten Taha Jassin Ramadan
Mitte Oktober 2002 vorgeschlagene Duell
Hussein – Bush, an einem neutralen Ort
zur Verhinderung des Krieges, traten die
USA nicht ein. Die Idee war nicht abwegig;
denn wenn früher der Feldherr tot war,
galt die Schlacht für die betreffende Partei
manchmal als verloren. Moderne Feldherren aber sind kaum noch im Feld anzutreffen; sie lassen kämpfen. Kubas Staatschef Fidel Castro war wohl noch einer der
Letzten, die in Kampfmontur an die Front
gingen und das Kommando von dort erfolgreich leiteten (bei der US-amerikanischen Invasion 1961 an der Schweinebucht) – Kuba hat für seinen Sieg dann
mit dem von den USA verhängten Boykott
gebüsst, welcher der übrigen westlichen
Welt aufgezwungen wurde.
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Lebensstil GESELLSCHAFT
Die moderne Kriegstechnik sucht die
Distanz. Sie hat nicht nur bessere, weiter
reichende Feuerwaffen beschert, sondern
mit den Fernlenkwaffen auch technologische Möglichkeiten geschaffen, das ehemalige Handwerk des Tötens aus grossen
Distanzen zu erledigen, einem Computerspiel ähnlich. Die Flugzeuge oder unbemannten Trägerraketen bewegen sich
ausserhalb der Reichweite der Abwehrgeschosse; doch dadurch leidet die Treffergenauigkeit, was sich in einer Zunahme der beschönigend so genannten
Kollateralschäden äussert: Auch Zivilpersonen werden bei Flächenbombardements in den Tod gerissen, ein wahlloses
Töten, das durch kein Kriegsrecht abgedeckt ist.
Weil Tod, Elend und Trümmer beim
industrialisierten Angriffskrieg weit weg
sind und vorerst nur als Detonation wie
bei einem Feuerwerk erlebt werden, sind
die entsprechenden Gewissensbisse bei
den angreifenden Soldaten, die dem technischen Fachpersonal zuzuordnen sind,
entsprechend kleiner. Beim Operieren aus
einer isolierten Situation heraus sind die
Tötungshemmungen wahrscheinlich zu
vernachlässigen. Für die Angegriffenen,
die über kein entsprechendes technisches
Gerät verfügen, bleibt nur der Partisanenoder Guerillakampf, der im Irak nun nach
dem formellen Kriegsende weitergeht.
Die herkömmlichen Kampfmethoden
von Mann zu Mann haben dennoch nicht
ausgedient: Das Hutu-Regime befahl seinen Milizen 1994, nicht mit automatischen Waffen, sondern nur mit Macheten
(Buschmessern) zu morden, wodurch der
symbolische Zusammenhalt in den eigenen Reihen gestärkt werden sollte.
Kamikaze
Eine spezielle Form der bedingungslosen
Selbstaufopferung im Dienste militärischer
Zielsetzungen sind Kamikaze und so genannte Selbstmordattentate, letztere manchmal in Erfüllung eines als göttlich empfundenen Auftrages im Hinblick auf ein
besseres Leben nach dem Tode. Diese religiöse Prägung gibt es vor allem im Islam;
sie wird von einem Hass angetrieben, der
keine Verhältnismässigkeitsüberlegungen
mehr zulässt. Ein ausgeprägter Opferwille
und der Wunsch, zum Märtyrer zu werden,
spielen mit. Das eigene Leben wird gewissermassen als Waffe eingesetzt; der Mensch
wird zur wandelnden Bombe.
In Japan herrschten Verhältnisse, die
eine Modifikation erfordern: «Wir mussten
uns freiwillig melden», zitierte Buchautor
Christoph Reuter einen Kamikazepiloten,
der seinen Angriff im 2. Weltkrieg durch
Zufall überlebt hatte. Die direkte Gleichsetzung der Kamikaze1-Einsätze mit den
Selbstmordattentaten, wie sie vor allem
durch Palästinenser verübt werden, ist
unzutreffend, denn zu facettenreich sind
kulturelle und psychologische Hinter-
gründe. Hinter den Kamikazeflügen stand
die Zen-Philosophie des Bushido. Der
Name bedeutet so viel wie «Der Weg des
Kriegers»; es handelte sich um einen Verhaltens- und Werte-Codex für Samurai. Im
Mittelpunkt von Bushido stand die totale
Loyalität gegenüber dem Herrn.
Religiöse beziehungsweise kulturelle
Hintergründe sind für das Verhalten des
Menschen im Kriegsfall massgebend. Der
Buddhismus ist diesbezüglich ein leuchtendes Beispiel, weil er das Nicht-Töten viel
weiter fasst als das Christentum und auch
alle Tiere einschliesst, ganz ausgeprägt ist
dies im Dschainismus der Fall. Auch jedes
Töten in Notwehr, im Krieg und im Rahmen des Strafrechts ist für einen Buddhisten ausgeschlossen, selbstverständlich
auch Eroberungen und Plünderungen; die
Herrschenden in buddhistischen Ländern
hielten sich allerdings kaum daran. Sie versuchten immerhin, das so aufgehäufte
schlechte Karma2 durch verdienstvolle
Handlungen auszugleichen.
Wäre nicht eine im buddhistischen
Sinne grundlegend geänderte Strategie das
einzig Wahre? In Stefan Zweigs «Jeremias»
kann man das Rezept nachlesen: «Es muss
einer den Frieden beginnen wie einer den
Krieg.»
■
1
2
Kamikaze bedeutet «göttlicher Wind».
Karma steht für das die Form der Wiedergeburt eines Menschen bestimmende Handelns durch welches das Schicksal
bestimmt wird.
Was gilt als Völkermord?
Der aus der griechischen und lateinischen
Sprache stammende Ausdruck Genozid bedeutet Völkermord. Laut der Völkermordkonvention der UNO von 1948 ist Völkermord ein Verbrechen gemäss dem nach wie vor primitiven
internationalen Recht, «das dem Geist und den
Zielen der Vereinten Nationen zuwiderläuft und
von der zivilisierten Welt verurteilt wird». In
dieser Konvention bedeutet Völkermord eine
Handlung, die in der Absicht begangen wird,
eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu
zerstören: Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
Verursachung von schwerem körperlichen oder
seelischen Schaden an Mitgliedern der Gruppe;
vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppen, die geeignet sind, ihre
körperliche Zerstörung ganz oder teilweise her-
beizuführen; Verhängung von Massnahmen,
die auf die Geburtenverhinderung innerhalb
der Gruppe gerichtet sind, und die gewaltsame
Überführung von Kindern der Gruppe in eine
andere.
Die Geschichte ist mit solchen Verbrechen
schwer beladen; zu ihnen gehörten auch die Inquisition und die Hexenverfolgung und ebenso
die Indianerausrottungen in Amerika. Der erste
Völkermord im Europa des 20. Jahrhunderts,
des blutigsten in der Menschheitsgeschichte,
traf 1915/16 die Armenier durch die 1908 an die
Macht gekommene jungtürkische Bewegung;
1,5 Millionen Menschen oder 2 ⁄ 3 des im Osmanischen Reich seit Jahrhunderten lebenden
christlichen Volkes waren die Opfer. Ins Kapitel
Völkermorde gehören der Juden-Holocaust
ebenso wie der Holocaust in kommunistischen
Ländern bis hin zum Wüten der Roten Khmer in
Kambodscha, zur Vernichtung der Bevölkerung
von Nanking (China) durch die japanischen Besatzer (1937/38), der indischen Muslime und
Hindus während der Zeit der Teilung Indiens
(1947/48) und in Afrika zur Ermordung der
Tutsi durch das Hutu-Regime in Ruanda – und
unzählige andere. Zu Völkermorden sind offenbar alle Kulturen fähig, nur Demokratien blieben im 20. Jahrhundert davon verschont.
Solchen vorsätzlichen Verbrechen geht immer
eine Ideologie des Hasses, der Konstruktion
von Feindbildern und gesellschaftlicher Krisen
und Ängste voraus. Heute ist der Aufbau von
solchen mit willfährigen, gleichgeschalteten
Medien verhältnismässig einfach zu bewerkstelligen. Die entsprechenden Gefahren sind virulenter denn je.
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