auf wiedersehen bei den
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auf wiedersehen bei den
anstalt08 22.06.2007 16:10 Uhr Seite 1 FESTIVALZEITUNG NR. 08 / 23.06.2007 Os Bandidos, Teatro Oficina Brasilien Foto: Frank Heller AUF WIEDERSEHEN BEI DEN 15. INTERNATIONALEN SCHILLERTAGEN anstalt08 22.06.2007 ✶ 2 16:10 Uhr Seite 2 MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 23.06.2007 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ INHALTSVERZEICHNIS ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ 02 03 04 05 06 06 07 08 08 09 09 10 11 12 – – – – – – – – – – – – – – HERR DER TEXTE – Editorial RÄUBERISCHER KÖRPEREINSATZ – Os Bandidos VOM RAND INS BECKEN – Gespräch mit Kühnel und Kuttner ZIRKUS ODER THEATER – Festivalauftritt SCHILLERBIRLS – Allein unter Girls SCHILLER UND ICH – Die Seminaristen GESTERN, HIER UND HEUTE – Schiller vor mir – Eine Reise DIE BÜHNE EINE MOSCHEE – Gespräch mit Lisa Masetti DICHTUNG UND WAHRHEIT – Gerüchteküche WIE GESCHNITTEN BROT – Pension Schiller SCHILLER UND ICH – Die Festivalmacher ZUM SCHLUSS EIN MOJITO – Festivalbilanz CHO SEUNG HUI – Essay SPIELPLAN – Samstag 23. Juni Die 14. Internationalen Schillertage wurden ermöglicht und gefördert durch: den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, der Stadt Mannheim/Büro 2007, die Brasilianische Botschaft Berlin und das Brasilianische Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten sowie das Goethe Institut Wir bedanken uns für die großzügige Unterstützung bei unseren Partnern: Hauptsponsoren: MVV Energie AG, John Deere, Freunde und Förderer des Nationaltheaters Mannheim e.V. Co-Sponsoren: Augusta Hotel Mannheim, comvos online medien GmbH, Dr. Haas GmbH, Engelhorn Mode GmbH, Fashionlabel Schumacher, HM Interdrink, Kurpfalzsekt Sektkellerei AG, Mercedes-Benz Niederlassung Mannheim-Heidelberg, Rhein-Neckar-Verkehr GmbH, The Cruise Cafe Hotel Mannheim und beim SWR 2. ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ SERVICE IMPRESSUM KARTENVORVERKAUF THEATERKASSE AM GOETHEPLATZ Mo & Sa 11–13 Uhr Di & Fr 11–18 Uhr An allen Vorstellungstagen außerdem von 18–20 Uhr KARTENTELEFON Telefon 0621/1680 150 Telefax 0621/1680 258 PER E-MAIL Nationaltheater.kasse@ mannheim.de FESTIVALZEITUNG DER 14. INTERNATIONALEN SCHILLERTAGE Ein Projekt des Nationaltheater Mannheim zur Förderung des kulturjournalistischen Nachwuchses ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ HERZLICHEN DANK ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ HERAUSGEBER Nationaltheater Mannheim, Mozartstraße 9, 68161 Mannheim GENERALINTENDANTIN Regula Gerber CHEFREDAKTION Jürgen Berger CHEFIN VOM DIENST Sabine Demm REDAKTION Lydia Dartsch, Kristina Faber, Jan Fischer, Moritz Hummrich, Jule D. Körber, Marcel Maas, Moni Münch, Melanie Troger, Manuel von Zelisch KONZEPT Jürgen Berger, Sabine Demm, Kristina Faber, Gerhard Fontagnier, Jochen Zulauf GESTALTUNG fathalischoen, Frankfurt LAYOUT gerhard@fontagnier.de, Mannheim DRUCK Mannheimer Morgen Großdruckerei GmbH ANZEIGEN Mannheimer Morgen AUFGEWECKT IN DEN TAG DR. HAAS GMBH Die Zeitung erscheint als Beilage im Mannheimer Morgen und wird unterstützt von Deere & Company und der Dr. Haas GmbH ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ HERR DER TEXTE ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ ie dachten sich zu kennen, bevor sie sie einander kennenlernten. Sie hatten sich gegenseitig mit den Namen ohne Gesichter ins Suchfeld eingetippt, auf den Button „GoogleSuche“ geklickt und mehr oder weniger diffuse Informationen übereinander erhalten. Sie, die Kinder der Informationsgesellschaft, sahen sich das erste Mal im Quadrat C7, konnten zum ersten Mal die ergoogelten Informationen mit den vor ihnen stehenden, fleischgewordenen Menschen verbinden, eine Mischung aus viel Neugier und ein wenig Misstrauen. Sie sollten eine Gemeinschaft werden. Und so kamen sie zusammen, im Turm, im wasserlosen Redaktionsaquarium. Trafen sich zwischen Biologielehrfilmen und pädagogischen Faltblättern an großen grauen Tischen, organisierten, debattierten, aber stritten nie. Die Gemeinschaft der Gefährten war stark und sie sollte noch stärker werden. Ihre Missionen waren verschiedene, ihr Ziel, jeden Tag eine neue Ausgabe der „Moralischen Anstalt“. Sie erkämpften gemeinsam oder allein Wortwege, halfen sich, retteten sich, keiner der Gefährten würde fallen. Sie mussten jeden Tag aufs Neue ihr Ziel erreichen. An manchen Tagen war der Weg dorthin beschwerlich, an anderen beschwerlich und steil. Die Gemeinschaft der Gefährten war gehandicapt – die Redaktionsräume, keine Kaffeemaschine und nur bis Mitternacht offen. Manch einer opferte die Nacht und seinen Schlaf dem Aquarium, ließ sich einschließen, in Schreibwut, in Schreibmut. Schlaf war ein fernes Verlangen. Ein Mitglied der Gemeinschaft vermisste sogar 70 Stunden Schlaf am Stück. Die Mission war wichtiger als die lapidare „körperliche Schwäche“. Wie oft jeder einzelne von ihnen in der Nacht hoch schreckte, aus dem Schlaf oder aus dem Schreiben, ist unzählbar. Finde ich den richtigen Zugang zum Thema? Werde ich all dem gerecht? Was für einen Text produziere ich gerade? Habe ich irgendetwas vergessen? Was soll ich morgen noch mal abliefern? Arbeite ich überhaupt gerade am richtigen Thema? Was mache ich hier eigentlich? Warum mache ich das freiwillig mit? Ihre Nächte waren im Schlafen kurz und im Wachen lang. Am Donnerstag brachte die Gemeinschaft die Chefredaktion an ihre Grenzen. Die Gefährten waren unpünktlich, Texte fehlten. Doch auch die drohende Havarie meistert die Gemeinschaft. Sie ist stark geworden, hat die Grenzen ihrer Belastbarkeit kennengelernt – und überwunden. Die Gefährten sollten auf harte Proben gestellt werden, Mittwoch Morgen, der Redaktionsschluss, zwei Stunden früher. Doch daran zerbricht eine Gemeinschaft wie diese auch nicht. Sie hielten fünf Stunden Inszenierung durch, sie werden Puppen tanzen sehen. Es ist Samstag, ihre Mission ist beendet, das Abenteuer bestanden. Sie werden wieder in alle Himmelsrichtungen entschwinden, doch eine Gemeinschaft bleiben. ✶ JULE D. KÖRBER anstalt08 22.06.2007 16:10 Uhr Seite 3 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 23.06.2007 ✶ 3 ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ RÄUBERISCHER KÖRPEREINSATZ ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ Os Bandidos, Teatro Oficina Brasilien D ie Türen des Schauspielhauses gehen zu. Das Licht bleibt an. Auf der Bühne steht eine zweiköpfige Band, die Freude schöner Götterfunken im Samba-Stil spielt. Das Ensemble läuft ein, verteilt Süßigkeiten im Raum; brasilianischer Karneval. Doch das gehört noch nicht zum Stück, es ist ein Ritual der Schauspielgruppe. Im ersten Aufzug wird klar, worum es geht. Nicht Maximilian von Moor, Doum von Heilig ist es, der sich um seinen Sohn Damian sorgt. Doum ist oberster Chef des brasilianischen Medienimperiums „Corporate SS“, Damian sein ältester Sohn. Das gefällt dem kleinen Bruder Kosmos überhaupt nicht: Er will den verhassten Bruder loswerden und dessen Erbe und Frau an sich reißen. Statt mit einem Brief verstößt Doum seinen Sohn per Email, die er im Großstadtdschungel von Sao Paulo am Handy liest. An sich also nichts Neues seit Schiller. Kosmos beschließt, eine Telenovela über Damians Schicksal zu drehen, um sie dem Vater zu zeigen. Eine Frau preist das neue Werk in einer Videoprojektion Fotos: Frank Heller Das Schicksal von Karl Moor ist bekannt. 227 Jahre nach der Uraufführung in Mannheim wurde das Stück am Ort des Geschehens erneut uraufgeführt: vom Teatro Oficina Uzyna Uzona aus Brasilien. Regisseur Zé Celso überträgt das Werk in eine südamerikanische Telenovela voller Selbstreferenz und Anspielungen. an. Immer mehr dämmert es dem Publikum, dass es hier keine Theateraufführung sieht, sondern die Dreharbeiten zu einer Telenovela. Eine Band auf der Bühne sorgt für musikalische Untermahlung der Szenerie und die passenden Geräusche. Eine junge Frau mit dem Festival-T-Shirt filmt alles. Die Bilder werden direkt auf die Rückwand der Bühne geworfen. Die Inszenierung strotzt vor Selbstreferenzialität: Damian fühlt sich als Schauspieler, gefangen in der Rolle des Bösewichts in einem Drehbuch seines Bruders. Er will Germania, seine schöne Verlobte und die analoge Figur zu Amalia, aus Kosmos Villa retten. Kurz vor Schluss fühlt er sich nur noch durch die vierte Wand von ihr getrennt. In der Maske von „Herrn Castorf von der Volksbühne Berlin“ schleust er sich in Kosmos Villa ein, um seine Germania zu befreien. Immer wieder rät er dem Hausherrn, das Teatro Oficina nicht zu engagieren, es treibe ihn nur in den Ruin. Das Stück definiert die Figuren zu Schauspielern und umgekehrt. Ständig treten Medienhelden auf wie He-Man, Sheera oder Trotski. Auch mit Klischees geizt die Inszenierung nicht. Zunächst fällt der deutsche Name der Familie auf. Dass das Imperium der Heiligs „Corporate SS“ heißt, legt eine Verbindung zu deutschen Nationalsozialisten nahe, die nach dem zweiten Weltkrieg in Südamerika untergetaucht waren. Die Ahnung bestätigt sich allerdings nicht. Ähnlich verhält es sich mit der Figur der Germania. Damians Geliebte tritt stets mit einer Einspielung des „Deutschlandliedes“ auf. Nach ihrer Befreiung aus der Villa des verhas- sten Bruders wird sie begleitet von „Auferstanden aus Ruinen“. Die Figur ist Sinnbild der deutschen Nation möchte man meinen, spätestens wenn sie mit Blätterkrone, langem Schwert und Adlerschild am Grab ihres Oheims auftritt. Aber auch hier läuft die Anspielung ins Leere. Insgesamt folgt das Stück dem Handlungsverlauf des Schillertextes. Durch Zé Celsos Inszenierung wird der Unterschied in der Spielweise zum europäischen Theater deutlich: viel mehr Körpereinsatz, sei es durch nackte Frauenkörper oder tänzerische und akrobatische Einlagen – zwei Schauspieler hatten sich in den Proben Finger und Fuß gebrochen. Eine moralische Auflösung allerdings fehlt. Viele Anspielungen und Klischees laufen ins Leere. Weniger Klischees und dafür mehr Sinn hätten dem Ganzen gut getan, auch die Länge betreffend. Wie man von südamerikanischen -– und auch deutschen – Telenovelas weiß, ist das Ende nicht absehbar. Im Fall der brasilianischen Räuber kommt es immerhin nach fünf Stunden mit Pause. ✶ LYDIA DARTSCH anstalt08 22.06.2007 ✶ 4 16:10 Uhr Seite 4 MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 23.06.2007 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ VOM RAND INS BECKEN ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ Keine schlimmen Schiller-Erfahrungen in der Schule? Wir haben zum Beispiel „Kabale und Liebe“ gelesen und es war grässlich. Kühnel: In der Schule hat man noch keinen Bezug dazu. Genau deswegen ist es ja besser, dass ich erst jetzt dazu komme. Mir ist das jetzt viel näher. Dieser Typ, der plötzlich weiß, dass er mit Fünfzig sterben wird. Und in einen Wahn gerät, sein Lebenswerk zu vollenden. Kuttner: Schiller finde ich immer sehr interessant, weil er nah an der eigentümlichen, deutschen Widersprüchlichkeit ist. Dieses Pendeln zwischen einer Idealwelt und einer niederdrückenden Realität, das er selber auch ausgelebt hat. Goethe ist ja deutscher Nationaldichter, aber dieses lässige, olympische, weise Draufschauen hat sich nicht in den deutschen Nationalcharakter gerettet. Bei Schiller ist da immer nur diese komische Verzweiflung und so ein realitätsferner Idealismus, der aber auch eine Form von produktiver Kraft ist und immer wieder enttäuscht wird. Das ist den Deutschen doch heute viel näher. Jürgen Kuttner (links) und Tom Kühnel mit Rauke-Rigatoni Foto: Lydia Dartsch Tom Kühnel und Jürgen Kuttner haben tiefe Augenringe. Sie sind mit den „Helden Mannheims“ beschäftigt, die heute Abend uraufgeführt werden. Kühnel als Regisseur, Kuttner als jemand, der alles mögliche und nichts genaues ist. Moderator vielleicht. Er hat sich was bestellt, dass er als „Joghurt mit Eis und Erdbeeren, ganz geil“ bezeichnet. Kühnel nimmt „Rigatoni mit Rauke“. Rauke? Nicht Rucola? Tom Kühnel: Rauke steht auf der Karte. Ich wusste gar nicht, dass Rauke dasselbe wie Rucola ist. Hätte auch Bärlauch sein können. Sie haben sich kennen gelernt, als Tom Kühnel in Frankfurt Intendant im „Theater am Turm“ war. Jürgen Kuttner: Das ging gleich direkt los mit Projekten. Ein Schauspieler war ausgefallen. Kühnel: Ich habe Jürgen als Moderator genommen, es ging darum, Podiumsdiskussionen zu machen. Seitdem haben wir immer wieder zusammen gearbeitet. Und jetzt das hier. Wie sind Sie darauf gekommen nach Mannheim zu gehen? Kühnel: Der künstlerische Leiter von „Mannheim 2007“, der 400-Jahr-Feier, hat uns angesprochen. Interessant ist, kein Theater zu machen. Die Zusammenarbeit mit der Medienkunstgruppe „datenstrudel“ hat sich daraus ergeben. Die machen auch kein Theater. Im Grunde genommen haben die eine Affinität zu Sachen, die wir vorher gemacht haben. Und hier hat mans jetzt mit einer Jubiläumsveranstaltung zu tun, die keine reine Jubelveranstaltung sein kann. Haben Sie vor, hirnlos zu bejubeln? Kühnel: Natürlich nicht. Kuttner: Hirnlos schon, bejubeln nicht. Im Grunde ist es eine Paraphrase auf das, was auf so einer Jubiläumsveranstaltung erwartet wird. Wir versuchen mit dem Publikum zu spielen. Die sollen den vierhundertsten Jahrestag von Mannheim selber gestalten. Kühnel: Das Publikum soll zusammen mit Schiller eine Hymne schreiben. Kuttner: Das ist eine der Hauptaufgaben des Abends. Die Idee ist, dass man nicht jemanden beauftragt, der hier geboren ist, so uwe-ochsenknecht-mäßig, sondern einfach 200 Mannheimer nimmt, die selber ran müssen. Der Text, den wir Schiller in den Mund legen, hat nicht ganz Schillersche Höhe. Man muss sich doch anstrengen. Stichwort Schiller: Sind sie in die Schillertage zufällig reingerutsch oder war das so konzipiert, dass Sie das Stadtjubiläum und die Schillertage machen? Kühnel: Am Anfang war es für das Stadtjubiläum konzipiert. Die Schillertage kamen dann dazu. Das war ein glückliches Zusammentreffen. Also sind Sie keine großen Schillerfans? Kühnel: Ich habe gerade erst angefangen, mich damit zu beschäftigen. Ich habe vorher noch nie Schiller inszeniert. Ist das ihre Ideologie? Das Publikum zu beteiligen? Kuttner: Grundsätzlich nicht, aber das ist eine schöne Situation. Das Schwimmbad ist ein Ort, der keine Vorführungen, kein Publikum kennt. Da springt jeder vom Rand ins Becken, auch wenns verboten ist. Sind Sie ins Schwimmbad einfach so reingestolpert? Kuttner: Wir haben uns einige Orte angeschaut. Das Bad war der theatralischste untheatrale Ort. Großartige Dekoration war von vorne herein da, das Bühnenbild stand. Diese Schwimmbad-Atmosphäre hat etwas Konkretes, womit man sich auseinander setzten kann. Kein üblicher Kunst-Ort, wie ein Theater oder eine Industrieruine nach dem Motto: Früher haben die da gearbeitet, heute wird da Kunst gemacht. Im Schwimmbad sieht man lustige Plastiksonnen, tolle Palmen. Man ist sofort in so einer anderen Welt und trotzdem mitten in Mannheim. Das Arbeiten hier war immer sehr glücklich. Das Bad ist anregender als ein weißes Blatt Papier oder ein schwarzer Theaterraum. Empfinden Sie sich als Pop-Ergänzung zu den anderen Aufführungen? anstalt08 22.06.2007 16:10 Uhr Seite 5 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM Kuttner: Wir planen das ja nicht in Hinblick auf andere Aufführungen. Kühnel: Uns geht es um das Selbstbewusstsein von Mannheim. Wir leben ja nicht in Mannheim, deshalb können wir nicht sagen, wie es ist, hier zu leben. Wir haben versucht, uns der Stadt anders zu nähern. Über Assoziationen, über Begriffe. Der Pop-Begriff spielt in Mannheim eine sehr wichtige Rolle. Man kommt schnell zu Xavier Naidoo, und Andy Warhol als Propheten des Pop. Andy Warhol? Kühnel: Es wird eine Puppe auftreten namens Mandy Warhol. Außerdem wird Schiller zur Bestie. Das musste ja irgendwann passieren, bei dem Festivalthema. Kühnel: Das hat damit zu tun, dass wir gesagt haben, wir wollen kein Stück machen. Das machen wir ja sowieso die ganze Zeit. Aber das wird bestimmt funktionieren. Das wäre auch eine gute Über- schrift für das Interview. Oder eine gute Frage: Wird Schiller zur Bestie? Dann sag ich: Ja. Das wäre dann das Ende. Also gut, Ende. Fällt Ihnen noch eine Abschlussfrage ein? Kuttner: Meine Lieblingsfrage ist eigentlich: „Wie spät ist es?“ Die kann ich präzise mit einem Blick auf die Uhr beantworten. Da mache ich dem Anderen nichts vor, da muss ich nicht auf die Kacke hauen, da muss ich nicht angeben oder die Hyper-Formulierung finden. Das ist bodenständig, reell und bringt dem Anderen was, wenn er die Zeit nicht weiß. MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 23.06.2007 ✶ 5 ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ ZIRKUS ODER THEATER ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ Wir könnten auch fragen: Wie waren die Nudeln? Kuttner: Da muss Tom jetzt schon überlegen, vielleicht kommt er ja noch mal nach dem Erscheinen des Interviews her. Das ist eine schlechte Frage. Kühnel: Da spielt auch was Ästhetisches mit rein: Geschmack. Gespräch: ✶ JAN FISCHER ✶ MARCEL MAAS Foto: Lydia Dartsch E Rauke-Rigatoni, fast weg Foto: Lydia Dartsch in rot-weißes Zirkuszelt, gelbe Sterne und ein großer Schriftzug auf dem Theater-Café: „Bestie Mensch.“ Hier gastiert ein Zirkus, meint man. Sogar ein Löwenbändiger war da und im Glaskasten kann man Autoren beim Schreiben zusehen. Weit sind Zirkus und Theater nicht voneinander entfernt. Beides erfreute sich schon im alten Rom großer Beliebtheit bei den Bürgern, die die Arena zur Zerstreuung nutzten, ganz gleich, ob wilde Tiere andere Tiere zerfleischten, Menschen sich gegenseitig umbrachten oder ein Dichter seine Stücke vortrug. „Bestie Mensch“ und das Thema „Zirkus“ passen schon deshalb gut zueinander, weil in jeder Manege die Raubtiernummer die Attraktion des Abends ist. Schon die Atmosphäre in Mannheim ist gewürzt mit einem bestimmten Gefühl: Dem Gefühl von Glitzer, Clownsnasen und Raubtieren. Am Bahnhof hängt ein gelbes Banner, das in großen schwarzen Lettern auf das Festival aufmerksam macht. Von dort aus fährt eine gelbe Straßenbahn über die Planken ans Theater. Auf dem Weg zum Theater begegnen einem überall Graffitis auf dem Boden; das Motto des Festivals auf Asphalt gesprayt. Am Wasserturm steht ein rot gewandeter Glaskasten, der, eingerichtet wie eine kleine Wohnung, den Autoren der Schiller-Soap als nächtlicher Käfig und Schreibplatz dient. Am Ort des Geschehens angekommen, begrüßt der Theaterzirkus „Bestie Mensch“ die Zuschauer. Mit roten Schals an den weißgrauen Betonmauern ähnelt das Nationaltheater einem Zirkuszelt. Überall kleben Zirkussterne, auch im Foyer und im Café. In Sternform angelegte Sitzgruppen laden zum Ausruhen und Plaudern ein. Selbst die Essensausgabe für Seminaristen, Gastgruppen und Theaterleute heißt Löwenkäfig. „Gehst du zur Raubtierfütterung?“ ist eine Frage, die einem zur Mittagszeit gestellt wird. Meistens sitzen die Fragesteller auf einem Sattel der gelben Fahrräder, die überall für das Festival werben. Richtige Zirkusatmosphäre kommt hier auf. Einzig der Rollrasen vor dem Theater mit Liegestühlen und Biergartenatmosphäre ist ein Stilbruch. Sehr gemütlich laden die Sitzgelegenheiten ein, sich hinein zu legen oder drauf zu setzen und im Schatten zu entspannen. Aber grüner Rasen statt einer Manege aus Sägespänen? Mit der Hitze der letzten Tage könnte der Rasen vielleicht an Farbe verlieren und sich so der Zirkusatmosphäre optisch annähern. Das wäre auch viel pflegeleichter als Sägespäne; aber auch viel ungemütlicher als grüner Rasen. ✶ LYDIA DARTSCH anstalt08 22.06.2007 ✶ 6 16:10 Uhr Seite 6 MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 23.06.2007 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ SCHILLERBIRLS ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ E r ist überall. Er ist eines der Gesichter des Festivals. Ohne ihn hätte die Redaktion unserer Zeitung ihren Betrieb nicht pünktlich aufnehmen können. Ohne ihn und seine Kolleginnen wäre der Ablauf des Festivals undenkbar: Er ist Schillergirl. Höflich stellt er sich vor. Pascal Payer heißt er. Auf seinem Transporter und seinem T-Shirt steht groß „Bestie Mensch“. Er selbst scheint allerdings keine zu sein. Er ist gekommen, um uns vor dem Gewitter zu retten. Es ist Freitag, der Eröffnungstag der Schillertage. Die Redaktion unserer Zeitung brennt auf ihren ersten Einsatz, doch der droht ins Wasser zu fallen. Sicher und trocken kutschiert Pascal uns zur Redaktion ins Collini Center. Die Fahrt wird zum Sightseeing. Unser Fahrer ist ein 21 Jahre junger waschechter Mannheimer, der uns stolz seine quadratisch-praktisch-gute Stadt präsentiert. Schnell wird klar: Pascal ist ein Insider. Seit Februar ist die Vorbereitung der Schillertage für ihn ein Full-Time-Job, und zwar ein ehrenamtlicher. Was genau seine Aufgabe sei, fragen wir. Die Antwort sorgt für allgemeines Schmunzeln: „Ich bin Schillerboy“, sagt er etwas verlegen. Abends treffen wir Pascal auf dem ersten Schill-Out. Was uns verwundert: Wir sehen einige Schillergirls, unser Schillerboy scheint also ein Unikat zu sein und müsste als solcher eigentlich auch im Programmheft bezeichnet sein. Mit sicherem Instinkt für eine gute Story schlagen wir nach. Unsere Hoffnung wird nicht enttäuscht: Pascal hat geschwindelt. Die Bezeichnung für ihn und seinen Kollegen, Stefan Jooß, ebenfalls ein junger Kurpfälzer „at heart“, ist eindeutig „Schillergirl“. „Das wurde uns vorher nicht gesagt“, lacht er. Er war allerdings vorgewarnt: Schillerbirls Pascal Payer (links) und Stefan Jooß Die Schillergirls, die charmant die Gäste betreuen, sind eine Institution des Mannheimer Festivals. Aber männliche Schillergirls? Wir machen die Probe aufs Exempel: Festivalleiter Holger Schulz gesellt sich zu uns. Die Frage, ob er sich mit dem Titel des „Oberschillergirls“ anfreunden könne, bejaht er lachend. Für ein spontanes Interview an der Schillertheke steht Pascal sofort zur Verfügung. Schnell wird klar: Er liebt das Theater, und er liebt Schiller. „Die FranzMonologe in den „Räubern“ gibt er als Lieblingstextstellen an. „Wie man einen Mord psychologisch rechtfertigen kann, Foto: Lydia Dartsch ist schon faszinierend“, sagt er. Mit zwei Wünschen verabschiedet er sich auf die Tanzfläche. Er hofft, nach den Schillertagen nicht in ein „schwarzes Loch“ zu fallen – wir sind sicher, dass das Theaterfieber ihn sicherlich bald aufs Neue packen wird. Und er hofft, dass die Mannheimer Quadrate bald komplett autofrei sind. Warum? „Damit ich mit meinem Schillerbus die Gäste ungestört zu Hotels und Aufführungen shutteln kann!“ Vielleicht trägt er dann ja auch ein Schildchen mit der Aufschrift „Erster offizieller Schillerboy“. ✶ MANUEL VON ZELISCH ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ SCHILLER UND ICH ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ men erfahren. Er kann bestimmt gut tratschen und wir würden uns sicher gut verstehen. Mit welchem Schiller-Text können Sie tatsächlich was anfangen? Ich finde „Kabale und Liebe“ sehr interessant. Als ich noch jung war konnte ich dem Stück nichts abgewinnen, jetzt sehe ich Parallelen zu vielen Geschichten. Wann hat Schiller Sie zum ersten Mal berührt? Ich war noch in der Grundschule als ich zum ersten Mal auf Schiller traf. Ich musste Gedichte auswendig lernen. Richtig lernte ich Schiller aber erst im Gymnasium kennen. Über was würden Sie mit Schiller sprechen wollen? Ich würde gerne mehr über die wahren Geschichten hinter seinen Dra- Was nervt Sie an Schiller? Wenn ich eine Schiller-Inszenierung sehe oder ein Stück von ihm lese, weiß ich immer wie es endet. Wann werden Sie zur Bestie? Wenn ich wenig geschlafen habe und hungrig bin, kann ich leicht ungenießbar werden. Vor allem wenn etwas nicht nach Plan läuft. Lydia Dartsch ist Seminaristin und Mitarbeiter der Fesivalzeitung Wann hat Schiller Sie zum ersten Mal berührt? Als ich im Grundschulalter war, erklärte mir meine Großmutter eines Tages, was eine unbedingte Freundschaft ausmache, indem sie mir Schillers Ballade „Die Bürgschaft“ erzählte. Die Prinzipien selbstloser Freundschaft und Hilfsbereitschaft leuchteten mir sofort ein. Über was würden Sie mit Schiller sprechen wollen? Da mich Schillers persönliche Lebensund Leidensgeschichte äußerst fasziniert, würde ich ihm gerne die Frage stellen, inwieweit er rückblickend seinen Kampf gegen obrigkeitsstaatliche Unterdrükkung sowie gegen seine tödliche und langwierige Krankheit als Grundbedingung für seine Entwicklung als Mensch und als Künstler ansehen würde. Mit welchem Schiller-Text können Sie tatsächlich was anfangen? Jenseits trockener Überprüfung auf theoretische oder philosophische Konstruktionen sind es besonders die frü- hen Dramen. Ich halte Schillers Experimentierlust hier für am ausgeprägtesten, insbesondere gefällt mir die kräftige Prosa in den „Räubern“. Was nervt Sie an Schiller? Die deutliche Theoriebezogenheit seiner Texte lässt diese mitunter zu konstruiert und wenig lebensnah erscheinen. Auch vermisse ich bei Schiller humoristische Elemente. Wann werden Sie zur Bestie? Im Allgemeinen halte ich die Bestie in mir sehr gut im Zaun ... Manuel von Zelisch ist Seminarist und Mitarbeiter der Festivalzeitung anstalt08 22.06.2007 16:10 Uhr Seite 7 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 23.06.2007 ✶ 7 ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ GESTERN, HIER UND HEUTE ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ Volker Gerlings Vortrag „Schiller vor mir – Eine Reise“ bietet einen ungewöhnlichen Zugang zu Schiller. Er wanderte wie Schiller von Stuttgart nach Mannheim zu Fuß. Die Jahre 1782, 1923 und 2007 überlagern sich in Briefen, Videos und Daumenkinos. I n der Nacht vom 22. auf den 23. September 1782 floh der junge Regimentsarzt Friedrich Schiller gemeinsam mit seinem Freund, dem Musiker Andreas Streicher, von Stuttgart nach Mannheim. Mehrmals hatte ihm der schwäbische Sonnenkönig Karl Eugen verboten, sich als Schriftsteller zu betätigen. Arrest und Schreibverbot brachten das Fass zum Überlaufen, der 22-jährige wollte sich von seiner Lebensbestimmung nicht abbringen lassen. Eine abenteuerliche Odyssee, die bis nach Mainz und Frankfurt führt – und das aus chronischem Geldmangel größtenteils zu Fuß. Diese einführenden Worte füllen die gespannte Stille im abgedunkelten Bühnenraum des TiG7. Bedächtig, einfühlsam werden sie vorgebracht von einem jungen Mann, dessen braunes Sakko mit dem Vorhang hinter ihm verschmilzt. Nur Gesicht und Hände bieten Orientierungspunkte für das Publikum, das wie im Kino vor einer Leinwand sitzt. Volker Gerling tritt vollständig hinter seinen Vortrag zurück. Die Reise beginnt, wo Schillers Reise vor 225 Jahren begann, auf der Solitude, hoch über Stuttgart. Gerling nutzt verschiedene Medien, um das Publikum an seiner Reise teilhaben zu lassen. Das wichtigste und originellste ist das aus einer Vielzahl von Einzelfotos bestehende Daumenkino. Drei Fotos pro Sekunde habe er für seine Daumenkinos gemacht, erläutert er, ein insgesamt wenige Sekunden dauernder Moment wird zugleich gebündelt und gespalten in rund drei Dutzend Einzelfotos. Das Startfoto verrät nichts darüber, wie sich der Augenblick auf den Nachfolgefotos entwickelt. Das springende Bild des Daumenkinos als Medium der Freiheit? Er habe sich Schiller sehr nahe gefühlt, sagt Gerling. Die Freiheit, mit nur den Himmel über sich, die Freude über die Ungewöhnlichkeit des eigenen Tuns, vermischen sich mit Bewunderung für Schiller, der im Gegensatz zu Gerling nicht über die beruhigende Gewissheit verfügte, notfalls zum Handy greifen zu können. Die erste Zeitüberlagerung er- folgt also im Bereich der Gefühle: Gerling fühlt ähnlich wie Schiller fühlte. Die zweite Zeitüberlagerung ist eine visuelle: Szenen eines Schwarzweißfilms über Schiller aus dem Jahr 1923 werden ebenfalls in Daumenkinos umgewandelt. Schiller, schwitzend, beim beschwerlichen Aufstieg auf die heutige „Schillerhöhe.“ Schiller wandernd, Foto für Foto aus dem Bild verschwindend. Der Clou: Gerling zeigt jedes Daumenkino mehrmals hintereinander. Der erlebte Augenblick aus dem Jahr 1782, verfilmt 1923, wird im Daumenkino 2007 beliebig oft verfügbar. Eine dritte Zeitüberlagerung entsteht in heutigen zwischenmenschlichen Begegnungen. Gerling trifft Menschen. Obdachlose, Betrunkene, Migranten und Kinder porträtiert er in schwarzweißen Daumenkinos. Kurz stellt er sie vor, erzählt von gescheiterten Hoffnungen und erfahrenem Unrecht. Gerling spricht es nicht bewusst aus, aber seine Auswahl ist eindeutig: Seit Schillers Zeiten ist es nicht viel besser geworden, lautet der Tenor. Damals wie heute leiden Menschen. Sehr plakativ und vielleicht etwas zu gewollt sind denn auch die Orte, an denen Gerling diese Menschen trifft und die Themen, über die er mit ihnen spricht: Stuttgart-Stammheim, eingeschränkte Demonstrierfreiheit beim G8Gipfel, Diskriminierung, die Abscheu zweier Frauen vor einem Betrunkenen ausgerechnet auf dem Platz, an dem früher das Nationaltheater stand. Ein Gaststättenbesitzer erweist sich als moderner Karl Eugen und gebietet selbstherrlich über sein Gaststättengelände: öffentliche Vorführung von Daumenkinos verboten, werbewirksames Spätzlewettkochen gestattet. Charakteristisch für den Abend sind die Fotos, mit denen Gerling Momente in seinen Daumenkinos festhält und sie in ästhetisch höchst ansprechenden Schwarzweißporträts präsentiert. Ein Mensch offenbart seine Eigenheiten in wenigen Sekunden eines flüchtigen Lächelns. Kurz wird sie verständlich, diese komplizierte Schillersche Formel von Schönheit als „Freiheit in der Erschei- Schiller vor mir – Eine Reise, Volker Gerling nung.“ Gerling sucht und sieht die Schönheit eben dort, wo andere nur Hässlichkeit sehen, Demut vor dem Augenblick lautet die künstlerische Prämisse. All dies erfordert das Einfühlungsvermögen des Publikums, das sich vom ruhigen Vortrag aber bereitwillig entführen lässt. Es bleibt Raum für eigene Gedanken. Gerling zeigt, ohne anzuklagen. Foto: Karola Prutek Da ist es ganz egal, welchem Jahr der jeweils gezeigte Augenblick entspringt, Menschen fühlen und fühlten zu allen Zeiten. So wird nicht nur Schiller unser Zeitgenosse, sondern auch wir Zeitgenossen Schillers. ✶MANUEL VON ZELISCH anstalt08 22.06.2007 ✶ 8 16:10 Uhr Seite 8 MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 23.06.2007 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ DIE BÜHNE EINE MOSCHEE ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ Die Theaterpädagogin Lisa Masetti ist eine ausdrucksvolle Frau mit italienischem Akzent. Ihr Heiligtum ist das „Gemeinschaftszentrum Jungbusch“. Seit zwölf Jahren macht sie dort Theater mit Jugendlichen. Zuletzt „schwererpanzerflügelkleid“. Wenn man in Mannheim ist, hört man aus allen Ecken und Enden, wie kriminell es im Jungbusch zugeht. Wie sieht das denn wirklich aus? Lisa Masetti: Menschen, die so etwas sagen, haben wahrscheinlich noch nie einen Fuß in den Jungbusch gesetzt. Hier wohnen Menschen aus 142 Nationalitäten auf engstem Raum zusammen. Natürlich gibt es da Konflikte. Aber die sind innerhalb der Gemeinschaften. Ein Außenstehender kann hier ohne Probleme nachts um vier durch die Straßen laufen. Was bedeutet das Theater für die Jugendlichen hier? Masetti: Wenn man aus dem Jungbusch kommt, hat man mit Vorurteilen zu kämpfen, in der Schule, auf der Arbeit. Theater ist eine Möglichkeit für die Jugendlichen zu zeigen, dass sie etwas können. Ich arbeite größtenteils mit Muslimen, ich sage ihnen immer: Die Bühne ist heilig. Geht auf die Bühne wie in eine Moschee. Streift alles ab und lasst euch von etwas Anderem erfüllen. Lisa Masetti Foto: Jan Fischer Zum Beispiel Schiller? Masetti: Warum nicht? Ich habe mich intensiv mit Schiller beschäftigt. Er war ein Genie. In Deutschland sagt man immer, er ist sprachlich unglaublich versiert. Für mich sind die Charaktere und die Themen das Entscheidende. Damit müssen sich die Jugendlichen identifizieren können, sie müssen etwas für sich daraus ziehen können. Und was ziehen sie aus der „Jungfrau von Orleans“? Masetti: Für „schwererpanzerflügelkleid“ haben drei verschiedene Theatergruppen zusammengearbeitet. Ich habe den Text gelesen und ihnen gesagt, was für Themen es gibt, was für Charaktere. Das Thema Religion trat zuerst in den Vordergrund, aber das wollten die Jugendlichen nicht. Die sind zwar alle religiös, aber das Thema ist sehr weit weg von ihnen. In der „Jungfrau von Orleans“ geht es auch darum, zwischen Gesellschaft und sich selbst einen Platz zu finden. Das Thema stand ihnen viel näher. Das sind Jugendliche, die auf der Suche nach sich selbst sind, die zwischen zwei Kulturen stehen. Also geht es auch um Integration? Masetti: Integration ist kein gutes Wort dafür. Da werden zwei Klassen behauptet, von der die eine in die andere integriert werden soll. „schwererpanzerflügelkleid“ war ein Glücksfall. Die Menschen aus dem Viertel haben sich mit Besuchern von überall her vermischt. In Zukunft werden wir diese Vermischung brauchen. Theater kann einen Beitrag dazu leisten, es ist ein Wundermittel. Gespräch: ✶ JAN FISCHER ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ DICHTUNG UND WAHRHEIT ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ W as für den Tormann die Angst beim Elfmeter, ist für den Journalisten die Furcht vor der Zeitungsente. Als Nutznießer des Brodelns in den Gerüchteküchen ist der Reporter allerdings auch ständigen Gefahren ausgesetzt. Etwa unverlässlichen Quellen leichtfertig Vertrauen zu schenken oder schlichtweg falschen Infos auf den Leim zu gehen. Licht ins Dunkel der Mythen und Ondits zu bringen lautet der Auftrag. „Es liefen haufenweise nackte Frauen rum“, erklärte gerade meine Kollegin auf die Frage, wie denn die legen- denumwobene Aufführung von „Os Bandidos“ gelaufen sei. „So viele grausige Szenen gabs gar nicht.“ meinte eine andere. Das Wort „legendenumwoben“ darf im Zusammenhang mit „Os Bandidos“ getrost strapaziert werden. Von realistischen Abtreibungsszenen und einschlägigen Situationen wie in Erwachsenenfilmen war im Vorfeld die Rede. Massig Blut und Sperma auf der Bühne. Die Gerüchte rankten, blühten und gediehen. Von jeder Seite hörte man etwas anderes. Und jeder konnte zumindest eine Geschichte zum Besten geben, wenn es um das brasilianische Ensemble rund um den großen Zé Celso ging. Er allein sorgte schon für Gesprächsstoff. Wie ein antiker Philosoph mit weißer Löwenmähne sähe er aus, der agile 85-Jährige. Gut, Zé Celso ist 70. Und mittlerweile Glatzenträger. Agil ist er wirklich. Beim Essen im Speisesaal wurden die exotischen Brasilianer auch schon neugierig umschwirrt. Dass man nicht verstand, worüber sie sprachen, machte sie noch interessanter. An dieser Stelle der Zeitung war ursprünglich ein Porträt mit einem Mitglied der brasilianischen Theatergruppe geplant. Die Info lautete: „Sie ist Deutsche, ausgewandert aus Hildesheim und blond. Möglich, dass sie Julia oder Jule heißt.“ Nun, an Julia, respektive Jule war partout nicht ranzukommen. Sie bleibt ein Mythos. Die Erklärung: Das Ensemble stehe total unter Strom. Der Hauptdarsteller hat sich erwiesener Weise den Fuß gebrochen und tritt nun im Rollstuhl auf. Zusätzlich gibt es auch noch einen gebrochenen Finger und eine geprellte Hüfte. Das stimmt wirklich. Aber eigentlich darf es daran sowieso keinen Zweifel geben. Es steht ja in der Zeitung. ✶ MELANIE TROGER anstalt08 22.06.2007 16:10 Uhr Seite 9 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 23.06.2007 ✶ 9 ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ WIE GESCHNITTEN BROT ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ Theater muss ausprobieren, was es kann, die Muskeln spielen lassen. Dafür ist die Pension Schiller da: Vier Folgen, vier Autoren, vier Regisseure, vier außergewöhnliche Spielorte, hunderte von schrägen Einfällen. D Foto: Hans Jörg Michel avid Gieselmann, Kai Ivo Baulitz, Dirk Laucke, Polle Wilbert schrieben nachts im Kiosk am Wasserturm. Die Autoren waren Freiwild im Menschenzoo, produzierten die Folgen der Fortsetzungsgeschichte unter extremen Bedingungen. Jeweils 36 Stunden hatten die Regisseure Malte Jelden, Oliver Krietsch-Matzura, Christiane J. Schneider, Simon Solberg und die Schauspieler im Anschluss Zeit, den Text auf die Bühne zu bringen – auch wenn es gar keine Bühne gab. Wie sagte Shakespeare: Die ganze Welt ist eine Bühne. Das muss reichen. Die Autoren haben eine Geschichte entwickelt, die wie eine Seifenoper schillert, mäandert. Eine Rahmenhandlung gibt es tatsächlich: Moses P will Mannheim in die Luft jagen – Elchteststrecke, Popakademie, Nationaltheater – weil Xavier Naidoo ihn „gedisst“ hat. Verhindern müssen das die drei Ein-Euro-Jobberinnen Heidi, Lisa und Mette. Es wird viel gesungen, es gibt ein sprechendes Auto, viel zu viele Poster von Peter Maffay, roten Nebel und auch ein Schillerfahrrad. Das alles ist Pop und Trash, zählt zum Lebendigsten der diesjährigen Schillertage. Weitgehend sinnfrei, meistens genial. Hinter dem Konzept stehen Malte Jelden und Oliver Krietsch-Matzura von Drama Köln. Wo sie herkommen, haben sie Theater im Stil von „Pension Schöller“ zum Programm gemacht: An neue Orte gehen, Autoren probieren lassen. Die Soap ist nicht irgendein Stück, sie ist ein Mannheimer Stück. Die Autoren setzen sich nicht nur im Text mit der Dimension „Raum“ auseinander. Ist es überhaupt ein Problem, wenn irgendwer die Quadratestadt platt machen will? Irgendwie schon, finden Heidi, Lisa und Mette und setzen Handlung in Gang. Wirkung hat auch die extrem starke Einbeziehung der jeweiligen Örtlichkeit: Großmarkt und Trafohalle, ein verwaistes Ladenlokal, ein verwitternder Bauernhof mitten in der Stadt. „Pension Schiller“ holt Theater dahin, wo es nie war, nie mehr sein wird und wo niemand mehr ist. Schafft Öffentlichkeit, wo das allgemeine Interesse sich längst abgewendet hat, ist aber dennoch Theater in der Mitte des Lebens: wie sich in T 2 am Mittwochabend die Zuschauermenge drängte und Blicke auf sich zog; wie die Nachbarn vom Balkon aus zugeschaut haben; wie die alte Dame, die am Montagnachmittag eine Freikarte in die Hand gedrückt bekam und am Abend mit ihrem Ehemann – überfordert zwar, aber doch da – in der Trafohalle stand. Das sind Berührungspunkte, die das Nationaltheater nicht oft genug schaffen kann. Und die es nur schwerlich schafft, wenn es in seinen angestammten Räumlichkeiten bleibt, am Rand der Quadrate, abgeklemmt vom echten Leben. Für alle Beteiligten ist die „Pension Schiller“ eine Pension Schiller Folge 2, Drama Köln knallharte Spielwiese. Hart, weil es Theater jenseits der Grenzen ist, mit maximalen Vorgaben an Logistik und Leistung. Spielwiese, weil alles geht. Schön daran: Alle zeigen, was sie können. Bringen alles mit, was sie haben. Und das ist viel. Die Hauptrolle hat man Gabriel Vetter gegeben, renommierter Slam Poet aus der Schweiz. Vetter geht ab wie geschnitten Brot. Eigentlich tun das alle, die Besetzung wechselt, Charaktere kom- Foto: Frank Heller men und gehen. Nadine Schwitter, Isabelle Höpfner und Meridian Winterberg, die drei Engel im Brautkleid, bleiben und bezirzen, bezaubern, rasten aus, rocken. Total. Was das mit Schiller zu tun hat? Nicht viel, vielleicht aber das: Man reibt sich an Mannheim, wie es einst Schiller tat. Reibt sich auch an diesem SchillerMannheim. Und zeigt dabei: Das Theater gehört den Jungen, den Wilden. Denen, die am meisten wollen. ✶ MONI MÜNCH ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ SCHILLER UND ICH ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ Wann hat Schiller Sie zum ersten Mal berührt? In Andras Fricsays fulminanter „Räuber“-Inszenierung am Münchner Prinzregententheater. Über was würden Sie mit Schiller sprechen wollen? Da mich die Auseinandersetzung mit Autoren interessiert, wäre ich natürlich neu- gierig, was er zu meiner „Kabale und Liebe“ Inszenierung (2001 am Düsseldorfer Schauspielhaus) gesagt hätte. Aber mich würde auch interessieren wie sein Verhältnis zur Stadt Mannheim und dem Nationaltheater wirklich war. Mit welchem Schiller-Text können Sie tatsächlich was anfangen? „Kabale und Liebe“ Was nervt Sie an Schiller? Zu viel Schullektüre, zu wenig sinnliche Theateraufführungen. Wann werden Sie zur Bestie? Wenn die Leute nicht mehr ins Theater gehen. Burkhard C. Kosmisnki ist Schillertage-Macher und Schauspieldirektor des Nationaltheaters. anstalt08 22.06.2007 ✶ 10 16:10 Uhr Seite 10 MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 23.06.2007 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ ZUM SCHLUSS EIN MOJITO ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ U m ein Resümee des Festivals zu ziehen sprachen wir mit Jan-Philipp Possmann, der zusammen mit Haiko Pfost das Kuratorium des Festivals bildete, den Schillerboys und vielen mehr. Alle haben etwas gemeinsam – viel zu wenig Schlaf. Jan-Phillip Possman etwa fand ihn kaum, ist aber immer noch ungetrübt begeistert und erwähnt vor allem die Reaktionen des Mannheimer Publikums. Eine unglaubliche Stimmung sowohl bei den Besuchern als auch Machern sei entstanden. Man merkt, dass er das in dieser Stärke nicht erwartet hat. Und auch nicht, dass alles so gut funktioniert. Possman weiter: Der enorme Zuspruch zeige, dass das Festival sich auf dem richtigen Weg befinde, weg vom reinen Gastspielsammelsurium hin zu mehr Auftragsproduktionen und jungen Künstlern, die sich auf ihre ganz eigene Art und Weise mit Schiller auseinandersetzen. Es sieht so aus, als sei auch nach dem großen Schillerjahr 2005 das Interesse ungebrochen. Zurückführen kann man das unter anderem auf die Gäste aus Südamerika. Bekanntlich herrschen dort enorme soziale Spannungen, die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter. Genau das, erklärt Jan-Philipp Possmann, führe in den entsprechenden Ländern zu einer Wiederentdeckung bürgerlicher Ideen und Meinungen, ähnlich wie zu Schillers Zeiten. Nichts habe also näher gelegen, als Autoren und Regisseure aus dieser Region zu beauftragen, sich frisch und unvoreingenommen mit Schiller und vor allem mit seinen theoretischen Schriften und eher unbekannten Werken auseinander zu setzen. Spannend wäre in diesem Zusammenhang allerdings auch die Frage, inwiefern es während der Schillertage zu einem Gedankenaustausch über die tatsächliche Situation in den unterschiedlichen Theaterszenen Südamerikas gekommen ist. Immerhin können Schauspieler dort nicht von ihrer Kunst leben, brauchen einen Zweitjob. Theater mit einem festen Ensemble gibt es nicht. Es heißt Abschied nehmen. Abschied für die Dauer zweier langer festivalfreier Jahre. Eigentlich könnten die Schillertage weiter gehen, sorgen sie doch für Stimmung und Emotionen – fast wie die Fußball-WM, nur in einem etwas kleineren und ja, doch, auch anderen Rahmen. ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ Etat Besucher: Theaterprojekte: Uraufführungen: Veranstaltungen: Theatermacher aus dem Ausland: Theatermacher aus Deutschland: Stipendiaten: Beteiligte Mitarbeiter vom Nationaltheater: Schillergirls Verklebte Dekosterne: Gestohlene Räder: Verkaufte Festival-T-Shirts: Festival-T-Shirts pro Schillermacher: Geschlafene Stunden der Festivalmacher pro Nacht: Abgenommene Kilo pro Festivalmacher: Hauptdarsteller mit gebrochenem Bein: Totalausfälle: Lunchpakete: Brötchensorten: Ausgeschenktes Bier im Theater-Café: Geschriebene Zeichen für die Festivalzeitung Datenmenge des Layouts die Festivalzeitung etwa 700.000 € etwa 13.000 21 14 82 80 90 56 630 10, zwei männliche etwa 12.000 3,5 davon zurückgebracht: 1 1.000 4–5, durchgeschwitzt: 4–5 3–4 2–4 1 0 700–800 4 270 Kästen Schillerbier und 2.700 Liter Fassbier 300.000 3,17 Gigabytes Staatliche Förderung ist ein Wunschtraum. Im Vergleich dazu herrschen in Deutschland traumhafte Verhältnisse. Zurück nach Mannheim: Das Motto „Bestie Mensch“ ist eine Steilvorlage und eine Thema, das sich in fast jedem Werk Schillers finden lässt. Da fällt das Fehlen von Schwergewichten wie „Don Carlos“ oder „Wilhelm Tell“ schon schmerzlich auf. Die Aussage, der Festivalleitung, genau die könne man sowieso auf jeder noch so kleinen Bühne sehen, deshalb habe man den Festivalschwerpunkt bewusst auf Auftragswerke und nicht auf Gastspiele gelegt, überzeugt nicht wirklich. Mannheim ist schließlich „die“ Schillerbühne und trägt eine gewisse Verantwortung für das Gesamtwerk des Dichters, die Originale. Ein ausgewogenes Nebeneinander von Klassikern und neuen Ideen schließt sich nicht aus. Das Programm des Festivals war überbordend. Man hätte sich gerne zweigeteilt, um alles sehen zu können. Über die Highlights der Schillertage sind die Macher sich uneins. Für Jan-Philipp Possmann war es Martin Nachbars „Iller“; für Kristina Faber, zuständig für Pressearbeit und Marketing, war es „Ulrike Maria Stuart“ und das Schill-Out mit „Mini Moustache“; für Pressesprecher Jochen Zulauf „Kallias – Krankheit im Blick“. Aber auch für Schillermacher gibt es Tiefpunkte. Im Fall von Kristina Faber kam er nach einen durchgearbeiteten Nacht, als sie am Schreibtisch einschlief. Das Schönste, da sind sich vom Schillerboy Stefan Jooß bis zum Projektleiter Holger Schulz alle einig, ist die Gewissheit: Alles lief gut, die Mühen haben sich gelohnt, das Publikum war begeistert. Für einen Moment und mit ruhigem Gewissen können sich alle zurücklehnen und ein Schillerbier genießen – oder einen Mojito, der zum beliebtesten Cocktail des Festivals avancierte. Zufrieden sind sie alle, auch der Hausmeister des Nationaltheaters. Er bringt es auf den Punkt: „Das geilste Festival seit 10 Jahren!“ ✶ MORITZ HUMMRICH anstalt08 22.06.2007 16:10 Uhr Seite 11 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 23.06.2007 ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ ✶ 11 CHO SEUNG HUI ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ An einem Morgen, der aussieht wie jeder andere, sich anfühlt wie jeder andere und an dem ich leben möchte, wie an jedem anderen Morgen auch, schalte ich den Fernseher oder das Radio ein. Etwas ist geschehen. n diesem Morgen, an dem ich wie immer einfach nur weiter leben möchte, tritt ein junger Mann auf den Campus der Technischen Hochschule in Blacksburg, Virginia, tötet 32 Menschen und sich selbst. Der gebürtige Südkoreaner Cho Seung Hui war ein Einzelgänger, ein introvertierter, ein verschlossener Mensch, einer, von dem seine Kommilitonen jetzt sagen, sie hätten ihn nicht gekannt. Er studierte englische Literatur, verfasste in Creative Writing-Kursen „Blutrünstige Theaterstücke“, wie die Direktorin der Fachschaft sich in einem Interview ausdrückt. In seinem Stück „Mr. Brownstone“, schreibt er: „Act One, Scene One. Jane [17]: He [Mr. Brownstone] has to make our lives miserable. / John [17]: Make room for the new generation, you old fart! / Jane: We’re just kids. Leave us alone damn it. / John: Giving me an after school detention and ass-raping me for a harmless joke.“ Die Botschaft ist eindeutig. Leid evoziert Leid und bevor man selbst leiden muss, lässt man lieber die anderen leiden. Genauso eindeutig: „Macht kaputt, was euch kaputt macht.“ Eine archaische, destruktive Denkweise gepaart mit einem Minderwertigkeitsgefühl und übersteigerter Paranoia. Cho Seung Hui tötet 32 Menschen mit zwei „9-Millimeter-Handfeuerwaffen“, zwischendurch schickt er Nachrichten an die Medienanstalten des Landes. Rache ohne erkennbaren Bezug, ohne Erklärung, erscheint unzulässig, sinnlos. Er will erklären, wofür und woran er sich rächt. Er sagt: „Ihr habt mein Herz zerstört, meine Seele vergewaltigt und mein Gewissen in Brand gesetzt.“ Das Prinzip der Vergeltung ist ein Prinzip der Befreiung. Als einzige Möglichkeit bleibt ein „Befreiungsschlag“. Cho wörtlich: „Ihr habt mich in die Ecke getrieben.“ IHR. Das ist die Macht gegen die der Einzelne nicht bestehen kann, die dunkle Autorität, das kafkaesk Größere. „We´re just kids. Leave us alone“. Mit seinem Handy filmt er sich selbst, in einen fiktiven Zustand der Kommunikationslosigkeit versetzt: „Ihr hattet hundert Milliarden Chancen, das hier zu verhindern.“ Aber erst nach einem lapidaren „Warum?“ kommen die wirklich schwierigen Fragen. Stimmen werden laut, weil sie nicht verstehen. Nicht verstehen, wie diese Welt ist, in der sie leben. Selbst wenn man glaubt, die Tat durch Paranoia, Drogeneinfluss und emotionale Inkompetenz erklären zu können, bleibt die Schwierigkeit, ihr Wesen zu verstehen. Wie war es faktisch möglich, diese Energie und Willenskraft gären zu lassen und in einer bis dahin „ungekannten“ Blutorgie zu entfesseln? Die Reaktion aus dem Radio oder Fernseher kommt sofort: „Eine Gemeinsamkeit zwischen dem Amokläufer und dem Rest der Menschheit ist nicht festzustellen. Zur allgemeinen Beruhigung können wir verkünden, dass der Mensch immer noch «von Grund auf gut» ist und Cho Seung Hui demnach etwas anderes gewesen sein muss.“ Und dann pädagogisch: „Doch, wie wurde er zur Bestie?“ Faul, wie ich nun mal bin, wenn ich aufwache und etwas geschehen ist, liege ich da und nicke: „Das macht Sinn. Da fühl ich mich gut.“ Im nächsten Moment aber schrecke ich auf. Jetzt bin ich wach und wundere mich über die Fragestellung. Wundere mich, was für ein rückständiges Menschenbild da immer noch vertreten wird, wo wir doch spätestens seit der Aufklärung wissen, dass die Bestie, ebenso wie der Heilige und der Held, Teil des Menschen ist. Cho Seung Hui hat seine Menschlichkeit nie verloren, er hat nur ein Extrem getestet, möglicherweise eine Grenze verschoben, niemals aber überschritten. Hätte er das wirklich getan, würden wir instinktiv andere Bewertungskriterien finden, anstatt bewährten Reaktionsmustern zu folgen. Nach einer gewissen „Logik“ würden wir nicht fragen, Recht und Unrecht hätten keine Relevanz, denn die Kultur des Menschen, erlaubt ihm nur, das eigene Handeln in gut und böse zu teilen, nicht aber die eines Wesens, das sich grundsätzlich anders definiert. Einem teuflischen Gott kann man schließlich auch nicht mit Vergeltung drohen. ✶ MARCEL MAAS GEORGE W. BUSH, geb. 1946, Ölunternehmer, Oberbefehlshaber der US-Army. Verweigert Kyoto und verletzt Menschenrechte in Guantánamo. Bild: ERNST VOLLAND „12 Apostel“ 22.06.2007 ✶ 12 2 16:10 Uhr Seite 12 MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 23.06.2007 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM SPIELPLAN SAMSTAG 23.06.07 ✶ AB 14.00 ✶ ✶ AB 17.00 ✶ ✶ AB 18.30 ✶ 14:00 Unteres Foyer 17:00 Oberes Foyer 18:30 Studio Werkhaus KARNEVAL DER TIERE (UA) LIGNA € 5,– / 2,50 SCHILLER ON AIR SWR2 FORUM € 5,– / 2,50 / frei in Verbindung mit Vorstellungsbesuch PENSION SCHILLER DAS FINALE Drama Köln € 13,– / 8,– ✶ AB 19.00 ✶ 18:30 Jungbuschstraße 19 SCHWERERPANZERFLÜGELKLEID GZ Jungbusch/Creative Factory Eintritt frei! 19:30 Schauspielhaus OS BANDIDOS / DIE RÄUBER (UA) Teatro Oficina – Brasilien PREISE G 20:00 Kurpfalztherme Collini-Center REVUE PREMIERE HELDEN MANNHEIMS (UA) Jürgen Kuttner & Tom Kühnel € 10,– AK / AUSVERKAUFT! ✶ AB 22.00 ✶ ✶ AB 22.30 ✶ 20:00 Probenzentrum Neckarau 22:00 TiG7 Hof 22:30 Unteres Foyer/Theatercafé WALLENSTEIN Eine dokumentarische Inszenierung Rimini Protokoll € 13,– / 8,– anschließend Publikumsgespräch SCHILLER VOR MIR – EINE REISE (UA) Volker Gerling € 13,– / 8,– SCHILL-OUT mit SORGENTE und SINN GING DJ Eintritt frei! AUF WIEDERSEHEN BEI DEN 15. INTERNATIONALEN SCHILLERTAGEN und tschüss – der layouter anstalt08