Die Anatomie einer Katastrophe
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Die Anatomie einer Katastrophe
noch heute ranken sich zahlreiche Gerüchte, warum der Elbdeich bei Dautzschen dem Druck der Wassermassen nicht standhielt. War der Bruch natürlichen Ursprungs oder hatten Verantwortungsträger technisch nachgeholfen? Me Mittwoch, 19. September 2012 · Seite 13 Liebe Leserinnen und Leser, cw TORGAU & REGION Spezia 9,0 0 8,5 2002 | 02012 8,0 0 t lu f d n e s u a t r h a J l zur „10 Jahre nach der Flut“ – in dieser Serie wird die Torgauer Zeitung an die Ereignisse im August 2002 erinnern. Die Heimatzeitung wird zurückblicken, nachvollziehen und vorausschauen. Was war mit den Hubschraubern am Deich? 15. August: 22. August: 29. August: 5. September: 12. September: 19. September: Chronologie Menschen Organisatoren Hilfe Zeitung Kontroverse Gedanken zur Flut 26. September: Deichbau Reinhard Seibt aus Graditz machte in der Nacht vor dem Dautzschener Deichbruch eine ungewöhnliche Entdeckung Graditz/Dautzschen (TZ/cw). Die These des gezielten Deichbruchs lässt auch ihm noch immer keine Ruhe: „Die Hubschrauber hat es gegeben“, sagt der 72-jährige Reinhard Seibt. „Das lass’ ich mir nicht ausreden.“ Der Graditzer ist sich seiner Sache sicher. Ziemlich sicher. Allerdings berichtet Seibt nicht von jenen Hubschraubern am Morgen des Deichbruchs. Seine Aussage fußt auf der Beobachtung, dass bereits in der Nacht gegen 1.45 Uhr zwei Hubschrauber über Züllsdorf hinweg in Richtung Dautzschen aufbrachen. Zu jener Zeit war Seibt mit seiner Frau in Züllsdorf untergebracht. Wegen des Lärms in der Turnhalle konnten beide schlecht schlafen. Dann die deutlich ter 9,4 5 zu vernehmenden Rotoren. Seibt wurde hellhörig. Erst recht, als er über den Kronen der Bäume, weit entfernt in Richtung Truppenübungsgelände, im Abstand von ein bis zwei Minuten zwei grellbläuliche Blitze zu vernehmen glaubte, denen jeweils kurz danach dumpfe Detonationsgeräusche folgten. „Die haben den Deich bereits in der Nacht mürbe geschossen, sodass er erst am Morgen bracht“, spricht Seibt aus tiefster Überzeugung. Auch der Graditzer betont, dass jene Bruchstelle für alle überraschend kam. „Logischer wäre ein Bruch bei Stehla oder auch bei Graditz gewesen, wo nach dem Abzug der Soldaten zahlreiche Bürger aufopferungsvoll den Deich retteten.“ TZ-Rückblick: Lesen Sie noch einmal, wie die Heimatzeitung im August 2002 berichtete. Auf www. torgauerzeitung.com, steht täglich eine Archiv-Seite zum Download bereit. Dort finden Sie auch alle erschienenen Beiträge. Werden Sie Teil des Spezials: Welche Momente oder Erinnerungen verbinden Sie mit den Schicksalstagen im August 2002? Schreiben Sie uns: Schicken Sie uns Ihre Eindrücke, Fotos oder Videos per E-Mail an aktuell@haus-der-presse.de. Diskutieren Sie außerdem auf der TZ-Facebook-Seite über den aktuellen Teil der Serie. ausgewählte Pegelstände (Quelle: ARD-Videotext) 14.8. In Dautzschen stand das Wasser nach dem Deichbruch durchschnittlich bis zu einem Meter hoch. An besonders tiefen Stellen sogar zwei Meter. Rechts oben: Zwei Stunden nach dem Deichbruch nahm TZ-Redakteur Nico Wendt dieses Bild auf, das die Bruchstelle zeigt, die letztlich auf etwa 330 Meter Breite anwuchs. Fotos: TZ/Archiv (T. Manthey, N. Wendt) Usti Schöna Dresden Torgau Wittenberg 15.8. 15.8. 16.8. 17.8. 18.8. 18.8. (6 Uhr) (6 Uhr) (20 Uhr) (18 Uhr) (10 Uhr) (6 Uhr) (16 Uhr) 777 736 695 755 552 1020 980 755 775 616 1060 1095 846 784 623 1183 1195 925 847 634 1109 1165 939 914 660 1033 1036 895 945 696 898 965 847 931 708 Die Anatomie einer Katastrophe Georg Milling aus Großtreben will nicht so recht an natürliche Gründe für den Deichbruch bei Dautzschen glauben Der Deichbruch bei Dautzschen am Morgen des 18. Augusts 2002 gilt als bisher größter Binnendeichbruch Deutschlands. 220 Quadratkilometer standen unter Wasser – drei Orte in Sachsen, 25 in Sachsen-Anhalt inklusive der Stadt Prettin. Der Großtrebener Georg Milling hat insgesamt acht Jahre recherchiert, warum es dazu gekommen ist. Neben zahlreichen Fakten bietet Millings Arbeit nach wie vor auch Raum für Spekulationen. War der Deichbruch nun natürlichen Ursprungs oder wurde vielleicht doch nachgeholfen? Von CHRISTIAN WENDT Großtreben/Dautzschen (TZ). Im Grunde genommen war die Aufgabenstellung Millings klar umrissen: Dem Großtrebener ging es von Anfang an um die Zusammenhänge von Wetterberichten und den späteren Flutereignissen. Dabei stellte er sich immer wieder die Frage, warum immer nur über die Auswirkung der Flut berichtet wurde, nie aber über deren Ursachen. Herausgekommen ist ein Recherchewerk, mit dem Titel „Anatomie einer Katstrophe – wie aus einem Starkregen eine Jahrtausendflut wurde“. Milling wollte den Dammbruch bei Dautzschen jedenfalls nicht als gegeben hinnehmen. Wie kein anderer begab er sich auf die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Er führte in all den Jahren zahlreiche Interviews mit Anrainern der Elbe, mit Experten aus Politik, Wasserbau und Wissenschaft. Gerade aus dem Kontakt zu Letzteren entstand eine Diplomarbeit, die die offizielle Lesart eines natürlichen Bruchs zumindest in Frage stellt. Dazumal hatte Andreas Schuckmann nach ausführlicher Datenauswertung unter anderem festgestellt, dass bei der Sicherheitsanalyse des Deiches kein Schadensmechanismus festgestellt werden konnte. Milling: „Ein natürlicher Grund kann ausgeschlossen werden.“ Im geotechnischen Gutachten für die Staatsanwaltschaft legte man die gleichen natürlichen Parameter zugrunde, vertauschte allerdings die Schichtenfolge. Auch wurden die Höhen falsch angesetzt, sodass der Bruch herbeigerechnet wurde, so Milling. Seit November 2005 sei dies jedoch juristisch nicht mehr anfechtbar. Hinzu kommen Erinnerungen an Gespräche mit Dautzschenern, die Merkwürdiges zu berichten hatten: Kurz vor dem Deichbruch kreis- ten demnach Hubschrauber über der späteren Bruchstelle, wurden schwarze Limousinen auf der S 25 gesichtet, aus denen neugierige, wichtig aussehende Leute mit Ferngläsern in Richtung der am Deich operierenden Hubschrauber blickten. Nicht zuletzt soll es auch ein Polizeiauto gegeben haben, das im Rückwärtsgang (!) vom heutigen Dautzschener Bürgerhaus aus in Richtung Neubleesern/Bockdammüberfahrt unterwegs war. Einen Beweis, dass all dies tatsächlich mit dem Deichbruch in Verbindung steht, gäbe es freilich nicht. Doch ein ungutes Gefühl, dass gegen 9 Uhr womöglich doch nachgeholfen wurde, ist bis heute geblieben. Verstärkt wurde diese These noch, als Milling 2006 ein Interview im MDR-Hörfunk per Band mitschnitt. „In diesem sprach der anhaltische Minister Dr. Hermann Onko Aeikens mehr oder weniger nebenbei von gezielten Flutungen, die es 2002 gegeben habe“, zeigte sich der Großtrebener über die Offenherzigkeit aus dem benachbarten Bundesland sehr überrascht. Ein weiteres Puzzlestück in einer langen Indizienkette schien gefunden. Zufall? Erst vor wenigen Tagen sprach der ehemalige sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt während einer Hochwassergedenkveranstaltung davon, dass Menschen mit ihrem Handeln aus Hochwasserlagen erst Katastrophen machten. Wieder ein Zufall? Über so viele Zufälle mag Milling heute eigentlich gar nicht mehr nachdenken. Für den 58-Jährigen steht eines fest: „Wer die Schadenlage überblickte, musste wissen, dass es zur Flutung kommen wird.“ Eine Alternative dazu habe es nicht gegeben. Zu groß waren all die Pleiten, die den zuständigen Behörden in Deutschland und Tschechien ein Armutszeugnis ausstellten. Zu groß waren aber auch die Regenmassen, die Tiefdruckgebiet „Ilse“ mit sich führte. Vor der ominösen 5-B-Wetterlage warnte anfangs allerdings nur TV-Wettermann Jörg Kachelmann (meteo media). „Höchstwahrscheinlich drohe den elbnahen Gebieten eine Katastrophe ungeheuren Ausmaßes“, hieß es dort. Zwei Tage vor allen anderen. Problem: meteo media habe in Sachen Katastrophenwarnung keinerlei Weisungsbefugnis gehabt, betont Milling. Dafür sei der Deutsche Wetterdienst (DWD) zuständig gewesen. Doch der habe erst am 12. August reagiert und seine Katastrophenmeldung über den Äther geschickt – kurz bevor es zum unvermeidlichen Überlauf der Talsperren auch im Böhmisch/Mährischen Raum kam. Viel Zeit für die Vorwarnung ging verloren. Und dennoch fragt sich der Großtrebener, warum man nicht wenigstens zu jenem Zeitpunkt die Leute an Elbe und Mulde vor zwei riesigen Flutwellen warnte. Hat man sich sehenden Auges in die Katastrophe gestürzt? „Alles deutet darauf hin“, sagt Milling, der sich nach einem Gespräch mit Horst-Jürgen Schumacher in dieser Annahme bestätigt sieht. Schumacher sei regelmäßig während der Rhein-Hochwasser als Koordinator in Krisenstäben zuständig gewesen. Nach Dresden meldete er sich freiwillig. Später berichtete er sinngemäß von den schweren Problemen der Katastrophenstäbe. Alle waren überfordert, Krisenmanagement sieht anders aus. Doch welche Gründe könnten zu einer gezielten Flutung halb Ostelbiens geführt haben? Nachdem auch die Landestalsperrenverwaltung in Sachsen nur tatenlos zusehen konnte, wie sich die Wassermassen ihren Weg bahnten – Meßwehre waren zerstört, die elektronische Pegelerfassung fiel aus – wurden nach Millings Recherchen Hals über Kopf schützenwerte Güter benannt. Dem obersten Katastrophenstab ging es nur noch um die Schadensbegrenzung für den weiteren industriellen Raum Wittenberg bis Magdeburg sowie die Verkehrsstrecken. Zu Letzteren zählte vor allem die wichtige Elbbrücke in Wittenberg. „Bereits am 14. August war absehbar, dass diese gefährdet ist“, sagt Milling. Das Bauwerk vertrage an seinen beiden Flutbrücken nur 6,28 Meter Georg Milling hat sich ausgiebig mit den Ursachen des Deichbruchs beschäftigt. Die Zeichnung in der Mitte verdeutlicht, dass zum Zeitpunkt des Deichbruchs der Deich noch einen Freibord von 35 Zentimeter aufwies (blaue Linie entspricht rekonstruiertem Wasserstand der Elbe). Nach Ansicht des Großtrebeners war er trocken, sodass er eine natürliche Ursache für den Bruch ausschließt. Die rechte Reprografie basiert auf einem ddp-Foto (von Michael Urban). Sie zeigt, wie sich die Wassermassen eine Dreiviertelstunde nach dem Bruch ihren Weg ins Hinterland bahnten. Foto: TZ/C. Wendt 8,50 E 12,50 E 10 Jahre danach … … wer erinnert sich? Bilder, die man nicht vergisst Erhältlich bei der Haus der Presse, Elbstr. 3, 04860 Torgau Wasserspiegellage. Doch nur einen Tag später lag der Pegel in der Lutherstadt bereits bei 6,16 Meter. Am 16. August waren um 12 Uhr schon jene 6,28 Meter erreicht. Problem: Eine Scheitelwelle von zusätzlich gut zwei Metern am Pegel Usti war im Anmarsch auf Dresden. Noch heute kann Georg Milling über die neugebaute Brücke nur den Kopf schütteln. „Wer das genehmigte, war blind.“ Milling attestiert den Verantwortlichen eindeutige Planungsfehler. So habe man als Datengrundlage das Elbhochwasser von 1862 als sogenanntes Bemessungshochwasser angenommen. Weil es zu diesem Zeitpunkt jedoch noch keine größeren Deichanlagen gegeben habe, waren jene 6,28 Meter das größte Hochwasser, das die Lutherstädter bis dahin kannten. Auch das schwere Hochwasser von 1890, als der Deichbau in Ostelbien weitestgehend beendet war, sei den Planern nicht ins Auge gefallen. „Am 7. und 8. September 1890 kam es zu Deichbrüchen in Werdau und Dautzschen. 500 Quadratkilometer Hinterland wurden insgesamt oberhalb Wittenbergs geflutet. Deswegen lag der Pegel in der Stadt deutlich unter dem Pegel von 1862“, erläutert Milling. Hätten die Deiche damals Stand gehalten, wäre die Überraschung in Wittenberg groß gewesen, welch‘ Wassermassen sich auf die Lutherstadt dann zubewegt hätten. Weil all dies bei der Brückenplanung nicht berücksichtigt worden sei, habe die Brücke nun einer Staustufe geglichen, die bei örtlich 7,08 Metern einen ungehinderten Durchfluss des Wassers verhinderte. Der Deichbruch bei Dautzschen brachte der Wittenberger Brücke letztlich 40 Zentimeter Entlastung, um nicht weggespült zu werden. Die Brücke ist nach Ansicht Millings ein guter Grund, warum der Deich brach. „Im Zuge der geplanten Großpolder bei Dautzschen und Axien/Mauken auf anhaltischer Seite mit zusammen 3200 Hektar wird genau dieselbe Brücke wieder der Grund dafür sein, warum die Hochwasserrückhaltebecken geflutet werden“, prophezeiht der Großtrebener. Sein Fazit: Nur wenn sich Sachsen-Anhalt zusammen mit der Deutschen Bahn AG entschließt, mit einer neuen, dritten Flutbrücke einen genügend großen Wasserabfluss in Wittenberg zu gewährleisten, wäre jene Gefahr gebannt. Ansonsten würden der Dautzschener und der Axiener/Maukener Polder die gesamte Region entwerten. ANZEIGE