Der_zerbrochne_Krug - junges

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Der_zerbrochne_Krug - junges
schauspiel
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der zerbrochne
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im dialog mit
unter dem patronat des
besetzung
regie Mathias Schönsee
bühne Doreen Back
kostüme Dorothee Scheiffarth
musik Mark Chaet
dramaturgie Jan Stephan Schmieding
regieassistenz und abendspielleitung Claudia Bossard
lichtgestaltung Karl Morawec
soufflage Gabriele Suremann
inspizienz Miklos Ligeti
bühnenbildassistenz Tatjana Wehn
kostümassistenz Hanna Stampfli
regiehospitanz Michaela Christ
bühnenbildhospitanz Cheyenne Riesen
kostümhospitanz Rahel Künzi
technischer direktor Reinhard zur Heiden leiter bühnenbetrieb Claude Ruch
leiter werkstätten Andreas Wieczorek leiterin kostüm und maske Franziska
dorfrichter adam Jürg Wisbach
gerichtsrat walter Benedikt Greiner
licht, schreiberin Mona Kloos
marthe rull Sophie Hottinger
eve rull Henriette Blumenau
veit tümpel Stefano Wenk
ruprecht tümpel Pascal Goffin
ein cherubim / magd /frau brigitte.Corinne Steudler
premiere
29. Oktober 2014, Stadttheater
dauer der vorstellung
ca. 90 Minuten, keine Pause
Ambühl
bühnenmeister Bernhard Spielmann audio/video Bruno Benedetti, Marcel
Schneider, Carlos Aguilar schnürmeister Jürg Streit requisite Barbara Salchli
tapezierer Thomas Wittwer maske Sibylle Langeneck, Bert Hoffmann
Die Ausstattung wurde in den Werkstätten und Ateliers von Konzert Theater Bern
hergestellt. co-leitung malsaal Susanna Hunziker, Lisa Minder leiter schreinerei
Markus Blaser leiter schlosserei Marc Bergundthal leiter tapezierer Daniel
Mumenthaler leiter maske Ralph Zaun gewandmeisterinnen Mariette Moser,
Gabriela Specogna leiter requisite Thomas Aufschläger leiter beleuchtung Karl
Morawec leiter audio und video Bruno Benedetti
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stefano wenk, mona kloos, jürg wisbach,
corinne steudler
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Der autor
Heinrich von Kleist
Heinrich von Kleist (1777–1811) wurde in eine der ältesten und
bedeutendsten preussischen Adels- und Offiziersfamilien hineingeboren. Dieser entstammten nicht weniger als 18 Generäle,
aber auch zahlreiche Poeten. Ganz nach der Familientradition
trat Kleist 1792 zunächst eine militärische Laufbahn an, nahm
am Ersten Koalitionskrieg der Preussen gegen die französischen
Revolutionstruppen teil und kehrte 1795 nach Berlin zurück, wo
er jahrelang Garnisonsdienst leistete und sich währenddessen
mit Mathematik, Philosophie und dem Studium von Sprachen
ablenkte. Denn die Offizierslaufbahn empfand er zunehmend
als Tyrannei und seinem Charakter absolut schädlich. 1799
zog es ihn zu einem Universitätsstudium wieder in seine Ge-
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burtsstadt Frankfurt/Oder. Das Studium sah er als «moralische
Ausbildung», der Wahrheit um der Wahrheit willen verpflichtet. Zweifel an den Wissenschaften und dem der Aufklärung
zugrunde liegenden Verkunftgedanken müssen sich bei Kleist
jedoch schon sehr früh eingestellt haben. Er brach sein Studium nach nur drei Semestern ab. Es folgte die Verlobung mit
Wilhelmine von Zenge, der Tochter eines benachbarten Generalmajors. 1801, inmitten einer grossen Lebenskrise, auch unter
dem Begriff «Kant-Krise» bekannt, begab sich Kleist auf eine ausgedehnte Reise, deren Ziel Paris sein sollte. Diese Reise war der
Auftakt zu einem Zustand von starker äusserer wie innerer Unruhe, die ihn bis zu seinem Freitod am Wannsee 1811 begleitete.
Die Suche nach seiner wahren Bestimmung, die Flucht vor sich
selbst und anderen (er löste sein Verlöbnis mit Wilhelmine aus
der Ferne), führte Kleist, der immer wieder literarische Miniaturen und Experimente machte, u.a. in die Schweiz. 1801/2 traf er
in Bern auf Ludwig Wieland, den Sohn des Dichters Christoph
Martin Wieland, und Heinrich Zschokke. Diese waren es, die
Kleist in Bern zu einem Dichterwettstreit aufforderten, dem wir
das komödiantische Meisterwerk «Der zerbrochne Krug» von
1806 zu verdanken haben.
In Zschokkes Wohnung an der Gerechtigkeitsgasse hing ein
Kupferstich von Jean Jacques Le Veau mit dem Titel «Le juge, ou
la cruche cassee», den Kleist in seiner Vorrede zum «Zerbrochnen Krug» wie folgt beschreibt: «Diesem Lustspiel liegt wahrscheinlich ein historisches Factum, worüber ich jedoch keine
nähere Auskunft habe auffinden können, zum Grunde. Ich
nahm die Veranlassung dazu aus einem Kupferstich, den ich vor
mehreren Jahren in der Schweiz sah. Man bemerkte darauf –
zuerst einen Richter, der gravitätisch auf dem Richterstuhl sass:
vor ihm stand eine alte Frau, die einen zerbrochenen Krug hielt,
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sie schien das Unrecht, das ihm widerfahren war, zu demonstrieren: Beklagter, ein junger Bauerkerl, den der Richter, als
überwiesen, andonnerte, verteidigte sich noch, aber schwach:
ein Mädchen, das wahrscheinlich in dieser Sache gezeugt hatte
(denn wer weiß, bei welcher Gelegenheit das Delictum geschehen war) spielte sich, in der Mitte zwischen Mutter und Bräutigam, an der Schürze; wer ein falsches Zeugnis abgelegt hätte,
könnte nicht zerknirschter dastehn: und der Gerichtsschreiber
sah (er hatte vielleicht kurz vorher das Mädchen angesehen)
jetzt den Richter misstrauisch zur Seite an, wie Kreon, bei einer
ähnlichen Gelegenheit, den Ödip, als die Frage war, wer den
Lajus erschlagen? Darunter stand: der zerbrochene Krug. – Das
Original war, wenn ich nicht irre, von einem niederländischen
Meister.»
Die Uraufführung des Lustspiels am Weimarer Hoftheater unter
der Regie von Johann Wolfgang von Goethe im Jahre 1808 geriet
zum Misserfolg, u.a. weil der Regisseur das Stück in drei Akte
einteilte und der Darsteller des Adam den Text durch seine breite Spielweise bis zur Unerträglichkeit zerdehnte.
Nachdem Kleist von seinem ursprünglichen Plan, in der Schweiz
einen Bauernhof zu kaufen, abgekommen war, wohnte er von
April bis Ende Juni 1802 auf der oberen Aare-Insel bei Thun, wo
er neben dem «Krug» auch seine Arbeiten an der Tragödie «Die
Familie Schroffenstein» (bereits Ende 1802 fertiggestellt und mit
Hilfe seiner Berner Freunde 1803 gedruckt) und «Robert Guiskard» begann.
Geldmangel und ebensolche psychische Instabilität auszeichnete, suchte in der Folge sein Heil auf unterschiedlichsten Betätigungsfeldern. Nach einer kurzen Rückkehr zum Militär, einer
halbjährigen französischen Kriegsgefangenschaft wegen Spionageverdachtes und Arbeiten als Buchhalter, versuchte sich
Kleist, nach Berlin zurückgekehrt, ab 1808 als Herausgeber des
«Phoenix», einem Journal für die Kunst, in dem er immer wieder Fragmente eigener Werke veröffentlichte. 1810 trat an die
Stelle des «Phoenix» ein neues, tägliches Zeitungsprojekt, die
«Berliner Abendblätter», für das er zahlreiche prominente Autoren, u.a. Ernst Moritz Arndt und Clemens Brentano, gewinnen
konnte. Wegen verschärfter Zensurbestimmungen wurden die
Abendblätter, die insbesondere durch ihre aktuellen Polizeiberichte für Furore gesorgt hatten, schon nach wenigen Monaten
wieder eingestellt.
Zunehmende Geldnöte und die beständige Kritik an der Qualität seiner literarischen Texte, die auf unbequeme Weise ihrer
Zeit den Spiegel vorhielten und z. T. gar wie «Der Prinz von
Homburg» verboten wurden, trieben Kleist schliesslich in den
Selbstmord, den er zusammen mit seiner Begleiterin Henriette
Vogel am kleinen Wannsee südlich von Berlin beging.
Von einer längeren Krankheit auch durch die intensive Hilfestellung des Berner Arztes und Apothekers Carl Wyttenbach
genesen, zog es Kleist die nächsten Jahre mehrfach quer durch
Europa. Der Getriebene, dessen Leben sich durch chronischen
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benedikt greiner, corinne steudler, sophie hottinger,
henriette blumenau, pascal goffin, stefano wenk
Das verriegelte
Paradies
Der Kosmos, den Heinrich von Kleist in seinem dramatischen
Werk innerhalb weniger Jahre erschaffen hat, ist voller ungleicher
Paare und unmöglicher Beziehungen. In «Amphitryon» (1803) etwa
steigt der Göttervater Zeus in der Gestalt des Heerführers Amphitryon zur Erde herab, um mit dessen treuer Ehefrau Alkmene eine
rauschende, 17-stündige Liebesnacht zu vollbringen. Nur durch
diese folgenschwere List kann er, dem sonst jede Frau zu Füssen
liegt, sich der Liebe derer versichern, die ihren wahren Ehemann
mehr verehrt als ihren höchsten Gott. Doch nützt ihm auch dieser
Schachzug letztlich nichts – Alkmene liebt nur den Amphitryon in
ihm. Ein weiteres Beispiel: Dem mächtigen Grafen Friedrich Wetter vom Strahl erscheint in einer Silvesternacht im Fiebertraum
begleitet von einem Cherubim das «Käthchen von Heilbronn»
(1807/8), die Tochter eines Waffenschmieds, als seine zukünftige
Frau. Diese so ganz und gar nicht standesgemässe Verbindung
wird erst möglich, als sich nach unendlichen Wirren herausstellt,
dass das Käthchen einem nächtlichen Abenteuer ihrer Mutter mit
dem Kaiser entsprungen ist. Analog zu «Romeo und Julia» dreht
sich «Die Familie Schroffenstein» um zwei Liebende aus einander
innig verfeindeten Familien. Krasser noch die ungleiche Paarung
«Penthesilea»: Die Amazone verliebt sich auf dem Schlachtfeld in
ihren schärfsten Widersacher, den Kriegsherrn Achill.
Auch «Der Zerbrochne Krug» (1806) kreist um ein solches unwahrscheinliches Paar. Allerdings wählt Kleist für seine beiden Hauptfiguren die Namen Adam und Eve. Das erste, eigentlich ideale Paar
der biblischen Menschheitsgeschichte steht also hier Pate für eine
Verbindung, die im Stück nicht sein kann, und die den Sündenfall
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des Menschen und seine Folgen zu tragen hat. «Zum Straucheln
brauchts doch nichts als Füsse», erkennt Adam folgerichtig, als er,
geschunden von einem überhasteten Fenstersturz aus dem Paradies, also der Kammer Eves, zu Hause wieder zu sich kommt.
In diesem Adam – schamlos in seinen Winkelzügen und Manövern
vor wie nach seinem spektakulären Fall – erkennen wir, in gestochene Sprache gefasst und wundervoll ins Komische überzeichnet,
das Böse und Abseitige der menschlichen Existenz jenseits des Paradieses. Denn Adams Plan, gleich dem des Zeus in «Amphitryon», ist
ein wenig rühmlicher. Um sich Eves Liebe zu erschleichen, täuscht
er mittels seiner Amtsgewalt vor, dass Ruprechts Einberufung zum
Militär einem Feldzug nach Fernost dient. Dann verspricht er dem
Mädchen, das er sein Herzens-Evchen nennt, ein Attest für ihren
Verlobten auszustellen, das ihn vor diesem erlogenen Martyrium
bewahrt. Die Gegenleistung, die er sich davon erwartet, ist dergestalt, «dass es kein Mädchenmund wagt auszusprechen».
Was genau geschah in dieser Nacht, als im Hause Rull der Krug zerbrochen wurde und damit die Ordnung in den Niederlanden und
die der Dorfgemeinschaft, bleibt jedoch ungewiss. Ist wirklich mit
dem Krug auch Eves Unschuld zerbrochen? Allein der Gedanke
daran ist es, der die Bewohner Huisums in Angst und Schrecken
versetzt. Kleists komödiantischer Vorläufer des klassischen «Tatorts» zeichnet sich eben dadurch aus, dass das Publikum Adam
sehr bald auf die Schliche kommt, während die wenig vom Geiste
der Aufklärung erleuchtete Dorfbevölkerung noch allzu lang im
Dunklen tappt. Schliesslich ist der Richter als Autorität am Ort
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akzeptiert und geht bei den Rulls als Freund der Familie ein und
aus. Im Gegensatz zum Oedipus, der wie Adam über sein eigenes
Vergehen zu Gericht sitzt, weiss der Dorfrichter – als Träger der
Erbsünde – allzu genau um die eigene Schuld.
Gerichtsrat Walter, der nach eigener Aussage als gnädiger, nicht
strafender Stellvertreter der obersten Autorität, quasi einem aus
Utrecht gesandten Gott, dem Verfahren beiwohnt, muss schnell
erkennen, dass bei seinen Geschöpfen einiges im Argen liegt. Da
nützt auch das ein oder andere zur Beruhigung und Ablenkung
verabreichte Glas Wein aus Nierstein nichts. Wissenschaft und
Vernunft allein, wie sie Walter als Aufklärer vertritt, helfen den
Menschen jedenfalls nicht, mit ihrer conditio humana fertig zu
werden; weder dem Richter und seinen Sehnsüchten, noch der rigiden Dorfgemeinschaft mit ihrer Teufelsgläubigkeit, ihrem Kontrollwahn und der ritualisierten Ausübung von Gewalt, mit der sie
ihre Kinder überziehen.
Die Erkenntnis der eigenen Schuldhaftigkeit und die daran gekoppelten Versuche, mit der Schuld in einer strengen, jede Abweichung strafenden Gemeinschaft zu leben, sie zu relativieren, zu
vertuschen oder abzuschieben, sind das Herzstück der Tragikomödie um Adam und Eve. Das ideale Paar kommt nicht zusammen,
darf nicht mehr zusammen kommen, weil das Böse in der Welt
ist. So wie es Kleist in seiner Schrift über das Marionettentheater
sagt: «[…] das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir
müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht
von hinten irgendwo wieder offen ist.» Die Hintertür ist bei Kleist
die Welt des Dramas und der Komödie.
Jan Stephan Schmieding
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benedikt greiner, jürg wisbach
jürg wisbach, henriette blumenau
Die unerfüllte Liebe
EIN interview MIT dem
REGISSEUR Mathias
Schönsee
Die Ruhrfestspiele haben vor einigen Jahren einmal ihr ganzes Programm unter das Motto «Kontinent Kleist» gestellt – ist Kleist für Dich auch ein
ganzer Kontinent?
Es ist ja jeder Mensch ein Kontinent von ungeheuerlichem Reichtum. Und auf jedem Menschenkontinent finden wir Spuren seiner Zeit. Kleist war, als Adliger und als Soldat, den strengen Regeln der preussischen Gesellschaft unterworfen. Aber da er eine
empfindsame Natur war, konnte er mit dieser Unterwerfung
nicht leben. Sein Werk erzählt von dem immer akuter werdenden Widerspruch zwischen dem Menschen und der Gesellschaft,
zwischen den Bedürfnissen, Träumen, Trieben des Einzelnen
und den Forderungen des Staates nach Funktionalität, Disziplin,
Vernunft. Diese Kluft zwischen der abgründigen menschlichen
Natur und dem unbedingten Willen, sie durch Vernunft und Disziplin zu beherrschen, reisst immer weiter auf.
Seltsam also, dass «der zerbrochne Krug» gemeinhin als die gelungenste Komödie zumindest der
klassischen deutschsprachigen Bühnenliteratur
gilt?
In meiner Auffassung von Theater liegen Komödie und Tragödie
gar nicht so weit auseinander. Theater ist für mich in aller erster
Linie Menschenkunde. Und der Mensch ist ja immer ein Wesen,
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das komisch und tragisch zugleich ist. Er ist in Not, bedrängt und
getrieben, und er versucht, irgendwie dieser Not Herr zu werden.
Er muss sein Überleben sichern, will seine eigene Unzulänglichkeit tarnen, unbedingt seinen Reichtum mehren, nervige andere
Menschen aushalten und vor allem die Liebe gewinnen, die er
zum Überleben dringend braucht. Sein Ringen ist manchmal heldenhaft, manchmal stümperhaft. Sein Scheitern ist im Grunde
tragisch – aber wir lachen. Das Gefühl des Tragischen stellt sich
ein, wenn ein Mensch ohne eigene Schuld leidet oder zu Tode
kommt. In der Komödie sind die Figuren selbst schuld an ihrer
Not, also lachen wir sie aus.
Wie hast Du Dich an diese Probenarbeit inhaltlich
angenähert?
Das Stück war mir von Anfang an sehr nahe, weil es viele Themen behandelt, die mich interessieren. Vor allem die Frage: Warum versuchen wir immer wieder, die Wahrheit über uns selbst
zu verbergen? Warum haben wir oft nicht den Mut, zu unseren
Taten, Fehlern, Abgründen, geheimen Gefühlen und Leidenschaften zu stehen? Der Dorfrichter Adam hat ein Verbrechen begangen und wird zum Richter in einem Prozess, in dem ein anderer
angeklagt wird, er selbst aber der wahre Schuldige ist. Als ich
meinem fünfjährigen Sohn erzählt habe, worum es im Stück
geht, sagte der: «Aber da muss man doch einfach nur sagen: es
tut mir leid, dass ich den Krug zerbrochen habe!»
Wenn das so einfach wäre ...
Die Wahrheit würde Adam aus dem Gefängnis seiner Lüge befreien. Aber sie würde ihn das Leben kosten, das er führt. Er wäre
nicht mehr Dorfrichter, nicht mehr der Hahn im Korb all der
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Frauen, die ihn umgeben, all seinen gewohnten Komfort würde
er verlieren. Aber vielleicht wäre sein neues Leben ihm ja viel
gemäßer. Vielleicht wäre er glücklicher ... Richter Adam ist eine
ganz grossartige Figur, ein Gefangener der Situation, eine Art
trauriger Clown, dem wir dabei zusehen, wie er in seinem Käfig
rumläuft und dabei so auszusehen versucht, als wäre er nicht
gefangen.
Er ist aber auch der Adam, der aus dem Paradies
vertrieben wurde…
Ich habe viele Inszenierungen vom «Krug» gesehen in den 25,
nein, schon 30 Jahren, in denen ich dem Theater verfallen bin.
In noch keiner dieser Inszenierungen wurde thematisiert, dass
Adam und Eve schon von der Namensgebung her das ideale Paar
sind. Der zerbrochene Krug ist selbstverständlich ein Zeichen für
die Zerrissenheit des Landes und der Gesellschaft. Aber auch die
Liebe zwischen Mann und Frau ist unmöglich in diesem preussischen System, das ja auch die Folie der Huisumer Gesellschaft im
«Zerbrochnen Krug» ist. Adam und Eve sind, was zusammen gehört, aber in dieser Gesellschaft nicht zusammen kommen kann.
man sich heute das deutschsprachige Stadttheater anschaut,
fragt man sich manchmal, was von diesem Zweck noch übriggeblieben ist.
Kleist sieht den Optimismus der Aufklärer skeptisch, ja, er macht sich darüber lustig. Und hat er
nicht, leider, recht behalten?
Wenn wir zu den besten Sendezeiten das Fernsehprogramm einschalten, dann sehen wir doch, dass die Sender der Meinung sind,
sie müssten genau zu diesen besten Sendezeiten das anspruchsloseste Programm liefern. Es gibt einen Zusammenhang zwischen
dieser Art der Volkverdummung und dem Scheitern dieser Aufklärung. Es ist immer wieder die Flucht vor den unangenehmen
Realitäten in solch eine tönende Unterhaltungsmaschine. Kleist
ist ja eine Generation jünger als Goethe und Schiller, er sieht,
dass das Konzept der Aufklärung in der Praxis nicht funktioniert.
Und er zeigt die Gründe dafür. Bei allem guten Willen und Glauben an die Vernunftfähigkeit und an den guten Kern der menschlichen Seele: Viele schreckliche Dinge in der Welt sind nur sehr,
sehr schwer zu ändern. Es gibt immer weiter Kriege, Verheerungen, Brutalität in Familien, die Unfähigkeit zu lieben.
Trotzdem singen die Dorfbewohner zu Beginn Deiner Inszenierung ein fast karnevalistisches, fröhliches Lied.
Du hast der Huisumer Dorfgemeinschaft eine Figur
hinzugefügt – berichte doch ein bisschen darüber.
«Der zerbrochne Krug» spielt zu einer Zeit, in der es noch den
Optimismus gab, dass man die Menschen aufklären könne. Dass
man die Menschen, wie Kant schrieb, aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien könnte. Das war das hehre Ziel, an
dem Lessing, Goethe und Schiller gearbeitet haben; dafür haben
sie übrigens das deutschsprachige Stadttheater erfunden. Wenn
Wir haben einen Cherubim hinzugefügt, eine typische KleistFigur, wie sie in seinem Kosmos öfter vorkommt. Engel schweben durch seine Texte. Ich glaube, dass der Fall Adams aus Eves
Mädchenzimmer, in das er eingedrungen ist, um Eve zur Liebe
zu nötigen – man kann natürlich auch sagen: zu vergewaltigen
– so etwas wie die Vertreibung aus dem Paradies ist. Nach sei-
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nem Sündenfall muss Adam nun in dieser öden Huisumer Gesellschaft sehen, wie er sein Leben allein bewältigt. Er ist ein älterer Junggeselle, ein Hagestolzer, wie man damals sagte, der sein
Leben nicht mit einer Frau teilen muss oder darf, und der ganz
sicher abends in seinem kleinen Häuschen sitzt, seinen Rotwein
trinkt und vor Einsamkeit verrückt wird. Und im Nebenhaus
schläft diese wunderschöne junge Frau, die er selbstverständlich
begehrt, warum sollte er auch nicht? Diese junge Frau denkt vielleicht auch an ihn, den einzigen Mann im Ort, der ein bisschen
anders ist, der nicht bäurisch ist, der Lebenslust ausstrahlt und
mit dem sie einiges verbindet. Ich stelle mir vor, dass die beiden vielleicht in ihren kleinen Kammern liegen und aneinander
denken, voneinander träumen, und Phantasien haben, die in der
Gesellschaft, die sie umgibt, verboten sind. Der Cherubim steht
mit flammendem Schwert vor dem Paradies und sagt: «Ihr dürft
hier nicht mehr rein, ihr seid aus dem Paradies vertrieben, bleibt
schön auf eurem öden, felsigen Land und seht zu, wie ihr ihm
eure Kartoffeln abtrotzt.»
Manchmal ist es, als ob Du in der Inszenierung die
Zeit anhieltest.....
Ja! Wenn man eine Komödie inszeniert, sagen Theaterleute oft:
Das muss schnell gehen, da müssen sich die Schauspieler die Sottisen nur so um die Ohren hauen und sich von der Not in den
Slapstick treiben lassen. Ich fand die Vorstellung amüsant, genau
das Gegenteil zu probieren.
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Es sind verlangsamte Momente, die zeigen, was
hätte sein können?
Ich habe mich immer für die romantische Liebe interessiert, weil
sie Hand in Hand geht mit unerfüllter Liebe. Ich glaube, dass die
unerfüllte Liebe die größte Not ist, mit der viele Menschen durch
ihr Leben laufen. Unerfüllte Liebe macht den Menschen Angst.
Auch wenn es kitschig klingen mag: Die Sehnsucht nach Liebe
hält uns das ganze Leben in Bewegung. Sie ist ein unendlicher
Mangel, den wir unser Leben lang zu lindern und zu beherrschen
versuchen.
Welche Bezüge entdeckst Du in der Arbeit am
Stück zu der Welt, die uns umgibt?
Das Grossgeglückte an Klassikern wie dem «Zerbrochnen Krug»
ist ja immer eine Verbindung von Aktualität und überzeitlicher
Gültigkeit. Kleist hat zu seiner Zeit eine Art Gesellschaftssatire
geschrieben, mit ganz vielen Anspielungen auf hochaktuelle gesellschaftliche Zustände, etwa die Aufklärung, oder den Versuch,
bäuerliche Gesellschaft aus der Leibeigenschaft zu befreien; Anspielungen, die wir zwar vielleicht nicht mehr alle verstehen,
die dem damaligen Publikum aber präsent waren und sofort verstanden wurden. Auf dieser aktuellen Folie schreibt Kleist aber
auch ein Stück, in dem er etwas überzeitlich Gültiges über Menschen im Sinne einer klassischen Menschenkunde erzählt. Man
entdeckt in diesen Stücken immer etwas, das auch auf unsere
aktuelle Situation ganz genau anzuwenden und zu übertragen
ist. Ich denke, der bösartige Umgang, den die Menschen in Huisum miteinander pflegen, der ihnen zur Gewohnheit und zur
Selbstverständlichkeit geworden ist, – auch wenn wir heutzutage
sehr viel aufgeklärter sind, was Konfliktbewältigung angeht und
moderne Pädagogik – ist etwas, das auch noch zu unserem Alltag
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gehört. Da muss man nur mal in Bern Tram fahren; Menschen
gehen noch immer sehr roh und unempathisch miteinander um.
Bei Kleist sind es vor allem die Eltern-Kind-Beziehungen, die mir
auffallen: Mit welcher Selbstverständlichkeit die Eltern von ihren
Kindern einfordern zu funktionieren, überhaupt keine Empathie
für ihre Kinder haben, und kein Interesse an deren Gefühlswelt.
Diese Eltern wollen in ihren Kindern nur das eigene Weltbild bestätigt sehen. Ich mache diese Erfahrung immer wieder, obwohl
wir uns inzwischen so viele Gedanken darüber gemacht haben,
wie wir unsere Kinder besser, verständnisvoller erziehen können. Die Mechanismen sind einfach nur andere.
Manchmal erheben sich die Kinder aber auch gegen die Eltern…
corinne steudler, henriette blumenau,
jürg wisbach,mona kloos
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Es ist den Kindern ja zu wünschen, dass ihnen nicht alle Lebendigkeit ausgetrieben wird. Die Kinder werden alles tun, um die
Liebe der Eltern zu bekommen; sie werden sich sogar schlagen
und missbrauchen lassen und trotzdem immer noch Wege finden, sich von den Eltern geliebt zu fühlen. Kinder funktionieren einfach so. Wenn sie diese Liebe nicht bekommen, fühlen
sie sich selbst schuldig. Sie sind nun einmal nicht in der Lage zu
sagen: «Mein Vater ist leider traumatisiert, weil er selbst Schlimmes durchgemacht hat.» Sie können nur den Schluss ziehen, dass
sie selbst schuld daran sind. Die preussische Erziehung, von der
Kleist berichtet, die sehr viel mit Schlägen zu tun hatte, bei der
es fast keine Zuneigung gab und die wir als schwarze Pädagogik
bezeichnen, war über Jahrhunderte üblich, es gab nichts anderes.
In Deutschland – ich weiss nicht, wie es in der Schweiz war –
hat sich das noch bis in die 1950er und 1960er Jahre ausgewirkt.
Die Frage ist, ob diese Erziehung dem Kind die Lebendigkeit aus-
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treibt, so dass es zu einem funktionierenden, aber unglücklichen
Staatsbürger wird, oder ob das Lebendige in ihm so stark ist und
Schlupflöcher findet, um zu überleben. Das ist bei Eve jedenfalls
der Fall. Sie behält inmitten ihrer rohen, beschädigten Umgebung ein Gespür dafür, dass Lebendigkeit etwas anderes ist. Dort
zieht es sie auch hin. Es ist ihr zu wünschen, dass sie dorthin
kommt. An unserem Abend vielleicht noch nicht, aber vielleicht
danach. Ich wünsche ihr den Mut zur Freiheit. Und ich wünsche
ihr erfüllte Liebe.
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stefano wenk, corinne steudler, pascal goffin, sophie hottinger
Nachweise
Impressum
schauspiel
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TEXTNACHWEISE
Der Artikel zu «Der Zerbrochne Krug» und die biographische Notiz zu Heinrich von
Kleist wurden für dieses Programmheft geschrieben. Biographische Informationen
stammen u.a. aus Eberhard Siebert, Heinrich von Kleist. Eine Bildbiographie, Heilbronn
2013, und Philipp Burjhard, Anett Lütteken, «Ich will im eigentlichsten Verstande ein
Bauer werden». Heinrich von Kleist in der Schweiz, eine Ausstellungdokumentation,
Göttingen 2011. Das Gespräch mit Mathias Schönsee wurde am 19. Oktober 2014 für
dieses Programmheft geführt.
bildnachweise
Probenfotos: Annette Boutellier
konzert Theater bern
intendant Stephan Märki
schauspieldirektorin Iris Laufenberg
spielzeit 2014.2015
inhalt und redaktion Jan Stephan Schmieding
konzept & Gestaltung formdusche, Berlin
layout Murielle Bender, Konzert Theater Bern
druck Haller + Jenzer AG, 3400 Burgdorf
cabaret
silvester im
cabaret
31. dez 2014
20:30
musical
john kander, Fred ebb, joe masteroff
musikalische leitung Michael Frei – regie Mathias Schönsee – bühne Doreen Back – kostüme
Christine Haller – choreografie Patrick Stauf – dramaturgie Karla Mäder – sally bowles
Henriette Blumenau – cliff bradshaw – Jonathan Loosli – frau schneider Heidi Maria Glössner –
redaktionsschluss 21. Oktober 2014 | Änderungen vorbehalten.
herr schultz Stefano Wenk – ernst ludwig Benedikt Greiner – conferencier Andri Schenardi
– kit-kat-girls und -boys Nicole Güttling, Marie-Christine Kaßner, Bettina Schurek, Corinne
Steudler, Sven Olaf Denkinger, Patrick Stauf – geschäftsmänner * Jean Pierre Bourquin, Emanuel
Huber, Gérald Kurth, Markus Roth – Berner Symphonieorchester | * Mitglieder Extrachor Konzert
Theater Bern
vidmar 1 15. Nov | 07., 31. Dez 2014 | 24. Jan 2015 | 08. Feb 2015 | 21. Mär 2015
Preise: Einzelheft: chf 5,– im Vorverkauf und an der Abendkasse
Weitere Termine
finden Sie im Monatsleporello sowie auf
www.konzerttheaterbern.ch
inserat