Arbeitshilfen Unterrichtsvorschläge Katholisches Filmwerk
Transcription
Arbeitshilfen Unterrichtsvorschläge Katholisches Filmwerk
Arbeitshilfen Unterrichtsvorschläge Katholisches Filmwerk HEAVEN Deutschland/USA/Frankreich 2000 Spielfilm, 93 Min. Produktion: X Filme/Miramax/Mirage Enterprises/Noe Prod. Ausführende Produzenten: Harvey Weinstein, Agnès Mendré, Sydney Pollack Produzenten: Anthony Minghella, Maria Köpf, William Horberg, Stefan Arndt, Frédérique Dumas Regie: Tom Tykwer Buch: Krzysztof Kieslowski, Krzysztof Piesiewicz Kamera: Frank Griebe Schnitt: Mathilde Bonnefoy Musik: Arvo Pärt, Tom Tykwer, Marius Ruhland, Niki Reiser Darsteller: Cate Blanchett (Philippa Paccard), Giovanni Ribisi (Filippo), Remo Girone (Filippos Vater), Stefania Rocca (Regina), Alessandro Sperduti (Ariel), Mattia Sbragia (Major Pini), Stefano Santospago (Vendice), Alberto di Stasio (Staatsanwalt). FSK: ab 12 Preise und Auszeichnungen: Deutscher Filmpreis in Silber 2002 Goldene Kamera 2002 für Cate Blanchett Kinotipp der katholischen Filmkritik, Februar 2002 Filmtipp der kirchlichen Filmbeauftragten in der Schweiz: Film des Monats Juni 2002 Kurzcharakteristik Mit „Heaven“ hat der deutsche Regisseur Tom Tykwer („Lola rennt“) ein nachgelassenes Drehbuch des 1996 verstorbenen polnischen Regisseurs Krzysztof Kieslowski verfilmt. Darin erzählt er die Geschichte einer Lehrerin, die ein Attentat gegen einen in Drogengeschäfte verwickelten Geschäftsmann verüben will und dabei ungewollt vier unschuldige Menschen tötet. Beim Verhör auf dem Polizeipräsidium lernt sie einen jungen Carabiniere kennen, der sich in sie verliebt und ihr zur Flucht verhilft. Die Reise in die Toskana wird für die beiden zu einem spirituellen Exerzitium, bei dem sie sich der eigenen Schuld stellen, aber auch eine Läuterung durch die Kraft der Liebe und Vergebung erfahren. In ästhetisch ausgefeilter und komplexer Weise setzt Tykwer die ungewöhnliche Geschichte um, die wie ein Thriller beginnt, dann aber zunehmend die spirituelle Dimension der Geschichte herausstellt und den Zuschauer mit Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Gerechtigkeit, Schuld und Erlösung durch die Kraft der Liebe stellt. Einsatzmöglichkeiten „Heaven“ stellt ethische Probleme und Sinnfragen zur Diskussion und ist in der ästhetischen Gestaltung überaus anspruchsvoll. Dies verlangt aufmerksame Zuschauer, die bereit sind, sich auf ein Filmkunstwerk einzulassen, das sich von gängigen Sehgewohnheiten abhebt. Einsatzalter Der Film enthält Handlungselemente – das Attentat, die Drogengeschichte, Verhör und Flucht, eine Liebesgeschichte –, die durchaus auch für Jugendliche ab 14 Jahren nachvollziehbar sind. Dennoch ist die Einordnung der Themen in den Gesamtzusammenhang des Films nicht einfach, weil die ethischen Bewertungen – z. B. im Hinblick auf die Selbstjustiz – mitunter nicht so explizit ausgesprochen werden, wie es vielleicht für jüngere Zuschauer wünschenswert wäre. Daher ist der Film in erster Linie für die Arbeit mit älteren Jugendlichen ab 16 Jahren und für Erwachsene empfehlenswert. Themen Der Film ist im Rahmen diverser Filmreihen einsetzbar, zu „Religion im Film“ allgemein, zu genrespezifischen Themen (Kriminalfilm, Thriller) oder zu folgenden konkreten Themen: Drogenhandel, Engel, Erlösung, gesellschaftliche Verantwortung, Grenzerfahrungen, Gerechtigkeit, Identität, Kommunikation, Kriminalität, Korruption, Lebensbilanz, Liebe, nicht gelebtes Leben, Selbstjustiz, Sinn des Lebens, Schuld, Spiritualität, Symbole, Tod. Zielgruppen Außerschulische Jugendarbeit, Erwachsenenbildung, Aus- und Weiterbildung von Theolog(inn)en und von Sozialarbeiter(inne)n / Sozialpädagog(inn)en. Schule: Gymnasium Sek. II. Fächer: Religion, LER/Ethik, Deutsch, Gemeinschaftskunde, Geschichte Filmgeschichtlicher Kontext Da der Film wesentlich inspiriert ist durch das Werk Krzysztof Kieslowskis, ist es denkbar, den Film mit einem Film von Kieslowski zu kombinieren („Ein kurzer Film über die Liebe“ bzw. „Dekalog VI“, „Die zwei Leben der Veronika“). Ein anderes Vorgehen wäre drei Filme zu kombinieren: einen Film von Kieslowski („Dekalog“, einen Film der „Drei Farben“-Trilogie), einen Film von Tom Tykwer (z. B. „Winterschläfer“ oder „Der Krieger und die Kaiserin“) und „Heaven“ als das Werk, das sozusagen die Welten beider Regisseure zusammenführt bzw. vereint. Die DVD enthält 18 einzeln anwählbare Sequenzen bzw. Kapitel: 1: Prolog: Wie hoch kann ich fliegen? 2: Vorspann / Der Anschlag 3: Das Verhör 2 10: Der einzige Grund 11: Vollendung des Plans 12: Der Morgen danach 4: 5: 6: 7: 8: 9: Filippos Faszination Philippas Geschichte Manipulation Kontaktaufnahme Anweisungen Die Flucht 13: 14: 15: 16: 17: 18: Schuldgefühle Ein Wiedersehen Geheimes Treffen Der letzte Abend Im Himmel Abspann Inhalt (Die Ziffern entsprechen der Kapitelanwahl der DVD) [1] Der Film beginnt mit einer Art Prolog: ein Computerbildschirm zeigt ein Flugsimulationsprogramm. Ein junger Mann (Filippo) steuert einen virtuellen Hubschrauber immer höher, bis das Programm abstürzt. [2] Eine junge blonde Frau, die Engländerin Philippa Paccard, plant ein Attentat. Sie versteckt eine Bombe im Zimmer des Chefs der Ulcom Electronics in Turin. Während Philippa sich entfernt und die Sekretärin mit einem Anruf weglockt, leert die Putzfrau den Papierkorb mit der Bombe. Der Zufall will es, dass sie einen Fahrstuhl betritt, in dem ein Vater mit zwei Kindern auf dem Weg nach oben ist. Der Fahrstuhl explodiert. [3] Philippa wird von der Polizei verhaftet und verdächtigt, einer terroristischen Gruppe anzugehören. Sie besteht beim Verhör darauf, dass sie in ihrer Muttersprache (Englisch) sprechen darf. [4] Ein junger Polizeibeamter, der das Protokoll führt, Filippo, meldet sich für die Aufgabe des Dolmetschers. Als Philippa erfährt, dass nicht der Konzernchef, sondern vier unschuldige Menschen getötet worden sind, bricht sie zusammen. [5] Das Verhör gibt Aufschluss über die Hintergründe von Philippas Attentat. Ein Studienfreund von Philippas Mann, der Konzernchef Vendice, ist einer der wichtigen Drahtzieher in der Drogenszene. Philippas Mann ist an einer Überdosis gestorben; in ihrer Schule, in der sie als Englischlehrerin tätig ist, gibt es drogenabhängige Jugendliche, erst unlängst ereignete sich ein tragischer Selbstmord. Philippa hat versucht, die Polizei über die Machenschaften Vendices zu informieren, aber es gab keinerlei Reaktion. So hat sie sich entschlossen, selbst für Gerechtigkeit zu sorgen. [6] Der Polizeichef, Major Pini, ist – wie sich herausstellt – ein Vertrauter Vendices und hat offenbar dafür gesorgt, dass die Anzeigen nicht weitergeleitet wurden. [7] Filippo beschließt Philippa zu befreien. [8] Er spielt ihr ein Diktiergerät zu, auf dem er ihr seinen Fluchtplan erläutert. Major Pinis Leute überwachen Philippa in der Untersuchungshaft mit versteckten Abhörgeräten und erfahren so von den Plänen. [9] Dennoch gelingt die Flucht, weil Filippo in letzter Minute den Plan überraschend geändert hat. Filippo versteckt Philippa auf dem Dachboden des Polizeipräsidiums. Philippa trägt schwer an der Schuld, die sie durch das verunglückte Attentat auf sich geladen hat. [10] Sie denkt aber nicht an Flucht, sondern daran, ihre ursprüngliche Absicht doch noch umzusetzen. Filippo spielt für sie den Lockvogel. [11] Er lockt Vendice in das Gerichtsgebäude, wo Philippa ihn erschießt. 3 [12] Gemeinsam reisen beide in die Toskana nach Montepulciano, wo Philippa ihre Jugend verbracht hat. [13] Dort erleben sie eine Phase der spirituellen Läuterung. [14] Sie werden Zeuge einer Hochzeitsfeier, Philippa erkennt unter den Gästen ihre Freundin Regina. [15] Filippos Vater sucht sie dort auf, um ihnen Hilfe anzubieten, muss aber einsehen, dass er in dieser schicksalhaften Situation machtlos ist. [16] Philippa erkennt ihre Liebe zu Filippo und findet ihren Glauben wieder. Die beiden verstecken sich auf Reginas Bauernhof. [17] Doch die Polizei spürt die Gesuchten auf. Ein großes Polizeiaufgebot rückt an und durchsucht den Bauernhof. In einem unbeobachteten Moment gelingt es den beiden, in einen Polizeihubschrauber zu springen. Filippo steuert ihn senkrecht hoch – in den Himmel hinein. Die Schüsse der Polizei erreichen den Hubschrauber nicht mehr. [18] Abspann. Autor und Regisseur Der Film ist gewissermaßen das Werk zweier großer Regisseure, einzigartig insofern, als Tykwer nicht einfach Kieslowski imitiert, sondern in seine eigene Bilderwelt hineinholt. Tykwer hat in Interviews mehrfach betont, dass er den Stoff nicht gemacht hätte, wenn er nicht beim Lesen des Buches den Eindruck gehabt hätte, dies sei sein ureigenstes Thema. Krzysztof Kieslowski (1941–1996), der früh verstorbene polnische Regisseur, gehört zu den herausragenden Vertretern des europäischen Kinos der 80er und 90er Jahre. Er begann seine Arbeit in den 70er Jahren mit Dokumentarfilmen, näherte sich dann aber dem Spielfilm, weil er erkannte, dass bestimmte Entscheidungssituationen im Dokumentarfilm nicht adäquat zu erfassen sind. Mit dem Film „Der Zufall möglicherweise“ (1981), in dem er die Geschichte eines jungen Studenten in Warschau in drei Variationen erzählt, formuliert er sein von da an zentrales Thema der Frage nach dem Zufall oder der höheren Ordnung im menschlichen Leben und die Schwierigkeiten der richtigen Entscheidung in bestimmten Lebenssituationen. Dieses Thema erfuhr seine Zuspitzung in der Zusammenarbeit mit dem Rechtsanwalt Krzysztof Piesiewicz, mit dem er seine folgenden Filmprojekte entwickelte. Der Höhepunkt war die zehnteilige Fernsehserie „Dekalog“ (1988/89), in der er die ethische Relevanz der Zehn Gebote in Alltagsgeschichten aus dem gegenwärtigen Polen untersuchte. Zwei Filme dieser Reihe („Ein kurzer Film über das Töten“, 1987, und „Ein kurzer Film über die Liebe“, 1988) entstanden auch in einer Kinofassung. Mit der Aufführung von „Ein kurzer Film über das Töten“ bei den Filmfestspielen in Cannes 1988 wurde er über Nacht berühmt. Alle seine nachfolgenden Filme erhielten Hauptpreise auf internationalen Festivals. In Koproduktion mit Frankreich entstand als letztes Werk die Trilogie „Drei Farben: Blau, Weiß, Rot“ (1993–94), in der er unter Bezugnahme auf die Werte der Französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ das thematische Spektrum des „Dekalog“ noch einmal bündelte. Kieslowski starb während der Arbeit an einer neuen Trilogie „Paradies, Hölle, Fegefeuer“, von der zum Zeitpunkt seines Todes nur das erste Buch fertig ausgearbeitet war. Der von der amerikanischen Produktionsfirma Miramax erworbene Stoff wurde dem deutschen Regisseur Tom Tykwer angeboten. Tykwer, geboren 1965 in Wup4 pertal, war ein regelrechter Kinofreak, bevor er den Weg hinter die Kamera antrat. Schon mit 14 Jahren begann er in seiner Heimatstadt Wuppertal in einem Kino zu arbeiten, später leitete er fast zehn Jahre lang das Kino Moviemento in BerlinKreuzberg. Gründung der Filmproduktionsfirma X Filme Creative Pool. Schon sein Erstlingswerk „Die tödliche Maria“ (1993) zeigte seine außergewöhnliche visuelle Begabung und sein Interesse an ungewöhnlichen schicksalhaften Begegnungen. Zufall und Schicksal spielen bei Tykwer in ähnlicher Weise eine Rolle wie bei Kieslowski. In „Winterschläfer“ (1996/97), dem Porträt einer Generation von Mittdreißigern auf der Suche nach Sinn, wird die Handlung ausgelöst durch einen tödlichen Unfall mit Fahrerflucht. „Lola rennt“ (1998), Tykwers Welterfolg, setzt eine Grundidee um, die Kieslowski in „Der Zufall möglicherweise“ gestaltet hat: eine Geschichte wird in drei Variationen erzählt. Ausgehend von einer Grundkonstellation – Lola muss in 20 Minuten 100 000 DM besorgen, um ihren Freund Manni vor Gangstern zu retten – werden drei mögliche Verläufe durchgespielt, die jeweils von anderen Zufällen in bestimmte Bahnen gelenkt werden. Mit rasanten Schnittfolgen und einer Videoclip-Ästhetik erreichte Tykwer mit diesem Film Kultstatus und lenkte internationale Aufmerksamkeit auf sich. Sein nächster Film „Der Krieger und die Kaiserin“ (2000) war auch die Geschichte einer ungewöhnliche Liebe, den Tykwer selbst als Zwilling zu „Heaven“ ansieht: In „Der Krieger und die Kaiserin“ bringt eine Frau einem Mann das Lieben bei, in „Heaven“ hilft der Mann der Frau, sich – in doppeltem Sinn – zu befreien (vgl. Int. in: Töteberg, S. 97 f.). Gestaltung Tykwers Film ist ein Film von vollendeter Ästhetik. Jede Einstellung ist genauestens komponiert, jede Sequenz mit höchster Präzision konstruiert. Tykwer setzt stark auf visuelle Signale. So gibt es die Einstellung, die den Titeln unterlegt ist und später wiederkehrt: die Kamera schwebt über die Dächer der Stadt. Dies lässt eine geometrische Ordnung erkennen, die Tykwer als „erdrückendes Gitternetz“ (Töteberg, S. 104) beschreibt, das die Figuren gefangen hält. Der Blick von oben ist aber auch der Blick eines Engels oder der göttliche Blick auf die Schicksale der Menschen, von denen der Film zwei Personen auswählt. Der Blick von oben ist eingeordnet in die auch formal umgesetzte Spannung zwischen oben und unten. Die zentrale Thematik des Films, Schuld und Erlösung, ist in Bilder von Abstieg und Aufstieg umgesetzt. Symbolisch schon in der Attentatssequenz: während Philippa mit der Rolltreppe abwärts fährt, bewegt sich der Fahrstuhl nach oben. Die Bewegung des Films führt allgemein in die Schuld (Abstieg) und dann zur Erlösung (Aufstieg). Dies wird formal dadurch sichtbar, dass die Abschnitte der Handlung für die Figuren immer einen Weg nach oben bedeuten. Im Polizeipräsidium flieht Philippa zunächst auf den Dachboden, von dort in die Freiheit, in die Toskana, „eine Landschaft, die befreiend und grenzenlos erscheint gegenüber der Stadt“, welche die „Welt als Chance“ offenbart (Tykwer, in: Töteberg, S. 104). Montepulciano, wo Philippa ihre glücklichen Jahre verbracht hat, ist eine Stadt auf einem Berg, von dort führt der Weg der Figuren bergan zu 5 einem Bauernhof, wo Philippas Freundin Regina den Flüchtenden Unterschlupf gewährt, von dort geht ein Weg weiter nach oben zu einem Berg, auf dessen Kuppe ein einsamer Baum steht. Die Flucht endet mit dem Hubschrauberflug. Die letzte Einstellung zeigt den Hubschrauber von unten, der sich in den Himmel schraubt, eine Einstellung, die gut eine Minute dauert – so lange, bis der Hubschrauber nicht mehr zu sehen ist. Parallel zur Bewegung abwärts und aufwärts ist die Symbolik von Licht und Dunkelheit einzuordnen. Tykwer sagt dazu: „Eine Reise vom Schatten ins Licht ist das Thema, das wir auch visuell im Film verfolgt haben“ (Töteberg, S. 101). Schon in der Anfangssequenz endet das Simulationsprogramm mit einem Absturz, der Bildschirm schrumpft blitzartig auf einen kleinen Punkt zusammen und kollabiert, bis alles schwarz ist. Das Gegenstück zu diesem kollabierenden Bild ist die Tunnelsequenz auf der Flucht. Hier ist das Tunnelende zuerst ein kleiner Lichtpunkt in der Bildmitte und das helle Bild wird aufgerissen (vgl. Kremski). Tykwer beschreibt die visuelle Gestaltung des Films insgesamt wie folgt: „Vom Chaos ins Klare, von der Dunkelheit ins Licht, von der geduckten Haltung, dem auf den Boden gerichteten Blick zum Blick ins Freie, in die Höhe; an diesen Motti hat sich die Kamera orientiert“ (Int. in: Töteberg, S. 99 f.). Zu den visuellen Gestaltungsmitteln gehört wesentlich auch die Farbe. So gibt es markante Farbakzente: ein gelber Bus, ein blauer Lieferwagen, rote Telefone. Die Welt im Polizeipräsidium hat dominant kalte und dunkle Farben. Der Dachboden im Polizeipräsidium ist ein dunkler Raum, in den aber zunehmend Lichtstrahlen eindringen. Die Toskana-Welt schließlich ist ganz in goldenes Licht getaucht. Am Ende steht das strahlende Blau des Himmels, bis die Abblende ins Schwarze erfolgt. Sparsam, aber sehr akzentuiert wird die Musik eingesetzt. Tykwer benutzt Werke des finnischen Komponisten Arvo Pärt sowie eigene Kompositionen und die anderer Filmkomponisten. Die Musik arbeitet mit sehr sparsamer Instrumentation, wenigen Akkorden und kleinen Melodiefragmenten. Sie ähnelt dem Stil der Filmmusik von Zbigniew Preisner in Kieslowskis „Dekalog“. Sie unterstützt im Wesentlichen den Eindruck der hypnotischen Verlangsamung und der spirituellen Vertiefung. Interpretation Der Film beginnt mit einer Art Prolog: auf einem Computerbildschirm läuft ein Simulationsprogramm, ein Hubschrauberflug. Dabei ist der aus dem Off zu hörende Testkandidat (Filippo, wie man später erfährt) dabei, die Grenzen der Wirklichkeit auszuloten: er fliegt so hoch, wie er es in der Realität nicht könnte. Das Simulationsprogramm kann als eine Art Motto des Films angesehen werden: der Film ist eine Art Versuchsanordnung, die dazu dient, die Grenzen menschlicher Existenz auszuloten. Mit dem Absturz des Programms ist das zentrale Thema von Aufstieg vs. Absturz, die Grenzen der Kontrollierbarkeit menschlichen Handelns vorgegeben. 6 Die nachfolgende Handlungsepisode greift diese Elemente auf. Philippas Attentat erscheint zunächst als eine Tat von absoluter Kontrolle. Jeder Schritt ist genauestens kalkuliert. Die Putzfrau – in den Filmen von Kieslowski sind häufig rätselhafte alte Frauen eine Art Agentinnen des Schicksals – ist das Element des Unvorhersehbaren, das die Pläne Philippas durchkreuzt. Auch das Attentat endet mit einer nicht mehr virtuellen, sondern ganz realen Katastrophe (vgl. Kremski). Im Bild sieht man gleichzeitig die Aufwärts- und Abwärtsbewegung. Während Philippa die Rolltreppe hinunter fährt (symbolisch: in das Dunkel, in die Verdammnis, in die Hölle), bewegt sich der Fahrstuhl mit der Bombe nach oben (in den Himmel, in den Tod, in das Jenseits). Die Szenen des Verhörs sind wiederum durch das Verhältnis von kontrolliertem Handeln und dessen Durchbrechung durch Unvorhergesehenes gekennzeichnet. Das Verhör ist ein formalisierter Ablauf, der vom Untersuchungsrichter strikt nach den Regeln durchgeführt wird. Ein Konflikt entsteht dadurch, dass Philippa in ihrer Muttersprache aussagen will. Die Kommunikation wird erschwert. Dies hat aber eine innere Berechtigung, denn die Kommunikation zwischen Philippa und der Polizei ist bereits gestört. Es stellt sich heraus, dass sie die Tat begangen hat, weil die Polizei auf ihre Anzeigen hin nicht tätig geworden ist. In dieser Situation bietet sich ein junger Carabiniere als Dolmetscher an, der mit wachen Augen zugehört hat. Dies erscheint auf den ersten Blick nicht als ungewöhnlich, erweist sich aber als folgenreiche Durchbrechung des Rituals. Hinter dem eher ausdruckslos erscheinenden Gesichtsausdruck des jungen Mannes verbirgt sich die innere Beteiligung, wie später deutlich wird. Eine Durchbrechung des Erwarteten ergibt sich für Philippa, als sie das Ausmaß ihrer Tat erfährt und völlig entsetzt ist. Die Konfrontation mit ihrer Schuld ist für sie unerträglich. Sie stürzt vom Stuhl; als sie erwacht, blickt sie in das Gesicht von Filippo, wiederum eine Andeutung des Motivs von Absturz und Aufstieg, Verdammnis und Rettung. Seinem Vater gesteht Filippo schon kurz darauf, er habe sich verliebt. Für manchen Kritiker erschien die Liebesgeschichte psychologisch wenig glaubwürdig. Es geht Tykwer aber überhaupt nicht um eine sexuelle Beziehung. Die Beziehung ist – wie R. Fischer feststellt – „nicht physischer, sondern spiritueller Natur“ (Fischer, S. 35). Der Gleichklang der Namen, die Tatsache, dass beide am gleichen Tag (am 23. 05., dem Geburtstag Tykwers!, wobei Philippa an Filippos Geburts-Tag – ihrem siebten – die erste hl. Kommunion empfing) geboren wurden, betont „das asexuelle Füreinanderbestimmtsein, das Verschmelzen zu einem Wesen“ (R. Fischer, S. 35). Filippo ist sehr jungenhaft gezeichnet, er könnte fast noch einer von Philippas Schülern sein. Er entspricht damit vom Typ her genau dem jungen Postangestellten Tomek in Kieslowskis „Ein kurzer Film über die Liebe“, der ebenfalls die Absolutheit einer uneigennützigen Liebe verkörpert. Es kommt zu einer Begegnung der beiden, weil Philippa fordert, dass sie in ihrer Muttersprache Englisch aussagen darf. Filippo bietet sich als Dolmetscher an. Er ist damit als derjenige gekennzeichnet, der sie besser als jeder andere versteht. Er spricht nicht nur ihre Muttersprache, sondern sieht auch, was in ihrem Inneren vorgeht. So ist er zur Stelle, als sie in Ohnmacht fällt und vom Stuhl stürzt. Als sie aus ihrer kurzen Ohnmacht 7 erwacht, blickt sie in Filippos Gesicht. Als Filippo ihre Hand hält „wandelt sich das fait divers zum Drama: Die Liebenden erkennen sich“ (R. Fischer, S. 34). Filippo ist in der Lage, sich mit Philippa in ihrer Not zu identifizieren. Mit dieser Begegnung beginnt ein spiritueller Weg, bei dem Filippo die Rolle eines Begleiters einnimmt. Er ist ein aufmerksamer Beobachter. So könnte man ihn als eine Variation der Engelfiguren bei Kieslowski sehen. Im „Dekalog“, aber auch in anderen Filmen, gibt es Figuren, die den Weg der Hauptfiguren an entscheidenden Stellen kreuzen, diese nur mit einem Blick konfrontieren, der vielsagend ist und erahnen lässt, dass sie die weitere Entwicklung der Handlung kennen, diese Engelfiguren greifen jedoch nie in den Handlungsverlauf ein („Augen-Blicke der Wahrheit“). Filippo, der junge Carabiniere, ist sozusagen ein Kieslowskischer Engel, der nicht in der Beobachterrolle verharrt, sondern aktiv eingreift, Philippa rettet, der sie buchstäblich in den Himmel bringt. Am Ende wird er am Steuerknüppel des Hubschraubers sitzen, der sich in den Himmel schraubt. Filippo verkörpert symbolisch die Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen, die auch dem Verdammten noch gilt. Die Engelsthematik erfährt ihre Erweiterung in den Nebenfiguren, Filippos Bruder und Philippas Freundin. Beide Figuren helfen den Protagonisten bei ihrer Flucht. Filippos Bruder trägt sogar den Engelsnamen Ariel. Philippas Freundin trägt in der Besetzungsliste den Namen Regina, was auch als Anspielung auf die Gottesmutter Maria zu deuten wäre, die den beiden auf dem Weg in den Himmel Schutz und Zuflucht gewährt. Die Entwicklung der Beziehung zwischen Philippa und Filippo ist anfangs vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie auf intensive Weise die Möglichkeiten der Kommunikation nutzen. Sie kommunizieren mit Blicken und Gesten. Filippo schmuggelt ihr schließlich ein Diktiergerät zu, auf dem er ihr seinen Fluchtplan erläutert. Die Verhörsituation wird durch die geheime Verbindung zwischen beiden immer doppelbödiger. Das Thema der Kommunikation und des Geheimnisses wird weiterhin dadurch entwickelt, dass die Polizei ihrerseits Philippa in ihrer Zelle abhört. So erfährt der korrupte Polizeichef zwar von dem Fluchtplan, kann ihn aber letztlich nicht verhindern, weil Filippo den Plan kurzfristig ändert. Die erste Station der Flucht führt auf den Dachboden des Gerichtsgebäudes. Dieser Ort ist symbolisch aufgeladen. Für Filippo ist es ein Ort der Kindheit, ein geheimer Zufluchtsort, an den er sich zurückgezogen hat. Hier deutet sich eine Bewegung in die Vergangenheit an. Der Dachboden ist gleichzeitig ein Ort, welcher der realen Zeitdimension enthoben ist. In einer Einstellung sieht man die Uhr, die sich im Giebel befindet, von hinten. Die Flüchtigen befinden sich an einem Ort jenseits der Zeit, einem Ort der Transzendenz. Auf dem Dachboden sind Philippa und Filippo zum ersten Mal allein und können offen miteinander sprechen. Auch hier bleibt die größere Nähe bewusst frei von sexuellen Konnotationen. Die Annäherung vollzieht sich, indem sich die beiden äußerlich immer ähnlicher werden, da sie die gleiche Kleidung – Jeans und ein weißes T-Shirt – tragen. Ihre „Wiedergeburt als Zwillinge“ (R. Fischer, S. 35) wird so deutlich. Tykwer erläutert seine Konzeption wie folgt: „Wir haben es im Grunde, 8 radikal gesprochen, mit zwei Seiten ein- und derselben Person zu tun, mit der positiven und der negativen Potenz eines Menschen: Filippo/Philippa. Der zerrissene Homo sapiens, der wieder zu einer Einheit wird. Und darin letztlich auch die Geschlechterdifferenzen überwindet“ (Int. in: Töteberg, S. 105). Die Annäherung vollzieht sich auch in der gemeinsam ausgeführten Tat: der Hinrichtung des Geschäftsmannes Vendice. Philippa ist sich voll bewusst, dass sie mit dem Attentat und der ungewollten Tötung Unbeteiligter Schuld auf sich geladen hat, für die sie bezahlen muss. Sie verfolgt aber hartnäckig den Plan, den eigentlich Schuldigen doch noch zu treffen und damit der Gerechtigkeit in ihrem Sinn zum Durchbruch zu verhelfen. Filippo lässt sich bereitwillig in ihren Plan einspannen. Er spielt den Lockvogel. Der Akt der Selbstjustiz ist ohne Zweifel höchst problematisch, er wird jedoch so inszeniert, dass er nie als Triumph erscheint, sondern als Durchführung eines zwanghaft vorgegebenen Weges. Unter Bezugnahme auf den religiösen Kontext des Films könnte man daran denken, dass die Geschichte von Judit und Holofernes (Buch Judit, besonders Kap. 13,1-10) für Kieslowski und Piesiewicz ein Vorbild gewesen sein könnte. Bei der Darstellung der Tat spielt die Perspektive Filippos eine wesentliche Rolle. Der Zuschauer sieht zwar Philippa in der Konfrontation mit Vendice, aber er erlebt gleichzeitig, wie Filippo dies vor der Tür wahrnimmt. Nach der Tat sieht man Filippo in der Dunkelheit auf dem Dachboden stehen, hemmungslos weinend. Indem er sich zu Philippas Werkzeug gemacht hat, hat er seine Bereitschaft, buchstäblich alles für sie zu tun, unter Beweis gestellt. Damit bindet er sich auch für immer an sie. Denn als Mittäter gibt es für ihn nach dem Mord kein Zurück mehr. Die Flucht in die Toskana ist zum einen im räumlichen und symbolischen Sinn eine Reise, die immer näher zum Himmel führt, eine Reise aus dem Dunkel in das Licht. Die Flucht ist auch eine Weiterführung der Zeitreise, die auf dem Dachboden begann. Im Zug „sitzen sie entgegen der Fahrtrichtung, so dass es aussieht, als würden sie rückwärts rasen . . .“ (R. Fischer, S. 35). Es ist ein Weg zurück, weil die Reise in die Stadt führt, in der Philippa ihre glücklichen Jahre verbracht hat. Nachdem Filippo sie an einen wichtigen Ort seiner Kindheit geführt hat, führt sie ihn ihrerseits in den Raum ihrer Vergangenheit. Als Weg zurück in der Zeit ist die Reise auch ein Weg in die Unschuld, ins Paradies. Verfolgt man die spirituelle Linie, zerfällt der Film nicht in zwei Teile, sondern erweist sich als eine konsequente Abfolge von Stationen. „Wir wollten“ – so Tykwer (in: Worthmann) – „eine Dynamik anzetteln, die sich irgendwann von den Fesseln der faktischen Plausibilität löst und stattdessen einer spirituellen Plausibilität folgt.“ Diese spirituelle Bedeutung der Reise wird durch die thematische Entwicklung auf den einzelnen Stationen deutlich herausgearbeitet. Tykwer unterstreicht immer das Besondere der Beziehung, indem er kontrastierend dazu andere Formen der Liebe zeigt; Formen, welche die beiden Flüchtigen nur als Beobachter erleben, ohne dass sie für sie selbst Bedeutung gewinnen würden. Die rein triebhafte sexuelle Anziehung kennzeichnet die Beziehung des Milchwagenfahrers, der ein schnelles Schäferstündchen mit einer Bäckereiverkäuferin genießt. Die traditionelle bürgerliche Ehe wird in der Hochzeit in Montepulciano vorgestellt. Die Verlagerung der Ge9 schichte in eine paradiesische Landschaft hat Tykwer den Vorwurf eingebracht, er bediene sich einer klischeehaften Werbeästhetik. Tatsächlich hat die Landschaft diese unwirkliche Schönheit, die man auch aus Werbefilmen kennt, aber es geht Tykwer gerade nicht darum, diese Schönheit als Attraktion zu verkaufen. Vielmehr bezieht der Film ein Spannungsmoment aus dem harten Kontrast zwischen der klischeehaft paradiesischen Landschaft und den beiden Todgeweihten, für die all das Schöne, all die Fülle des Lebens nicht mehr erreichbar ist. Bei der Hochzeit sitzen die beiden – kahl geschoren und ernst dreinblickend – auf Distanz: „Da wirkt es einen Augenblick lang, als seien Philippa und Filippo, die zuschauen, unsichtbar wie die Engel in DER HIMMEL ÜBER BERLIN von Wenders/Handke und würden den Gedanken der Sterblichen lauschen. Philippa ist zum gefallenen Racheengel und Filippo zum Schutzengel geworden“ (R. Fischer, S. 35). Sie erreichen auf eine andere Weise gewissermaßen das Paradies. Als sie in Montepulciano ankommen, wo Philippa früher zu Hause war, aber nun kein Heim mehr hat, führt sie der Weg zuerst in die Kirche. Danach halten sie sich zunächst immer im Umkreis der Kirche auf. In der Kirche selbst beginnt der Prozess der Läuterung mit einer Beichte. Der Beichtstuhl ist im Hintergrund zu sehen. Die Rolle des Beichtvaters übernimmt Filippo. Philippa gesteht ihm ihre Schuld und bekennt, dass sie den Glauben verloren habe, an einen Sinn, an Gerechtigkeit, an das Leben. Filippo antwort mit einem Liebesbekenntnis. Äußerlich wird die Reinigung von Schuld dadurch gekennzeichnet, dass sich beide die Haare scheren lassen. So wirken sie wie „buddhistische Mönche“ (R. Fischer) oder wie Todeskandidaten vor der Hinrichtung. Nach der Beichte folgt eine Art Trauung, bei der die beiden endgültig miteinander verbunden werden. Filippos Vater kommt auf Wunsch seines Sohnes nach Montepulciano, um ihnen Hilfe anzubieten. Auch er, der ehemalige Polizeichef, wäre bereit, Gesetze zu brechen und ihnen zur Flucht zu verhelfen. Im Schatten der Kirche findet die Begegnung statt. Der Vater fragt seinen Sohn, ob er Philippa liebt, dann fragt er Philippa. Sie zögert mit ihrer Antwort unendlich lange. Sie schüttelt schon den Kopf, um dann doch ein klares Ja zu sagen. Dieses Bekenntnis vor dem Vater besiegelt die Beziehung. Der Vater akzeptiert das Unabwendbare, aber fragt mit einem Unterton der Trauer und Resignation: „Warum können wir im entscheidenden Moment nie etwas tun?“ Damit formuliert er ein zentrales Thema des Films. Indem er seine Hilflosigkeit artikuliert, unterstreicht er das Schicksalhafte des Weges der beiden, der von einer höheren Macht gelenkt zu sein scheint. Die letzte Station der Flucht ist der Bauernhof von Philippas Freundin Regina. Dort haben die beiden Liebenden ein gemeinsames Essen. In der Dämmerung laufen sie hinaus auf einen Berg. Unter einem Baum treten sie nackt einander gegenüber. „Ihre Schemen verschmelzen“, notiert Tykwer im Drehbuch (S. 73). Im Morgengrauen sind die Verfolger da. Philippa und Filippo nähern sich dem Hof, springen in einem unbewachten Augenblick in den Hubschrauber und steigen senkrecht hoch zum Himmel, die Flucht findet somit „ihren Kulminationspunkt buchstäblich in einer ,Himmelfahrt‘ …“ (Wach, S. 424). Das Ende führt zurück an den Anfang. Der Hubschrauberflug im Simulator wird nun als realer 10 Flug wiederholt. Die Vorherbestimmung des Weges wird damit nochmals unterstrichen. Gleichzeitig wird das Wunderbare des Endes deutlich: der Hubschrauber steigt immer höher, aber es erfolgt nicht der in der Simulation vorhergesagte Absturz, die Rettung wird ein Zeichen des Himmels: „Das Schlussbild eines spirituellen Märchens, das das Ende heiter nimmt. So schwerelos wie das Wunder von Mailand [gemeint ist der gleichnamigen Film von Vittorio de Sica aus dem Jahre 1950] vollzieht sich auch das Wunder von Turin beziehungsweise Montepulciano“ (P. Kremski, S. 36). Im Rahmen einer theologischen Interpretation stellt sich die Frage, inwieweit Philippas Weg auch als Passionsgeschichte zu sehen ist. Man kann einige Parallelen Philippas zur Passion Jesu wie auch deutliche Abweichungen erkennen: Philippa lebt ca. 30 Jahre als normale Englischlehrerin, bevor sie „öffentlich auftritt“. Dieses öffentliche Auftreten besteht nicht in der Verbreitung einer Lehre, sondern in dem Attentat. Dieses wiederum ist jedoch nicht einfach eine persönliche Racheaktion, sondern durchaus eine „Mission“, die der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen und damit andere vor Unheil bewahren soll. Philippa wird „verhaftet“, „verhört“, kann aber fliehen. Darin zeigt sich eine deutliche Abweichung zur Passion Jesu. Statt dass einer der besten Freunde Jesus verrät, verhilft ein Unbekannter Philippa zur Flucht. Diese ist jedoch nie als eine Lösung des Konflikts dargestellt. Es ist Philippa und auch Filippo immer klar, dass sie für ihre Tat büßen muss. Die beiden Flüchtenden feiern das „Abendmahl“. Der Garten Getsemani wird für die beiden zum Garten Eden, in dem sie sich spirituell vereinigen. Dann machen sie sich auf die letzte Reise, die gleichzeitig eine Erhöhung („Himmelfahrt“) wird. Ein entscheidender Unterschied zwischen Philippa und anderen weiblichen Passionsfiguren – Johanna von Orleans, Beth in „Breaking the Waves“, Selma in „Dancer in the Dark“ – besteht darin, dass Philippa nicht in dem Glauben handelt, das Gute zu tun, sondern von Anfang an weiß, dass das Attentat aus ethischen Gründen nicht zu verantworten ist und sie eine große Schuld auf sich lädt. Die Jesus-Parallelen sind insgesamt nur sehr schwach, so dass sie für eine stringente Interpretation in diesem Sinne nicht genug hergeben, dennoch kann der Einstieg über dieses Interpretationsmodell dazu beitragen, das Profil der Figur Philippa stärker herauszuarbeiten. Tykwer, der von sich sagt, er sei kein praktizierender Christ, sondern eher ein „spiritueller Atheist“ (Int. in: Töteberg, S. 105), bekennt sich zu seinem Interesse an theologischen Fragen und zu der explizit theologischen Dimension des Projektes. Die Tatsache, dass nur eine Interpretation, die konsequent die spirituelle Entwicklung nachzeichnet, einen plausiblen Gesamtzusammenhang herstellen kann, zeigt, dass die theologische Dimension ein unverzichtbarer Bestandteil des Werkes ist. Ansätze zum Gespräch Schon die Reaktionen auf den Film nach der Premiere bei der Berlinale 2002 ließen erkennen, dass der Film für manche Rezipienten Probleme aufwirft (vgl. z. B. Spezielle Links: Kritik von Michaela Simon). In Reaktionen von Zuschauern wie von 11 Kritikern war mitunter zu hören, der Film zerfalle in zwei Teile, in einen thrillermäßigen Auftakt und eine zweite Fluchtgeschichte, die aber im sonnigen Ambiente der Toskana einen völlig anderen Charakter erhalte und die ursprüngliche Anlage des Films aus den Augen verliere. Durch eine eingehende Analyse des Films ist klar herauszuarbeiten, dass der Film eine ganz konsequente Spur verfolgt, dennoch sollte man auf derartige Reaktionen gefasst sein. Man kann die möglicherweise widersprüchlichen Zuschauerreaktionen gezielt als Ausgangspunkt einer intensiveren Beschäftigung mit dem Film wählen oder aber durch eine entsprechende Einführung die Aufmerksamkeit der Zuschauer so auf die relevanten Sinndimensionen lenken, dass eine mögliche Irritation gar nicht erst entsteht. Nach einer Phase der Sammlung spontaner Eindrücke können einzelne Fragenkomplexe bearbeitet werden. Folgende Fragenkomplexe bieten eine Orientierung: Filmästhetische Aspekte Wie entwickelt der Regisseur seine Geschichte? Wie sind die beiden Hälften des Films miteinander verbunden? Wie setzt der Film Bewegung ein (aufwärts – abwärts, gleichsinnig – gegenläufig usw.)? Wie erzeugt der Regisseur Spannung? Wie unterstreicht die Kameraführung die thematischen Akzente? Wie gestaltet der Regisseur Räume? Wie gestaltet der Film Zeit? Welche Funktion hat die Lichtgestaltung? Wie werden dramaturgische Akzente durch Musik gesetzt? Welche Symbole benutzt der Film? Figuren Welche Motive hat Philippa für das Attentat? Wie geht sie mit der Schuld um, die sie auf sich geladen hat? Wie verhält sie sich in der Verhörsituation? Welche Motive hat Filippo? Wie entsteht die Beziehung der beiden? Wie entwickelt sich die Annäherung der beiden? Wie wird die Hinrichtung des Drogenbosses dargestellt? Wie setzt der Film moralische Bewertungen ein? Welche Stationen nimmt die Flucht der beiden? Wie ändert sich ihre Beziehung? Welche Rolle spielt Filippos Vater? Welche Rolle spielt Filippos Bruder? Religiöse Deutungen Welche (unterschiedlichen) Assoziationen weckt der Titel des Films („Heaven“) bzw. der Titel der Vorlage („Paradies“)? Wie kann man Tykwers Selbstbezeichnung („spiritueller Atheist“) verstehen? An wen erinnert die Aussage? (an Bunuel, der sich als „Atheist von Gottes Gnaden“ sah) 12 Welche expliziten religiösen Bezüge gibt es (Kommunion, Kirche, Beichte, Trauung usw.)? Wie wird die spirituelle Dimension deutlich? Wie wird der Verlust des Glaubens bei Philippa gedeutet? Welche symbolische Bedeutung hat Filippo? Wie akzentuiert der Film die Frage nach Schuld? Worin liegt die Erlösung für die Figuren? Kann man Philippas Weg als Passionsgeschichte sehen (vgl. Johanna von Orleans, Beth in „Breaking the Waves“, Selma in „Dancer in the Dark“)? Weiterführende Literatur Vorlage und Drehbuch – Krzysztof Kieslowski/Krzysztof Piesiewicz: Paradies. Eine Filmnovelle, in: Margarete Wach: Krzysztof Kieslowski. Kino der moralischen Unruhe. Köln 2000; S. 431–469 (Drehbuchvorlage). – Michael Töteberg (Hrsg.): Heaven. Ein Film von Tom Tykwer. Nach einem Drehbuch von Krzysztof Kieslowski und Krzysztof Piesiewicz, München 2002. Zu Tykwer – Sandra Schuppach: Tyktown. Im Kino des Tom Tykwer, in: Marcus Stiglegger (Hrsg.): Splitter im Gewebe. Filmemacher zwischen Autorenfilm und Mainstreamkino. Mainz 2000, S. 302–313. – Stefan Schäffler: Neun Interviews mit Wolfgang Becker, Jörg Buttgereit, Matthias Glasner, Philip Gröning, Ralf Huettner, Romuald Karmakar, Oskar Roehler, Hans-Christian Schmid, Tom Tykwer. Belleville: München 2002. – Michael Ballhaus / Mitarbeit: Tom Tykwer: Das fliegende Auge. Gespräch von Tykwer mit Ballhaus. Berlin: Berlin-Verlag 2002 (erscheint im Herbst 2002). Zu Kieslowski – Margarete Wach: Krzysztof Kieslowski. Kino der moralischen Unruhe. Köln 2000 (mit umfangreicher Bibliographie). Interviews und Kritiken – Michael Althen, Willkommen im Wunderland, in: FAZ, 07.02.2002. – Thomas Binotto: Ins Licht. Ein Werkstattgespräch mit Tom Tykwer, in: filmdienst, 5/2002, S. 6–13. – Robert Fischer: Kieslowski, Hitchcock, Tykwer, in: epd film 3/2002, S. 32–35. – Ariane Heimbach: Tom Tykwer glaubt an die Liebe als Erlösung . . .“, in: chrismon, 02/2002, S. 23 – Daniel Kothenschulte: Von der Hölle durch die Welt zum Himmel, in: FR, 07.02.2002. 13 – Peter Kremski, Sprung in die Wolken. HEAVEN von Tom Tykwer, in: filmbulletin 2/02, S. 31–36. – Simone Marenholz, Gute Terroristen kommen in den Himmel, in: DIE WELT, 21.02.2002. – Anke Sternborg, Die Reise ins Licht, in: SZ, 21.02.2002. – Andreas Trabusch, Ein Lift wird kommen, in: DIE WELT, 24.02.2002. – Margarete Wach, Kritik, in: film-dienst 4/2002, fd 35285. – Merten Worthmann, „Du triffst jemanden und weißt, der ist es“ (Interview mit Tykwer), in: DIE ZEIT, 07.02.2002. Links Allgemeine: – www.angelaufen.de/21.02.02.html – www.filmz.de/film_2002/heaven/links.htm – www.us.imdb.com (Suchwort: Heaven) Spezielle: – www.heaven-derfilm.de/index.html – Michaela Simon: Es reckt die Nudelwerbung ihr hässliches Haupt. Tom Tykwers „Heaven“ kollabiert in seiner behaupteten Emotionalität (08.02.2002), in: www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/kino/11789/1.html – Kai Müller: Das Glück der Katastrophe (05.02.2002), in: www2.tagesspiegel.de/archiv/2002/02/04/ak-ku-be-558488.html. – Dunja Bialas: Himmlische Liebe, bodenlos, in: www.artechock.de/film/text/kritik/h/heaven.htm – Ekkehard Knörer: Tom Tykwer. Heaven, in: www.jump-cut.de/filmkritik-heaven.html Peter Hasenberg DVD-Extras Bildformat: Widescreen 1.78:1 anamorph Tonformat: Dolby Digital 5.1. in Deutsch, Englisch OmU Untertitel: Deutsch für Hörgeschädigte Extras: ! Interaktive Menüs ! Kapitelanwahl ! Kinotrailer ! Audiokommentar Tykwer ! Nicht verwendete Szenen optional: mit/ohne Kommentar von Tykwer ! Interviews mit: Tykwer, Minghella, Blanchett, Horberg, Ribisi, Köpf, Pollack. 14 ! ! ! ! ! Der Himmel über der Toskana (Spacecamflight) Hinter den Kulissen (B-Roll Toskana) Making of „Heaven“ Bildergalerie „Heaven“ im Internet 15 Unterrichtsvorschläge zu „Heaven“ Fach: Religion/Ethik, einsetzbar in den Klassen 11–13, eventuell auch in 9+10 Unterrichtsverlauf: Grobstruktur 1. Falldiskussion Drogenproblematik: Welche Strafe hat ein Drogendealer verdient? Wie würdest du dich verhalten, wenn . . .? 2. Film (3 Möglichkeiten)-Einsatz 3. Diskurs um die Schuldfrage/Liebe/Vergebung 4. Ethischer Diskurs Der Film HEAVEN nimmt die Themen Schuld, Schuldeingeständnis und Gewissensbildung auf und verdichtet sie in einer dramatischen Handlung, die moralisch in ein Dilemma führt und nicht mehr eindeutig zu beantworten ist. Didaktisch ist bloßes Moralisieren und Urteilen strikt zu vermeiden. Die Schüler(innen) sollen indes befähigt werden, hinter der komplexen Filmhandlung ernste moralische Fragen zu entdecken und sich diesen zu stellen. Zudem sollen sie die komplexe Entscheidungssituation von Philippa und Filippo wahrnehmen lernen und selbst herausfinden, ob die vorgeschlagene Lösung des Films sich mit ethischen Grundpositionen vereinbaren lässt. Dabei spielen die Fragen der Gewissensbildung aus verschiedenen Blickwinkeln (theologisch, psychologisch, entwicklungsmäßig, juristisch usw.) eine wesentliche Rolle. Die Schüler(innen) sollen erkennen, dass Gewissensbildung und Schuldanerkenntnis lebenslange Prozesse darstellen, die in die Zukunft hin offen angelegt sind. Die angelegten Maßstäbe sollen kritisch beleuchtet werden, was sich u. E. am besten mit der Frage nach den handlungsleitenden Motiven von Philippa darstellen lässt. Die Schüler(innen) sollen während des Unterrichts schrittweise befähigt werden, bestimmte Handlungsoptionen im Film kritisch zu bedenken und mit eigenen Gewissensentscheidungen in Verbindung zu bringen. Dazu eignet sich HEAVEN besonders gut, weil die im Film getroffenen Entscheidungen einen ähnlich komplexen Charakter wie Alltagsentscheidungen haben und zudem die Protagonisten des Films Schüler(inne)n Identifikationsangebote machen. Jugendliche Umbruchsituationen machen aus entwicklungspsychologischer Sicht die Identitäts- und Gewissensfrage zum zentralen Thema einer bestimmten Lebensphase. Geformtes Gewissen kann zur Instanz personaler Freiheit und Verantwortung werden. Dies kann am Beispiel des Filmes deutlich gemacht werden. Auf einer anderen Ebene ist es mit Hilfe des Filmes und seiner Symbole möglich, bestimmte biblische Großsymbole wie die Paradies- (Gen 2+3), die Kainund-Abel- (Gen 4), die Turmbaugeschichte (Gen 11), neutestamentliche Erlösungsmotive oder die Gewissensfrage bei Paulus (Röm 2+3; 1 Kor 10) ins Spiel zu bringen. An der Gewissensfrage lassen sich dann gesamtchristliche Lehren der Rechtfertigungsbotschaft (der Mensch kann sich nicht selbst von Sünde und Schuld erlösen) und die Prägekraft des christlichen Glaubens für ein offenes Gewissen des Menschen aufzeigen. 16 Die nachfolgenden Unterrichtsvorschläge sollen der Orientierung dienen. Um der Komplexität des Films und der darin enthaltenen Themen gerecht zu werden, ist eine intensive, d.h. längere Auseinandersetzung sinnvoll. Man kann die Vorschläge jedoch flexibel handhaben, bei Bedarf auch kürzere Modelle (4 bzw. 6 St.) anwenden, indem man sich auf einzelne Bausteine bzw. Materialien aus den drei Vorschlägen konzentriert. Überblick über die drei Unterrichtsvorschläge: A 10–12 Stunden B 8–10 Stunden C 8 Stunden Inhalt Zeit Mat. Inhalt Zeit Mat. Inhalt Zeit. Mat. 1. Rollenspiel Drogendealer 1 St. M1 1. Rollenspiel Drogendealer 1 St. M1 1. Rollenspiel: Nutzlose Menschen? 1 St. M1 2. Film, 1. Teil (bis 11. Min.) M2 2. Sichtung des ganzen Films 2. Schuld & Sühne 3 St. (2.+3.) 1 St. M6 1 St. M 3+4 3. Rollenspiel / Filmgeschichte 1 St. 4. Film, 2. Teil (bis 17. Min.) 1 St. M5 M6 4. Diskurs über Dekalog 1 St. 4. Schuld & Sühne / Filmgeschichte 1 St. M4 M5 5. Dostojewskijs Lösungsmodell 1 St. 5. Kain & Abel 1 St. M3 M4 M5 5. Diskurs über moralische Entwicklung M 11 M 13 6. Film, 3. Teil 2 St. 6. Gewissensbildung M7 6. Normen 1 St. (5.+6.) M 12 7. Heaven / Schuld & Sühne 1 St. 7. Diskurs über Gewissen 1 St.(6.+7.) 7. Rollenspiel / M 8–10 Filmgeschichte 8. Kain & Abel Gewissensbildung 2 St. M7 M8 M9 M 10 8. Stufen moralischer Entwicklung 1 St. M 11 3. Motive Philippas 9. Bibel / Filmgeschichte Provokation 10. Ergebnissicherung 3. Sichtung des ganzen Films 8. Ergebnissicherung 3 St. 1 St. (7.+8.) 1 St. 1 St. M 11 M 12 M 13 17 Überblick über die Materialien M 1: Fall M 2: Sequenzprotokoll „Heaven“ M 3: Ist Rache legitim? (Mind Map 1) Drei Motive: Rache; Liebe: Lehrerin zu Schüler(inne)n; Verzweiflung M 4: Schuld - welche Schuld? (Mind Map 2) M 5: Schuld M 6: Das fünfte Gebot bei Dostojewskij M 7: Gewissen I M 8: Gewissen II M 9: Gewissen III: Der Streit um das richtige Verständnis des Gewissens M 10: Das Gewissen IV M 11: Ethisches Stufenmodell M 12: Information zum Stichwort Normen M 13: Schritte der ethischen Urteilsfindung Unterrichtsvorschlag A Inhalt Unterrichtsstunden 1. Rollenspiel Drogendealer 1 St. 2. Film zeigen bis zur Verhörszene (ca. Min. 11, s. Sequenzprotokoll) 3. Unterricht über die möglichen Motive Philippas Motive Schuldfrage (3. Motiv Verzweiflung) 1 St. (2.+3.) Mat. M 1 M2 M3 M4 4. Film bis zu dem Punkt zeigen, an dem der Lösungsansatz der Lehrerin im Polizeiverhör deutlich wird: Schuldverstrickung (ca. 17. Min., s. Sequenzprotokoll) Leitfrage: Mit was außer den Folgen einer Tat muss ich im Leben noch umgehen lernen, bzw. was lernt Philippa im Lauf der Filmhandlung? Entwicklung der Schuldfrage, dazu Mind Map 1+2 als Lehrhintergrund und M 4-6 (Schuld) und M 7-11 (Gewissen) als Lehrerinformation. M5 Vergleich Dostojewski/Film/Bibeltexte M6 Schüler(innen) erzählen die Geschichte weiter Ergebnissicherung 1 St. 5. Dostojewskis Lösungsmodell wird diskutiert 1 St. 6. Film wird weiter angeschaut 2 St. Fortsetzung des Filmes: Beobachtungsaufgaben zu Schuldwahrnehmung und Schulderkenntnis bei Filippo und Philippa: Auf Schuld wird Schuld gehäuft Schuld – Gewissen – Vergebung 7. Herausarbeiten der Gemeinsamkeiten zwischen HEAVEN und Dostojewskis „Schuld und Sühne“ 1 St. 18 Weitere Beispielgeschichten von Schuld: Tristan und Isolde Bibel Nibelungen Griechische Sage Moderne und aktuelle Geschichten 8. Diskurs über Gewissensbildung / Vergleich mit der Kain-und-Abel-Geschichte Stufen der Gewissensbildung nach L. Kohlberg (Dilemma-Geschichten) 2 St. M 7 M 8 M 9 M 10 9. Schüler(innen) entdecken die Analogie zwischen Filmgeschichte und biblischer Geschichte 1 St. Frage nach der Lebenseinstellung und Lebensbestimmung von Philippa: Entgegen ihrer fatalistischen Einstellung und Erwartung wird Philippa aber durch Filippo geholfen. Mit ihrer Voreinstellung wird sie als Realistin und nicht als Träumerin dargestellt. Die Grundfrage ist zu diskutieren: Führt Erkenntnis der Schuld automatisch zur Annahme von Schuld und kann man danach mit der Schuld weiterleben? Philippa rechnet mit der Konsequenz für ihre Tat, d. h. mit einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe, im extremen Fall müsste sie sogar mit der Todesstrafe rechnen. Im übertragenen Sinn wird sie aber von Strafe verschont: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Provokation: „Sogar bei einem Kapitalverbrechen gibt es Vergebung.“ Polizist Filippo hat Philippa gegenüber ein aus Liebe entspringendes Erlösungsmotiv, wird aber selbst erlöst (unter dem Lebensbaum: Assoziation an Adam und Eva im Paradies). Unter dem Lebensbaum verschmelzen beide (sie ist schuldig und zieht ihn in die Schuld hinein; Gen 2+3). Vater: In den entscheidenden Augenblicken des Lebens können wir nichts mehr tun (Schulderfahrung kann der Mensch nur dann machen, wenn er das Paradies verlassen hat und damit auch die Erfahrung der Freiheit). Bibel: Adam, wo bist du gewesen? Film: Gespräch (auf der Flucht) mit dem Vater (ca. Min. 76–80, Sequenz 15). Die Schüler(innen) bearbeiten Filmszene und Paradiesgeschichte (Gen 2+3) mit der Frage: Was ist Schuld, wer wird wie, warum und woran schuldig? Vergleich mit der Filmszene. 10. Ergebnissicherung Ergebnis: Analoge Geschichten ! ! ! 1 St. Selbstständigkeit und Freiheit sind ohne Schuld nicht zu haben. Eva/Philippa wird zuerst schuldig. Adam/Filippo bleiben aber je ihrem menschlichen Gegenüber treu und werden in die Schuld und damit Schuldverstrickung, aber auch in die Folgen der Freiheit mit hineingezogen. 19 ! ! ! ! ! Der Mensch muss Vater und Mutter verlassen, um Mensch sein zu können und damit endlich zu werden. Eva/Philippa: Schulderkenntnis Kein Mensch kann sich aus eigener Kraft aus der Schuldverstrickung befreien und bedarf der Hilfe von außen: Filmschluss Himmel (ca. Min. 88, Sequenz 17). Symbole für Flucht/Freiheit/Schuld im Film rekonstruieren lassen (Häuserfluchten, verdeckter Himmel, Bäume, Farben). Symbole für Freiheit/Schuldannahme/Vergebung: Himmel, Farben usw. „Sogar bei Kapitalverbrechen gibt es Vergebung“ (Provokation durch These); Philippa und Filippo werden am Schluss des Filmes nicht durch Menschen zur Rechenschaft gezogen, wie wir und auch Philippa/Filippo erwarten, sondern sie bleiben frei, aber unstet wie Kain – sie machen die Erfahrung von Vergebung auf unerwartete Weise: Im sonst so realistischen Film kommen die Elemente unerwarteter Verschonung vor: der Hubschrauber wird nicht getroffen, obwohl Dutzende von Polizisten auf ihn schießen; Philippa und Filippo können nicht in der Scheune überrascht werden, weil sie sich „zufällig“ vorher unter dem Baum lieben. Ergebnissicherung: auf Schreibtapete oder Mind Map und Vergleich mit den Stufen moralischer Entwicklung und der ethischen Urteilsfindung M 11 M 12 M 13 Summe: ca. 10–12 Unterrichtsstunden Unterrichtsvorschlag B 1. Rollenspiel: Drogendealer 1 St. M1 2. Film wird ganz gesehen 3 St. 3. Verzahnung Rollenspiel und Filmgeschichte: Pro und Contra Diskussion für das Handeln Philippas. Die Pro-Position wird Philippas Motive und Handeln bestätigen und die Contra-Position wird z. B. den Dekalog (Ex 20; Dtn 5) Satz Du sollst nicht töten einbringen. Die Contra-Position könnte die gängige Schülermeinung (Pro-Position) in Frage stellen. 1 St. 4. Diskurs über Dekalog 1 St. 5. Am Beispiel von Schuld und Sühne und der Kain-und-Abel-Geschichte werden Alternativen aufgezeigt. 1 St. M 3 M 4 M 5 6. Wie kommt es zur Gewissensbildung? Kriterien für das anfängliche Rollenspiel und Kriterien für die Alternativen entwickeln. M 7 20 7. Diskurs der Gewissensmodelle 1 St. (6.+7.) 8. Stufen moralischer Entwicklung 1 St. M 8 M 9 M 10 M 11 ca. 8–10 Stunden Unterrichtsvorschlag C 1. Rollenspiel: Gibt es nutzlose Menschen? 1 St. M1 2. Dostojewskis “Schuld und Sühne” und Bewertung / Weiterentwicklung der Geschichte 1 St. M6 3. Film wird ganz gesehen 3 St. 4. Vergleich zwischen “Schuld und Sühne” und Filmgeschichte M4 1 St. M5 5. Diskurs über zugrundeliegende Kriterien / Urteilsfindung / moralische Entwicklung M 11 M 13 6. Auseinandersetzung mit Normen und Normenentwicklung M 12 1 St. (5.+6.) 7. Vergleich zwischen Rollenspiel und Filmgeschichte: Auseinandersetzung mit der Frage, was eine christliche Norm darstellt. 8. Ergebnissicherung 1 St. (7.+8.) ca. 8 Stunden M 1 Fall Peter X wird in der Discothek „Crash“ von einem Drogendealer angesprochen. Der Dealer ist rücksichtslos und nimmt wegen seines erhofften Profits den Tod Abhängiger in Kauf. Zudem ist er nicht nur in dieser Discothek, sondern in der ganzen Stadt bekannt und Gerüchte gehen umher, dass schon einige Jugendliche wegen „schlechten“ Stoffes aus seiner Hand ums Leben gekommen sind. Peter bekommt vom Dealer ein bisschen Crack zum Probieren und Peter probiert den Inhalt des Tütchens. Problemdiskurs in Rollen mit Rollenkärtchen: Ihr erfahrt von der Begebenheit. Was würdet ihr tun? Als ! ! Vater Mutter 21 ! ! ! ! ! ! Bruder Schwester Freundin Lehrer Lehrerin Polizist (wegen der späteren Filmrezeption müssen folgende Rollen auf jeden Fall besetzt werden: Vater, Lehrerin, Polizist) M 2 Filmprotokoll HEAVEN Erstellt von: Sven Howoldt / Wilhelm Schwendemann (Bitte beachten: Je nach Abspielgerät kann es zu geringfügigen zeitlichen Verschiebungen kommen) Zeitliste Inhalt 0.00.0 0.00.42 0.02.48 0.04.12 0.04.13 0.06.07 0.06.33 0.06.44 0.07.26 0.07.38 0.07.47 0.07.57 0.08.24 0.08.29 0.08.42 0.08.59 22 Vorspann Hubschrauber fliegt über grüne Landschaft und wird als Flugsimulator erkennbar. Filippo sitzt im Flugsimulator. Philippa bastelt eine Bombe, versteckt diese und packt sie ein. Philippa verlässt ihre Wohnung. Autobusfahrt – Straßenfluchten – Philippa steigt aus dem Bus aus und geht eine Straße entlang; betritt ein Hochhaus und geht hinein. Treppenhaus und Toiletten werden sichtbar. In einer Toilette packt sie die Bombe aus und stellt am Zeitzünder die Zeit bis zur Explosion ein. Vater mit zwei Kindern steht vor dem Hochhaus. Philippa betritt Vorzimmer eines Büros (das von Signor Vendice). Vendice (Drogendealer) ist im Gespräch mit Sekretärin; Philippa legt die Bombe in einen Papierkorb. Fahrstuhl kommt ins Bild; eines der beiden Kinder zählt die Stockwerke. Philippa verlässt Hochhaus und geht über einen großen Platz. Philippa steht in einer Telefonzelle und telefoniert (mit der Polizei). Sekretärin im Büro von Vendice führt Gespräch – Autosirene wird hörbar – Sekretärin verlässt den Raum. Eine Raumpflegekraft betritt das Büro von Vendice. Philippa am Telefon; sie spricht mit der Polizei und meldet Bombenanschlag. Die Putzfrau leert den Papierkorb, in dem die Bombe liegt, in einen größeren fahrbaren Abfallbehälter. Philippa fährt eine Rolltreppe hinunter; Hochhausansicht. 0.09.12 0.10.03 0.10.38 0.10.39 0.10.50 0.11.41 0.18.11 0.18.40 0.18.48 0.19.02 0.19.48 0.20.35 0.20.45 0.21.23 0.22.15 0.23.0 0.23.58 0.26.10 0.26.45 0.27.15 0.29.20 0.30.24 0.33.04 Kinder im Fahrstuhl; Fahrstuhl hält an und nimmt Putzfrau mit ihrem Wagen auf; Tür schließt sich; einen Moment später explodiert die Bombe; Explosion indirekt wahrnehmbar. Sondereinheit der Polizei stürmt die Wohnung der Bombenlegerin Philippa und nimmt diese gefangen. HEAVEN; Vogelperspektive auf die Stadt. Philippa ist in einer Gefängniszelle gefangen. Polizisten holen Philippa aus ihrer Zelle und führen sie vor den Untersuchungsrichter / Staatsanwalt zum Verhör. Verhandlungszimmer; Verhör – Aussage – Weinen – Zusammenbruch – Geständnis. Zusammenbruch von Philippa während des Verhörs. Flur im Gerichtsgebäude; Polizist holt einen Arzt. Arztzimmer. Ein Arzt behandelt Philippa; Verhörzimmer. Dialog zwischen Polizist und Philippa; wird von Arzt behandelt. Im Zimmer von Vendice (Drogendealer). Hof des Justiz- und Polizeigebäudes; Polizist beobachtet Philippa. Nachts im Haus des Vaters von Filippo, dem jungen Polizeibeamten; Gespräch zwischen Filippo und seinem jüngeren Bruder. Blick auf Filippo, der im Bett liegt. Filippo wäscht am nächsten Morgen Bettwäsche, weil er das Bett während der Nacht eingenässt hat; Gespräch zwischen Vater und Filippo über Bettnässen und Drogenhandel. Fortsetzung des Verhörs im Verhörzimmer; Drogenhandel als Thema; Situation der Lehrerin Philippa wird beleuchtet. Filippo bereitet Flucht vor; besorgt sich einen Gegenstand und schließt in der Toilette einen Händetrockner kurz und rührt in den Pausenkaffee eines Wachpolizisten ein Abführmittel. Bewachungspolizist trinkt Kaffee und muss zur Toilette; Verhör geht weiter; die Polizei vermutet hinter dem Bombenanschlag eine Terrororganisation. Philippa wird im Verhör klar, dass sie die Falschen getötet hat; Stromausfall. Philippa wird wieder abgeführt und in ihre Zelle gebracht; Gespräch zwischen Polizisten, die in den Drogenhandel verwickelt sind und Philippa gerne aus dem Weg räumen würden; in der Zeit des Stromausfalls hat Filippo einen Minirecorder bei Philippa in der Kleidung versteckt, den sie jetzt in ihrer Zelle abhört und das Hilfeangebot von Filippo wahrnimmt; Zelle wird abgehört, so dass auch ihre Gegner die Botschaft hören; Filippo erzählt zudem von seinem jüngeren Bruder, der Philippa als Englischlehrerin hatte und sie gern hat. Blick über die Stadt; Filippo schaut sich auf einer Bank sitzend das Polizeigebäude an und geht dann zum erneuten Verhör. Filippo präpariert 23 0.35.33 0.37.44 0.38.40 0.41.20 0.44.40 0.46.41 0.47.55 0.50.00 0.52.04 0.55.30 0.58.32 1.03.10 1.05.28 24 Verhörzimmer und findet dann die Kassette, die von Philippa besprochen worden ist, und hört die Botschaft: „Ich bin einverstanden.“ Filippo spricht Philippa den Plan aufs Band. Filippo: „Ich glaube fest, dass es weitergeht.“ Korrupter Polizist will Philippa auf der Flucht töten; Zelle von Philippa wird abgehört. Gespräch zwischen Filippo und seinem kleinen Bruder. Filippo bereitet Toilette usw. für den Fluchtversuch Philippas vor; Fortsetzung des Verhörs, in dem Philippa vom Drogentod eines Mädchens und von deren Abschiedsbrief „Werft mich weg“ berichtet. Der kleine Bruder Filippos hilft Filippo; Philippa wird es während des Verhörs verabredungsgemäß schlecht und sie wird von einem Polizeibeamten zur Toilette gebracht; der wachhabende Polizist wird durch einen Telefonanruf durch den kleinen Bruder Filippos von der Toilette weggelockt; Philippa kann fliehen. Filippo und Philippa treffen sich im Speicher des Polizeigebäudes. Im Dialog zwischen den beiden wird klar, dass Philippa für ihre Tat Strafe auf sich nehmen, aber zuvor noch den Dealer töten will. Filippo bestellt den Dealer Vendice in das Büro des korrupten Polizeimajors Fini und gibt Philippa eine Waffe. Vendice fährt in das Büro von Fini im Justiz-Polizeigebäude. Im Büro von Fini wird er von Philippa mit den Worten „Erinnerst du dich an mich? – Ja“ erschossen. Philippa und Filippo fliehen wieder auf den Speicher; Blick von oben auf Turmuhr; sie verbringen nebeneinander auf einer Decke die Nacht. Philippa steigt zur Toilette bzw. zum Waschraum herunter und versucht sich zu waschen; zwei Putzfrauen kommen in denselben Raum; Philippa muss sich schnell hinter einer Wand verstecken; die beiden Putzfrauen unterhalten sich über den Mord am Drogendealer und darüber, wie er nach der Tat ausgesehen hat. Filippo und Philippa verlassen das Polizeigebäude mit Hilfe eines Milchlieferwagens, in dem sie sich verstecken. Der Fahrer macht vor einem Geschäft eine Pause und trifft dort seine Freundin, die er im Auto liebt. Vor dem Bahnhof können Philippa und Filippo dann den Lieferwagen verlassen. Filippo und Philippa fahren mit dem Zug weiter / Tunneldurchfahrt / nach dem Tunnel wird Landschaft in hellen und lebendigen Farben sichtbar; sie sprechen sich das erste Mal mit Namen an und stellen fest, dass sie am gleichen Tag Geburtstag haben. Der Zug fährt durch farbenfrohe Landschaft. In einer kleinen Stadt angekommen, gehen sie zur Katholischen Kirche und sie „beichtet“ ihm ihr Leben. Kurz wird im Bild auch ein Beichtstuhl sichtbar. Philippa bekennt Filippo ihre Schuld. Sie spricht und er hört zu. Er fragt sie: „An was hast du aufgehört zu glauben?“ Sie: „An Sinn, an Leben, an Liebe . . .“ 1.07.15 1.08.16 1.10.52 1.15.07 1.16.12 1.18.22 1.19.05 1.20.08 1.21.15 1.22.09 1.23.22 1.24.18 1.25.04 1.27.16 Filippo sagt Philippa, dass er sie liebe und sie bejaht durch Zustimmung („Ich weiß“) und sie antwortet: „Ich will nur noch, dass es bald zu Ende ist.“ Filippo und Philippa lassen sich bei einem Friseur die Haare abschneiden und sehen dann aus wie Strafgefangene bzw. KZ-Insassen; sie sitzen vor einer Kirche, in der gerade eine Hochzeit stattgefunden hat und das Brautpaar dabei ist, samt Hochzeitgesellschaft, die Kirche in Richtung Festzelt zu verlassen. Philippa erkennt unter den Hochzeitsgästen eine Freundin. Braut wirft den Brautstrauß in die Menge und Filippo holt für sich und Philippa je ein Eis. Philippa nimmt Kontakt mit der Freundin auf und bittet diese um Hilfe; die Freundin gibt Philippa eine Ohrfeige („Was hast du nur getan?“). Philippa bittet die Freundin, bei ihr die kommende Nacht übernachten zu dürfen, was diese auch zubilligt. Filippo ruft seinen Bruder an und bittet ihn, den Vater zu benachrichtigen, der in die kleine Stadt kommen möge. Fahrt zur Kirche; Vater Filippos sucht Filippo und findet Filippo und Philippa in der Kirche. Vater gibt Filippo ein bisschen Geld für die weitere Flucht und schlägt den beiden vor, sie durch inzwischen aufgestellte Straßensperren der Polizei zu bringen. Philippa weigert sich mitzukommen. Vater fragt die beiden nach ihrer Liebe; Frage wird von beiden positiv beantwortet. Filippo weigert sich ebenfalls mitzukommen; Vater: „Warum können wir im entscheidenden Moment nichts füreinander tun?“ Vater verabschiedet sich von seinem Sohn und Philippa tief und herzlich und geht. Blick auf den Himmel. Filippo und Philippa gehen zu Fuß zu dem Landgut der Freundin; schauen durch ein Fenster in einen Raum des Hauses, in dem sich die Familie zum Essen versammelt hat; Freundin bemerkt die beiden und gibt ihnen ein Zeichen, in die Scheune zu kommen. Filippo und Philippa essen und trinken in der Scheune (Brot und Wein). Sie verlassen die Scheune und gehen in der Abenddämmerung spazieren. Sie rennen zu einem einzelnen Baum, lieben sich dort und werden im Bild zu einer Person. Am nächsten Morgen wird der Hof der Freundin von Polizei und Antiterroreinheiten umstellt; die Polizei findet die Scheune leer vor; Filippo und Philippa wachen vom Lärm der Fahrzeuge und Hubschrauber auf. Ein Hubschrauber landet und der Pilot verlässt den Hubschrauber. Filippo und Philippa verlassen ihr Versteck, rennen zu dem leerstehenden Hubschrauber und fliegen davon. 25 1.28.32 Die am Boden befindliche Polizei schießt auf den Hubschrauber, trifft ihn aber nicht. Der Hubschrauber fliegt in den klaren und blauen Himmel davon. 1.29.–1.34. HEAVEN; Abspann und Musik M 3 Ist Rache legitim? (MIND MAP 1) Grundfrage: Was ist das handlungsleitende Motiv bei Philippa? Antwort: Drei mögliche Motive 1. Motiv: Rache ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! Rache für den wegen Drogen ums Leben gebrachten Mann (Drogendealers Tod wird dabei konsequent als Blutrache in Kauf genommen) Persönlicher Verlust Archaische Vorstellung von Blutrache Blut für Blut – Leben für Leben Form der Schuld und des Schuldigwerdens: schuldig schon durch den Gedanken der Rache selbst; Anmaßung des Herrseins über Leben und Tod. Materialien: Todesrechtssätze aus Lev / Dtn / Turmbaugeschichte Gen 11 Biblischer Einspruch: Talionsformel; Rachepsalmen Filmischer Einspruch: Schuld wird durch Schuldverstrickung immer größer Philosophischer Einspruch: Immanuel Kants Kategorischer Imperativ Problem: Liebe nimmt zwar die schuldig gewordene Philippa an, bewegt sie jedoch nicht zur Umkehr! 2. Motiv: Liebe zu den Schüler(inne)n in der Rolle als Lehrerin ! ! ! ! ! 26 Schutz der Schüler(innen) vor Drogen und Missbrauch durch Eliminierung der Täter. Als Vertreterin einer staatlichen Institution nimmt Philippa die Aufgabe des Staates wahr, die Schwachen zu schützen. Rechtfertigt das Motiv des Schutzes die Beseitigung des Aggressors? (Mosegeschichte!). Form der Schuld: Schutz entsteht nur durch Beseitigung der Täter (Opfer-Täter-Perspektive); wer schuldig ist, wird bestraft, und das ist Sache des Staates, wenn der Staat versagt, muss der Einzelne selbst handeln. Einspruch: Gott ist gegen das Böse und liebt den Sünder; Gen 4; Psalmen. 3. Motiv: Verzweiflung ! Sowohl der Bombenanschlag als auch der Mord an dem Dealer sind Reaktionen auf den gewaltsamen Tod des Mannes und als Form der Trauerarbeit zu sehen, die aus tiefster Verzweiflung keinen anderen Weg als die Gewalt mehr weiß. Einspruch: Kein Zutrauen mehr in Gott, aber auch zu sich selbst. Biblische Beispielgeschichte ist die Selbstverfluchung Hiobs in Hiob 3. M 4 Schuld – welche Schuld? (MIND MAP 2) Literatur Biblische Beispielgeschichten Mythen SCHULD Film Der Film arbeitet zunächst mit Thrillerelementen. Die Actionszenen rücken das Thema Schuld noch nicht ins Bild, das hier demnach noch nicht bearbeitet werden kann. Je langsamer der Erzählrhythmus des Filmes jedoch wird, desto mehr rückt das Thema Schuld in den Vordergrund! M 5 Schuld 1. Der Begriff Schuld (= S.) bezeichnet stets ein Verhalten des Menschen gegenüber Gott. S. ist Widerspruch des Menschen zu dem Anspruch Gottes an sein Leben und Verhalten. S. ist aber immer auch Versagung dessen, was wir den Mitmenschen und Mitgeschöpfen schuldig sind, denn Gottes Anspruch betrifft uns im Hinblick auf unser Verhalten zu dem Nächsten und in der Welt. Aber S. ist das Verhalten zu Menschen und Dingen nur, insofern es dem Willen Gottes für dieses Verhalten widerspricht. 27 2. Das Wesen von S. kann, eben weil es sich um das Versagen in der Gottesbeziehung handelt, mit keinem rein psychologischen oder moralischen Begriff zureichend und umfassend ausgesagt werden. Man kann vom Wesen der S. nur reden unter der im Evangelium erschlossenen Voraussetzung, daß der Mensch von Gott dazu geschaffen ist . . . und erlöst wird, in seiner Gegenwart und aus der Kraft seines Liebeswillens zu leben. S. ist von daher zu bestimmen als der grundlegende Ungehorsam, der tiefer ist als ein Übertreten einzelner Gebote, nämlich ein Herausgehen aus dem, daß wir Gott gehören und zugehören und ihn mit uns haben wollen. Das Wesen der S. ist dann sowohl als Glaubenslosigkeit wie als Lieblosigkeit zu bezeichnen: Glaubenslosigkeit, weil die Lösung aus der bestimmenden Gegenwart Gottes Versagung der vertrauenden Selbstpreisgabe an ihn ist, indem der Mensch meint, seine Lebenserfüllung selbst besorgen zu müssen; Lieblosigkeit, weil er eben damit das Kraftfeld der Liebe Gottes verlässt, diese Liebe selbst nicht mehr empfängt und damit auch unfähig wird, zu lieben und Liebe . . . weiterzugeben. Indem die S. als Tat angesprochen wird und einzelne, bestimmte Taten als S. bezeichnet werden, kommt zum Ausdruck, daß die Lösung des Menschen von Gott und sein Wille, sich selbst zu leben, kein ruhender Zustand ist, sondern ein beständiger Vorgang, der sich in Akten verleiblicht; eine Bewegung, in der konkrete Schritte getan werden und die sich selbst eben in diesen Schritten »tut«. Im Blick auf die verschiedene Gestalt und Beziehung dieser Tatseite der S. kann nun wirklich von verschiedenen Arten von S. gesprochen werden. Schlecht ist die Unterscheidung von S. gegen Gott, gegen sich selbst und gegen den Nächsten, da diese Beziehungen in aller S. mit- und ineinander gegenwärtig sind. Zutreffender ist die Unterscheidung von S. der Gedanken, des Wortes und der (äußeren) Tat, da mit ihr wirklich etwas Wesentliches getroffen wird, nämlich ein Fortschreiten in der zerstörenden Wirkung der S. auf die geschaffene Lebenswirklichkeit. Schon in diesen inneren Schritten vollzieht sich derselbe Widerspruch gegen Gottes Willen, der in lebenszerstörenden Taten nach außen tritt. Die Frage der Schuldhaftigkeit der S. führt in große gedankliche Schwierigkeiten. »Schuld« im ethischen Sinne lässt sich zunächst definieren als ein Verhalten, durch das der Mensch sich dem versagt, was rechtmäßig von ihm zu fordern ist, und ihm als aus bösem Willen hervorgehend zugerechnet wird und ihn unter moralische, u. U. strafrechtliche Verurteilung stellt. Dieser Schuldbegriff setzt voraus, daß der Schuldige in seinem Verhalten innerlich beteiligt war, daß es aus seinem Willen und nicht aus einem äußeren Zwang hervorging. Die Vergebung, die Jesus verkündigt und bringt (Sündenvergebung), vergleichgültigt nicht den Schuldcharakter der S., sondern setzt ihn voraus. Die Erlösung . . . des Menschen von der Macht der S. wird daher im NT nicht primär als Lösung von einem Verhängnis oder Heilung von einer quasi-krankhaften moralischen Impotenz, sondern als Versöhnung und Rechtfertigung, d. h. Lossprechung von dem Verwerfungsurteil, verkündigt. Erst darin eingeschlossen tritt dann freilich auch das Moment der Heilung des inneren Lebens von seiner Gebundenheit hervor. Dem Denken bereitet der Schuldcharakter der S. Schwierigkeit vor allem im Blick auf ihre Wesensseite. Es leuchtet ein, daß nach außen wirkende Akte, die wir auch 28 unterlassen, ja selbst das reflektierende Bilden und Festhalten von Gedanken, die wir auch verwerfen und unterdrücken konnten, schuldhaft sind. Aber kann Gott rechtmäßig fordern, daß wir anders sein sollen, als wir sind? Kann er uns über dem zur Verantwortung ziehen, daß wir die S.iger sind, die S. tun und den Grund dieses Tuns in sich haben, auch wenn sie es in der oder jener Gestalt unterdrücken? – Man kann und muß auf solche Fragen natürlich mit Recht antworten, daß sie in sich unmöglich sind, weil der Mensch grundsätzlich nicht in der Lage ist, Gott darüber zur Rechenschaft zu ziehen, was er rechtmäßig fordern und wofür er verantwortlich machen darf. Aber diese Antwort darf nicht den Anschein erwecken, als sei der Schuldcharakter der S. ein Dogma, das als unverstandener und unverstehbarer Lehrsatz hinzunehmen sei. Dadurch würde der innere Zusammenhang von Sündenbekenntnis und Buße unmöglich. Denn Buße ist in der Tat ein Verstehen der Schuldhaftigkeit der S. im Urteil des eigenen Gewissens, und zwar gerade auch ein Verstehen der Schuldhaftigkeit dessen, daß wir im Innersten so sind, wie wir sind, jenseits alles dessen, was wir getan oder unterlassen haben, und ein Preisgeben dieses unseres Innersten an das Urteil und die Gnade Gottes. Ein Verstehen freilich, das viel mehr existentielles Innewerden als logisches Begreifen ist und das sich in seinem eigenen Vollzug um das logische Begreifen dessen, worum es da geht, gar nicht kümmert. Entweder ist Gott der Allmächtige, ohne den nichts bestehen und wirken kann, was geschöpfliches Sein hat. Dann muß auch die Möglichkeit und das Wirklichwerden der S. letzten Endes in Gottes Willen und Wirken gründen – die S. wird ein »fruchtbares« Durchgangsmoment in Gottes eigenem Plan. Oder: die S. ist schlechterdings das, was Gott nicht will und wirkt, zwischen ihr und dem Schöpferwillen Gottes besteht Feindschaft bis auf den Grund. Dann kann aber Gott nicht der schlechthin Allmächtige und Allwirkende sein, sondern es scheint dann eine zweite Urmacht zu geben, die in einer ursprünglichen Erzeugungskraft dem Schöpferwirken Gottes das Böse entgegensetzt . . . – sei es, daß diese zweite Macht als satanischer Gegengott verstanden, sei es, daß sie in den Willen des Menschen verlegt wird. – Es ist klar, daß der christliche Glaube keiner dieser beiden Erklärungen des Ursprungs der S. folgen kann. Er muß beide Prämissen festhalten: daß Gott der Allmächtige und allein schöpferisch Wirkende ist, und: daß Gott ganz und gar nicht das Böse und die S. will und wirkt, sondern ihr feind ist und sie überwindet. Seine Freiheit besteht ganz in der Bejahung dieser Bindung, nicht in der ideellen Möglichkeit eines Nein neben dem Ja. Damit muß freilich die Frage nach dem Möglichkeitsgrund des Bösen und der S. in der Schöpfung Gottes als schlechterdings nicht beantwortbar offen bleiben. Aber gerade dies ist die dem Bekenntnis der S. allein entsprechende gedankliche Situation. Denn haben wir die S. vor Gott als das zu bekennen, was in keiner Weise entschuldigt und gerechtfertigt werden kann, so können und dürfen wir auch gedanklich keinen Grund haben, ihr Eintreten zu erklären. [W. Joest 31547–31558, Digitale Bibliothek Band 12: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG3), Directmedia Publishing Berlin 2000, (c) J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1956–65; gekürzte Fassung] 29 M 6 Das fünfte Gebot bei Dostojewski Fjodor M. Dostojewski (1821–1881) ist in seinem weltberühmten Roman »Schuld und Sühne« der Frage nachgegangen, ob dem Menschen ein Leben ohne die alte Norm »Du sollst nicht morden!« möglich ist, ohne dass die Einheit seiner Person daran zerbricht. Auf die Idee war er durch einen in den Zeitungen berichteten Doppelmord an zwei Frauen mit einem Beil gekommen. Die Hauptfigur seiner Geschichte, Raskolnikow, ist ein Vertreter der radikalen atheistischen und rationalistischen sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts in Russland, der aus diesen Ideen die nötigen Schlussfolgerungen für sein eigenes Handeln zog, das nicht mehr Gott, sondern nur der eigenen Logik verantwortlich war. Raskolnikow ermordet eine alte Wucherin. Die Umstände nötigen ihn, deren Schwester, die unvorhergesehen beim Vollzug der Tat auftaucht, gleichfalls umzubringen. Die Logik, mit der er seine Tat vor sich selbst rechtfertigt, hatte er von einem Studenten übernommen: »Erlaube mir, ich möchte eine ernste Frage an dich richten«, begann der Student von neuem. »Ich habe jetzt natürlich Spaß gemacht, aber sieh einmal: da ist auf der einen Seite ein dummes, nutzloses, nichtswürdiges, böses, krankes altes Weib, das kein Mensch braucht und das im Gegenteil allen schadet, das selber nicht weiß, wozu es auf der Welt ist, und morgen ohnedies ganz von selbst sterben wird. Verstehst du? Verstehst du?« »Hör weiter! Und auf der anderen Seite gibt es junge, unverbrauchte Kräfte, die ohne Unterstützung nutzlos verkommen, und das zu Tausenden, überall! Da sind hundert, tausend gute Werke und Unternehmungen, die man mit dem Geld der Alten beginnen und richtig zu Ende führen könnte, mit dem Geld, das einem Kloster vermacht ist! Da sind hundert, tausend Existenzen, die vielleicht auf den richtigen Weg gebracht, Dutzende von Familien, die vor dem Elend, der Zersetzung, dem Untergang, dem Laster, der Syphilisabteilung eines Krankenhauses gerettet werden könnten – und all das mit dem Geld dieses Weibes! Bring sie um und nimm ihr ihr Geld, und dann widme dich mit dessen Hilfe dem Ziel, der ganzen Menschheit und der gemeinsamen Sache zu dienen – was meinst du: wird dieses eine winzige Verbrechen nicht durch die Tausende von guten Werken aufgewogen werden? Für ein Leben tausend Leben, gerettet vor Fäulnis und Untergang; ein Tod und dafür hundertfaches Leben – das nenne ich ein einfaches Rechenexempel! Und wie viel ist denn, alles in allem genommen, das Leben dieser schwindsüchtigen, dummen, bösen alten Frau wert? Nicht mehr als das Leben einer Laus, einer Küchenschabe, und nicht einmal das: denn das alte Weib ist schädlich. Sie frisst fremdes Leben; sie ist böse; unlängst hat sie Lisaweta im Zorn in den Finger gebissen; beinahe hätte man ihn abschneiden müssen!« Aus dem Russischen übertragen von Richard Hoffmann, Winkler, München 1999, S. 92f. 30 Aufgabe Was können Sie auf diese Logik antworten? Wie kann die oberste ethische Norm begründet werden, wenn reine Logik auch einen Mord rechtfertigen kann? Erzählen Sie die Geschichte Raskolnikows nach seinem »perfekten Mord« weiter, ehe Sie die auf den Kopf gestellte Fortsetzung des Romans gelesen haben. Nach der Tat setzt bei Raskolnikow eine innere Entwicklung ein: Er fühlt, wie der Mord ihn von der ganzen Welt, von allen Mitmenschen, einschließlich seiner Mutter und Schwester, abgesondert hat. Diese Isolierung steigert sich zu einem Gefühl der totalen inneren Leere. Die Reaktion, die jetzt von den tiefsten Schichten seines Selbst erfolgt, hat ihre eigene Wahrheit, die selbst von einer stichhaltigen Logik nicht mehr zum Schweigen gebracht werden konnte. In völligem Widerspruch zu seiner Logik stellt er sich den Ermittlungsbehörden, wobei die Gestalt des Untersuchungsrichters wohl ein Symbol für die Unbestechlichkeit des Gewissens darstellt. Raskolnikow nimmt die offizielle Strafe, Zwangsarbeit in Sibirien, an, wo er durch die selbstlose Liebe einer Frau (Sonja) zu einer gewandelten Lebenseinstellung kommt. Insgesamt bildet der Roman „Schuld und Sühne“ eine meisterhaft konstruierte Darstellung von Dostojewskis Überzeugung, dass moralische Werte und Normen aus religiösen Quellen entstehen und nicht ausschließlich von der Logik begründet oder widerlegt werden können. Aus: Rudolf Mack / Dieter Volpert: Auf der Suche nach einer menschenfreundlichen Moral, Oberstufe Religion 4, Calwer Verlag Stuttgart 1994 7, S. 44. M 7 Gewissen I Auf welcher Entwicklungsstufe steht mein Gewissen? ! ! Wer von Ihnen hat noch nie ein schlechtes Gewissen gehabt? Woran ist dies erkennbar? Die Psychologen Erik Erikson und Erich Fromm unterscheiden zwei Stufen des Gewissens: Stufe 1: Das kindliche Gehorsamsgewissen. Es wird in der Kindheit durch Gebote und Verbote der Eltern geprägt, die das Kind vor äußeren und inneren Gefahren schützen sollen. Sigmund Freud sagt, daß die elterlichen Gebote vom Kind geschluckt werden und in der Psyche als »Stimme von innen« erklingen, auch dann, wenn die Eltern nicht anwesend sind, d. h. die Gebote und Verbote der Eltern werden verinnerlicht und vom Kind als eigene übernommen. Auf dieser Stufe handelt der Mensch, um anderen zu gefallen. Das Gefühl, anderen zu mißfallen, 31 erzeugt ein Schuldgefühl. Diese Stufe der Gewissensbildung muß der Mensch weiterentwickeln zur Stufe 2: Das mündige Humangewissen. Dabei folgt der Mensch der eigenen Einsicht in die von ihm als richtig erkannten Grundsätze und Normen, die er zu seinen eigenen aus freier Einsicht macht und sich danach ausrichtet. Hier stellt sich die wichtige Frage: An welchen Werten und Normen soll sich das mündige Gewissen orientieren? Zwischenstufe: Vielleicht sollten wir noch einige Zwischenstufen des »jugendlichen Gewissens« annehmen, das gekennzeichnet ist durch eine echte Suche nach eigenen Werten und Vorbildern, durch eine gewisse Selbstkritik und Kritik am Verhalten von Erwachsenen und deren Handlungsweisen. Wie könnten wir »Gewissen« definieren? Welches Gewissen ist gemeint? ! Welcher der oben beschriebenen Stufen der Gewissensbildung würden Sie die folgenden Tagebuchnotizen zuordnen? »Derjenige, der sich gegen ein ungerechtes Gesetz – das den Menschenrechten widerspricht – vergeht, muß dies offen, mit Hingabe an die gute Sache und in der Bereitschaft, die Strafe auf sich zu nehmen, tun. Ich bin überzeugt, daß derjenige, der ein Gesetz bricht, von dem ihm sein Gewissen sagt, daß es Unrecht ist, und der gewillt ist, dafür ins Gefängnis zu gehen und das Gewissen der anderen Menschen über das Unrecht zu wecken, fürwahr den höchsten Respekt für Gesetz, Recht und Gerechtigkeit unter Beweis stellt . . .<< (Martin Luther King, Warum wir nicht warten können, Gütersloh, 1964) »Von meinen Eltern war ich so erzogen, daß ich Wünsche oder Anordnungen der Eltern, Lehrer . . . ja aller Erwachsenen unverzüglich durchzuführen bzw. zu befolgen hätte und mich durch nichts davon abhalten lassen dürfe. Was diese sagten, sei immer richtig. Diese Grundsätze sind mir in Fleisch und Blut übergegangen . . .<< (Rudolf Höß, Leiter des Konzentrationslagers in Auschwitz) »Großer Krach im Betrieb! Die Chefin ist mit meiner Leistung nicht zufrieden. Das ist ungerecht. Am besten wäre es, ich höre ganz auf! Seit ich mich für eine kranke Kollegin eingesetzt habe, kann mich die Chefin nicht mehr leiden. Ich bin einfach zu undiplomatisch. Aber Unrecht muß man doch schließlich beim Namen nennen.“ (Tagebuchnotiz einer Auszubildenden) Aus: R. Mack/D. Volpert: Auf der Suche nach einer menschenfreundlichen Moral, Oberstufe Religion 4, Calwer Verlag Stuttgart 1994 7, S. 17. 32 M 8 Gewissen II Gewissen ist wie ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! eine Verkehrsampel ein Wegweiser eine Wand, an die man mit dem Kopf stößt eine Sprinkleranlage, die sich bei starker Rauchentwicklung automatisch einschaltet ein erhobener Zeigefinger eine Fessel um die Füße eine Bremse, die eine zu schnelle Fahrt verhindert ein innerer Richter eine Zwangsjacke, in die man gesteckt wird eine Waage ein Zeichenblatt, auf dem einige Striche vorgegeben sind, aus denen man ein Gemälde fertigen soll ein Netz, durch das nur kleine Fische schlüpfen Der Mensch ist keine Maschine Eine Maschine reagiert auf Knopfdruck und genau so, wie ihre Konstrukteure es gewollt haben. Ein Computer liefert die Ergebnisse entsprechend den Informationen, mit denen die Programmierer ihn gefüttert haben. Die Tiere, etwa die Hirsche in der Brunftzeit, müssen ihren Trieben folgen, weshalb man bei ihnen nicht von Triebverbrechen sprechen kann. Nur der Mensch kann frei entscheiden und sich selbst beherrschen. Und wir sagen, er wird zum Tier, wenn er die Selbstbeherrschung verliert (Karlheinz Haehnel). Entfaltung des Gewissens Das Gewissen wird dem Menschen nur keimhaft geschenkt. Daher bedarf es der Entfaltung dieser Anlage. Dies geschieht zunächst durch andere Menschen, später ist sie jedem Menschen selbst aufgetragen. Folgende Stufen der Entfaltung des Gewissens werden unterschieden: Das primitive Gewissen (frühkindliches Gewöhnungsgewissen) Das gesunde Neugeborene kommt als ein Bündel von Antrieben zur Welt. Um geliebt und angenommen zu werden, leistet es bald erste Triebverzichte. Es fügt sich der Lebensordnung der Eltern ein. Dafür bekommt es Liebe, Geborgenheit und Sicherheit. Unbewusst erhält das Kind damit die erste Prägung durch seine Umwelt. Es erfährt: Triebverzicht lohnt sich. Ein Mensch, der auf dieser Stufe stehen bleibt, reagiert nur auf Lohn und Strafe. Sein Lebensgrundsatz heißt: »Nicht erwischen lassen.« 33 Das autoritäre Gewissen Schon in der frühen Kindheit muss die erste Stufe von der zweiten Stufe abgelöst werden, dem autoritären Gewissen. Das Kind verinnerlicht die Verhaltensmodelle der Eltern bzw. deren Ersatzpersonen. Die Forderungen der Bezugspersonen empfindet das Kind als eigene. Es bildet sich eine eigene Inneninstanz des Kindes. Sigmund Freud nennt diese Instanz das „Überich“. Das Kind ist der Spiegel der Überzeugungen und Verhaltensweisen der Eltern. Das Argument für sein Verhalten lautet jetzt: Papa hat gesagt . . . Wichtig ist diese Stufe, weil das Kind ohne Wegweiser verunsichert und ziellos wäre. Zudem werden wichtige Verhaltensmuster für ein späteres Zusammenleben eingeübt: Verzicht, Teilen, Rücksichtnahme. Wer allerdings auf dieser Stufe stehen bleibt, ist nur autoritätshörig und kann keine Verantwortung tragen. Das personale Gewissen (selbstkritisches Verantwortungsgewissen) Auch die Stufe des autoritären Gewissens muss abgelöst werden. Der erwachsen werdende Mensch muß zu einem personalen Gewissen finden. Dieser Prozeß beginnt mit der Reifezeit. Der junge Mensch will nicht mehr gehorchen, sondern er fragt: Warum? Weshalb? Das Verhalten will sacheinsichtig, sozialeinsichtig und werteinsichtig werden. Der junge Mensch will das entfalten, was in ihm angelegt ist. Er läßt sich nicht mehr durch fremde Autoritäten bestimmen. Eigene Entscheidungen werden gefällt. Damit dieses persönliche Gewissen sich nicht zum Egoismus verfälscht, muß der Mensch sich offen halten für allgemeine Grundwerte: Selbstlosigkeit, Ehrfurcht, Tapferkeit, Ehrlichkeit, kritische Selbst- und Fremdkontrolle. Je mehr der Mensch im Laufe seines Lebens dieses persönliche Gewissen entfaltet, um so mehr wird er zur Persönlichkeit. Das religiöse Gewissen Zusammen mit dem personalen Gewissen muß sich das religiöse Gewissen entfalten. Ein echtes religiöses Gewissen ist immer ein personales Gewissen. Der religiöse Mensch weiß sich aber nicht vor sich selbst verantwortlich, sondern auch vor Gott. Er weiß, dass er Gott untreu wird, wenn er sich selbst untreu wird. Hier wird das Gewissen zur Kontaktstelle zwischen Mensch und Gott. Der Mensch erfährt seine Schuld als Sünde. Das reife Gewissen eines Christen unterscheidet sich von einem »nichtchristlichen« Gewissen dadurch, daß der Christ die christlichen Normen und Wertvorstellungen in seine Gewissensentscheidung mit einbezieht. Dazu gehören: die Nachfolge Jesu, das Hauptgebot, die Zehn Gebote . . . aus: Karlheinz Haehnel: Bibel provokativ, Thema: Gott, Verlag Katholisches Bibelwerk Stuttgart. Nachgedruckt in: Grundlagen: Katholischer Religionsunterricht an Beruflichen Schulen 10/11. Jahrgangsstufe, Kösel-Verlag, München 1982, S. 82+83. 34 M 9 Gewissen III: Der Streit um das richtige Verständnis des Gewissens Der Parlamentarier soll nur seinem Gewissen folgen. – Dem Autofahrer wird das Gewissen geschärft, freiwillig unter 130 km/h zu fahren. – Die Weichmacher-Werbung sagt der Mutter: Dein Baby – Dein Gewissen schreit! – Ein Kriegsdienstverweigerer muss Gewissensgründe nennen. Ist das Gewissen eine letzte, unveränderliche Normeninstanz oder ein beeinflussbares Verhaltens- und Bewusstseinsphänomen? Sokrates (470–399): »Das Gewissen ist etwas Göttliches, eine Stimme, die dem Menschen von Jugend an innewohnt und ihn von Schlechtem abhält.« Thomas v. Aquin, kath. Kirchenlehrer (1226–1274): Das Gewissen (synteresis) kann niemals irren und stimmt immer mit dem göttlichen Naturgesetz überein; es will immer das Gute und verurteilt das Böse. Mit dieser Anlage ist jeder Mensch natürlicherweise ausgestattet. Die Vernunft verarbeite dann die Grundsätze des Gewissens zu logischen und richtigen Schlüssen; der Wille unterwerfe sich dann meistens den Schlüssen der Vernunft, manchmal aber auch nicht. Jetzt erst trete das handelnde Gewissen (conscientia) in Aktion in dreifacher Anwendung: es bezeugt, was getan oder nicht getan wurde; es entschuldigt oder klagt an; es warnt oder ermuntert. Martin Luther (1483–1546): Er unterscheidet zwischen zwei Gewissenszuständen: dem gefangenen »schlechten Gewissen« und dem befreiten »guten Gewissen«. Nur wer die ethischen Normen des Gesetzes ernst nimmt, sie als verbindlich einzuhalten sich bemüht, kennt das schlechte Gewissen und »zittert, zappelt und zagt«. Das gute Gewissen ist keine Normeninstanz bei Luther, sondern ein Zustand, ein Bewusstsein der Freiheit von Normen durch den Zuspruch des Evangeliums, das zu sachgemäßen Entscheidungen frei macht. Jeder Mensch steht in der Spannung zwischen gefangenem und befreitem Gewissen. Moderne Versuche, das Gewissen als Befreiungsverhalten von Manipulation und Fremdbestimmung zu interpretieren und zu solchem Gewissen zu erziehen, haben von Luther entscheidende Impulse erhalten. Immanuel Kant (1724–1804): Das Gewissen ist das Bewußtsein vom inneren Gerichtshof im Menschen. Karl Marx (1818–1883): Das Gewissen ist das Ergebnis der historischen Entwicklung. »Ein Republikaner hat ein anderes Gewissen als ein Royalist, ein Besitzender ein anderes Gewissen als ein Besitzloser, ein Denkender ein anderes als ein Gedankenloser.« 35 Friedrich Nietzsche (1844-1900): »Das Gewissen ist die tiefste Erkrankung des Menschen; deshalb weg mit dem Wahn von Schuld und Gewissen!« Adolf Hitler (1889–1945): »Das Gewissen ist eine jüdische Erfindung, eine Verstümmelung des menschlichen Wesens . . . Ich befreie den Menschen von . . . der schmutzigen und erniedrigenden Selbstpeinigung einer Gewissen und Moral genannten Chimäre (Ungeheuer, Anm. d. A.) . . . An die Stelle des Dogmas von dem stellvertretenden Leiden und Sterben eines göttlichen Erlösers tritt das stellvertretende Leben und Handeln des neuen Führergesetzgebers, der die Masse der Gläubigen von der Last der freien Entscheidung entbindet.« Bonner Grundgesetz, Art. 4: Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Aus: R. Mack/D. Volpert: Auf der Suche nach einer menschenfreundlichen Moral, Oberstufe Religion 4, Lehrerheft, Calwer Verlag Stuttgart 1980, S. 37+38. M 10 Gewissen IV Gewissen wird als »Bewusstsein des Pflichtgemäßen, des Sein-Sollenden bzw. von dessen Gegenteil« bestimmt. Der Ausdruck Gewissen (= G.) ist Übersetzung von syneidêsis, lat. conscientia. Das deutsche Wort geht im heutigen Sprachgebrauch wesentlich auf Luther zurück. Bis auf Luther kann G. auch ganz allgemein Bewusstsein meinen, neben und vor dem »Mit-wissen«, freilich nicht als Mitwissen mit Gott, sondern mit der Handlung oder mit sich selbst im Sinn des sich seiner selbst vergewissernden und sich selbst beurteilenden Selbstbewusstseins. Erst die spätantike Philosophie entwickelt den G.sbegriff zusammen mit der mehr volkstümlichen Vorstellung von der Gottesstimme im Menschen oder von dem G. als »Interpret« Gottes (Philo), vor allem im Sinn der Anklage des Menschen gegen sein eigenes moralisches Handeln. G. bei Paulus meint ein Wissen um Gut und Böse und um das entsprechende Verhalten sowohl im Sinn eines Sollens wie eines Sichverfehlthabens innerhalb des Wissens um ein Daß der Forderung einer transzendenten Instanz unter bemerkenswertem Einschluss der Möglichkeit des Irrens im Was. Von seiner Instanz her ist das G. im positiven wie negativen Urteil schlechthin gültig. Sofern sich im G. der Gehorsam gegen Gott vollzieht, hat der Mensch im G. seine Freiheit (1 Kor 10,29). Es ist das an Gott gebundene G., identisch mit dem Glauben oder dem Hl. Geist. Das bestimmt dann auch die Unterscheidung von befreitem und »schwachem« G. (1 Kor 8,7 ff.; 10,23 ff.), stark bzw. schwach im Glauben (Röm 14,1). Für den Christen fällt das Urteil des G.s mit dem Glauben zusammen; beiden eignet das Moment des »wissenden Urteils« 36 (Bultmann). Für Thomas ist die Synteresis die sittliche Ur- und Grundgewissheit, der »naturhaft verfügbare Selbstbesitz der ersten Wahrheiten über das Handeln, die die natürlichen Prinzipien des Naturrechts darstellen« (Quaest. de veritate 16, 1), eine ursprunghaft praktische, irrtumsfreie und unwandelbare Grunderkenntnis, eine auf früherer Erkenntnis des Guten im allgemeinen aufruhende Urneigung zum Guten. Ihre Aufgabe ist das »remurmurare malo et inclinare ad bonum«; daher ist sie ohne Sünde als der unbewegliche Grund des veränderlichen Handelns. Die conscientia hingegen regelt nach durchschnittlicher Auffassung, dem Irrtum ausgesetzt, aber gleichwohl unabdingbar verpflichtend, die praktische Anwendung der Antriebe und Prinzipien der Synteresis. Die kath. Moraltheologie hat dieses Grundschema festgehalten. G. ist die mittelbare »Stimme Gottes«, daher absolut verpflichtend, auch im Fall des unüberwindlichen irrenden G.s. Es vertritt als nachfolgendes G. Gott als Richter, als vorangehendes und begleitendes G. Gott als sittlichen Gesetzgeber. G.sbildung ist »Steigerung des moralischen Wissens bis zur Vollhöhe christlicher Lebensweisheit und Lebensklugheit« (LThK IV, 478). Luther will nichts wissen von einer durch die Gnade erfolgenden Umformung eines guten Wesenskerns des Menschen als der Verbindungsstelle des »alten« und des »neuen« Menschen in dessen Sein, auch nichts von einem G. als dem positiven Empfangsorgan für die Offenbarung im Sinn des »Selbstverständnisses des Ich vor Gott«. Seine Religion ist keine »G.sreligion« (Holl). Vielmehr ist für ihn G. der Ort, an dem der Glaube den Kampf gegen den Versuch des sittlich-religiösen Menschen durchficht, im Ethischen das Gottesverhältnis in eigene Verfügung zu bekommen. G. ist für Luther nicht primär Bewusstseinsphänomen oder Gegenstand einer Seelenmetaphysik, sondern es wird beschrieben in den existentiellen Korrelationen zu Gesetz, Tod, Satan einerseits, Wort, Christus, Geist andererseits. Es bezeichnet den Menschen in seinem Dasein unter der Gewalt der Anfechtungsmächte und der Gewalt des Wortes; unter jenen Mächten wird das »blöde, verzagte, erschrockene, furchtsame, schuldige« G., »in Christus« wird das befreite, getröstete, mutige, gute G., das identisch ist mit dem Glaubensgeschenk der Sündenvergebung und Christusförmigkeit, das den Menschen dem Fluch des Gesetzes entnimmt. Es kämpft stets in der Angefochtenheit (Anfechtung) mit dem bösen G., der »Bestie«, und ruft Gott als Verteidiger gegen das eigene verklagende »Herz« an. Das christliche G. hat nur die eine Voraussetzung: Christus, der das Gesetz überwunden hat. Es ist eine transmoralische und letztinstanzliche Größe, weil es mit dem Glauben zusammenfällt. Bei Kant taucht auch das alte Bild vom G. als Gerichtshof auf, wobei die Gottheit zur »idealischen Person« wird, »welche die Vernunft sich selber schafft« (Metaphysik der Sitten), und wo das G., sehr verengt, als urteilende Kontrollinstanz für das Verhältnis von Handeln und Sittengesetz erscheint, das »gewissenhaft« untersucht werden muß. Das G. kann nicht irren, entsprechend der Unfehlbarkeit des kategorischen Imperativs. Es kann lediglich jene Kontrolle unterlassen, aber es vollzieht keine eigentliche G.sentscheidung mit dem Risiko der Verfehlung. Der apriorische G.sbegriff wird völlig formalisiert: »Das G. ist ein Bewußtsein, das für sich selbst Pflicht ist.« Kant bleibt bei der Forderung der Autonomie gewissens37 mäßigen Handelns zur Verwirklichung allgemeiner ethischer Prinzipien stehen, auch mit der Konsequenz lebensfeindlicher Selbstgerechtigkeit. – Daher führt die z. T. indirekte G.sanalyse der Existenzphilosophie heute ungleich tiefer, sofern sie am G. das Schuldigsein des Daseins aufdeckt, das der von dem Sichverlieren an das »Man« in die Freiheit auf dem Grund des Nichts zurückgerufene Mensch im Akt seiner Setzung übernehmen muß, um dem Anspruch des Sollens gegen das Sosein zu genügen, auf die Gefahr des Sichverfehlens hin. Eben darin ist das G. zuletzt Aufdeckung des Schuldigwerdens in der Situation der Angst vor dem Inder-Welt-Sein. Damit sind Gedanken Kierkegaards aus dem »Begriff der Angst« vor dem Nichts, dem Schicksal, der Schuld für die Daseinsanalyse des Menschen weitergeführt, aber auch umgebogen, die zugleich Versuche begünstigen, das paulinische oder reformatorische G.sverständnis in Richtung auf die im G. erfolgte Aufdeckung letzter metaphysischer Zusammenhänge philosophisch legitim auszulegen. Gegen den Idealismus und z. T. auch gegen die pragmatische Interpretation des G.s aus soziologischen oder utilitaristischen Erfahrungsursprüngen oder aus einer Triebanalyse ist für eine theologische G.slehre aber die Transmoralität des G.s grundlegend. Sie ist die wesentliche Entdeckung der Reformation auf Grund einer schonungslosen Analyse des existenzmäßig erlebten und durchlittenen Phänomens des G.s als Selbstaussprache des »alten«, gottfeindlichen Menschen der Selbstgerechtigkeit unter dem Gesetz, und zwar in der dem Glauben zugehörigen Erkenntnis, daß das natürliche G. Bollwerk des Menschen in seiner Selbstbehauptung gegen Gott ist. Das gute G., welches nicht »die christliche Sittlichkeit«, sondern der Glaube dem Menschen gewährt (vgl. 1 Petr 3,21, Taufe und G.!), verhält sich zum natürlichen G. nicht als Vollendung einer schöpfungsmäßigen Existenzvoraussetzung mit Einschluss der »praktischen Vernunft«, sondern wie Neuschöpfung zur Vernichtung des vom Gesetz regierten »moralischen« G.s vor Gott. Das G. ist – im Unterschied zu seiner existenzphilosophischen Interpretation – Antwort. Daraus folgt, daß das G., so wie das Wesen des Menschen vor Gott überhaupt, nicht Besitz des sich selbst erfahrenden Menschen, sondern Aufgabe ist. Nicht eine Aufgabe, die der Mensch von sich aus bewältigen könnte, sondern Aufgabe des Glaubensgehorsams, der allein das Problem der praktischen Vernunft in der Existenz des gefallenen Menschen von dem nunmehr erfüllbar gewordenen Gebot Gottes her zu lösen vermag. [Ernst Wolf, 11440–11459, Digitale Bibliothek Band 12: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG3), Directmedia Publishing Berlin 2000, (c) J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Verlag Tübingen 1956-65, gekürzte Fassung] 38 M 11 Ethisches Stufenmodell nach Lawrence Kohlberg Der amerikanische Soziapsychologe Lawrence Kohlberg ist der Meinung, das es verschiedene, entwicklungspsychologisch bedingte, moralische Stufen gibt, die überall anzutreffen sind. Wir geben sein Modell vereinfacht wieder mit der folgenden Aufgabenstellung: Überprüfen Sie das Modell an Ihrer »Lebenspraxis«. Auf welcher Stufe bewegen sich Ihre Entscheidungen und Handlungen? Erfüllt das Stufenmodell ganz oder teilweise das Kriterium einer menschenfreundlichen Moral? Begründen Sie Ihre Meinung. Gehorsam-Strafe-Orientierung Ob eine Handlung gut oder böse ist, wird im wesentlichen durch die zu erwartenden Folgen Belohnung oder Bestrafung bestimmt und nicht durch ihren Sinn und Wert für den Menschen. Dieser »moralische Realismus« findet sich vornehmlich bei Kindern im Alter von vier bis zehn Jahren, bestimmt aber offensichtlich auch die Entscheidungen von Erwachsenen. Marktplatz-Orientierung Wenn ich etwas für andere tue, kann ich erwarten, dass diese etwas für mich tun . . . Eigennutz und Nutzen des anderen schließen sich nicht aus; Ehrlichkeit und Menschlichkeit zahlen sich langfristig aus; vgl. Spruchweisheiten wie: »Ehrlich währt am längsten«, »Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein«, »Wer anderen Güte und Liebe erweist, findet ein erfülltes Leben, Gegenliebe und Ansehen.« Gewissen- und Norm-Orientierung Auf dieser Ebene orientiere ich mich an Prinzipien der eigenen Wahl, die zugleich universell sind und dadurch kommunikative Prozesse ermöglichen. Solche ethischen Prinzipien sind z. B. Gerechtigkeit, Achtung der Würde der Person, Ehrfurcht vor dem Leben, Verlässlichkeit, Verantwortung, Nächstenliebe. Hier kann es zum Konflikt zwischen dem Wohl der anderen und meinen Interessen kommen. Beispiele Kategorischer Imperativ: Handle so, dass die Richtschnur deines Handelns als allgemeines Gesetz dienen kann. (nach Kant) Ehrfurcht vor dem Leben: Ich bin Leben, das leben will; inmitten von Leben, das leben will . . . . Albert Schweitzer Prinzip Verantwortung: Handle so, dass du dir stets deiner Verantwortung gegenüber dir selbst, deinen Mitmenschen und gegenüber der Natur bewusst bist. (nach Hans Jonas) 39 Gerechtigkeit und Liebe: Säet Gerechtigkeit, erntet nach dem Maß der Liebe! Hosea 10,12 Goldene Regel: Was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch. Mt 7,12 Aus: R. Mack/D. Volpert: Auf der Suche nach einer menschenfreundlichen Moral, Oberstufe Religion 4, Calwer Verlag Stuttgart 1994 7, S. 11. M 12 Information zum Stichwort »Normen« (Der folgende Text ist einer Vorarbeit zum vorliegenden Lehrerheft entnommen und wurde von Hans C. Lamparter verfasst.) Gesellschaftliche Normen Leitsätze 1. Normen zielen auf das erwünschte »normale« religiöse und soziale Verhalten, entsprechend den Grundanschauungen einer jeweiligen Gesellschaft. Sie erscheinen als ungeschriebene und geschriebene Gesetze, nach denen man sich selbstverständlich zu richten hat. Normen beziehen sich auf die Sitte sowie auf die unterschiedlichen Institutionen und gesellschaftliche Strukturen und auf die beiden Bereichen zugrunde liegenden Anschauungen bzw. Werte. 2. Normgemäßes Verhalten ermöglicht überhaupt erst das Zusammenleben in größeren Gruppen. Es schützt die Gesellschaft vor gemeinschaftsbedrohendem, asozialem Verhalten, integriert den einzelnen durch Erziehung (Gewissensbildung und Anerkennung), entlastet bei vielen Entscheidungen und verhindert willkürliche Veränderungen der Gesellschaftsstruktur. Eine historisch stringente Ableitung der Entstehung von Normen gibt es nicht, wohl aber kann man verschiedene Begründungen möglicher Herkunft anführen: eine biologisch-anthropologische (mangelnde Instinktleitung), eine kulturgeschichtliche (Überleben nur durch Zusammenarbeit) und eine sozialpsychologische (Ich-Werdung nur durch gesellschaftlichen Bezug möglich). 3. Je stärker Normen das bloße Überleben zu sichern haben, desto größer ist ihr Anspruch, desto härter die Sanktionen. Im Gegensatz dazu erlaubt die Spät-Gesellschaft (Überfluss-Gesellschaft) partiell das Übertreten von Normen. Zu fragen bleibt, wann dies für diese Gesellschaft verhängnisvoll wird. 4. Werden Normen nicht mehr selbstverständlich hingenommen (Anlaß: z. B. konkurrierende Normen verschiedener Untergruppen oder z. B. totales Fehlen der Plausibilität durch Situationswandel), zerfallen bestimmte Normen und neue bilden sich heraus (evtl. nur für den Übergang, evtl. bleiben Primärnormen = Minimalnormen). 40 ! Begriffe: Norm von lat. »norma« = Winkelmaß, Richtschnur, Regel, Vorschrift. »Normal« ist das diesem Maß, dieser Vorschrift Gemäße. Normen regeln alle bedeutsamen Beziehungen zwischen Menschen und Gott, zwischen Menschen und Mitmenschen bzw. Beziehungen von Individuen zu sich selbst und die Beziehungen von Menschen zur Welt und Natur. Normen sind von einer jeweiligen Gesellschaft bzw. Kultur abhängig. Normen können sein: Verhaltensvorschriften zum Schutz von Werten. Werte sind Glaubensanschauungen und Grundüberzeugungen. Deren systematischer Entwurf ist eine Ethik. Sie prüft, ob das normale Verhalten das richtige ist. Maßstäbe für das Verhalten, das erwartet wird (Moral). Konkrete Verhaltensweisen, die tatsächlich gelebt werden (Sitte), bzw. Spielregeln für alltägliches Verhalten, das ethisch bedeutungslos ist (Brauch). ! Funktion und Herkunft von Normen Anthropologischer Ansatz: Dass Normen notwendig sind, ergibt sich aus der mangelhaften Instinktsteuerung und Ortsungebundenheit des Menschen. Die Gefährlichkeit der Aggressionen und die ausstehende Bedürfnisbefriedigung verlangen feste Verhaltensregeln des Zusammenlebens. Der Mensch bleibt auf den Mitmenschen zu seinem Überleben angewiesen, und zwar in einem angemessenen Verhältnis von Distanz und Nähe. Sich allmählich einschleifenden Gewohnheiten vergleichbar, entlasten Normen den Menschen vom Zwang ständiger Neuüberlegung angemessenen Verhaltens. So verstanden haben Normen Orientierungs- und Entlastungsfunktion im Rahmen der Einzel- und Gemeinschaftsbedürfnisse (Rollenverteilung und -fixierung). Der kulturgeschichtliche Ansatz erweitert die anthropologische Normenbegründung. Bei diesem Ansatz wird besonders die Abhängigkeit des Menschen von der Natur und von Herrschaftsverhältnissen sowie der Wandel dieser Verhältnisse bedacht. Der »primitive« Mensch ist der Natur fast wie ein hilfloses Kind preisgegeben. Da er sich die Naturgewalten nicht erklären kann, erhebt er sie zu Gottheiten, die er sich durch vermeintlich angenehme Verhaltensweisen wohlgesonnen stimmen will. Er glaubt, die Götter wachten eifersüchtig über jede Ausdehnung menschlicher Fähigkeiten und sie bestraften menschliche Übergriffe. Dieselben Verhaltensnormen (absoluter Gehorsam, Demut etc.) werden in vordynamischen Gesellschaftsordnungen auch auf andere Mächtige (Ahnherr, Vater, Herrscher) übertragen bzw. von Mächtigen (Überlagerung) zur Unterwerfung ausgenutzt. In diesem System haben Normen die Funktion, Herrschaft und gesellschaftliche Verhältnisse zu stabilisieren. Die soziale Kontrolle in überschaubaren 41 Verhältnissen diente beidem (cf. Wernher der Gartenaere, Helbrecht). Da die Verhältnisse über Jahrhunderte gleich blieben, erstarrten die Normen und erscheinen dann als ewig, als gottgewollt und unveränderlich (So war z. B. im Mittelalter die „via antiqua“ anerkannt, die „via moderna“ aber suspekt.). Seit der Renaissance und vor allem seit der industriellen Revolution gerät der Wandel der Verhältnisse des Menschen stärker in den Blick (Säkularisierung, Demokratisierung, Mobilisierung, Liberalisierung). Viele Normen werden – obwohl inzwischen funktionslos – doch weitertradiert, ein anderer Teil jedoch auch ersetzt. Man beginnt die Normen auf ihre Begründung hin zu befragen (z. B.: unkritischer Gehorsam gegenüber der Obrigkeit). Unsere Gesellschaft ist »dynamisch, mobil und labil« geworden (Behrend, S. 49 f.). Beim sozialpsychologischen Ansatz geht es um das Gewissen als der engagierten Instanz, die über die verpflichtende Übernahme von ethischen Verhaltensforderungen entscheidet, und um die Bedingungen der Gewissensbildung. Und zwar geht es dabei im Sinne S. Freuds nicht um das die Außenwelt und ihre Autorität repräsentierende Über-Ich, sondern um das in der Auseinandersetzung mit dem Über-Ich einerseits und dem Es andererseits erstarkte und selbständig gewordene Ich, das deutlich den Lebensweg der menschlichen Persönlichkeit steuern soll. Das zur freien Entscheidung befähigte Ich ist das Gewissen in christlichem Verstand. Mangelnde Ich-Stärke, Neigung zur Anpassung, vorschnell gehorsame Übernahme geltender Normen ist jedenfalls kein Zeichen für ein vollentwickeltes Gewissen, wie es Basis christlichen Verhaltens sein soll. (Eine ausführliche Darstellung der Gewissensbildung findet sich in: Göhrum/Röhm: Zur Strafe. Modelle für den RU 6, Lehrerheft, S. 26–31, Calwer Verlag Stuttgart, Kösel-Verlag München 1975.) ! Anspruch und Verwirklichung von Normen Normen existieren nur so lange, als nach ihnen gehandelt wird bzw. sie auch als geltend anerkannt werden. Normensysteme verschaffen den entsprechenden Verhaltenserwartungen Geltung, indem sie Verhaltensabweichungen durch Distanz, Isolierung, Tadel oder Strafe sanktionieren. Gesellschaftliche Normen als Problem theologischer Ethik 1. Gottes Kommen in Macht, die nichts erzwingt, und in Liebe, die leidet, bringt Freiheit von Normen und Freiheit zum Übernehmen von bedingten Normen. Im christologischen Ansatz, d. h. der Ansage von Gottes Reich, ist die Radikalisierung des Gesetzes und eine Neuorientierung des Lebens unlöslich verbunden. Im Wandel der Strukturen der Gesellschaft ist dieser Ansatz jeweils neu zu bedenken. 2. Stabile Ordnungen, die sich nur unmerklich ändern, verführen zu der irrigen Auslegung von Jesu Ansatz, daß Gott seiner Schöpfung eine über den Menschen stehende, ewige Ordnung gegeben habe. 42 3. Der naturrechtliche Ansatz sucht Entsprechungen zwischen den menschlichen Gedanken über die Strukturen der Welt und der göttlichen Offenbarung von Wesen und Heil der Welt. Die Analogie zwischen Gott und Welt findet im Begriff Natur als von Gott geschaffener Seinsstruktur ihre umfassende Ausprägung. Die oberste Maxime lautet – Handle seinsgemäß (naturgemäß)! 4. Der situationsethische Ansatz setzt voraus, daß Normen fraglich werden. Die Vielfalt des Lebens lässt sich nicht auf Strukturen reduzieren, ohne daß Wesentliches verloren geht. Das hic et nunc des Glaubens, wie es in Jesu Angebot und Gebot der Liebe zugemutet wird, wird zum hie et nunc des Handelns. In einer pluralistischen Gesellschaft mit konkurrierenden Normen (Systemen) bietet der christologisch-situative Ansatz Chancen, neue Normen zu finden. ! Das Verhalten Jesu als Norm und Normkritik Jesu Auslegung des Doppelgebotes der Liebe ist Norm und Normkritik zugleich. Jenes Gebot war schon im AT bekannt (3. Mose = Lev 19,18 und 5. Mose = Dtn 6,4 f), aber die kasuistische Gesetzesauslegung frommer Juden vereitelte, daß Gottes Liebe am Nächsten wirken konnte. Die Heiligkeit kultischer Ordnungen kam vor den Bedürfnissen des Menschen (Mk 2,27), war Mittel der Selbstrechtfertigung und diskriminierte alle, die weniger »gerecht« waren. Jesus stellt die Kasuistik des Gesetzes und die Heiligkeit der Ordnung unter die Generalklausel des Liebesgebotes . . . die einzelnen Vorschriften sind damit nicht aufgehoben, sondern werden daraufhin befragt, ob sie einem Menschen in seiner jeweiligen Situation im Sinne von Gottes Liebeswillen diesem Menschen gerecht werden (Lk 19,1-10; Joh 8,1-11; Mk 3,1-6). Die Radikalisierung des Gesetzes verschließt das Gesetz dem Leistungswillen des Menschen und öffnet ihn zugleich für die Zusage der Vergebung. Die Universalisierung der Nächstenliebe zur Feindesliebe löst den Einzelnen aus dem sichernden Kollektiv (wider eine Identität aus Gruppenkonformität) und weist ihn auf die Bedürftigkeit des Mitmenschen hin (Mt 5,43 ff.). Jesu Auseinandersetzung mit der jüdischen Kasuistik durch Wort und Tat war nicht als Entwicklung einer neuen Lehre beabsichtigt, sondern war gelebte Interpretation der Nähe Gottes, Ermöglichung der Umkehr in jeweils konkreten Situationen. ! Der ordotheologische Ansatz Die Lehre von den Schöpfungs- und Erhaltungsordnungen besagt, »daß der Christ genau wie jeder andere Mensch, also vor und unabhängig von seinem Christsein, in bestimmten Lebensordnungen (Volk, Staat, Rasse, Ehe, Familie, Wirtschaft) steht und in ihnen unter eine Geboteordnung gestellt ist, die Gott als Schöpfer allen menschlichen Geschöpfen verordnet . . .« (Lau: Schöpfungsordnung RGG3 V, Sp. 1492). Der Gehorsam gegenüber diesen Ordnungen, auch wenn sie zu Gottes Ge43 boten in Spannung stehen, bindet unbedingt. Von der Christologie aus sich gegen die Ordotheologien kritisch einwenden, sie stellten die Aufrechterhaltung der Ordnung höher als die Bedürfnisse des Menschen. Liebe lässt sich in keine Kasuistik pressen. Von der Soziologie muß diese Ordotheologie sich den Vorwurf gefallen lassen, sie stelle Überhöhung von Herrschaftsverhältnissen dar, könne dem Wandel gesellschaftlicher Strukturen nicht gerecht werden und behafte den Menschen auf dem Status quo. Deshalb spricht E. Wolf den Ordnungen jeden göttlichen Charakter ab. Er sieht den Mensch als Mängelwesen »auf Institutionen (i. e. Verhaltensstrukturen von relativer Dauerhaftigkeit) angewiesen, auf deren Hilfeleistung zur Daseinsbewältigung erfahrungsmäßig verwiesen.< (Sozialethik S. 169). Aber als »verfehlbare Möglichkeit sind die Institutionen weder ein heiles System idealer Gestaltung noch bloße äußere Zwangsordnung . . ., sondern unverzichtbare Aufgabe für den Menschen um seiner selbst willen, ohne deren stets neue Inangriffnahme er sich selbst verfehlen würde.« Vorgegebene Ordnungen sind »Gestaltungsaufgaben zur Bewährung des Glaubensgehorsams« und damit Chancen zur Menschwerdung des Menschen im Sinne Gottesebenbildlichkeit (a. a. O., S. 179). Der naturrechtliche Ansatz »Der Begriff >Natur< . . . meint die ursprunghaft im Seienden angelegte, ihm immanente wesenhafte Ordnung . . ., durch die ihm der Sinn seiner Existenz und die Richtung seines Wir gewiesen ist . . . In jedes Sein ist . . . ein Ziel eingeschlossen, das ihm seinen Sinn gibt . . . Damit sind menschlichem Handeln, wenn es nicht ziellos, also nicht sinnlos werden und sich gegen den Handelnden selbst richten soll, verpflichtende Normen aufgegeben: Agere sequitur esse (das Handeln folgt in seiner Zielrichtung der Ordnung des Seins).« (Klüber S. 17). Will jemand seinsgemäß handeln, das von >Natur Rechte< tun, kann er sich auf sein Gewissen (synteresis) verlassen. Es ist das den Christen und Heiden von Natur aus eigene, unwandelbare und unfehlbare Erkenntnisorgan (Röm 2,14) für Gottes Schöpfungsordnung. Newman nennt es einen »Sinn für das Sittliche« und einen »Sinn für Pflicht«, der das Rechte tun lasse (Entwurf einer Zustimmungslehre, Mainz 1961, S. 74). Zur konkreten Entscheidung bedarf es aber noch einer vermittelnden conscientia, die zwischen allgemeinem Naturrecht und den von ihm abgeleiteten Grundsätzen einerseits und den besonderen Impulsen und Erkenntnissen aus der Erfahrung auf der anderen die Verbindung herstellt . . . Zur Kritik: Dem Glauben an ein durch Sünde unverderbtes, unbedingtes Gewissen (synteresis) widersprechen reformatorische Theologie und Tiefenpsychologie (S. Freud). Eine auf deduktivem Wege gewonnene Kasuistik kann den konkreten Lebensbedürfnisse in sich wandelnden Situationen nicht gerecht werden. Im übrigen gelten dieselben kritischen Einwände, die schon gegen eine orthodoxe Ordotheologie erhoben wurden. 44 ! Der situationsethische Ansatz »Nicht, was ein für allemal gut sei, kann und soll gesagt werden, sondern wie Christus unter uns heute und hier Gestalt gewinne.« Jenseits allgemeiner und formaler Gesetze, aber auch jenseits jeder kasuistischen Engführung nimmt die Situationsethik Bonhoeffers ihren Ausgangspunkt »in der geschehenen Versöhnung der Welt mit Gott und dem Menschen Jesus Christus, in der Annahme des wirklichen Menschen durch Gott« (Ethik, S. 91). Der Situationsethiker steht in jeder konkreten Begegnung (»unter uns«) vor der Entscheidung, was die ihm widerfahrene Liebe »heute« und »hier« von ihm zu tun verlangt. Bei dieser Entscheidung können ihm die ethischen Maximen der Gemeinschaft und ihrer Tradition und der Sachverstand der Wissenschaften helfen, seine Aufgabe zu erkennen und zu bewältigen. »Gleichzeitig kann er in jeder Situation seine (i. e. des Gesetzes) Geltung auch einschränken oder ganz unberücksichtigt lassen, wenn der Liebe damit besser gedient ist« (Fletscher, S. 20). Kritisch ließe sich gegen situationsethische Entwürfe einwenden, ob der Einzelne nicht durch die Zumutung ständiger Entscheidung ohne Rückendeckung des Vorgegebenen überfordert wird. Aus der Perspektive der ordotheologischen und naturrechtlichen Normensysteme befinden wir uns in der pluralen Gesellschaft in einer Krise der Moral, aus der Perspektive der Soziologie in einem »Tugendvakuum« (Behrendt), denn angesichts des raschen Strukturwandels sind die Tugenden für morgen noch nicht gefunden. Aber gerade darin könnte die Chance des christologisch-situationsethischen Ansatzes heute liegen, mit der von Christus geschenkten Mündigkeit sich des Sachverstandes der Wissenschaften und der Phantasie (Sölle) zu bedienen, um die Liebe Jesu in konkreten Situationen immer neu zu verwirklichen (permanente Reform). Literatur: Bonhoeffer, D.: Ethik, München 1961 Conzelmann, H.: Art. Jesus Christus, Abs. 10, RGG III, Sp. 633 ff. Dembowski/Gremmels/Schrenk: Die Sünde – das Böse – die Schuld (Radiusprojekte 46) Stuttgart 1971, S. 7–25 Fletscher, N.: Moral ohne Normen? Gütersloh 1967. Klüber, F.: Grundriß der kath. Gesellschaftslehre, Fromms Taschenbuch F 61 Noll, P.: Die ethische Begründung der Strafe, Tübingen (Mohr) 1962 (vergriffen) Wolf, E.: Sozialethik, Göttingen 1975 Sölle, D.: Phantasie und Gehorsam, Stuttgart, 5. Aufl. 1972 Aus: R. Mack/D. Volpert: Auf der Suche nach einer menschenfreundlichen Moral. Gesellschaftliche Normen als Problem theologischer Ethik, Oberstufe Religion 4, Lehrerheft, Calwer Verlag Stuttgart 1980, S. 23–28. 45 M 13 Schritte der ethischen Urteilsfindung „Die Wissenschaft brauchen wir zum Erkennen, den Glauben zum Handeln.“ Max Planck Wie kommen ethische Entscheidungen zustande? Welche Rolle spielt dabei der persönliche Glaube? Der Theologe Heinz Eduard Tödt nennt sechs Gesichtspunkte, die bei ethischen Entscheidungen bedacht werden müssten, wenn Handeln verantwortlich sein soll: Schritt 1: Problemfeststellung Bevor man sich auf die Suche nach Lösungen macht, sollte man zuerst mit »kühlem Kopf« die Frage stellen: Worum geht es eigentlich bei diesem »Fall«: Was ist das Problem? Wer ist daran beteiligt, welche Bedürfnisse spielen mit herein? Schritt 2: Situationsanalyse Wenn das Problem erfasst ist, stellt sich die Frage, in welchem persönlichen, gesellschaftlichen oder politischen Zusammenhang diese besondere Situation eingebettet und bedingt ist: Von welchen gesellschaftlichen – oder auch psychischen – Faktoren ist diese konkrete Situation geprägt? Wo gibt es Handlungsspielräume, wo liegen sogenannte »Sachzwänge« vor? Eine genaue Situationsanalyse ist für die ethische Entscheidung schon deshalb wichtig, weil man sich sonst leicht hinter scheinbar unabänderlichen Gegebenheiten verschanzt. Schritt 3: Verhaltensalternativen Nach der Problemfeststellung und der Problemanalyse stellt sich die Frage: Was ist zu tun? Welche verschiedenen Möglichkeiten einer Lösung (Handlungsalternativen) gibt es, und welche Folgen ergeben sich jeweils daraus? Welche der Möglichkeiten kann ich vor meinem Gewissen verantworten? Schritt 4: Normenprüfung Bei vielen Entscheidungen unseres alltäglichen Lebens greifen wir auf Normen zurück, die in unserer Umgebung als gut oder richtig gelten, die sich im Zusammenleben bewährt haben und ohne die ein Zusammenleben nicht denkbar wäre. Aber es gibt auch gesellschaftliche Normen – die immer von Grundüberzeugungen (Werten) bestimmt sind –, die nicht in jedem Fall richtig und für mich bindend sein müssen. So hat Jesus vom Liebesgebot aus deutlich Normenkritik geübt mit dem Satz: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht, und nicht der Mensch um des Sabbats willen (Mk 2,27). Bei der wichtigen Frage, welche Normen mein Handeln bestimmen und welche Werte meine Entscheidungen leiten sollen, hatte der Unterricht bei verschiedenen Entscheidungssituationen aus der biblisch-christlichen Tradition verschiedene 46 Werte und Normen ins Spiel gebracht, die als Orientierung für eine Normenprüfung dienen können: Annehmen, Akzeptieren, eine Chance geben: Lk 15 (so nimmt Gott uns an) Barmherzigkeit Friedensliebe: Martin Luther King Ehrfurcht vor dem Leben: A. Schweitzer Gemeinschaftssinn, Solidarität: Mi 6,8 Bewahren, sorgsamer Umgang mit der Natur (Jahwist): 1. Mose (= Gen) 2,15 Zärtlichkeit und Personalität: Hohes Lied Würde des Menschen: Dostojewski; 1. Mose (= Gen) 1,27 f. Schritt 5: Die Entscheidung (Urteilsentscheid) In der Entscheidung werden gewissermaßen alle bisher genannten Schritte zusammengefasst: Das Problem ist erfasst und analysiert; ich stehe vor der Wahl, so oder so zu entscheiden, wobei ich mich für oder gegen bestimmte Normen stellen kann, in Übereinstimmung mit meinem Gewissen oder gegen es. Schritt 6: Der Rückblick – die Überprüfung Selbst bei bestem Willen können wir ein Problem nicht immer richtig erfassen, nicht alle Faktoren berücksichtigen; nicht immer lassen wir uns leiten von Normen, die wir eigentlich bejahen. Eine rückblickende Überprüfung soll noch einmal die fünf Schritte im Blick auf meine Entscheidung und ihre Folgen bedenken. Dieser sechste Schritt überschreitet aber schon das eigentliche Feld der Ethik, weil hier ganz neue Fragen dringlich werden: ! ! ! die Frage nach Schuld und Vergebung die Frage nach Hoffnung und Sinn die Frage nach Gott Fragt man, wo der Glaube eine Rolle spielt, so ist die Antwort: möglicherweise bei allen Schritten ethischer Urteilsfindung. Nicht erst bei der Frage, weiche Normen sollen mein Handeln bestimmen, sondern auch schon bei der Klärung, was ist das ethisch entscheidende Problem, wie ist die Situation zu beurteilen oder welche Handlungsalternativen bestehen. Hier können die Phantasie und Weisheit des Glaubens eine wichtige Rolle spielen. Aus: R. Mack/D. Volpert: Auf der Suche nach einer menschenfreundlichen Moral, Oberstufe Religion 4, Calwer Verlag Stuttgart 19947, S. 46. Sven Howoldt / Wilhelm Schwendemann 47 Danksagung: Einzelne Kapitel (siehe Quellenangaben) dieses Aufsatzes wurden jeweils mit freundlicher Genehmigung der folgenden Verlage abgedruckt: Calwer Verlag, Stuttgart (http://www.calwer-verlag.de) Directmedia Publishing GmbH, Berlin (http://www.digitale-bibliothek.de) J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Verlag, Tübingen (http://www.mohr.de) Kösel-Verlag, München (http://www.koesel.de) Verlag Katholisches Bibelwerk, Stuttgart (http://www.bibelwerk.de) Wir danken den o. g. Verlagen bzw. Institutionen sehr herzlich für die Abdruckgenehmigungen. Kopienverleih: Kirchliche und öffentliche AV-Medienstellen Kopienverkauf für nichtgewerblichen Einsatz durch: Katholisches Filmwerk GmbH Postfach 1111 52 · 60046 Frankfurt Ludwigstraße 33 · 60327 Frankfurt Telefon: (0 69) 97 14 36 - 0 · Telefax: (0 69) 97 14 36 - 13 Internet: www.filmwerk.de · E-Mail: info@filmwerk.de Herausgegeben vom Programmbereich AV-Medien Katholisches Filmwerk GmbH, Frankfurt/M. Programmbereich AV-Medien Katholisches Filmwerk GmbH, Frankfurt/ Main