Die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland 1
Transcription
Die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland 1
Alexander Rahr M.A., Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik Berlin Die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland 1. Sonderbeziehung Russland - Deutschland Fast fünfzehn Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion sucht Russland noch nach seiner Rolle in der Weltpolitik des 21. Jahrhunderts. Einerseits setzt die russische Politik auf eine schnelle Modernisierung des Riesenreiches und die Integration Russlands in die internationale demokratische Staatengemeinschaft. Andererseits will Russland seine verlorene Großmachtrolle zurückgewinnen. Beim ersten Anliegen wird Russland von der internationalen Staatengemeinschaft unterstützt. Das zweite Anliegen provoziert im Westen Ängste von einem russischen Neoimperialismus und gibt Überlegungen von einer neuen Eindämmungspolitik Richtung Russland neue Nahrung. Deutschland unterstützt klar die russische Annäherung an den Westen. Anders als andere EU-Länder liebäugeln deutsche Politiker mit einem Europa von Brest bis Wladiwostok. In der 1 deutschen außenpolitischen Elite hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass ein friedliches und stabiles Europa ohne Russland – oder gar gegen die Interessen Russlands – nicht verwirklicht werden kann. So seltsam es auch klingt: Deutschland und Russland hatten schon im Kalten Krieg in der Zeit der Ostpolitik Willy Brandts eine besondere Beziehung. Das damalige Bonn brauchte von der Sowjetunion de Erlaubnis für diverse Erleichterungen im Umgang der BRD mit der DDR. Diese Erleichterungen beim Handel und Transitverkehr nach Westberlin wurden von Bonn einerseits teuer erkauft, andererseits öffneten sich dem damaligen Westdeutschland auf dem sowjetischen Energiemarkt wirtschaftliche Chancen. Das berühmte deutsche Röhrengeschäft mit dem kommunistischen Russland war die Grundstufe zur heutigen Energieallianz EU – Russland. Über die Wirtschaftsbeziehungen stieg das Vertrauen auf beiden Seiten, das schließlich zum deutschen Technologietransfer in die Sowjetunion und Rohstofflieferungen aus dem Osten nach Westeuropa führte. 1 1 Peter Danylow, Ulrich S. Soenius, „Otto Wolff. Ein Unternehmen zwischen Wirtschaft und Politik“, München 2005, S. 415 ff. 2 Die gegenwärtigen deutsch-russischen Beziehungen profitieren von den damaligen Bindungen. Für die deutsche Wirtschaft führt der Weg auf den russischen Markt auch heute über die Kooperation mit der Staatsmacht. Sie alleine garantiert den Erfolg. Die Konzentration angelsächsischer Unternehmer in den neunziger Jahren auf die neue russische Privatwirtschaft – in Umgehung staatlicher Institutionen – rächte sich, wie das Beispiel JUKOS verdeutlicht. Deutschland hat mit Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion keine schlechten Erfahrungen gemacht. Im Gegenteil: die Wiedervereinigung Deutschlands wurde von Moskau breit unterstützt, Russland zog in kürzester Zeit seine Streitkräfte aus Ostdeutschland und Osteuropa ab, öffnete seine Märkte westlichen Investoren, ließ sich so weit wie möglich in westliche Strukturen einbinden und widersetzte sich auch nicht der im westlichen Interesse durchgeführten NATO- und EUOsterweiterungen. Deutschland hat seit dem Zerfall der Sowjetunion eine Vermittleroder Anwaltsrolle für die Heranführung Russlands an den Westen 3 übernommen.2 Stärker als andere westliche Staaten fördert Deutschland die Idee von „gemeinsamen Räumen“ zwischen der EU und Russland. Die deutsche Außenpolitik bleibt in ihrer Russlandstrategie fest in die gemeinsame europäische Außenund Sicherheitspolitik eingebunden. Ängste einiger mittelosteuropäischer Staaten von einem Wiederaufflammen der Rapallo-Politik der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts sind fehl am Platz. Deutschland hat unter den Kanzlern Helmut Kohl und Gerhard Schröder konkrete Schritte zur An –und Einbindung Russlands an den Westen durchgeführt. Kohl unterstützte Russland in den neunziger Jahren mit finanzieller und humanitärer Hilfe in der Zeit des Zusammenbruchs der staatlichen und wirtschaftlichen Ordnung und beim politischen Wiederaufbau Russlands. Kohl ebnete Russland wie kein anderer westlicher Staatschef den Weg in die westlichen Institutionen, wie den Pariser Klub, den Londoner Klub sowie in die G-7. Unter wesentlicher Anteilnahme Deutschlands entstand zwischen Russland und der EU das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen, sowie zwischen der 2 Alexander Rahr, „Wladimir Putin. Präsident Russlands – Partner Deutschlands“, 3. Auflage, München 2002, S. 253 ff. 4 NATO und Russland der NATO-Russland-Rat, der half, die Osterweiterung der NATO gegenüber Russland abzufedern. Schröder schuf wichtige Grundlagen für die künftige Energieallianz zwischen Russland und der EU. Sie soll zum wichtigsten Baustein des „gemeinsamen Wirtschaftraumes“ zwischen EU und Russland werden. Schröder stärkte Russlands Rolle in der G-8 und integrierte Russland – im Zuge der Krisenpolitik während des Irak-Krieges – schrittweise in die neue gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur, auch wenn Russland nach wie vor weder in der NATO noch in der ESVP offiziell Mitspracherecht besitzt.3 Schröder begann auch eine intensive Kooperation mit Russland in globalen Sicherheitsfragen: während des NATO-Krieges im Kosovo spielte die damals gerade gewählte Regierung Schröders eine wichtige Rolle bei der Einbindung Russlands in die Friedenssicherung auf dem Balkan. Russische Friedensstreitkräfte wurden darauf in den deutschen Sektor eingebunden. Die Zusammenarbeit war erfolgreich und vertrauensbildend. Deutschland ist heute das einzige NATO3 Alexander Rahr, „Schröders Russland-Politik“, in: INTERNATIONALE POLITIK, Nr. 9, 2004. 5 Land, das Militärtransporte für die eigene Truppenversorgung in Afghanistan (wo Deutschland mit Frankreich die oberste Friedensmacht darstellt) durch russisches Territorium durchführen darf. Deutschland führt als erstes westliches Land mit Russland Gespräche über westliche Hilfe beim Wiederaufbau Tschetscheniens und einem möglichen Stabilitätspakt für den Nordkaukasus. 4 Eine solche vertrauensvolle Beziehung wäre nicht möglich, wenn Russland seinerseits nicht eine besondere positive Affinität zum wiedervereinigten Deutschland entwickelt hätte. Deutschland wird in Russland nicht als Rivale auf postsowjetischem Raum betrachtet, von Deutschland spürt Russland keine Bedrohung für eigene Interessen und in Moskau gibt es auch keine Bedenken, dass Deutschland sich, koste es was es wolle, Kontrolle über strategische Wirtschaftsbereiche in Russland aneignen möchte. In diesem Zusammenhang sollte die gemeinsame deutschrussische Initiative – im Rahmen des Umweltprogramms der Nördlichen Dimensions-Strategie der EU -- bei der Verschrottung 4 Gernot Erler, „Russland kommt. Putins Staat – der Kampf um Macht und Modernisierung“, Freiburg 2005, S. 178. 6 der ausrangierten russischen Atom-U-Boote in der Barentssee erwähnt werden5. Deutschland ist eines der wenigen Länder innerhalb der EU, das die russische Problematik aufgrund der eigenen Nachkriegserfahrung besser versteht. Allerdings empfindet die russische Elite die deutsche Kritik an der inneren Entwicklung in Russland seit dem Machtanstieg von Vladimir Putin als zunehmend lästig. Die EU ist bereit, mit Russland eine enge strategische Partnerschaft einzugehen, die am Ende zur Integration Russlands mit dem Westen führen könnte. Allerdings fordert der Westen – sowohl die USA als auch die EU – von Russland, dass die strategische Partnerschaft auf der Basis einer Wertegemeinschaft aufgebaut werden würde. Russland wünscht sich dagegen eine strategische Interessensgemeinschaft mit Europa und Amerika, die in Fragen der Energieversorgung, Technologietransfer, Kampf gegen den internationalen Terrorismus einen größeren Stellenwert haben würde, als gemeinsame demokratische Wertvorstellungen und der Aufbau der Zivilgesellschaft in Russland. 5 Siehe www.ndep.org (Webseite der EU zur Nördlichen Dimension) 7 Deutschland ist Russlands größter Handelspartner und einer der größten Investoren auf dem russischen Markt. Diese Entwicklung offeriert Deutschland Einflussmöglichkeiten auf Russland. Die Wirtschaftsbeziehungen bilden das Herzstück der deutschrussischen Beziehungen und werden unten ausführlich behandelt. Mit dem Machtaufstieg Putins zum russischen Präsidenten erfuhren die deutsch-russischen Beziehungen einen zusätzlichen positiven Drall. Putin, der in den achtziger Jahren als sowjetischer Geheimdienstagent seine Karriere in der DDR gemacht und in den neunziger Jahren als Stellvertretender Bürgermeister von Sankt Petersburg für die Außenbeziehungen der Stadt insbesondere zum wiedervereinigten Deutschland verantwortlich gewesen war, entwickelte von sich aus den persönlichen Wunsch, die Integration seines Landes Richtung Westen und internationale Wirtschaftsgemeinschaft durch die Anlehnung an den deutschen Partner zu suchen. Es waren die obersten Wirtschaftsbosse, die den Kanzler zu größerem Engagement mit Putin erfolgreich gedrängt hatten. Mit keinem anderen westlichen Politiker traf sich Putin in den letzten 8 fünf Jahren seiner Amtszeit so oft wie mit Schröder. Die Staatsmänner besuchen sich sogar mitsamt ihren Familien. Putin half Schröder ein russisches Waisenkind zu adoptieren – was die besondere innere Nähe Schröders zu Russland symbolisiert. Während Putins Verhältnis zu anderen westlichen Staatschefs, wie beispielsweise Jacques Chirac und Toni Blair, großen Schwankungen ausgesetzt wurde, verfestigten sich die persönlichen Freundschaftsbeziehungen Putins zu Schröder. Heute pflegt der deutsche Bundeskanzler einen besseren Draht zum Kremlchef, als zum amerikanischen Präsidenten, was in großen Teilen der deutschen Elite als Frevel bezeichnet wird. Welche Deutschland-Strategie besitzt aber das heutige Russland? Jelzin nahm dankbar jegliche deutsche Unterstützung für die Sanierung seiner maroden Wirtschaft entgegen. Putin hat Russland aus der Schuldenfalle der neunziger Jahre herausgeführt und von finanziellen Abhängigkeiten vom Westen gelöst. Putin hat seit seiner Machtübernahme eine politische Neuorientierung auf die EU vorgenommen. Noch als Ministerpräsident schlug er den EU-Staatschefs auf dem EUGipfel in Helsinki im Oktober 1999 die wirtschaftliche Partnerschaft durch sicherheitspolitische Komponenten zu 9 erweitern. Bis auf Deutschland und Frankreich sind die EUStaaten auf diese Offerte bisher nicht eingegangen. Was Putin von der künftigen Rolle Russlands in Europa erwartet, beschrieb er in seiner historischen Rede vor dem Bundestag, zwei Wochen nach den schrecklichen Ereignissen vom 11. September 2001. Er erklärte den Kalten Krieg für endgültig beendet und bot dem Westen eine pragmatische Partnerschaft auf allen Ebenen an. Putin schlug vor, die reichen Rohstoffreservoire Russlands mit dem technisch weiter entwickelten EU-Raum zu verschmelzen, eine „gemeinsamen Wirtschaftraum“ zu gründen und damit Europa sicherheitspolitisch zu stärken sowie gegenüber Asien und Amerika konkurrenzfähiger zu gestalten. Auch auf diesen Vorschlag erhielt Putin nur von Deutschland und Frankreich eine positive Antwort. Zu Beginn des Irak-Krieges bildete Russland zusammen mit Deutschland und Frankreich eine Opposition zu den USA und Großbritannien. Für manchen Beobachter war die AntiKriegskoalition Berlin-Moskau-Paris der Beginn eines neuen europäischen Kapitels sowie der Anfang einer neuen Weltordnung. Deutschland und Frankreich emanzipierten sich 10 sicherheitspolitisch von den USA, was sie in Zeiten des Kalten Krieges was in Zeiten des Kalten Krieges nicht möglich gewesen wäre. Russland begann über Paris und Berlin in der europäischen Sicherheitspolitik eine eigenständige Rolle zu spielen, was in den neunziger Jahren als völlig ausgeschlossen betrachtet worden wäre. In der Folgezeit wurden die trilateralen Gipfel zwischen Russland, Deutschland und Frankreich fortgesetzt. In den USA und in den Staaten Mittelosteuropas wurde diese Entwicklung mit Besorgnis zu Kenntnis genommen. Nichtsdestotrotz nahm gerade die deutsche Russland-Politik immer strategische Konturen an. Als im November 2004 in der Ukraine die orangenfarbene Revolution ausbrach und Putin unter großen außenpolitisch Druck von Seiten des Westens geriet, weil Russland sich in einer neoimperialistischen Art und Weise wie niemals zuvor seit dem Zusammenbruch der UdSSR in die inneren Angelegenheiten eines Nachbarstaates eingemischt hatte, griff Schröder mehrmals zum Telefon, um seinen Freund Putin zur Mäßigung aufzurufen und vor einer Selbstisolation zu bewahren. 11 Als nach dem Sieg Viktor Juschtschenkos, die Ukraine damit anfing, ein Gegengewicht zu Russland in Osteuropa aufzubauen, hielt Schröder an seiner strategischen Partnerschaft zu Russland fest. Gegen alle Bedenken der eigenen Elite und des Auslands ließ er die ersten Bausteine für die geplante Energieallianz Russland – EU setzen. Er wandte sich gegen ukrainische Vorschläge, Russlands Rolle bei der künftigen Energieallianz einzuengen. Vehement verteidigte er Putin sogar in der heiklen JUKOS-Affäre. Europäische Flugzeugbauer von der EADS drängte er zu einer Zusammenarbeit mit Russland. Putin betreibt die Modernisierung Russlands auf drei strategischen Säulen: dem Energiekomplex, der Rüstungsindustrie und dem Transportwesen. Über die Steigerung von Öl- und Gaslieferungen nach Europa, Asien und sogar Amerika will Putin Russland als neue Energiesupermacht manifestieren und zu einer Alternative für die arabischen Länder am Persischen Golf in Fragen der globalen Energieversorgung festigen. Über den Rüstungskomplex soll der Hochtechnologiesektor in Russland gestärkt werden, mit dem Russland in einigen Jahren wieder konkurrenzfähig auf den Weltmärkten auftreten will. Russland ist aufgrund seiner 12 Geographie das Bindeglied zwischen der EU und Asien. Der massiv vorangetriebene Ausbau der Transportkapazitäten, Entwicklung neuer Flugkorridore und der Transitinfrastruktur allgemein soll Russland als strategische Brücke zwischen den beiden Kontinenten manifestieren und so Russland stärker in die Weltwirtschaft einbinden. In allen diesen drei strategischen Zweigen hat Deutschland inzwischen – mit Unterstützung der großen Politik – Fuß gefasst. Damit hat sich Berlin auf dem russischen Zukunftsmarkt wichtige Vorteile und politische Dividenden gesichert. 2. Deutschland: Russlands Modernisierungspartner Die Wirtschaftsbeziehungen sind das Aushängeschild der strategischen Freundschaft zwischen Deutschland und Russland.6 Deutschland ist Russlands wichtigster Handelspartner (11 Prozent des russischen Außenhandels). Russland steht auf der Liste deutscher Handelspartner nur auf IKB Deutsche Industriebank AG, Länderanalyse Russland Mai 2004; Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, Jahresbericht 2003; verband der Deutschen Wirtschaft in der Russischen Föderation, Jahresbericht 2003; Investitionsführer Russland 2004 FAZ-Institut; bfai, Wirtschaftslage Russland zur Jahresmitte 2004; www.bundesbank.de/download/ezb/monatsberichte/2004/200403mb_ezb_text.pdf. 6 13 Platz 16 (gleich nach Polen), doch kommen aus Russland fast 40 Prozent der deutschen Gas- und über 30 Prozent der Ölimporte. Die Energiezufuhren aus Russland nach Deutschland sollen in den nächsten Jahren verdoppelt werden. 7Deutschland ist das erste Land, dem Putin es ermöglicht hat, sich direkt in die Energieförderung einzukaufen. Wintershall avancierte erst kürzlich zum Partner des Gasgiganten GASPROM bei gemeinsamen Förderprojekten und Gaspipelinebau. Die Versorgung europäischer Gasmärkte soll durch den gemeinsamen Bau der Nord Europäischen Gaspipeline (NEGP) gefördert werden. Dem deutschen Energiekonzern EON gehören über 5 Prozent der GASPROM-Aktien. GASPROM und EON planen zusammen mit der Ukraine ein Gaskonsortium zu gründen, das die Gasförderung in Russland, den Gastransport nach Europa, die Stromerzeugung in Russland sowie den Ausbau der Infrastruktur zur Vermarktung von Erdgas und Strom in Europa auf eine gemeinsame Basis stellen soll. Für Deutschland ist Russland nach China der zweitgrößte Wachstumsmarkt. Investoren finden in Russland einen Markt 7 Roland Götz, Rußlands Erdöl und Erdgas drängen auf den Weltmarkt, in: SWP-Studie S 34 September 2004. 14 vor, der mit 145 Millionen Menschen mehr Einwohner hat als alle zehn der EU jüngst beigetretenen neuen Länder zusammen. Hinzu kommt, dass die Arbeitskosten mit 0.88 Euro pro Stunde deutlich niedriger sind als in den mitteleuropäischen Reformstaaten. Nach der EU-Osterweiterung ist Russland zu einem direkten Nachbarn der EU geworden. Stärker als andere EU-Länder setzt sich die Bundesrepublik für den Abbau von Visum-Barrieren zwischen der EU und Russland ein. Zwischen Berlin und Moskau wurden in dieser Hinsicht schon bilaterale Übereinkünfte erzielt, die für andere EU-Länder Modellcharakter bekommen könnten. Jahrelang haben deutsche Unternehmer auf das große Russlandgeschäft gewartet. Unter Präsident Putin scheint es eingetreten zu sein. Das russische Wirtschaftswachstum geht unaufhaltsam nach oben, Russland hat einen großen Anteil seiner Auslandsschulden zurückbezahlt, vor allem an Deutschland. Insgesamt steht Russland beim Pariser Klub noch mit gut 40 Milliarden Dollar in der Kreide. In den neunziger Jahren betrugen die Gesamtschulden noch 130 Milliarden Dollar. Größter Gläubiger bleibt Deutschland mit rund 20 Milliarden 15 Dollar, die Russland jedoch angesichts des hohen Energiepreises in einigen Jahren abbezahlt haben wird. Natürlich bleibt der hohe Ölpreis der wichtigste Wachstumsfaktor – er hält die Einkommen, Steuereinnahmen sowie die Investitionen dauerhaft in Schwung und hilft Russland die Auslandsschulden zurück zu bezahlen. Zugleich summieren sich Russlands Gold- und Valutareserven – Ende 2004 auf einen Rekordpegel von 100 Milliarden US-Dollar. Damit kann eine Wirtschaftskrise, wie zuletzt 1998, wenn nötig abgefedert werden. Der deutsch-russische Handelsumsatz erreichte 2004 die Rekordmarke von 30 Milliarden Euro.8 Im Vergleich zum Vorjahr wuchs er um 46 Prozent. Die Einfuhren aus Russland stiegen um satte 21.4 Prozent auf 16.2 Milliarden Euro. Der bilaterale Warenhandel ist vom Volumen her ausgeglichen, doch klafft die Struktur weit auseinander. Über drei Viertel aller Importe aus Russland entfallen auf Rohstoffe wie Erdöl und Erdgas sowie Eisen- und Stahlerzeugnisse. Sie machen 85 Prozent des russischen Exports nach Deutschland aus. 8 Folgenden Angaben aus: Christian Meier, Deutsch-Russische Wirtschaftsbeziehungen unter Putin. Praxis – Probleme – Perspektiven, SWP-Berlin, November 2004. 16 Die wichtigsten Importgüter aus Deutschland nach Russland sind dagegen Endprodukte: Maschinen und Autos. Vielen russischen Unternehmen ist klar, dass ihr technologischer Abstand zur westlichen Industrie 20 bis 30 Jahre beträgt. Sie entwickeln eine hohe Nachfrage nach Maschinen und Anlagen. Deutschland ist in dieser Hinsicht ein verlässlicher Partner. Die deutschen Ausfuhren nach Russland erhöhten sich 2004 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 25 Prozent (von 5.5 Milliarden auf 6.9 Milliarden Euro). Deutschland liefert heute ein Drittel aller nach Russland eingeführten Maschinen und Ausrüstungen. Russland selbst ist derzeit noch nicht in der Lage seine auf Energieexport orientierte Außenwirtschaft zu diversifizieren. Die deutschen Importe aus Russland betrafen hauptsächlich Energieund Rohstoffgüter und stiegen lediglich um 9.4 Prozent von 6.4 auf 7.0 Milliarden Euro an. Das Gesamtvolumen deutscher Investitionen betrug Anfang 2004 mehr als 10 Milliarden US-Dollar oder um die 20 Prozent der gesamten ausländischen Investitionen in Russland. Deutschland belegt heute vor den USA Platz 1 unter den Investoren in Russland. Doch den größten Teil der Investitionen machen 17 Portofolio-Investitionen (Wertpapieranlagen, Finanzderivate, Kreditgewährungen) aus; die von Deutschland direkt akkumulierten Kapitalanlagen nach Russland belaufen sich seit dem Zusammenbruch der UdSSR vor fünfzehn Jahren auf nur 2 Milliarden US-Dollar (12 Prozent der gesamten ausländischen Direktinvestitionen in Russland) und sind nur ein Bruchteil dessen, was die deutsche Wirtschaft in Mittelosteuropa investiert hat. Auch wenn derzeit noch weniger als 1 Prozent der deutschen Direktinvestitionen nach Russland fließen, ist doch ersichtlich, dass deutsche Investoren ihr Engagement ersichtlich ausbauen. Sie erkennen zunehmend die Chancen des russischen Marktes und sind auch tatsächlich bereit zu investieren. Der Löwenanteil der deutschen Investitionen fließt in den Rohstoffsektor, in den Handel und die öffentliche Versorgung. Da im Handelsbereich die Rentabilität am größten ist, sind vor allem deutsche Groß- und Einzelhandelsunternehmen wie IKEADeutschland, METRO, REWE und OBI auf Expansionskurs. Deutschland ist Spitzenreiter bei den in Russland ansässigen ausländischen Firmenvertretungen. Über 2700 deutsche Unternehmen, darunter 1350 russisch-deutsche 18 Gemeinschaftsunternehmen (joint-venture) sowie 800 Firmen mit 100 Prozent deutschem Eigenkapital arbeiten auf dem russischen Markt. Die Zahl der deutschen Firmen in Moskau und Sankt Petersburg wächst laut Angaben der deutschen Wirtschaft jährlich um 20 Prozent. Immer häufiger errichten deutsche Firmen Produktionsstätten in Russland oder treffen Vorbereitungen für den Einstieg in den russischen Markt. Der Schwerpunkt liegt auf dem konsumnahen Bereich – wie zum Beispiel Nahrungsmittel, Kosmetik, Waschpulver, Baumaterialien, Möbel, Kfz-Zulieferer – aber auch auf Bereichen wie Elektrotechnik/Energetik, Telekommunikation, Landmaschinenbau. Die deutschen Firmen verbindet eine traditionell enge Beziehung mit der Moskauer Stadtregierung unter Jurij Luschkow. Letzterer sorgt sich für den Aufbau einer umfassenden mittelständischen Infrastruktur in der Hauptstadt. Wirtschaftlich zeiht Moskau tatsächlich fast drei Viertel des Kapitals des Landes an, fast alle ausländischen Großunternehmen haben ihren Hauptsitz an der Moskwa. Wer Geschäfte mit der russischen Industrie machen oder eine Handelskette eröffnen will, kommt an der kaufkräftigen 19 Metropole nicht vorbei. 15 Prozent der Familien verfügen hier über ein monatliches Einkommen von 15000 Dollar. Deutsche Unternehmen verstärken allerdings auch ihre Präsenz in den Regionen Russlands. Es gibt außerhalb der Metropole inzwischen Gebiete mit hoher Kaufkraft, die dann interessant werden, wenn sich dort kooperative Verwaltungen, Planungs- und Rechtssicherheit sowie qualifiziertes Fachpersonal findet. Die russische Wirtschaft versucht in Deutschland auch Fuß zu fassen. Während in den neunziger Jahren kaum russisches Kapital als Direktinvestitionskapital in Deutschland registriert wurde, beläuft heute die Investitionstätigkeit russischer Firmen in Deutschland schon 1 Milliarde Euro. Um die 100 Firmen aus Russland sind in Deutschland registriert. Während die russischen Firmen oft hilflos auf dem deutschen Markt agieren und aufgrund deutscher Sozialgesetze und Bürokratie vor größeren Aktivitäten zurückschrecken, ist die gesamtdeutsche Wirtschaft in Russland seit Jahren gut organisiert und vernetzt. Der Verband der Deutschen Wirtschaft in der Russischen Föderation zählt ca. 360 in Russland tätige 20 deutsche Unternehmen zu seinen Mitgliedern. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) ist in Moskau durch die „Delegation der Deutschen Wirtschaft“ vertreten. Verband und Delegation sind in Moskau gemeinsam im „Haus der Deutschen Wirtschaft“ untergebracht, dass außerdem noch eine Reihe von Firmenrepräsentanzen beherbergt. Die deutsche Wirtschaft in Russland engagiert sich auch über den rein wirtschaftlichen Bereich hinaus und stellt in großem Umfang Mittel für kulturelle und wohltätige Zwecke zur Verfügung. In Russland tätige Firmen haben den „Russland-Fond der Deutschen Wirtschaft“ ins Leben gerufen. Dieser Fond finanziert Stipendien für russische Studenten, die in Deutschland Jura oder Wirtschaft studieren. Die deutschen Unternehmer liebäugeln traditionell mit dem russischen Markt. Bei allen Umfragen zählt bei den deutschen Firmenvertretern das langfristige Engagement. Deutsche Unternehmer interessieren sich dabei auch für politische Prozesse in Russland und an der russischen Kultur. Ein Viertel der heute auf dem russischen Markt tätigen Firmen waren schon in Zeiten der Sowjetunion aktiv auf dem russischen Markt. Sie verfolgen die klare Strategie einer langfristigen systematischen Markterschließung unter einem mittelfristigen massiven 21 Eigenengagement bei kurzfristiger Mitnahme möglichst vieler Einzelprojekte. In den neunziger Jahren beurteilten deutsche Unternehmen die Lage in Russland noch als kritisch. Zwei Drittel der Befragten äußerten ihre Besorgnis gegenüber der Mafia, die noch vor den staatlichen und privatwirtschaftlichen Instanzen das Sagen im Land hätte. Der Mangel an „law and order“ wurde als größtes Problem benannt. Die deutschen Unternehmer zeigten ein impliziertes Verlangen nach systematischer Durchsetzung von Recht und Ordnung. Unter diesen Voraussetzungen wurde der Aufstieg von Putin mit größter Aufmerksamkeit verfolgt. Die Befragten zeigten große Unsicherheit über die Tragfähigkeit eines rein privatwirtschaftlichen Engagements in Russland. Der Ruf nach einem starken russischen Ordnungsstaat sowie nach staatlicher Förderung privater westlicher Firmen beim Russlandgeschäft war nicht zu überhören. Nach Vertriebsfirmen, Repräsentanzen oder ProduktionsTöchtern westlicher Firmen drängen nun auch Architekten-, Ingenieurs- oder Entwicklungsbüros und andere Dienstleistungsfirmen nach Russland. Paradebeispiele sind 22 Nahrungsmittelhersteller wie EHRMANN, ONKEN, HOCHLAND, CAMPINA, RITTER SPORT, die eigene Produktionen vor Ort aufbauen. Absolute Wachstumsmotoren waren die Produktion von Mähdreschern (plus 45 Prozent), wo deutsche Mittelständler wie CLAAS bereits mit eigener Produktion vertreten sind. Mittelständler generieren inzwischen in Russland mehr Umsatz als auf dem deutschen Heimatmarkt. Die Gipswerke KNAUF haben es längst zur Marktführerschaft bei ihren Baustoffen in Russland geschafft, Burda ist zum größten Verlagshaus Russlands avanciert. Um den Markteintritt für kleinere und mittlere Unternehmer zu erleichtern, hat der Verband der Deutschen Wirtschaft ein deutsch-russisches Mittelstandshaus initiiert. Wenn man heute die zahlreichen Expertenmeinungen über die langfristigen Perspektiven der russischen Wirtschaftspolitik zu Grunde nimmt, dann scheint die wirtschaftliche Lage Russlands besser denn je zu sein. Die russische Wirtschaft gehört heute zu den am schnellsten wachsenden der Welt. In zwei Jahren will Russland Mitglied in der WTO werden. Eine Herausforderung besteht daher in der Diversifizierung der eigenen Volkswirtschaft, etwa durch den Ausbau der Zusammenarbeit außerhalb des 23 Sektors Bodenschätze im Rahmen einer ständigen Verbesserung und Modernisierung langfristig interessanter Bereiche, wie Neue Technologien, Konsum- und Finanzbereiche, nicht zuletzt kommunale Verwaltungsbereiche. Auf diesen und anderen gebieten bietet Russland Deutschland Aussicht auf Erfolg für strategische Investitionen. Die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen sind besser als die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der gesamten EU und Russland. Zahlreiche bilaterale Gipfel sind ein deutlicher Beweis dafür, dass beide Eliten und Gesellschaften näher zusammen rücken wollen. Auch die regelmäßigen Treffen des Petersburger Dialogs – eines zivilgesellschaftlichen Forums beider Länder – beinhalten eine wirtschaftliche Komponente. Laut Schröder dient die deutsch-russische Freundschaft dem Ausbau der Beziehungen der gesamten EU zu Russland. Deutschland ist sogar bereit mit Russland in den Feldern zu kooperieren, die vom sicherheitspolitischen Standpunkt noch als sensibel angesehen werden, wie etwa im Militärtechnologiebereich und Navigations- und Satellitentechnik. Deutschland ist 24 interessiert, seine kommerziellen Satelliten mit russischen Trägerraketen ins All zu befördern. Bundeskanzler Schröder hat sich in der JUKOS-Affäre genauso an die Seite Putins gestellt, wie zuvor im Tschetschenien-Konflikt. Den kritischen deutschen Medien riet er ihre Berichterstattung zu relativieren. Um die Energieallianz mit Russland voranzutreiben, führte Schröder persönlich Gespräche mit deutschen und internationalen Energiekonzernen, um ihnen die Ängste vor Russland zu nehmen. Auf sein Betreiben hin wurde ein Bankkonsortium auf die Beine gestellt, das deutsch-russische Projekte im Energiebereich finanzieren sollte. Schröder unterstützt Putins Idee, den Gasmonopolisten GASPROM zum führenden europäischen transnationalen Konzern zu machen. Um Russlands lang ersehnte Integration in die Weltwirtschaft zu beschleunigen, trat Schröder an Russland den deutschen Platz für die Abhaltung des G-8 Gipfels im Jahre 2006 ab. Damit wurde Berlin seiner selbst auferlegten historischen Anwaltsrolle bei der Unterstützung der Heranführung Russlands an den Westen mehr als gerecht. 25 Natürlich gibt es im deutsch-russischen Wirtschaftsverhältnis auch Probleme. Die unter dem Begriff „Hermes-Bürgschaft“ geläufige Absicherungsmöglichkeit für deutsche Exporte nach Russland bleibt unabdingbarer Bestandteil deutscher Wirtschaftsaktivitäten im Osten. Die deutschen Wirtschaftsvertreter klagen nach wie vor über größere Rechtsunsicherheiten in Russland. Nach wie vor gibt es in höchsten Kremkreisen Unwillen, deutsche und andere ausländische Konzerne zu Mehrheitseigentümern in strategisch wichtigen Wirtschaftszweigen zu machen. Die Übernahme von Power Machines (Silovye maschiny) durch SIEMENS scheiterte daran, dass die russische Regierung keine ausländische Mitsprache im sensiblen Atomindustriebereich dulden möchte. Deutschland versteht sich als wichtigster Modernisierungspartner Russlands. Das Erreichen des Ziels eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes ist untrennbar mit dem Erfolg des russischen Reformprozesses verbunden. Der wiederum hängt von der Aufnahme europäischer Standards durch Russland ab. Russland braucht für seine Modernisierung gezielte Anreize, die in der Tat durch eine gemeinsame Erschließung der Naturressourcen Sibiriens und des fernen Ostens, die zum Aufbau eines 26 gemeinsamen Energiesystems zwischen der Atlantikküste und der Pazifikküste führen könnte, geschaffen würde. 3. Zukunftsperspektiven Mit den Staaten der EU wird sich Russland in den nächsten Jahren schwer tun. Die unterschiedlichen Sichtweisen in Europa und Russland auf den Krieg in Tschetschenien, der nicht beendeten Streit um den Visumsverkehr in die Enklave Kaliningrad, bestehende Handelsbarrieren, die eine Verlängerung des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens zwischen der EU und Russland für das Jahr 2007 gefährden, das Zögern der Brüsseler Bürokratie, mit Russland einen gemeinsamen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Raum aufzubauen, mögliche Rivalitäten auf dem postsowjetischen Raum, die Zunahme mittelosteuropäischer Reminiszenzen gegenüber Russland, die übertriebene Angst des Westens vor der Kriminalität aus dem Osten – all dies sind Faktoren, die innerhalb der russischen Elite und Gesellschaft eine zunehmende 27 negative Stimmung gegenüber der EU als Ganzes erzeugen könnten.9 Das angehäufte Vertrauen und das positive Kapital der deutschrussischen Beziehungen könnten aber helfen, Probleme zu lösen. Wenn man als Leitfaden für das europäische Verhältnis zu Russland die so genannte „Vier Gemeinsame Räume Strategie“ zu Grunde legt, so hat Berlin auf allen vier Feldern eine Pionier- oder Anwaltsrolle übernommen. Zusammen mit Frankreich baut Berlin zügig einen Sicherheitsdialog mit Moskau aus, der Russland langfristig an die Sicherheitsarchitektur Europas binden soll. Deutschland wird zwar im Rahmen dieser Bemühungen niemals die Transatlantischen Bindungen zu den USA in Frage stellen wollen, doch kann durchaus davon gesprochen werden, dass nach den Differenzen während des Irak-Krieges, Deutschland mit Frankreich einer Emanzipierung in europäischen Sicherheitsfragen von den USA durchaus offen gegenüber stehen. Russland sieht Deutschland (und Frankreich) als strategische Alexander Motyl, Blair Ruble, Lilia Shevtsova, „Integrating Russia into the West: The Challenges Before the United States, Russia, and Europe,“ in: Alexander Motyl, Blair Ruble, Lilia Shevtsova, “Russia’s Engagement with the West. Transformation and Integration in the Twenty-First Century,” New York 2005, 295 ff 9 28 Partner bei der Realisierung der Idee von einer multipolaren Weltordnung. Nach der EU-Osterweiterung vom Mai 2004 durchläuft die gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik eine Zäsur. Wo früher nur die von den skandinavischen Ländern geförderte EU-Politik der „Nördlichen Dimension“ die europäischen Blicke auf Russland und den Osten warf, versuchen heute die neuen Mitgliedsländer der EU, allen voran Polen und die Baltischen Länder, eine neue „EU-Ostpolitik“ auf die Beine zu stellen, die sich in ihrer Philosophie und Konturen von der traditionellen deutschen Ostpolitik und auch der französischen Außenpolitik gegenüber Russland unterscheidet. Deshalb besteht die Gefahr, dass der Faktor Russland die Europäische Außen- und Sicherheitspolitik spalten könnte. Die unterschiedliche Auffassung zum Verhältnis der EU zu Russland äußerte sich nicht zuletzt im Vorfeld der 60 Jahrestagsfeiern des Sieges der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg über Hitler-Deutschland. Schröder nahm eine Einladung Putins zu den Feierlichkeiten nach Moskau dankend an. In den Hauptstädten mittelosteuropäischer Staaten bedeutet das Jahr 29 1945 den Beginn einer vier Jahrzehnte währenden Okkupationsperiode durch das kommunistische Russland. Wie weit kann eine trilaterale sicherheitspolitische Kooperation Deutschlands mit Russland und Frankreich gehen? Sie wird sich zunächst einmal auf militärtechnologische Fragen konzentrieren, Probleme der Energiesicherheit sowie eines Raketenabwehrschirms für Europa ansprechen und eine Einbindung Russlands in eine veränderte NATO anstreben. Des Weiteren wird Deutschland versuchen, die russische Flugzeugindustrie an die europäische heranzuführen. Innerhalb der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird sich Berlin für eine konstruktive EU-Ostpolitik Richtung Moskau einsetzen, die auf Rivalitäten im postsowjetischen Raum verzichten und Moskau Schritt für Schritt zu einer gesamteuropäischen Verteidigungspolitik heranführen soll. Auf wirtschaftlichem Gebiet wird sich die Bundesregierung für den Aufbau einer Freihandelszone mit Russland einsetzen. Berlin wird für mehr Freizügigkeit und den Abbau bestehender Handelsschranken einstehen. Die Energieallianz, die Deutschland für Europa anstrebt, ist auf eine Integration des Eurasischen 30 Wirtschaftsraumes mit dem EU-Energiemarkt ausgerichtet. Die Interessen der Transitländer wie Polen und die Ukraine werden respektiert, aber Berlin wird in seiner Strategie nicht gegen russische Energieinteressen handeln. In Fragen der Rechtssicherheit dürfte Deutschland keine Mühen scheuen durch Angebote der Kooperation in allen Bereichen, auch auf dem Feld der Geheimdienstzusammenarbeit, die Grundlagen für einen „gemeinsamen Raum für innere Sicherheit“ zwischen der EU und Russland zu schaffen. Der „vierte gemeinsame Raum“ für Fragen der Kultur, Bildung, Information ist zwischen Deutschland und Russland längst in konkreter Planung. Wenn man von den Bürgern der GUS-Staaten absieht, reisen Deutsche von allen Ausländern am häufigsten in die Russische Föderation ein (2004: 250.000 Einreisende). Trotz anhaltender Spannungen zwischen Berlin und Moskau in Fragen der Rückführung der von der Roten Armee aus dem Nachkriegsdeutschland entwendeten deutschen Kulturgüter, zeigen die „Kulturjahre“ Deutschlands in Russland (2004) und Russlands in Deutschland (2003), die Schwerpunkte Russland auf den deutschen Messen (Frankfurter Buchmesse, Hannover 31 Messe), sowie die Petersburger Dialoge, dass zwischen beiden Ländern der Kulturaustausch floriert. Nicht ohne deutsche Patronage ist Russland seit Kurzem in den Bologna-Prozess integriert worden, der die Vorstufe zu einem gemeinsamen Bildungsraum schaffen könnte. Kein westliches Land setzt sich für die Unterstützung der Ausbildung einer Zivilgesellschaft in Russland so zielstrebig ein, wie Deutschland mit der Tätigkeit seiner diversen Stiftungen und Bildungseinrichtungen. Im Jahre 2004 wurde in Hamburg eine deutsch-russische Jugendstiftung gegründet, die den Jugendaustausch auf eine breite Basis stellen und zur langfristigen Völkerverständigung beitragen soll. Im Rahmen des Petersburger Dialogs existiert auch eine Zukunftswerkstatt, deren Schwerpunkt sich auf den Dialog der heranwachsenden künftigen Entscheidungsträger in beiden Ländern konzentriert. 10 Inwieweit das heutige deutsch-russische Verhältnis auf der festen Männerfreundschaft zwischen Schröder und Putin beruht und 10 Siehe zum Petersburger Dialog: www.petersburgerdialog.de 32 durch eine mögliche Abwahl der rot-grünen Regierung in Berlin sowie durch einen anderen Kremlchef nach Putins Weggang 2004 verändert werden kann ist eine Frage, die 2006-2007 durchaus aktuell auf der Tagesordnung erscheinen könnte. Auch in Frankreich wird ein neuer Präsident sein Verhältnis zum nächsten Kremlchef neu definieren müssen. Im Grunde genommen, war die Beziehung Schröder – Putin die Fortsetzung der strategischen Freundschaft, die Kohl und Jelzin in den neunziger Jahren gepflegt hatten. Aus dieser historischen Perspektive betrachtet und angesichts der vielen konkreten Bausteine, die in den beidseitigen Beziehungen von den Eliten beider Länder in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts gelegt wurden, kann man durchaus davon ausgehen, dass auch der nächste Bundeskanzler (oder Kanzlerin) einen ähnlich wichtigen strategischen Draht zum jeweiligen russischen Präsidenten haben wird.11 Es sei denn, Russland würde von seinem vor 15 Jahren eingeschlagenen Weg der Europäisierung und Annäherung an den Westen abweichen, auf eine Integration in die internationale 11 Wolfgang Schäuble, „“Das deutsch-russische Verhältnis“, in: Erich Fritz (Hg), „Russland unter Putin: Weg ohne Demokratie oder russischer Weg zur Demokratie“, Oberhausen 2005, S. 173 ff. 33 demokratische Staatengemeinschaft verzichten und den Weg der Isolation und Konfrontation gehen. Dazu gibt es heute keinen wirklichen Anlass. 34