Nr. 18 - Juli 2009 - Asklepios Kliniken
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Nr. 18 - Juli 2009 - Asklepios Kliniken
med tropole Nr. 18 Juli 2009 EINE GEFÄHRLICHE KOMBINATION: Protonenpumpeninhibitoren + Clopidogrel WER BIN ICH – UND WENN JA, WIE VIELE? Dissoziative Identitätsstörungen KOPF-HALS-TUMORE Moderne chirurgische Konzepte Aktuelles aus der Klinik für einweisende Ärzte Editorial Impressum Liebe Leserinnen und Leser, Redaktion Jens Oliver Bonnet (verantw.) Prof. Dr. Dr. Stephan Ahrens Prof. Dr. Christian Arning PD Dr. Oliver Detsch Dr. Birger Dulz PD Dr. Siegbert Faiss Dr. Christian Frerker Dr. Annette Hager Dr. Susanne Huggett Prof. Dr. Uwe Kehler Dr. Jürgen Madert Dr. Ulrich Müllerleile Dr. Ursula Scholz PD Dr. Gunther Harald Wiest Prof. Dr. Gerd Witte Cornelia Wolf Herausgeber Asklepios Kliniken Hamburg GmbH Unternehmenskommunikation Rudi Schmidt V. i. S. d. P. Rübenkamp 226 22307 Hamburg Tel. (0 40) 18 18-82 66 36 Fax (0 40) 18 18-82 66 39 E-Mail: medtropole@asklepios.com Auflage: 15.000 Erscheinungsweise: 4 x jährlich ISSN 1863-8341 Fortschritt in der Medizin entsteht durch Fortbildung. Ein Umstand, dem auch die 18. Ausgabe der medtropole gerecht werden möchte. Im vorliegenden Heft werden unterschiedliche Themen der Medizin, denen wir mitunter täglich begegnen, diskutiert. Arzneimittelwechselwirkungen spielen eine immer größere Rolle in unserer täglichen Praxis. Frau Dr. Liekweg und Privatdozent Dr. Faiss machen auf die gefährliche Kombination von Protonenpumpeninhibitoren und Clopidogrel aufmerksam. Professor Dr. Schwenk gibt einen Überblick über die „Fast-track“-Rehabilitation, eine zukunftorientierte Behandlungsoption. Der plötzliche Herztod ist ein nicht seltenes Ereignis, man erinnere sich an die Berichte über zwei unserer besten Sportler, die in diesem Jahr akut in jungen Jahren starben. Dr. Tönnis berichtet über eine erfolgversprechende neue Technik, das „Magnetic Field Imaging“. Im nächsten Artikel diskutiert Frau Dr. Dr. Moldzio Dissoziative Identitätsstörungen, psychische Erkrankungen, bei denen die drei wesentlichen integrierenden Funktionen des Bewusstseins nachhaltig gestört sind. Neurologische Erkrankungen verursachen häufig Komplikationen im Bereich des Gastrointestinaltrakts – und umgekehrt. Privatdozent Dr. Christl und Professor Dr. Töpper geben hierzu einen interessanten Einblick. Pseudarthrosen, Pathophysiologie und Therapie sind das Thema der Übersichtarbeit von Professor Dr. Schildhauer. Dr. Külkens beschreibt moderne chirurgische Konzepte der Kopf-Hals-Tumore. Zwei Arbeiten aus der Neurologie bzw. Onkologie, zur interdiziplinären Versorgung neuroonkologischer Patienten von Dr. Kämper et al., sowie zum Schlaganfall von Professor Dr. Arning runden die 18. Ausgabe ab. Ich hoffe, dass sie Ihr Interesse findet und verbleibe mit freundlichen Grüßen Ihr Prof. Dr. Christian Sander Ärztlicher Direktor der Asklepios Klinik St. Georg Inhalt 676 | PHARMAKOLOGIE/INNERE MEDIZIN Eine gefährliche Kombination: Protonenpumpeninhibitoren + Clopidogrel 678 | CHIRURGIE „Fast-track“-Rehabilitation 682 | KARDIOLOGIE Magnetic Field Imaging 684| PSYCHIATRIE Dissoziative Identitätsstörungen S. 682 S. 684 688 | NEUROLOGIE / GASTROENTEROLOGIE Gehirn und Darm – Neurogastroenterologie 691 | UNFALLCHIRURGIE Pseudarthrosen: Pathophysiologie und Therapie 694 | PERSONALIA 695 | HALS-NASEN-OHRENHEILKUNDE Kopf-Hals-Tumore – moderne chirurgische Konzepte 698 | NEUROCHIRURGIE UND ONKOLOGIE Interdisziplinäre Versorgung neuroonkologischer Patienten 700 | NEUROLOGIE Schlaganfall – ein Notfall 704 | GESCHICHTE DER MEDIZIN Hilfe für Schwerkranke – die Geschichte der Intensivmedizin S. 700 Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009 Eine gefährliche Kombination: Protonenpumpeninhibitoren + Clopidogrel Priv.-Doz. Dr. Siegbert Faiss, Dr. Andrea Liekweg Eine gemeinsame medikamentöse Therapie mit PPI und Clopidogrel als einem der vor allem in Kardio- und Neurologie verwendeten Thrombozytenaggregationshemmer galt bis vor kurzem als völlig unproblematisch. Die klinische Relevanz der Arzneimittelinteraktionen beider Substanzgruppen war bislang wenig bekannt. Doch in den vergangenen Monaten wurden mehrere klinische Studien publiziert, die ganz erhebliche Arzneimittelinteraktionen dieser beiden Substanzgruppen postulieren und das künftige Management im gemeinsamen Umgang mit PPI und Clopidogrel nachhaltig verändern werden. Protonenpumpeninhibitoren (PPI, z. B. Omeprazol, Esomeprazol, Pantoprazol) und Thrombozytenaggregationshemmer (z. B. ASS, Clopidogrel) zählen seit einigen Jahren zu den weltweit meistverordneten und zugleich umsatzstärksten Arzneimittelgruppen. In Deutschland hat sich die Zahl der verordneten definierten Tagesdosen an PPI in den vergangenen 10 Jahren versechsfacht.[9] Dabei stehen die Omeprazol-Generika im Vordergrund. PPI werden vor allem zur Therapie säurebedingter gastrointestinaler Erkrankungen wie Ulcera ventriculi et duodeni, gastroösophagealer Refluxerkrankungen sowie in Kombination mit Antibiotika zur Helicobacter-Eradikation eingesetzt. Darüber hinaus werden sie leitliniengerecht [2] auch bei Patienten mit erhöhtem gastrointestinalen Blutungsrisiko, insbesondere ab einem Lebensalter von 60 Jahren, prophylaktisch in der Kombination mit nichtsteroidalen Antirheumatika, Corticosteroiden und bei der Therapie mit oralen Antikoagulantien eingesetzt. Clopidogrel findet Einsatz bei Patienten mit Herzinfarkt, ischämischem Schlaganfall 676 oder nachgewiesener peripherer arterieller Verschlusskrankheit. Auch Patienten mit akutem Koronarsyndrom profitieren von diesem Thrombozytenaggregationshemmer (ADP-Rezeptorantagonist). Kardiologische und neurologische Therapieleitlinien differenzieren die Patientenkollektive, die von Clopidogrel als Monotherapie, in Kombination mit Acetylsalicylsäure oder von Acetylsalicylsäure allein profitieren. Auch der notwendige Anwendungszeitraum wird indikationsabhängig beschränkt. Anfang 2008 beschrieb erstmals eine Studie eine Interaktion zwischen Clopidogrel und Omeprazol bei Patienten, die im Anschluss an eine Stent-Implantation mit einer Kombination von ASS und Clopidogrel behandelt wurden.[4] Dabei zeigte sich, dass die Patienten in der Omeprazol-Gruppe gegenüber der Kontrollgruppe einen verminderten Clopidogrel-abhängigen Effekt erreichten, die Aggregationshemmung durch Clopidogrel also schwächer ausgeprägt war (Abnahme des Platelet Reactivity Index in der Placebo-Gruppe um 43,3 %, in der Omeprazol-Gruppe um 32,6 %). Die Autoren schreiben diesem Effekt eine große klinische Bedeutung zu, da der zur Risikoabsenkung geforderte PRI-Wert von < 50 % von 61 % der mit Omeprazol behandelten Patienten nicht mehr erreicht wurde (vs. 27 % in der Placebo-Gruppe). Eine mögliche Erklärung ist, dass Clopidogrel als inaktives Prodrug verabreicht wird und für die Aktivierung auf das CytochromP450-Subenzym 2C19 angewiesen ist. Omeprazol kann als Cytochrom-P450 2C19-Inhibitor bei gleichzeitiger Gabe die Umwandlung von Clopidogrel in die aktive Form hemmen. Die Cytochrom-P450Enzyme unterliegen zudem einer erheblichen genetischen Variabilität. Bei drei bis fünf Prozent der Bevölkerung ist Cytochrom-P450-2C19 inaktiv, was in einer langsameren Metabolisierung resultiert. Diese Erkenntnis schlägt sich jedoch bislang nicht in konkreten Therapieempfehlungen nieder, da die Identifizierung der „Langsam-Metabolisierer“ im klinischen Alltag bislang noch nicht möglich ist. Nach Daten aus Kohortenstudien sind diese CYP-2C19-Varianten mit verringerten Blutspiegeln des aktiven Clopidogrelmetaboliten und gesteigerter Plättchenaggregation verbunden.[3,8] Neben genetischen Variabilitäten, die eine Clopidogrel-Resistenz Pharmakologie/Innere Medizin erklären können, sind aber auch extrinsische Ursachen wie Non-Compliance und Arzneimittelwechselwirkungen in Erwägung zu ziehen. Wirkstoffe, die dieses Cytochrom hemmen oder um die Bindungsstelle konkurrieren, behindern die Umwandlung in den aktiven Metaboliten und schwächen die Clopidogrel-Wirkung. Hierzu gehören einige Protonenpumpenhemmer (Omeprazol, Esomeprazol, Lansoprazol). In einer weiteren klinischen Studie zur gleichzeitigen Gabe von Pantoprazol und Clopidogrel wurde zwischen diesen beiden Substanzen keine Interaktion beobachtet.[10] Die mögliche Erklärung hierfür ist, dass Pantoprazol eine 10-fach geringere Affinität zum Cytochrom Subenzym 2C19 hat als Omeprazol. Pantoprazol wird darüber hinaus vorrangig über das Cytochrom (CYP) 2C9 verstoffwechselt und interagiert daher nicht mit dem über CYP 2C19 in seinen aktiven Metaboliten überführten Clopidogrel.[7] Seit November letzten Jahres wurden nun auch bereits mehrere Fall-Kontroll-Studien publiziert, die an großen Patientenkollektiven die klinische Auswirkung des Clopidogrel-inhibierenden Effekts von Protonenpumpenhemmern untersuchten: Eine Ende 2008 erschienene Studie bezieht sich auf Daten von 16.690 Patienten einer OnlineApotheke und ergab für die Gruppe der Clopidogrel-Patienten, die zusätzlich einen PPI bekamen, innerhalb eines Jahres ein um 50 Prozent höheres relatives Risiko für schwere kardiovaskuläre Ereignisse.[1] Bei einer Auswertung von 8.205 Patienten einer US-Veteranenklinik erreichten 29,8 % der Patienten, die PPI zusammen mit Clopidogrel einnahmen, den Endpunkt Tod oder Re-Hospitalisierung. In der Kontrollgruppe waren es nur 20,8 %.[5] Wie alle FallKontroll-Studien unterliegen auch diese Arbeiten entsprechenden Limitationen. Außerdem wurde in den Auswertungen der Patientendaten nicht nach den einzelnen PPI differenziert. Eine aktuelle kanadische Studie[6] beschreibt nun erstmals eine differenzierte Herangehensweise an diese Fragestellung, indem der Einfluss von PPI auf die Häufigkeit von Reinfarkten bei Koronarpatienten unter Clopidogrel-Therapie untersucht wird. In die Fall-Kontroll-Studie wurden in den Jahren 2002 – 2007 insgesamt 13.636 Patienten eingeschlossen, die nach einem akuten Herzinfarkt Clopidogrel und als Magenschutz einen Protonenpumpenhemmer erhielten. Im Anschluss wurde die Reinfarktrate der folgenden 90 Tage beobachtet. Insgesamt 734 Patienten erlitten im Beobachtungszeitraum einen Reinfarkt, der Vergleich mit 2.057 Kontrollpatienten brachte ein überzeugendes Ergebnis: Die Reinfarktrate war unter allen Protonenpumpenhemmern bis auf Pantoprazol signifikant erhöht. Das Risiko stieg unter Omeprazol, Rabeprazol oder Lansoprazol um 40 Prozent, während es unter Pantoprazol unverändert blieb. Literatur [1] Aubert RE, Epstein RS, Teagarden JR, et al. Proton pump inhibitors effect on clopidogrel effectiveness: The Clopidogrel Medco Outcomes Study. Circulation. 2008; 118: S_815. [2] Fischbach W, Malfertheiner P, Hoffmann JC, et al. S3Leitlinie „Helicobacter pylori und gastroduodenal ulcer disease“. Z Gastroenterol. 2009 Jan; 47(1): 68-102. [3] Frere C, Cuisset T, Morange PE, et al. Effect of cytochrome p450 polymorphisms on platelet reactivity after treatment with clopidogrel in acute coronary syndrome. Am J Cardiol. 2008 Apr 15; 101(8): 1088-93. [4] Gilard M, Arnaud B, Cornily JC, et al. Influence of omeprazole on the antiplatelet action of clopidogrel associated with aspirin: the randomized, double-blind OCLA (Omeprazole CLopidogrel Aspirin) study. J Am Coll Cardiol. 2008 Jan 22; 51(3): 256-60. [5] Ho M, Maddox T, Wang L, et al. Risk of Adverse Outcomes Associated With Concomitant Use of Clopidogrel and Fazit Proton Pump Inhibitors Following Acute Coronary Syndrome. JAMA 2009; 301(9): 937-44. Der sehr breite Einsatz von PPI insbesondere bei der Prophylaxe von NSARbedingten Schädigungen sollte überdacht werden. Die 2C19 Interaktion kann neben der Clopidogrel-Wirkung auch die Wirksamkeit anderer Arzneimittel (z. B. Diazepam, Phenytoin, Cyclosporin) verändern. Der Einsatz von Ranitidin in der Prophylaxe NSAR-bedingter Schädigungen sollte gegebenenfalls erwogen werden. CAVE! Cimetidin ist hier keine Option, da es ebenfalls Cytochrom-P450-2C19 inhibiert! Besteht weiter eine Indikation für einen PPI, sollte Pantoprazol überall dort eingesetzt werden, wo eine Cytochrom-P4502C19-vermittelte Interaktion mit anderen Arzneimitteln möglich ist. Beim Einsatz von Clopidogrel in Kombination mit einem PPI ist daher Pantoprazol den anderen PPI (Omeprazol, Esomeprazol, Lansoprazol) vorzuziehen. Ist die gleichzeitige Gabe eines Thrombozytenaggregationshemmers und eines PPI erforderlich, ist auch zu prüfen, inwieweit die Monotherapie mit Acetylsalicylsäure dem Patienten einen ausreichenden Schutz bietet, da hier keine Interaktionsgefahr besteht. Interessenkonflikt: Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht. [6] Juurlink DN, Gomes T, Ko DT, et al. A populationbased study of the drug interaction between proton pump inhibitors and clopidogrel. CMAJ 2009; 1 80(7): 713-8. [7] Lau WC, Gurbel PA. The drug-drug interaction between proton pump inhibitors and clopidogrel. CMAJ. 2009; 180(7): 699-700. [8] Mega J, Close S, Wiviott S, et al. Cytochrome P-450 Polymorphisms and Response to Clopidogrel. N Engl J Med. 2009; 360(4): 354-62. [9] Mössner J. In: Schwabe U, Paffrath D. Arzneiverordnungsreport 2008; Kapitel 32: 661-90. [10] Siller-Matula JM, Spiel AO, Lang IM, Kreiner G, Christ G, Jilma B. Effects of pantoprazole and esomeprazole on platelet inhibition by clopidogrel. Am Heart J. 2009 Jan; 157(1): 148.e1-5. Kontakt Priv.-Doz. Dr. Siegbert Faiss III. Med. Abteilung (Gastroenterologie/Hepatologie) Tel. (0 40) 18 18-82 38 10 Fax (0 40) 18 18-82 38 19 E-Mail: s.faiss@asklepios.com Dr. Andrea Liekweg Krankenhausapotheke der Asklepios Kliniken Hamburg GmbH Asklepios Klinik Barmbek Rübenkamp 220, 22291 Hamburg Tel. (0 40) 18 18-82 64 72 E-Mail: a.liekweg@asklepios.com 677 Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009 „Fast-track“-Rehabilitation Optimierte perioperative Behandlung zur Beschleunigung der Genesung und Vermeidung allgemeiner Komplikationen Prof. Dr. Wolfgang Schwenk Die perioperative Behandlung folgt in weiten Bereichen der operativen Medizin traditionellen Vorstellungen, ohne die Erkenntnisse moderner wissenschaftlicher Untersuchungen zu berücksichtigen. Die Kombination von Behandlungsmaßnahmen, deren Effektivität in randomisierten, kontrollierten klinischen Studien nachgewiesen wurde, zu einem interprofessionellen, multimodalen und patientenzentrierten klinischen Behandlungspfad nennt man „Fast-track“-Rehabilitation. Die optimierte perioperative Behandlung vermeidet allgemeine Komplikationen, beschleunigt die Genesung und stellt die Leistungsfähigkeit der Patienten rasch wieder her. Interventionelle und minimal-invasive Techniken reduzierten Ende des 20. Jahrhunderts das Zugangstrauma zahlreicher Eingriffe und beschleunigten so die Genesung der Patienten. Insbesondere in der Allgemein- und Viszeralchirurgie setzt sich diese Entwicklung mit der Chirurgie natürlicher Körperöffnungen („Natural Orifice Surgery“ – NOS) derzeit weiter fort. Dagegen sind die meisten perioperativen Behandlungskonzepte durch Traditionen geprägt und halten einer kritischen Überprüfung in klinischen randomisierten, kontrollierten Studien (RCT) nicht stand. Eine moderne „evidenzbasierte“ perioperative Therapie unterscheidet sich daher erheblich von „traditionellen“ Behandlungskonzepten. Unter „Fast-track“-Rehabilitation versteht man die sinnvolle Kombination von Einzelmaßnahmen, deren Wirksamkeit in randomisierten, kontrollierten Studien nachgewiesen wurde, zu einem patientenzentrierten, evidenzbasierten, multimodalen und interprofessionellen Behandlungspfad. Alle erfolgreichen „Fast-track“-Rehabilitationskonzepte ruhen auf den Säulen Patienteninformation und -motivation, 678 Risikooptimierung, bestmögliche Operationsvorbereitung, moderne Narkoseführung, Verzicht auf Sonden, Drainagen und Katheter, optimale Schmerztherapie, rasche orale (oder enterale) Ernährung, forcierte Mobilisation (Abb. 1). Am Beispiel der elektiven Kolonresektionen lassen sich die Prinzipien und Effekte gut erklären: ■ Elektive Kolonresektionen sind häufige Eingriffe. ■ Schwerwiegende chirurgische Komplikationen sind selten. ■ Die perioperative Behandlung bei elektiven Kolonresektionen folgt weltweit chirurgischen Traditionen und ist nicht evidenzbasiert. [1] ■ Die Inzidenz postoperativer allgemeiner Komplikationen ist trotz elektiver Vorbereitung mit 25 – 35 Prozent hoch.[2] ■ Die Patienten genesen unter diesen Bedingungen nur langsam, sodass die postoperative Krankenhausverweildauer bei laparoskopischen und konventionellen Kolonresektionen zwischen 12 und 18 Tagen beträgt. [2,3] Um die Grundzüge einer optimierten perioperativen Behandlung am Beispiel der elektiven Kolonresektion zu verdeutlichen, zeigt Tabelle 1 beispielhaft die Unterschiede zwischen „traditioneller“ Behandlung und „Fast-track“-Rehabilitation. Zahlreiche dieser Maßnahmen werden aber in gleicher Form bei anderen Operationen zur Verlaufsoptimierung eingesetzt.[4] Präoperative optimierte Behandlung Patientenschulung und -motivation: Im präoperativen Arzt-Patienten-Gespräch werden der Patient und seine Angehörigen auf ihre aktive Rolle im postoperativen Genesungsprozess hingewiesen. Der optimale Verlauf nach dem Eingriff und die erforderlichen Leistungen des Patienten zur Beschleunigung der Genesung werden betont, eindeutige Behandlungsziele festgelegt und der Patient als aktiver Partner im Genesungsprozess gewonnen. Operationsvorbereitung: In der Operationsvorbereitung werden Autonomie und Homöostase des Patienten aufrechterhal- Chirurgie Maßnahme „traditionell“ „Fast-track“ Präoperative Nüchternheit 6 – 8 Stunden 2 Stunden Darmvorbereitung Spülung mit Polyethylenglykollösung Natriumpicosulfat, Klistier „liberal“ „restriktiv“ Intraoperative Infusionstherapie orientiert an Urinausscheidung, ZVD oder potenziellen Verlusten in den „3. Raum“ Intraoperativer Temperaturerhalt ? aktive konvektive Wärmezufuhr Analgesie Systemische Opioide Thorakale Periduralanalgesie mit Lokalanästhetika-Opioid-Gemisch und systemische Nicht-Opioid-Analgesie Längslaparotomie oder minimal-invasive Chirurgie Quere Laparotomie oder minimal-invasive Chirurgie Intraperitoneale Drainage(n) Keine Drainage Magensonde / Blasenkatheter Keine Magensonde, kein Blasenkatheter 3 – 5 Tage am OP-Tag flüssige Kost nach 1 – 3 Tagen am OP-Tag feste Kost nach 4 – 6 Tagen am 1. Tag Bettkante / Stuhl am 1. Tag / am 2. Tag am OP-Tag / am OP-Tag > 8 Stunden aus dem Bett am 3. – 5. Tag (?) am 1. – 2. Tag Entlassungskriterien erfüllt 1 am 7. – 10. Tag am 3. – 5. Tag Operationstechnik Postoperative Infusionstherapie Kostaufbau Mobilisation Tabelle 1: Unterschiede „traditioneller“ und optimierter, evidenzbasierter „Fast-track“-Rehabilitation bei elektiven Kolonresektionen 1 Entlassungskriterien: präoperativer Mobilitätsgrad weitestgehend erreicht, mit oraler Analgesie keine oder geringe Schmerzen, essen und trinken, keine Infusionen, Stuhlgang. ten. Ein wichtiges Ziel ist dabei die intravasale Normovolämie, sodass auf die orthograde Darmspülung mit osmotisch wirksamen Substanzen verzichtet wird und Patienten bis zwei Stunden vor der Operation klare Flüssigkeiten zu sich nehmen dürfen. Zudem trinken sie am Abend und zwei Stunden vor dem Eingriff kohlenhydratreiche Trinklösungen. Eine Prämedikation beugt bei Risikopatienten dem Syndrom der postoperativen Übelkeit und des Erbrechens („PONV“-Syndrom – „postoperative nausea and vomiting“) vor. Intraoperative optimierte Behandlung Interventionelle und minimal-invasive Operationstechniken reduzieren das Zugangstrauma und gehen mit geringeren Schmerzen, einer geringeren posttraumatischen neuroendokrinen Stressreaktion, einer besseren Lungenfunktion und einer rascheren Wiederherstellung der normalen Magen-Darmfunktion einher. Daher ist die minimal-invasive Chirurgie ein wesentlicher Bestandteil der „Fast-track“-Rehabilitation. Darüber hinaus kann aber auch die Art der Laparotomie (quere statt mediane oder paramediane Längslaparotomien) mit geringeren Schmerzen und einer besseren postoperativen Lungenfunktion einhergehen. Moderne Narkoseführung: Bereits kurz nach total intravenöser Anästhesie oder neueren Inhalationsanästhetika sind die Patienten wieder vigilant und nehmen aktiv am Rehabilitationsprozess teil. Eine wesentliche Bedeutung für den postoperativen Verlauf haben die intraoperative Wärme-, Flüssigkeits- und Volumenhomöostase. Dabei wird der Erhalt der Normothermie durch aktive Wärmung und der Normovolämie durch moderaten Einsatz von Infusionslösungen angestrebt. Die Orientierung der Infusionsmenge an traditionellen Parametern wie ZVD, Urinausscheidung oder Flüssigkeitsverlust in einen angeblich vorhandenen sogenannten „Dritten Raum“ führt zu hohen Infusionsmengen mit verzögertem und komplikativem postoperativen Verlauf und ist daher heute obsolet. Postoperative optimierte Behandlung Verzicht auf Sonden, Drainagen und Katheter: Eine wesentliche Ursache für postoperative Immobilität sind Sonden, Drainagen und Katheter. Die Verwendung einer Nasogastralsonde hat auch nach gastrointestinalen Resektionen keinen nachweisbaren Vorteil für die Patienten, führt aber zu erheblichen Schmerzen und verzögert die Auflösung der postoperativen Darmatonie. Intraabdominelle Drainagen sind bei den meisten abdominalchirurgischen Operationen nutzlos und behindern Patienten bei der Mobilisation. Sie sollten daher ebenso wie ein Blasenkatheter vermieden oder möglichst rasch entfernt werden. Optimale Schmerztherapie: Eine optimale Analgesie ist Grundvoraussetzung für eine aktive Kooperation des Patienten in der postoperativen Phase. Lokal- und regionalanästhetische Analgesietechniken ergänzen daher die systemische Schmerztherapie und reduzieren postoperative Schmerzen, die postoperative Darmatonie und die Inzi- 679 Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009 Abb. 1: Säulen der „Fast-track“-Rehabilitation denz allgemeiner postoperativer Komplikationen. Rasche orale/enterale Ernährung: Traditionell folgt auf einen abdominalchirurgischen Eingriff eine Phase der völligen oralen und enteralen Nahrungskarenz, anschließend ein abgestufter Kostaufbau. Im Gegensatz dazu reduziert der rasche postoperative orale/enterale Kostaufbau nach Operationen am oberen und unteren Gastrointestinaltrakt die gesamte Komplikationsrate. Forcierte Mobilisation: Die negativen Auswirkungen einer verlängerten Bettruhe nach ärztlichen Interventionen sind lange bekannt. Die rasche Mobilisation noch am Operationstag verbessert die postoperative Lungenfunktion, vermindert das Risiko thromboembolischer Komplikationen und fördert die Patientenautonomie. 680 5 0 -5 10 1 0,1 Abb. 2: Metaananlyse – Fast-track versus traditionelle Therapie Klinische Ergebnisse Schriftlich formulierte Behandlungspfade zur optimierten perioperativen Behandlung liegen heute für zahlreiche Operationen der Allgemein-, Viszeral-, Gefäß- und Thoraxchirurgie sowie der Urologie und Gynäkologie vor.[4] Die größten klinischen Erfahrungen zur „Fast-track“-Rehabilitation gibt es heute bei elektiven Kolonresektionen. Im Gegensatz zur traditionellen Behandlung sind bei den meisten Patienten Kostaufbau und Mobilisation bereits nach 2 – 3 Tagen abgeschlossen, die Darmtätigkeit normalisiert. Eine aktuelle Metaanalyse belegte die Vorteile der „Fast-track“-Behandlung gegenüber der „traditionellen“ Therapie bei Kolonresektionen eindrucksvoll: Die Krankenhausverweildauer (als Maß der Rekonvaleszenz) wurde deutlich reduziert, die Quote postoperativer Komplikationen um mehr als 40 Prozent gesenkt! Dabei war die Wiederaufnahmequote bei beiden Formen der perioperativen Behandlung vergleichbar, „Fast-track“-Patienten werden demnach zwar frühzeitig, aber nicht verfrüht nach Hause entlassen (Abb. 2).[5] Der Vergleich deutschlandweiter Qualitätssicherungsmaßnahmen unter „traditioneller“ [2,3] und „Fast-track“-Rehabilitation[6,7] bestätigt die positiven Effekte der optimierten Therapie in gleicher Weise (Tab. 2). Die positiven Effekte einer optimierten perioperativen Behandlung hängen zudem von Risiko und Schweregrad der Operation ab. Bei kleineren Eingriffen bessert die „Fast-track“-Rehabilitation vor allem durch die Vermeidung postoperativer Schmerzen und des PONV-Syndroms den Behandlungskomfort der Patienten. Bei mittelgroßen Eingriffen senkt die optimierte Therapie die Inzidenz postoperativer Komplikationen und bei großen Eingriffen kann die Vermeidung von Organdysfunktionen unter Umständen auch die postoperative Sterblichkeit günstig beeinflussen (Abb. 3). Chirurgie „traditionell“ „Fast-track“ konventionell laparoskopisch konventionell 2.293 1.311 748 846 68 (18 – 97) 64 (13 – 94) 70 (26 – 96) 63 (23 – 91) Weiblich 53,7 % 56,5 % 50 % 57,4 % ASA Klasse III – IV 43,9 % k. A. 41,3 % 22,4 % chirurgisch 21,8 % 14,5 % 20,4 % 8,6 % allgemein 27,0 % 10,9 % 13,2 % 4,7 % 12 (1 – 99) 9 (4 – 93) 7 (3 – 72) Patienten Alter (Jahre) laparoskopisch Komplikationen Postoperativer Aufenthalt (Tage) 21 (0 – 164) 2 Tab. 2: „Traditionelle“ und „Fast-track“-Rehabilitation in deutschlandweiten freiwilligen Abb. 3: Positive Effekte der „Fast-track“-Rehabilitation prospektiven Qualitätssicherungsmaßnahmen (2, 3, 6, 8) 2 gesamte Krankenhausverweildauer Fazit Literatur [1] Kehlet H, Beart RW, Billingham RPWR. Care after colo- Die perioperative Behandlung entscheidet ebenso wie die operative Technik über den postoperativen Verlauf der Patienten. Eine moderne multimodale und interprofessionelle, patientenzentrierte perioperative Behandlung erhält die Homöostase oder stellt sie so rasch wie möglich wieder her. So vermeidet die „Fast-track“-Rehabilitation Organdysfunktionen und postoperative allgemeine Komplikationen. Die Autonomie der Patienten wird postoperativ rasch wiederhergestellt, sodass die Entlassung frühzeitig erfolgen kann, ohne dass eine ambulante ärztliche Betreuung notwendig wird oder sogar die Rate der Wiederaufnahmen in die Klinik ansteigt. Kontakt nic operation – is it evidence-based? Results from a multinational survey in Europe and the United States. J Am Coll Surg 2006; 202: 45-54. [2] Marusch F, Koch A, Schmidt U, Zippel R, Geissler S, Pross M, et al. Prospektive Multizenterstudien „Kolon/Rektumkarzinome“ als flächendeckende chirurgische Qualitätssicherung. Chirurg 2002; 73(2): 138-46. [3] Marusch F, Gastinger I, Schneider C, Scheidbach H, Konradt J, Bruch HP, et al. Experience as a factor influen- Prof. Dr. Wolfgang Schwenk 1. Chirurgie – Allgemein- und Viszeralchirurgie Asklepios Klinik Altona Paul-Ehrlich-Straße 1 D-22763 Hamburg Tel. (0 40) 18 18-81 1600 Fax. (0 40) 18 18-81 4907 E-Mail: w.schwenk@asklepios.com cing the indications for laparoscopic colorectal surgery and the results. Surgical Endoscopy 2001; 15(2): 116-20. [4] Schwenk W, Spies C, Müller JM. Fast-track in der operativen Medizin. Perioperative Behandlungspfade für Chirurgie, Anästhesie, Gynäkologie, Urologie und Pflege. Heidelberg: Springer Medizin Verlag; 2009. [5] Gouvas N, Tan E, Windsor A, Xynos E, Tekkis PP. Fast- [7] Schwenk W, Günther N, Wendling P, Schmid M, Probst track vs standard care in colorectal surgery: a meta-analysis W, Kipfmüller K, et al. „Fast-track“ rehabilitation for electi- update. Int J Colorectal Dis 2009 elektronische Publikati- ve colonic surgery in Germany – prospective observational on vor Druck DOI 10.1007/s00384-009-0703-5. data from a multi-centre quality assurance programme. [6] Braumann C, Günther N, Wendling P, Engemann R, International journal of colorectal disease 2008; 23(1): 93-9. Germer CT, Probst W, et al. Multimodal perioperative [8] Tsilimparis N, Haase O, Wendling P, Kipfmüller K, rehabilitation in elective conventional resection of colonic Schmid M, Engemann R, et al. Laparoskopische „Fast- cancer: Results from the german multicenter quality assu- track“-Sigmaresektion bei Divertikulitis in Deutschland – rance program 'Fast-Track Colon II'. Dig Surg 2009; 26(2): Ergebnisse einer prospektiven Qualitätssicherungsmaß- 123-9. nahme. 2009 unveröffentlichte Daten. 681 Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009 Magnetic Field Imaging Risikostratifizierung des plötzlichen Herztodes Dr. Tobias Tönnis Abb. 1: Inzidenz des plötzlichen Herztodes nach Bevölkerungsgruppen (nach Huikuri HV, et al., NEJM 345: 1473 - 1482, 2001) Der plötzliche Herztod (PHT) ist definiert als unerwarteter, natürlicher Tod aus kardialer Ursache (meist ventrikuläre Tachykardien beziehungsweise Kammerflimmern). Nach wie vor ist der PHT eine der wesentlichen Todesursachen in den industrialisierten Ländern. Pro Jahr versterben daran in Deutschland ungefähr 100.000, in den USA etwa 300.000 Menschen. Als therapeutisches Mittel zur Verhinderung des plötzlichen Herztodes steht der implantierbare Cardioverter-Defibrillator (ICD) zur Verfügung. Durch ihn lässt sich in Risikogruppen eine signifikante Verringerung der Mortalität erreichen.[1,2,3,4] Bisher werden die Risikopatienten aufgrund der Ergebnisse großer multizentrischer Studien im Wesentlichen durch die linksventrikuläre Auswurffraktion (EF) identifiziert. Diese ist als alleiniges Kriterium jedoch weder sonderlich sensitiv noch spezifisch. So zeigt sich zum Beispiel in der SCD-HeFTStudie nur bei etwa 20 Prozent der Patienten, die prophylaktisch einen Defibrillator implantiert bekommen, im Beobachtungszeitraum von 45 Monaten eine adäquate ICD-Therapie. Im gleichen Zeitraum kommt es außerdem bei zehn Prozent zu einer inadäquaten Therapie.[3] Ähnliche Zahlen finden sich für die anderen großen Studien zur primärprophylaktischen ICDVersorgung. Es gilt somit eine diagnostische Methode zu finden, die die Patienten im Voraus identifizieren kann, die ein rhythmogenes Ereignis bekommen werden, das zum PHT führen kann. Damit 682 ließe sich für viele Patienten eine nicht notwendige ICD-Therapie/-Implantation vermeiden. Der größte absolute Teil der Patienten, die am PHT versterben, wird allerdings über die bisherigen Kriterien gar nicht identifiziert (Abb. 1). Ein geeigneter Parameter zur Risikostratifizierung des PHT sollte folglich auch die Individuen identifizieren können, die nach den bisherigen Kriterien nicht mit einem ICD versorgt werden, aber dennoch ein erhöhtes Risiko für den PHT aufweisen. Bisherige Risikostratifizierungsmethoden (Microvolt T-Wave-Alternans, Signal Average-ECG, Heartrate-Turbulence, Heartrate-Variability) konnten bislang entweder keine wesentliche Besserung gegenüber der alleinigen Verwendung der EF beweisen oder waren in der klinischen Routine nicht anwendbar. Vielversprechende Ansätze ergeben sich aus einer Kombination dieser Parameter, prospektive und insbesondere randomisierte Studien liegen dazu aber noch nicht vor. Magnetic Field Imaging (MFI) Die Methode der Registrierung magnetischer Signale des Herzens existiert seit mehr als 30 Jahren. Bei den bisherigen Systemen mit einem oder wenigen Sensoren wurde diese Messmethode in der Vergangenheit in der Regel als Magnetokardiographie bezeichnet. Die Signale entstehen parallel zur elektrischen Zellaktivität. Im Gegensatz zur Elektrokardiographie (EKG) werden die magnetischen Signale durch das umliegende Gewebe weniger beeinflusst und die Magnetfeldmessung nimmt kreisende Ströme wahr, die im EKG nicht gemessen werden können. Die Magnetfeldmessung mit dem MFI-System, einer Weiterentwicklung der Magnetokardiographie, geschieht mittels 55 hochempfindlicher SQUID-Sensoren. Sie sind in einer hexagonalen Matrix in der Sensoreinheit über dem Patienten lokalisiert und können Magnetfelder von bis zu 10 -15 Tesla nachweisen. Die Aufnahme dauert nur fünf Minuten. Während der Untersuchung liegt der Patient auf einer Liege unter dem Sensor (Abb. 3). Die Messung wird durch Kardiologie Abb. 2: Magnetische Signale der 55 SQUID-Sensoren Abb. 3: Untersuchungsaufbau mit dem MFI-System Abb. 4: QRS-Fragmentation eines herzgesunden Probanden (oben) und eines Patienten mit einer ischämischen Kardiomyopathie vor einer primärprophylaktischen ICD-Implantation (unten) die Kleidung des Patienten nicht gestört, er muss nur alle metallischen Gegenstände ablegen, da diese die Messung stark beeinträchtigen würden. Die Untersuchung ist komplett berührungslos und strahlungsfrei, es werden keine elektromagnetischen Signale abgegeben. Um externe Störeinflüsse so gering wie möglich zu halten, ist das Aufnahmesystem in einem magnetisch abgeschirmten Raum untergebracht. Bei einem MFI zur Risikoeinschätzung des PHT wird aus allen Signalen der 55 Sensoren über den gesamten Aufnahmezeitraum die QRS-Fragmentation ermittelt (Abb. 4). In mehreren Studien zeigte sich bereits, dass sich mithilfe der Magnetsignalaufnahme und dem Parameter der QRS-Fragmentation zusätzlich zur Bestimmung der Ejektionsfraktion mit guter Sensitivität und Spezifität Patienten identifizieren ließen, die im weiteren Verlauf arrhythmogene Ereignisse (VT, VF) bekamen.[5,6] Dabei zeigte sich, dass bei Patienten mit stark „fragmentiertem“ magnetischen Signal das arrhythmogene Risiko erhöht ist. Zur Validierung dieser Ergebnisse mit dem MFI-System der Firma BMDSys wird aktuell eine prospektive Studie (MFI-RiSti) durchgeführt. Im Rahmen dieser Studie werden Patienten, die ein ICD-Aggregat implantiert bekommen, vor der Implanta- tion mit dem MFI-System untersucht. Über einen Beobachtungszeitraum von zwei Jahren werden dann die Ergebnisse der QRSFragmentation mit der Ereignishäufigkeit in den ICD-Abfragen verglichen. Literatur [1] Anderson JL, Hallstrom AP, Epstein AE, et al. Design and results of the antiarrhythmics vs implantable defibrillators (AVID) registry. The AVID Investigators. Circulation 99 (13); 1999; 1692-9. [2] Siebels J, Kuck KH. Implantable cardioverter defibrilla- Ein ähnliches Studienkonzept besteht in der multizentrisch durchgeführten MARII Intra-QRS-Studie der Firma Biotronik. Die Messung der QRS-Fragmentation erfolgt dabei mithilfe eines älteren Magnetokardiographiesystems an der Physikalisch Technischen Bundesanstalt in Berlin. Ergebnisse beider Studien sind frühestens in ein bis zwei Jahren zu erwarten. Bis dahin kann die Messung der QRS-Fragmentation nur als zusätzlicher Hinweis bei Anwendung der bestehenden Leitlinien zur Prävention des plötzlichen Herztodes herangezogen werden. tor compared with antiarrhythmic drug treatment in cardiac arrest survivors (the Cardiac Arrest Study Hamburg). Am Heart J. 1994; 127(4 Pt 2): 1139-44. [3] Moss AJ, Zareba W, Hall WJ, et al. Multicenter Automatic Defibrillator Implantation Trial II Investigators. Prophylactic implantation of a defibrillator in patients with myocardial infarction and reduced ejection fraction. N Engl J Med. 2002; 346(12): 877-83. Epub 2002 Mar 19. [4] Bardy GH, Lee KL, Mark DB, et al. Sudden Cardiac Death in Heart Failure Trial (SCD-HeFT) Investigators. Amiodarone or an implantable cardioverterdefibrillator for congestive heart failure. N Engl J Med. 2005; 352(3): 22537. [5] Müller H-P, Gödde P, Czerski K, et al. Magnetocardiographic analysis of the two-dimensional distribution of Kontakt Dr. Tobias Tönnis intra-QRS fractioned activation. Phys Med Biol 1999: 44: 105-20. [6] Korhonen P, Husa T, Tierala I, et al. Increased IntraQRS Fragmentation in Magnetocardiography as a Predictor Kardiale Magnetfelddiagnostik ICD- und Herzschrittmacherambulanz II. Medizinische Abteilung Asklepios Klinik St. Georg Lohmühlenstraße 5, 20099 Hamburg of Arrhythmic Events and Mortality in Patients with Cardiac Dysfunction After Myocardial Infarction. J Cardiovasc Electrophysiol 2006: 17: 1-6. Tel. (0 40) 18 18-85 44 67/-85 24 56 Fax (0 40) 18 18-85 44 07 E-Mail: t.toennis@asklepios.com 683 Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009 Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Dissoziative Identitätsstörungen Dr. Dr. Andrea Moldzio Der vielversprechende Titel eines Buches von Precht,[15] das eine Einführung in die philosophischen Fragestellungen unserer Menschheitsgeschichte gibt, bringt die zentrale Problematik von Menschen mit Dissoziativen Identitätsstörungen auf den Punkt: Nicht zu wissen, wer man ist, in wie viele verschiedene Anteile man überhaupt aufgeteilt ist, und vor allem, wie man wieder eine Person wird. Das Phänomen der ursprünglich sogenannten „Multiplen Persönlichkeit“ wurde bereits im 19. Jahrhundert rege von Psychiatern und Philosophen diskutiert, da diese wunderliche Krankheit doch eng mit unserem Verständnis von „Persönlichkeit“, „Bewusstsein“ oder unserem „Ich“ verbunden ist. Der französische Psychiater Pierre Janet (1859 – 1947) prägte den Begriff der „Dissoziation“, wobei er diese als einen „komplexen psychophysischen Prozess, bei dem es zu einer Desintegration und Fragmentierung des Bewusstseins kommt“, verstand.[12] Betroffen seien die normalerweise integrativen psychischen Funktionen des Bewusstseins wie das Gedächtnis, die Wahrnehmung von sich selbst und der Umwelt sowie das Identitätserleben. Die Persönlichkeit wurde von ihm als eine Struktur aufgefasst, die aus verschiedenen Systemen von Ideen und Funktionen besteht.[13,22,5] Dieses Verständnis von Persönlichkeit als ein „Bündel von Systemen“ ist heute noch aktuell und findet sich bei- 684 spielsweise in der modernen Systemtheorie wieder. Als Dissoziative Störungen werden heute psychische Erkrankungen bezeichnet, bei denen die drei wesentlichen integrierenden Funktionen des Bewusstseins, namentlich das Gedächtnis, die Wahrnehmung von sich und der Umwelt und das Identitätserleben, nachhaltig gestört sind. Diese integrierenden Funktionen dienen dazu, die verschiedensten Erfahrungen mit sich und der Umwelt als einen persönlichen Gesamtzusammenhang zu subsumieren und sich selbst im Verlaufe des Lebens mit sich selbst identisch zu empfinden. Gewandelt hat sich jedoch im Laufe der Jahrhunderte die nosologische Zuordnung des Phänomens Dissoziation. Bis etwa 1980 wurden fast alle in der (Fach-)Literatur beschriebenen Fälle unter den Diagnosen „Hysterie“, „traumatische Neurose“ oder auch „Schizophrenie“ subsumiert. Der 1895 von Josef Breuer und Sigmund Freud in den „Studien über Hysterie“ beschriebe- ne Fall der Anna O. (alias Bertha Pappenheim) stellt unter der damals modernen Bezeichnung der „Hysterie“ eigentlich eine klassische Patientin mit Dissoziativer Identitätsstörung dar.[16] So schildert Breuer einen typischen dissoziativen Zustand seiner Patientin Anna O. wie folgt: „Es zeigten sich zwei ganz getrennte Bewusstseinszustände, die sehr oft und unvermittelt abwechselten und sich im Laufe der Krankheit immer schärfer schieden. In dem einen kannte sie ihre Umgebung, war traurig und ängstlich, aber relativ normal. Im anderen halluzinierte sie, war ungezogen, d. h. schimpfte, warf Kissen …“. Sie klagte, „ihr fehle Zeit“ sowie über eine „tiefe Finsternis ihres Kopfes, wie sie nicht denken könne, blind und taub werde, zwei Ichs habe, ihr wirkliches und ein schlechtes, was sie zu Schlimmem zwinge …“.[8] Damit erfüllt die berühmte „hysterische“ Patientin Anna O. die Kriterien einer Dissoziativen Identitätsstörung nach DSM-IV: [1] Psychiatrie ■ 1. Vorhandensein von zwei oder mehr unterscheidbaren Identitäten oder Persönlichkeitszuständen (jeweils mit einem eigenen, relativ überdauernden Muster der Wahrnehmung von der Beziehung zur und dem Denken über die Umgebung und das Selbst) ■ 2. Mindestens zwei dieser Identitäten oder Persönlichkeitszustände übernehmen wiederholt die Kontrolle über das Verhalten der Person. ■ 3. Unfähigkeit, sich an wichtige persönliche Informationen zu erinnern, die zu umfassend ist, um durch gewöhnliche Vergesslichkeit erklärt zu werden. ■ 4. Die Störung geht nicht auf direkte körperliche Wirkung einer Substanz oder eines medizinischen Krankheitsfaktors zurück. Dabei steht die dissoziative Identitätsstörung am Ende eines langen Kontinuums dissoziativer Phänomene, das mit normalen, gesunden „Alltagsdissoziationen“ beginnt. Jeder von uns muss, will er seine Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Sache lenken, die restliche Umgebung samt allen Sinneseindrücken ausblenden, also „wegdissoziieren“. Auch kann uns nicht zu jedem Zeitpunkt unsere gesamte Vergangenheit präsent sein. Sie muss in den Hintergrund treten, um Patz für die Gegenwart zu schaffen. Zu den weniger gesunden, aber noch leichteren dissoziativen Phänomenen gehören die Depersonalisation und die Derealisation. Der Zustand der Depersonalisation umfasst das Gefühl, nicht in seinem Körper zu sein beziehungsweise diesen als fremd oder abgespalten von seinem restlichen Erleben wahrzunehmen. Oft berichten Patienten in diesen sehr quälenden Zuständen, dass sie „neben sich stehen“, sich selbst nicht mehr spüren können, ihren Körper nicht mehr wahrnehmen oder auch einzelne Körperteile wie abgespalten erleben.[7] Das Phänomen der Derealisation hingegen bezieht sich auf eine Störung der Wahrnehmung der Umwelt, die nur schemenhaft, völlig verzerrt und fremd oder als nicht vorhanden empfunden wird. Bei der dissoziativen Fugue, einem weiteren Schritt auf dem Kontinuum der Dissoziation, finden sich die Patienten plötzlich an Orten wieder, die sie nicht erinnern können, angesteuert zu haben. Plötzliches Weglaufen, oft mit Zeitverlusten verbunden, ist für diese Manifestationsart der Dissoziation charakteristisch. Eine weitere graduelle Steigerung findet sich in der dissoziativen Amnesie, bei der bestimmte Erinnerungen dauerhaft nicht mehr zugänglich sind, sosehr sich die Person auch bemüht, sich zu erinnern. Dies kann von kurzen biografischen Zeitspannen bis hin zum „Vergessen“ der gesamten Identität inklusive der eigenen Biografie gehen. In der Literatur gibt es eindrucksvolle Beispiele von Menschen, die ihre gesamte Identität nicht mehr erinnern können und beispielsweise ein neues Leben unter neuem Namen mit einer anderen Identität beginnen (z. B. der Fall „Ansel Bourne“).[6] 685 Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009 Am Ende des dissoziativen Kontinuums steht die schwerste Manifestation, die Dissoziative Identitätsstörung. Hierbei sind nicht nur die bereits beschriebenen Gedächtnisfunktionen oder die Wahrnehmung von sich selbst und der Umwelt gestört, sondern auch das Identitätserleben selbst: Die Persönlichkeit wird in verschiedene Persönlichkeits- oder Selbstzustände „aufgespalten“, die wechselweise die Kontrolle über das Erleben und Verhalten der Betroffenen übernehmen und oft eigene Namen haben. Typischerweise ist der Wechsel vom einen Zustand in den nächsten mit einer Amnesie verbunden, die von den Patienten als besonders quälend empfunden wird, da sie mit Gefühlen des Kontrollverlustes und der Ohnmacht einhergeht. So entdecken die Patienten plötzlich Spuren von bestimmtem Verhalten (z. B. Selbstverletzungen), eigene Tagebuchnotizen, Bilder oder auch Gegenstände in ihrem Besitz, an die sie sich nicht erinnern können. Oft wird ihnen auch von anderen Menschen ihr eigenes Verhalten rückgemeldet, das ihnen völlig fremd und nicht erinnerlich ist. In diesem Zusammenhang können ihnen plötzlich auch ganze Eigenschaften oder Fähigkeiten (wie eine bestimmte Fremdsprache, Klavierspielen) mit Wechsel der Zustände ent- oder neu zufallen. Diese „neuen“ Eigenschaften oder Fähigkeiten sind dann im normalen Alltagsbewusstsein nicht vorhanden und werden von den Betroffenen so erlebt, als ob es eine fremde Person sei. Man kann sich leicht vorstellen, dass dies mannigfaltige Probleme im sozialen Bereich und vor allem in nahen Beziehungen hervorruft, die oft der Anlass sind, dass sich die Betroffenen unter hohem Leidensdruck in Behandlung begeben. Durchschnittlich haben die Patienten acht bis zehn verschiedene Persönlichkeitszustände, unter Umständen sogar auch erheblich mehr.[19] Charakteristischerweise gibt es dabei eine im Alltag gut funktionierende und sozial angepasste Persönlichkeit, den sogenannten „anscheinend normalen Persönlichkeitszustand“ (ANP), und andere sogenannte „emotionale Persönlichkeitszustände“ (EPs), die häufig traumatische Erinnerungen und Gefühle bestimmter Lebensphasen in sich tragen, die meist 686 jünger sind und sich sehr im Denken, Fühlen und Wahrnehmen von der ANP unterscheiden. Die Bewusstheit und Kommunikation der verschiedenen Selbstanteile kann sehr unterschiedlich ausgeprägt sein und reicht von wechselseitiger Unkenntnis (vollständige Amnesie) bis hin zu einem Co-Bewusstsein mit transparenter Wahrnehmung und gegebenenfalls auch Steuerung des jeweils anderen Zustandes. Unabhängig von der Anzahl der „Innenpersonen“ lassen sich bestimmte Funktionen unterscheiden, die zu Gruppen zusammengefasst werden können. Neben der ANP existiert fast immer eine Gruppe von „Kindern“, „Beschützern“, „täterloyalen Anteilen“ und „Beobachtern“, die im Gesamtsystem der Persönlichkeit und in der dysfunktionalen Verarbeitung der traumatischen Erlebnisse in der Vergangenheit ihre jeweilig wichtige Funktion und Bedeutung hatten, für die Funktionalität in der Gegenwart aber kontraproduktiv sind. Die Abspeicherung traumatischer Erlebnisse in den emotionalen Persönlichkeitsanteilen deutet bereits auf die Genese der Störung hin. Zahlreiche Studien zeigten inzwischen, dass in etwa 75 – 94 % aller Fälle sexuelle und zu 74 – 82 % physische Traumatisierungen im frühen Kindesalter Hintergrund für die Entstehung der dissoziativen Identitätsstörung sind.[2,18,21] Erklärt wird dies dadurch, dass traumatisierte Kinder aufgrund ihrer mangelnden Persönlichkeitsreife und ihrer Bewältigungsmechanismen noch nicht in der Lage sind, schwere traumatische Erfahrungen zu integrieren und zu verarbeiten. Aufgrund der begrenzten kindlichen Integrationsfähigkeit kommt es dann zur „Abspaltung“ zu Zuständen kondensierter Erfahrungen, die nicht kompatibel, zuordbar und dissonant zu anderen Erfahrungen sind, insofern unintegriert neben dem eigentlichen Selbstzustand (ANP) stehen und zunehmend ihr Eigenleben führen. Wenngleich die Diagnose der Dissoziativen Identitätsstörung (vor allem in den USA) kontrovers gesehen wird, und sie in ihrem Ausmaß auch als iatrogen oder kulturspezifisch verursacht [3] diskutiert wird, zeigen neue Forschungsbefunde doch, dass die Diagnose valide und von anderen Krankheitsbildern abzugrenzen ist. Vor allem ist sie keineswegs so selten wie früher angenommen. Aktuelle Studien belegen, dass 0,5 – 1,5 % der Allgemeinbevölkerung [9,11,14] und bis zu 5 % in stationären Stichproben die Kriterien einer Dissoziativen Identitätsstörung erfüllen. Dabei findet sich ein Geschlechterbias von neun Frauen zu einem Mann.[10] Typischerweise haben diese Patienten auch eine hohe Komorbidität mit affektiven Störungen, vor allem Major Depression (98 %), schizoaffektiven Störungen (74 %) sowie Angststörungen, vor allem Panikstörungen (89 %).[4] Für die hohe Dysfunktionalität und den massiven Leidensdruck dieser Patienten sind auch diffuse psychosomatische Beschwerden, Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten oder süchtiges Verhalten mitverantwortlich. Häufig begeben sich die Patienten deshalb überhaupt erstmals in Behandlung. Aufgrund der sehr wechselhaften Dysfunktionalität haben die Patienten oft eine lange psychiatrische und psychosomatische Vorgeschichte, meist mit mehreren Vor- und Fehldiagnosen (wie Depression, Schizophrenie, Persönlichkeitsstörung, Angststörung, Anpassungsstörung, Substanzmissbrauch, Somatisierungsstörung) und häufigem Versagen bisheriger Therapien. Die Behandlung der Patienten mit einer Dissoziativen Identitätsstörung unterscheidet sich naturgemäß in ihrer Komplexität von anderen psychiatrischen Krankheitsbildern, wobei eine differenzierte Beschreibung der Behandlung diesen Artikel sprengen würde. Allgemein lässt sich aber sagen, dass die Dissoziative Identitätsstörung auf störungsspezifische Therapieverfahren, wie sie insbesondere für die Behandlung von Traumafolgestörungen entwickelt worden sind, gut anspricht.[19,20] Mit dem übergeordneten Therapieziel der Integration der abgespaltenen Selbstanteile in das Bewusstsein und in die eigene Wahrnehmung kommen auch hier die gleichfalls bereits bei Janet postulierten drei Phasen der Traumatherapie mit psychosozialer Stabilisierung, Traumabearbeitung und Integration zur Anwendung. Psychiatrie Vor diesem Hintergrund versteht es sich von selbst, dass die Schwere und Komplexität der Erkrankung eine unter Umständen langjährige Psychotherapie in Form stationärer Intervalltherapie und/oder ambulanter Psychotherapie erfordert. Ziel der Therapie sollte sein, dass sich der Patient so fühlt, wie es für uns selbstverständlich ist: als eine Person, die trotz unterschiedlicher Erlebnisse, Intentionen, Rollen, Gefühle und Gedanken „Herr im eigenen Haus“ ist. Literatur [1] Saß H. et al. Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen – Textrevision – DSM-IV-TR. Hogrefe, Göttingen 2003. [2] Boon S, Draijer N. The differentiation of patients with MPD or DDNOS from patients with a cluster B personality disorder. Dissociation 1993; 6: 126–35. [3] Dilling H, Mombour W, Schmidt MH. Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10.2. korrigierte Auflage. Bern: Huber 1993: 182 [4] Ellason JW, Ross CA. Two-year follow-up of in patients with dissociative identity disorder. Am J Psychiat 1997; 154: [15] Precht RD. Wer bin ich – und wenn ja wie viele? Eine 832-9. philosophische Reise. Goldmann 2007. [5] Ellenberger HF. Die Entdeckung des Unbewussten. [16] Putnam FW. Altered States. The Sciences 1992; 32: 30-7. Band I. Bern: Huber 1973: 449 ff. [17] Putnam FW. Diagnostik und Behandlung der Disso- [6] Ellenberger HF. Die Entdeckung des Unbewussten. ziativen Identitätsstörung. Paderborn: Junfermann 2003. Band I. Bern: Huber 1973: 198 ff. Original: Putnam FW. Diagnosis And Treatment Of Multi- [7] Fiedler P. Dissoziative Störungen und Konversion. ple Personality Disorder. New York: Guilford Press 1989. Weinheim: Beltz. Psychologie Verlagsunion 1999. [18] Putnam FW, Guroff JJ, Silberman EK, Barban L, Post [8] Freud S, Breuer J. Studien über Hysterie. Erstausgabe: RM. The clinical phenomenology of multiple personality Leipzig und Wien: Franz Deuticke 1895. Neudruck: Frank- disorder. A review of 100 recent cases. J Clin Psychiat 1986; furt: Fischer TB 6. Auflage 1991. 22-3. 47: 285-93. [9] Gast U, Rodewald F. Prävalenz dissoziativer Störungen. [19] Reddemann L, Engl V, Lücke S. Imagination als In: Reddemann L, Hofmann A, Gast U. (Hrsg.). Psychothe- heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit rapie der dissoziativen Störungen. Krankheitsmodelle und ressourcenorientierten Verfahren. Klett-Cotta 13. Auflage Therapiepraxis – störungsspezifisch und schulenübergrei- 2007. Leben Lernen: 141. fend. Stuttgart: Thieme 2003: 37-46. [20] Richter-Appelt H, Moldzio A. Psychotherapie mit [10] Gast U, Rodewald F, Nickel V, Emrich HM. Prevalence Patientinnen nach sexueller Traumatisierung. In: Sexueller of dissociative disorders among psychiatric inpatients in a Missbrauch. Band 1: Grundlagen und Konzepte. Körner W, German University Clinic. J Nerv Ment Dis 2001; 189: 249-59. Lenz A. (Hrsg.). Göttingen: Hogrefe 2004: 413-32. [11] Hoffmann SO, Eckhardt-Henn A. Dissoziative [21] Ross CA, Norton GR, Wozney K. Multiple personality Bewusstseinsstörungen. Theorie, Symptomatik, Therapie. disorder: An analysis of 236 cases. Can J Psychiat 1989; 34: Stuttgart: Schattauer 2004. 413-8. [12] Janet P. L’automatisme psychologique. Paris: Félix [22] Van der Hart O, Nijenhuis ERS, Steele K. Das verfolgte Alcan 1889. Reprint: Société Pierre Janet, Paris, 1889/1973. Selbst. Strukturelle Dissoziation und die Behandlung chro- [13] Janet P. The Major Symptoms Of Hysteria. London: nischer Traumatisierung. Paderborn: Junfermann 2008: 17. Kontakt Dr. med. Dr. phil. Andrea Moldzio Ltd. Oberärztin der II. Psychiatrischen Fachabteilung Persönlichkeitsstörung/ Trauma Asklepios Klinik Nord - Ochsenzoll Langenhorner Chaussee 560 22419 Hamburg Tel. (0 40) 18 18-87 23 38 Fax (0 40) 18 18- 87 29 33 E-Mail: a.moldzio@asklepios.com Macmillan 1907: 332. [14] Johnson JG, Cohen P, Kasen S, Brook JS. Dissociation disorders among adults in the community, impaired functioning, and axis I and II comorbidity: J Psychiat Res 2006; 40: 131-40. 687 Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009 Gehirn und Darm – Neurogastroenterologie Priv.-Doz. Dr. Stefan U. Christl, Prof. Dr. Rudolf Töpper Nervensystem und Gastrointestinaltrakt sind in vielfältiger Weise miteinander verbunden. Neurologische Erkrankungen verursachen deshalb häufig Komplikationen im Bereich des Gastrointestinaltrakts und umgekehrt (Abb. 1). Beispiele hierfür sind zerebrale Komplikationen gastroenterologischer Erkrankungen wie M. Crohn oder M. Whipple oder die funikuläre Myelose bei Vitamin-B12-Mangel aufgrund einer chronisch-atrophischen Gastritis.[1] Unter Neurogastroenterologie im engeren Sinne versteht man die Physiologie und Funktionsstörungen des autochthonen Nervensystems des Magen-Darm-Traktes sowie seiner Verschaltungen mit vegetativem und zentralem Nervensystem. Im weiteren Sinne gehören auch die Einflüsse neurologischer Systemerkrankungen und ihrer Therapie auf den Gastrointestinaltrakt dazu. Physiologie Achalasie Das Gehirn des Darms, das enterische Nervensystem (ENS), besteht aus dem innenliegenden Plexus myentericus (Meißner) und dem äußeren Auerbachschen Plexus. Beide reichen vom Oropharynx bis zum Anus. Sie enthalten etwa 100 Millionen Nervenzellen mit unterschiedlichen Funktionen. Das hochintegriert verschaltete System ist in der Lage, autochthon, also ohne übergeordnete Regulierung durch das ZNS, die komplexe Motorik sowie die exokrine und endokrine Sekretion des MagenDarm-Traktes zu steuern. Die Funktionen des ENS werden durch humorale und neurohumorale Faktoren (Peptidhormone, Serotonin) sowie durch efferente parasympathische und sympathische Fasern moduliert.[2] Afferente Signale aus multimodalen nocizeptiven Rezeptoren werden über vagale vegetative Bahnen an das ZNS vermittelt (Abb. 2). Störungen dieses Systems treten entweder primär auf mit dann im Vordergrund stehender gastrointestinaler Symptomatik (e.g. Achalasie, Pseudoobstruktion), oder als Manifestation einer neurologischen Systemerkrankung (M. Parkinson, Polyneuropathie) Die Achalasie ist charakterisiert durch einen progredienten Verlust der propulsiv koordinierten Peristaltik des tubulären Ösophagus, verbunden mit einer nicht zeitgerechten schluckreflektorischen Relaxation des unteren Sphinkters. Längerfristig entsteht eine Ösophagusdilatation mit Dysphagie, Retention und ernsthaften Ernährungsproblemen. Zugrunde liegt eine Degeneration der intramuralen Ganglienzellen bisher unklarer Ursache. 688 Die Diagnosestellung bereitet im Vollbild eines Megaösophagus keine Probleme. Allerdings ist auch bei typischem Bild im Breischluck (Abb. 3) eine Ösophagogastroskopie zum Ausschluss eines Cardiatumors zwingend erforderlich. Besonders frühe Stadien bieten sowohl in der Endoskopie als auch im Breischluck mitunter nur uncharakteristische Veränderungen, weshalb bei entsprechendem Verdacht immer eine Ösophagusmanometrie durchgeführt werden sollte. Da sich die zugrunde liegende Motilitätsstörung bisher nicht beeinflussen lässt, besteht die Therapie in der Dehnung bzw. Öffnung der spastischen Cardia durch Pneumodilatation oder lokale Injektion von Botulinumtoxin. Bei ausbleibendem Erfolg bleibt noch die operative Cardiomyotomie. In frühen Krankheitsstadien ohne Dilatation des Ösophagus kann eine medikamentöse Therapie mit einem Kalziumkanalblocker (z. B. Nifedipin) versucht werden. Intestinale Pseudoobstruktion Unter diesem Begriff werden pathophysiologisch und klinisch verschiedene Krankheitsbilder zusammengefasst, die eine schwerwiegende intestinale Passagestörung ohne mechanisches Hindernis verursachen. Differenziert werden familiäre, kongenitale (z. B. Aganglionose Hirschsprung) und erworbene neurodegenerative Formen. Letztere können sich hypermotil manifestieren mit unkoordinierten, teilweise hochamplitudigen und dann auch schmerzhaften Kontraktionen, oder hypomotil mit zunehmender Dilatation des Darmlumens. Diagnostisch ist zunächst eine mechanische Obstruktion auszuschließen, gegebenenfalls sichert eine Manometrie die Funktionsstörung. Die Therapie ist schwierig. In Einzelfällen ist durch die Neurologie / Gastroenterologie Abb. 1: Neurologie und Gastroenterologie, Ursachen gastrointestinaler Komplikationen neurologischer Erkrankungen Abb. 2: Verschaltungen des enterischen Nervensystems (links), Ursachen neurologischer Komplikationen gastrointestinaler Erkrankungen (rechts) Resektion besonders betroffener Darmsegmente eine deutliche Besserung zu erreichen, sonst kann eine parenterale Ernährung notwendig werden. Magen-Darm-Traktes herabgesetzt. Häufig haben diese Patienten zusätzlich psychische Erkrankungen oder Belastungsreaktionen. Von den chronischen Formen ist die auch als Ogilvie-Syndrom bekannte akute intestinale Pseudoobstruktion abzugrenzen, die bei schweren Allgemeinerkrankungen, kritischer Kreislaufsituation oder Polypharmakotherapie auftreten kann. Sie betrifft überwiegend das Kolon und kann dort auch spontane Perforationen verursachen. Therapeutischer Standard ist hier die koloskopische Absaugung mit Platzierung einer Dekompressionssonde, die bis zu einer klinischen Stabilisierung in situ bleibt. Die Diagnose wird auf Basis der im Vordergrund stehenden Symptomatik gestellt. Hierzu sowie zur Klassifikation dienen die Rom-III-Kriterien (Tabelle). Die notwendige Ausschlussdiagnostik wird auf naheliegende Differentialdiagnosen (Ulkuskrankheit, chronisch entzündliche Darmerkrankungen, Sprue, Laktoseintoleranz etc.) und Alarmsymptome fokussiert. Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Therapie ist eine adäquate Aufklärung. Die Behandlung ist ansonsten symptomatisch und orientiert sich am klassifizierten Typ (Diätberatung, Stuhlregulierung, Spasmolytika, ggf. PPI). Eine Psychotherapie ist in vielen Fällen hilfreich.[3] Reizdarm, funktionelle Dyspepsie Diese sehr häufigen und mittlerweile gut untersuchten Störungen der gastrointestinalen Motorik und Reizwahrnehmung bestehen zum einen in Alterationen von Ablauf, Geschwindigkeit und Amplituden peristaltischer Aktionen. Zum anderen ist die Wahrnehmungsschwelle für Schmerzen und Missempfindungen im Bereich des Polyneuropathie Polyneuropathien sind die häufigsten neurologischen Erkrankungen mit gastrointestinalen Motilitätsstörungen. Alle Polyneuropathien können zu einer autonomen Beteiligung und damit zu gastrointestina- len Symptomen führen. Neben chronischen Polyneuropathieformen begleiten solche Symptome auch akute entzündliche Erkrankungen des zentralen Nervensystems wie das parainfektiöse Guillain-Barré-Syndrom. Die diabetische autonome Neuropathie des Gastrointestinaltraktes ist die häufigste chronische Neuropathie und verursacht zahlreiche Beschwerden wie Völlegefühl, abdominelle Schmerzen, Übelkeit und Erbrechen sowie Obstipation und Diarrhoe. Etwa 40 Prozent der Patienten mit einem langjährigen Diabetes mellitus geben diese Symptome an. Eine autonome Neuropathie ist zu vermuten, wenn eine eindeutige sensomotorische Neuropathie vorliegt und eine kardiale autonome Neuropathie nachzuweisen ist. Die Therapie ist symptomorientiert, der Blutzucker sollte optimal eingestellt werden. Bei diabetischer Gastroparese ist niedrig dosiertes Erythromyzin als Motilinagonist spezifisch wirksam. Seltene Ursachen der Polyneuropathie sind Porphyrien und Amyloidosen, bei denen neben der autonomen Polyneuropathie noch viele andere gastroenterologische Symptome auftreten können. 689 Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009 Voraussetzung einer solchen Therapie ist aber die vorherige urologische Untersuchung und der Ausschluss einer signifikanten Restharnbildung. Fazit Funktionelle Dyspepsie Die hier exemplarisch dargestellten Erkrankungen belegen, wie eng Nervensystem und Gastrointestinaltrakt miteinander verknüpft sind. Aufgrund der wechselseitigen Komplikationen ist für eine qualitativ hochwertige Behandlung eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Gastroenterologen und Neurologen von großer Bedeutung. Mindestens eines der folgenden Symptome während mindestens drei Monaten und vor mindestens sechs Monaten erstmals aufgetreten: ■ ■ ■ ■ ■ störendes postprandiales Völlegefühl beschleunigtes Sättigungsgefühl epigastrische Schmerzen epigastrisches Brennen keine Anhaltspunkte für eine strukturelle Pathologie (inkl. normale Gastroskopie), welche die Symptomatik erklären könnte Reizdarmsyndrom Abdominale Schmerzen oder Unwohlsein an mindestens drei Tagen pro Monat während der vorangegangenen drei Monate, Beginn vor mindestens sechs Monaten mit mindestens zwei der folgenden Zeichen: Literatur ■ Besserung durch Defäkation ■ Beginn mit Änderung der Stuhlfrequenz ■ Beginn mit Änderung von Stuhlkonsistenz und -aussehen [2] Goyal RK, Hirano J. The enteric nervous system. New [1] Berges W, Töpper R. Gastrointestinaltrakt. In: P. Berlit and P.T. Sawicki (Eds.), Neurologie – Innere Medizin interdisziplinär. Stuttgart: Georg Thieme Verlag 2004; 97-135. Engl J Med. 1996; 334: 1106-14. [3] Mayer EA. Irritable Bowel syndrome. New Engl J Med 2008; 1692-9. Tabelle: Funktionelle Dyspepsie und Reizdarm; Abb. 3: Kontrastmitteldarstellung einer Achalasie. definierende Symptomatik (Rom-III-Kriterien) Geschlossene Pfeile: tertiäre (nicht propulsive) Kontraktionen, offene Pfeile: enggestelltes Cardiasegment ohne KM-Passage M. Parkinson Gastrointestinale Funktionsstörungen sind bei Patienten mit M. Parkinson häufig. Sie werden in der Regel aber weit weniger beachtet als die motorischen Symptome, obwohl sie die Lebensqualität der Betroffenen ebenso einschränken. Pathologischanatomisch findet sich bei diesen Patienten neben der Degeneration der dopaminergen Neurone in der Substantia nigra auch ein Neuronenverlust im peripheren autonomen Nervensystem. Neben Blasenentleerungsstörungen und einer posturalen Hypotension beklagen Parkinson-Patienten eine Obstipation, der eine verlangsamte gastrointestinale Passage oder ein beeinträchtigter Defäkationsreflex zugrunde liegen können. Ursache der gastrointestinalen Beschwerden können neben der autonomen Dysfunktion auch die Nebenwirkungen der dopaminergen und anticholinergen Medikation sein. 690 Therapeutisch ist Parkinson-Patienten eine reichliche Flüssigkeitszufuhr zu empfehlen. Pflanzliche Ballaststoffe (Leinsamen, Weizenkleie) eignen sich bei milderen Formen der Obstipation. Macrogol als osmotisches Laxans ist Mittel der Wahl bei schwereren Formen. Zur Verbesserung der Motilität im oberen Gastrointestinaltrakt eignet sich der ausschließlich peripher wirksame Dopaminantagonist Domperidon (MotiliumR). Er lindert Völlegefühl und vorzeitiges Sättigungsempfinden. Blasenstörungen, posturale Hypotension und Störungen der Schweißsekretion sind andere Symptome einer Beeinträchtigung des autonomen Nervensystems. Oft ist es für den Arzt schwierig, Symptome der Erkrankung von Nebenwirkungen der Parkinson-Medikation zu unterscheiden. Die typische Blasenstörung des Parkinson-Patienten, die DetrusorHyperreflexie, führt zu einem häufigen und imperativen Harndrang und wird mit peripher wirksamen, den Blasenmuskel dämpfenden Anticholinergika behandelt. Kontakt Priv.-Doz. Dr. Stefan U. Christl 2. Medizinische Abteilung – Gastroenterologie Asklepios Klinik Harburg Eißendorfer Pferdeweg 52 21075 Hamburg Tel. (0 40) 18 18-86 22 26 Fax (0 40) 18 18-86 30 78 E-Mail: s.christl@asklepios.com Prof. Dr. Rudolf Töpper Neurologische Abteilung Asklepios Klinik Harburg Eißendorfer Pferdeweg 52 21075 Hamburg Tel. (0 40) 18 18-86 25 52 Fax (0 40) 18 18-86 30 92 E-Mail: r.toepper@asklepios.com Unfallchirurgie Pseudarthrosen: Pathophysiologie und Therapie Prof. Dr. Thomas A. Schildhauer Noch bis vor etwa zehn Jahren standen Pseudarthrosen nach offenen Osteosynthesen, insbesondere im Unterschenkelbereich mitsamt ihren Fehlstellungen und Defekten, im Vordergrund. Heute findet man sie in großer Zahl nach „biologischen“ und „minimal-invasiven“ Osteosynthesen, zunehmend auch im Oberarmbereich, etwa nach ungebohrten Nagelosteosynthesen mit unzureichend stabiler Verriegelung (Abb. 1). Um die verschiedenen Therapiemöglichkeiten der Pseudarthrosen einzuordnen, muss man zunächst deren Pathophysiologie verstehen. Im medizinisch-wissenschaftlichen Sinne spricht man erst von einer ausgebildeten Pseudarthrose, wenn eine Fraktur nach einem Zeitraum von mehr als sechs bis neun Monaten nicht verheilt ist. Dabei unterscheidet man die durch Instabilität begründete hypertrophe Pseudarthrose mit guten biologischen Heilungsvoraussetzungen von der oligo- und atrophen Pseudarthrose mit schlechter lokaler Vaskularisation, wie sie bei offenen Frakturen, Weichteildefekten, traumatisierenden offenen Osteosynthesen und Re-Operationen auftreten kann. Auch metabolische Erkrankungen und Medikamente spielen eine Rolle in der Genese der atrophen Pseudarthrose und sollten in therapieresistenten Fällen abgeklärt werden. Weiter bekannt sind die Infekt-Pseudarthrose, die eigentlich auch einer oligo-/atrophen Pseudarthrose aufgrund septischer Mikrothrombosen entspricht, und die synoviale Pseudarthrose, die durch eine echte Falschgelenkbildung nach lang bestehender Instabilität charakterisiert ist. Im Prinzip ist aus praktisch-chirurgischer Sicht unbedingt noch eine weitere Pseudarthrosegruppe hinzuzufügen: die der „drohenden Pseudarthrose“. Im Interesse der Patienten ist es nicht zu verantworten, zunächst auf eine Frakturheilung zu hoffen, Abb. 1: Hypertrophe Pseudarthrose nach Humerusmark- Abb. 2: Immanente Pseudarthrose bei Instabilität und nagelung mit Instabilität bei unzureichender Verriegelung Fehlstellung im proximalen Bruchbereich und Distraktion im distalen Frakturanteil wenn schon klare Voraussetzungen für die Entwicklung einer Pseudarthrose bestehen. Dazu gehören unter anderem eine instabile Osteosynthese (zum Beispiel ungebohrter Marknagel mit unzureichender Verriegelung bei metaphysären Frakturen), Muskelinterposition bei konservativer Frakturbehand- lung (zum Beispiel proximale HumerusSpiralfraktur), Knochendefekte über vier Millimeter sowie Weichteildefekte und Verletzungen (Abb. 2). In all diesen Situationen sollte unverzüglich adäquat operativ interveniert und nicht erst ein Auftreten einer Pseudarthrose abgewartet werden. 691 Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009 a b a b c Abb. 3: (a) Hypertrophe Diaphysenpseudarthrose mit dünnem Nagel in einem zu weiten Kanal sowie Zustand nach Abb. 4: Instabile hypotrophe Becken-Pseudarthrose im Dynamisierung mit resultierender Instabilität (b): Eine stabile Osteosynthese mit einem dickeren gebohrten Mark- vorderen und hinteren Beckenring; stabile Ausheilung nagel und additiver Anti-Rotationsplatte führte zur Ausheilung. nach rigider Osteosynthese und Anlage cortico-spongiöser Späne; (a) prä-operativ, (b) post-operativ nach Revisionseingriff, (c) Nachuntersuchung nach acht Monaten Therapieverfahren sind in Abhängigkeit von der Art der Pseudarthrose zu diskutieren. Eine hypertrophe Pseudarthrose muss mit einer rigiden Osteosynthese behandelt werden. Bei der typischen hypertrophen Diaphysenpseudarthrose nach ungebohrter Nagelung ist ein gebohrter Nagel oder eine kurze additive Plattenosteosynthese ohne Ausräumung des osteogenetisch aktiven Pseudarthrosengewebes indiziert (Abb. 3). In Bezug auf die Tibia ist an eine Fibulaosteotomie zu denken. Im metaphysären Bereich sind als stabilisierende Maßnahmen kurze additive Platten in einer zweiten Ebene oder Umstellungsosteotomien (proximales Femur) in Erwägung zu ziehen. 692 Bei der hypotrophen Pseudarthrose muss die Weichteil- und Perfusionssituation optimiert werden, bevor ein radikales Debridement mit angrenzender Dekortikation des endständig sklerosierten Knochens vorgenommen wird (Abb. 4). Dem folgt eine rigide Osteosynthese – typischerweise mit einer winkelstabilen Platte. Bei bestehender PNP ist allerdings ein Ilizarov-Fixateur das Verfahren der Wahl. Zur Verbesserung der lokalen Osteogenese stehen als osteoinduktive Verfahren die autologe Spongiosatransplantation, der vaskularisierte Fibulatransfer sowie neuerdings auch die mesenchymale Stammzelltherapie, die Transplantation kultivierter peri- ostaler Zellen und die Implantation von Wachstumsfaktoren zur Verfügung. Eine Überlegenheit der letztgenannten kostenträchtigen Methoden konnte jedoch bis heute nicht eindeutig aufgezeigt werden. Synoviale Pseudarthrosen werden reseziert, der Defekt rigide osteosynthetisch stabilisiert und mit Dekortizierung und autologer Spongiosaanlagerung therapiert (Abb. 5). Bei der Behandlung der InfektPseudarthrosen spielt die chirurgische Infektbekämpfung die zentrale Rolle. Eine antibiotische Therapie ist nur als begleitend zu verstehen, nicht als sanierend. Ansonsten gelten die gleichen Behand- Unfallchirurgie Abb. 5: Typische synoviale Pseudarthrose im radiologischen und klinischen Bild lungsschritte wie für eine atrophe Pseudarthrose. Allerdings wird zur Stabilisierung ein Ilizarov-Fixateur aufgrund seiner Fixations-Vielfältigkeit und Stabilität favorisiert. Interne Implantate sind mit einer erhöhten Gefahr der Infektpersistenz vergesellschaftet. Zu adjuvanten Behandlungsformen zählen die extrakorporale Stoßwellentherapie, die Ultraschalltherapie und die elektrische Stimulation. Allerdings steht die generelle Etablierung dieser Verfahren aus unterschiedlichen Gründen bis heute aus. Kontakt Prof. Dr. Thomas Armin Schildhauer Zentrum für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie Asklepios Klinik St. Georg Lohmühlenstraße 5, 20099 Hamburg Tel. (0 40) 18 18-85 22 86 Fax (0 40) 18 18-85 37 70 E-Mail: t.schildhauer@asklepios.com 693 Personalia Priv.-Doz. Dr. Jörg Schwarz Dr. Christoph Külkens Asklepios Klinik Nord: Neuer Chefarzt der Gynäkologie na, die Sentineltechnik, alle gängigen plastischen Verfahren an der Brust sowie rekonstruktiven Verfahren im Bereich der Brust und des Genitale mit Ausnahme freier Lappenplastiken, die operative Therapie im Rahmen der Transformation bei Transsexualität sowie die Diagnostik und Therapie von Krebsvorstufen im Genitale (Kolposkopie) einschließlich Laserchirurgie. Seit Juli leitet Priv.-Doz. Dr. Jörg Schwarz die Abteilung für Gynäkologie der Asklepios Klinik Nord – Heidberg. Schwarz wurde 1964 in Jülich geboren, ist verheiratet und hat zwei Söhne. Sein Medizinstudium absolvierte er an der Universität Brescia und der RWTH Aachen. Die Weiterbildung zum Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe absolvierte Schwarz in den Frauenkliniken der TU München und des UKE sowie in der Klinik für Geburtsmedizin der Berliner Charité. 1999 wurde Schwarz Oberarzt der Frauenklinik im UKE, 2003 habilitierte er sich mit dem Thema „Untersuchungen zur Bedeutung der Positronen-EmissionsTomographie mit F-18 Fluordeoxyglukose (FDG-PET) in der Diagnostik des Mammakarzinoms“ und erhielt die Venia Legendi für das Fach Gynäkologie und Geburtshilfe. Von 2003 bis 2009 war Schwarz Leitender Oberarzt und Stellvertreter des Direktors der Klinik für Gynäkologie an der Frauenklinik des UKE sowie ab 2007 Leiter des Schwerpunktes Operative Onkologie und plastisch-rekonstruktive Chirurgie. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte sind FDG-PET in der Diagnostik des Mammaund Ovarialkarzinoms, die Therapie des Ovarialkarzinoms, klinische Untersuchungen zu Zervix- und Vulvakarzinom, Lichen sklerosus sowie die operative Therapie bei Zervixdysplasie. Zu seinen klinischen Schwerpunkten zählen alle abdominalen, vaginalen und minimal-invasiven Operationsverfahren der operativen Gynäkologie, die radikale Chirurgie des Ovarialkarzinoms (Debulking), nervenschonende und minimal-invasive Operationsverfahren bei Zervix- und Endometriumkarzinom, organerhaltende und radikale Operationsverfahren bei Vulva- und Vaginalkazinom mit plastischer Rekonstruktion von Vulva und Vagi- 694 Kontakt PD Dr. Jörg Schwarz Abteilung für Gynäkologie und Brustzentrum Asklepios Klinik Nord – Heidberg Tangstedter Landstraße 400, 22417 Hamburg Tel. (0 40) 18 18-87 31 26 Fax (0 40) 18 18-87 31 27 E-Mail: joe.schwarz@asklepios.com Asklepios Klinik Nord: Neuer Chefarzt für HNO-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie Seit Februar leitet Dr. Christoph Külkens die HNO-Abteilung der Asklepios Klinik Nord – Heidberg. Er wurde in Osnabrück geboren, studierte an der Julius-Maximilians-Universität zu Würzburg und der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, absolvierte das PJ unter anderem in Zürich und San Francisco. Seine HNO-fachärztliche Ausbildung begann Külkens 1995 an der Klinik für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel. 1998 wechselte Külkens an die Philipps-Universität zu Marburg, wo er nach der FacharztAnerkennung 2000 zum Oberarzt ernannt wurde. Hier absolvierte er auch ein berufsbegleitendes Aufbaustudium „Health Care Management“. 2003 erlangte Külkens die Zusatzbezeichnung „Plastische Operationen“ sowie die Fakultative Weiterbildung „Spezielle HNO-Chirurgie“, 2004 die Aner- kennung als DEGUM-Ausbilder der Sektion Kopf/Hals. Nach Hospitationen für plastische und ästhetische Gesichtschirurgie in den USA und Norwegen wechselte er 2005 als Oberarzt an die Klinik für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie der Johannes-Gutenberg-Universität zu Mainz. Dr. Külkens ist Mitglied zahlreicher nationaler und internationaler Fachgesellschaften. Er verfügt über ein breites Kompetenzprofil in allen Themen seines Fachgebietes, insbesondere in der mikroskopischen und endoskopischen Nasennebenhöhlenchirurgie, der organerhaltenden Laserchirurgie bei der Behandlung von Kopf-Hals-Tumoren, der sanierenden und hörverbessernden Ohrchirurgie, der Chirurgie der Speicheldrüsen sowie der plastisch-rekonstruktiven und ästhetischen Gesichtschirurgie. In Heidberg möchte er vor allem für die Patienten im Norden Hamburgs sowie im Süden Schleswig-Holsteins das gesamte Spektrum der modernen Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie anbieten und durchführen. Ein erfahrenes Team sowie modernste technische Ausstattung und Methoden sorgen für ein Höchstmaß an diagnostischer und operativer Sicherheit. Hierzu werden ab Oktober 2009 ein neuer OP-Trakt sowie neue Behandlungs- und Untersuchungsräume im Kopfzentrum erstellt. Kontakt Dr. Christoph Külkens Abteilung für HNO-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie Asklepios Klinik Nord – Heidberg Tangstedter Landstraße 400, 22417 Hamburg Tel. (040) 18 18-87 34 64 Fax (040) 18 18-87 33 72 E-Mail: c.kuelkens@asklepios.com Hals-Nasen-Ohrenheilkunde Kopf-Hals-Tumore – moderne chirurgische Konzepte Dr. Christoph Külkens Das Plattenepithelkarzinom ist der häufigste maligne Tumor im Bereich der Schleimhäute der oberen Luft- und Speisewege. Hauptursache ist der synergistische Effekt eines langjährigen Alkohol- und Tabakabusus, der zu einer toxischen Schleimhautschädigung und einer Feldkanzerisierung führen kann.[1] Die Prognose der Plattenepithelkarzinome der oberen Luft- und Speisewege ist nach wie vor häufig ungünstig und konnte über die vergangenen Jahrzehnte trotz optimierter Resektions- und Rekonstruktionstechniken sowie Weiterentwicklung der Radiound Chemotherapiekonzepte nicht wesentlich verbessert werden. Dies erklärt sich vor allem durch die bei Diagnosestellung bereits vorhandene hohe zervikale lymphogene Metastasierungsrate, aber auch durch die vorwiegend im späteren Krankheitsverlauf auftretenden Fernmetastasen. Deshalb haben sich in den vergangenen 20 Jahren die Therapiekonzepte verändert. Die chirurgische Radikalität wurde sowohl bei der Therapie des Primärtumors als auch der lokoregionären Metastasen zunehmend zugunsten organ- und funktionserhaltender Strategien verlassen, um bei gleich bleibenden onkologischen Ergebnissen die operationsbedingten Funktionseinschränkungen zu reduzieren und damit die Lebensqualität der Patienten zu verbessern. Therapie des Primärtumors Die Behandlung maligner Tumoren der oberen Luft- und Speisewege ist aufgrund der komplexen Anatomie und Organfunktionen (Gesichtsästhetik, Schluckfunktion, Atmung, Sprache, Stimme) problematisch. Radikale Blockresektionen führen nicht selten zu erheblichen Funktionseinschränkungen. Um funktionelle Einschränkungen zu reduzieren, wurde seit Mitte der 80er-Jahre die transorale Lasermikrochirurgie mit dem CO2-Laser entwickelt und zunehmend zur Behandlung von Karzinomen der Mundhöhle, des Oro- und Hypopharynx sowie des Larynx angewandt. Durch die transorale Tumorexposition kann auf einen Zugangsweg von außen verzichtet werden, der vielfach mit einer Durchtrennung muskulärer und nervaler sowie zum Teil knöcherner Strukturen verbunden ist. Wesentlicher Vorteil der CO2-Laserchirurgie ist das berührungsfreie und im kapillären Bereich blutungsarme Schneiden der Schleimhaut, was eine sehr gute intraoperative Übersicht ermöglicht. Die transorale Laserchirurgie wird standardmäßig unter mikroskopischer Kontrolle durchgeführt. Der CO2-Laser wird hierfür an ein Operationsmikroskop angekoppelt und der Laserstrahl über einen Mikromanipulator ins Gewebe appliziert. Der Fokus des Laserstrahls wird durch den Mikromanipulator auf 0,25 mm reduziert, was ein leistungsreduziertes Schneiden ermöglicht und die thermische Schädigung benachbarter Gewebe minimiert. Das operative Ziel der Lasermikrochirurgie ist, wie bei den konventionell-chirurgischen Techniken, die vollständige Entfernung des Primärtumors. Allerdings werden die Resektionsgrenzen im Gegensatz zur konventionellen Chirurgie durch dessen Lokalisation und Größe bestimmt. Intraoperativ ermöglicht das Operationsmikroskop in der Regel eine gute Differenzierung zwischen gesundem und tumorösem Gewebe und somit die Erkennung der Tumorgrenzen. Die thermische Versiegelung kleinerer Blut- und Lymphgefäße ermöglicht eine gute intraoperative Übersicht. So lassen sich die Tumorgrenzen besser erkennen und der Gewebedefekt durch Anpassung der Resektion möglichst klein halten. Kleinere und überwiegend oberflächliche Karzinome lassen sich als Ganzes umschneiden, größere Tumoren müssen in Teilen reseziert werden, wobei auch die Tiefeninfiltration beurteilt werden kann. Im Gegensatz zur konventionellen En-blocResektion erfolgt die Schnittführung bei der laserchirurgischen Resektion großer Tumore teilweise durch den Tumor, wobei die thermische Versiegelung der Lymphgefäße am Schnittrand eine relevante Tumorzellaussaat verhindert. Somit wird der Operateur bei der Resektion weitgehend von der Tumorausdehnung geleitet und kann im Gegensatz zur Blockresektion viel gesundes Gewebe schonen. Das verbleibende Gewebe ermöglicht im Kopf-HalsBereich den Organerhalt und damit die Aufrechterhaltung einer guten Schluckund Stimmfunktion. Darüber hinaus kann in den meisten Fällen auf einen Luftröhrenschnitt verzichtet werden. Die Versiegelung der Schnittkanten erübrigt eine Deckung des Gewebedefektes (Abb. 1). Literatur und eigene Erfahrungen zeigen, dass die onkologischen Ergebnisse der Laserchirurgie den konventionell-chirurgischen Techniken oder der primären Strahlentherapie gleichwertig und zum Teil sogar überlegen sind.[2,3] Zugleich lässt sich mit dieser Technik eine deutlich bessere Funktionalität und somit Lebensqualität 695 Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009 Abb. 1: Supraglottisches Larynxkarzinom vor und unmittelbar nach Laserresektion sowie 10 Wochen postoperativ erzielen.[4] Die transorale, mikroskopischkontrollierte CO2-Laserchirurgie ist daher bei der Behandlung von begrenzten und oberflächlich gewachsenen Karzinomen der oberen Luft- und Speisewege die Methode der Wahl. Auch ausgedehntere Karzinome lassen sich komplett resezieren, dies ist aber besonders an die Erfahrung und Expertise des Operateurs gebunden. Therapie der Halslymphknotenmetastasierung Die Prognose von Patienten mit Plattenepithelkarzinomen im Kopf-Hals-Bereich wird maßgeblich durch das Vorhandensein von Halslymphknotenmetastasen bei der Diagnosesicherung bestimmt. So halbieren sich die Überlebensraten der Patienten mit nachgewiesenen zervikalen Filiae. Eine weitere Prognoseverschlechterung tritt mit histopathologischem Nachweis einer Kapselruptur oder einer Lymphangiosis carcinomatosa ein.[5] Daher kommt Diagnostik und Therapie der zervikalen Metastasierung eine ganz wesentliche Bedeutung zu. Der Lymphabfluss von den verschiedenen Lokalisationen der oberen Luft- und Speisewege erfolgt entlang relativ konstanter und vorhersehbarer Richtungen in bestimmte Lymphknotengruppen. Deren Einteilung erfolgte auf Basis dieser bevorzugten Metastasierungsrichtungen. Aktuell werden die circa 300 Lymphknoten des Halses in sieben Regionen eingeteilt (Abb. 2).[6,7] 696 Diagnostik Halslymphknoten Vor dem Hintergrund des sich wandelnden chirurgischen Managements der Halslymphknotenmetastasierung wird die Diagnostik zervikaler Lymphknoten seit vielen Jahren kontrovers diskutiert. Die Erhebung des Halslymphknotenstatus durch alleinige Palpation ist zur validen Erfassung von Metastasen völlig unzureichend. Bildgebende Verfahren wie CT und MRT ermöglichen neben einer Beurteilung des Primärtumors auch eine gute Beurteilung der Halslymphknoten. Zahlreiche vergleichende Untersuchungen zeigten jedoch, dass die B-Sonografie diesen Verfahren gleichwertig oder überlegen ist.[8] Die Aussagekraft bei der Beurteilung zervikaler Raumforderungen lässt sich durch Kombination mit einer Punktionszytologie weiter verbessern. Mit der sonografischkontrollierten Feinnadelpunktion (FNP) lassen sich insbesondere kleinere und in tieferen Halsschichten lokalisierte Raumforderungen sicher unter Sicht punktieren. Damit lässt sich die Wahrscheinlichkeit einer Halslymphknotenmetastasierung prätherapeutisch besser einschätzen.[9] Therapie Halslymphknoten Die chirurgische Behandlung des regionären Lymphabflusses erfolgt in der Regel in Form einer sogenannten Neck dissection. Die 1906 von Crile erstmals beschriebene radikale Neck dissection (RND) stellte jahrzehntelang das Standardverfahren zur Behandlung von zervikalen Lymphknoten- metastasen dar. Dabei wurden die Halslymphknotenregionen I-V mit gleichzeitiger Entfernung des M. sternocleidomastoideus, der V. jugularis interna und des N. accessorius ausgeräumt. Dementsprechend war dieses radikale Operationsverfahren mit starken funktionellen Einschränkungen verbunden. Analog zur weniger invasiven Chirurgie des Primärtumors wurde die Radikalität der Neck dissection zur Verbesserung der postoperativen Funktionalität schrittweise durch selektive Formen ersetzt. Abhängig von den Hauptmetastasierungsrichtungen des Primärtumors werden bei der selektiven Neck dissection (SDN) nur noch einzelne Lymphknotenregionen (Abb. 2) ausgeräumt und der M. sternocleidomastoideus, der N. accessorius und die V. jugularis interna erhalten. Das minimiert die funktionellen Einschränkungen bei gleichem onkologischem Ergebnis deutlich und verbessert so die Lebensqualität. Analog zum beispielhaft gezeigten supraglottischen Larynxkarzinom würden hierbei lediglich die Regionen II bis IV ausgeräumt.[10] Die Neck dissection kann grundsätzlich unter zwei Zielsetzungen erfolgen: Bei klinisch eindeutigem Vorliegen von Metastasen (N+ Hals) wird sie mit kurativer Intention durchgeführt werden. Je nach Ausmaß der Metastasierung erfolgt eine modifiziert radikale Neck dissection (MRND) oder eine SND.[11] Hals-Nasen-Ohrenheilkunde Literatur IIB [1] Johnson N, Warnakulasuriy S, Tavassoli M. Hereditary and environmental risk factors: clinical and laboratory risk markers for head and neck especially oral, and precancer. Eur J Cancer Prev 1996; 5: 5-17. IIA [2] Ambrosch P. Lasers in the upper aerodigestive tract in malignant diseases. Laryngorhinootologie. 2003 May; 82 IB (Suppl 1): 114-43. IA VA [3] Steiner W. Endoskopische Laserchirurgie der oberen Luft- und Speisewege. Stuttgart-New York: Thieme Verlag 1997. III [4] Werner JA, Dunne AA, Folz BJ, Lippert BM. Transoral laser microsurgery in carcinomas of the oral cavity, pharynx, and larynx. Cancer Control 2002 Sep-Oct; 9(5): 379- VI 86. Review. [5] Richard JM, Sancho-Garnier H, Micheau C, Saravane D, Cachin Y. Prognostic factors in cervical lymph node IV VB metastasis in upper respiratory and digestive tract carcinomas: study of 1,713 cases during a 15-year period. Laryngoscope 1987; 97: 97-101. [6] Robbins KT, Clayman G, Levine PA, et al. Neck dissection classification update: revisions proposed by the American Head and Neck Society and the American Academy Abb. 2: Schemazeichnung der anatomischen Begrenzungen der 6 Halslymphknoten- of Otolaryngology-Head and Neck Surgery. Arch Otola- regionen und 3 Unterregionen (in Anlehnung an Robbins et al. 2008) ryngol Head Neck Surg. 2002 Jul; 128(7): 751-8. [7] Robbins KT, Shaha AR, Medina JE, et al. Committee for Neck Dissection Classification, American Head and Neck Zum anderen kann die Neck dissection mit dem Ziel eines operativen Staging-Verfahrens (elektive Neck dissection) erfolgen, da in bis zu 20 Prozent der Fälle okkulte Metastasen vorliegen, die einer Diagnostik nicht zugänglich sind (N0 Hals). Besonders bei Primärtumoren mit hoher Metastasierungsfrequenz (Oro- und Hypopharynkarzinome, supraglottische Karzinome) sollte eine elektive Neck dissection durchgeführt werden. Der histopathologischen Beurteilung des Präparates (N+ oder N0) kommt zudem besondere Bedeutung hinsichtlich der Notwendigkeit einer postoperativen Strahlentherapie zu. Alternativ zur elektiven chirurgischen Behandlung des Halses kann bei kleinen Karzinomen eine „wait and see policy“ diskutiert werden, was aber eine regelmäßige sonografische Nachsorge durch einen erfahrenen Untersucher voraussetzt. Fazit Die Behandlung von Plattenepithelkarzinomen des oberen Aerodigestivtraktes und des zervikalen Lymphabflusses hat sich in den vergangenen Jahren zugunsten weniger radikaler, mehr organ- und funktionserhaltender Techniken verändert. Insbesondere bei Patienten mit weit fortgeschrittenen Primärtumoren und/oder Halslymphknotenmetastasierungen ist eine radikale chirurgische Sanierung aber weiter erforderlich, wobei neue Resektionstechniken und rekonstruktive Maßnahmen vielfach auch in diesen Fällen die postoperative Funktionalität verbessern (mikroanastomosierte Lappentechniken, Stimmprothesen nach Laryngektomie). Society. Consensus statement on the classification and terminology of neck dissection. Arch Otolaryngol Head Neck Surg. 2008 May; 134(5): 536-8. [8] Lippert BM, Külkens C. Möglichkeiten und Grenzen der sonographischen Lymphknotendiagnostik. In: Lippert BM, Rathcke IO, Werner JA (Hrsg): Lymphologie gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Aachen; Shaker 1999: 54-9. [9] Lippert BM, Külkens C. Untersuchungsmethoden. In: Werner JA (Hrsg): Lymphknotenerkrankungen im KopfHals-Bereich. Berlin; Springer 2002: 87-159. [10] Kuntz AL, Weymuller EA Jr. Impact of neck dissection on quality of life. Laryngoscope 1999; 109: 1334-8. [11] Werner JA. Aktueller Stand der Versorgung des In vielen Fällen ist nach erfolgter chirurgischer Sanierung des Primärtumors und der Lymphabflusswege eine ergänzende Radiooder Radiochemotherapie erforderlich. In Abhängigkeit von Tumorlokalisation und -größe kann auch prä- oder postoperativ eine Chemo- oder Antikörpertherapie sinnvoll erscheinen. Daher sollte nach Diagnose und Staging das individuelle Therapiekonzept im Rahmen einer interdisziplinären onkologischen Konferenz festgelegt werden. Lymphabflusses maligner Kopf-Hals-Tumoren. Eur Arch Otorhinolaryngol 1997; Suppl I: 47-85. Kontakt Dr. Christoph Külkens Abteilung für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie Asklepios Klinik Nord – Heidberg Tangstedter Landstraße 400 22417 Hamburg Tel. (0 40) 18 18-87 34 64 Fax (0 40) 18 18-87 33 72 E-Mail: c.kuelkens@asklepios.com 697 Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009 Interdisziplinäre Versorgung neuroonkologischer Patienten Dr. Michael Kämper, Dr. Dietrich Braumann, Dr. Jörg Dahle, Prof. Dr. Uwe Kehler Die Anforderungen an die Behandlung (hirn-)tumorerkrankter Patienten werden zunehmend schwieriger und komplexer. Zum einen steigt die Zahl der Erkrankten, vor allem aufgrund der demografischen Entwicklung, die flächendeckend verfügbaren Screening-Untersuchungen und die sensitivere Diagnostik bringen zudem viele Tumoren bereits im Frühstadium zutage. Zum anderen verringern die rasanten Fortschritte der onkologischen Therapie die Mortalität. Die gesellschaftlichen Forderungen nach einer umfassenden, ganzheitlichen und kompetenten Versorgung onkologischer Patienten finden ein großes Echo. Es wird ein bestqualifizierter Standard erwartet. Dessen Umsetzung für Hirntumor-Patienten erfolgt in der Asklepios Klinik Altona in der „Interdisziplinären neuroonkologischen Konferenz“. Tumorboards Sprechstunden Interdisziplinäre Tumorboards sind die Antwort auf die hohen Anforderungen der modernen Tumorbehandlung. Sie ermöglichen die rasche Festlegung eines individualisierten Therapiekonzepts für den jeweiligen Patienten und gewährleisten eine kontinuierliche, langfristige Betreuung. Das Zusammenwirken von Experten aus verschiedenen Disziplinen schafft kurze Wege, ermöglicht Synergien und vermindert Redundanzen. Sie erarbeiten verbindliche evidenzbasierte Konzepte und können auf geänderte Situationen während des Krankheitsverlaufs rasch reagieren. Unter dem Dach des im Dezember 2008 von der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie zertifizierten Onkologischen Zentrums der Asklepios Klinik Altona haben sich zusätzlich die Neuroonkologische Konferenz, das Mammaund das Darmzentrum ausgebildet. Neuroonkologie Insbesondere die ermutigenden Ergebnisse der Stupp-Studie aus dem Jahr 2005 [4] haben in Neurochirurgie und -onkologie eine Neubewertung der Möglichkeiten adjuvanter Therapien bei malignen hirneigenen Tumoren bewirkt. In ihrer Folge wurde eine große Zahl neuer Protokolle und Verfahren entwickelt, die Hoffnung 698 Stationen Anmeldung zur Konferenz niedergelassene Ärzte/Ärztinnen Tumorboard trifft verbindliche Entscheidungen individuelle Therapie 1 x pro Woche Abb. 1: Flussdiagramm der Anmeldungswege machen, aber auch kritischer Würdigung bedürfen. Die raschen Fortschritte auf allen Gebieten unterstreichen die Forderung nach einer umfassenden interdisziplinären Betreuung. Diesen Entwicklungen in der Gruppe der Hirntumorerkrankungen trug die Asklepios Klinik Altona vor fünf Jahren durch Gründung der interdisziplinären neuroonkologischen Tumorkonferenz (IDNOK) Rechnung. Der Anteil neuroonkologischer Erkrankungen liegt mit etwa zwei Prozent aller Tumorerkrankungen recht niedrig. Da sich die Patienten aber in hochspezialisierten Zentren sammeln, rekrutieren diese Einrichtungen entsprechend hohe Fallzahlen. Der großen Gefahr seltener Einzelentscheidungen in diesem immer unübersichtlicher werdenden Feld begegnen sie durch ein erfahrenes und interdisziplinäres Team. Die Gruppe der Hirntumorerkrankungen ist sehr heterogen und weist eine Reihe von Besonderheiten auf, die spezielle diagnostische und therapeutische Verfahren verlangen. So finden sich in etwa gleichem Umfang Hirntumore im eigentlichen Sinne (Gliome, Meningeome, Hypophysentumore etc.) wie metastatische Erkrankungen. Zentrale Einrichtung für die Tumorbehandlung im Neurozentrum ist die interdisziplinäre neuroonkologische Konferenz (IDNOK). Sie wird einmal wöchentlich abgehalten und ist für jeden Anmelder offen. Ärzte aus dem niedergelassenen Bereich oder aus anderen Kliniken können dort Patienten vorstellen (Abb. 1). Die Anmeldung kann jederzeit unkompliziert über das Sekretariat oder die Hirntumorsprechstunde erfolgen. Die jährlich steigenden Fallzahlen belegen die Akzeptanz (Abb. 2). Neurochirurgie und Onkologie Teilnehmer der interdisziplinären Konferenz Die Besetzung der IDNOK rekrutiert sich aus Experten verschiedener Fachdisziplinen, die besondere Expertise bei der Behandlung Hirntumorerkrankter aufweisen. Neuroradiologie: Die moderne Bildgebung entwickelt sich rasch und ist in der Interpretation ihrer Befunde hochkomplex. Insbesondere die Beurteilung der NMR-Bilder im Rezidivfall ist oft hoch diffizil. (Neuro-)Pathologie: Sie präsentiert nach der aktuellen WHO-Klassifikation die aus Hirntumoroperationen und stereotaktischen Probebiopsien gewonnenen histologischen Befunde, auf deren Basis die Therapien aufbauen. Bei seltenen und unklaren Fällen besteht ein enger Kontakt zu entsprechenden Referenzzentren. 300 250 200 150 100 50 0 2005 2006 2007 2008 Abb. 2: Entwicklung der Fallzahlen, die in der Neuro- Abb. 3: Protokoll eines Glioblastompatienten onkologischen Konferenz abgehandelt wurden Ablauf Neurochirurgie: Die Neurochirurgische Abteilung deckt das gesamte Spektrum der mikrochirurgischen Tumoroperationen mit einem großen Volumen ab. Dazu gehören alle wichtigen OP-Methoden wie Mikrochirurgie, Neuronavigation, Stereotaxie, intraoperativer Ultraschall und lokale Chemotherapie. Onkologie: Der besonderen Biologie der hirneigenen Tumoren ist bei der systemischen Therapie ebenso Rechnung zu tragen wie den metastatischen Erkrankungen. Hierzu ist eine hochspezialisierte Onkologische Abteilung nötig, die beide Gebiete breit abdeckt. Strahlentherapie: Die dritte therapeutische Säule besteht aus der Radiotherapie. Hier haben sich die Behandlungsoptionen in den vergangenen Jahren deutlich erweitert (z. B. stereotaktische Radiatio). Bestrahlungsmethoden und -arten müssen kritisch und kompetent in ihren Möglichkeiten und Grenzen eingeschätzt werden. Die Kolleginnen und Kollegen aus der Radiologischen Allianz Mörkenstraße nehmen an den Konferenzen regelmäßig teil. Neurologie: Die neurologischen Kollegen stehen der Konferenz beispielsweise bezüglich der Anfallstherapie bei Tumorerkrankungen zur Seite. Kontakt Die Protokollerstellung und somit das Erarbeiten einer individualisierten Behandlungsstrategie erfolgt im kritischen Dialog. Jede Expertengruppe stellt sicher, dass die aktuellsten, evidenzbasierten Verfahrensweisen der jeweiligen Fachdisziplinen Einzug in die Therapieentscheidung finden. Es erfolgt eine „Online“-Protokollierung mit Beteiligung aller Diskutanten (Abb. 3). Das erstellte Protokoll ist für die Konferenzteilnehmer bindend. Jeder Patient wird dem Epidemiologischen Krebsregister der Freien und Hansestadt Hamburg gemeldet und alle Teilnehmer erhalten jeweils zwei Fortbildungspunkte. Da die Betreuung der Patienten ganzheitlich erfolgt, ist sie auch nach Ausschöpfen aller Therapieoptionen nicht beendet. Die psychologische und seelsorgerische Begleitung erfolgt während der gesamten Behandlungsphase. Prof. Dr. Uwe Kehler Neurochirurgische Abteilung Asklepios Klinik Altona Paul-Ehrlich-Straße 1, 22763 Hamburg Tel. (0 40) 18 18-81 16 71 Fax (0 40) 18 18-81 49 11 E-Mail: u.kehler@asklepios.com Tumorsprechstunde: Tel. (0 40) 18 18-81 16 75 Fax (0 40) 18 18-81 49 86 Literatur [1] Gattcliffe TA, Coleman RL. Tumor board: more than treatment planning – a 1 year prospective survey. J Cancaer Educ, 2008; 23(4): 235-7. [2] Katalinic A, Meyer M. Krebs in Deutschland-Häufigkeiten und Trends. 28. Deutscher Krebskongress-Berlin, 20 – 23.02.2008. Die Qualität interdisziplinärer Tumorboards war in letzter Zeit Gegenstand mehrerer Untersuchungen, die belegen, dass sie einen klaren Einfluss auf die Therapieentscheidung haben und nicht lediglich zum „guten Ton“ einer großen Klinik gehören.[1,2,3] [3] Perry JK, Vetto JT. Beyond doughnuts: tumor board recommendations influence patient care. J Cancer Educ. 2002; 17: 97-100. [4] Stupp R. et al. Radiotherapy plus concomitant and adjuvant temozlomide for glioblastoma. N Engl J Med 2005 Mar 10; 352(10): 987-96. 699 Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009 Schlaganfall – ein Notfall Prof. Dr. Christian Arning „Time is brain“ – je früher die Behandlung erfolgt, desto besser sind die Ergebnisse. Dabei ist zu beachten, dass „der Schlaganfall“ ja keine Entität, sondern ein gleichartiges klinisches Bild bei ganz unterschiedlichen Erkrankungen darstellt: Ischämie oder Blutung, Infarkt bei kranken Hirngefäßen oder durch Embolie in völlig gesunde Arterien, Gefäßproblem in vorgeschalteten Arterien oder abführenden Venen. Maßnahmen zur Akuttherapie oder Sekundärprävention können umso gezielter ergriffen werden, je mehr über die Ursache des Schlaganfalls bekannt ist. Diagnostische Fragen und therapeutische Konsequenzen Bei akutem Schlaganfall sind fünf Fragen zu klären: 3. Welche Maßnahmen sind notwendig zur Akutbehandlung? Zum Beispiel bei Ischämie die systemische Thrombolyse oder bei Blutung die operative Entlastung Indikation zur systemischen Thrombolyse 1. Liegt überhaupt ein vaskuläres Ereignis vor? In etwa zehn Prozent der Fälle handelt es sich um eine andere Diagnose, zum Beispiel: ■ Todd’sche Parese (funktionelle Lähmung) nach Krampfanfall ■ Enzephalitis ■ Migräne mit Aura ■ Hirntumor mit Einblutung ■ Akuter MS-Schub ■ Periphere Lähmung (z. B. N. facialis, N. radialis) ■ Psychogene Lähmung 2. Ist der Schlaganfall durch Ischämie (85 %) oder Blutung verursacht (15 %)? Dazu erfolgt notfallmäßig ein CCT: Eine Blutung ist im CT sofort erkennbar, bei Ischämie sind Frühzeichen nachweisbar oder das CT ist unauffällig (Abb. 1). 700 ■ Akuter Hemisphäreninfarkt mit Beginn der Symptome < 4,5 Stunden vor Lysebeginn 1) ■ Ausfälle mittelschwer bis schwer (klinische Analyse nach der National Institute of Health Stroke Scale NIHSS) 1) Protokoll der Hamburger Arbeitsgemeinschaft Schlaganfall: Thrombolyse bis 6 Stunden nach Beginn der Symptome, wenn im multimodalen CT oder MRT (mit Perfusionssequenzen) ein „Mismatch“ zwischen funktionell und strukturell geschädigtem Hirngewebe nachgewiesen wird. Im Einzelfall erfolgt alternativ oder ergänzend die lokale Katheter-Thrombolyse.[1] Kontraindikationen der systemischen Thrombolyse ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ Schwangerschaft; Alter > 80 Jahre Koma; initialer Krampfanfall Gerinnungsstörung oder laufende Antikoagulation (Heparin/Marcumar) Florides Ulcus ventriculi/duodeni Arterielle Punktion oder Lumbalpunktion in den letzten 3 Tagen Große OP/schweres Trauma in den letzten 2 Wochen GI-Blutung/Harnwegsblutung in den letzten 3 Wochen Hirninfarkt in den letzten 4 Wochen Hirnblutung/SHT/ZNS-OP in den letzten 3 Monaten Kolitis/Ösophagusvarizen/Aortenaneurysma Schwere diabetische Retinopathie Klinische Zeichen der Endokarditis Indikation zur frühen operativen Behandlung einer intrazerebralen Blutung ■ ■ ■ ■ Progrediente Bewusstseinsstörung bei raumfordernder Hemisphärenblutung Verdacht auf Aneurysmablutung (Klärung mit DSA) Raumfordernde Kleinhirnblutung mit Verschluss-Hydrozephalus Ventrikeleinbruch mit Hydrozephalus Neurologie a b c Abb. 1: CCT bei akuter Hemiparese, a: intrazerebrale Blutung, b: subakutes Subduralhämatom, c: akute zerebrale Ischämie (im CT noch nicht erkennbar) 4. Sind Blutdruck, Blutzucker oder Elektrolyte entgleist oder ist gleichzeitig ein Herzinfarkt aufgetreten? Internistische Basisdiagnostik ■ Klinische Untersuchung ■ EKG (Vorhofflimmern? Kardiale Ischämie?) ■ Labor: Blutbild, Gerinnung, BZ, Elektrolyte, Nierenwerte, CRP, CK ■ Im Einzelfall: Thorax-Röntgen 5. Welche Maßnahmen sind notwendig zur Sekundärprävention? Die Sekundärprävention eines Schlaganfalls ist bei geringer und vorübergehender Symptomatik (TIA) besonders wichtig, deshalb sollte die erforderliche Diagnostik sofort erfolgen bzw. beginnen.[2] Blutung (Abb. 2): Zu unterscheiden sind primäre (hypertensive) Blutungen und sekundäre Hämorrhagien, zum Beispiel bei Angiom, Vaskulitis, Tumor oder Sinusthrombose, denn hier sind unterschiedliche Therapiemaßnahmen erforderlich. Verdächtig auf eine symptomatische Form sind atypisch lokalisierte Blutungen (nicht im Bereich von Stammganglien, Thalamus oder Pons), insbesondere bei Patienten mit a b Abb.2: intrazerebrale Blutung, a: primäre Blutung bei art. Hypertonie, Lokalisation in den Stammganglien (hier mit Ventrikeleinbruch), b: sekundäre Blutung in atypischer Lokalisation bei duraler AV-Fistel Normotonie. Bei diesem Blutungstyp ist die ätiologische Klärung mit zerebraler Bildgebung und Gefäßdiagnostik erforderlich (Gefäß-Ultraschall und MRA, evtl. DSA). Ischämie: Für eine effiziente Sekundärprävention sollte die Pathogenese bekannt sein (Mikroangiopathie, hämodynamisch bedingte Ischämie oder Embolie). Die Dif- ferenzierung erfolgt nach der Infarktlokalisation im Diffusions-MRT beziehungsweise postakut im CCT (Abb. 3) sowie nach klinischen und sonografischen Kriterien. Hämodynamisch bedingte Ischämien erfordern Blutdruckstabilisierung und sofortige Ultraschall-Gefäßdiagnostik mit der möglichen Konsequenz einer (bei kleinem Schlaganfall frühzeitigen) Gefäßinterven- 701 Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009 Mikroangiopathie Embolie, kardiogen oder arterioarteriell Hirninfarktmuster in MRT/CT (Abb. 3) lakunär (meist unter Balkenniveau, nie kortikal) territorial (Kortex oft einbezogen) Low flow-Ischämie (hämodynamisch) Endstrominfarkt (parietal, oberhalb Balkenniveau) Klinisches Syndrom lakunäres Syndrom (z. B. „pure motor stroke“) kortikale Symptome fluktuierende gleichartige Symptomatik (Aphasie, Apraxie, Alexie, Neglect, ...) Gefäß-Ultraschall dilatative Arteriopathie oder unauffällig Nachweis Emboliequelle (bei arterioarterieller Embolie) sehr hochgradige Stenose und unzureichende Kollateralversorgung Kriterien für die Erkennung der Ischämie-Pathogenese tion. Bei Hirnarterienembolie stellt sich die Frage nach einer fortbestehenden arteriellen oder kardialen Emboliequelle (notwendig sind EKG-Monitoring sowie Herz- und Gefäß-Ultraschall). Besondere Pathologien wie Dissektion, Vaskulitis oder Sinusvenenthrombose sollten nicht übersehen werden, da sich spezifische Therapiemöglichkeiten ergeben.[4] Wichtig ist die Erkennung einer mehrzeitigen Symptomatik, die Hinweis auf einen besonders ungünstigen Spontanverlauf sein kann (z. B. Basilaristhrombose). Die Ergebnisse der Notfalldiagnostik führen unmittelbar zu therapeutischen Entscheidungen. Sofort nach Blutungsausschluss werden Thrombozytenaggregationshemmer eingesetzt, sofern keine Indikation zu Thrombolyse oder Antikoagulation besteht. Die frühe Marcumarisierung und Überbrückung mit Heparin im Hemmbereich erfolgt bei Dissektion und Ischämie durch Vorhofflimmern ohne (größeren) Infarkt. Symptomatische Karotisstenosen sollten frühzeitig operiert oder endovaskulär behandelt werden. Bei symptomatischen Stenosen intrakranieller Gefäße ist das Risiko einer Intervention höher. Die Indikation muss für jeden Einzelfall sorgfältig 702 geprüft werden, ist bei progredienter Klinik insbesondere an der A. basilaris aber sicherlich gegeben.[5] In der postakuten Phase des Schlaganfalls sind zahlreiche weitere Maßnahmen zur Sekundärprävention von Bedeutung, insbesondere die Ausschaltung oder Behandlung vaskulärer Risikofaktoren. Therapie vor Klinikaufnahme Abgesehen von symptomatischen Maßnahmen (wie Blutdruckeinstellung) ist keine sinnvolle Therapie möglich, solange die oben genannten Fragen nicht geklärt sind. Der Einsatz von Thrombozytenaggregationshemmern sollte erst nach Ausschluss einer Blutung erfolgen. Die Gabe von Heparin kann das Risiko einer Thrombolyse erhöhen. Der Schlaganfall lässt sich erst in der Klinik wirksam behandeln, deshalb soll die Einweisung schnellstmöglich erfolgen! Warnsymptome („red flags“) bei Schlaganfall ■ Bewusstseinsstörung: Hirndruck? Raumfordernde Blutung? Basilaristhrombose? ■ Kopfschmerz: Intrakranielle Blutung? Dissektion? Riesenzellarteriitis? Sinusvenenthrombose? Enzephalitis? ■ Drehschwindel – akut einsetzend und anhaltend: Kleinhirninfarkt? ■ Akute Verwirrtheit: Posteriorinfarkt? Enzephalitis? ■ Mehrzeitige Symptomatik (z. B. „crescendo-TIA“): Emboliequelle? Hämodynamisches Problem (Makroangiopathie)? Basilaristhrombose? ■ Laufende Antikoagulation: Blutung? ■ Schädeltrauma in der jüngeren Vorgeschichte: Subduralhämatom? Neurologie a b c Abb. 3: Infarktmuster im MRT (CT) und Pathogenese des ischämischen Schlaganfalls (modifiziert nach Ringelstein et al.[3]), a: lakunäre Infarkte bei Mikroangiopathie: Kleine Läsionen in Stammganglien, Pons oder Marklager (meist unterhalb des Balkenniveaus), niemals im Kortex b: Endstrominfarkte bei offenem Hirngefäß, aber erheblichem Druckabfall durch vorgeschaltete Gefäßstenose und unzureichende Kollateralversorgung; Lokalisation oberhalb des Balkenniveaus c: Territorialinfarkte durch (meist) embolischen Verschluss der Hirnbasisarterien oder ihrer Äste; typisch ist eine Beteiligung des Kortex; die Größe des Infarkts hängt ab von der Lokalisation des Gefäßverschlusses (Hauptstamm, Arterienast) Literatur [1] Rosenkranz M, Arning C, Müller-Jensen A, Zeumer H, Gerloff C. Evidenzbasierte Akuttherapie des ischämischen Schlaganfalls – Jede Minute zählt! Hamburger Ärzteblatt. 2007; 61: 454-6. 2009 aktualisiert: www.hamburger-ag-schlaganfall.de Kontakt Prof. Dr. Christian Arning Abteilung Neurologie Asklepios Klinik Wandsbek Alphonsstr. 14, 22043 Hamburg [2] Rothwell PM, Giles MF, Chandratheva A et al. Effect of urgent treatment of transient ischaemic attack and minor stroke on early recurrent stroke (EXPRESS study): a prospective population-based sequential comparison. Lancet Tel. (0 40) 18 18-83 14 13 Fax (0 40) 18 18-83 16 31 E-Mail: c.arning@asklepios.com 2007; 370: 1432-42. [3] Ringelstein EB, Zeumer H, Schneider R. Fortschr Neurol Psychiatr 1985; 53: 315-36. [4] Arning C, Rieper J, Kazarians H. Nicht arteriosklerotische Erkrankungen der Halsarterien. Ultraschall Med 2008; 29: 576-93. [5] Eckert B, Koch C, Thomalla G et al. Aggressive therapy with intravenous abciximab and intra-arterial rtPA and additional PTA/stenting improves clinical outcome in acute vertebrobasilar occlusion: combined local fibrinolysis and intravenous abciximab in acute vertebrobasilar stroke treatment (FAST): results of a multicenter study. Stroke. 2005; 36: 1160-5. 703 ISSN 1863-8341 Hilfe für Schwerkranke – die Geschichte der Intensivmedizin Jens O. Bonnet Sie wurde als „Lady mit der Lampe“ bekannt, die 1854 beim Schein ihrer Petroleumlampe unermüdlich die verletzten britischen Soldaten des Krimkrieges betreute: Florence Nightingale. Als sie die Schwerstverletzten in einem Areal zusammenlegen ließ, um sie in der kritischen Phase besser überwachen zu können, setzte die britische Krankenschwester einen der ersten Meilensteine zur Entwicklung der Intensivmedizin.[1] Dass Schwer- und Todkranke überhaupt medizinisch versorgt werden sollten, hatte erst im Zuge der Aufklärung Eingang in die ärztliche Ethik gefunden. Von der Antike bis ins 18. Jahrhundert lehnten die meisten Ärzte die Behandlung schwer und unheilbar Erkrankter ab, damit ihnen der Tod des Patienten nicht angelastet wurde. So lautete die Empfehlung des Hippokrates im ergänzenden Corpus Hippokraticum: „Aber er wage sich nicht an die heran, die schon von der Krankheit gezeichnet sind.“ [2] Im Mittelalter kümmerten sich christliche Einrichtungen mehr um die Schwer- und Todkranken, allerdings dienten die Wachen im Krankensaal kaum der medizinischen Versorgung: Sie stellten vielmehr sicher, dass rechtzeitig der Priester für die Erteilung der Sterbesakramente geholt wurde.[3] Mit Einführung der Anästhesie im Operationssaal geriet auch die postoperative Überwachung in den Fokus, blieb aber zunächst Aufgabe der Krankenschwestern. Anfang der 1930er-Jahre richteten Martin Kirschner in Tübingen und Ferdinand Sauerbruch an der Charité sogenannte Wachstationen zur zentralisierten Überwachung Frischoperierter ein. Die Geschichte der internistischen Intensivmedizin begann mit den großen Polioepidemien der 1940er-Jahre, unter anderem im Allgemeinen Krankenhaus Hamburg-Altona: Zur Behandlung der Atemlähmung waren viele Poliomyelitispatienten auf eine www.medtropole.de Poliopatienten im AK Altona künstliche Dauerbeatmung in der Eisernen Lunge angewiesen.[4] 1947 ließ Axel Dönhardt im Auftrag seines Chefs Reinhard Aschenbrenner die erste Eiserne Lunge Deutschlands auf der Deutschen Werft Hamburg-Finkenwerder bauen. Ihr „Bauplan“ war ein Foto des 1928 in Boston entwickelten Drinker-Respirators.[5] In diesem Sommer griff die Polioepidemie auf die Hansestadt über, 450 Hamburgerinnen und Hamburger erkrankten. Das AK HamburgAltona wurde zum Zentralkrankenhaus für alle jugendlichen und erwachsenen Patienten bestimmt. Das bedeutete, dass die Hälfte des durch Bomben schwer beschädigten Klinikums allein für diese Patienten reserviert wurde (Foto). Unter den 229 aufgenommenen Poliopatienten litten 31 an schwerer Atemlähmung. Dönhardt gelang es mit den Werftingenieuren und -arbeitern, innerhalb von drei Tagen eine funktionsfähige Eiserne Lunge aus einem Torpedorohr, dem Blasebalg einer Feldschmiede, dem Getriebe eines Fischkutters und einem alten Elektromotor zu bauen. Mit diesem Gerät und seinen verbesserten Nachfolgern gelang es, die Letalität der Atemlähmung bis 1955 auf rund 50 Prozent zu senken. Auch bei den Instrumenten zur Überwachung mussten die Altonaer improvisieren: Für die Blutgasanalyse bauten sie 1948 aus selbstgeblasenen Glaskolben, die vom Motor eines ausgedienten Plattenspielers geschüttelt wurden, eine Analyseeinheit und aus der Bildröhre eines Nachtsichtgerätes entstand 1949 der erste Monitor.[6] Neben der Beatmung von Poliopatienten wurden die Beatmungseinheiten, zunächst in Skandinavien, zunehmend auch für die Behandlung schwerer Vergiftungen genutzt.[7] Dass sich auch die Letalität des akuten Herzinfarktes durch intensive Überwachung senken ließ, zeigten die ersten Coronary Care Units, die 1962 in Kansas City und Toronto eingerichtet wurden.[8,9] Viele weitere technische, bauliche und medizinische Meilensteine führten schließlich zur modernen Intensivmedizin mit all ihren Facetten und Möglichkeiten. Literatur [1] Nightingale F. Notes on hospitals, edn 3. London: Longman&Green 1863: p89. [2] Geroulanos S. Grenzen der Medizin. In: Swiss Med 5. 1983: 25-33. [3] Lawin P. Praxis der Intensivbehandlung. 6. Aufl. Stuttgart, New York 1993. [4] Aschenbrenner R, Dönhardt A, Foth K. Künstliche Dauerbeatmung in der Eisernen Lunge. MMW 1953; 95: 748-51, 777-80. [5] medtropole 12: 512. [6] Dönhardt A. Beatmung in der Eisernen Lunge. In: Lawin P, Peter K, Scherer R (Hrsg.). Maschinelle Beatmung gestern – heute – morgen. Stuttgart, New York. Thieme 1984: 20. [7] Clemmesen C, Nilsson E. Therapeutic trends in the treatment of barbiturate poisoning. The Scandinavian method. Clin Pharmacol Ther. 1961; 2: 220-9. [8] Brown KW, MacMillan RL, Forbath N, Melgrano F, Scott JW. Coronary unit: an intensive-care centre for acute myocardial infarction. Lancet. 1963 Aug 17; 2(7303): 349-52. [9] Day HW. History of coronary care units. Am J Cardiol. 1972; 30(4): 405-7.