Improvisation als kulturelle Praxis
Transcription
Improvisation als kulturelle Praxis
Maximilian Gröne/HansJoachim Gehrkei Frank-Rutger Hausmann/Stefan Pfünder/ Bernhard Zimmewnan" (HS.) IMPROVISATION Kultur- und lebenswissenschaftliche Perspektiven ROMBACHMVERLAG ROLF KAILUWEIT/CHIARA POLVERINI a l s k u l t u r e l l eP r a x i s T a n g o - S p r a c hlem: p r o v i s a t i o n -iOigan, almas de mrisical Si el tango a muerto' lo lloran conrazin. Y si no a muerto, iPor qud lo lloran? ilnefables malevos, arriba los corazones! El tango es una posibiJidad infinita.l Einleitung Improvisation ist eine Beschreibungskategorie,die in der Sprachwissenverfügt. schaftbislangnicht über einebesondereBeschreibungsmächtigkeit angesehen, als angeboren nicht sogar sie SprachlicheStrukturen, werden emergieren,so scheint es, oder aber sie entstehengeplant, als Produkte sprachpflegerischerMaßnahmen oder individueller Konzeption. Improvisation ist eher eine Kategorieder Tarzwissenschaf, desTheaters3 sowie der Musikwissenschafta,aber auch dort nimmt sie eine marginale Position ein. Dies mag an dem umgangsspractrlichschlechtenRuf des Improvisierensliegen. Man improvisiert, wenn man unvorbereitet ist, und man tut diesunter Z'eitdruckzurLösung einespraktischenProblems.Mag einigen MiUnenschen auch anerkennend rlmprovisationstalent<nachgesagt LeopoldoMarechalapudHoracioSalas,Tängo,poesiade BuenosAires,BuenosAires 1 9 9 8S, .3 5 . Of. Thomas Kaltenbrunner, Contact Improvisation: bewegen,tanzenund sich begegnen' Mit einer Einftihrung in New Dance, Aachen 1998 und Friederike Lampert, Tänzimprovisation auf der Brihne. Entdeckung von Nicht-Choreographierbarem, in: Gabriele Klein/Christa Zipprich (Hg.), Tiru Theorie Text, Münster 2002, S. 445-456. Cf. KeithJohnstone. Improvisation und Theater. Die Kunst, spontan und kreativ zu o2006. agieren,Berlin In der Musikwissenschaftist die Arbeit von SabineFeißt (1997)zu nennen, die einen ausfrihrlichen Überblick über die verwendung und die verwandlung desBegriffs Improvisation in der Musik in den 1960er,1970erund 1980erJatren bietet. Darüber hinaus findet sich einige Literatur zum Thema aus dem Bereich der Pädagog,k ("gl z.B. Egidius Doll' Anleitung zur Improvisation, Regensburg 1989; Fritz Hegi, Möglichkeiten und Wirkung %itschriften. Allen von fieier Musik, Paderborn 1986)sowiein musikwissenschaftlichen gemeinsamist die Ürberzeugung,dass als charakteristisch für die musikalische Improvisation ihre Unwiederholbarkeit, die Spontaneität und ihr spielerischerUmgang mit dem technisch Machbaren (in Bezug auf dasjeweilige Instrument) gelten. 2+2 Rolf Kailuweit/Chiara Polverini werden,so stehtImprovisiertesdoch allgemeinin Verruf, mehr schlechtals recht als Notbehelf an die StellesoLiderVorbereitungzu treten. Werden also spractrlicheStrukturen üblicherweisenicht improvisiert, sondern erlernt und angewendet,so gilt dies in der Regel auch für Theaterund Musikdarbietungenund eberso für Gesellschaftstärze. Folgenerstere gemeinhineiner Text- oder Notenvorlageund Regie-bzw. Intelpretationsanweisungen,so basierenletztereauf festencharakteristischenSchritt-und Bewegungsabfolgen. Für den Tängojedoch spielt Improvisation eine zenffaleRolle, wie im Folgendengezeigwerdensoll.Der improvisierendeCharakterdesTängosgeht auf seinenEntstehungskontextzurück und ist engverknüpft mit sprachlicher Improvisation.Die Spracheder Tängotexte,der Lunfardo, ist eine improvisierte Sprache.Sie ist, wie der Tärz selbst,ein offener Code, Teil und Spiegeleiner soziokulturellenPraxis,die aus dernZwang zu improvisieren eineTügend macht. lmprovisationim Tango dadurch, dass Tängo unterscheidetsich von anderenGesellschaftstaruen er nicht auf einer festen Schrittfolge fußt. Er ist eine Abfolge von Bewegungsmustern(Vor- Rück- und Seitschrittensowie Drehungen), die frei kombiniert werden. Was ein Tängo ist oder nicht, ist vor allem eine Frage der Haltung.s Das Schemaaus der Dinzel-Notationin Fig. 16orientiert sich an dem vor allem in Europa unterrichteten Grundschritt, der acht Positionenumfasst.In jeder Positionbestehtjedochdie Möglichkeit zu Alternativen,in einigensind dieseAlternativen geringerals in anderen.i Lr der Position5 etwa sind sie am größten.Die Wahl der Alternativenist dabeidurch den Raum determiniert. Der Mann gehtvorwärts und verhindert durch Seitschritteund Drehungen Die Rolle auf der Stelle,dassdasPaarmit anderenPaarenzusarnmenstößt. der Frau ist dabei nicht ausschließlichpassivfolgend.sWenn der Mann ihr Cf. Rodolfo Dinzel, El tango - una danza,esaansiosabrisquedade la Libertad,Buenos Aires 1994. Gloria y Rodolfo Diruel [:Los Dirzel], El tango - una darza. SistemaDinzel de notacidn coreogräfica,BuenosAires 1997. Stefan Pfänder, Das Akropolis-Paradoxon. Sequenzialitätund Montage in Tänz und Sprache(Vortrag,Freiburg i. Br. imJuni 2004). Vgl. Annette Hartmann, Doing Tango - Performing Gender, in: Gabriele Klein/Christa Zipprich (Hg.), Täü Theorie Text,JahrbuchTäruforschung12 (2002),5.375. 243 Tängo-sprache: Improvisation als kulturelle kaxis tsr ilty& @ o I \T', i^ -1 I ero. i t . / l\Y 'fi1 i ra8!P, tt / t!/ i [!3. Mr. I t ;t / G } * . . , 3, 4 I *", l*f L:-J i t l rt I \1y' t4 Gtt tns, i I i v lt \\ r r l \ w r l m im. los II R':'o l i Iö c ! r ü.r. sum omr ' i " ' " ' ' : : - : w 5MW.trm ru Iu l*t^, r c.n\rt lo t----'--"--lr .-x. i -*" t8rT.+uß -:oz. ffi. flt, tti. I t ll - * t !ffi. l\, I \-",' s.ff[ \ n.*s. | le,""{iT. Ins. * -*Nfi. I 3rU0. I \i\orffi. | $@.m. fT. I I ra{. **. 6 7 g : p . | M_ \ffi. ll Yr. Itrür.& rn. Ltrmt. Fig.1. Dinzel-Notation durch eine Drehung des Oberkörpels einen bestimmtenSchritt oder eine bestimmte Figur signalisiert,besteht für sie ein Interpretationsspielraum und in der Regel auch eine Alternative. Etwa kann bei einer Drehung, bei der der Mann die Achsebildet, auf einen Seitschrittder Frau ein Vor- oder Rückschritt folgen. Der Mann wiederum muss die Bewegung der Frau nachvollziehen,urn den nächstenImpuls so zu setzen,dasseineharmonische Bewegungsfolgeentstehenkann. Geht dieseHarmonie verloren' kann er die Frau etwa in einen einfachenWiegeschritt frihren, aus dem heraus eine neue Schrittfolgebeginnenkarur.Die Rollen definierensich insofern durch Interaktion. Sie sind gleichwertig, aber nicht gleichartig. Der Tängo ist eine Kontaktimprovisation innerhalb des Paaresund zwischen den Paaren. Eine Improvisation, die auf drei Ebenen gelingen oder misslingen kann. Für das Tänzpaar gelingt sie, wenn die Bewegungsfolge von den Tärzpartnern als harmonischempfundenwird, usichgut anftihlt,. Dies ist grundsätzlichnur möglich, wenn sie auch mit der Bewegungsfolge der anderenPaareirsofern harmoniert, dassfur jedesPaarein ftir seineBewegung erforderlicher Raum entstehtund vor allem Kollisionen vermieden auchfür Zuschauergelungenerscheinen, werden.Ob die Bewegungsfolgen ist eineweitereDimension. 244 Rolf Kailuweit/Chiara Polverini Tango - Geschichteeiner lmprovisation Es gehört zu den Topoi der Tängoforschung,dassdie unerschöpflichetistesse,die dieserTanz ausdrückt,eine Folgeunheilbarer Entwrrrzelungist: eineEntwurzelung,die gleichermaßender europäische,zumeistitalienischsrämmigeMigrant, als auch der aus der Pampa in die Städte getriebene Gaucho erährt. Weniger häufig wird der Tängo mit Improvisacion verbunden.Jedoch ist, den weltweit heutzutageals tangoargentino unterrichteten SchrittfolgenzumTrotz, alles am Tängo Improvisation.Davon soll in den folgendenAbschnittendie Rede sein. Salaserwaführt die BesonderheitdesTängosauf den Klang desBandonions zurück: Gracias al bandone6n el tango asume identidad, se hace melancdlico y arrastra en su sonido la triste siruaciön del inmigrante que aiora su terruflo y del criollo que se siente desalojado de los campos que ha debido abandonar de mala gana.' Diese deutscheErfindung von Heinrich Band aus der Mitte des 19.Jhs. begleitetedie europäischenMigranten nach Amerika und ist insofern genausowenigProdukt einer argentinischenIdentität wie allesam Tango: Die Musik, die Schritte,die Textebilden in den Migranten-MetropolenBuenos Aires und Montevideo eine kulturelle Praxis, in der Improvisationszwang vor Anpassungsdruckgeht. BuenosAiresund Montevideo,zweiHafenstädteam Randeder Welt, erfahren Ende des19.Jhs.einenüberwältigendenhozess der Urbanisierungund des sozioökonomischenwie soziokulturellenWandels.Die Ankunft einer Migrantenmasse,die zum größten Teil aus Italien und Sparrienstaffnte, ftihrte zu einer außergewöhnlichendemografischenSteigerung.Die Ankömrnlingeerhofften sichvor allem eins:Arbeit. Es verwundert von daher nicht, dassdie Mehrheit der Bevölkerung in BuenosAires sowie in Montevideo um dieJahrhundertwendeaus Männern bestand.Zwischen 1890 und 1920 stiegdie Zall der Einwohner von BuenosAires von 210.000auf 1.200.000,700/odavon waren männlichen Gesctrlechts.l0 Für dieseBevölkerungsgruppestellteder Tängo die billigste und zugänglichsteForm von Vergnügen dar. Der neue Rhythmus, in den zu schwer bestimmbaren Anteilen der Payada der Gauchos, die Karnevalsmusik der Schwarzen, die Habanera und die Lieder und Tänze der Migranten eingehen)war y'/www.literarura. org/hoa,/hoa_Salas.html(1.8.2007) ,''" htp Cf. Andrds Carretero,Tango. Tescigosocial,BuenosAires 1999,S. 38. Tängo-Sprache:Improvisation als kulturelle kaxis 245 zu Beginn mit dem Milieu der Hafenspelunkenund Bordelle verbunden. waren Die wenigen Frauen, die sich auf diesesTänzvergnügeneinließe-n? sich in verschaffte Respekt, d.h. Prestige, Soziales nicht seltenProstituierte. Gauchotugenden, der Mutation diesemMilieu der nmpadrito,urbanisierte der verwegendasMesserwie dasTanzbeinzu schwingenverstand.Diesen Tlpus gali es zu imitieren,ja zu überbieten;eine Aufgabe, die es mangels Frurr.rr, ,rotig machte,dassi{är-er zr, Übrrngszweckenunter sich tanzten.ll Dies wäre etwa unter den rigiden Moralvorstellungen Süditaliensvöllig undenkbar gewesen.In der Improvisation einesneuen urbanen Habitus entwickelte sich der Tanz zu einer sinnlichen lJmarmung, in der Märurer wohl jene Liebe und Leidenschaftfanden, die sie in die neue Umgebung nicht mitgenorunen hatten. Es gehöriwenig Einbildungskraftdazu,sichvorzustellen,warum esgerade .irr"Trto ist, deizum IdentitätszeicheneinesMilieus von Sprachenvielfaltund Versllindnislosigkeitwird. Um sich bei der anfangsnoch prekären sprachlichen Interaktion zu behelfen,wird die Konversationam Arbeitsplatzund Mietskasernen,in denenauf engstemRaum Migranten in den conuentilloswohnten - durch zahlreicheGesten und Bewegungenbereichert. Diese körperlichen T,eictrenwerden immer neu improvisiert, rekontextualisiert ,rrri un die sich ständigveränderndeSpracheangepasst.Lr der allläglichen Ausnahmesituationwird aus der Kommunikationsnot eine Tügend. Die Improvisation von Spracheund Gestik dient zur Bewältigung einesAlltags, dessenTeil und Ausdruck zugleichder Tängo ist' Die GeschichtedesTängosist eineGeschichteimprovisierenderSucheund des ständigenPendelnszwischenunterschiedlichenKulturen, Ländern und Sprachen.Tango entsteht als Dialog, als Versuch einer Kommunikation zwischenheterogenenGruppen, die sich nicht anders als improvisierend verstehenkonnten. Wie konnten die neu Angekommenen mit den vorgefundenenEinwohnern sprechen?Die Italiener, die zwar kein Spanisch sprachen,sich jedoch mit Hilfe der l\hniichkeiten zwischen den beiden Sprachenarrangierten,improvisierten eineneue Sprache,ein Zichensystem, mit dem sie sich austauschenkonnten. Es entstehteineimprovisierte Sprechdurch das Populärtheater zu einem weise, die unter dem Namen Cocokc/tt Charakteristikum der Rio-de-La-Plata-Regionstilisiert wird. So wird aus einer ursprünglichenNot ein kulturelles Phänomen.Cocolicheverschafft den MigrantenZugangzuden Brettern,die die Welt bedeuten:Waren siein 11 Vgl. FruncircoCanaro,Mis memorias.Mis bodas de oro con el tango BuenosAires 1999, s. 37. 246 Rolf KailuweidChiara Polverini den fruhen sa'irctes noch bebenswerte(sprach)komische Randfiguren,so domjnieren Cocoliche-Sprecherund ihre hobleme diegrotescos der 20erJahre. Die unfertige und unbeholfenimprovisierteForm des Spanisch-Sprechens wbd in ihrer Mangelhaftigkeitzur Kunstform.l2 Ist das Cocoliche eine Kontakfvadetät,deren Gebrauchsich allein auf die italienischenMigranten der erstenGenerationbeschränkt,so geht esüber die Nachfolgegenerationein in den Lunfardo, den Slangder La-Plata-Region, der in den 1920erJaluencharakteristischfür die Tangotextewird. Tangosprache- Sprachedes Tangos Die Funktion desLunfardo wird häufig verkannt. Gemeinhin wird er, zumindest in seinemlJrsprung, als Gaunerspracheangesehen,der zwielichtigen Gestaltenzur Geheimhaltungihrer dunklen Machenschaftendiente.Aber dies ist zweifellosnicht mehr als eine gutbürgerliche Sicht, die, ganz ähnlich wie im Fall desfrarzösischenArgots,schonim späten19.Jhs.über literarisch motivierte Endan'ungs texte Zugarrgzu einer ihr unbekannten wild sideder urbanen Agglomeratesuchte.Für das Milieu selbstist der Lunfardo keine Fachspracheder Diebe, er strotzt vor lJngenauigkeitenund Synon;.'rnen, die nichts verheimlichen, sondern in denen sich im Gegenteil die compadritos in füren Prahl- und Beschimpfungsritualengegenseitigüberbieten.Anders als Cocolicheist Lunfardo kein Mangel, sondernÜberfluss, mit dem sich sozialeskestige gewinnenlässt:Verdoppelungder sparrischenAlltagssprache mit dem Wortschatzder Migranten.l3 Lunfardo hat seineeigeneGeschichteund erneuertsich alsAusdruck einer städtischenJugendkultur über den Tängo hinaus. Die Tängos der alten Gardejedoch perpetuierenin ihren Texten bis heute einen Sprachstand, der wie der Tänz selbstdie Grundbedingungen des sozialenMilieus der Migrationszeit spiegelt.Tängo und Lunfardo entstehenaus den gleichen Improvisationszwängen.In einem hochmobilen, sprachlichund kulturell heterogenenMilieu, in dem Engeund Konkurrenzdruckherrschen,gilt es, daslJnvorhergesehenezu erkennen, in einem Augenblick zu reagieren,mit T2 Cf. Rolf Kailuweit, Spanischund Italienisch im Spiegelder argentinischen Literatur um 1900.Varietäten-und medientheoretische Überlegr-rngen, in: PhiN 27 (2004).5.47-66. 13 Rolf Kailuweit, Hybridität, Exempel: Lunfardo, in: Volker NolVHaralambos S).nneonides (l{g.), Spracheinlberoamerika.RstschrifrfiirWolf Dietrichzum 65. Geburtstag,Hamburg 2005.s. 291-311. Timgo-Sprache:Improvisation als kulturelle Raxis 247 den Mitteln der Straßebesser,schneller,kreativer zu sein als der Nachbar und Gegner. Literatur geschieht,dassTänz Heißt dies,wie diesin der tanztheoretischen als ein semiotischesPhänomenbeschriebenwerden kann? Ein Phänomen, das sich, was sein Analogien stiftendesPotenzialbetrifft, zwischenSchriftTanzenerscheintals ein Schreibenim lichkeit und Mündlichkeit bewegt?14 wird. Gleichwohl scheintTänzenaufgrund rezipiert Raum, insofern esvisuell der FlüchtigkeitseinerZ,eichenwieein Sprechen.Es hinterlässtkeine Spur außerjener der Erinnerung. Nichtsdestowenigerist Tärzen weder Schreibennoch Sprechen.Tängo und Lunfardo reflektierendie soziokulturellekaxis aufje unterschiedlicheArt und Weise.Zum einenbeschränktsichdie RezeptiondesTärzeskeineswegs auf den Gesichtssinn,sie ist für den oder die Tarzpartner wesenhafttaktil. Zumatderen läuft man schnellGefahr,dassemiotischePoterzial desTärzes an und für sich zu überhöhen. Wie auch für die Musik grlt für den Tarz, dasser erst einmal Form ist. Das Tlansportierenvon Inhalten als zentrale Funktion des Sprechensund des Schreibensbleibt prekär.Das heißt nicht, dassTänz wie die Musik nicht in der Lage wäre, Inhalte, wie Gefühleund Stimmungen,zu vermitteln, im Übergang zLrPantomimegewissauch Bilder und Szenen.Das Verhältnis zwischenAusdrucksmitteln und Inhalten ist jedoch nicht ähnlich konventionalisiertwie beim Sprechenund Schreiben. Geradedies gibt Anlass,Tänz als ein Phänomenzu begreifen,an dem die grundlegendeSchrifdichkeit desT,eichensim SinneDerridas deutlich wird. Tänz bestehtaus einemIrrventarvon Formen (Marken), die ausihrem Produktionskontext herausgelöst,memoriert und in neue Kontexte eingefügt werden können. Dabei entstehteinemehr oder weniger zwingendeKonvenzwischenkognitiver fsnalisierung, die die Rezeptionin ein Spanrrungsfeld einemPaarbeim fuhrt: \AÄr sehen Interpretation und ästhetischerBewertung Tänzen zu. Wir können ihre Bewegungenals einen Tängo interpretieren, als Ausdruck einestraurigen Gedankens,a1slJmsetzungeinesbestimmten Tänzstiles,und wir können bewerten, inwieweit hier etwas passiertoder nicht, ob es ein guter Tango ist, ob er uns berührt' Die GeschichtedesTängoskann insofern,bei aller improvisatorischenFreiheit, die dem Tärz bis heute innewohnt, als Konventionalisierung einzelner t' Vgl. Gubti.le Brandstetter, Choreographie als Grab-Mal. Das Gedächtnis von Bewegung, in: Gabriele Brandstetter/HortensiaVilckers (Hg.), ReMembering the Body. Kölperbilder in Bewegung.Ostfildern-Ruit 2000, S' 102-134; Isa Wortelkamp, Flüchtige Schrift/ Bleibende Erinnerung, in: Gabriele Klein/Christa Zipprich (Hg.), Tiarz Theorie Text, s.597-609. 248 Rolf KailuweidChiara Polverini Tarzakte angesehenwerden. Das einmaligeTärzen perpetuiert sich; esführt zu einer Iteration im SinneDerridas, die sichso verfestigt,dassirgendwann bestimmte Trctchenals Tängozeichenkonventionalisiertwerden. Diese erkennen wir dann in ihren iterativen Aufführungen als gleich und anders zugleich. Wenn wir den Derrida'schen Iterarionsbegriff als Grundkategoriejeden Zeichengebrauchsaruehen- etnZrichrenist injeder Verwendungnotwendig gleichund anderszugleich- dann ist Tanzenwie Sprechenund Schreiben iterativ.Der entscheidende Punkt ist, dassdie Intention ausgeblendet bleibt. Es ist irrelevant,ob wir das Gleichesagen,schreibenoder tanzenmöchten wie zuvor oder etwasneuesganzanderes.Wir wiederholenkonventionelle Muster, um überhaupt mittels Zeichenkommunizieren zu können, aber wir wiederholen sie in einem neuen Kontext, sodassihre Interpretation notwendigmehr oder wenigervon derjenigeneiner vorausgegangenen der KonventionalisierungzugrundeliegendenVerwendungabweicht.Und selbst wenn wir gar nicht kommunizierenwollen, fun wir dies,indem wir beun-rsst oder unbewusstmit Znichenoperieren. Wie unterscheidetsich nun Iteration von Improvisation? Improvisation ist eine Kunst der Problemlösungauf der Grundlage einer Adaptation bekannter Muster an eine neue Situation. Dabei spielt der Zeitfaktor eine Rolle. Die Problemlösungerfolgt unter dem Druck zeidicher Linearität. Verzögerungensind nur bedingt möglich, Wiederholung ist grundsätzlich ausgeschlossen. Die Muster, auf die man zurückgreift, werden bewusst, abernicht um ihrer selbstwillen eingesetzt. Improvisationist einemäußeren Zweck verp{Iichtet,siebestehtnicht in der Einübung von Musrem. Die Watrl der Muster erfolgt,wie gesagt,bervusst,abernicht unbeding reflektiert.Eine gelungeneImprovisationbasiertauf Spontaneität,d.h. aus der Kunst unter einer \äelfalt von Möglichkerten oLneZneern die naheliegendste,passendsre auszuwählen.Deshalbist dasBeherrscheneinerVielzatrivonMustern nicht gleichbedeutendmit der Fähigkeit, erfolgreich improvisieren zu können. Die Fähigkeitzu improvisierenmuss unabhängigvon den Mustern, bzw. über diesehinausgehend,erworben werden. Tängound Lunfardo stellenoffene,wenn auch in ihrem Wesenverschiedene, semiotischeSystemedar, die zeitgleichund im gleichenMilieu entstanden. Als offeneSystemegehensie dennochverschiedeneWege.Perpetuiertsich der Lunfardo als Improvisationskunstin neuenjugendkulturellen Kontexten des Rio-de-la-Plata-Raums und im Einklang mit neuen Musikformen, wie der Cumbia Villera, sohat sich der Tängo alsTänz über die Welt verbreitet, ohne sich aberwieJazzoder Rock vollkommen von seinemEntstehungsort Tängo-sprache: Improvisation als kulturelle haxis 249 Lunfardo zu lösen.Während niemand außerhalbdesRio-de-la-Plata-Raums und gereduktionistisch verfülschend doppelt wie kann, un)rde, sprechen werden. getanzt in aller Welt argentino neralisierendls gesagtwtrd, tango Zwischenldentitätszeichenund Ortlosigkeit Tängo kann schonaufgrund seinesUrsprungs an keinem Ort festgehalten werden. Tiurgo ist eine ,posibilidad infinida peopoldo Marechal): die Möglichkeit, Schritte in einer nicht festlegbarenAbfolge zu varüeren, Stile und füne zu erfinden, sich mit alderen Tänzen zu mischen.Er ist der Ort des Zusammenffeffensund jedesZusammentreffenverursachtVerä:nderungen. DieseAnderungen,die von den zeitgultigenhistorischen,sozialenund politischen Koordinaten verursacht sind, öffnen den Weg für eine kreative Produktion, in der die improvisatorischeKomponente einewesentlicheRolle spielt. Die Werte desTängossind universell, sie erlaubenes dem Tanz, jederzeit und an jedem Ort getarvtund verstandenzu werden. Diese Besonderheit hängt sehr stark mit der historischen Entstehung und Entwicklung des Tänzes zusalnmen. Aus unterschiedlichen Orten angekommen, trafen die europäischenMigranten auf eine facettierteRealität, die wiederum ausvefschiedenenkulturellen Elementenbestand.Die Mikrokosmen?die sich in den Hafenviertelnvon BuenosAhes und Montevideo bildeten,konnten die zurückgelasseneExisterz nicht komplett wiederherstellen.Es entstandsomit eineSehnsucht,ein Strebennach der Vervollständigungeinestaumes, der sich bis zu diesemZ,eitpunktnoch nicht verwirklicht hatte. So wie sich der Körper in einem Zustand des beständigenWiedererinnerns von bereits bekannten Bewegungenbefindet, befanden sich auch die europäischen Migranten im Wirbel einer ständigenRekontexrualisierungihres eigenen Ichs.DieseRekontextualisierung,die von äußerlichenVariantenbeeinllusst war, musstesich immer neu erfinden. Sopendelt der Tängo sflindig zwischen den Polenvon Ordnung und Chaos. Doch was repräsentiertdie Ordnung, wäs ist Chaosin einer migrationsgehatte? prägtenWelt? Ist Ordnung das,was man kannteund zurückgelassen trifft? Chaotische der Migration das man arnZielort auf Neue, Ist Chaos das chaotischkuhorelle Hybridität? Ist esnicht ebensomöglich, Sprachzust'ände, 15 Al, kultrre[e urbane Praxis des Rio-de-la-Plata-Raumssteht Tängo einerseitsauch für das uruguayische Montevideo, andererseitsaber nicht für das argentinische Hinterland. 250 Rolf Kailuweit/Chiara Polverini umgekehrtim Zurückgelassenendas zu sehen,was nicht mehnlebbar, ist und im Neuen eine kompensatorischeOrdnung? Das Oszillierenzwischen Unbekanntemund Verffautem,dasdasLeben der europdischenMigranten in der neuen Welt kennzeichnete,spiegeltsich in den Bewegungenwider, die den Tängo charakterisieren.DiesesOszillierenbegleitetden Tängo bei seinemSprung zurück nach Europa, zumalnach Paris. Erst durch die Erfahrung der paradoxalen Rückkehr in eine neue Fremde kann der Tängo von den rioplatensischenOberschichtenakzeptiertwerden, die ihn zunächst abgelehnthatten.Doch auchalsWeltrnusikphänomen,dasirsbesonderefür Argentinien zum Identitätszeichenscilisiertwird, kommt der Tängo nicht zur Ruhe. SeineStruktur ist offen und bleibt esauch.Siepasstin neue zeitliche und räumlicheKontexte,löst neueImprovisationenaus.Tängoist offen für andereMfieus sowie fur andereMusikstile, wie Gruppen wie Gotan koject, Otros Aires,Narcotangobeweisen.Nichtsdestowenigerverweistder Tängo stetsauf seinenEntstehungsraum,der paradigmatischIlir die Wurzellosigkeit desMigranten in einer globalisiertenWelt zu stehenscheint. Der Tängo besitztaufgrund seinesWesensdie Möglichkeit, sichin einer ständigen Evolution zu perpetuierenund somit aus dem Zusammentreffenvon unterschiedlichenT:änzen,Musikgenres und kulturellen Hintergründen immer wieder neueFormenhervorzubringen.Die komplexe Spracheverknüpft sich weltweit mit der Fantasieund der Sehnsuchtder Tärzer. Dies schützt ihn vor nationalistischerVereinnahmungund folkorisierendemStillstand. SystemeineSprache,die auslmprovisationen Der Tängoist alssemiotisches bestehtund in ihrer Faszinationund Zugänglichkeitdie Wortspracheweit hinter sich lässt. Konklusion Tango als Haltung und offene Folge von Bewegungsabläufensowie die SpracheseinerTexte,der Lunfardo, entstehenin der soziokulrurellenAusnahmesituationvon Migration und Urbanisierung in den Hafenstädten BuenosAires und Montevideo. Tängound Lunfardo lebenvon der Improvisation. Siespiegelnein Mfieu der Enge,desKonkurrenzdruckesund der j ederzeitdas lJnerwartete Dynamisierung,in dessenLebensbedingungen eirzubrechendroht. Ein solchesMilieu erfordert in den alltäglichenImprovisationsleistungenhöchstePräsenz:rhetorischeSchlagfertigkeit,Agilität und Körperspannung,Kreativität unter Zritdruck. Das Lebensgefühldes Tango-Milieus scheint in der heutigen globalisierten,hochmobilen und Timgo-sprache:Improvisation als kulturelle Praxrs 251 Welt seineFaszinationzu bewahren.Tängoals Täru migrationsgeprägten System, semiotisches seinerMuster,einoffenes bietet,trotzderSchwierigkeit reizt. dasweltweitzumImprovisieren Literatur Gabriele Brandstetter,Choreographie als Grab-Mal. Das Gedächtnisvon Bewegung, in: Gabriele Brandstetter/Hortensia Vjlckers (llg.), ReMembering the Body. Körperbilder in Bewegung, Ostfildern-Ruit 2000, S. 102-134' Francisco Canaro, Mis memorias. Mis bodas de oro con el tango, Buenos Aires 1999. Andr6s Carretero, Tango. Testigo social, Buenos Aires 1999, S. 38. Carl Dahlhaus, Was heißt Improvisation?, in: Reinhold Brinkmann GIg.)' Improvisation und neue Musik. Veröffentlichung des Instiruts für Neue Musik und Musikerziehung,Bd. 20, Mainz 1979,S. 9-23. Hermann Danuser, Einleitung, in: ders. (Hg.), Musikalische Interpretation. Neues Handbuch der Musikwissenschaft,Bd. 11, Laaber 1992,5. l-72' ders., Marges de la PhiloJacquesDerrida, SignatureEvdnement Contexte, in: sophie,Paris 1972,S.365-396. Gloria y Rodolfo Dinzel [:Los Dinzel], El tango - una danza' SistemaDinzel de notaciön coreogräfica' Buenos Aires 1997' Rodolfo Dinzei, El tango - una danza, esa ansiosabrisqueda de la libertad, BuenosAires 1994. Sabine Feißt, Der Begriff ,Improvisation. in der neuen Musik, Sinzig 1997. Annette Hartmann, Doing Tängo - Performing Gender, in: Gabriele Klein/ Christa Zipprich (Hg.), Tänz Theorie Text,Jahrbuch Tanzforschung 12, Münster u.a. 2002, S. 367-382. KeithJohnstone, Improvisation und Theater. Die Kunst, spontan und kreativ zu agieren,Berlin'2006. Rolf Kailuweit, Spanischund Italienisch im Spiegelder argentinischenLiterarur um 1900. Varietäten- und medientheoretischeÜberlegungen, in: PhN 27 (2004),s.47-66. Ders., Hybridität, Exempel: Lunfardo, in: Volker Noll/Haralambos Symeonides (Hg.), Sprache in Iberoamerika. Festschrift für Woif Dietrich zum 65- Geburtstag,Hamburg 2005, S. 291-311. Thomas Kaltenbrunner, Contact Improvisation: bewegen, tanzenund sich begesnen. Mit einer Einftihrung in New Dance, Aachen 1998. Friederike Lampert, Tänzimprovisation auf der Bühne. Entdeckung von NichtChoreographierbarem, in: Gabriele Klein/Christ a Zipprich (Hg.), Tänz Theorie Text,Jahrbuch Tänzforschung 12, Münster u.a. 2002, S. 445-456. 252 Rolf Kailuweic/Chiara Polverini StefanPf?inder,Das Akropolis-Paradoxon. Sequenzialitätund Montage in Tänz und Sprache (Vortrag, Freiburg i.Br. imJuni 2004). Horacio Salas,Tango, poesia de Buenos Aires, Buenos Aires 1998. Gabriele Wittmann, Dancing is not writing. Ein poetischesProjekt über die Schnittstelle von Sprache und Tanz, in: Gabriele Klein/Christa Zipprrch ftIg.), Tärz Theorie Text,Jahrbuch Tanzforschung 12, Münster u.a.2002, s. 585-596. Isa Worteikamp,FlüchtigeSchrift/Bleibende Erinnerung,in: GabrieleKlein/ Christa Zipprich (Hg.), Tanz Theorie Text,Jahrbuchtnzforschung 12, Münsteru.a.2002,S.597-609.