Anzeigen 403 KB
Transcription
Anzeigen 403 KB
Vor Leningrad „Möge doch nun bald die Stunde geschlagen haben, wo dies unglückliche Land von dem Fluch und dem Schrecken befreit wird, von denen es in Bann gehalten wird. Ich hoffe, dass dieses entsetzliche Geschehen der letzte Akt des furchtbaren Kriegsdramas und sein Ende nahe sei.“ Kriegstagebuch Ost 29. September 1941 - 1. September 1942 von Wolfgang Buff (Unteroffizier im Artillerie-Regiment 227) Bearbeitet von seinem Bruder Joachim Buff Herausgegeber: Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. Werner-Hilpert-Straße 2, 34112 Kassel Internet: www.volksbund.de E-Mail: info@volksbund.de Spendenkonto: Commerzbank Kassel 3 222 999 BLZ 520 400 21 Verantwortlich: Rainer Ruff, Generalsekretär Redaktion: Fritz Kirchmeier Mitarbeit: Dr. Martin Dodenhoeft, Detlef Kroll, Christina Kopplin Druck und Bindung: GGP Media, Pößneck, 2009-2.2 Fotos: Joachim Buff Zum Geleit Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge übergibt die Aufzeichnungen und Briefe von Wolfgang Buff der Öffentlichkeit aus Anlaß der feierlichen Einweihung des größten deutschen Soldatenfriedhofs in St. Petersburg/Sologubowka am 8./9. September 2000. Hier hat auch ihr Autor inmitten seiner 80 000 Kameraden seine letzte Ruhestätte gefunden. Wir geben ihm das Wort, um seine Gedanken, seine Erinnerungen, seine Schmerzen, Gefühle und Hoffnungen, aber auch seine Liebe zu diesem Land und seinen Menschen einer breiten Öffentlichkeit in Deutschland und in Rußland bekannt zu machen. Unteroffizier Wolfgang Buff ist nicht weit von hier am 1. September 1942 gefallen, als er einem schwerverletzten russischen Soldaten zu Hilfe kam. Seine Aufzeichnungen entziehen sich jeder vordergründigen oder vorschnellen Beurteilung. So folgt er - wie Millionen seiner Kameraden dem Einberufungsbefehl zur Artillerie innerlich widerstrebend. Der Propaganda der NSDAP widerspricht er als überzeugter Christ mit großem Mut und bezeichnet die Erziehung zum Haß - eine der zentralen militärischen und politischen Thesen der Nazis im Krieg gegen die Sowjetunion - als "undeutsch". Er ist einer der zahllosen Soldaten der Wehrmacht, die sich ihre Menschlichkeit gegenüber den Kameraden und auch gegenüber den Gegnern nicht nehmen lassen. So spricht für alle, die still auf diesem großen Totenacker ruhen, und er ruft uns mit seinen Aufzeichnungen in Erinnerung, daß jeder seiner Kameraden - wie er selbst - eine unverwechselbare, reich begabte, Persönlichkeit gewesen ist. Jedes Grab und jeder Name auf den Gedenktafeln soll uns und die nach uns kommenden Generationen daran und an ihr so früh verlorenes Leben erinnern. Wiederholt wandern die Gedanken von Wolfgang Buff in das belagerte Leningrad mit der bangen Frage, wie es den Menschen in der Millionenstadt angesichts der nahezu totalen Einschließung und der Unterbrechung fast aller Nachschubwege im Winter 1941/42 ergehen möge. Danil Granin, in dieser Zeit als russischer Panzersoldat ein Gegner von Wolfgang Buff an der Leningrader Front und späterer Chronist der 900 Tage dauernden Belagerung der Stadt durch die deutschen Truppen, erzählt uns in seinem berühmten "Blockadebuch" die Geschichte von der jungen Russin Dussja. Und seine Stimme mag uns eine Antwort auf die Frage des jungen deutschen Unteroffiziers geben. 3 Zum Geleit Wenige Tage vor dem Tod von Wolfgang Buff, schenkt im hungernden, zerstörten, und alle Höllenqualen erleidenden Leningrad, die durch einen Granatsplitter schwer verletzte Dussja in den Trümmern ihres Hauses mitten in einem heftigen Angriff der deutschen Artillerie einem Sohn das Leben. Wie durch ein Wunder überstehen beide Hunger und Krieg, erleben die Befreiung ihrer Stadt und den Frieden. Betrachtet man beide Geschichten gemeinsam, die vom Tode Wolfgang Buffs und die vom Überleben Dussjas und ihres Sohnes, dann öffnen sie uns die Augen für das Geheimnis der Versöhnung und des Friedens: - Versöhnung gelingt, wenn die Liebe den Haß besiegt - Frieden ist möglich, wenn die Kraft zum Leben den Tod bezwingt. Möge dieses Tagebuch von Wolfgang Buff eine weite Verbreitung finden und der europaweiten Friedens- und Versöhnungsarbeit des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge viele neue Freunde gewinnen. 4 Vorwort Der Autor des „Kriegstagebuch Ost – vor Leningrad“ wurde am ersten Mobilmachungstag des Zweiten Weltkrieges durch Stellungsbefehl zu den Waffen gerufen. So geriet der 24-jährige kaufmännische Angestellte Wolfgang Buff aus der behüteten Welt einer kinderreichen Familie ziemlich unvorbereitet in ein Kriegsgeschehen, von dessen Härte, Dauer und Folgen jene Generation keine Vorstellung hatte. Dabei fühlte er sich von der Familie und vom Willen des deutschen Volkes getragen. Wie Millionen seiner Altersgenossen wurde Kanonier Wolfgang Buff wie Walter Flex im Ersten Weltkrieg als winziges Glied einer großen Schicksalsgemeinschaft ein Wanderer zwischen zwei Welten, der seinen Eltern und Geschwistern in Form regelmäßiger Feldpostbriefe nach Hause schrieb, was er draußen im Felde dachte und erlebte: „Meine liebste Beschäftigung und meine größte Freude ist immer, meine Gedanken, die so oft zu Euch schweifen, zu Papier zu bringen und Euch zu schreiben.“ Und immer sind es die beiden Welten, die er aus seiner Sicht beschreibt: die zerstörende kriegerische und – getreu seinem Grundsatz, Leben aufzurichten – die ersehnte Welt des Friedens mit ihren Menschen in ihrem angestammten Lebensraum. So gesehen handelt es sich bei diesen privaten und ursprünglich nur der eigenen Familie zugedachten Aufzeichnungen um ein Tagebuch eines eher friedfertigen Frontsoldaten, bei dem Frieden und Versöhnung Vorrang hatten. So sah es auch die nordfranzösische Presse 1994 nach der öffentlichen Übergabe einer ins Französische übersetzten Abschrift seines „Französischen Kriegstagebuches“ in Le Havre: „Ein Zeugnis im Dienst des Friedens nach mehr als 50 Jahren – eine Botschaft an die künftigen Generationen!“ Wenige Jahre später kam das Versöhnungszentrum St. Petersburg zu einem ähnlichen Urteil und veranlasste eine russische Übersetzung von Wolfgang Buffs „Kriegstagebuch Ost.“ Unteroffizier Wolfgang Buff fiel am 1. September 1942 vor Leningrad, als er im Verlauf der schweren Abwehrkämpfe der 1. Ladoga-Schlacht nach einem Einbruch russischer Infanterie in seine Artillerie-Feuerstellung bei Sinjawino trotz dringender Warnrufe seiner Kameraden einem schwerverwundeten Kriegsgegner Erste Hilfe leisten wollte. Besonderer Dank gebührt dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge dafür, dass dieses bei der Belagerung von Leningrad entstandene Zeugnis für Frieden und Versöhnung durch Herausgabe eines Abdruckes in deutscher und russischer Sprache künftigen Generationen hüben und drüben erhalten bleibt. Im Juni 2000 Joachim Buff 5 Lebenslauf von Wolfgang Buff Ein kurzes Leben – 15.11.1914 – 1.9.1942 Wolfgang Buff wurde zu Beginn des Ersten Weltkrieges als ältester Sohn der Eheleute Walther und Martha Buff, geb. Alpers, geboren und verbrachte seine Kindheit im einsamen, noch weitgehend unberührten grünen Land der Niers des niederrheinischen Grenzkreises Kleve. Nach privater Grundschulausbildung besuchte er die Gymnasien in Goch und in Kleve, wo er 1933 das Abitur ablegte. Geprägt wurde seine Jugend durch eine große kinderreiche Familie, eine tiefgläubige christliche Erziehung und das Leben in einem – zumindest bis zur Inflation 1923 – wohlhabenden Elternhaus in Asperden in unmittelbarer Nähe des historischen Klever Reichswaldes. Von dort verwaltete sein Vater sein bei Well/Holland an der Maas gelegenes, zum Teil bewaldetes Landgut, das im Gefolge der wirtschaftlichen Wirren und politischen Restriktionen der Nachkriegszeit verloren ging und zu heute kaum vorstellbaren Einschränkungen der materiellen Lebensverhältnisse der inzwischen auf zwölf Kinder angewachsenen Familie führte. Wolfgangs Wunsch, Theologie zu studieren, stieß unter den erwähnten wirtschaftlichen Verhältnissen vor allem auf finanzielle Schwierigkeiten. Dazu erklärte der 18jährige Abiturient in seinem Zulassungsantrag: „Meine Absicht, die theologische Laufbahn einzuschlagen, wozu ich mich hingezogen fühle, muss zurücktreten, falls das Wohl der Familie, deren Glied ich bin, eine anderweitige Berufswahl erfordern sollte.“ So kam es, dass er nach der Reifeprüfung unverzüglich ins Berufsleben eintrat und nach Ableistung des damals noch freiwilligen Reichsarbeitsdienstes eine kaufmännische Lehre absolvierte, um bereits im folgenden Jahr als kaufmännischer Angestellter in der Krefelder Seidenindustrie tätig zu werden. Nach Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht wurde Wolfgang Buff 1937 zu einer militärischen Kurzausbildung in Glogau/Schlesien und bereits zwei Jahre später bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zum neu aufgestellten Artillerieregiment 227 in Krefeld einberufen. Schon am zweiten Mobilmachungstag rückte der nur sehr bedingt ausgebildete Kanonier mit der Rheinisch-Westfälischen 227. Infanteriedivision zu Grenzschutzaufgaben in die Eifel aus. Im Verlauf des Westfeldzuges stieß die Division 1940 durch Holland und Belgien bis an die Kanalküste im Raum Le Havre vor, wo sie bis zu ihrem Abtransport 1941 an die Ostfront die Sicherung der Kanalküste übernahm. Aus 6 Lebenslauf von Wolfgang Buff dieser Zeit stammt Wolfgang Buffs „Kriegstagebuch West“, von dem eine Abschrift 1994 im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung der Stadt Le Havre übergeben wurde, die es ins Französische übersetzen ließ. Seit Herbst 1941 befand sich die Division im sog. „Flaschenhals“ der Einschließungsfront von Leningrad zwischen Schlüsselburg und Mga, wo sie ziemlich unvorbereitet in die harten Winterkämpfe verwickelt wurde. Bei den Abwehrkämpfen der 1. Ladoga-Schlacht fand Wolfgang Buff am 1. September 1942 den Tod, als er einem schwerverwundeten russischen Soldaten Erste Hilfe leisten wollte. In den zehn Monaten vor Leningrad entstand sein „Kriegstagebuch Ost“, das vom Versöhnungszentrum St. Petersburg ins Russische übersetzt wurde. Uffz. Wolfgang Buff gehört zu den ersten Kriegstoten, die 1997 vom ehemaligen „Heldenfriedhof der 227. Infanteriedivision.“ bei Mga, der nach dem Krieg eingeebnet wurde, auf dem neuen Sammelfriedhof des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge St. Petersburg-Sologubowka, umgebettet wurden. 7 2. Vielleicht ist’s Nacht, vielleicht ist’s Tag, Wenn wir stehn angetreten. Vielleicht weckt uns der Drossel Schlag Beim Schein der Morgenröten. 3. Zum Tor hinaus geht dann der Zug, Der Rosse Hufe blinken. Nun ist der Ruhezeit genug, Und neue Taten winken. 4. Bereite Dich, die Stunde naht, Wir müssen uns bewähren. Die Frucht der lang verborgnen Saat Wird uns die Zukunft lehren. Wolfgang Buff, Vor Leningrad 29. September 1941 Von unserem lieben Dörflein Petit Roeulx/Belgien, wo wir nun mit einigen Unterbrechungen drei Monate lang gewesen sind, nehmen wir nur ungern Abschied. Die französisch sprechende Bevölkerung (Wallonen) war recht freundlich zu uns, und ich glaube, auf beiden Seiten hat man in der ganzen Zeit unseres Hierseins keinen Grund zur Klage gehabt. Allgemein bedauert man unseren Weggang und erwartet uns gern in drei Wochen zurück, wie gesagt wird, aber daraus wird wohl nichts werden. Für uns findet mit dem heutigen Tag die lange Zeit der Ruhe den längst geahnten Abschluss. Nun beginnt für uns der weite Weg, und wir sind angetreten zu unserer Bewährungsprobe. Gott gebe, dass sie bestanden werde! Nach Erledigung der letzten Vorbereitungen kam in der Nacht zum 30. der Abmarsch. Es war eine warme September-Nacht, und die Grillen im Grase, begleitet von sanftem Säuseln der Pappeln am Bachufer, zirpten zum Abschied ihr leises Lied. 30. September 1941 Verladen in Brüssel L.C. - Brüssel - Mecheln - Antwerpen - Rosendaal Tilburg s-Hertogenbosch - Utrecht. Dann kam die Nacht, und am Morgen sahen wir uns in der Bielefelder Gegend (Gohfeld). 1. Oktober 1941 Minden - Stadthagen - Hannover- Stendal - Rathenow - ringsum Berlin gefahren. Von der Stadt selbst sahen wir kaum etwas, denn es wurde gerade dort Nacht. Auf den weiten Feldern von Brandenburg war die Kartoffelernte im vollen Gange, und die Leute hielten jedes Mal in ihrer eifrigen Arbeit inne, wenn unser Transportzug vorbeikam, und winkten uns mit Bewegung zu. 2. Oktober 1941 Beim Tagesgrauen um 6 Uhr standen wir in Schneidemühl. Von da aus Fahrt durch den Polnischen Korridor bis Dirschau. Eine öde Sand- und Heidelandschaft mit dürren Grasflächen, mageren Kiefernwäldern und kärglichen sandigen Feldern. Die Häuser der Polen meist aus Holz mit flachem Dach aus Teerpappe. Kümmerlich und unschön angelegt. Da- 9 Wolfgang Buff, Vor Leningrad zwischen großartige, moderne Anlagen des polnischen Staates, die in merkwürdigem Kontrast zu den armseligen Wohnungen der Bürger stehen. Heute sind die meisten Bewohner Deutsche, die uns von ihren Feldern freundlich zuwinken. Auf den Tümpeln und Bächen und an den Mooren tummeln sich die berühmten fetten Gänse des Ostens. Viele neu erbaute deutsche Siedlungshäuser. Die Orte tragen nun fast alle deutsche Namen (Königswiese). Herrliche Fahrt von Dirschau (altes deutsches Stadtbild an der Weichsel) nach Elbing. Ungefähr auf halbem Wege liegt an der Nogath das alte Deutsch-Ordensschloss Marienburg. Ein trutziger, gotischer Backsteinbau, der weit über die flache Marschlandschaft ragt. Elbing erreichten wir gegen Abend. Dort beginnt das ostpreußische Hügelland, über dem wir die Abendsonne untergehen sehen. „Kameraden, die Trompete ruft.” 3. Oktober 1941 Als der Tag anbrach, lag in tiefen Nebel verhüllt das russische Land vor uns oder vielmehr Litauen, dessen Grenze wir vor einigen Stunden überschritten hatten. Doch wenn man von Ostpreußen nach Litauen kommt, dann hat man mit einem Schlage die Grenze von Mitteleuropa zum Osten überschritten. Weit und eben dehnt sich die öde mit spärlichem Gras- und Rasenwuchs bekleidete Ebene ringsumher aus. Dazwischen Wald und Moorflächen und überall Findlinge und rundgeschliffene Steinblöcke, die an die Eiszeit erinnern und der ganzen Landschaft etwas Vorweltliches, Urwüchsiges und Befremdendes geben. Man spürt, dass man in einem ganz anderen Lebenskreis hineingestellt ist. Die menschlichen Siedlungen sind spärlich. Auf der mehr als 100 Kilometer langen Strecke bis Schaulen sah man keine geschlossene Ortschaft, aber viele einzelne Bauernhöfe, das heißt Holzhäuser mit spitzem Strohdach, Viehzucht und etwas Ackerbau. Die Leute sehen dem vorbeifahrenden Zug freudig nach und oft wird lebhaft gewinkt. Tauroggen, Schaulen, je mehr wir nach dem Osten kommen, desto herbstlicher wird es. In Flandem war noch alles im satten Grün. In Deutschland sahen wir die ersten Herbstfarben, und hier in den Baltenländern ist der Sommer schon vorbei. Die Wiesen sind schon ohne Leben, und die Bäume beginnen sich zu entlauben, und des Morgens liegt auf den schon erstorbenen Grasflächen dick der weiße Reif. In unseren Waggons haben wir uns zu der langen Fahrt gut eingerichtet. Ein Uffz., drei Mann und sechs Reitpferde sind die Besatzung, die sich recht gut untereinander verträgt. Ein Sack Hafer, vier Ballen Stroh und drei Ballen Heu sind unser erster Reisevorrat für die vierbeinigen Rei- 10 Wolfgang Buff, Vor Leningrad senden, aber uns selbst dienen diese Dinge natürlich auch des Nachts, um ein warmes Lager daraus zu machen, und tagsüber werden jeweils zwei vor die offene Wagentür gestellt und durch Überziehen mit einem Woilach (Pferdedecke, Anm. d. Red.) in den feinsten Diwan verwandelt. Der Rest der Ballen liegt vor der geschlossenen Wagentür, und darauf ist bis unter die Decke der ganze Haufen unseres Gepäcks und der sechs Sättel aufmontiert. In die Decke haben wir Nägel eingeschlagen und daran unsere Kochgeschirre, Feldflaschen, Brotbeutel, Gasmasken und die Fressbeutel der Pferde aufgehängt. Diese Dinge müssen nämlich stets griffbereit sein. Denn wenn es heißt: Portionen empfangen, Kaffee empfangen, usw. beginnt stets der allgemeine Wettlauf zur Feldküche, die gegen Schluss des Zuges auf einem offenen Wagen steht, und um nicht zu spät zu kommen und bei Abfahrt des Zuges unverrichteter Dinge wieder abziehen zu müssen, heißt es dann jedes Mal „wie verfault“ loswetzen. Aber in den kurzen Pausen gibt es ja auch noch allerlei anderes für uns zu tun: Da heißt es vor allem, die Pferde tränken, die bei dem langen Stehen in dem engen, heißen Waggon stets einen unersättlichen Durst entwickeln. Da gibt es dann jedes Mal einen Kampf um die wenigen Wasserstellen, der aber oft der Heiterkeit und des Humors nicht entbehrt. Besonders, wenn wir uns an die großen Wasserkräne für die Lokomotiven heranmachen und an dem Schraubenrad verwegen drehen und dann plötzlich von sintflutartigen Wasserfällen überrascht werden, so dass die Bahnbeamten in heller Verzweiflung herbeigelaufen kommen, denn die Lokomotive will ja auch noch tanken. Unseren Pferden ist die Reise bis jetzt gut bekommen. Drei stehen rechts und drei stehen links an den Schmalseiten des Wagens, jedes Mal durch einen eisernen Flankierbaum von der Mitte abgetrennt. Es sind ruhige Pferde, die sich untereinander nicht schlagen. Wenn sie nicht im Stroh knabbern, was meistens unausgesetzt ihre Beschäftigung ist, dann glotzen sie uns mit ihren großen Augen an, spitzen die Ohren, wenden den Kopf zur offenen Tür und lassen verdutzt die Unterlippe hängen. Die Ergebnisse ihrer Philosophie scheinen ihrem Pferdeverstand doch recht sonderbar vorzukommen. Jedenfalls haben sie sich an ihre neuartige Umgebung gut gewöhnt, und die Angst, mit der Aurora sich zuerst in den hintersten Winkel verdrückte und sie sogar das Fressen vergessen ließ, ist inzwischen längst verschwunden. Mein Reitpferd heißt Jenny und zeichnet sich dadurch aus, dass es den ganzen Tag im Stroh frisst und wenig philosophiert oder vielmehr diese Beschäftigung auf die Nachtstunden verlegt, das heißt sie steht dann recht ruhig. Beim Reiten ist sie sehr verständig. Bei „Marsch“ geht sie ganz von selbst los und bei „Halt“ weiß sie, was sie zu tun hat, und stellt sich gleich quer, wie es Vorschrift ist. 11 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Tagsüber sitzen wir geschützt von einem eisernen Flankierbaum vor der offenen Wagentür und schauen hinaus oder lesen. Zwischendurch wird mal ein Spielchen gemacht. Am schönsten aber ist es, die weite Landschaft in all ihren verschiedenen Formen zu erleben. Meist ist sie hier oben wild und herrenlos, als wäre sie noch kaum von eines Menschen Hand berührt. Im Westen ist der Mensch Herr über die Erde, und es gibt kaum einen Fleck, der durch seine ordnende Hand nicht irgendwie gestaltet ist. Hier dagegen scheinen Raum und Ebene über den Menschen die Herrschaft zu haben, und seine spärlichen Wohnungen fügen sich schüchtern in die unendliche Weite ein, die sie niemals zu umfassen vermögen. Gegen 6 Uhr wird es dunkel. Wenn dann die Sonne im Westen untergegangen ist und der Mond sein zauberhaftes Licht über die weiten Ebenen ergießt, dann sitzen wir still und schauen hinaus. Gegen 9 Uhr wird es kalt. Dann wird die Tür geschlossen, ein Strohlager zurecht gemacht, in einen Woilach eingedreht und gepennt bis zum Morgengrauen. Die Pferde klappern wohl ein wenig mit den Hufen, und zuweilen spürt man einen warmen Pferdeatem und ein feuchtes Pferdemaul in der Nähe des Gesichtes, aber man weiß sich dagegen zu helfen, und wenn ihre Gefräßigkeit allzu zudringlich ist, bekommen sie einen leeren Futterbeutel umgehängt, dann hört das Fressen und Knabbern von selbst auf. 4. Oktober 1941 Tauroggen-Schaulen Litauen eine weite, öde Gras-, Sumpf- und Waldfläche. Die Häuser aus Holz und recht primitiv angelegt. Einzelsiedlungen. Von Tauroggen bis Schaulen etwa 100 Kilometer kaum eine geschlossene Ortschaft, nur einzelne Stationen im Walde, wo man wenige Häuser erblickt. Litauische Posten mit Gewehr. Mitau: größere Stadt in Lettland. Malerisch gelegen an der Aar. Riga erreichten wir in der Abenddämmerung. Eine große, schöne Stadt an der Düna mit großen Industrie- und Bahnanlagen. Allgemein machen die Dörfer und Städte in Lettland einen viel fortschrittlicheren Eindruck. Bei Wenden-Walk beginnt Estland, auch ein Land, das mit Seen, Hügeln und schönem Wald schon einen mehr nordischen Eindruck macht. Des Abends langer Aufenthalt auf einem russischen Grenzbahnhof Joboda. Gespräche mit Verwundeten, die von der Front zurückkamen und nach Riga fuhren. Sie machten uns natürlich die Hölle heiß. Des Nachts über Luga weiter in nördlicher Richtung und durch endlose Wälder und öde Steppen. Zuweilen Hügel und Seen. Den Peipus-See sahen wir jedoch nicht. 12 Wolfgang Buff, Vor Leningrad 5. Oktober 1941 (Sonntag) Nach gut verbrachter Nacht zog ein kalter Herbstmorgen herauf. Wir sattelten und schirrten unsere Pferde. Gegen Mittag Ausladung in einer kleinen Station etwa 60 Kilometer südlich Leningrad. Unbehelligter Marsch durch mehrere kleine Dorfsiedlungen bis zum Walddorf S. (Sinjawino), wo wir des Abends ankamen und uns notdürftig in leerstehenden Häusern einrichteten. Pferde draußen im Wald angebunden. In der mondhellen Nacht, die schon erhebliche Kälte brachte, drei Stunden Wache. 6. Oktober 1941 Im Walde notdürftig ein Gehege gezimmert zum Anbinden der Pferde. Den ganzen Tag hört man in der Ferne den Kanonendonner von Leningrad her. Es sind vielleicht die schweren Geschütze der Festungsinsel Kronstadt, auf der die Russen hundert Batterien gegen uns feuern lassen. Doch ist die Lage der Stadt, von der unsere Truppen zum Teil nur zehn Kilometer entfernt sind, mehr als verzweifelt. Hunger und Seuchen wüten dort. Die Zivilisten hatten die Russen hinausgeschickt, aber von uns wurden sie wieder zurückgeschickt. Denn die Stadt soll durch Hunger und Munitionsmangel gezwungen werden, nicht durch einen verlustreichen Sturm. Aufruf des Führers an die Soldaten: „Die letzte große Schlacht, die die Entscheidung im Osten noch vor Beginn des Winters bringen soll, hat begonnen. Mit Gottes Hilfe wird sie zum Siege führen.“ 7. Oktober 1941 Ich liege hier auf einem Strohlager, in das wir uns zu sechs Mann in einem kleinen Zimmerchen teilen. Unser Haus, das zur notdürftigen Unterkunft für 80 Mann dient, ist ein ebenerdiges Eisenbahner-Erholungsheim, das zu den acht oder zehn größeren Holzbauten gehört, aus denen unsere Waldsiedlung an der Eisenbahnlinie nach Leningrad besteht. Einige Russen, mit denen wir uns durch Zeichen verständigen, fanden wir noch vor. Sie sind uns in allen Dingen behilflich, so dass wir den Generator für die Lichtanlage in Gang bringen konnten und ein kleines Sägewerk betrieben. Mit dem reichlich vorhandenen Holz können wir gut einheizen. 13 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Bis jetzt haben wir noch keine besonderen Erlebnisse gehabt. Die Front ist noch 50 Kilometer von uns entfernt, und wir hören nur ihren Donner, aber wir sind bereit darauf, dass jede Stunde der Einsatzbefehl kommen kann. 8. Oktober 1941 Erstes Ausreiten im russischen Gelände, wobei einige Pferde gleich im Sumpf versanken. Aber man bekam sie wieder heraus. Heute hat man mir Jenny abspenstig gemacht. Uffz. W. hat es mir abgenommen, weil er Fritz nicht mehr reiten mochte. Nun muss ich mich damit herumschlagen. 9. Oktober 1941 Ich sitze in einem Blockhäuschen in einem Walddörfchen nicht weit von Leningrad. Heute sind wir dorthin marschiert, über weite schlechte Straßen durch öde Waldgegenden. Überall die Spuren des Kampfes und lange Reihen von deutschen Soldatengräbern. Weiße Kreuze aus jungen Birkenstämmen sind ihr Schmuck. Wir sind auf dem Wege zum Einsatzgebiet, das wir in zwei Tagen erreichen werden. Falls der Feind bis dahin nicht die Waffen gestreckt hat, werden auch wir noch Anteil haben an dieser letzten großen Vernichtungsschlacht, von der der Nachrichtendienst heute berichtet. Eben wurde ich zum Hauptmann gerufen. Ich bin zum Unteroffizier befördert. Es kam überraschend, und ich weiß, dass ich in manchem noch unvollkommen bin. Aber mit Gottes Hilfe werde ich dies auch nach bestem Vermögen auszufüllen trachten und mich im Einsatz bewähren. 10. Oktober 1941 Marsch durch weite Wälder, über schlechte Straßen und kilometerlange Knüppeldämme nach Leningrad. Ein Dörfchen mit vielen Holzhäusern und eine schön gelegene Kirche. Sie ist völlig demoliert und war kaum noch gut genug, als Pferdestall zu dienen. Unser Wachlokal, wo ich heute nacht Wachhabender bin, ist auf einem Söller, aber wie überall hier mit einem Holzofen gut geheizt. Holz gibt es ja in Hülle und Fülle. Nebenan wohnt der Dorfpope mit seiner Familie. Ich stand vor der Herrgottsecke in seinem Zimmer, und er gab mir zu verstehen, er sei Pastor. Das Haus war sauber und ordentlich eingerichtet, er ernährt sich von kleiner Landwirtschaft und macht auch den Eindruck eines biederen Bauers. 14 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Wir konnten uns leider kaum verständigen, ich lieh ihm meine Bibel, aber er konnte keinen Buchstaben daraus lesen. Schließlich erkannte er sie an den Bildern von Palästina und Jerusalem. 11. Oktober 1941 Wir sind in N. angekommen, ein Dörfchen mit finnischem Namen, finnischen Holzhäusern und den berühmten Badestuben, wo die Dorfleute gerade bei der „Samstag-Wäsche“, dem Saunabad waren. In einem halbzerfallenen Stall ohne Dach gab es eine gute Unterkunft für die Pferde. Für uns allerdings war es in den kleinen Wohnungen mit zwei Zimmern pro Familie reichlich eng, so dass wir eng wie in der Heringstonne auf dem Boden rumlagen, und die junge Frau mit ihrem schreienden Kind sich bald weinend in eine Ecke zurückzog. Wir wussten nicht, wie wir sie beruhigen sollten, denn die Worte fehlten, und so machten wir ihr zum Trost ein großes Wurstebrot und boten es ihr mit einer Tasse Tee an. Ihr Mann, ein Eisenbahnmaschinist in Tossno, war mit seiner Lokomotive durch Bomben zerschmettert worden, und sie erwartet nun ihr zweites Kind. H., S., M. und ich beschlossen, der Enge halber, dann doch noch auszuziehen. Jetzt haben wir unsere Lagerstatt in einem Badehäuschen aufgeschlagen, wo es vom Bad vor einigen Stunden noch recht gemütlich warm ist. Im übrigen bin ich wohlauf; heute ein langer Ritt über staubige Straßen immer durch Wald und durch den heiß umkämpften und völlig zerstörten Ort Tossno. Wir haben bis jetzt noch keine Kämpfe mitgemacht. Heute ein wenig Schnee. 19. Oktober 1941 (Sonntag) Nachdem eine große Kanonade unserer Geschütze ihren Abschluss gefunden hat, bleibt jetzt noch etwas Zeit für einen kurzen Bericht über die vergangenen Tage. Am 12.10. erreichten wir nach längerem Marschieren durch Wälder und Sümpfe, in denen die Straßen kilometerweit erst durch Knüppeldämme fahrbar gemacht worden waren, den viel umkämpften Ort Petrowo. Dort kamen wir erstmalig mit dem Feind in Berührung, und zwar durch Flugzeuge, die das Dorf gerade während unseres Durchmarsches mit Bomben und Bordwaffen zum Ziel nahmen. Außer einigen toten Pferden hatten wir glücklicherweise nur vier Verwundete, während bei unseren anderen Einheiten die ersten Toten zu beklagen waren. Die Flugzeuge kamen so niedrig, dass man sie erst für deutsche hielt. Ich ritt gerade allein einige Meter vor der Batterie zur Wegeerkundung. Erst an dem eiligen Hin- und Herlaufen der Russen erkannte ich die 15 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Gefahr, stieg rasch vom Pferd ab, nahm es beim Zügel und duckte mich in einen Hauseingang. Es geschah mir Gott sei Dank nichts. Bei ziemlicher Kälte verbrachten wir dann die Nacht in einem Buschgehölz in der Nähe des Ortes. Geschlafen habe ich im Rechenzelt. Am anderen Morgen mit den Pferden tiefer in die umliegenden Wälder gezogen, wobei mir an einer Brücke bei einem Fliegerangriff zwei Pferde davonstürzten, die ich aber nachher wiederfand. Gegen Mittag von Fliegern unbehelligter Abmarsch nach P., nachdem die 12. Batterie fünf Tote begraben hatte. In P. verbrachten wir die Nacht in einem Wald. Dort grub ich mir mit H. Kr. ein Loch, wir deckten es mit Holz, Tannenreisig und Erde zu und krochen dann mit unseren Decken hinein. Trotz ziemlichen Frostes während der Nacht froren wir kaum. Am 14.10. Ritt zu unserer Feuerstellung über schwierige Straßen mit starkem motorisierten Verkehr, wobei man sich als Reiter sehr in Acht nehmen muss. Nun sind wir schon mehr als fünf Tage mit unseren Geschützen in Feuerstellung und haben schon viele hundert Schuss aus unseren Rohren gefeuert. Für mich als Rechen-Uffz. gab es bei der Errechnung der Kommandos sehr viel Arbeit, die mit großer Sorgfalt und Sicherheit getan werden muss. Dabei bin ich mir meiner großen Verantwortung wohl bewusst. Bisher ist alles gut gegangen. Unsere Feuerstellung befindet sich in einem Gebüsch aus kleinen Tannen und Birken. Ringsum Wälder und Steppen. Zur Unterkunft haben wir kleine Erdlöcher, wo man gebückt drin stehen bzw. nur liegen kann. Eine Decke aus Tannenstämmen und Erdbewurf soll gegen Splitter schützen. In die Wände der Höhlen sind kleine Feuerungen mit Kamin gebaut, Holz ist genügend im Wald, und so können wir immer ein wärmendes Feuerchen brennend halten. Die Temperatur ist um Null Grad, augenblicklich schmilzt sogar der Schnee, während in der vergangenen Woche kältere Tage waren. Von Zeit zu Zeit kommen Feuerbefehle, dann müssen alle auf dem Posten sein und heraus, was die Rohre hergeben. Die Zwischenzeit ist für mich ausgefüllt am Kartenbrett und am Plantisch. Auch des Nachts muss man manchmal schnell aus seiner Höhle herauskriechen, wenn die Infanterie in den vorderen Linien Feuer verlangt oder Ziele aufgeklärt sind. Der Feind ist wenige Kilometer von uns entfernt. Den ganzen Tag und während der Nacht ist das Getöse des Kampfes mit kurzen Ruhepausen zu vernehmen. Der Russe hat auch noch allerhand Artillerie drüben stehen, und von Zeit zu Zeit streut er unser Gelände ab. Obwohl wir einige Einschläge schon in unmittelbarer Nähe hatten, ging bis jetzt noch alles gut. Der Feind soll im Weichen begriffen sein, und wir hoffen, dass es auch hier, wie an den anderen Frontabschnitten vorwärts geht. 16 Wolfgang Buff, Vor Leningrad So zäh wie der Russe Leningrad verteidigt, hat er sich auch hier gehalten. Unsere vielen Verluste an diesem Abschnitt zeugen davon, und das Vernichtungswerk, das sich hier abgespielt hat und noch abspielt, ist grauenhaft. Brandstätten, Zerstörungen und Friedhöfe ringsumher, während die Zahl der Toten auf der anderen Seite einfach ins Unfassbare geht. Es ist ein Segen, dass der Schnee als mitleidiges Leichentuch sie zudeckt. Einiges hatte ich ja vom Krieg im Westen schon gesehen, aber hier beim endlosen Donner der Front und dem vom Brande einer sehr großen Stadt beständig erröteten Abendhimmel erlebt man ihn in seiner ganzen Größe und Furchtbarkeit. Möge doch nun bald die Stunde geschlagen haben, wo dies unglückliche Land von dem Fluch und dem Schrecken befreit wird, von denen es in Bann gehalten wird. Ich hoffe, dass dieses entsetzliche Geschehen der letzte Akt des furchtbaren Kriegsdramas und sein Ende nahe sei. 20. Oktober 1941 Gestern erhielten wir erstmalig Post. Ihr braucht Euch keine große Sorge zu machen! Ich bin wohlauf und fühle mich gesund. Das Reiten hat bis jetzt auch gut geklappt, obwohl ich beim nächtlichen Ausrücken aus Petit Roeulx zum ersten Mal mit Sporen auf ein schwer gesatteltes Pferd, das heißt mit dem ganzen Gepäck gestiegen bin, aber ich habe ein ruhiges Pferd und erfahrene Kameraden neben mir im Batterie-Trupp, und so geht es schon. Wenn ich so über die russischen Straßen ritt, dann dachte ich oft daran, dass Vaters Wunsch, den er mir in Krefeld immer nahgelegte, nun in Erfüllung gegangen ist. Zwar nicht in der Krefelder Reitbahn, aber in Frankreich und in Russland habe ich das Reiten gelernt und bin nun zum Reiter geworden. Ab 25.10. werden nun auch Feldpostpäckchen bis ein Kilogramm nach Russland befördert. Schickt mir doch bitte einige wollene Untersachen, vielleicht auch meinen roten Pullover und eine warme Unterhose. Aber bitte nicht zuviel vorerst, denn ich hoffe sehr, dass wir den Winter nicht ganz hier verbringen werden. Aber ein kleiner möglichst unzerbrechlicher Rasierspiegel fehlt mir auch noch. Man rasiert sich zwar hier nur selten, da man, wenn kein Schnee und Feuer da ist, den kostbaren Kaffee dazu verwenden muss, aber von Zeit zu Zeit muss man doch etwas daran tun, um nicht ganz zu verwildern. Mit Handschuhen und Pulswärmern bin ich versehen. 17 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Im übrigen ist hier alles sehr knapp, aber wir kommen noch soeben hin. Nur das Futter und die Unterkunft für die armen Pferde mangelt sehr, und sie sterben wie Fliegen dahin. Die gesammelten Briefmarken schickt bitte an Madame Dupues, Petit-Roeulx-les-Braines und bestellt von mir, dass es mir gut ginge und ich in Russland wäre. Ich hoffe nur, dass wir nicht allzu lange in diesem ungastlichen Lande bleiben und warte auf ein baldiges frohes Wiedersehen. 20./21. Oktober 1941 Gestern und heute Großkampftage. Der Russe schießt mit allen Kalibern, und wir antworten. Seine Infanterie greift an, unterstützt von Panzern. Unsere Infanterie hat einen schweren Stand. Wir feuern, was die Rohre hergeben, kaum kann genug Munition herangeschafft werden, am schwersten haben es die Fernsprecher, die vorne im Feuer dauernd Leitungen flicken müssen. Unser ganzes Gelände wird dauernd von der russischen Artillerie beschossen. Beinahe hätten wir noch mitten in einen Hexenkessel hinein Stellungswechsel machen müssen, aber das eine Geschütz, das dort stand, kam wieder heraus. Wie durch ein Wunder ist der Mannschaft jedoch nichts passiert. Uffz. Lütz ist heute auf der Störungssuche von einem Granatsplitter tödlich getroffen. Die Lage ist ernst, doch wir hoffen, dass wir standhalten können. 22. Oktober 1941 Auch heute, wie gestern Großkampftag. Der Russe versucht mit allen Mitteln und Panzern durch unsere vorderen Linien durchzubrechen. Unsere Infanterie und die Leute aus Kreta haben einen schweren Stand. Verstärkungen kommen herangerollt. Uffz. Heier als VB (Vorgeschobener Beobachter, Anm. d. Red.) verwundet. Unser Chef in vorderster Linie, ein Vorbild von Besonnenheit und Mut. Tag und Nacht liegt unser Gelände unter Artilleriebeschuss. Die Granaten pfeifen über uns hinweg. Bis jetzt, wie durch ein Wunder, noch keine Verluste. 24. Oktober 1941 Heute Morgen ist es stiller geworden. Ich sitze mit B. im Rechenbunker am Plantisch, und wir nutzen rasch die Zeit, um einige Zeilen zu schreiben. Ich glaube, die Krise der letzten Tage ist überstanden; der russische Angriff ist zum Stocken gekommen, und eben trifft die Nachricht von einem geglückten Gegenangriff unsererseits ein. Eine 18 Wolfgang Buff, Vor Leningrad bewundernswerte Leistung unserer Infanterie. Ein allgemeines Aufatmen geht durch unsere Reihen. Gerade kam der Chef von vorne zurück. Er war allerdings zu abgespannt, um viel zu erzählen, und legte sich zum Schlafen. Aber seine Rückkehr alleine ist uns eine große Beruhigung. Wir hatten uns Sorge um ihn und seine Begleiter gemacht. Er geht in vorbildlicher Weise trotz seines Alters (53 Jahre) in die schwierigsten und gefährlichsten Linien vorne, und wenn er auch manchmal durch sein aufgeregtes und überstürztes Wesen sich einiges verdirbt, so ist er doch ein Hauptmann von echtem Schrot und Korn, vor dem jeder aufrichtig Denkende Hochachtung haben muss. In den letzten Tagen war die Kälte etwas gewichen, und Regen und Schnee mit aufgeweichten Wegen und Schlamm war an ihre Stelle getreten. Die Fahrer und Pferde, die Munition auf weite Strecken für uns heranfuhren, haben Großes geleistet. Unsere Pferde sind sehr mitgenommen, dass man sie kaum wiedererkennen kann. Aber auch die Leute, bärtig und überanstrengt, haben das Letzte hergegeben. Unsere Verpflegung ist weiter ausreichend. Nur einige warme Sachen könnte ich gebrauchen. Vielleicht irgendeine Pelzweste, die man unter der Uniform tragen kann, oder etwas Ähnliches. Man hat hier kaum Gelegenheit, sich zu waschen. In unserer Stellung gibt es überhaupt kein Wasser, und um sich zu rasieren, muss man schon ein wenig Tee opfern. Sonst ist es hier aber zum Aushalten. Wir haben Holz im Wald und machen uns die Bunker mit einem Feuerchen gemütlich warm. Der russische Beschuss in unserem Gelände scheint nun nachzulassen. Heute bewegt uns die Nachricht von der Absetzung der drei Sowjetmarschälle Woroschilow, Timoschenko und Budjonny. Ist es ein Zeichen für den Zusammenbruch des russischen Widerstandes? Oder ist Stalins Macht immer noch ungebrochen? Es muss doch einmal ein Ende haben, dies furchtbare Morden, und es ist mir ein großes Anliegen, dass dies bald der Fall sei. 26. Oktober 1941 Heute ist Sonntag. Es gab allerhand aus den Rohren zu feuern, und der Russe funkte auch hin und wieder. Er versuchte in den vergangenen Tagen immer wieder anzugreifen, aber bisher ohne größeren Erfolg. Auch in der vergangenen Nacht waren harte Kämpfe. In allen Richtungen ringsumher donnerten die Fronten unablässig. 19 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Bei Tagesgrauen erschien plötzlich Oberst F. in der Feuerstellung und äußerte sich sehr anerkennend dem Hauptmann gegenüber über dessen und der Batterie Leistungen. Auch für meine Arbeit als Rechentruppführer fiel dabei ein besonders Lob ab. Heute Nachmittag war es bis auf einige Feuerüberfälle, die wir auslösten, und bis auf einige Beunruhigungen durch feindliche Flieger ruhig, aber es gab noch allerhand auszuarbeiten und vorzubereiten, das mit meinen treuen Kameraden Marstaller und Linden - Lotte kennt sie beide - freudig geschafft wurde. Morgen früh gehen der Hauptmann und Uffz. Stegberg wieder nach vorne. Beide bekamen heute für ihren letzten Einsatz das Eiserne Kreuz. Das Wetter ist immer noch regnerisch und patschig. Man wird zwar nass dabei, aber man friert nicht so. Wir haben uns jetzt an unser Höhlenleben gewöhnt und uns in den kleinen Bunkern gemütlich eingerichtet. Wenn ich des Abends mit Sigberg und den beiden Rechnern eng ums Feuer gedrängt zusammensitze, dann erleben wir oft schöne Stunden. Es sind Kameraden, wie man sie sich nach dem Herzen wünscht. Auch kleine Haustierchen haben wir uns inzwischen zugelegt. Es sind die Feldmäuse, die es bei uns doch wohnlicher finden, als draußen. Sie rascheln und quieken umher, aber man lässt sie ruhig gewähren, denn man freut sich über jedes Lebewesen in dieser großen Einöde, in der es nichts zu geben scheint als den unbarmherzigen Krieg. Draußen ist es heute Abend ruhiger als gestern. Nur vereinzelt hört man das Rattern eines MG oder das Krachen eines Kanonenschusses. Sonst tiefe Ruhe. Wenn ich allein in meinem Rechenbunker bin und die Arbeit getan ist, dann wird mir meine kleine Behausung zu einem feierlichen Gebetskämmerlein. 27. Oktober 1941 Die Nacht war ruhig, und heute Morgen ist von uns aus noch kein Schuss gefallen. Der erste Vormittag ohne Kanonendonner. Draußen hört man die Front nur hin und wieder, und über Nacht ist hoher Schnee gefallen, aber Pappschnee, der alle Unternehmungen zu behindern scheint. So wurde der Vormittag dazu ausgenutzt, um unseren Bunker etwas wohnlicher herzurichten. In einer Kartuschhülse wurde ein wenig warmes Wasser aufgesetzt, um Strümpfe und Halsbinden zu waschen. Im übrigen wurde gehörig Holz klein gemacht als Vorrat für die langen Abende. 20 Wolfgang Buff, Vor Leningrad 28. Oktober 1941 Gestern Nachmittag gab es noch einige Schüsse für unsere Rohre, aber sonst war es der stillste Tag, den wir in der Stellung bis jetzt hatten. Am Abend saß ich am Feuer und schrieb ein Kärtchen an Lotte. Die Nacht verlief ungestört und auch heute Morgen ist es in unserem Abschnitt ruhig. An den anderen Abschnitten dagegen rumpelt es gewaltig. Die Russen versuchen anscheinend immer wieder, über den Fluss zu kommen. Nun habe ich noch einige kleine Wünsche. Was uns an den langen Abenden fehlt, ist Licht. Könnt Ihr mir nicht laufend einige Kerzen schicken, auch Batterien? Dann bitte von Zeit zu Zeit etwas Briefpapier und Umschläge, ferner Rasierklingen. Man kann ja hier absolut nichts kaufen in dieser Einöde. Bitte schickt mir auch ein gutes dauerhaftes Messer zum Brot schneiden und schmieren. Ferner noch eine Einschmierbürste und Schuhcreme, wenn möglich, auch etwas Schuhfett. Das Schuhwerk hat bei der Dauernässe viel Pflege notwendig, wenn man vor nassen Füßen bewahrt werden soll. Heute Nachmittag war es wieder ziemlich still bei uns. Nur wenige Schüsse gingen heraus. Draußen wird es ungemütlich. Der nasse Schnee liegt schon fußhoch, und der Wind pfeift kalt aus dem Westen. Nun weiß man ein Erdloch zu schätzen, wie ich Pit philosophierend sagen hörte, als er in kalter Nacht auf Posten am Bunker vorbeikam: „So ein kleiner Bunker und so viel Glück!“ Die Post, die bewundernswerter Weise fast täglich kommt, bedachte mich heute besonders reichlich. Briefe von Lotte und Thekla, Marzipan von Tante Maria, Kräuterkäse von Mechthild und eine Karte von Dr. Schönzeler und Joachim. Für alles herzlichen Dank. Es ist immer eine Feierstunde, wenn man eure Briefe und Grüße lesen kann, zumal wo man für die guten Nachrichten stets so freudig danken kann. Inzwischen bekam ich auch schon zwei Briefe aus Belgien. Den einen auf französisch von meinen Quartiersleuten (Dupuis) in Petit Roeulx und den anderen auf flämisch von Herrn van den Heuvel in Antwerpen. Ich habe ihm gleich ausführlich zurückgeschrieben. Es geht mir weiter gut. Verluste haben wir in den letzten Tagen nicht mehr gehabt. Nur das Wetter und die mangelnde Unterkunft setzen Mensch und Tier hart zu. Ich fühle mich jedoch gesund - nicht einmal erkältet, nur die Füße haben ein wenig Frost mitbekommen. Unsere Verpflegung ist jetzt gut und ausreichend. Im Anfang war sie - wohl nur aus Gründen des Nachschubs - zeitweise knapp, aber jetzt ist wieder alles in Ordnung. 21 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Heute Abend schießt der Russki wieder ein wenig nach uns. Aber seine Schüsse liegen weit hinter uns im Gelände. 29. Oktober 1941 Die vergangene Nacht verlief wieder ungestört, und auch tagsüber gab es für unsere Rohre nur wenig zu tun. Der Hauptmann kam von vorne zurück und berichtet von einer unheimlichen Kirchhofsruhe in den russischen Gräben. Doch man zweifelt daran, dass sie wirklich echt ist. Wir sind auf der Hut, um einem neuen Angriff zu begegnen. Heute ist es draußen wirklich winterlich geworden. Feiner Pulverschnee liegt fußhoch, und der Wald liegt in seiner schönsten Winterpracht um uns. Da ist es immer eine schöne Abwechslung, wenn ich morgens und gegen Abend mit der Axt in das umliegende Gehölz gehe, um das notwendige Holz für die Feuerung zu holen. Wir schlagen uns mit Vorliebe die kleinkrüppeligen Birken, mit denen der Busch- und Tannenwald durchsetzt ist. Birkenholz brennt prachtvoll im Ofen, sogar wenn es frisch geschlagen und feucht ist. Wenn des Abends ein zartes Abendrot die Wölkchen am Westhimmel purpurn färbt, und die ersten Sterne zu funkeln beginnen, dann ergreift mich oft die Weise des Vespergesanges: „ Horch, die Wellen tragen bebend sanft und rein den Vesperchor.“ Heute erfährt man, dass Stalin sich endlich aus Moskau zurückgezogen und nach Stalingrad an der Wolga begeben hat. Dort gedenkt er, seinen Widerstand mit englischer und amerikanischer Hilfe fortzusetzen. Besorgt mir bitte auf meine Rechnung eine Schneebrille in unzerbrechlichem Etui. 30. Oktober 1941 Die Nacht war ruhig, aber kalt. Auch heute Morgen kalter Nordostwind und fußhoher Schnee. Es scheint, dass der russische Winter in diesen Breiten nun eingesetzt hat. Die schöne Jahreszeit des Herbstes haben wir nun überschlagen. Als wir am 24. September in Petit Roeulx abrückten, war noch alles in sommerlicher Farbe und Wärme. Unterwegs grüßten uns in Ostdeutschland die ersten Herbsttönungen und weiter die kahlen Bäume. Bei unserer Ankunft in den russischen Weiten war schon alles grünende Leben gewichen, und Wald und Wiese zur winterlichen Leblosigkeit erstarrt. Auch bei euch werden jetzt mit dem Allerheiligenfest 22 Wolfgang Buff, Vor Leningrad die letzten Blätter fallen, und nach trüben regnerischen Novembertagen wird der Winter einziehen. Möge er mitleidig und milde sein. Da der Tag heute ruhig verlief und nur wenig geschossen wurde, habe ich mir die notwendige Bewegung durch Holz-klein-machen verschafft. Bei diesem Winterwetter und unter unseren Verhältnissen die angenehmste Beschäftigung, die man sich denken kann. Diese Nacht werde ich im warmen Offiziersbunker verbringen, denn der Chef ist nicht da, und Wm. (Wachtmeister, Anm. d. Red.) Opladen hat mich gerade aufgefordert, dorthin zu kommen. Noch ein dritter Schlafgeselle ist dort, nämlich Papa Richters zotteliges Hündchen, aber wir drei werden uns sicher vertragen. 31. Oktober 1941 Nach ungestörter Nacht hatten wir einen richtigen Wintermorgen mit hohem Schnee und mildem Frost. Mit Schneewasser ein wenig gewaschen und rasiert; ich liebe es nicht, mit ellenlangem Bart herumzulaufen, wie es hier allgemein Mode ist. An den Fronten ist es heute Vormittag still, auch in der Luft. Wir haben noch keinen Schuss abgegeben. Es schneit immerzu, und ich glaube, in diesem Jahr geht der Schnee nicht mehr fort. Wenn nicht geschossen wird, hocken wir viel am Feuer in unseren Erdlöchern. Dann sitzen wir (Pitt Linden, Marstaller und ich) zusammen und erzählen im Gedenken der vergangenen Zeiten und machen Pläne für die Zukunft. 1. November 1941 - (Allerheiligen) Heute Morgen um 6 Uhr gab es einige Arbeit für unsere Rohre, da der Russe sich wieder regte. Es war ein recht bewegter Allerheiligentag. Ich saß viel beim Hauptmann im Bunker am Telefon, da er heute allein war. Am Nachmittag wurde es wieder etwas ruhiger und am Abend ist es ganz ruhig. Wir drei saßen wieder am Feuer zusammen und unterhielten uns über den Festtag. 2. November 1941 (Sonntag) Die Nacht war wieder ungestört, und obschon man sich heute ein wenig sonntäglich einrichten wollte, war allerhand zu tun: Munitionieren, Bunker ausbessern - die Kamine fallen immer mal wieder ein, Holz beschaffen usw. Dazwischen dann von Zeit zu Zeit Feuerkommandos und Feuerüberfälle, die wir auslösen mussten. Der Chef war heute allein, und ich musste meistens um ihn sein, bei ihm im Bunker und ihn am 23 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Apparat vertreten, wenn er sich draußen mal vertreten wollte. Auch ihm fällt es schwer. Mit seinen 53 Jahren kein Wunder. Vom schlechten Licht schmerzen ihm die Augen, vom Frost die Füße. Im allgemeinen Umgang lässt er sich ja nichts anmerken, aber wenn er allein ist, höre ich ihn oft stöhnen: „Mir ist es mau. Ich halte es kaum noch aus!“ Der dauernde Aufenthalt in den engen verqualmten Bunkern, wo man gerade aufrecht sitzen kann, bedrückt und wirkt nachteilig. Er ging dann einmal heraus, um sich etwas Bewegung zu verschaffen und half sogar Granaten schleppen. Aber das ging über seine Kräfte, und er fiel gleich mit seiner Granate der Länge nach hin. Zum Glück passierte ihm aber nichts. Eine schlimme Kalamität ist heute die Lichtfrage. Ich warte sehnsüchtig auf die Kerzen und Batterien, die ihr mir schicken wollt soviel ihr könnt und egal, wieviel sie kosten. Tagsüber hat man hier Arbeit genug zu tun, und gegen 16 Uhr wird es schon dunkel. Kerzen und Batterien sind knapp und sie reichen kaum für die dringendsten Dienstangelegenheiten. So sitzen wir denn im Dunkeln, das heißt im Zwielicht oder vielmehr schemenhaft erleuchtet von der Flamme unserer Feuerung. Mit dem nötigen Fingerspitzengefühl kann man gerade dabei noch sein Essen und die sonstigen notwendigsten Hantierungen verrichten, sonst aber nichts, und man kann die langen Abendstunden weder zum Lesen noch Schreiben benutzen. Selbst am Tage ist es in unseren Löchern, deren Eingänge wir zum Schutz vor Kälte anstelle von Türen mit Säcken und Zeltplanen abdichten müssen, dunkler Dämmerschein. Es ist finster in unseren Behausungen wie im Bauch des Walfisches beim Propheten Jonas. Das Wetter war heute mild, nur wenige Grad unter Null und ein gleichmäßig bewölkter, schneebeladen scheinender Himmel, wie man es bei uns selten sieht. Zwei Dinge sind es sonst nur, deren Eindruck immer wieder vor uns hintritt: der weiße Winterwald und die weite schneebedeckte russische Ebene. Darin nur einige kleine Schneedächer und ganz zaghaft das Türmchen der Kirche von S. (Sinjawino), sonst ist ringsherum in dieser winterstillen Landschaft nichts Lebendiges zu sehen und zu vernehmen, und doch erbebt sie unaufhörlich vom Donnern und Blitzen der Geschütze und Lärmen der Fronten, über denen des Nachts Leuchtkugeln emporsteigen und rote Brände sich geisterhaft abheben. 3. November 1941 Ein Tag mit viel Aufregung, Arbeit und Schießerei schon seit 5 Uhr. Draußen nimmt die Kälte zu, der Schnee knirscht unter den Füßen und in den Bunkern muss man ordentlich feuern, um es warm zu bekommen. Heute kamen 28 Postenmäntel in der Stellung an, von denen ich 24 Wolfgang Buff, Vor Leningrad einen erhielt, obwohl ich mit Posten stehen ja nichts mehr zu tun habe, aber im kalten Bunker beim Rechnen und des Nachts wird er mir gute Dienste tun. 4. November 1941 Gestern kam Mutters Karte vom 22.10. aus Krefeld, die erste Anschrift mit Uffz. Buff adressiert und zugleich der erste Glückwunsch, nachdem ich nun schon vier Wochen das „Lametta“ trage. Allerdings ist es bei mir nur feldmäßig und nicht silbernglänzend, sondern nur matt, und auch am Kragen ist mir eine einfache matte Litze aus den beiden Ecken aufgenäht. So ist es aus begreiflichen Gründen zweckmäßiger, und im Übrigen war ich damals froh, überhaupt die notwendigen Litzen usw. zur Vorstellung auftreiben zu können. Ich musste manchen Weg dafür machen, bis ich in dem nächtlichen Wyritza den Schneider mit diesen Dingen fand. Im übrigen sind das alles ja nur Äußerlichkeiten. Ich hoffe, dass ich meine Pflichten als Unteroffizier hier im Feld voll erfülle und Vorgesetzten und Untergebenen ein gutes Beispiel gebe. Im Verhältnis zu meinen Untergebenen soll Gerechtigkeit und Liebe mein Leitspruch sein. Hier im Felde werde ich als Rechentruppführer mein Amt so gut ich kann ausfüllen. In der Kaserne würde es mir schwerer fallen, aber hoffentlich kommt das nicht mehr in Frage. Eben komme ich vom Gang durch die winterliche Stellung in meinen Rechenbunker zurück. Mein Feuerchen brennt heute Abend schlecht, aber den Eingang zu meiner Klause unter der Erde habe ich mit Zeltplanen und einem leeren Hafersack gut abgedichtet, und das Letzte tun dann die Decken und der Woilach, so dass ich trotz scharfer Winterkälte des Nachts nicht zu frieren brauche. Gleich werde ich meine Lagerstatt aus Heu auf der Erde ein wenig zurechtmachen und mich eindrehen. Mit den Füßen stoße ich dann an meinen kleinen Holzvorrat an der Wand, und an der gegenüberliegenden ruht mein Kopf auf dem Reiterfuttersack, der ein ausgezeichnetes Kopfkissen darstellt. Recht aufmunternd sind die Berichte über die großartigen Fortschritte unserer Truppen im Südosten auf der Krim und am Asowschen Meer. Auch hier oben im Norden hören wir von einschneidenden Erfolgen, und die Hoffnung belebt sich aufs Neue, dass wir hier nicht den Winter verbringen werden. Ich schreibe jetzt nur noch jeden zweiten Tag, da meine Briefumschläge zu Ende gehen und ich nicht weiß, wann neue eintreffen. Schreibt auch ihr bitte oft, ich freue mich so über jedes Lebenszeichen aus der Heimat. 25 Wolfgang Buff, Vor Leningrad 6. November 1941 Der heutige Tag begann früh. Lange ehe der Morgen graute, donnerten unsere Geschütze. Es galt, einen feindlichen Angriff im Keime zu ersticken, was auch gelang. Heute Nacht wird es wohl auch nicht ohne Störungen abgehen. 7. November 1941 Die Nacht brachte ein wenig Schießerei, aber ich brauchte nicht heraus. Die Telefonanlage, die ich neuerdings im Bunker habe, tat mir bei der Übermittlung der Feuerkommandos gute Dienste. Laut höherem Befehl sollen Truppenärzte auch der hiesigen Bevölkerung behilflich sein. An unserem Truppenverbandsplatz hat unser Stabsarzt, der glücklicherweise mit uns nicht allzuviel zu tun hat, ein Schild anbringen lassen, das auf russisch seine Sprechstunden anzeigt. Als Bezahlung ist Kleinholz mitzubringen, was die Patienten reichlich besitzen. Wie man hört, wird von dem Angebot reger Gebrauch gemacht. Leider gab es heute wieder keine Post. Wie es heißt, sei die Bahnlinie bombardiert, aber es sollen nun LKWs eingesetzt werden zur Postbeförderung. Hoffentlich ist das möglich. 8. November 1941 Heute haben wir nur wenig „gearbeitet“, das heißt geschossen. Nur 16 Schüsse gingen heraus. Bisher ein Minimalrekord. An den Fronten war es auch ziemlich ruhig, sogar in der Luft. Nun, jetzt am Abend, legt die Russen-Artillerie uns noch einige Brocken als Abendgrüße hin. Aber sie sind weit im Gelände niedergegangen. Das Wetter draußen ist milde und angenehm. Es schneit ein wenig. Temperatur minus 3 °, während es die letzten Tage um minus 10 ° bis minus 15 ° kalt war. Aber jetzt haben wir auch Windrichtung aus dem Süden. „Ach lieber Südwind blas noch mehr.“. Die freie Zeit haben wir heute zum Ausbau unseres Rechenbunkers benutzt. Den Eingang zum Fuchsbau haben wir etwas erweitert und vertieft und zum Schutz gegen die Kälte eine Art Vorhalle geschaffen, die sich durch eine Zeltbahn abdichten lässt. 26 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Heute gab es eine ganz romantische Abendmahlzeit, Pferdefleisch am Feuer gebraten und Brot dazu geröstet. Es schmeckte uns vortrefflich. Anschließend saßen wir wieder zusammen und lebten in Erinnerungen und Hoffnungen. 9. November 1941 Heute kam die so lang ersehnte Post endlich wieder an und erfreute mich mit einem Briefchen von Bruno vom 27.10. Die letzte Nachricht vorher war Mutters Karte vom 22.10. Was dazwischen liegt, fehlt und kommt wohl noch später an, wenn es nicht verlorengegangen ist. Die Russen sollen mehrfach die Bahnlinie bombardiert haben. Für Brunos Zeilen und Geburtstagswünsche und für die beiden entzückenden Karten herzlichen Dank. Das Päckchen Tabak an deinen Meister in Rheinhausen war meine letzte Sendung aus Belgien von Petit Roeulx, dem kleinen „paradis perdu“. Erfreulich, dass die Gartenarbeit so reiche Früchte trägt. Je mehr desto besser. Sämtliche Unkosten, die dadurch entstehen, will ich gerne übernehmen. Ich werde jetzt ohnehin ein kleiner Krösus. Heute kam eine Abrechnung der Heeresstandortverwaltung, wonach für die Monate Juli bis September und für November je 75,50 RM (Reichsmark, Anm. d. Red.), also insgesamt 301,50 RM überwiesen worden sind. Es fehlt noch die Überweisung für Oktober, die ich Morgen reklamieren werde. Außerdem wird sich dies Gehalt bei einer Beförderung zum Uffz. noch etwas erhöhen. Bei der Deutschen Bank werde ich einen Kontoauszug erbitten. Heute war es an unserer Front ganz still. Zum ersten Mal in unserem nun fast vierwöchigem Hiersein haben unsere Geschütze den ganzen Tag geschwiegen. Hptm. Richter kam von vorne zurück und berichtete günstig über seine Eindrücke. Der Russe scheint mürbe geworden zu sein. Heute in der Frühe erreichte uns auch die glückliche Nachricht, dass der wichtige Eisenbahnknotenpunkt Tichvin, der im Rücken unserer Gegner liegt, von Panzertruppen genommen worden ist. Frohe Zuversicht beseelt uns wieder: Es geht vorwärts! Nichts desto weniger wird weiter am Ausbau der Stellung gearbeitet, und die Ruhezeit wird gleich wieder ausgenutzt, um die Zügel der Disziplin und der Ordnung, die etwas nachgelassen hatte, von Neuem anzuziehen. So merkte man nicht viel vom Sonntag. Doch war ich mit euch im Geist vereint und tröstete mich mit der Fürbitte des heutigen Evangeliums, das in unseren Bunkern mit Andacht gelesen wird. Abends besuchte mich mein alter Kamerad Thevissen, mit dem ich schon in Glogau gedient hatte. Wir 27 Wolfgang Buff, Vor Leningrad schwelgten zusammen in Erinnerungen an die Heimat, an die vergangenen schönen Zeiten in Le Havre und Petit Roeulx und in Hoffnungen für eine bessere Zukunft. 10. November 1941 Der Südwind hatte so stark geblasen, dass gestern mildes Tauwetter eintrat und der Schnee ein wenig zu schmelzen begann, aber heute ist er schon wieder einem scharfen Ostwind gewichen, der klirrenden Frost bei sternklarem Himmel mitbringt. In unserer Stellung war es wieder still, und ehe neue Dinge sich anbahnen, konnte man etwas für die allmählich notwendig werdende Körperpflege tun. Gefreiter Hubert Schmitz tat sich als Hoffriseur auf. Auf einer leeren Kartuschenkiste die sich überhaupt für alles eignet - saß ich in der Schneelandschaft und ließ mir, wie daheim beim Friseur, die Wolle stutzen. Dann wurde die seit acht Tagen fällige Bartabnahme mal wieder vorgenommen, wonach ich mich bedeutend wohler fühle, wenn auch die meisten der Kameraden hier mit ganz erschrecklichen Rübezahlbärten herumlaufen, weil es wärmer sein soll. Ich kann mich dafür nicht begeistern. Gegen Abend marschierten wir in kleinen Gruppen zum nächsten Dorf. Dort sollte ein Sauna-Bad genommen werden. Aber aus Mangel an Kenntnissen über diese Badeart und auch aus Mangel an Feuer und Wasser wurde unser Bad kein reines Vergnügen. Halb erstickt vor Qualm und Rauch, kamen wir aus der baufälligen Bretterbude wieder heraus und schnappten tränenden Auges - das Birkenholz hat einen beißenden Geruch - nach frischer Luft. Das Waschen war mit einigen Tropfen geschehen, aber man hatte wenigstens mal wieder reine Wäsche am Leibe. Im übrigen werde ich es weiter vorziehen, mich morgens, wenn möglich, mit einer Kartuschhülse voll Schnee abzureiben. Heute erhielt ich wieder eure Briefe. Wie lieb und tröstend ihr schreibt, das ist mir eine rechte Stärkung. Es sind nun schon Geburtstagsbriefe, die hier eintreffen. Wie freue ich mich auf das Päckchen und die warmen Sachen, die sicher schon unterwegs sind. Von Lotte kam der gewünschte russische Sprachführer. Ich habe inzwischen schon allerhand Russisch gelernt und kann mich damit sicher weiterbilden. Ach, nein, mit wem soll ich denn reden? Mit den Bäumen des Waldes, der uns umschließt und den ich heute für zwei Stunden zum ersten Mal nach vier Wochen verlassen habe? Aber doch, da stand ein blonder blauäugiger Junge mit breiten Backenknochen an der Saunabude. Da zog ich mein Heftchen heraus und fragte ihn: „Kak wi pogima jetje?“ (Wie geht es Ihnen?) Worauf die erwartete Antwort kam: „Spassibo 28 Wolfgang Buff, Vor Leningrad choroscho!“- Danke, gut! Als wir über die weite Schneefläche gingen, neigte sich der Tag zu Ende. Wie so oft lag wieder ein zartes, duftendes Rosa am westlichen Abendhimmel. So versöhnend und milde strahlte es über der strengen, wunderbaren Landschaft auf, ehe das Dunkel der Nacht sich herabsenkte. Da kam mir das schöne Verslein von Peter Rosegger in den Sinn: „Aus der Heimat kommt der Schein, muss lieblich in der Heimat sein!“ Und ich wanderte meinen Weg wieder fröhlich. 11. November 1941 Heute ein Tag, der viel Unruhe, Aufregung und Kälte -16 ° brachte. Dazu ein noch nicht gekanntes Artilleriefeuer der Russen. Es ist eine spürbare Bewahrung und Gnade, dass bei uns nichts passiert ist. 12. November 1941 Ein Tag voller Unruhe, Aufregung, Arbeit und Winterkälte. Aber es geht vorwärts, wie wir spüren und hoffen. Nach allen Himmelsgegenden dröhnen unsere Schüsse. Was in den letzten Tagen war, ist die Ruhe vor dem Sturm gewesen. Gebe Gott, dass es gelinge. 13. November 1941 Heute kam viel rückständige Post an. Briefe von Mutter vom 13.10. und ein wunderschönes selbst gestricktes Paar Strümpfe. Solche Sachen kann man jetzt hier gut gebrauchen. Allerherzlichsten Dank. Die Briefe, die ich heute wieder von vielen Seiten erhielt, sind mir mit dem Essen eine rechte Freude und Aufmunterung. Zeit ist für Lesen und Schreiben öfters, aber es fehlt an Licht. 14. November 1941 Das Äpfelchen, das die liebe Mutter mir schickte, war steinhart gefroren, aber ein wenig aufgetaut schmeckte es köstlich. Schade, dass die Ernte nur so klein war. Sie reicht ja nun kaum noch für den Tannenbaum und die Weihnachtsteller. Aber dafür ist eure Gemüseernte, wie Joachim schreibt, ja nun besser ausgefallen. Des Abends bestreiten wir unsere Mahlzeit jetzt des öfteren mit Pferdefleisch. So manches arme Tier muss erschossen werden, und da schafft die Protze (rückwärtige Versorgungseinheit, Anm. d. Red.) uns denn auch mal etwas davon hinauf. Mit einigen Körnern Salz, etwas Butter 29 Wolfgang Buff, Vor Leningrad und aufgetautem Schneewasser am Feuerloch gebraten, ist es eine sehr willkommene Zugabe. Es schmeckt ähnlich wie Rindfleisch, und da man es ohne Marken bei euch haben kann, würde ich sehr empfehlen, es zu probieren. Eben gab mir der Chef für die Rechenstelle voll Stolz eine wunderschöne Karbid-Lampe. Sie brennt herrlich, eine Wohltat für die gequälten Augen, aber woher Karbid bekommen? Jetzt ist sie noch gefüllt und wird einige Stunden brennen, aber dann ist es wieder zu Ende. Ich weiß keinen anderen Rat, als Euch zu bitten. Schickt mir laufend Karbid in Kilo-Paketen. Möglichst jede Woche zwei, mindestens aber ein Paket. Das wäre eine dankenswerte Aufgabe für einen meiner Brüder, denn eine schlecht beleuchtete Rechenstelle ist nicht nur eine Qual für überanstrengte Augen, sondern auch eine böse Fehlerquelle bei verantwortungsreicher Arbeit. 15. November 1941 Ein Tag mit viel Feuertätigkeit und Kanonendonner, aber ein Abend im Frieden, an dem Peter Lindens Erzählungen aus seiner Klosterzeit in Geilenkirchen den Krieg und Russland ganz vergessen ließ. Auch Marstaller ist in einer solchen Klosterschule erzogen worden. Beide sind aber zum Schluss vom geistlichen Beruf doch abgegangen. Heute ist mein Geburtstag. Für wie vieles habe ich zu danken und zu loben. Ihr werdet ja in meinem Namen gesungen haben „Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren“, und ich habe es hin und wieder spüren dürfen, dass bei aller meiner Schwachheit seine gnädige und bewahrende Hand mich leitet. Ihr will ich auch weiterhin vertrauen, und wenn auch die irdischen Hoffnungen verblassen und sich als eitel und trügerisch erweisen, so wird die ewige Hoffnung mein Licht, meine Kraft und mein Trost sein. Eure lieben Geburtstagsbriefe und Glückwünsche, die rechtzeitig ankamen, waren mir eine rechte Freude. Ich danke euch allen herzlich! Das Päckchen, wovon Mutter schrieb, wird wohl noch folgen. Seid herzlich gegrüßt ihr Lieben alle, die ihr in dieser Abendstunde an mich denkt. Es umarmt und küsst Euch in Gedanken herzlich euer 27-jähriges Geburtstagskind Wolfgang. 30 Wolfgang Buff, Vor Leningrad 16. November 1941 Heute war nicht allzuviel los bei uns. Einige Schießerei, aber sonst spürte man auch hier ein wenig Sonntagsstimmung. Die Sonne strahlte so leuchtend und feierlich über dem prachtvollen Winterwald, und die weiße Schnee-Ebene ließ jedem von uns das Herz aufgehen. Auch traf die langersehnte Feldpost mit einem großen Sack voller Briefe und Päckchen in unserer Weltabgeschiedenheit wieder ein. 17. November 1941 Für Mutters Brief und Joachims Gruß vom 2. November herzlichen Dank. Wie freut es mich, dass ich euch im schönen Niersheim sicher geborgen weiß und dass es euch bis auf einige Unannehmlichkeiten gut geht und alles seinen geregelten Gang läuft. Wie dankbar will ich für alles sein, wenn ich mal wieder aus diesem Urzustand und aus dem schrecklichen Krieg herauskomme. Und doch wie wenig haben wir auch hier zu klagen oder vielmehr zu ertragen, im Verhältnis zu dem, was andere durchmachen bzw. schon lange Zeit hindurch mitgemacht haben. Seit fünf Wochen sind wir in der gleichen Stellung, haben uns mit primitiven Mitteln etwas einrichten können und uns an das Leben in unseren Erdlöchern schon ziemlich gewöhnt. Die Nächte sind in der letzten Zeit ruhiger geworden, und man kann sie meist im tiefen Schlaf ungestört verbringen. Der Beschuss durch feindliche Artillerie und durch Flieger hat sehr nachgelassen, und wir haben seit Wochen keine Verluste mehr gehabt. Viel Grund zur Dankbarkeit für gnädige Bewahrung. Wir liegen zwar vor der belagerten Stadt Leningrad, jedoch nicht so, wie ihr euch das vorstellt. Unsere Geschütze schießen nicht dort hinein, und wir hören nur ganz aus der Ferne den Donner der schwersten Artillerie, die dort Ziele unter Feuer nimmt. Unsere Verpflegung kommt pünktlich und ist ausreichend, vor allem was Butter und Aufschnitt anbetrifft. Man entwickelt allerdings bei der Kälte hier auch einen kolossalen Appetit. 19. November 1941 Heute wieder ein ruhiger Tag. Nur vier Schuss gingen heraus, sonst geschah nichts. Man hackt eifrig Holz, man hat mal Zeit, seine Sachen wieder in Ordnung zu bringen, den Bunker etwas zu verbessern und im Nu ist der Tag auch schon um. Kurz nach 3 Uhr wird es dunkel, dann ist man froh, wenn man in sein warmes Loch kriechen kann. 31 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Für Joachims schönen Geburtstagsbrief nachträglich noch besonderen Dank. Wenn du Zeit hast, schreib mir nur oft. Grüße Herrn Dr. Schönzeler von mir. Sage ihm, der Westfeldzug wäre im Vergleich zu hier eine bessere Wandertour gewesen. Aber er wird es schon wissen, und im Übrigen wünsche ihm gute Besserung von mir. Bei Gelegenheit werde ich ihm mal schreiben. 20. November 1941 Wie wohl tut mir die Ruhe der letzten Tage, wenn es vielleicht auch nur die Ruhe vor dem Sturm ist, aber man lebt wieder ordentlich auf und kommt zu sich selber. Meine Gedanken schweifen unablässig zur fernen Heimat, zu euch allen, und ich spüre, wie innig ich mit euch verbunden bin. Bei meinem Dauerlauf über die Schneefelder heute Morgen sah ich einen Russen mit der Axt eifrig im Schnee hacken. Was hackte er? Aus den gefrorenen Überresten eines längst verendeten Pferdes schlug er sich noch einige Brocken heraus und fragte mich kläglich durch Zeichen, ob wir nicht auch noch solch ein gefallenes Tier hätten? Ich konnte mich leider nicht weiter mit ihm verständigen. Nur das Kreuzeszeichen, das ich in den Schnee malte, konnte er begreifen und das Wort „Christos“ wiederholte er mit Andacht, während seine Hände in die Rocktasche nach dem Rosenkranz fuhren. Ich bin bisher ja nur in wenigen russischen Häusern gewesen, aber wo ich war, sah ich noch immer in einer Zimmerecke ein Heiligenbild, die Ikonen, meistens mit einem brennenden Öllicht davor. So auch heute in S., wo ich bei einer Russenfamilie meine schmutzige Wäsche abgab. Für ein Stück Seife, ein Paketchen Tabak und ein Stück Brot für die große Kinderschar bekomme ich alles bis übermorgen gewaschen. Das wäre eine fabelhafte Errungenschaft und Wohltat. 21. November 1941 Für Theklas liebe Briefe wollte ich nochmals herzlich danken. Zu Weihnachten wünsche ich mir nur einige warme Sachen und vielleicht diese praktischen Ohrenklappen. Und im Übrigen wünsche ich mir Licht, wie ihr ja wisst. Es bedrückt mich, dass es an Kohlen bei euch mangelt. Könnte ich euch nur mal Holz schicken! Ich würde in jeder freien Stunde für euch Birken hacken. So aber kann ich euch nichts anders zu Weihnachten schicken als diesen kleinen Gruß aus dem russischen Winterwald. Das Tannengrün ist das gleiche wie bei uns, nur die Tannenzapfen werden euch fremd sein. Legt sie dahin auf den Weih- 32 Wolfgang Buff, Vor Leningrad nachtstisch, wo sonst mein Platz neben Lotte und Albrecht war und denket mein. Bis auf einige Feuertätigkeit war auch der heutige Tag ruhig und ohne Ereignis. Ich las die Rede des Führers vom 9. November, in der uns die Stelle über Leningrad besonders berührte. Ja, diese Stadt wird und muss fallen, und befreit aus der Nacht der Gottlosigkeit wird St. Petersburg wieder zu einem Ort des Segens und der Gnadenwirkungen für das ganze Land werden. Denn die Stadt war ein Metropoliten-Sitz und ist als solcher mit großer Bedeutung für den Osten bezeichnet worden. 22. November 1941 Eine ordentliche Zusatzportion in Gehalt von Pferdefleisch wurde ausgeteilt. Zwei herrenlose Panjepferde strichen schon Wochen durch unser Gelände, aber trotz aller Lockungen war es nicht möglich, sie einzufangen. So haben wir sie uns denn mit der Kugel geholt, wir das eine und die Nachbar-Batterie das andere, und heute Abend ist in allen Bunkern großes Kochen und Braten von Pferdefleisch. Auch das lernt man in Russland. Im übrigen war heute wieder ein ruhiger Tag mit nur geringer Feuertätigkeit. Gang mit L. nach S. (Sinjawino). Der Wind kommt aus Südwesten aus der Heimat. Dann lässt die Kälte immer nach, der Himmel bedeckt sich, und es fällt Schnee. So auch heute Abend. Nur 2° Kälte. Rostow genommen. Damit ist die zehntgrößte Stadt Russlands, wichtige Hafenstadt am Asowschen Meer an der Mündung des Donez, in unserer Hand. Ob man es noch bis Astrachan bringt? 23. November 1941 Bei uns verlief der Sonntag, abgesehen von der üblichen Feuertätigkeit, recht ruhig, und man darf sagen friedlich. Ich konnte mich in meinem Bunker still in die Lektionen und Psalmen des heutigen Tages vertiefen und erfuhr etwas von Gottes trostreicher Nähe und Gegenwart. Am Nachmittag ging ich dann noch durch die Schneelandschaft zum nächsten Dorf und holte meine Wäsche, die mir eine Russenfrau gegen ein Stück Brot, ein Paket Tabak und eine Hand voll Bonbons für ihre Kleinen sehr ordentlich gewaschen hatte, wieder ab. Reine Wäsche, das ist hierzulande eine große Errungenschaft. Dem heutigen Brief füge ich nun nochmals 20 Reichsmark bei. Sie sind für das Weihnachtsfest bestimmt, bzw. für das, was die Familie dafür nötig hat. Mutter wird mit ihrer einst allerkleinsten und jetzt schon großen Tochter ja wie gewohnt 33 Wolfgang Buff, Vor Leningrad einiges backen und braten wollen. Kerzen und Lichter werdet ihr nötig haben und auch einen Tannenbaum. Wie schön wird es dann wieder in Niersheim sein. Ich werde in Gedanken dann mit euch sein und feiern und mich der seligen Botschaft von der Geburt des Erlösers und Friedefürsten mit euch freuen. 25. November 1941 Lebhafter Morgen, aber tagsüber still. Reine Wäsche, die Ihr schicktet, angezogen, währenddessen gerade rumänische Offiziere unseren Rechenbunker besichtigen wollten. Morgen soll es zum Vorgeschobenen Beobachter gehen. 30. November 1941 (1. Advents-Sonntag) In den letzten Tagen habe ich keine Aufzeichnungen machen können, weil ich dort war, wo man weder ein Tagebuch besitzen noch führen soll. In der vordersten Linie bei der Infanterie als Mitbeobachter in den Verteidigungsgräben, knapp hundert Meter vor dem Feind. Durch Gottes Gnade behütet, komme ich heute Abend zur Feuerstellung zurück. Viele liebe Grüße und Päckchen warteten hier, und beim Schein der ersten gesandten Adventskerze hatte ich mit S. und mit den Rechnern noch einen schönen Adventsabend. Wohltuend der helle Schein der Adventskerze für Augen und Seele in der Wildnis. Mir geht es gut, Mutters Rat wegen der Frostfüße werde ich befolgen. Die letzten Tage hat die Kälte auch hier abgenommen. Nur einige Grad unter Null. Im übrigen habe ich den Eindruck, dass wir hier dennoch, wenn auch mit großen Schwierigkeiten, weiter kommen. Die fünf Tage, die ich als VB in den vordersten Linien verbrachte, waren mir ein ganz besonderes Erlebnis. Ich fühle mich jetzt nicht in der Lage, viel darüber zu schreiben als nur, dass ich in diesen Tagen das Gefühl hatte, noch einige Stufen weiter in die Tiefe abgestiegen zu sein. Nicht nur das Höhlendunkel, woran ich Tag und Nacht gefesselt war, war undurchdringlicher und tiefer, sondern auch Gottes belebende Nähe und Gegenwart schienen mir ferne, und es war, als wenn mein Rufen und Seufzen nicht aufsteigen wollte. Herr, erbarme dich unser! „Es steigt hinauf unser Gebet, es steigt hinab Gottes Erbarmen.“ Heute habe ich in S. (Sinjawino) meine Wäsche noch mal abgeholt. Sie war wieder schön gewaschen und sogar gebügelt. Aber die Wäscherin ist tot. Im Bunker, wohin sie sich geflüchtet hatte, schlug eine Granate 34 Wolfgang Buff, Vor Leningrad ein. Ihr kleines Kind konnte noch geborgen werden, obwohl verletzt. 2. Dezember 1941 Stiller Tag ohne besondere Ereignisse. Gang nach S. (Sinjawino), dort habe ich von der Lagekarte des Majors eine Abzeichnung des Frontverlaufes in unserem Abschnitt angefertigt. Auch hierbei konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es auch bei uns noch ein Vorwärts geben muss. Hoffentlich kommt es bald. 4. Dezember 1941 Ein eisiger Nordwest-Wind brachte heute Freund und Feind in die Löcher. Es blieb ziemlich ruhig den Tag über. Erst am Abend gab es ein „Salven-Schießen“ zu Ehren der Heiligen Barbara, das dem Russen wohl einen kleinen Schrecken beigebracht hat. Minus 11°. Die armen Infanteristen in ihren Stellungen, wo man sich kaum bewegen und Holz zum Heizen beschaffen kann, sind mehr zu bedauern als wir. 6. Dezember 1941 Es geht mir gut. Aber es ist schrecklich kalt; minus 20°. Kalte Füße. Draußen an der Front scheint es lebhafter zuzugehen. Sonst alles beim Alten. 7. Dezember 1941 (2. Advents-Sonntag) Endlich, nach acht Tagen wieder ein wenig Post. Ich kann nicht viel schreiben. Augen schmerzen. Draußen eisige Kälte. Nun sind wir mitten im russischen Winter. Möge der Herr uns beistehen. Gestern kam Mutters lieber, ausführlicher Brief. Da es mir mit dem Beitrag für die Augenoperation Vaters doch zu lange dauert, habe ich heute schon der Deutschen Bank geschrieben, dass sie monatlich einen Betrag von 40 Reichsmark auf Vaters Konto überträgt. Dieses Geld soll nach meinem Wunsch in erster Linie zur Bestreitung der Haushaltskosten dienen und der Mutter im Wirtschaftsbetrieb unter die Arme greifen. Wenn sonst mal irgend eine Notwendigkeit vorliegt, schreibt nur. Ich habe nicht die Absicht, große Reichtümer auf der Bank anzuhäufen. Heute Abend ist Festbeleuchtung bei mir im Bunker. Denn außer den beiden Benzinfunzeln, die ich mir am 1. Advents-Sonntag aus Handgranaten der Infanterie konstruiert hatte, brennt noch eine Kerze von euch. Denn heute kamen drei große und ein kleines Päckchen an. Wenn 35 Wolfgang Buff, Vor Leningrad ich es euch nur schreiben könnte, welche Freude sie mir gemacht haben. All die guten Sachen und das prächtige Stückchen Speck! Tausend Dank für alles. Aber um etwas hätte ich noch zu bitten: Ich schrieb neulich um Pulswärmer für die Füße. Macht sie doch bitte recht warm und lang, als eine Art Wadenstrümpfe. Meine Reithose ist nämlich zu kurz und so eng, dass man sie nicht zuknöpfen kann. Macht auch bitte so etwas Ähnliches für Handpuls und Unterarm. Sonst bitte ich noch um Streichhölzer, am liebsten hätte ich ein gut funktionierendes Feuerzeug, da man Zündhölzer ja eigentlich nicht schicken darf. Aber was soll man machen, wenn der Nachschub, wie so manches, auch dies fehlen lässt. Aber es geht noch, wir sind noch immer satt geworden. Ich schreibe euch nun meine Lage ganz offen, damit ihr euch keine unnötige Sorge macht. Die Gefahrenlage hat bei uns in der letzten Zeit sehr nachgelassen. Wir haben seit Wochen außer den Pferden, deren wir 60 verloren haben, keine Verluste mehr gehabt. Der Winter bringt auch die Kämpfe zum Erstarren. Aber wir liegen jetzt acht Wochen in unseren Erdwohnungen, und da machen uns Engigkeit, Dunkelheit und Kälte sehr zu schaffen und zehren an Körper und Geist. Ich meine manchmal, als wenn mich mein Kopf im Stich ließe, und ich fühle mich leicht gereizt und nervös in allem; das macht gewiss auch das schlechte Licht, die Luft und der Ruß und Qualm im Bunker. Aber wir wollen froh und dankbar sein, dass wir noch solch sicheren Unterschlupf haben. Und es ist mein Trost, dass auch diese Zeit, wie die drei Tage des Jonas im Walfisch, von Gott bestimmt, nur eine gewisse Dauer hat. 13. Dezember 1941 In den letzten Tagen viel Kälte und Schnee. Heute Morgen ein kleiner Schneesturm, der gleich einige Bunker zuschneite, so dass sich die Insassen wie Maulwürfe herausbuddeln mussten. Glücklicherweise hörte er gegen mittag wieder auf. Klarer Himmel und starker Frost minus 16°. An den Fronten ist es Gott sei Dank ruhig. Es wird wenig geschossen. Gestern und heute kam wieder die ersehnte Post. Die Todesnachricht von Onkel Heinrich hat mich sehr betroffen. Als Trost bleibt mir sein letztes Wort, das er mir auf meine zweifelnde Frage nach dem Wiedersehen in den aus Freiburg abfahrenden Zug 1938 zurief: „Dass wir uns wiedersehen, wissen wir!“ 36 Wolfgang Buff, Vor Leningrad 14. Dezember 1941 (3. Advents-Sonntag) Ein gesegneter Advents-Sonntag in der Ferne und Entlegenheit Russlands und der verschneiten Kampfgebiete. Schon die Natur hatte heute ein festliches Kleid angelegt. Gestern Abend waren es noch minus 26° bei frostklarem Wetter, heute Morgen nur minus 16° und der Himmel düster mit schneebeladenen Wolken bedeckt. Aber der Wald ringsum war ein wunderbarer Weihnachtswald geworden. Jeder Ast, jeder Zweig dick mit Raureif bedeckt, glitzerte geheimnisvoll in der trüben Luft, die heute kein Sonnenstrahl durchbrach. Weil es windstill war, schien die Kälte mild und erträglich, und alles freute sich des schönen Weihnachtswetters. Mit wenigen Schüssen war unser kriegerisches Tagewerk getan, und dann gegen Mittag kam mit der Feldküche der große Freudenbringer in unsere Eiswüste: Die Post mit zwei großen Säcken voll Briefen und Paketen. Da war ich wieder rührend bedacht. Am Abend gab es dann ein großes Postlesen und Päckchenauspacken und anschließend ein advents - und weihnachtliches Beisammensein mit M. und L. Das Rechentrio feierte Advent im Rechenbunker. Eine schöne Adventskerze zündeten wir an, stellten das Transparent auf, das Tante Maria gesandt hatte: „Ehre sei Gott in der Höhe, und Frieden auf Erden, an den Menschen ein Wohlgefallen” und lasen dazu Weihnachtsgeschichten. Auch euer liebes Paket mit Kerzen und Wäsche und eure verschiedenen Briefe verschönten den Abend. Nun bin ich mit Wäsche wirklich gut versehen, auch die Schafswollweste tut wunderbare Dienste. Ich trage sie immer und kann mich mit ihr selbst bei den jetzt üblichen Temperaturen (-20° bis -26°) im Freien ohne Mantel bewegen. Nur mit den Füßen klappt es noch nicht so recht, aber durch eifriges Reiben mit Schnee und Einpinseln mit Onkel Hermanns Frostmittel hoffe ich, auch hierin bald zurecht zu kommen. Man muss im russischen Winter eben erst allerhand Erfahrungen sammeln, um vor Schäden bewahrt zu bleiben, und da heißt es, einiges Lehrgeld zu bezahlen. Aber bis jetzt ist es gut gegangen, und wenn es auch schwer werden mag, so hoffen wir doch, auch die restlichen Wintermonate noch zu überstehen. Aber jeder von uns wird es wissen, dass es eine besondere Gnade bedeuten wird, sie heil überstanden zu haben. 37 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Wir müssen ja froh und dankbar sein, dass die Kampftätigkeit bei dieser Kälte verhältnismäßig gering geworden ist, und dass man wirklich das beruhigende Gefühl haben darf, dem Gegner, der noch viel schlimmer ist als der härteste Winter, in unserer Lage und in unseren Stellungen überlegen zu sein. Obzwar die Front natürlich nie schweigt und ihr Donner bei Tag und die Leuchtzeichen bei Nacht von ihrem unerbittlichem Dasein Kunde geben, rührt sich der Russe doch nicht mehr viel. Auch hier gilt wie überall an der großen russischen Front der Satz des OKW (Oberkommando der Wehrmacht, Anm. d. Red.) vor einigen Tagen: „Unter der Einwirkung des russischen Winters sind von jetzt ab größere Kampfhandlungen im Osten nicht mehr möglich.“ Man richtet sich, so gut und so schlecht es geht, auf den Winter ein und erwartet das Frühjahr. Dazu gehören auch wir. Allerdings ist man sich dessen bewusst, dass auch die schlimmste Winterskälte Überraschungen, sei es angenehmer, sei es unangenehmer Art, nicht unmöglich macht. Wie wohl tut mir das reine leuchtende Kerzenlicht. Wohl ein gutes Dutzend dieser gesegneten Lichtspender sind mit den vielen Paketen der letzten Tage eingetroffen. Sie werden für die nächsten 12 - 14 Tage genügen, um tagsüber und des Abends meinen Bunker, der wegen seines Lichtes schon allgemeines Ziel von Besuchern geworden ist, ein wenig zu erleuchten. So haben wir in dieser Advents- und Weihnachtszeit so richtig die Bedeutung des Lichtes erlebt. All die Öl- und Benzinfunzeln, die wir uns aus Handgranaten, Konservendosen und Gewehrhülsen gefertigt hatten, sind ein erbärmlicher, schädlicher Ersatz. Sie leuchten trüb. Ihr Qualm schlägt beißend auf die Augen und verschmutzt Atemorgane und Lunge. Aber in dem stillen leuchtenden Kerzenlicht lebt man ordentlich wieder auf, und was mir in den letzten Tagen schwerfiel, ja fast unmöglich geworden war, das tue ich jetzt wieder mit Lust und Liebe: Meine Gedanken, die so oft zu euch schweifen, zu Papier zu bringen und euch zu schreiben. Das ist immer meine liebste Beschäftigung und meine größte Freude. 17. Dezember 1941 In den letzten Tagen hat die grimmige Kälte ziemlich nachgelassen. Temperaturen von -16° bis -11° empfinden wir als mild und angenehm. Der Himmel ist wolkenverdeckt, ein schwacher Südwind bläst, aber zum Glück bis jetzt noch kein weiterer Schneefall, den wir so sehr befürchten. Jetzt liegt der Schnee etwa 30 cm hoch, das tut uns nichts, aber was soll werden, wenn er bis zu einen Meter und mehr ansteigt und Schneeverwehungen unsere Bunker zuschneien? Zum Glück sind wir durch den zwar spärlichen, aber doch schützenden Waldbestand, 38 Wolfgang Buff, Vor Leningrad den wir noch künstlich verdichtet haben, etwas gesichert und geborgen. Der Russe ließ uns in der letzten Zeit weiter ziemlich in Ruhe, und wir ließen ihm dasselbe angedeihen. Keiner hat anscheinend an großen Veränderungen Interesse, und man ist froh, wenn man da bleiben kann, wo man ist, und man sich so gut es geht eingerichtet hat. Wie mag es nur in Leningrad aussehen, der großen, seit dem 8. September belagerten Stadt, dem Tor Russlands zum Westen? In Friedenszeiten zählt es drei Millionen Einwohner, dazu kommen jetzt noch eine Million Soldaten. Bereits im Oktober hörte man, dass Seuchen, Hunger und Mangel aller Art in der bedrängten und zum Teil zerstörten Stadt furchtbar wüten. Wie mag es aber jetzt in der kalten Jahreszeit dort zugehen? Wird die Stadt, die noch täglich unter dem Feuer unserer Geschütze und Flugzeuge liegt, sich den Winter über halten können? Wir wissen es nicht; die Aussagen der Überläufer sind in dieser Hinsicht sehr widerspruchsvoll. Drei russische Gefangene kommen jetzt jeden Tag von der GefangenenSammelstelle, um in unserer Stellung zu arbeiten. Sie sind willig, anstellig und geschickt, allerdings sehr langsam in der Arbeit. Wir haben von ihnen gelernt, wie man mitten im Schnee aus dürrem Holz und etwas Zigarettenpapier ein wärmendes Feuer entfacht. Sie kochen sich an solchen Feuerstellen mit Begier das Pferdefleisch, das sie irgendwo aufgetaut haben. Mit dem Hunger ist es bei ihnen besonders schlimm bestellt. Über einen Bissen Brot, den man ihnen gibt, geraten sie geradezu in Verzückung, entblößen den Kopf und bekreuzigen sich andächtig. Ihre Kleidung ist nicht schlecht. Vor allem haben sie gute Pelzmützen und dauerhaftes Schuhzeug und warme Handschuhe. Aber eine gute Winterausrüstung ist ja auch das Mindeste, was ein russischer Soldat haben muss. Und noch eine Sache möchte ich euch gegenüber klarstellen: Wenn es in der vergangenen Zeit in Briefen des öfteren hieß, dass schwere Artillerie Ziele in Leningrad unter Feuer nahm, so waret ihr vielleicht der Ansicht, dass wir daran beteiligt waren. Das ist nicht der Fall. Wohl haben wir wochenlang an der Abwehr der sich immer wiederholenden Durchbruchsversuche der Russen in der Umgebung von Leningrad mit unseren Geschützen mitgewirkt. Die vielen Briefe, die ich in der letzten Zeit von euch erhielt, waren mir jedes Mal eine rechte Freude und ein stärkender Unterpfand dafür, dass wir uns einmal wieder vereinigen werden. Hier, wo man nun so weit entfernt ist, merkt man erst, wie lieb man einander hat und was man für 39 Wolfgang Buff, Vor Leningrad einander bedeutet. Ja, man merkt überhaupt erst, was Heimat heißt und wie man mit allen Fasern mit ihr verbunden ist. Unsere Vorfahren setzen Ausland gleich mit dem Wort Elend, und was sie damit meinten, ist mir jetzt richtig klar geworden. Nicht irgendwo im Westen, weder in Holland, Belgien noch in Frankreich, sondern hier, wo es außer gleichförmigem Wald, eintöniger Ebene, einigen windschiefen Holzhäusern, in deren Mitte eine entweihte Kirche verlassen dasteht, hier ist Ausland im wahrsten Sinne des Wortes, und ich kann nur denken, dass es noch viel schlimmeres Ausland gibt, wo weder Eisenbahn noch Straßen hinführen, in diesem endlosen und grenzenlosen Russland. Wie traurig muss erst das Los unserer Kriegsgefangenen (30 000 Vermisste wurden kürzlich erwähnt) sein und wie überaus verlassen müssen sich diese bedauernswerten Kameraden vorkommen. Ihrer und all der Gefangenen - es sind viele Millionen, die ihr Los teilen - möge man täglich in Fürbitte gedenken. Inzwischen habe ich Vater ja Vollmacht zur Verfügung über mein Bankkonto erteilt. Ich brauche darüber ja nicht viel zu schreiben. Ich habe das Geld ja jetzt nicht nötig, bin auch zu weit entfernt von euch, um jedes Mal, wenn notwendig, darüber selbst zu verfügen. Darum soll es euch in meinem Sinne dienen, d.h. in dieser Zeit, wo alle Welt und auch ihr in so vielem Mangel und Entbehrung leidet, soll es euch zu jeder nur möglichen Erleichterung und Verbesserung eurer Lage dienen und euch dadurch helfen, diese schwere Zeit zu überstehen. Für mich ist jetzt hier beim Militär gesorgt, und was bei dem ersehnten Danach werden wird, das überlasse ich dem morgigen Tag, für den man nicht ängstlich sorgen soll. Nun wünsche ich euch alles Gute zum Neuen Jahr. Ich sehe ihm zuversichtlich und froh entgegen und nehme gerne von der Vergangenheit Abschied, wenn auch im Bunker unter der winterlichen Erde Russlands. 19. Dezember 1941 Heute verlassen uns die zwei Glücklichen, die anstatt so wie wir den Winter in der Eiswüste Russlands, mit Studienurlaub an einer deutschen Universität verbringen werden. Aber man muss für diese besondere Vergünstigung drei Jahre bei der Wehrmacht sein und darf noch keinen anderen Beruf eingeschlagen haben. Werner Behler und Peter Linden vom Rechentrio sind somit die ersten von uns, die die Heimat wiedersehen werden. Für Behler als R II wird nun bald Fresenius hier eintreffen, der von seiner langwierigen Gelbsucht genesen ist. Ein zweiter Rechner 40 Wolfgang Buff, Vor Leningrad wird wohl bis zum 15. März, wenn „Pitt“ wiederkommen soll, „flachfallen“. Aber bis dahin dürfte es auch nicht allzu viel zu tun geben, so dass ich mit Alfred Marstaller die Arbeit des Rechentrupps gut geschafft kriege. Der heutige Tag, wo unser Rechenklub zum ersten Mal gesprengt ist, kam uns ganz komisch vor. Ein Wachtmeister, der Küchen-Uffz. und ein Gefreiter wurden nach Riga geschickt, um für die Batterie Weihnachtseinkäufe zu machen. sJa, aber hier ist Russland. Nach fünf Tagen kamen sie ganz gerädert wieder. Waren unter Benutzung aller denkbaren Verkehrsmittel bis S. , 100 Kilometer von hier, gekommen. Der Frost bringe alles zum Stocken, selbst die Eisenbahn. Es fehlt anscheinend an Lokomotiven. 21. Dezember 1941 (4. Advents-Sonntag) Ein trauriger Tag für uns. Bei einem Angriff fiel als VB durch Kopfschuss Wm. Opladen. Ein junger hoffnungsvoller Mensch, von jedermann in der Batterie geschätzt und geachtet, hat uns nun plötzlich verlassen. Nach langen Wochen ohne Verluste steht nun wieder der ganze Ernst des Krieges vor uns. Die beginnende Weihnachtsfreude ist einer allgemeinen Trauer und Betrübnis gewichen. 22. Dezember 1941 Nach dem gestrigen Sturmtag heute Grabesruhe. Der tote Kamerad Opladen, der durch einen Kopfschuss grässlich entstellt wurde, ist von vorne geholt und liegt im Schnee von Tannenzweigen bedeckt. Das war ein trauriger Advents-Sonntag. Ich leide etwas an den Füßen. Marstaller wird mich ein wenig vertreten. Aus der Heimat die unbegreifliche Nachricht vom Rücktritt Brauchitschs. 23. Dezember 1941 Im Bunker gelegen wegen meiner Füße und sonst ein wenig „marode“. Aber ich hoffe, dass es nach einigen Tagen Ruhe wieder gehen wird. 24. Dezember 1941 Gestern waren nur noch einige Schüsse gefallen, dann war Grabesruhe, und eine totenähnliche Erschöpfung befiel Offiziere und Mannschaft nach den übermenschlichen Anstrengungen und Aufregungen der letzten Tage. Alle Vorfreude auf das Fest schien vorüber und Weihnachten für uns alle völlig zerstört. Das war also unser Weihnachts- 41 Wolfgang Buff, Vor Leningrad geschenk: 80 Tote in unserem Abschnitt und mehrere hundert Verwundete. Dazu so gut wie kein Erfolg, und man ist froh, dass man wieder zu den Ausgangsstellungen zurückgehen konnte. Jetzt wird der Russe natürlich unsere Situation ausnutzen und durch Gegenangriffe und Artilleriefeuer uns den letzten Rest des Weihnachtsfestes vergällen. So war unsere Lage, unsere Gedanken und unsere Aussichten für das Christfest, und zu allem Überfluss schien auch die heiß ersehnte Post aus der Heimat auszubleiben. 42 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Und doch zeigte sich auch hier, dass die Weihnachtsfreude eine Macht und ein Licht ist, das auch die stärkste und tiefste Niedergeschlagenheit durchbricht und in der dunkelsten Finsternis leuchtet. „Die Finsternis hat es nicht begriffen, das heißt auszulöschen vermocht.“ Ich weiß nicht, wie es kam, aber gegen Mittag, als die Küche mit dem Essen über die weiße Schneefläche heranrollte, da sah man hinter ihr einen weiteren, schwer beladenen Wagen dreinfahren. Und siehe da, was man kaum noch zu erwarten gewagt hatte, war Tatsache geworden: Mit selbstverständlicher Pünktlichkeit kam dort die Weihnachtsbescherung des Heeres für die Soldaten an der Front herangefahren. Und schau hin, sie war reichlich ausgefallen. Wieder viel größer, als man erwartet hatte. In Westfalen 1939 gab es eine Tüte voll Gebäck und Äpfel, in Le Havre 1940 außerdem eine Flasche Sekt und Kuchen, aber was hier zum dritten Kriegs-Weihnachten auf den Schneefeldern der Ostfront beschert wurde, das übertraf doch alles: Man ging mit Munitionskisten an dem Verteiler vorbei, und dann strömte der Segen hinein: für jeden 1 Flasche Rotwein, 1 Flasche Cognac, 1/3 Flasche Sekt, 1 Dose eingemachte Früchte, 2 Äpfel, 60 Zigaretten, davon 40 deutsche, Tabak, Zigarren, eine Packung Rasierklingen, 27 Tafeln Schokolade, TrüllerKeks, 4 Beutel Bonbons und fast 1 ganzes Pfund wohlschmeckendes Weihnachtsgebäck. Und außerdem waren zwei große Säcke Post angekommen, es hagelte nur so Paketchen und Briefe von den Lieben daheim. Da sah man dann bald einen jeden mit seinen Schätzen zum Bunker laufen, ans Auspacken gehen und dann überlegen, ob man nicht doch ein wenig Weihnachten feiern könne. Und so geschah es. Im Wald wurde ein kleines Bäumchen gesucht, und bald fand sich auch im engen Bunker noch ein Plätzchen dafür. Eine Weihnachtskerze und etwas Schmuck fand sich in einem Paket, vielleicht auch ein kleines Transparent. Dann breitete man seine Gaben ringsumher aus und schon war die Weihnachtsfeier der Bunkerbesatzung - meistens drei Mann - im schönsten Gang. Und als bald nach 3 Uhr die Dunkelheit sich herabsenkte, da wurde es auf einmal auch draußen still. Auch an den Fronten schien die Christnacht ihren Einzug zu halten. Da war auf einmal alles da, was zum netten Feiern gehört: Weihnachtsstille, Weihnachtsfrieden, Weihnachtsfreude an der eisigen Front Russlands. Und aus den Bunkern tief unter der Erde hörte man auch Weihnachtsklänge hervordringen. Die Soldaten sangen ihre Weihnachtslieder. Um die Mitternachtsstunde hörte man durch die frostklare Nacht aus weiter Entfernung geheimnisvolle, wohl vertraute Melodien. Irgendwo spielte ein Trompeter-Chor die alte Weise „Stille Nacht, Heilige Nacht.“ 43 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Ich lag mit meinen Füßen und auch sonst darnieder in meinem Bunker. Fred machte Feuer an und schmierte mir ein Butterbrot, aber es war uns nicht weihnachtlich zumute. Kein Werkzeug war aufzutreiben, um Stämme zu schlagen, und das Holz drohte uns auszugehen. Alles schien aber auch daneben zu gehen, und Alfred saß trost- und tatenlos neben mir am verglimmenden Feuer. Es bedurfte viel Zuredens, aber schließlich ging er doch in den Wald und brachte ein kleines Weihnachtsbäumchen mit, und dann fand sich noch eine Säge, und er machte mit ihr Feuerholz. Alsdann kam die Weihnachtsbescherung mit einem großen Berg Post für uns. Er setzte noch das Weihnachtsbäumchen in eine mit Sand gefüllte Kartuschenhülse, und dann wurde ich herausgeschickt aus dem Rechenbunker, denn der wurde jetzt Weihnachtszimmer, und der Rechentisch wurde zum Weihnachtstisch gemacht. Die Planausrüstung wurde zugeklappt, der Tisch mit russischen Karten, deren weiße Rückseite ich benutzte, schön ausgelegt. Die Kartuschhülse mit weißem Papier umwickelt, der Weihnachtsbaum mit einem goldenen Stern geschmückt und eine Kerze vor ihm in den Sand gesteckt. Davor noch ein kleines Transparent. Und dann auf dem weißen Plantisch fein säuberlich aufgebaut, die Weihnachtsbescherung für uns Drei. Denn als Dritter im Bunde hat sich gestern Heinz Wienen zu uns gesellt. Er war damals beim Vormarsch verwundet worden und kam gestern nach seiner Genesung von der Ersatzabteilung aus Deutschland zurück. An Lindens Stelle fand er im Rechenbunker Quartier und nun feiert er mit uns zusammen Weihnachten. Um 7 Uhr kamen die zwei dann heran. Während sie vor der Türe standen und durch das kleine Glasfensterchen lugten, zündete ich die Lichter an und öffnete dann mit: „Ihr Kinderlein kommet, o kommet doch all“. Dann sangen wir gemeinsam „Stille Nacht, Heilige Nacht“ und lasen das Weihnachts-Evangelium. Mit frohen Weihnachtswünschen und einem herzhaften Händedruck begann dann unsere kleine Feier. Mit französischem Rotwein und deutschem Weihnachtsgebäck ließ sich gut plaudern und von alten vergangenen Zeiten und von daheim erzählen. Hin und wieder klingelte das Telefon, aber nicht um Feuerbefehle zu bringen, sondern diesmal waren es Weihnachtswünsche, die der Draht brachte und übermittelte. Auch zum Offiziersbunker musste ich mal eben herüber. Selbst dort war alles fröhlich gestimmt. Man spürte es überall, und es war aus jedem Gesicht und jedem Wort zu entnehmen: Es war doch Weihnachten geworden. 44 Wolfgang Buff, Vor Leningrad 25. Dezember 1941 Heute ist Weihnachten. Ich liege in meinem Bunker und gedenke euer aller. Wie mögt ihr gestern den Heiligen Abend verbracht haben? Wer war alles von den Geschwistern dort, und wie habt ihr gefeiert? Geht es der lieben Mutter wieder besser und vor allem, ist Vaters Operation gut überstanden und hat er wieder das Augenlicht zurück? Das sind die Fragen, die mich in Gedanken an euch bewegen, zu denen ich die Antwort wohl erst in einigen Wochen erhalte. Aber meine Gedanken eilen immer wieder fort von hier zu euch, zur lieben Heimat und den Weihnachtsgottesdiensten. In Gedanken bin ich bei euch, wenn ihr die lieben Weihnachtslieder singt, die ich nun auch hier im Geiste oft singe. Wie tröstlich ist die selige Weihnachtsbotschaft. Wie tröstlich und köstlich alle die Verheißungen, die sie einschließt. Ist unser wahres Vaterland nicht droben, wo die ewigen Wohnungen unser warten? Was sind dagegen alle menschlichen Wünsche und Erwartungen? Man wird so ganz stille und wartet auf das, was der Herr tut und zu unserem Heil in wunderbarer Weise tun wird. 26. Dezember 1941 Ich liege in meinem Bunker, der im Viereck so groß ist, dass ich mich gerade darin ausstrecken kann. Rechts von mir die nackte Erdwand, zu meinen Füßen Erde und zu meinen Häuptern nur durch einen kleinen Holzstoß getrennt die andere Seite. Links vor mir in Armesbreite brennt das flackernde Feuer in der Wand mit weißen Birkenscheiten. Gegenüber dringt durch das kleine, immer mit Eisblumen versehene Fensterchen der Tür ein schwacher Dämmerschein von außen in meine Behausung. An meinem Lager eine Kartenkiste als Schreibunterlage. Darauf das Telefon und daneben steht dann der große Plantisch, jetzt geschmückt mit einem kleinen Weihnachtsbaum. Von oben dringt selten ein Ton bis hier hinunter, nur dann und wann das schwere Donnerrollen der Geschütze, die in die Feme schießen, und vielleicht einmal das Brummen eines Flugzeuges über uns. Es ist still wie im Grabe. Nur das Feuer brodelt unruhig, und meine Taschenuhr, die die verrinnenden Stunden anzeigt, tickt stetig und beruhigend, und eine Kerze neben mir erleuchtet friedlich die Dunkelheit der Tiefe. Es ist mir, als läge ich im Grabe und die tiefen Worte des Psalmisten in ähnlicher Lage gehen mir oft durch den Sinn: „Du hast mich in die unterste Grube gelegt, in die Finsternis und in die Tiefe. Ich liege im Grabe wie die Erschlagenen, deren du nicht mehr gedenkst und die von deiner Hand abgesondert sind. Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir“, es 45 Wolfgang Buff, Vor Leningrad sind Worte aus den Bußpsalmen. Der Herr führt hinab in die tiefste Tiefe, ja bis in die Grabesnacht. Und doch, wie friedlich und geborgen fühle ich mich in meinem Grabkämmerlein. Wie nah fühle ich seine Hand, die mich bewacht, verbirgt und beschützt hier unten in der Erde. Wie köstlich und tröstlich sind mir seine Verheißungen, nach denen er mich auch herausführen wird, wenn seine Stunde kommt. „Der Herr tötet und macht lebendig, er führt in die Hölle und wieder heraus“. Dann werde ich ihn loben und ihm danken, wie es der Psalmist nach seiner Errettung mit einem neuen Liede tat: „Ich harrte des Herrn, und er neigte sich zu mir und hörte mein Flehen und zog mich aus der grausamen Grube.“ (Psalm 40) Im Ganzen verlief der erste Weihnachtstag ruhig und ungestört. Der Feind schien auch ziemlich ermattet zu sein und rührte sich kaum. Bei uns war es still, und auch von vorne kam immer wieder die gern gehörte Meldung: „Völlige Ruhe im Abschnitt.“ Also haben unsere tapferen Infanteristen außer ihrem schweren Postendienst auch ein wenig Festtagsruhe wider alles Erwarten geschenkt bekommen. Mir geht es ziemlich gut, nur die beiden großen Zehen und zwei andere sind ein wenig gefroren. Das faule Fleisch schält sich jetzt ab, und die neue Haut ist darunter schon gewachsen. Es wird wohl noch einige Tage dauern, dann hoffe ich, dass alles ausgeheilt ist. Mit Hilfe der verschiedenen Frostmittel, die ich geschickt bekam, und durch vorsichtiges Verhalten kann ich den Winter dann ohne Schaden weiter überstehen. 28. Dezember 1941 Die Weihnachtstage verliefen weiterhin ruhig und ungestört. Zum ersten Mal während unseres Hierseins wurde Sonntagsdienst an den beiden Feiertagen angesetzt und so auch heute wieder. Lt. Bruckmann, der jetzt die Feuerstellung führt, ist in dieser Beziehung großzügiger und angenehmer als unser nervöser Papa R. Er ist jetzt Führer der Protze geworden und nun für einige Zeit in angenehmer Ferne. Gestern kamen eure Päckchen mit Karbid und Filzpantoffeln. Herzlichen Dank! 30. Dezember 1941 Nun ist Fresenius doch bei uns geblieben. Von Düsseldorf aus hatte man ihn als Kurier mit eiligen Briefen zum Regimentskommandeur geschickt. Er kam, um uns zu besuchen und sollte sofort zurückfahren. Aber siehe da, Herr Gobbin hielt ihn fest und schickte jemand anders 46 Wolfgang Buff, Vor Leningrad mit den Briefen nach Deutschland. Jetzt ist Helmut auf diese Weise wieder bei uns, und das durch Lindens Weggang gesprengte Trio ist wieder ergänzt. Heute habe ich mich wieder etwas aufgerappelt und war den ganzen Tag auf. Aus dem Bunker heraus kann ich jedoch noch nicht. Die Füße sind noch nicht ausgeheilt. Das wird noch einige Tage dauern. Draußen sind Temperaturen um -20° herum. Einmal hatten wir in diesen Tagen den Rekord von -32°. Aber glücklicherweise nur wenig Wind und Schnee, so dass das Wetter erträglich war. Möchte es doch einigermaßen so auch in den kommenden Wintermonaten bleiben. Im Mai taut es hier, also hätten wir ein Drittel des Winters nun herum. Kurz vor Weihnachten hatten wir zwei Tage lang ein Kuriosum, nämlich +1° Wärme, und der Schnee fing an zu tauen. Eine höchst unangenehme Sache, denn in allen Bunkern tröpfelte nun das Schneewasser durch die Decke. Wir waren froh, als das Thermometer wieder sank. Im Frühjahr wird uns das Tauwetter noch eine nette Bescherung bringen, aber bis dahin hat es ja noch seine Weile. In den letzten Tagen hat uns der Russe auch weiterhin ziemlich in Ruhe gelassen, und wir auch ihn. Aber er regt sich immer wieder, und von Zeit zu Zeit müssen wir ihm einige Vergeltungsschüsse hinüber senden. Unsere Infanterie im Graben hat weiterhin einen schweren Stand. Was sie bei diesem Wetter und bei den vorliegenden Verhältnissen leistet, ist einfach bewundernswürdig; da kommen wir Artilleristen in keiner Weise mit. Auch sonst an der Front, besonders im mittleren Abschnitt, meldet der Weihnachtsbericht starke Angriffstätigkeit der Russen. Bisher wurden sie unter großen Verlusten für den Gegner abgeschlagen, aber wie groß werden die Opfer auf unserer Seite sein? Bei diesem Wetter ist jeder Kampf, wie wir es erst kürzlich selbst erlebten, doppelt schaurig, und man kann nur hoffen, dass die Kampftätigkeit auf beiden Seiten nachlässt und eingestellt wird, soweit es möglich ist. Heute kam eine Kiste mit 50 Büchern an, und mir wurde gleich das Amt des Bücherwartes übertragen. Sie stammen aus der Buchspende 1941 von der Kreisleitung Aachen. Es sind recht wertvolle Sachen darunter. Aber ich befürchte, dass sich mancher an ihnen die Augen verderben wird. Dank eurer Sendung brennt jetzt hier im Bunker eine Karbid-Lampe mit ihrem ruhigen, hellen Schein. Von der Batterie kommt auch hin und wieder eine Kleinigkeit dieses Leuchtstoffes an, so dass ich zusammen 47 Wolfgang Buff, Vor Leningrad mit euren Sendungen die ich, wenn irgend möglich wöchentlich erbitte, schon ein gutes Stück weiterkomme. Kerzen bekam ich in den Weihnachtstagen von vielen Seiten, besonders auch aus Hannover. Ölfunzeln und sonstige Behelfslichter konnte ich einige Tage mal ganz beiseite lassen, und meine Augen haben sich dabei ordentlich erholt. Für jedes Lichtlein bin ich weiterhin dankbar. Mein Bunker, der so ziemlich der einzige ist, wo es nun gutes Licht gibt, ist zum reinsten Wallfahrtsort geworden. Wer keine Streichhölzer hat, kommt sich hier Licht des Morgens abholen, und verschiedene Freunde kommen stets hierher, um Briefe zu schreiben und zum Lesen. So ist es hier oft gerammelt voll. 31. Dezember 1941 Der letzte Tag des nun verflossenen unglückseligen Jahres hat mir noch ein besonderes nachträgliches Weihnachtsgeschenk gebracht. Ein kleines Feldöfchen für unseren Bunker. Drei FO 35 kamen hier in der Stellung an, und ich kann mich glücklich schätzen, dass ich einen davon bekam. Eben haben wir ihn unter Herrn Holzschneiders fachgemäßer Anleitung eingebaut. Das große Feuerloch ist nun mit Lehm und Steinen zugemauert und dient als Holzstapelplatz. Das Öfchen ist ungefähr 70 cm hoch, und ein kleines Rohr führt durch den ehemaligen Kamin ins Freie. Ich glaube, es wird wunderbar brennen und auch heizen. Und vor allem Zug und Qualm, die beiden Hauptübel bei jedem offenen Feuer, werden aufhören. Das ist ein schönes, unverdientes Weihnachtsgeschenk. Aus dem Neujahrsaufruf des Führers: „Jetzt wogt im Osten Europas der Kampf an den Fronten auf und ab, um allmählich zu erstarren, während in Ostasien der Japaner seinen Vormarsch antritt.“ Aus dem Tagesbefehl an die Wehrmacht: „Und wenn der Feind es jetzt versucht, während des Winters unsere Front zum Weichen zu bringen, so werden wir dafür sorgen, dass ihm das nicht gelingt. Im Frühjahr aber werden wir mit ganz neuen Kräften zur Fortsetzung des Kampfes, der die bolschewistische Welt zerschlagen wird, antreten.“ 1. Januar 1942 Unsere Silvesterfeier war schlicht und einfach. Alfred, Helmut und Karl Postlack, wir saßen zu viert im Rechenbunker, zündeten nochmal eine Christbaumkerze an, stellten kleine Transparente auf und sangen gemeinsam noch einmal die lieben Weihnachtslieder. Um 22 Uhr gab es dann noch ein kleines Artillerie-Duell zwischen uns und dem Russen, dann war es wieder ruhig, und wir saßen still zusammen und gedachten vergangener Zeiten. Wie pompös und übermütig war es doch im ver- 48 Wolfgang Buff, Vor Leningrad gangenen Jahr in diesen Tagen in Le Havre zugegangen. Jetzt sind wir still und bescheiden geworden und freuten uns, dass wir in einem warmen Bunker ungestört in Frieden beisammen sein konnten. Um 24 Uhr, als das Neue Jahr begann und draußen durch Leuchtkugeln und Schüsse eingeläutet wurde, sangen wir: „Großer Gott, wir loben Dich“. Das Neue Jahr begrüßte uns heute mit einer Temperatur von -34°, dem bisherigen Rekord an Kälte. Aber kein Wind, daher ziemlich erträglich. In den kurzen Tagesstunden leuchtender Sonnenschein, dessen Strahlen im bereiften schneebedeckten Winterwald märchenhaft glitzerten. Mein Befinden macht gute Fortschritte. Ich wagte mich zum ersten Mal wieder einige Schritte aus dem Bunker heraus. In wenigen Tagen hoffe ich wieder ganz dabei zu sein. Heute brachte die Küche zur Erbsensuppe einen festlichen Nachtisch von Aprikosen. Weihnachten gab es sogar Pudding. Man sieht also, auch in dieser Beziehung sorgt man für festtägliche Stimmung. Den nötigen Sprit in Gestalt von Wodka und lettischem Schnaps aus Riga hatte man trotz aller Transportschwierigkeiten wieder pünktlich herangeschafft. Früher mochte ich das Zeug ja nicht, aber hier in der Kälte trinke ich zur Erwärmung ganz gern mal einige Tröpfchen davon. Mit Bonbons, die ich früher verachtete, geht es ähnlich. Was uns das Neue Jahr bringen wird, vermag noch niemand mit Bestimmtheit vorauszusehen, und die Voraussagen sind sehr verschieden. Man erwartet für das Frühjahr die Fortsetzung und im Laufe des Sommers die Beendigung des Kampfes gegen Russland. Aber wie es dann weitergehen soll, wie England und schließlich noch Amerika bezwungen werden sollen, darüber wagt sich keiner mehr Vorstellungen zu machen. So ist man sehr vorsichtig in allen Erwartungen und schiebt das Kriegsende vorläufig noch in weite Ferne, bestenfalls in den Herbst des Jahres 1943. 1942 nennt man nochmals ein Jahr des Durchhaltens. Mehr lässt sich mit allen Überlegungen des Verstandes nicht darüber sagen. Als für den Verstand das Kriegsende schon mehrfach so greifbar nahe war, da lag es in Wirklichkeit noch in weiter Ferne. Nun ist die Lage so, dass für den Verstand in absehbarer Zeit kein Ende mehr zu sehen ist. Ist nicht dann Gottes Stunde nahe? Die Stunde, wo er dem Toben der Wellen und des Windes Einhalt gebietet. 49 Wolfgang Buff, Vor Leningrad 4. Januar 1942 Heute ist Sonntag! Draußen ist es nach einem milden (-10°), aber stürmischen Wintertag wieder dunkel geworden, und im Rechenbunker haben sich wieder Lese- und Schreiblustige bei des „Lichtes geselliger Flamme“ eingefunden. Es sind zwar nur vier, aber damit ist unsere Behausung so gefüllt, dass auch kein Mäuschen mehr dazwischenhuschen kann. Zum Teil sitzt man, zum Teil hockt man, zum Teil kniet man, aber es ist alles immer noch besser, als in den anderen Bunkern, wo man so ziemlich nur in liegender Weise sich aufhalten kann. Unser Feldofen 35 heizt prächtig ein. Alle zehn Minuten werfe ich einige kleine Birkenholzstückchen hinein und dann brennt er, dass es eine Freude ist. Vor allem ist man vom Qualm ziemlich erlöst. In den letzten Tagen hat mich viel gute Post von euch und lieben anderen Verwandten und Bekannten erfreut. Eure Pakete kommen jetzt herangerollt: vorgestern drei und heute wieder drei Stück, und welch köstlicher und wertvoller Inhalt. Lebertran, Holundersaft, Äpfel, Schafswolle, Wollweste, lustiges Volk, Armwärmer, weiße Mütze, Wollgamaschen, Puschen, Libbys Milch, Rosinen, Butter und andere gute Sachen mit Grüßen von Waldemar, Thekla und Mutter. Alfred meinte, das wäre die reinste Polarforscher-Ausrüstung - fehlt jetzt nur noch die von Bruno erwähnte feldgraue Weste von Dores und wohl ein kleiner mit Wolle gefütterter Pulswärmer. Sonst ist alles da, und ich freue mich schon darauf, wenn ich wieder draußen herumlaufen kann und diese Ausrüstung erproben werde. Tausend Dank für alle Mühe und Arbeit, die ihr euch gemacht habt. Nun braucht man sich keine große Sorge mehr für den Rest des Winters zu machen. Hätten nur alle Kameraden eine solche Ausrüstung, das heißt so treusorgende Angehörige, die so etwas für sie machen könnten. Aber bei vielen steht es noch arg damit, und Göbbels hat ja nicht umsonst dazu aufgerufen, warme Wintersachen an die Front zu schicken. Man sieht auch, wie einer nach dem anderen strahlend mit einer neu erhaltenen Weste, mit dicken Handschuhen und sonstigen Errungenschaften ankommt. Auch sonstige Päckchen und Post kommt immer reichlich, und man sieht, die Verbundenheit von Heimat und Front ist nicht nur ein viel erwähntes Schlagwort, sondern eine wirklich merkbare erfreuliche Tatsache, die jeder von uns zu schätzen weiß. Eure Äpfelchen und die Bergamottebirnen schmeckten herrlich. Zwar waren sie trotz aller Wolle steinhart gefroren, aber am Ofen aufgetaut und etwas abgekühlt schmeckten sie wunderbar saftig und frisch. Auch für die Butter, den Lebertran und Holundersaft vielen Dank. Alles wird 50 Wolfgang Buff, Vor Leningrad mir gute Dienste tun, aber sonst kann ich berichten, dass unsere Verpflegung weiterhin gut und ausreichend ist. Lebensmittel braucht ihr mir also wirklich nicht mehr zu schicken, besonders keine rationierten Waren, die ihr euch selber abziehen müsst. Das ist wirklich bei den augenblicklichen Verhältnissen nicht nötig. Wie ich schon schrieb, bin ich nun mit allem Nötigen versehen. Das Christkindchen hat mich diesmal hier im fernen Russland besonders reichlich und nützlich bedacht. Ihr könnt euch gar nicht denken, wie dankbar ich für das alles bin. Für Joachims Brief vom 1. Dezember recht herzlichen Dank! Dass ihr auch in diesem Jahr eifrig nach dem Motto „Grabe für den Sieg“ im Garten gearbeitet und gewirtschaftet habt, freut mich sehr. Damit nun auch die Hühnerzucht blühe und gedeihe, seien hierfür als nachträgliches Weihnachtsgeschenk noch zehn RM für Futter gestiftet. Vater wird das Geld von meinem Konto entnehmen. Die Nachrichten der letzten Tage waren nicht so günstig, wie man das bisher gern gewohnt war. Zwar machen die japanischen Erfolge im fernen Osten (Manila, Hongkong genommen) gute Fortschritte, aber in Afrika, wo es bis Agedabia rückwärts gegangen ist, und hier an der Ostfront scheinen die Dinge schwierig zu liegen. Auf den mittleren Teil der Front hat der Russe es besonders abgesehen und laut Wehrmachtsbericht einige Einbrüche, die noch abgeriegelt werden konnten, erzielt. Auf der Krim konnte er wieder Truppen landen, während es sonst im Süden wie auch im Norden recht ruhig ist. Er weiß anscheinend, was für ihn in diesem Winter auf dem Spiele steht und setzt zu verzweifelten Durchbruchversuchen an. Man muss sich nur wundern, woher er nach diesem verlustreichen Sommerfeldzug die Kräfte dazu hernimmt. 5. Januar 1942 Heute wieder angenehme Temperaturen nur wenige Grad unter Null. Etwas Schnee. Von Walter Flex las ich aus unserer Bücherei, die sich übrigens in den letzten Tagen lebhaften Zuspruchs erfreute, zwei kleine Geschichten: Der Reiter vom Hautsee und Revanche. Sehr feine Erzählungen, die bisher noch nicht veröffentlicht waren. Im Vorwort dazu ist ein Feldpostbrief von ihm abgedruckt. Er ist geschrieben aus einem Schützengraben vor Verdun und in einem finsteren Erdloch, das sonst höchstens einem Fuchs oder einem Karnickel als Behausung dienen könnte: Also wir haben schon viele Vorgänger in unserer Lebensweise gehabt und nicht nur hier in Russland. 51 Wolfgang Buff, Vor Leningrad 7. Januar 1942 Heute zum ersten Mal nach 18 Tagen wieder in den Wald gestiefelt und Birkenstämme geholt und dann in ganz kleine Stücke gesägt für unser Feldöfchen. Dabei habe ich eure Wollpuschen und Wollgamaschen ausprobiert und eingeweiht. Sie passen gerade in die Stiefel hinein und haben außerdem wunderbaren Kälteschutz und den Vorteil, dass sie die Stiefel gegen Schnee oben abdichten, so dass man unbesorgt durch den tiefsten Schnee waten kann. Heute kam euer Päckchen mit Leibbinden, Wolle und Äpfeln an. Ferner zu meiner größten Freude das Feuerzeug, das mit Benzin gefüllt recht gut funktioniert. So etwas kann ein Retter in Not sein, denn Streichhölzer gibt es hier keine, und sie zu schicken, ist gefährlich und verboten. Vielen Dank für diese prompte Besorgung. Für Russland haben wir es eigentlich fast so gut wie für französische Verhältnisse in Le Havre. Unser Lebensstandard steigt von Tag zu Tag, wie man ehrlich zugeben muss. Heute Abend sitze ich mit Alfred zusammen. Er liest den Eulenspiegel aus der Bücherkiste, die hier zu unserer Verfügung steht. Auf dem Feldofen 35 haben wir uns aus dem weihnachtlichen Empfang einen Kaffee gebraut, Zucker dazu ist vorhanden, Libby’s Milch aus Eurem Paket und Weihnachtsgebäck aus der Heimat lassen wir uns dazu schmecken. Eine Christbaumkerze aus Krefeld gibt ein freundliches Licht. Dazu übermittelt uns das Telefon Radiomusik. Draußen ist sternklarer Himmel und tiefe Ruhe und Frieden überall. Nur ganz vereinzelt rattert mal ein Maschinengewehr, oder das zuckende Licht einer Leuchtkugel zeigt mit flackerndem Schein die Richtung der Front. Die Kanonen schweigen. Ach, möchte doch bald die Friedenszeit anbrechen für dies arme gequälte Land nach dieser entsetzlichen Kette von Kriegen, Revolutionen, Gewaltherrschaften und Heimsuchungen aller Art, die dieses Volk so schwer geprüft haben. Möchten doch anstatt der blutbefleckten Waffenträger Boten des Friedens in seine Ferne kommen und die bitteren Wunden dieses Stammes verbinden und heilen, denn es wird ein Volk sein, das geläutert ist im Ofen der Trübsal. 52 Wolfgang Buff, Vor Leningrad 8. Januar 1942 Auch heute fiel - außer in den Morgenstunden - kein Schuss bei uns. Den ganzen Tag über war es ruhig. Ich tummelte mich dank eurer prachtvollen Ausrüstung bei 20° Kälte wieder ordentlich draußen herum, um die Füße wieder daran zu gewöhnen. Heute gab es als Besonderheit für je vier Mann ein gekochtes Huhn und Bouillon dazu. Angeblich kommen die Hühner aus Estland. In den Zeitungen fand man interessante Notizen über Le Havre. Danach sind bisher 4 000 Häuser der Stadt durch englische Bomben zerstört oder beschädigt worden, das wäre etwa ein Viertel der ganzen Stadt. Unter anderem ist auch das große Warenhaus Le Printemps, wo ich manche gute Sachen für euch erstanden habe, inzwischen in Staub und Asche verwandelt worden. 10. Januar 1942 Auch heute haben unsere Geschütze geschwiegen, während an anderen Frontabschnitten „die schweren Abwehrkämpfe mit unverminderter Stärke andauern“. Die Temperaturen sanken auf -24°. 12. Januar 1942 Nach S. (Sinjawino) zum Sauna-Bad. Kalt und qualmig. Dem Qualm im Bunker halfen einige Arbeiten am Kamin etwas ab. 14. Januar 1942 Vergangen ist wieder ein herrlicher Wintertag mit den wunderbaren Farbtönungen am strahlenden, teils wolkenbedeckten Firmament und auf der weiten Schneelandschaft. Hier im Wald sieht es aus wie in einem Kristallpalast, als wenn alles aus Glas und Eis geformt und gewachsen wäre. Und trotzdem gibt es wie Boten aus einer anderen Welt einige Singvögel, die zwischen Eis und Schnee einherhuschen und schon schüchtern zwitschern. In den Bunkern beginnt es, von der dicken Schneedecke darüber schon durchzutropfen. Nach tagelangen Temperaturen zwischen -20° und -30° haben wir heute nur noch -18° und empfinden es recht angenehm. Des Abends merken wir, dass es schon länger hell bleibt. Sind das alles schon Vorboten des Frühlings, so fragt man sich zaghaft. Ach, nein noch nicht. Wir haben ja erst halben Januar und eineinhalb Monate strengen Winters stehen uns noch bevor. Aber jetzt schon geht es mit jedem Tag dem Frühling entgegen. 53 Wolfgang Buff, Vor Leningrad 18. Januar 1942 Einige Schüsse gab es für uns heute Morgen, aber sonst ist es in unserem Abschnitt still, während es an den umliegenden Fronten allerdings recht lebhaft zugeht. Den ganzen Tag rappelt und donnert es unaufhörlich. 20. Januar 1942 Die beiden vergangenen Tage waren auch wieder ruhig. Nur wenig geschossen. Die Temperaturen waren ansteigend (-20°/- 30°) aber wenig Wind und wenig Schnee. Heute strahlende Wintersonne. Aber wie niedrig steht sie noch um die Mittagszeit gerade über den Bäumen des Waldes. Sie wärmt noch nicht. Um die Mittagszeit sah ich heute mitten am zartblauen Himmel eine merkwürdige Erscheinung. Ein regenbogenartiges Gebilde in den herrlichsten Regenbogen-Farben. Ist es ein Zeichen des Friedens über diesem gequälten, blutenden Land? 21. Januar 1942 Dieser Tage sandte ich ein altes Tagebuch an euch nebst einem Büchlein zurück. Das vorliegende Tagebuch folgt in Kürze. Unsere Verpflegung ist weiter gut. Öfter gibt es Schokolade, Drops, Schnaps und kürzlich zum zweiten Mal ein viertel Huhn. Neuerdings ist unsere Butterration von 50 auf 60 g täglich erhöht worden. Außerdem gibt es sechs mal im Monat zusätzlich 200 g Marmelade oder Kunsthonig. Dazu die übliche Fleisch- oder Käse-Portion (120 g pro Tag). Das Mittagessen ist ebenfalls gut. Dünne Suppe (ohne Kartoffeln), aber nahrhaft und fetthaltig. Meist Hülsenfrüchte. Auch heute wieder ein ruhiger Tag, aber ziemlich kalt. Alfred, der in seiner Bauern-Natur bis jetzt dem Winter getrotzt hat, kriegt es nun auch mit erfrorener Nase und Füßen zu tun. Das Gute ist nur, dass man sich immer wieder in dem Bunker wärmen kann. Keiner hat etwas dagegen, wenn man die Arbeit (Wegebau) zu diesem Zwecke mal unterbricht. Nachmittags Gang nach S. (Sinjawino) zur Abteilung. Allerhand Wege hat man durch die Schneewüste angelegt, und jetzt wird die Weiblichkeit des Dorfes mobilisiert, um aus Tannengrün hohe Schneeschutzhecken an ihnen anzulegen. Wie unendliche Wälle erscheinen sie dann und geben der Landschaft ein ganz anderes Aussehen. 54 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Das Benediktiner-Kloster Gerleve bei Coesfeld, dessen feierliche Gottesdienste bei mir am Ostersonntag 1940 besonderen Eindruck gemacht hatten, ist nun, wie ich durch M. (Marstaller) erfuhr, aufgehoben worden. Gleichzeitig ist dem Orden jegliche Tätigkeit und Aufenthalt im Rheinland und Westfalen verboten. So ist denn in der ehrwürdigen Abtei-Kirche, die ein Anziehungspunkt und ein geistlicher Mittelpunkt der ganzen Gegend war, das Licht verlöscht und das Gebet verstummt. Die Stille breitet sich immer mehr aus über die ganze Kirche. 22. Januar 1942 Heute wieder ein ruhiger Tag. Milde Temperaturen. Hptm. Richter kommt wieder zur Feuerstellung, dann wird es lebhafter zugehen als bei dem ruhigen und etwas bequemen Lt. Bruckmann. Wie aus der Deutschen Zeitung ersichtlich, herrscht im Ostland in den baltischen Staaten eine Flecktyphus-Epidemie. Aus diesem Grunde werden keine Arbeitskräfte von dort nach dem Reich mehr vermittelt. In Litauen waren alle Kirchen geschlossen und Gottesdienste untersagt. Jetzt ist es wieder erlaubt, gottesdienstliche Versammlungen abzuhalten, aber nur im Freien bei geschlossener Kirchtür. 23. Januar 1942 Kalter Wintertag, -30°, aber strahlender, glitzernder Sonnenschein. In der Luft glitzert es wie tausend Kristalle, der Wald funkelt wie Kristall. Hptm. Richter machte viel „Gedrüss“, entwickelte zahllose Pläne, läuft wie ein wild gewordener Handfeger durch die Stellung und sieht überall nach dem Rechten. Heute hatte ich auch zum ersten Mal seinen Besuch. Natürlich wie immer mit seinem Hund im Rechenbunker, wo er sich meine Unterlagen ansah. Der Qualm meines Ofens vertrieb ihn aber bald wieder. Im übrigen war er ausnahmsweise zufrieden. 24. Januar 1942 Heute Vormittag am Ofen gebrasselt. Ein Loch in die Balkendecke geschlagen und dadurch die Ofenpfeife senkrecht ins Freie geführt. Jetzt zieht er großartig. Von Qualm keine Spur mehr. Draußen -30° bis -32° Kälte. Heller strahlender Sonnenschein. Eisiger Wind. Es ist ein richtiger russischer Wintertag. 55 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Heute hat das japanische Volk den schon lang erwarteten und angekündigten Vormarsch nach Westen, Osten und Süden angetreten. Mit ungestümer Heftigkeit und Schnelligkeit geht es voran. Eine neue Großmacht ist auf den Plan getreten und kreuzt die scharfen Klingen mit den einst weltbeherrschenden christlichen Gewalten. Wer unterliegen wird, liegt auf der Hand, und ich glaube, dass diese fernöstliche und letzten Endes antichristliche Macht in der Geschichte der Endzeit noch eine besondere Rolle spielen wird. 26. Januar 1942 Man beginnt anscheinend die ganze Bevölkerung hier zu evakuieren. In Schlittenkolonnen, in denen sie ihre wenigen Habseligkeiten mit sich führen, ziehen sie auf den von uns neu geschaffenen Wegen dem nächsten Bahnhof zu. Von da zu einem unbekannten Ziel, man sagt, zur Ukraine. Wenn ihnen die Reise einigermaßen erträglich gemacht wird, kann man sie ihnen nur wünschen. Denn dort unten im fruchtbaren Süden finden sie vielleicht bessere Lebensbedingungen als hier, wo ihnen zum Frühjahr nur neue Kämpfe und Zerstörungen bevorstehen. Man wundert sich oft über den schlechten Zustand der Straßen in Russland. Kein Straßengraben, kein Unterbau, kein Pflaster usw. und fragt sich, wie so etwas in einem Lande, das Anspruch auf Zivilisation erhebt, möglich ist. Man vergisst dabei allerdings, dass hier sechs Monate im Jahr Winter ist, von der Erde und von gut ausgebauten Straßen ist dann nichts mehr zu sehen. Im Gegenteil, gute Wege sind dann unabhängig vom Untergrund überall da, wo man den frischen Schnee wegschaufelt oder pflügt. Der harte Schnee ergibt dann für fast die Hälfte des Jahres eine ausgezeichnete Wegeunterlage, wie wir es an unseren Wegebauten durch Feld und Wald erfahren haben. 27. Januar 1942 Der Winter scheint auf seinem Höhepunkt angelangt zu sein: -30°, strahlende Wintersonne, nur um die Mittagszeit beginnen die Temperaturen unter ihren wärmenden Strahlen etwas zu steigen. In den letzten Tagen kam wenig Post. Man sagt, unser Feldpostamt habe gebrannt. Möglich, dass einiges verlorengegangen ist. 28. Januar 1942 Heute geht die Kälte langsam zurück. Gegen Abend nur noch -20° und richtig angenehmes Wetter. Der Himmel bewölkt, ein wenig Wind, und 56 Wolfgang Buff, Vor Leningrad von nun an haben wir wieder jeden Tag etwas zu schießen und Tagesmeldungen mit dem Vermerk: „Eigene Artillerie-Tätigkeit“. 29. Januar 1942 Bei milder Temperatur (-12°) haben wir heute eifrig mit Hammer, Meißel und Hacke durch die Balkendecke und die frostharte Erde, die unseren Bunker bedeckt, ein Loch gearbeitet, etwa zwei Hand groß, und eine Glasscheibe darin eingesetzt, die uns der Hauptmann als Kostbarkeit vermachte. Nun fällt ein breiter Strahl Tageslicht auf unseren Plantisch, so dass man gut daran arbeiten kann. Sonst ist es zwar ohne künstliche Beleuchtung ringsum noch dunkel in meiner Behausung, aber man spürt die Finsternis drinnen schon gebrochen. Es ist Helligkeit am Plantisch, Dämmerung an den lehmbraunen Erdwänden neben ihm und Finsternis noch unter ihm. Heute zum ersten Mal nach vielen Monaten bei Tageslicht daran gearbeitet, ein Wunder, das allgemein bestaunt wird. Die Post kommt nur spärlich, sie brachte einen Brief von Onkel Paul vom 28.12. Von ihm und von anderer Seite hörte ich, dass man daran geht, die Glocken einzuschmelzen. Es geht wieder hinab für die Kirche in Stille und Demütigung. 30. Januar 1942 Heute war hier die Verleihung der Winterspende für die Wehrmacht. Es gab gute Pullover, Handschuhe, Pulswärmer usw., so dass nun auch die Kameraden, die von Hause aus nichts haben, gut versorgt sind. Ich nahm natürlich nichts. Neben vielen alten waren auch manche guten Sachen dabei, deren Abgabe ein großes Opfer gewesen sein muss. 31. Januar 1942 Die gestrige Führerrede hörten wir im Chef-Bunker. Sie brachte nichts Besonderes, als dass der Führer genauso sehnlichst auf das Ende des Winters wartet wie wir. Bald kommt der Frühling erst im Süden und dann im Norden; dann werden Truppen und Material zur Front strömen, und unser Siegeszug wird unaufhaltsam fortgehen. Auch in dieser Rede fehlte nicht die Klage über das bittere Schicksal, das alle seine Bemühungen um eine Zusammenarbeit mit England - ein Leitsatz seiner beabsichtigten Politik - zunichte gemacht habe. 57 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Der Wehrmachtsbericht der letzten Tage meldet weiter andauernde Kämpfe an der weiten Winterfront, die wie es scheint, recht wechselvoll verlaufen. Einige Einbrüche sind dem Russen gelungen, aber man hat sie stets abriegeln bzw. sein Vordringen zum Stillstand bringen können. Wie anders hatte man sich doch den Kriegsverlauf hier während des Winters vorgestellt. „Im Osten bei Schnee und Eis nichts Neues“, hatte man zu hören erwartet. Stattdessen merkt man nun immer wieder, dass der Russe den Winter als seine große vielleicht letzte Gelegenheit ansieht, und wie er mit dem Einsatz aller noch verfügbaren Kräfte einen Durchbruch unserer Front zu erzwingen versucht. Anstatt Ruhezeit oder Pause sind diese Wintermonate Tage der Krise, an denen sich das Schicksal des Krieges entscheiden wird. 2. Februar 1942 Heute gab es wieder allerhand Rechenarbeit und Vorbereitungen. Gegen Abend als Letzter zum Sauna-Bad in S. (Sinjawino), das ich für mich allein hatte und auch wirklich gründlich und angenehm ausnutzen konnte. Wunderbarer Rückweg bei milder Kälte (-20°) durch die vom aufgehenden Vollmond sanft beschienene Schneelandschaft. Der Himmel ist wolkenlos und klar, doch ohne das frostharte Glitzern der Sterne und den eisigen Ostwind. Die kristallartige Vereisung der Bäume und der ganzen Außenwelt ist bei dem milden Wetter der letzten Tage (zeitweise bis unter -11°) verschwunden, und man sieht wieder die gewohnten Umrisse und Farben. Haben wir den Höhepunkt des Winters vielleicht schon hinter uns? Heute kam wieder Post an vom 17. Januar, während alles vom 2. ab noch fehlt. Dieser Tage sandte ich ein Tagebuch an euch. Fast jeden Tag gibt es zum Essen irgendeine Sonderzulage. Gestern Aprikosen als Nachtisch. Heute bringt die Küche sogar ein kleines mit Milch gebackenes Weißbrot für jeden. Wir können uns wirklich nicht beklagen. 3. Februar 1942 In den vergangenen Tagen weiter angenehme Temperaturen (zwischen -12° und -20°). Eine merkwürdige Begleiterscheinung ist dabei, dass viele von uns erkältet sind. Mir geht es auch so, zum ersten Mal unseres Hierseins. 58 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Unsere „Einkäufer“ (Wm. Kistners und Uffz. Nelte), die fast vier Wochen in Lettland waren, um nützliche Dinge für uns zu beschaffen, sind endlich zurückgekehrt. Tatsächlich mit unerwartetem Erfolg. Schokolade, Süßigkeiten, Zigaretten, Streichhölzer, Branntwein und Likör haben sie in reichlichen Mengen mitgebracht, so dass unsere Kantine diese Artikel zur allseitigen Freude verkaufen kann. Fast alles stammt aus Riga. Es ist fast unbegreiflich, dass diese Stadt, die seit einem halben Jahr von unseren Truppen besetzt und Etappenort für ein Millionenheer ist, immer noch solche Vorräte besitzt. Unsere Abteilung hat einen ganzen Waggon Waren herangeschleift, es ist also noch mehr zu holen. Unsere „Einkäufer“ sind natürlich gleich wieder neu auf Tour gegangen. 4. Februar 1942 Stiller Tag. Im Bunker gearbeitet, d.h. eine neue Nische in die Wand geschlagen, die als Platz für Telefon und Mappen dienen soll. Draußen und an den Fronten ist es sonderbar ruhig. Anbei ein recht interessanter Brief von Monsieur Sahul aus Lanvic/ Le Havre. Er bestätigt den Bericht über die Zerstörungen in Le Havre, der in den Zeitungen erschienen war. 5. Februar 1942 Trotz hellem Sonnenschein milde Temperaturen! Sonnenaufgang 8.30 Uhr, Sonnenuntergang 16 Uhr, heute den ganzen Tag an einem zweiten Schießplan gearbeitet. Ich benutze die stille Zeit, um alle nur denkbaren Verbesserungen zu treffen, die in den entscheidenden Tagen und Stunden unsere Arbeit erleichtern werden. 7. Februar 1942 Gestern und heute überhaupt nicht geschossen. Dafür habe ich mich ein wenig als Pistolenschütze geübt. Ich trage jetzt neuerdings so ein Instrument, und da muss man wohl oder übel auch damit umgehen können. Meinen Karabiner habe ich nun nach zweieinhalb Jahren Krieg abgegeben, ohne damit ernstgemeinte Schüsse abgegeben zu haben. Anbei ein Bildchen aus Petit Roeulx. Es stellt unsere Wettannahme dar, die ich mit Behler zusammen im Rechenzelt aufgemacht hatte. Gesetzt wurde auf ein Pferderennen, und ich gewann dabei 40 RM, die natürlich in die Batterie-Kasse gingen. Es war ein fröhliches Fest, so recht zum Abschluss der schönen Tage in Belgien. Kurze Zeit danach kam der Abmarsch. 59 Wolfgang Buff, Vor Leningrad An Albrecht sandte ich einige „Papyrose“, russische Zigaretten aus Riga. Nur als Kuriosität, denn ich glaube kaum, dass er Geschmack daran finden wird. 8. Februar 1942 Milde Temperatur (-12°) und leichtes Schneetreiben den ganzen Tag. Viel geschossen. Der Feind scheint auch in unserem Abschnitt lebhafter zu werden. Eben brachte das Radio die Nachricht vom russischen Angriff auf Schlüsselburg und auf das deutsche Ufer des Ladoga-Sees. Sie wurden glücklicherweise abgeschlagen. Der Russe versucht anscheinend, wie damals im Oktober, Leningrad zu entsetzen. Heute sollte ich mit dem Chef zur Protze fahren, besuchsweise. Hatte mich einesteils gefreut, mal etwas anderes zu sehen zu bekommen, aber es wurde schließlich doch nichts daraus. Also ein andermal, wenn es ruhiger ist. 10. Februar 1942 Mildes Wetter und leichtes Schneetreiben. Gang nach S. (Sinjawino), wo sich doch noch eine Waschfrau fand. Auf dem „Artillerie-Weg“, der von uns im Schnee quer über die Felder angelegt und durch Schutzhecken aus Tannen auf beiden Seiten gegen Schneeverwehungen geschützt ist, ging ich zurück dem Wald entgegen, der in seinen dunkelgrünen Umrissen der Tannen schon vorfrühlingsmäßig vor mir liegt. Bis zu ihm hin zieht sich von den braunen Hütten des Dorfes die weite Schnee-Ebene in wunderbarer Klarheit. Die Luft ist mild und klar. Bis in unendliche Ferne, wo Wald- oder Hügelgelände den Horizont begrenzen, schweift der Blick. Dort wo die Hochspannungsleitung mit ihren spitzen Masten hingeht, muss Leningrad liegen, doch noch in weiter Ferne. Das heiß umkämpfte Neva-Ufer liegt noch hinter jenen Hügeln. Es scheint ruhig an den Fronten ringsum, und eine Ahnung des Friedens liegt auf der weiten Landschaft. Nur das kurze Aufbellen der Kanonenschüsse, das Gurgeln der davonsausenden Granaten stört von Zeit zu Zeit die feierliche Stille. Dann zeigt der weiße Pulverqualm, der irgendwo zwischen dürftiger Tarnung von Tannengrün sich abhebt, wo das Verderben bringende Geschoss seinen Lauf begonnen hat. Der Himmel ist mit Wolken verhangen. Stahlblau erscheinen sie, und viel Schnee ist in ihnen geborgen. Aber dort im Westen über den dunklen Wipfeln des Tannenwaldes ist die graue Decke zerrissen. Dort leuchtet ein tiefes Gold über dem Horizont hervor, während die dem Untergang 60 Wolfgang Buff, Vor Leningrad sich neigende Sonne noch von Wolken verhüllt ist. Doch ihre milden Strahlen treten schon hervor, nach unten in schimmerndem Golde, nach oben in purpurviolett und dem zartesten Rosa in den wunderbarsten Farbtönungen. Auf der weiten Schneefläche wiederholt sich das Farbenspiel. Wo eine kleine Bodenwelle oder Anhöhe ist, da sieht es aus, als hätte ein Maler die prächtigsten Farben auf den Schnee gezaubert. Doch es soll noch schöner und geheimnisvoller werden, denn siehe, ehe die Sonne versinkt, bricht sie noch einmal hinter der dunklen Wolkendecke hervorkommend über den Horizont in strahlender Schöne hervor und verklärt Himmel und Erde mit einer Fülle von Licht und Schönheit. Es ist das Loblied dieses Landes, der „Vesper-Chor“, der von den Wellen und Beben der Ehrfurcht getragen wird. Es ist wie eine heilige Anbetung, die die Schöpfung dem Schöpfer darbringt. Wer sollte da nicht einstimmen? Ich bin meinem Ziel nähergekommen. Unsere Batterie feuert. Hart bellen die Kanonenschüsse, und weißer Pulverqualm steigt zwischen den Tannen empor. Dazu Eisengeklirr und Kommandorufe. Und wie ich ankomme, ist die rauhe Wirklichkeit wieder da. Ich sehe, wie sie sich mit der schweren Last der Granaten durch den tiefen Schnee abmühen. Ich sehe und höre Befehle und Kommandos hin und her fliegen. Und doch, inmitten des Gewühles, richtet man an mich die Frage: „Du kommst von der dritten? Hast du den Sonnenuntergang gesehen? Er muss herrlich gewesen sein, hier im Wald waren auf einmal die Wipfel der dunklen Tannen mit leuchtendem Purpur übergossen.“ Wie groß muss der Friede sein, der nach dieser Zeit über dem stillen Lande einmal ruhen wird. Wehe allen, die ihn gebrochen haben. 11. Februar 1942 Weiter mildes Wetter, nicht geschossen. Am Abend saßen wir zusammen im Bunker vom Chef. Er ließ uns eine Abhandlung über die russische Artillerie vorlesen, woraus hervorgeht, dass sie weit stärker war, als man ursprünglich angenommen hatte. Denn das bisher von uns erbeutete Geschützmaterial ist schon um vieles größer als der angenommene Geschützbestand überhaupt. Mitten hinein kam die Sondermeldung von der Erstürmung Singapurs durch die Japaner. Welch weltgeschichtliches Ereignis, das ohne Zweifel eine neue Epoche in der Geschichte Ost-Asiens einleitet, hat damit stattgefunden! Seine Folge wird Japans unaufhaltsamer Vormarsch nach Niederländisch Indien und Australien, vielleicht auch nach den indischen Besitzungen Englands sein. Die britische Vormachtstellung in Ost-Asien ist unwiederbringlich dahin. Japan ist uneingeschränkt an deren Stelle getreten. So günstig 61 Wolfgang Buff, Vor Leningrad auch diese Entwicklung der Dinge für unsere augenblickliche Lage scheinen mag, so ist sie doch aufs Ganze gesehen tragisch und tief bedauerlich zu nennen. Eine heidnische Macht ist es, die den Bruderzwist christlicher Völker ausnützend, zum Vormarsch antritt. Die Philippinen, der einzige christliche Staat Asiens, sind unter seine Herrschaft geraten. Niederländisch Indien und Australien stehen in derselben schweren Gefahr. Ja, noch viel weiter sind die Ziele Japans gesteckt, denn das Land des Sonnenaufgangs glaubt sich berufen, über die ganze Erde in der Gestalt seines göttlichen Kaisers zu herrschen. 12. Februar 1942 Die Abwesenheit des Chefs dazu benutzt, in seinem etwas größeren Bunker den Plantisch neu zu überziehen und instandzusetzen. Darauf wird anstelle des inzwischen arg verschmutzten und zerarbeiteten Planes auf dem großen Rechentisch ein neuer Schießplan angelegt und zum praktischen Gebrauch direkt über mein Lager gehängt. Überdies habe ich in den vergangenen Tagen noch zwei Schusspläne mit Karten 1 : 50 000 angefertigt, von denen einer beim Hauptmann und einer bei mir hängt. Die Arbeit an diesen und anderen kleinen Verbesserungen machte eigentlich nur Freude. Heute wurden wieder zwei Säcke mit etwa 150 Stücken der Wollsammlung verteilt. Wäsche, Strümpfe, Pelzwesten, Schals, Pullover usw. zum großen Teil sehr gute und wertvolle Stücke. Welch ein Jammer, dass diese unersetzlichen Sachen jetzt erst kommen, wo man kaum noch Wert darauf legt und ohne Zweifel vieles nicht mehr die entsprechende Verwendung finden kann. Doch die Opferbereitschaft, die aus allem spricht und in vielen beigefügten Zuschriften zum Ausdruck kommt, ist zu Herzen gehend, ja erschütternd. Wir können stolz sein auf unsere Heimat. 13. Februar 1942 In der vergangenen Nacht ein wenig geschossen. Tagsüber ruhig und mildes Wetter (-5°, ein lange nicht mehr erreichter Wärmerekord). Auch die Post findet jetzt wieder den Weg zu uns. Heute kamen eure lieben Briefe vom 16.1. und Mutters Paket mit Strümpfen, Honig, Plätzchen und Speck. Für alles herzlichen Dank, aber macht euch bitte keine Sorge, ich bin jetzt wirklich allzu gut versorgt. Joachim fragt, welche Waffengattung er sich bei der Musterung aus- 62 Wolfgang Buff, Vor Leningrad suchen soll. Wie wäre es denn mit der Artillerie? Ich bin dabei jedenfalls nicht schlecht gefahren und habe es noch nie bereut, dabei zu sein. Sonst wäre auch die FLAK zu empfehlen, und wenn man viel lernen will, was immer von Nutzen ist, dann sieh zu, dass du zu den NachrichtenTruppen kommst. Wer die Wahl hat, hat die Qual, aber ich glaube, sie wird dir wohl von dem Gutachten des Arztes abgenommen werden. 14. Februar 1942 Stiller Tag, (-3°). Abends Gang nach S. (Sinjawino), wo ich noch jemand gefunden habe, der mir die Wäsche gut gewaschen hat. Das abendliche Dunkel wurde nun von den vielen und vielfarbigen Leuchtkugeln zerrissen, die ringsum an den Fronten Irrlichtern gleich aufstiegen. Ebenso wurde die große Stille durch das Knattern der Maschinengewehre und Gewehre gestört. Wann wird man stattdessen wieder das Läuten der Glocken und den Gesang der Vesper-Chöre über diesem stillen Land hören? 15. Februar 1942 Es war ein stiller Sonntag heute, nicht geschossen. Ich hatte mir so viel vorgenommen, kam aber nur zu wenig. Ein Besucher löste den anderen ab. Haubrich, Dreesbach und Schrörs, jeder je eine Stunde, ganz abgesehen von den längeren Besuchen von Fresenius und Marstaller, die mir angenehmere Gäste sind. Wir unterhielten uns heute Morgen über Platons Gedanken von der Unsterblichkeit der Seele anhand des Phaidon, den ich jetzt lese. Ich glaube, dass man solche tiefen und wahren Gedanken unter allen Weisen der Heidenwelt selten findet. Heute Nachmittag kleiner Waldspaziergang bis zum Bahndamm, der unseren Wald durchschneidet. Dort, mitten im Wald, fand ich ganz räubermäßig anzusehen, einen Wohnbunker nebst Pferdebunker der Nachbar-Batterie. Daneben bauen sie aus riesigen Baumstämmen ein Sauna-Bad. Auch bei uns wird eifrig gebaut. Blockhäuser werden mit primitiven Mitteln aufgerichtet. Sie sollen uns später, wenn Tauwetter und Grundwasser das Leben in den Bunkern unmöglich machen sollten, als Aufenthalt dienen. 17. Februar 1942 Meine neue Lagerstatt, die wir aus leeren Geschosskörben und zwei mit dem kostbaren Stroh aufgefüllten Hafersäcken gebaut haben, gleicht einem heimatlichen Kanapee. Es schläft sich herrlich weich und warm 63 Wolfgang Buff, Vor Leningrad darauf, und wenn man sich umdreht, knistern die strohgeflochtenen Granatkörbe unter einem und knacken wie eine alte Matratze. 18. Februar 1942 Nachts -27°. Tagsüber herrlicher Sonnenschein und milde Temperaturen bis -4°. Vormittags etwas geschossen, nachmittags mit meinen Schülern (Klingelmann und Domeier), mit denen ich augenblicklich Kartenkunde durchnehme, einen geländekundlichen Spaziergang gemacht zum S.-See (Speichersee), der etwa vier Kilometer von hier tief im Walde liegt. Über die schnurgerade Waldstraße nach K., über den „Artillerie-Weg“ zurück. Überall ist Leben in den von Natur aus so einsamen Wäldern. Zwischen Tannen und Birken vom Schnee meterhoch bedeckt, liegen überall die Bunker und die aus rohen Baumstämmen gezimmerten Blockhütten der Soldaten. An den Wasserlöchern des zugefrorenen Sees tränken sie ihre zottigen Pferde. 19. Februar 1942 40 Schuss abgegeben. Auch bei der Infanterie ein unruhiger Tag. Wetter tagsüber mild. Die neueste Errungenschaft besteht aus Kannen und Waschschüsseln für unsere Stellungen. Auch bei mir ist die Sonderkartuschhülse aus Zink jetzt durch eine leuchtende Aluminium-Waschschüssel abgelöst. Joachim am 2. Februar gemustert: KV (Kriegsverwendungsfähig, Anm. d. Red.) - Ers. Res. I. - bespannte leichte Artillerie. Er hat gut ausgewählt, und es wäre zu wünschen, dass er auch zu dieser Waffengattung käme. Aber bis dahin hat es noch viel Zeit. Dann werden wir schon weiter sein, und die Wogen des Krieges werden sich - wie wir hoffen - gelegt haben. Heute kamen eure Briefe vom 7.1., 9.1., 1.2. und 5.2. alle auf einmal an. Wie lieb und herzbewegend hast du mir geschrieben, liebe Mutter. Ich muss deine Zeilen immer und immer wieder lesen. Ja ich weiß, dass du an mich denkst, wenn du auch weniger zum Schreiben kommst. Was wir in den vergangenen Wochen und Monaten erlebt haben, kann ich nicht anders als eine besondere Erhörung und Bewahrung auffassen. Während man mit dem Schlimmsten rechnen musste und ringsumher der Kampf wechselvoll hin und her wogte, blieb es an unserem Frontabschnitt, der doch früher das Ziel von andauernden Angriffen war, bis auf wenige Tage ruhig, und so ist es heute noch. Alles ist so anders 64 Wolfgang Buff, Vor Leningrad gekommen, als man erhofft oder befürchtet hatte, und wenn man später einmal unser Schicksal hier überdenken wird, wird es einem wie ein Wunder vorkommen. 21. Februar 1942 Hoher Besuch! Der General kroch sogar in einen unserer Bunker herein. Herr Holzschneider, ein waschechter Krefelder, schilderte anschaulich, wie der einen Buckel machen musste, um durch die Tür zu kriechen, „wie eene Pik Sieben, genau wie ich“. 23. Februar 1942 Milder Tag, strahlender Sonnenschein, - 9°. Gegen Abend führte der Südwestwind Wolken heran, wie unsere Posten mit Freude feststellten, denn dann wird’s nicht kalt. Heute, am Tage der Roten Armee, hatte man einen russischen Angriff erwartet. Er blieb aber aus, obwohl wir während der Nacht und in den Morgenstunden vorsorglich Abwehrfeuer geschossen hatten. Tagsüber blieb alles ruhig. 24. Februar 1942 Die Ortsgruppe Asperden (der NSDAP, Anm. d. Red.) sandte ein Schriftchen mit dem Titel: „Von der Feindschaft“å (Kurt Eggers) und bittet um ein schriftliches Urteil darüber. Der Inhalt ist nun auch gerade zum Entsetzen. Feindschaft und Hass werden zu einer Tugend erhoben, deren Ausübung ein edles Werk sei. „Der Hass ist zu Unrecht als etwas Unedles, Dämonisches geächtet worden. - Hass ist eine Regung unseres Instinktes, eine Willensäußerung unserer Seele.“ Mit solchen Grundsätzen, die man wohl noch besser ausdrücken könnte mit dem alten Wort „Du sollst deinen Feind hassen und Auge um Auge, Zahn um Zahn“ will man eine neue Weltordnung aufbauen? Ich schrieb: „Was mein Urteil, um das Sie bitten, anbetrifft, so scheinen mir die vorliegenden Gedanken, so glänzend sie auch vorgetragen sind, mit dem Geiste der Deutschen wenig vereinbar“. „Du sollst deinen Feind hassen“ und „Auge um Auge - Zahn um Zahn“ sind Grundsätze einer vergangenen Zeit, die m. E. bei uns heute keine Gültigkeit mehr haben dürften.“Es wäre von verschiedenen Gesichtspunkten noch manches zu diesem Schriftchen zu sagen. Vor allem will mir nicht einleuchten, wie 65 Wolfgang Buff, Vor Leningrad auf den Instinkten des Hasses und der rücksichtslosen Selbstbehauptung eine allgemein gültige Ordnung aufgebaut werden sollte. Ein dauernder, verzehrender Kampf, der sich untereinander hassenden Völker und Systeme würde die Folge sein. Das aber wird wohl niemand von uns wünschen. Es würde mich interessieren zu hören, wie sich andere Kameraden geäußert haben. Das Nordlicht, von dem ihr schriebt, haben wir Mitte September auch hier deutlich beobachtet. Es war in der Art eines riesigen fächerartigen Strahlenbündels in mäßiger Helle vor Beginn der Dunkelheit anzusehen. 25. Februar 1942 Impfung gegen Cholera. Die ersten Schritte auf Skiern gewagt. Ansonsten ruhiger Tag. Nicht geschossen! 66 Wolfgang Buff, Vor Leningrad 26. Februar 1942 Temperaturen sinken wieder auf -26°. Tagsüber strahlender Sonnenschein (-1°). Zum Karabiner-Übungsschießen nach der B-Stelle (Beobachtungs-Stelle, Anm. d. Red.), wo uns Nelsbach in seinem winzigen Beobachtungsbunker mit einigen Schnäpsen in aller Leutseligkeit traktierte. Aussicht über das Meer und einige zerstörte Arbeitersiedlungen. Die Kirche in S. (Sinjawino), die leer und entweiht war, wie hier stets üblich, hat man nun gesprengt, um sie als Steinbruch zu benutzen. Sie ist zwar das einzige Gebäude aus Ziegelsteinen, die man für Ofenbauen usw. benötigt, das im Ort existiert, doch gibt es im nächsten Umkreis auch noch andere Gebäude bzw. Reste davon, die demselben Zweck dienen könnten. 28. Februar 1942 Nach mehr als vier Monaten unseres Hierseins habe ich nun zum ersten Mal unsere Protzenstellung gesehen. Eine richtige Petersburger Schlittenfahrt brachte mich hin. Mit der Küche ging es gestern in einstündiger Reise auf dem zweispännigen Pferdeschlitten durch endlose Wälder. Ein scharfer Wind mit 13° Kälte pfiff um unsere Ohren. Jedoch warm in Decken gepackt, ließ es sich auf dem Schlitten aushalten. Viel Trab gefahren. Beim Dörfchen K., das recht anmutig mit seinen 50 Holzhäusern auf einer kleinen Anhöhe liegt, ist unsere Protzenstellung im mächtigen Hochwald versteckt. Die Bäume und Hügel ringsum schützen vor eisigen Winden, so dass man ein Gefühl der Geborgenheit hat. Die Bunker liegen alle sehr dicht zusammen. Konnten wegen des weichen Sandbodens tief ausgebaut werden, so dass man fast überall darin stehen kann. Tageslicht meistens vorhanden, es sind für unsere Begriffe die reinsten Schaufenster. Das Innere mit Säcken ausgekleidet, der Fußboden meistens aus Brettern gezimmert und gut schließende Türen. Zum Schlafen gibt es die reinsten Paradies-Betten, das heißt auf Tannenstämmen ausgespannte Säcke, auf denen man wie in einer Hängematte prächtig weich liegt. Die Pferdeställe sind ebenfalls zur Hälfte in die Erde gebaut. Tausende von Stämmen mussten dafür geschlagen und herangeschleppt werden. Überhaupt ist in der Protze viel gearbeitet worden, und darauf sind die Kameraden mit Recht stolz. Sie konnten aber auch mit Ruhe ihrer Arbeit nachgehen, obwohl es sogar dort im Anfang häufig Beschuss gab. Man 67 Wolfgang Buff, Vor Leningrad war allgemein guter Stimmung und voll Zuversicht. Hat man den Winter bisher überstanden, so wird es auch weitergehen; man weiß es dankbar zu schätzen, dass uns Stellungswechsel und Abwehrkampf in diesen harten Wintertagen erspart blieben. Heute wieder mit der Küche zur Feuerstellung. 1. März 1942 (Sonntag Reminiscere) Ein Sträußchen frischer Weidenkätzchen, die ich gestern von der Schlittenfahrt mitbrachte, steht vor mir. Draußen 10° Kälte und doch schon die ersten Vorboten des Frühlings. Auch die Tannen treiben schon das erste frische Grün. Also, der Frühling kommt und der Winter geht, wenn auch sein Fortzug noch eine Weile dauert und mit mancherlei Sturm und Wetter begleitet sein wird. Aber seine Macht ist gebrochen, und ich glaube, er ist schon ein überwundener Feind. 2. März 1942 Bei wolkenverhangenem Himmel und leichtem Schneesturm richtige März -Temperatur (-2°). Sauna-Bad. - Heute Abend zum ersten Mal einen kleinen Ski-Ausflug in den Wald gemacht. Das Skilaufen kommt mir nicht schwierig vor; nach den ersten Schritten konnte ich meinen Begleitern (Fresenius und Haubrich) bald beibleiben. Mit Möllers Hilfe ein größeres Fenster in unsere Bunkertüre eingesetzt. Hptm. Richter wieder zurück. Gleich gab’s wieder Betrieb und des Abends nach längerer Zeit geschossen. Landung der Japaner auf Java. Damit steht die letzte holländische Besitzung kurz vor ihrem Fall. Die Epoche des Niederländischen Kolonialreiches ist zu Ende gegangen. Gestern noch - das reiche seebeherrschende Holland, heute ist es schon nichts mehr. „Mene Tekel Upharsin“ - das Urteil ist gesprochen über die christlichen Völker und niemand kann sich seiner Vollziehung entziehen. 4. März 1942 Bei strahlendem Sonnenschein und winterlichen Temperaturen (-17°) eisiger Nordwind, der starke Schneeverwehungen hervorruft. Jetzt erweist sich die Nützlichkeit der Schneehecken längs der Wege. Zweite Impfung. Gemütlicher Abend mit Deller, der vom Studienurlaub zurückgekehrt ist; er wusste allerhand aus der Heimat zu erzählen. 68 Wolfgang Buff, Vor Leningrad In einer interessanten Darstellung unseres Kampfes in Norwegen erscheint mir der Erlass des Führers bemerkenswert, in dem er die Freilassung der norwegischen Gefangenen damit begründet, dass im Gegensatz zu Polen kein einziger Fall von Misshandlung der Gefangenen und Verwundeten oder von hinterlistigem Kampf der Zivilbevölkerung vorgekommen sei. 5. März 1942 Gestern Abend bringt das Radio die Nachricht von dem bedauerlichen englischen Luftangriff auf Groß-Paris. 600 Tote und 1 000 Verletzte. Nationaler Trauertag wurde angeordnet. Heute Abend erleuchtete ein prächtiges Nordlicht den dunklen Nachthimmel. Wie ein geheimnisvoller weiß schimmernder Regenbogen breitet es sich am Horizont aus. Darüber hinaus noch fächerartige Lichtbündel, die hoch hinaufreichen. 6. März 1942 Es ist noch recht kalt, aber schon erträglich (-15°). Gegen Abend zweistündiger Ski-Ausflug mit Fresenius durch verschneite Wälder und Moore. Es ist so still und friedlich in der Natur, zumal man keine Menschenseele sieht oder hört, während noch wenige Kilometer vor uns die vordersten Linien liegen, auf die das russische Granatwerferfeuer unablässig hämmert. Und wir fahren Ski - zum Teil nicht einmal mit Waffen. Am Rande des Moores fanden wir ein notgelandetes deutsches Flugzeug. Es lag wohl schon einige Zeit dort, denn es steckte tief im Schnee. Aber ziemlich unversehrt. Der Flieger scheint gut davongekommen zu sein. Es handelt sich um eine Messerschmidt-Maschine. Dass die Kälte hier trockener und dadurch leichter zu ertragen ist als bei euch, ist richtig. Doch macht sich auch hier jeder Kältegrad empfindlich bemerkbar. Wir spüren die Temperaturen unter 10° als warm, wo man ohne Handschuhe und Kopfschützer geht. Von -10° bis -15° als mild, -15° bis -20° als erträglich, jedoch muss man sich dabei schon gut einmummen, von -20° bis -30° ist es trotz aller Vermummungen unangenehm, draußen zu sein, denn der Atem gefriert einem, und man muss sich dauernd die Nase reiben, sonst wird sie weiß. Von -30° an und darüber finde ich es unerträglich. Da ist es für unsereinen direkt gefährlich, draußen zu sein. Glücklicherweise haben wir solche Temperaturen 69 Wolfgang Buff, Vor Leningrad nur selten gehabt, vor allem sind wir nicht über -35° heruntergekommen, während anderswo -45° gemessen werden sein sollen. 11. März 1942 -10°, bedeckter Himmel. Leichter feiner Schneefall. Gestern Abend gab es im Chef-Bunker einen Uffz.-Abend, den der Hauptmann zu seinem 54. Geburtstag veranstaltet hatte. Zu 21 saßen bzw. hockten wir in einem engen Raum. Vier Flaschen französischer Cognac, die noch aus der Frankreich-Zeit stammen, wurden getrunken. Ich war Mundschenk für die ganze Korona und konnte mir auf diese Weise die Quantitäten etwas kürzen. Trotzdem war mir um 23.30 Uhr der Kopf recht schwer, aber mehr vom Dunst und Qualm als vom Alkohol. Im übrigen war es aber ganz nett. Der Hauptmann war sehr vergnügt und glücklich im Kreise seiner Unteroffiziere. Er schreibt jetzt an einer Geschichte der Batterie und erbittet von jedem Beiträge. Die Stimmung war allgemein zuversichtlich. Man sieht den Winter als überstanden an und geht dem Frühjahr mit großen Erwartungen entgegen. U. a. wurde aber auch die Meinung laut, dass wir nach Ablösung und Auffrischung im Sommer den nächsten Winter dann wieder einige hundert Kilometer östlich von hier verbringen würden. Dazu kann man ja nur sagen: „Gott bewahre uns davor!“ Petersburg scheint doch wohl am Ende seiner Kraft zu sein. Wenn die Eisstraße über den Ladoga-See demnächst unpassierbar wird, und damit die letzten Zufuhrmöglichkeiten aufhören, dann darf man wohl den Zusammenbruch der Verteidigung erwarten. Schon jetzt sind nach Aussagen von Überläufern und Berichten der schwedischen Zeitungen die Zustände dort entsetzlich. Keine Beleuchtung in der Stadt, keine Kohle. Hunger und Seuchen raffen die Menschen in Scharen dahin. Eine Göteburger Zeitung schrieb, dass das, was Petersburg in den vergangenen Monaten ertragen habe, das schlimmste Schicksal sei, das in diesem Krieg bisher von einer Stadt ertragen worden sei, viel schlimmer noch als London oder Rotterdam. Java hat kapituliert. Niederländisch Indien damit endgültig verloren. Rangoon hat sich ergeben und ganz Burma wurde besetzt. Was wird Japan weiter tun? Wird es schon seine Hand ausstrecken nach Indien und nach Australien? Wird es als unser Bundesgenosse Russland in seinen östlichen Gebieten und auf Sachalin angreifen? 70 Wolfgang Buff, Vor Leningrad 12. März 1942 Der russische Winter will uns noch einmal mit -28° und mehr erschrecken, aber wir wissen, seine Zeit läuft bald ab. In verschiedenen Büchern fanden wir die Schilderung, dass am 20. März der Ladoga-See im Auftauen begriffen war, und dass dicke Eisschollen die Neva heruntertrieben; also kann es sich bei dieser Kälte jetzt nur um einen Abschiedsgruß des bösen Generals Winter handeln. Am Nachmittag mit Hptm. Richter etwas Erd- und Himmelskunde betrieben. Des Abends Messungen am Polarstern zur Errechnung der Missweisung durchgeführt. Als wir nach drei bis vier Stunden Messungen wieder in meinen wohl durchwärmten Bunker kriechen konnten, hätten wir kein Königreich dagegen eingetauscht. Als Ersatz für den Postenmantel, der an unsere Infanteristen ging, habe ich eine dritte Decke erhalten. 15. März 1942 (Sonntag Laetare) Heute ein stiller Sonntag, an dem ich ganz alleine war. Marstaller zur Protze und zur Kranzniederlegung auf dem Divisionsfriedhof in M. (Mga). Heute ist Heldengedenktag. Wir hatten hier in der Feuerstellung eine kurze Gedenkfeier im Freien bei -26° und eisigem Nordwind. Ich gedachte auch an Konstantin Peters und an Fritz Bremer, dessen verheißungsvolle Laufbahn nun so schnell beendet ist. Sein Tod hat mich sehr bewegt. 16. März 1942 Unruhiger Tag; vorne war ein wenig los, aber gegen Abend ist alles wieder beruhigt. Uffz. Niedusch an Diphterie gestorben. Ein lieber, hoffnungsvoller Mensch von der zehnten Batterie. 17. März 1942 Vorne tat sich was. Auch Helmut Fresenius hätte beinah etwas mitbekommen. Er kam heute zurück und verbrachte wie stets nach dem VB seinen ersten Abend bei uns. Auch der Spieß (Hauptwachtmeister, Anm. d. Red.), der von der Protze zum Besuch unserer Infanteristen heraufgekommen war, gesellte sich für einige Zeit zu uns. Er schimpft immer viel auf die Feuerstellung, aber wir sammelten glühende Kohlen 71 Wolfgang Buff, Vor Leningrad auf sein Haupt. Anscheinend mit Erfolg, denn während er sonst unsere Wünsche stets mit überlegenem Lächeln abtat, kam er am anderen Morgen, um sich hier zu verabschieden, und fragte freundlich, ob wir noch irgendwelche Wünsche für die Protze hätten. So schieden wir im besten Einvernehmen. 20. März 1942 Theklas Brief vom 9. des Monats kam besonders schnell; er ist wohl auch mit der guten Ju hier eingetroffen. So habe ich gleich die neuesten Nachrichten von euch, dass es allen und auch der Mutter nach überstandener Nierenkolik wieder gut geht, dass ihr Vaters Geburtstag in althergebrachter Weise sicher auch mit den ersten Schneeglöckchen feiern konntet und Vaters Augenlicht weiter gute Fortschritte macht. Thekla beglückwünschte mich zum neuen Bunker, Gotthard fragte, wie der viele Besuch auf engem Raum überhaupt möglich wäre, und in anderen Briefen kam zum Ausdruck, dass ich meine kleine Erdbehausung sicher schon liebgewonnen hätte. - Ich sehe also, ich muss euch mal eine nähere Beschreibung darüber geben, damit ihr sie euch etwas besser vorstellen könnt. Zwischen den Zeilen werdet ihr auch merken, dass ich meine „Bleibe“ wirklich schätze und für ihren Schutz dankbar bin. Sie ist mir wirklich trotz aller Kleinheit und Niedrigkeit ans Herz gewachsen, ist sie doch seit mehr als fünf Monaten meine Heimat im russischen Winterwald. 72 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Wenn man nun vom schneebedeckten Waldboden zu ihr hinunter will, dann muss man zunächst drei vereiste Stufen hinabsteigen, die in einem kleinen mit Stämmen überdachten Gang führen, in dessen steinhart gefrorene hintere Seitenwand eine Nische geschlagen ist, in der zu faustlangen Stücken zersägtes Birkenholz seiner Verfeuerung wartet. An der Stirnwand des Ganges ist ein graugrünes Brett mit der weiß gemalten Aufschrift „Kart. s FH 18“ zu sehen, das sich bei näherem Betrachten als Deckel einer in die Wand eingelassenen Munitionskiste entpuppt. Allerhand notwendige Dinge, Karbid, Nägel, Schrauben, leere Konservenbüchsen, die im Bunker selbst zu viel Platz wegnehmen würden, werden darin aufbewahrt. Ansonsten ist immer etwas trockenes Holz darin zum Feueranmachen. Zur rechten Hand, dem Birkenholzstapel gegenüber, ist also die berühmte Bunker-Türe, die Peter Lindens Kunstfertigkeit im Dezember ebenfalls aus Kartuschkisten, Brettern und den daran befindlichen Schrauben und Scharnieren meisterhaft zusammengebracht hat. Auch ein kleines Fenster, dessen Glasfläche wir jetzt noch verdoppelt haben, hat er darin angebracht, und mit den Filzstreifen, die früher in den Munitionskisten waren, hatte er es fein abgedichtet und die Tür von innen damit ausgeschlagen. Doch treten wir nun ein, allerdings geht das nur, wenn man sich demütig bückt, denn das Türchen ist nur knapp einen Meter hoch, und dann geht es noch gleich beim Eintreten eine Stufe hinab. Die Klammer wird auf die Tür gemacht, so dass diese mit dem weichen Filzbeschlag lautlos und fest schließt. Geöffnet werden kann sie nur von innen, und dann ist man darin im Käfig, in der Klause, in der Zelle oder wie man sich sonst auszudrücken beliebt. Wenn ich meinen verehrten Gast nun auffordern würde, auf einem der beiden Feldstühlchen Platz zu nehmen, und sich in dieser Umgebung umzusehen, so würde er sich verwundert die Augen reiben und sagen: „Ich sehe nichts“. So geht es jedem, der aus der blendenden Schneehelligkeit draußen hier hereinkommt, wo nun eben auch beim hellsten Sonnenschein draußen sich nur Dämmerlicht und Dunkel paart. Doch das Auge hat sich in einigen Minuten an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt, und dann beginnen die Dinge ringsumher Gestalt anzunehmen, soweit sie nicht im immerwährenden Dunkel besonders unglücklicher Bunkerecken verborgen bleiben. Zunächst wird das Auge des Besuchers also außer dem beschriebenen Türfenster noch einen anderen Lichtschein wahrnehmen, der von der Decke kommt. Dort sind zwei nebeneinander liegende Balken je zur Hälfte ausgemeißelt, und in der so entstandenen Lücke liegt eine postkartengroße Fensterscheibe - sie war allerdings gleich beim Einbau gesprungen, aber das tat der Sache keinen Abbruch - und gibt Licht auf den darunter befindlichen Plantisch, der mit einer 73 Wolfgang Buff, Vor Leningrad dunklen Segeltuchdecke überzogen ist. Er ist unbestritten das größte Möbelstück unserer Einrichtung, nimmt mehr als ein Viertel des ganzen Flächenraumes in Anspruch, ist aber auch schließlich die Hauptsache, nicht nur als Rechentisch und Unterlage für den Kasten der Planausrüstung, sondern überhaupt als Tisch für jegliche Verrichtungen, angefangen vom Rasieren, Kaffeetrinken des Morgens bis zum Schreiben und Lesen in den Abendstunden. Manchmal sollen auf ihm auch Schnapsund Cognac-Flaschen, die noch aus Frankreich stammen, gestanden haben. Manchmal sogar der berüchtigte Wodka der Russen. Aber nun zurück zu den Raumverhältnissen: Zunächst stehen kann ein gewöhnlicher Sterblicher hier nicht, allenfalls knien, denn die lichte Höhe dieses würfelförmigen Gebildes ist 1,30 Meter und seine Flächenausdehnung ganze 2,40 Meter im Quadrat. Wenn man allerdings hier irgendwo ein Stück Fläche wahrnehmen will, dann muss man den Blick schon von den behangenen und mit allen möglichen Dingen bedeckten und geschmückten Wänden zur Decke emporheben. Dort bietet sich dem Auge des Besuchers wirklich eine wunderbare, nach schachbrettartigem Muster aufgeteilte, Deckenfläche, die es mit der köstlichsten Stuckdecke aufnehmen kann. Das weiße Geflecht aufgeschnittener Granatkörbe ist es, das wir mit Hufnägeln unter die rohe, dunkle Balkendecke geschlagen haben. Und diese neue Decke über uns verbindet nun mit einem gewissen Schutz gegen Tropfen und herabrieselnden Sand und Dreck, besonders während des Schießens, zugleich den Vorzug einer angenehmen Helligkeit und Freundlichkeit, die sie dem ganzen Bunker verleiht. Doch nun zu den vier Wänden, die wir mal der Reihe nach betrachten. Zunächst sind sie auch wie die Decke mit Geflecht von Granatkörben ausgeschlagen, ausgenommen nur ein Teil der Ofenwand, wo dies leicht brennbare Material doch zu gefährlich wäre. Dort haben wir uns mit einer Verkleidung aus Sackleinen (Hafersäcke) geholfen, die sich auch recht gut macht. In diese Wand, die man beim Eintritt zur rechten Hand hat, sind auch unsere „Spinde“ eingelassen, d.h. unten in der Wand ist eine der schon beschriebenen Kartuschkisten für Bücher und Schreibsachen, darüber eine ebensolche für Brot und Esswaren, die aus Gründen, die später noch erläutert werden, besonders dicht und sorgfältig zu schließen ist. Schließlich befindet sich noch zu oberst ein weiterer Kartuschdeckel, der die Zwecke einer Garderobe erfüllt. Er liegt immer voll von Handschuhen, Kopfschützern, Schals usw., und wenn man heraus will, gibt es jedes Mal eine allgemeine Wühlerei bis man das Seinige hat. Übrigens hatte ich noch vergessen zu erwähnen, dass die Vorderseite des Lebensmittelspindes mit einem Wandkalender und mit 74 Wolfgang Buff, Vor Leningrad einer Weltkarte praktisch und nützlich verschönert ist. Anschließend ist die Wand nun unterbrochen von dem ehemaligen Feuerloch, das heute mit einer Einfassung durch Pappdeckel - ebenfalls aus den Kartuschkisten - als Holzlagerplatz dient. Davor steht unser vielgeliebter Wärmespender der Feldofen (FO 35). Die Ofenklappe im Deckel ist gerade einer Kochgeschirrgröße angepasst, so dass man auf offenem Feuer braten und kochen kann, was wir vor allem zum Teekochen des Abends eifrig benutzen. Im übrigen heizt das Öfchen und brennt „wie verfault“, und es wäre vor Hitze nicht auszuhalten, wenn nicht an der Ofenpfeife, die senkrecht durch die Decke ins Freie geht, ein kleiner Schieber zum Regulieren wäre. Das Feuerungsproblem hat hier am meisten Kopfzerbrechen bereitet, und wir haben manche Wolke von Qualm, manche Hitzewelle, manche durchfrorene Stunde und andere Tücken des Objekts als Lehrgeld bezahlen müssen, ehe ein gewisser Grad an Vollkommenheit erreicht wurde. Links von der Ofenpfeife hängen an der Wand meine Stiefel. An Hufnägeln, die unter der Decke eingeschlagen sind, werden sie mit den Ösen befestigt, und auf ihnen liegen zum Trocknen die grauen Fußlappen. Leider zieht es trotz aller Abdichtungsmaßnahmen nämlich immer noch am Boden, und vor kalten Füßen kann ich mich bei meiner Empfindlichkeit dagegen nur retten, indem man die kalten Stiefel jedes Mal auszieht und Mutters warme Bunkerschuhe stattdessen trägt. Das hat zwar seine Nachteile, ist aber nun mal nicht zu ändern. Doch nun wieder zur Wand: Links neben den Stiefeln ist sie wieder mit Korbgeflecht ausgeschlagen, und darauf hängen, an kleinen Holzstäbchen angebracht, ganz parademäßig unsere beiden Kochgeschirre und Feldflaschen nebst Löffeln. Darunter befindet sich die Waschgelegenheit mit allem notwendigen Zubehör. Das heißt in einer in die Wand gelassenen Nische stehen drei Granatkorbböden in der Art wie kleine Körbchen. In einem befindet sich das Waschzeug, im andern das Rasierzeug und im dritten die Schuhputzartikel. Darunter schon auf der Erde ist eine dunkle Ecke zwischen der Lagerstatt und der Wand als Platz für die Waschschüssel ausgenützt. Sie wird des Morgens voll Schnee geholt, bis abends taut er dann so langsam auf, und beim Aufstehen hat man dann ein klares kühles Waschwasser, wie man es sich nicht besser wünschen kann. Die nächste, also die der Tür gegenüberliegende Wandfläche, ist nun lediglich durch zwei Dinge ausgezeichnet: Ein langes Brett, das als Regal zur Aufbewahrung von allerhand Sachen und Sächelchen dient, als da sind Benzin für Feuerzeug, Wasser und Karbid nebst Karbidlampe, Behälter für Kerzen, Batterien, Talglichter und sonstige Beleuchtungsmittel, Nähzeug, Tabak usw., den ich zum Verschenken immer griffbereit haben muss, teils Reste und ähnliche 75 Wolfgang Buff, Vor Leningrad mehr oder weniger wertvolle Dinge. Schließlich hat auf diesem Brett noch ganz links die Heilige Schrift einen Ehrenplatz. Anschließend ist der Teil der Wand, welcher noch übrig bleibt, von einem großen Wandgemälde ausgefüllt. Von weitem sieht man zwar nur eine braun umrahmte weiße Fläche mit einem großen Dreieckslineal aus Stahl mit senkrechten und waagerechten Linien, einigen großen Zahlen und unendlich vielen kleineren und dazu ein Gewimmel von Strichen und Punkten. Ja, beim näheren Zusehen, wenn sich dieses Gewirr entpuppt, wird ein jeder sehen, dass es unser Schießplan ist, der die Wand der Rechenstelle gebührend schmückt. Übrigens hat dieses Wandbrett eine ähnliche Vergangenheit wie wir. Denn früher diente es als Rauch- und Spieltisch in der vornehmen Villa, Le Havre, Rue Felix - Vaure 34, und es wird von diesen üppigen Zeiten des Wohlseins ebenso gerne träumen wie wir. Doch nun zur nächsten Wand. Da hängen zunächst Stahlhelm und Koppel an kleinen Holzstäbchen, und darüber ist wieder ein Regal zur Aufbewahrung der leeren Feldpost-Päckchen; heute sind es nur sieben an der Zahl. Ja, die Wintersachen wollen auch mal wieder den Weg zur Heimat antreten. Wahrscheinlich eher als wir. Anschließend ist noch ein weiterer Wandschmuck vorhanden: eine Übersichtskarte über Ost- und Mittel-Europa. Sie hat die Reise aus Petit Roeulx bis hierher mitgemacht und dient nun mit Reißbrettstiften, auf notdürftig zusammengezimmerte Pappdeckel der Kartuschkisten aufgezogen, als Orientierungskarte und dazu zum Bau von Luftschlössern und Traumbildern. Die Hälfte der dritten Bunkerwand wäre nun damit beschrieben, von der anderen Hälfte ist nicht viel zu sagen, denn sie wird von dem aufgeschlagenen Deckel des Planausrüstungskastens, der in seiner ganzen Breite auf dem hinteren Teil des Rechentisches steht, gebührend ausgefüllt. Jetzt fehlt aber noch die Beschreibung der vierten Bunker-Wand und das wäre wohl die interessanteste, obwohl sie durch die Tür etwas kürzer als die drei anderen ist. Gleich über der linken Kante des Planausrüstungskastens sieht man so eine Art „Bunkerstilleben“, bestehend aus einem Pappdeckel-Regal, worauf Granatkorbteller für Nägelchen und ähnliche kleinere Scherze stehen, vor allem aber den Aufbewahrungsplatz für unsere Getränkeflaschen. Augenblicklich glänzen im Kerzenlicht nur drei, nämlich eine Flasche Wodka, eine französischer Cognac und fernerhin eine Flasche Rum, womit wir des Abends unseren Tee zu würzen pflegen oder noch einen Grog brauen. Außerdem steht dort noch ein kleines Fläschchen Melissengeist, das Onkel Hermann heute 76 Wolfgang Buff, Vor Leningrad sandte, und schließlich noch unser Pinnchen zum Schnapstrinken. Es wurde hergestellt aus der Hülse einer abgeschossenen Leuchtpatrone und tut uns denselben Dienst wie das beste Schnapsglas aus feinstem Glase. Wenn ich nun noch erwähne, dass ein Strauß von frischen Weidenkätzchen neben diesen Flaschen blüht, dann wird sich wohl jeder dieses Bunkeridyll vorstellen können. Darüber ist nun noch mal ein Regal, das letzte, das es zu beschreiben gibt, mit Büchern, Heften, Zeitschriften und meiner Kartentasche, in der sich weiteres Kartenmaterial befindet, das auf eine Verwendung bei demnächstiger Rückreise wartet. Nun bleibt noch das kleine Stück zwischen „Bunkeridyll“ und Tür zu beschreiben übrig. Da wird es nun recht dienstlich, denn in einer wieder mit Korbgeflecht ausgeschlagenen Wandnische befindet sich das ewig rappelnde Telefon, das uns in den Abendstunden allerdings auch mit dem „Drahtlosen Dienst“ und schöner Musik versorgt. Neben dem Apparat befinden sich Schautafeln, Kartenbretter, Mappen, Schreibhefte und alles mögliche für den Dienstbetrieb. Darüber hängt das dritte Wandgemälde, eine bunte Karte hiesiger Gegend zum Schießplan 1: 50 000 ausgearbeitet. Darüber eine Sperrfeuertafel, und schließlich hängt noch meine Taschenuhr dort, nach der ich von morgens bis abends über die Zeit Auskunft gebe, denn richtiggehende Uhren sind hier eine Seltenheit. Nun wäre schließlich noch zu erwähnen, dass der Boden des Bunkers auch mit weißem Korbgeflecht ausgelegt ist, so dass man in Strümpfen darauf spazierengehen kann, aus demselben Material ist auch ein Papierkorb vorhanden. Unter dem Plantisch allerdings ist es dunkel; da liegen Kartenkisten, Bücherkisten - die Rechenstelle ist nebenbei auch Leihbibliothek der Feuerstellung - Rechenschieber, Richtkreise und alle möglichen Dinge einträchtig beieinander. Dazu auch mein ReiterFuttersack und mein Gepäck. Zum Schluss gibt es noch einiges über meine Lagerstatt zu sagen, die für hiesige Verhältnisse zur denkbar günstigsten Vollkommenheit gediehen ist. Auf das früher auf ebener Erde befindliche dürftige Heulager wurden Granatkörbe gelegt, darauf mit Stroh gefüllte Hafersäcke und schließlich noch eine Matte aus aneinandergenähten Filzplatten (Kartuschkisten). Darauf lässt sich wohl und warm ruhen. Über meinem Kopfende an der Wand hängt meine Taschenlampe, nur ein kleiner Fingerdruck mit der rechten Hand, dann ist es hell, zur linken ist der Telefon-Apparat des Nachts aufmontiert, und wenn es anläutet und Feuerauftrag kommt, sind alle notwendigen Unterlagen in greifbarer Reichweite. Jedoch kommt dies in der letzten 77 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Zeit selten vor. Nun muss ich schließlich noch einer Mäuse-Familie Erwähnung tun, die auch zu den Bewohnern des Bunkers gehört und seine Vorzüge zu schätzen weiß. Sie hat mir in unbewachten Augenblicken schon manches Stück Brot aufgefressen, manches Feldpostpäckchen angeknabbert und manches Riga-Bonbon gestohlen. Aber dieser Mäusekrieg gehört nun mal dazu. Sie haben mir schon manchen Streich gespielt, Dreck in mein Waschwasser gewühlt, Feldpostpäckchen vom Regal geworfen, einmal sogar einen Kochgeschirr-Deckel, der mir gerade auf den Kopf fiel und ähnliche Scherze mehr. Aber ich habe mich hin und wieder gerächt, z. B. ein Rasierklingen-Päckchen auf den Tisch gelegt, das sie anknabberten und sich dabei beinah die Schnauze blutig schnitten oder ein andermal ein Päckchen Knäckebrot, an dem sie sich eine ganze Nacht vergeblich abgemüht hatten, gerade noch rechtzeitig aus dem Brotbeutel in Sicherheit gebracht. Die Rache des Mäuse-Volkes war allerdings furchtbar. Am darauffolgenden Morgen war der Brotbeutel selbst halb aufgefressen, und vor lauter Hunger nagten sie dann schon an meinen Kerzen. So, jetzt könnt ihr euch ein Bild machen, wie es in meiner russischen Waldwohnung so ungefähr aussieht, und wie es hier zugeht, könnt ihr euch anhand dieses äußeren Rahmens wohl vorstellen. Angenehm ist der Aufenthalt hier, wenn man zu zweit ist, zu dritt kann man sich nicht mehr viel rühren, zu viert kommt man sich eingepfercht vor wie die Heringe in der Tonne, zu fünft geht die Tür nicht mehr auf und wenn ein sechster Mann herein wollte, so würde er wohl ebenso wenig Glück haben, als wenn er auf dem Trittbrett eines Eisenbahnzuges stehend, sich in ein überfülltes Abteil hinein drängen wollte. So ähnlich erging es kürzlich dem Hauptmann, als er unvermuteter Weise neulich hier hinein wollte, um dem neuen Leutnant die Rechenstelle zu zeigen. Da waren nämlich schon vier Mann drinnen, der Hauptmann quetschte sich noch hinein, aber der Leutnant konnte trotz allem Geschiebe nur noch gerade eben ein Bein auf die Erde bringen, das andere musste er draußen lassen. 21. März 1942 Heute am Frühlingsanfang macht sich endlich doch etwas warme Witterung bemerkbar. Die ungewöhnliche Kälte der letzten zehn Tage, nachts –33°, tagsüber –10°, scheint durch einen starken Westwind gebrochen zu sein. Im Sonnenschein beginnt es bei –6°, ein wenig auf der Schneeoberfläche zu tauen. An meinem Eingang hängen die schönsten Eiszapfen. Ich hoffe jedoch, dass die Schneeschmelze so schrecklich 78 Wolfgang Buff, Vor Leningrad nicht werden wird. 23. März 1942 Heute kletterte das Thermometer tatsächlich auf +2°. Der Schnee beginnt langsam zu schmelzen, worauf alles sehnlichst wartet. Wegen eines kleinen Abszesses am Bein, der aber schon recht gut zu heilen beginnt, musste ich zum Revier, anschließend Sauna-Bad. 24. März 1942 Viel Schießerei, aber bei leichtem Tauwetter (+2°) geht alles leichter und erträglicher. Der Chef hatte allerdings wieder einen nervösen Tag. Ich habe eine gut brennende Öllampe mit Schirm und Zylinder bekommen, welche die Rechenstelle geradezu festlich erleuchtet. 27. März 1942 Der Kampf gegen Kälte wird nun abgelöst durch Kampf gegen Nässe. Man musste etwas tun, denn es tropfte im Bunker jämmerlich und genau über dem Plantisch, wo man nun für unseren schönen Lichtschacht mit Wassergüssen büßen muss, denn in der Glasscheibe ist ein Sprung, und sie ist überhaupt nicht wasserdicht eingesetzt. Also wurden Zeltplanen und Umhänge als Tropfenfang schnell unter die Decke gespannt, und bei Tag wurde wieder eine Lampe angezündet. 29. März 1942 (Palm-Sonntag) Während der Nacht allerhand Tätigkeit, doch scheint das Unternehmen im Keime erstickt zu sein. Heute vormittag ist es wieder ruhig. Ich muss mich auch etwas still halten wegen meines Beines, das nur langsam heilen will. Daran ist wohl auch die neuerliche Kälte schuld, heute Morgen –24°. Gegen Mittag aber nur noch –5°. 1. April 1942 Wieder ein ruhiger Tag ohne besondere Ereignisse. Wm. Weese (12. Batterie) kennengelernt. Er erzählte allerhand von seinen Erlebnissen als VB und am See-Ufer. Gegen Abend besuchte ich Uffz. St. Trüter, ein wilder Bursche und „versoffenes Haus“. Heute stiller und sanfter geworden. Er erbat und erhielt Blätter vom Neukirchener Kalender, auch ein Neues Testament, in dem 79 Wolfgang Buff, Vor Leningrad er eifrig liest. Ob die Sinnesänderung von Dauer ist? Ich weiß, dass er eine fromme Mutter hat, die gewiss für ihn betet. Aus weichem weißen Birkenholz habe ich mir ein Kreuz geschnitzt. Als Karfreitags- und frohes Osterzeichen leuchtet es im Dämmerlicht in meiner Behausung. 4. April 1942 (Karsamstag) Heute haben wir Abschied genommen von unserem lieben Kameraden Heinz Krische. Am Grün-Donnerstag ist er gefallen; ein GranatenwerferGeschoss tötete ihn auf Posten in der vordersten Grabenlinie. Heute wurde er auf dem Divisionsfriedhof in M. (Mga) beigesetzt. Auf dem mit Tannengrün und Kränzen geschmückten Muni-Wagen wurden die sterblichen Reste friedlich aufgebahrt, und eben kam der Wagen hier vorbei. Wir standen angetreten, und der Hauptmann gedachte seiner in einer ehrenden Ansprache. Krische, Stadtsekretär in Düsseldorf, war ein lieber Reiter-Kamerad, besonders während des Marsches hier in Russland war er stets mit seinem „Tristan“ neben oder hinter mir, und hat mir mit seinen vorzüglichen reiterlichen Kenntnissen mit Rat und Tat treulich geholfen. In einer unangenehmen Lage haben wir uns einmal in einem Walde ein Loch gegraben und dann die Nacht gut schlafend verbracht. Kürzlich war er noch hier in der Stellung. Wir hatten uns lange nicht mehr gesehen. Er saß hier im Bunker, und wir hatten uns viel zu erzählen. Nun ruht er still in Russlands Erde. In unserem neu hergestellten Blockhaus gab es heute eine kleine Einweihungsfeier, die mit etwas Cognac und Liedern bestritten wurde. Aber bei Außentemperaturen von –12° war es trotz des eifrig brennenden Tonnenofens (Benzinfass) nicht warm zu kriegen. Alles fror an den Füßen, und mit dem Gesang des Liedes „O wie ist es kalt geworden“ wurde dann gegen 10 Uhr Schluss gemacht. 5. April 1942 (Ostersonntag) Frohe Ostern habe ich euch schon früher gewünscht, aber ich tue es noch einmal und hoffe, dass auch ihr alle diesen Festtag in Stille und Frieden verbringen könnt, wie wir hier. Der gestrige Alarm erwies sich als Fehlalarm; er hatte seine Ursache in einem großen Einbruch in unserer Nachbarschaft, der aber schnell beseitigt werden konnte. 80 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Bei 18° Kälte und herrlichster Ostersonne hatten wir einen strahlenden, glänzenden Ostersonntag, wie man ihn hier nicht schöner haben konnte. Ich war schon früh auf und auf dem Wege zum Blockhaus, wo in einer erbeuteten russischen Feldküche Kaffee für uns gebraut wird. Beim Antreten wünschte uns der Hauptmann ein frohes Fest und entließ uns mit „dienstfrei“ für heute und Morgen. Abends gab es einen kleinen Alarm, der aber bald wieder abgeblasen wurde. Man hatte unsere Schüsse anscheinend nicht nötig. So verlief der Ostersonntag in Russland. Alles war freudig und friedlich und mehr hätte uns der Tag in unserer jetzigen Lage auch nicht bringen können. 6. April 1942 (Ostermontag) Heute wieder leichtes Tauwetter +5° und strahlender Sonnenschein. Als ich vom Sauna-Bad zurückkam, hörte ich, dass gestern und heute in S. Feldgottesdienst gewesen sei, was man unserer Batterie unbegreiflicher Weise nicht mitgeteilt hatte. So hat man uns hier um die schönste Osterfreude gebracht. Abends las ich im „Das Reich“ einen Artikel über „Die Murmansk-Bahn – Schienenstrang aus Blut und Tränen.“ Während ihres Baues im Jahre 1916 sind viele Tausende deutscher Kriegsgefangener dort gestorben. Übrigens soll die Stadt Petersburg eine ähnlich traurige Entstehungsgeschichte haben. 12. April 1942 Nun sitze ich bei strahlendem Frühlingssonnenschein in der „Arche Noah“, so habe ich das Rechenzelt benannt und beschriftet, das mich und die ganze Rechenausrüstung aus unter- und überirdischer Wassersnot gerettet hat. Auf einer Unterlage von Fichtenstämmen haben wir es vorgestern bei unbeschreiblicher Nässe und dazu noch Schneefall aufgebaut; gestern haben wir uns eingerichtet, wobei Brandt, unser neuer Rechner – Peter Linden kam aus dem Studien-Urlaub nicht mehr zurück – sich trefflich bewährte. Als Fußboden dient uns wieder das bewährte Granatkorbgeflecht, unser Bunker-Öfchen tut uns auch hier gute Dienste, und mein Lager aus Körben ist ja aufgebaut, allerdings zur größeren Hälfte unter dem Plantisch. Zur Seite schläft Alfred auf einem zusammenrollbaren Strohsack, und fünf übereinander gestellte Munitionskisten dienen uns wieder als praktische Schrankvorrichtung. Ich 81 Wolfgang Buff, Vor Leningrad bin froh, dass ich wieder so weit bin. Es ist ein Schritt nach oben, und das Leben über der Erde mit bequemen Zelteingang und kleinem Ausblick durch die Fensterchen kommt einem ganz ungewohnt vor. Aber das Ende der Bunkerzeit war alles andere als angenehm. Es gehört zu den unangenehmsten Situationen, die ich hier mitgemacht habe, und sei hier kurz geschildert: Als am 9. April zum zweiten Mal der Nachtfrost ausgeblieben war, setzten sich die unterirdischen Wasserströme in Bewegung. Mit dem MG-Bunker vor der Stellung fing es an. Durch die einfallenden Wände drang das Wasser ein, und in einer halben Stunde war der Bunker „versoffen“. Seine Bewohner zogen fluchtartig aus und fanden im neu gebauten Blockhaus ein trockeneres Unterkommen, wenn gleich es auch da etwas rieselte. Dasselbe Schauspiel wiederholte sich nun gegen Abend im Laufe der Nacht und am folgenden Tag rund zwanzig Mal. Denn nur ein einziger von unseren Bunkern konnte gehalten werden. Alle anderen wurden trotz eifrigster Arbeiten, Kanalisation, Wandabstützungen und Abdichtungen – denn merkwürdiger Weise wollte niemand aus seinem Bunker raus, und jeder verteidigte ihn zäh bis ihm buchstäblich das Wasser zum Halse stand – ein Opfer der Fluten. Auch der Hauptmann glaubte, sein Bunker sei noch zu halten; er ließ dann eine Grube graben zum Ausschöpfen des Wassers, beteiligte sich mit dem Leutnant zusammen eigenhändig an der Ableitung der überirdischen Wasserströme, saß aber schließlich ganz verzweifelt in einer Tropfsteinhöhle, in der das Wasser trotz aller Bemühungen stieg, gab schließlich den Kampf auf und zog mit Sack und Pack zum Blockhaus, wo sie nun vom Hauptmann bis zum Kanonier alle einträglich in einem Raum beieinander hausen, allerdings eng wie die Heringe in der Tonne. Nun wird es euch noch interessieren, wie das Ende des sechsmonatigen Bunkerlebens bei mir ausgesehen hat: Also wie schon erwähnt, höchst gräulich. Der Bau des Zeltes bzw. des Bodens, der schon eher stattfinden sollte, hatte sich durch verschiedene Widerwärtigkeiten verzögert. Insbesondere, weil der Chef sich über den auszuwählenden Platz nicht schlüssig werden konnte – und so gelang mir die Flucht in die Arche nur in letzter Minute und mit aufgeweichten Sachen. Bis zum 9. April konnte ich mir durch öfteres Ablassen des Wassers, das sich in den unter der Decke aufgespannten Zeltbahnen sammelte, helfen und auch dem von oben herablaufenden Wasser durch einen Abzugsgraben zu einem Nachbarbunker Ablauf verschaffen. Aber in der Nacht zum 10. April wurde die Lage brenzlig. Gegen ein Uhr wachte ich auf und sah, dass die Wand nebenbei feucht wurde, kleine Stücke sich daraus lösten und das Wasser längst herunter rieselte. Ich hatte eine Heidenangst und sah 82 Wolfgang Buff, Vor Leningrad mich schon im Geiste bei Nacht den Bunker räumen. Aber während sich dieses Drama im Vermittlungs- und verschiedenen anderen Bunkern so abspielte, ging es bei mir noch bis zum Morgen gut. Dann allerdings brach es mit Macht herein, und wir mussten watend unsere Sachen in Sicherheit bringen. Grauenhaft sah das öde und verlassene Loch dann aus, und man wundert sich, wie man sechs Monate hat darin zubringen können. Jetzt in der ganzen Stellung dasselbe Bild: Alle Bunker sind voll Wasser gelaufen und bieten einen trostlosen Anblick. Aber desto fröhlicher ist die Stimmung bei den Menschen, die sich der wärmenden Sonne und des kommenden Frühlings freuen. Im Blockhaus hörte man heute Morgen eine Ziehharmonika, und vom Dorf ließ sich eine Militärkapelle vernehmen. Und eben blies ein Kamerad vor meinem Zelt Frühlingslieder. 13. April 1942 Ein kleines Wäldchen zur Tarnung des Rechenzeltes gepflanzt. Allerdings bei dem noch hart gefrorenen Boden mit allerhand Schwierigkeiten verknüpft. 16. April 1942 Tagsüber wird es jetzt bei prächtigem Sonnenschein bis zu 10° warm. Aber nachts führt der Winter noch strenges Regiment, so dass die Schneemassen nur langsam zusammenschmelzen. Es fließt auf allen Wegen. Auch in der Stellung steht alles unter Wasser, und wir retten uns durch Roste aus Birkenholz, die wir auf die Wege gelegt haben. Gestern war ich mit hohen Gummistiefeln ausgerüstet zur Abteilung (entspricht Bataillon bei Infanterie, Anm. d. Red). Statt des schönen Schneeweges nun eine Schlammstraße, die von einem reißenden Bach durchbrochen wird. Heute allerhand Vermessungsarbeiten durchgeführt, deren Ergebnis durch Schießen nachgeprüft und bestätigt wurde. 17. April 1942 In der Mittagswärme (+12°) schmilzt der Schnee nun gewaltig. Überall kommt die dunkle Erde fleckenweise hervor, während an anderen Stellen der Schnee immer noch meterhoch liegt. Aber er vermindert sich zusehends. Unter der Oberfläche ist die Erde noch hart gefroren, ein Glück, denn sonst wäre der Schlamm unergründlich. So aber bilden sich überall kleine Seen, in denen sich das Wasser sammelt und in unzählige 83 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Bächlein, die über den Waldboden rieseln, fließt es ab ins Moor oder in einen der vielen Waldbäche, deren breites tief eingeschnittenes Bett nun die großen Wassermassen aufnehmen kann. Vor nassen Füßen kann man sich trotz aller Pflege des Schuhwerks kaum retten, aber was tuts, was kann uns das Wasser schon anhaben, wo der Winter vorüber ist und wir wie Noah nach der Sintflut einer neuen Zeit entgegensehen. Die Waldvöglein beginnen lustig zu zwitschern, und die Lerche trillert ihr munteres Lied ganz wie daheim; was wird uns das Frühjahr bringen? Früher machte man Pläne und nahm sich vor, dieses und jenes zu unternehmen; heute weiß niemand, was die nächsten Tage bringen werden und wohin man verschlagen wird. In den Zeitungen, die wir bekommen, stehen immer noch so viele Todesanzeigen von Gefallenen. Nach allem was man hört, sind die Verluste im Winterkrieg mindestens ebenso hoch gewesen wie im Sommer. Das bedeutet aber, dass wir allein im Russland-Feldzug bisher 300 000 bis 400 000 Tote hatten, und was für Opfer stehen uns noch bevor. Kamerad Brandt bekam heute die lang erwartete Nachricht von daheim. Sie brachte ihm die Kunde vom Tod seines jüngsten Bruders vor Kaluga und von der Verwundung eines anderen Bruders im Süden. Bittere Enttäuschung! Heute haben wir nach langer Zeit mal wieder nach Westen geschossen. Das Einschießen klappte gut. Der Aufenthalt im Zelt ist recht angenehm. Wir sehnen uns nicht im geringsten zu den Bunkern zurück. Nachts ist es zwar noch immer recht kalt, und man muss kräftig heizen, aber tagsüber geht es auch ohne Ofen. Des Abends bekommen wir stets noch einen Schlafgenossen. Der Richtkanonier vom Alarmgeschütz soll im Alarmfall immer schnell bei der Hand sein. Er schläft bei uns auf einer Krankentrage, die tagsüber draußen in unserem selbst gepflanzten Wäldchen versteckt wird. Das Schlafen über der Erde ist uns ganz ungewöhnlich. Man hört im Zelt jeden Ton draußen, jeden Gewehrschuss an der Front und wacht oft erschreckt auf vom Rattern der MGs. Dann wundert man sich und freut sich, wie geborgen man im Zelt ruht. 18. April 1942 Bei 15° Wärme saßen wir heute auf bequemen Feldstühlchen vor unserem Zelt und löffelten unsere Bohnensuppe, in der wir nach so langer Zeit mal wieder einige Kartoffeln fanden. Die Küche kam sehr spät, es war ihr wegen des Schlammes kaum möglich gewesen durch- 84 Wolfgang Buff, Vor Leningrad zukommen. Trotz aller Wärme sind die Nächte noch kalt, und wir müssen im Zelt heizen, wenn wir nicht frieren wollen. Draußen liegt immer noch Schnee, stellenweise noch meterhoch. Doch immer größer werden die braunen Flecken, an denen die Erde durchkommt, und immer lebendiger sprudeln die vielen tausend Bächlein über den Waldboden, ihn stellenweise in große Seen verwandelnd. 20. April 1942 Heute begruben wir unseren vierten Toten auf dem Divisionsfriedhof in M. (Mga), Kanonier König, der bei der 12. A. Komp. gefallen war. Ich habe ihn nicht gekannt, er war in Petit Roeulx zu uns gekommen und hier in der Protze bei Schanzarbeiten von einer Kugel tödlich getroffen. Unsere Infanterie hat in diesem Winterkrieg furchtbare Verluste gehabt. Es kam ein Bataillon zurück vom Einsatz bei Sch. (Schlüsselburg) mit einem Offizier und 23 Mann. Kompanien kamen mit nur wenigen Mann zurück. Der Winterkrieg hat schwerste Opfer gefordert, außer Verwundungen und Toten auch schwere Erfrierungen. Heute verließ uns Helmut Fresenius. Er geht zur weiteren Ausbildung zur Waffenschule. 21. April 1942 Wir saßen gerade beim Unterricht auf selbst gezimmerten Birkenholzbänken am Blockhaus, als das erste Frühlingsgewitter uns mit einem rauschenden Regenschauer vertrieb. Eine befreiende, erlösende Wohltat, die dem Winter nun ganz den Abschied gibt. Der Schnee ist nun fast ganz vergangen, nur an wenigen verborgenen Stellen wird er sich noch wenige Tage halten. Sonst sieht es hier jetzt so ähnlich aus wie damals, als wir kurz vor Wintereinbruch einzogen. Alles öde und grau, noch ist kein grünes Blättchen zu finden, aber der Lerche Sang kündet von neuem Leben. 22. April 1942 Abends sitzen wir jetzt öfters in der milden Frühlingsluft vor unserem Zelt. Eben zog eine Schar Kraniche in keilförmiger Ordnung über uns hin nach Osten. Sie haben wohl den Winter in den Golfstrom-Ländern Norwegen und vielleicht Südschweden verbracht. Jetzt fliegen sie mit eigentümlichen, fast klagendem Ruf wieder nach Osten. Ob wir ihnen nachfolgen werden? 85 Wolfgang Buff, Vor Leningrad 26. April 1942 (Sonntag) Die vergangene Nacht war unruhiger als sonst. Man merkt es, dass bei dem sich ständig bessernden Wetter auch die Kampftätigkeit zunimmt. Der Russe schießt wieder lebhafter, und wir antworten. Bald kommt die Zeit, wo die Eisstraßen über den Ladoga-See unpassierbar werden. Dann ist Leningrad völlig abgeschlossen und reif zum Sturm. Ich möchte glauben, dass uns nicht mehr viele Tage davon trennen. Heute Morgen war wieder alles in weiß gehüllt, aber der Schnee wich bald. Eine richtige Sonntagsstimmung zog bei uns ein. Der Arbeitsdienst wurde bald eingestellt, und dann sah man ein richtiges Grüppchen „Stadtmusikanten“ durch die Stellung ziehen. MundharmonikaKünstler Schoppmann und zehn Sänger „vom finsteren Walde“ brachten überall ihr Ständchen, natürlich auch vor der „Arche Noah“, die sie mit Steinhagener Branntwein bewirtete. Anderswo goss man ihnen allerdings auch Kaffee ein. Ein Feuerschlag auf unseren Sperrfeuerraum E unterbrach dann das Idyll, aber nun ist wieder alles ruhig. Wir hörten gemeinsam im Blockhaus die Führerrede zur Reichstagssitzung. Der Winterkrieg, dessen drohende Katastrophe nur mit gewaltigen Anstrengungen abgewehrt worden sei, sei schlimmer gewesen, als es bei uns erschien. Man konnte seine Furchtbarkeit und Schwere nur ahnen, jetzt aber weiß man, dass das Schicksal von Millionen Soldaten, ja unseres ganzen Volkes an einem seidenen Faden gehangen hat. Für den nächsten Winter-Feldzug werde man besser vorbereitet und ausgerüstet sein, meinte der Führer, und hier malte man Zukunftsbilder dazu vom Winter 1943 am Ural. Doch darüber mache ich mir noch keine Sorgen. Vorerst kommt noch der Sommer. Die Reichstagsrede, die am Abschluss einer Epoche steht, in der unser Volk eine schwere Prüfung erlitten hat, und die den Beginn einer neuen Phase mit vielleicht noch größeren Prüfungen einleitet, ist ebenso bedeutungsvoll wie die früheren, auch wenn sie keine siegreichen Vormärsche und Kapitulationen feindlicher Mächte meldet. Besonders bemerkenswert ist die nunmehr gesetzlich verankerte völlige Unbeschränktheit der Macht des Führers, der sich nun auch in allen Fällen, in denen er es im Interesse der Nation für nützlich erachtet, sich über Gerichtsurteile, Gesetze und Gewohnheiten hinwegsetzen kann. 86 Wolfgang Buff, Vor Leningrad 27. April 1942 Nach langer, ruhiger Zeit wieder ein großer Tag unserer Batterie. Diesmal ist das Unternehmen, das wir durch unser Feuer zu unterstützen hatten, geglückt. Es gehört zu den örtlichen Angriffen, die unsererseits zum Erfolg führten. Doch auch der Russe wird lebhafter und wehrt sich seiner Haut. Man spürt, wie sich die Kampftätigkeit und Kraft auf beiden Seiten zusammenballt. 30. April 1942 In den letzten Tagen hat der Russe mehr als bisher unser Feuer erwidert. Ihm scheint vor dem kommenden Angriff zu grauen, und mit seinen aufgefahrenen Batterien versucht er, ihn aufzuhalten. Aber es ging bisher gut. Ein Einschlag saß allerdings neulich 50 Meter vom Blockhaus, aber außer zertrümmerten Fensterscheiben passierte nichts. Das Brückenkopf-Unternehmen vom 27.4., an dem wir beteiligt waren, wurde am 29.4. im Wehrmachtsbericht erwähnt. Es war die erste erfolgreiche Angriffshandlung in unserem Abschnitt und kostete den Feind laut Heeresbericht 1 400 Tote, 9 Geschütze und 6 Panzer. Hptm. Richter, der als VB wieder dabei war, schilderte uns den blutigen Kampfverlauf. Wie es meistens ist, ließen sich auch hier die Russen mit wenigen Ausnahmen bis auf den letzten Mann niedermachen. Als der Brückenkopf schon in unserer Hand war, machten die Russen den aussichtslosen Versuch, mit Ruderbooten über den Fluss zu setzen, um einen Gegenstoß zu machen. Was von den Booten nicht auf dem Fluss durch Artillerie-Feuer vernichtet war, wurde bei der Landung zusammengeschossen. Man weiß nicht, worüber man sich mehr wundern soll, über den Wahnsinn derer, die solche aussichtslosen Unternehmen befehlen, oder den Todesmut derer, die sie ausführen. Die gefallenen Russen waren lauter junge Leute von 16 bis 19 Jahren, aber auch unsere Verluste waren schwer. 1. Mai 1942 Heute herrlicher Maientag mit Sonnenschein, aber noch kein grünes Blättchen hat sich hervorgewagt. Auch kein grünes Hälmlein oder Blümlein auf dem Erdboden. Nur einen kleinen Zitronenfalter sahen wir hilflos durch die Lüfte flattern. 87 Wolfgang Buff, Vor Leningrad 2. Mai 1942 Frühlingssonnenschein und Wärme, nachts aber noch ziemlicher Frost. Immerhin ist es nun nach einmonatiger Schlammperiode jetzt trockener geworden. In der Stellung ist es zwar noch recht morastig, aber auf der Straße in S. (Sinjawino) liegt schon Staub. Den heute besonders ruhigen Tag nutzte ich mit Brandt zu einem Spaziergang zu den Kameraden einer schweren Mörser-Batterie in der Nähe. Ein höchst interessantes, gewaltiges Geschütz, das trotz seines Gewichtes von 340 Zentnern so fein konstruiert ist, dass es im Gegensatz zu unserem fast spielend leicht zu handhaben ist. Wir waren dabei, wie ein Geschütz gerade gewendet wurde und wie seine zwei Zentner schweren Geschosse geladen und abgefeuert wurden. Die „Mörser-Knechte“ aus Berlin und Sachsen sind ein sehr lustiges Volk. Sie haben einen Fußballplatz neben der Stellung und machen beim Spiel so viel Lärm, dass es neulich bis in unsere Waldeinsamkeit drang. Wir glaubten, Heil-Rufe vom Dorf her zu hören, und glaubten schon an einen Besuch des Führers oder sonst ein unerwartetes Ereignis, bis ein telefonischer Anruf uns den wahren Sachverhalt erklärte. Wie befreit atmet das Land auf, das von der Last des Schnees und Eises nun erlöst ist. Noch ist aber außer dem dunklen Grün der Tannen keine Farbe zu finden. Nackt und lieblos stehen noch die Birken, verwelktes Gras bedeckt den Boden, und die Felder liegen öde und verlassen. Noch könnte man nicht auf ihnen arbeiten. Auch haben wir einen neuen Feind entdeckt: Kreuzottern, vor denen man sich sehr in Acht nehmen muss. 3. Mai 1942 (Cantate) Ruhiger Tag, der uns gegen Nachmittag den ersten Frühlingsregen brachte. Unsere Verpflegung war in diesen Tagen ganz groß. Gestern gab es pro Kopf ein kleines Weißbrot, heute zusätzlich zwei gekochte Eier und eine halbe Tafel Schokolade. Dazu Trink-Branntwein. Im Blockhaus ist heute Abend wieder große Stimmung. Ich fühle mich aber wohler in meiner „Arche“. Das Eis des Ladoga-Sees ist jetzt gebrochen, und die Neva treibt Eisschollen. Jetzt ist Petersburg vollkommen eingeschlossen, und die drei Millionen Menschen, die immer noch dort leben, sind von allen Zufuhren abgeschnitten. Ob sie den Mut aufbringen werden, sich zu ergeben, oder ob sie weiter in dumpfer Starrheit Widerstand leisten werden? Wir müssen vor dieser unglücklichen Stadt weiter Wache halten. Heute überhaupt nicht geschossen. Ich las das Evangelium, die Psalmen und einige Kapitel aus Jeremias und Amos. 88 Wolfgang Buff, Vor Leningrad 6. Mai 1942 Heute Morgen war der Winter wieder ins Land gezogen. Alles weiß und in Schnee gehüllt, der Boden hart gefroren; dabei ist es sonderbarerweise ein Westwind, der diese Kälte mitbringt. An den Fronten ist es ruhig; wir haben nur wenig geschossen. Alles wartet gespannt auf den Beginn der großen Offensive. Manche werden schon ungeduldig und meinen törichter Weise, der Führer würde zunächst gegen England losschlagen. Das wäre aber in jedem Fall ein unverantwortliches Wagnis. 7. Mai 1942 Ganz überraschend verließ uns heute Hptm. Richter. Er ist als Abteilungsführer zum Ersatzheer nach Deutschland versetzt. Aber trotz seiner 53 Jahre ging er nicht gerne. „Dass ich gegen meinen Wunsch und Willen Abschied nehmen muss“, sagte er in seiner Ansprache zu uns, „wisst ihr, und ich werde in der Heimat alles daran setzen, bald wieder an der Front bei euch zu sein. Mit der 11. bin ich zu Beginn des Krieges ausgezogen und mit ihr gedachte ich siegreich wieder heimzukehren“. Er war ein gebrochener Mann, als er jedem von uns die Hand gegeben hatte und sich abwenden musste, um seine Bewegung zu verbergen. Obwohl es für ihn so schwer war, sieht die Batterie ihn nicht ungern scheiden, denn trotz seiner Kenntnisse und unstreitig großen Fähigkeiten hatte er sich durch Übereifer und reichlich nervöses Wesen sehr unbeliebt gemacht. Für mich war der Umgang mit ihm auch oft sehr schwierig, aber trotzdem muss ich seine vorbildliche Einsatzbereitschaft anerkennen und bewundern. Das ist doch schließlich das Wichtigste, wonach ein Offizier zu beurteilen ist. Schon mancher hat uns hier verlassen in Richtung Heimat, stets von einer ganzen Eskorte bis S. (Sinjawino) begleitet, wo die Abteilung liegt. Aber einen weiten Umweg nehmend, sah ich den Hauptmann allein über die öden Felder reiten. Sein Reitbursche war ihm zur Seite und sein geliebtes „Hundel“ sprang treu hinter ihm her. 8. Mai 1942 Heute wieder nach dem bewährten Verfahren die Grundrichtungen der Batterie geprüft. Wir kamen dabei zu dem merkwürdigen Ergebnis, dass wir 20° zu weit rechts lagen, was sich durch Schießen bestätigte. Es geht sonderbar zu. Schon mehrmals haben wir diese Fehler festgestellt. Früher gaben wir der schwankenden Nadelabweichung die Schuld; aber jetzt sehen wir, dass sich dieser Fehler irgendwie am 89 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Geschütz einschleicht, wie und wo haben wir bisher nicht ergründen können. Es scheint, als ob der Russe irgend etwas spitz gekriegt hat. Er schießt im Gelände herum, was man seit langer Zeit nicht mehr gewohnt war; er fliegt eifrig mit Ratas und Bombern, doch bei uns bisher kein Schaden. Einliegend einige Luftpostfeldmarken, von denen wir jeweils vier Stück pro Monat erhalten. Eilige Briefe zur Heimat und zurück sollen damit befördert werden. Ferner anbei eine Abrechnung der Heereskasse; mein Monatsgehalt beträgt also ab 1. Oktober 1941 108,43 RM netto. Bei euch wird die Natur jetzt schon das Frühlingsblütenkleid angelegt haben. Hier ist es noch öde, aber bis Pfingsten hoffe ich doch auf frisches Grün. 10. Mai 1942 (Sonntag Rogate) Stiller Sonntag. Ich las eine interessante Darstellung über das Leben von Ernst-Moritz Arndt. Er war mit vom Stein zusammen auf der Flucht vor Napoleon in Petersburg und erlebte auf der Rückreise von dort den Untergang der Napoleonischen Armee. 11. Mai 1942 Nach langer Zeit - die schlechten Wege ließen es nicht zu - wieder zum Saunabad in S. (Sinjawino), was wohltuend wirkte. Olt. Bruckmann, der als Leutnant von Anfang des Feldzuges bei uns war, übernahm heute die Führung der Batterie. Ein junger Offizier, aus Walsum bei Geldern gebürtig, ist er genau das Gegenteil von Papa Richter. Was der eine zu viel hat, hat der andere zu wenig. Ich wünsche ihm das Beste für seine große Aufgabe, in der wir ihn alle gerne mit unseren Kräften unterstützen möchten. Heute Abend wieder eifrige Fliegertätigkeit. Doch auch starke Flakabwehr, vor der die Russen immer wieder abdrehen müssen. 12. Mai 1942 Heute stiller Tag, ohne Schießen, aber mit allerhand Arbeit im Archenzelt Festlegung der neuen Grundrichtung. Draußen wolkig und trüb, plus 11°, strichweise leichter Mairegen. 90 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Unser Abteilungskommandeur, Major Gobbin, führt seit einiger Zeit das Regiment. Heute besuchte er nach langer Zeit mal wieder unsere Stellung. Als er sich alles soweit angesehen hatte, führte ihn sein Weg auch an den in einem künstlichen Wäldchen versteckten Rechenzelt vorbei. Ich saß drinnen und hörte ihn, wie er an seine Begleitung die Frage stellte, wer denn der Bewohner dieses seltsamen Gebäudes sei. „Das ist Uffz. Buff,“ hörte ich als Antwort. „Ach, ja“ meinte er, „ist der denn nun Pfarrer geworden?“ Und dann schien er Lust zu haben, sich die Arche von innen anzusehen, und kam auf einmal zu mir hereingekrochen. Ich machte zackige Meldung, er sah sich in unserer Behausung um, fragte, ob sie warm genug wäre und wie es mir persönlich ginge. Als ich das Erstere bejahte und auf die letztere Frage antwortete: „Danke, gut Herr Major“, nickte er und sagte: „Ja, das sieht man ihren Augen an, die blicken immer so fröhlich, jedes Mal, wenn man sie sieht!“ Ihr seht also, dass ich durchaus kein finsterer Griesgram geworden bin, und von meinen Kameraden gilt wohl das Gleiche. Aber wie uns dann zu Mute sein wird, wenn wir aus dieser Wildnis wieder in geregelte menschliche Verhältnisse kommen, das kann man sich nur schwer vorstellen. Es kursieren so allerlei Witze und lustige Geschichten darüber. Da ist z. B. vom Einzug der Ladoga-See-Division in Berlin im Jahr 1970 die Rede, weil man sie einfach vergessen hatte. Und dann wird erzählt, wie die Landser, denen die als Quartier angewiesenen Häuser „Unter den Linden“ fremd geworden sind, alsbald hingehen und das Straßenpflaster aufreißen und sich Erdbunker graben, wie sie die Linden umhacken, um Brennholz zu haben usw. Es liegt ein tiefes Körnchen Wahrheit in diesen groben Scherzen. Ich glaube aber kaum, dass mir die Umstellung schwer fallen würde; dazu verhilft auch unser neuer Kamerad Brandt. Er ist ein Muster von guten Umgangsformen, Höflichkeit und Diensteifer. Alfred war diesen Dingen weniger zugeneigt. Aber man kann merken, wie das gute Vorbild auf ihn einwirkt. Meine Wenigkeit hat es ebenso bitter nötig. Heute brachte uns der Wehrmachtsbericht endlich die erlösende Nachricht, dass die Operationen im Süden im Gange sind. Auf der Halbinsel Kertsch hat der Angriff am 8. Mai begonnen. Jetzt ist den russischen Lautsprechern, die seit Tagen herüberriefen: „Wo bleibt die angekündigte Frühjahrsoffensive?“, das Maul gestopft. 13. Mai 1942 Während wir auf dem Weg zur Impfung bei 15° leicht ins Schwitzen kamen, war es am Nachmittag wieder so kühl, dass ich das Öfchen 91 Wolfgang Buff, Vor Leningrad anmachte. Doch sieht man unter dem dürren Gras nun die ersten grünen Halme sich schüchtern hervorwagen. Heute Morgen fand ich den Frühling selbst, ein kleines Buschwindröschen, und in der Ferne hörten wir den ersten Kuckucksruf. Den Kuckuck kann ich euch zwar nicht einfangen, aber das Blümlein, an dem sich die ganze Stellung freute, habe ich euch gepresst. Es sei ein Andenken an die russische Erde. Die Nachricht vom Sieg und Durchbruch auf der Halbinsel Kertsch löste hier allgemeine Freude aus. Endlich hat die Bewegung eingesetzt, von der wir hoffen, dass sie auch bald bei uns hier oben spürbar wird. 14. Mai 1942 (Himmelfahrt) Herrliches Frühlingswetter überraschte uns heute am Himmelfahrtstage, gerade wie daheim. Nur das Frühlingskleid fehlte noch in der Natur. Stiller Tag; ich las das Evangelium und die Festpsalmen, in denen der Heilige Sänger schon etwas von dem Jubel verspürte, der den Herrn an diesem Freudentag umgeben hat. Hier in der Stellung war Werktagsdienst, wie wohl auch bei euch; doch merkte man allerseits eine etwas gehobene, festliche Stimmung, und gearbeitet wurde auch nicht zuviel. – Gegen Abend ging ich mit Uffz. Nagels zum S.-See, wohin ich auch im Winter schon einmal gepilgert war. Es ist ein großer Waldsee, früher einsam und verlassen, heute umsäumt von Protzenstellungen, Blockhäusern und Bunkern deutscher Soldaten, die in dieser idyllischen Waldeinsamkeit schon sieben Monate hausen, gerade wie wir. Sie waren sehr freundlich zu uns - meist Schlesier und Sachsen - und wir verbrachten ein gemütliches Plauderstündchen bei ihnen, in dem wir unsere Erlebnisse austauschten. Waldmenschen waren sie genau wie wir, und auch sie haben sich damit abgefunden, dass wir vielleicht noch lange hierbleiben. „Parolen“ von Abmarsch und dergleichen, die immer ein Zeichen von Ungeduld sind, gibt es nicht mehr. Viele runde Steine liegen hier auf den Feldern und Wiesen, Findlinge, oft von beachtlicher Größe. Anbei ein Muster, das ich von einem riesigen Vertreter dieser Art, der breit und behäbig in einer Waldlichtung lag, abgeschlagen habe. Ist es Granit? 15. Mai 1942 Herrliches Frühlingswetter, stiller Tag. Habe mich mit Wm. Dückers wieder herausgewagt. Es ist trotz allem zu schön, und Abwechslung tut 92 Wolfgang Buff, Vor Leningrad not. Das Dorf, von dem etwa ein Viertel der Häuser bzw. Hütten stehen geblieben ist, hat jetzt ein ganz anderes Gesicht bekommen, seitdem der Schnee verschwunden ist. Es erinnert jetzt sehr an die vielen Ortschaften, durch die wir auf unserem Marsch hierher gezogen sind. Sie boten meist das gleiche Bild. Eine lange Reihe Holzhäuser aus Nadelholzbalken roh gezimmert. Balken auf Balken, die Fugen ausgestopft mit Moos. Keine Farbe, kein Verputz; selten, dass die Fensterrahmen mit einem grellen Blau oder Rot gestrichen waren. Die Dächer sind aus Holzschindeln, manchmal aus Stroh. Zwei bis drei Räume, darunter eine kellerartige Vertiefung. In ihr leben die Haustiere, vor allem Schweine, denen man das Futter durch eine Luke im Fußboden hinabwirft. Ihr unterirdisches Grunzen und Quietschen erfreut dann die Hausbewohner. Dieser Art ist wohl das russische Bauern- oder vielmehr Landarbeiter-Haus, denn dass es sich nicht um selbständige Wirtschaft handelt, sieht man schon äußerlich daran, dass es nirgends im Dorf Scheunen oder größere Stallungen gibt. Ein paar bessere Hundehütten, Holzschuppen, Sauna-Häuschen und dergleichen ist alles, was man außer den ärmlichen Häusern findet. Kirchen sieht man selten, und wenn, dann sind es verfallene Prachtbauten, die man als Lagerhäuser, Pferdeställe usw. benutzte, oder es sind verschlossene, stumm und scheinbar leblos daliegende Holzkirchlein. Heute war ich dagegen in einer „Arbeiter-Siedlung“, derer es hier im Moor viele gibt. Sie tragen als Bezeichnung nur Nummern und sind auf trockenen Stellen des Moores zur Torfgewinnung errichtet. Damit ist auch ziemlich viel Industrie verbunden. So hatte die heute besuchte Siedlung mehrere Rüstungsfabriken, natürlich sämtlich bis auf die Grundmauern zerstört. In den wenigen noch erhaltenen Arbeiterwohnungen leben außer den Resten der Bevölkerung unsere Soldaten. In einer hölzernen Mietskaserne für 24 Menschen hatten unsere Kameraden ein Zimmer mit Herd, das wenig größer war als unser Telefonzimmer zu Hause (4,5 qm). Dieser Raum diente früher drei Familien als Gemeinschaftsküche; außerdem besaß jede Familie je ein Zimmer, dessen Größe sich nach der Kinderzahl richtete. Die Ingenieure hatten außer der Gemeinschaftsküche zwei Zimmer, der Direktor der Fabrik endlich besaß eine eigene Küche. Diese Angaben stammen von einer dort lebenden Ingenieurs-Frau, deren Mann im russisch-finnischen Krieg gefallen war. Sie sprach gebrochen deutsch, übrigens unter den wenigen Gebildeten, die man hier antrifft, eine häufige Erscheinung. Es machte mir im ganzen den Eindruck, dass Russen und deutsche Soldaten trotz der kümmerlichen Verhältnisse einträchtig beieinander leben und sich helfen, so gut sie können. 93 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Von dem Dach einer zerschossenen Fabrik hatte man einen weiten Ausblick über die ausgedehnten Moorflächen, die von kleinen Feldbahnen durchzogen sind, die heute zur Versorgung unserer Truppen dienen. Zwischen Moos und niedrigem Birkengestrüpp blitzt hier und da eine Wasserfläche oder ein Kanal auf. Aus weiter Ebene ragt hin und wieder ein gelber Sandhügel auf, der mit Schornsteinresten oder Trümmern übersät ist. Es sind die Überbleibsel ehemaliger Arbeiter-Siedlungen, zwischen denen sich die Front hinzieht. In dem trockenen Sand haben sich die Landser eingegraben und sind durch diese Bunker vor dem häufigen Beschuss besser geschützt als in den besten Häusern. Ganz in der Ferne sieht man das Land, das noch von den Russen besetzt ist. Ein Kirchturm, ein schlossartiges Gebäude und einige Holzhäuser ist alles, was man durch das Fernrohr in dem waldbedeckten Hügelgelände entdecken kann. Dort drüben zur Front hin schießt es auch unaufhörlich. Zur Linken liegt in majestätischer Ruhe der Ladoga-See, der zum Teil noch mit Treibeis bedeckt ist. Hinter dem Nebelschleier des gleichen Horizontes liegt noch eine geheimnisvolle, unendliche Ferne. Weiterhin ist unsere Verpflegung für unsere Verhältnisse erstklassig. Es gab jetzt öfters Apfelsinen, gestern sogar Bratkartoffeln und heute einige Fässer Bier, für jeden ca. ein Liter. Das war wieder Anlass zu einem gemütlichen Abend im Blockhaus, der mit Singen von Schlagern und manchmal auch schönen Liedern ausgefüllt wurde. 17. Mai 1942 (Sonntag Exaudi) Ein Sonntag des stillen Wartens, ein Gebets-Sonntag, über dem schon die Antwort steht „EXAUDI“. Am Nachmittag traf ich mich mit Alfred zu einem Spaziergang im Moor. Dort wurde viel Torf gestochen, und jetzt noch lagern davon riesige Mengen. Die Torfbahn, die das ganze Moor durchkreuzt, versorgt jetzt unsere Stützpunkte und Stellungen. So wurde sie auch einer uns nützlichen Verwendung zugeführt. An einigen zerschossenen Arbeiter-Siedlungen kamen wir vorbei. Unheimlich viel Menschen - Soldaten und Zivilisten - hausen noch dort, teils in den Zimmern, teils in Erdbunkern. Da lobe ich mir doch gegenüber dieser trostlosen Zerstörung meine Wohnung im grünen Wald. Das Gesicht der Landschaft ist immer noch leblos, grau und öde. Die Äcker, auf denen im Herbst Kartoffeln, Getreide und Kohl angebaut waren, sind zwar trocken, aber niemand bestellt sie. Es fehlt wohl an Werkzeug und Saatgut. Die grauen Holzhäuser, die sich hier und da geduckt an die sanft geschwungenen Geländeformen anschmiegen, entsprechen in ihrer 94 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Traurigkeit ganz ihrer einförmigen Umgebung. Wozu auch fröhliche Farben oder saubere Steinbauten in dieser Landschaft ohne Farben und ohne Freude? Nur wenige Monate, dann wird sie wieder vom Leichentuch des Winters bedeckt sein. 18. Mai 1942 Wolkenbruchartiger Mairegen hat das von der Tageswärme (+23°) erhitzte Erdreich durchfeuchtet und belebt, vor dem Hintergrund der dunkelgrünen Tannen steigen weiße Nebelschwaden empor, und in den Strahlen der untergehenden Abendsonne glitzern wie Tau viele tausend Regentropfen, die wie Glasperlen an den Spitzen der Tannenzweige und Birkenreisige funkeln. Wie auf einen Zauberschlag bricht das junge Grün überall hervor, dass man das Öffnen der Knospen und das Hervorsprießen der Grashalme zu hören und zu sehen glaubt. Die gestern noch dürre Grasfläche ist nun zu einem grünen Teppich geworden, aus dem unzählige Buschwindröschen mit ihren weißgelben Blüten, die noch geschlossen sind, zart und schüchtern hervorlugen. Vielstimmiges Vogelkonzert erfüllt den Wald. Der unermüdliche Kuckuck, der Tag und Nacht nicht schweigt und sich auch durch Geschützdonner nicht stören lässt, gibt den Grundton an. Wie vieles erinnert hier jetzt an die Heimat; oft denke ich an die schönen Frühlingsspaziergänge in der Krefelder Umgebung. Alles genießt die herrliche Frühlingsluft. Es stieg noch ein Uffz.-Abend im gemütlichen Chef-Blockhaus. Cognac von Uffz. Dindahl, dem letzten der alten Weltkriegsteilnehmer, der uns verlässt, zum Abschied gestiftet. 21. Mai 1942 In den beiden letzten Tagen haben wolkenbruchartige Wassergüsse unsere Stellungen wieder in einen kleinen Morast verwandelt, und das, als wir gerade das Wasser aus den Bunkern gepumpt hatten, um sie wieder instand zu setzen. Denn das Blockhaus im Wald bzw. mein Zelt gewähren gegen Splitter zu wenig Schutz, und so wollten wir wieder in die Erde gehen, das heißt in Blockhäuser, die einen Meter tief in die Erde gebaut werden. Dach und Wände werden dann durch Grasbelag möglichst splittersicher gemacht. Es ist zwar augenblicklich ruhig, aber man meint, dass wir noch lange hier bleiben müssen, und da ist es schon besser vorzusorgen. Manche denken schon wieder an den Winter. Heute haben wir auch unseren alten Rechenbunker leer gepumpt und abgedeckt, um einen größeren Platz für das geplante Blockhaus an dieser Stelle auszuschachten. Überall kommen die Erdlöcher, in denen 95 Wolfgang Buff, Vor Leningrad wir den Winter verbrachten, wieder zum Vorschein. Man steht vor dem grauen Loch, schüttelt den Kopf und fragt sich: „Wie war es möglich?“ Es fehlt uns sonst an nichts. Bei diesen Temperaturen (+10° bis + 20° ) lässt es sich aushalten und dazu hier im Wald, der nun wie von unsichtbarer Hand grün zu werden beginnt. Dunkel wird ‘s schon gar nicht mehr. Von 22.00 bis 2.00 Uhr liegt eine sanfte Dämmerung mit einem immer leuchtenden Nordhorizont über dem Land. Unter diesen Umständen kann sogar die künstliche Beleuchtung fast eingestellt werden. Ich glaube, dass ich mit meinem Kerzenvorrat bis zum nächsten Winter auskommen werde. Auch reichlich Briefpapier wurde uns verkauft. Allerdings ist mein Federhalter gestern durch Berührung mit Feuer verbrannt. Bemüht euch aber vorläufig nicht um einen neuen. Ich werde versuchen, ihn mit dienstlicher Bescheinigung von hier aus neu zu beschaffen. 23. Mai 1942 (Pfingstsonnabend) Gestern kamen gute Nachrichten von daheim. Karte von Lotte, Bruno, Thekla, Mechthild und Joachim. Es ist ja schön, dass man dort hört, wir kämen bald zurück; aber ich glaube, das hat noch seine Weile. Ihr werdet staunen, aber es ist Tatsache, wir werden uns einen neuen Bunker bauen und aus der Arche Noah bald ausziehen. Seit einigen Tagen ist es wieder furchtbar nass. Ich war heute im Wald, auf der Suche nach den Granateinschlägen dieser Nacht. Es war wieder arg morastig dort, aber es wird umso mehr grün. Auch die öden Felder bedecken sich mit einem grünen Hauch. Der Kuckuck ruft unablässig, Eichhörnchen und Wiesel springen in der Stellung umher, und Kiebitze und allerhand Sumpfgeflügel flattern in den Lüften. Von hier gibt es sonst nicht viel zu berichten. Ein Tag nach dem anderen fließt in Gleichförmigkeit eintönig dahin. Aber man hält sich doch. Ich treibe etwas Stenographie und lerne zungenbrecherische russische Vokabeln. Außerdem gibt es auch mehr als genug zu lesen. Die einliegenden Heftchen über den alten Fritz und Marschall Vorwärts sind für unseren Soldaten in spe. Wenn Joachim im Juli eingezogen wird, dann muss Bruno sich mit der Gartenarbeit doppelt schlagen. Eben kommt die erlösende Nachricht vom Beginn der Operationen an der Mittelfront. 96 Wolfgang Buff, Vor Leningrad 24./25. Mai 1942 (Pfingsten) Es war ziemlich still in diesen Tagen, aber leider kein Pfingstwetter. Kühl und regnerisch, morastig. Gestern gab es ein Fußballspiel gegen eine Nachbar-Batterie, das unter großem Gebrüll auf einem Ackerfeld ausgetragen und von uns gewonnen wurde. Heute erstmalig FeldGottesdienst hier erlebt. Mit G. und B. zu Fuß zur Protze. Dort hielt der evangelische Divisionsgeistliche im Freien den Gottesdienst. Er war von Mannschaften und Offizieren gut besucht. Das Beispiel unseres Divisions-Generals, den man an den Feldgottesdiensten in M. (Mga) öfters teilnehmen sieht, scheint auch hier zu wirken. Es ist auch hier im Dorf und in den vorderen Infanterie-Stellungen verschiedentlich Gottesdienst gewesen, ohne dass wir es gewusst haben. Es fehlt immer wieder an der genügenden und rechtzeitigen Bekanntgabe, an Teilnahmebereitschaft fehlt es nie. Wir sangen „O heiliger Geist, kehr bei uns ein“ und hörten eine Predigt über Römer 8, 9-11. Es ging mir durch den Sinn, welch’ furchtbare Macht der Gottlosigkeit auf der anderen Seite uns gegenübersteht. So ist bei uns doch noch ein Funke Glaube, und es ist ein ungeahnter Geisterkampf, der sich hier vollzieht zwischen hüben und drüben. Für Gotthards Karte vielen Dank. Er kann sich ja schon ganz gut in der französischen Sprache ausdrücken. Besser als ich in der russischen. Eben lernte ich zehn Eigenschaftswörter. Dazu brauchte ich mehr als eine halbe Stunde. Diese Sprache ist wirklich sehr schwer und unserem Verstand und Ohr ungewohnt. Ich versuche, einige Wörter von dieser seltsamen Sprache zu lernen. Wenn es auch nur Brocken sind, so können sie einem doch mal gute Dienste tun. 28. Mai 1942 Nach Morast und Regenwetter ist es nun sommerlich warm geworden, und wir sind mit Eifer beim Ausschachten unseres Blockhaus-Bunkers. Aber noch etwas viel Schöneres kann ich euch mitteilen. Es ist fast zu schön, um wahr zu sein. Ganz sicher ist es auch noch nicht, aber immerhin schon so, dass ich es schreiben kann: Also gestern war ich auf der Abteilung, und man gab mir dort eine Liste der nächsten Urlauber mit, auf der ich zu meiner großen Überraschung nicht sehr weit von der Spitze meinen Namen fand. Die Liste muss noch von unserem Chef genehmigt werden, und alsdann hätte ich Aussicht, noch im Laufe des Juni zu fahren. D.h. wenn alles bleibt, wie vorgesehen. Genaues kann ich natürlich noch nicht sagen, aber erschreckt nicht, wenn ich Anfang oder Ende des Monats plötzlich in Niersheim erscheinen sollte! Es hört sich ja 97 Wolfgang Buff, Vor Leningrad fast unglaublich an, besonders da ich im Juli 1941 von Bayreuth aus noch dort war. Nun ist aber mein letzter offizieller Urlaub am 15.02.1941 eingetragen. Demnach wäre ich jetzt an der Reihe. Im übrigen geht es mir gut, und die letzten Tage waren ruhig, die Nächte lebhafter. Im Süden bei Charkow geht es ja mächtig voran. Das hebt unsere Stimmung enorm, auch wenn wir hier noch eisern liegen bleiben. 29. Mai 1942 Es ist ein schöner Sommerabend. Ich sitze um 21.30 Uhr vor meinem Zelt. Vor einer halben Stunde ging die Sonne unter, aber es ist noch lange hell genug zum Schreiben. Es ist friedlich still draußen, nur hin und wieder ganz in der Ferne ein dumpfes Rollen, wovon das Zelt manchmal erbebt. Tagsüber konnte man bei 26 Grad Wärme schon gut ins Schwitzen kommen. Es gab heute allerhand zu tun; neben schriftlichen Arbeiten weiter für unseren neuen Bunker ausgeschachtet. Unter den heißen Sonnenstrahlen beginnt der Morast langsam zu trocknen, aber wie auf ein Zauberwort sind ihm ungeheure Mückenschwärme entstiegen. Wir schützen uns mit einer stark riechenden Menthol-Salbe, Moskitonetze stehen in Aussicht. Im übrigen muss ich beim Schreiben mit einer Hand dauernd um mich schlagen, um dies lästige Ungeziefer zu vertreiben. 30. Mai 1942 Schreckliche Mückenplage, dazu sind die Moskito-Netze ausgeblieben; aber man weiß sich zu helfen. Der Sanitäter hat sämtlichen verfügbaren Mull ausgekramt, der wird nun als Schleier um den Kopf getragen, so dass wir wie Beduinenscheichs oder Kuttenträger aussehen. Ich bin glücklicherweise nicht so empfindlich gegen Mückenstiche, aber viele von uns haben schon geschwollene Hände und ein aufgedunsenes Gesicht. So sieht hier der Sommer aus, auf den wir uns so sehr freuten. Erfreulich sind die Nachrichten aus Charkow. Die große Kesselschlacht endete mit der Vernichtung von drei russischen Armeen. 240 000 Gefangene. Für Theklas frohen Brief, Waldemars und Gotthards Zeilen vom 20.5. recht vielen Dank. Diese Zeilen habe ich draußen, nach jedem Satz auf der Flucht vor den garstigen Quälgeistern meinen Platz wechselnd, zusammengedoktert. Im Zelt selbst kann man sich überhaupt nicht mehr aufhalten, wenn einem das Leben lieb ist. Ein schreckliches Land! 98 Wolfgang Buff, Vor Leningrad 2. Juni 1942 In unserem Wald ist es nun endlich Frühling geworden. Birken und andere Laubbäume haben ihr grünes Kleid angelegt. Strahlender Sonnenschein und nicht zu warm (26°). Wenn nur die garstige Mückenplage nicht wäre, aber wir haben grüne Schleier bekommen, durch die man Kopf und Nacken gut schützen kann. Die Ausschachtung für unseren neuen Rechenbunker war ein hartes Stück Arbeit. 4,50 x 4,50 Meter, ca. 1,30 Meter tief. Ton- und Lehmboden. Eifrigst wird jetzt an den Weiterbau gegangen, denn das Zelt ist doch nicht sicher genug. Vorsichtshalber schlafen wir schon im Blockhaus. Heute Abend gibt es dort auf der Waldwiese ein Fass Bier. Auch von unserer Nachbar-Batterie höre ich Singen und Klingen. Wir haben zwar manchmal nach Ablösung gejammert, aber es ist doch so, dass wir hier nur zufrieden und dankbar sein können. Schwerer englischer Luftangriff auf die Innenstadt von Köln. Zweimaliger Vergeltungsangriff auf die englische Bischofsstadt Canterbury. Trauriger Höhepunkt der Zerstörungswut. Unter den Sanitätssoldaten, die in den Feldlazaretten und bis zu den vordersten Linien Dienst tun, befinden sich zahlreiche katholische Geistliche, die zum Dienst mit der Waffe meist nicht herangezogen werden. An manchen Stellen wird daher ohne Zutun des Divisions-Pfarrers sonntäglich Gottesdienst gehalten, was jedoch meistens kaum über die betreffende Einheit hinaus bekannt wird. Gewänder und Geräte führen diese Geistlichen in einem Messkoffer unter ihrem Gepäck mit sich. So erfuhr ich heute, dass in verschiedenen Stellungen am Pfingstmontag in Bunkern oder Blockhäusern die Messe gehalten worden ist. 3. Juni 1942 Im Wald Stämme geschlagen für unseren Bunkerbau. Olt. Bruckmann und Lt. von le Fort in Urlaub. Vertretungsweise kommt Lt. Weinfurth, ein Krefelder, zu uns. Ich sandte heute von meiner Löhnung 200 RM auf mein Konto bei der Deutschen Bank in Goch. 99 Wolfgang Buff, Vor Leningrad 4./ 5. Juni 1942 Schönes Sommerwetter (+10 bis 16°). Wenig geschossen. Stämme im Wald geschlagen und für unseren Bau herangeschleppt. Die schweren werden Morgen von Pferden geholt. Ich bekomme von allen Seiten mehr Lektüre zugeschickt, als ich hier lesen kann, und weiß auch nicht, wo ich sie lassen soll. Langeweile bekommt man hier in Russland so leicht keine und Muße noch weniger. Im übrigen steht mir unsere Batterie-Bücherei zur Verfügung, aus der ich bisher kaum zwei Bücher zu lesen die Möglichkeit hatte. Ich bin also vorläufig mit Lesestoff reichlich versorgt und schreibe, wenn er zu Ende geht. Außerdem bemühe ich mich, in freien Stunden russisch zu lernen und meine verrosteten Kurzschrift-Kenntnisse wieder aufzufrischen. Ab und zu muss man auch mal wieder in Artilleristik etwas Wiederholung betreiben. 7. Juni 1942 (Sonntag) Bei strahlendem Sonnenschein starker Nordwind, der die Temperatur nicht über 11° ansteigen ließ. Schöner stiller Sonntag. Morgens Sonntagsspaziergang zur Ruhr-Impfung, nachmittags mit M. und L. zur benachbarten Batterie und zu den B.-Stellen mit prächtiger Fernsicht. Leuchtendes Land. Wenn der Sommer so bleibt, können wir uns in Russland kaum besseres wünschen. Sonderzulage: 2 Eier, 1 Liter Wein, 1 Flasche Selters-Wasser und Cognac. Mittags: Nudeln mit Fleisch, Pudding. Kann man noch mehr verlangen? 8. Juni 1942 Heute kam überraschend nach fast 6-monatiger Abwesenheit Peter Linden zu uns zurück. Er fand wieder herzliche Aufnahme in unserem Rechentrupp, seine fachkundige Hilfe beim Neubau kommt uns gerade recht. Drei Tagebücher, Brief und Päckchen von Mechthild brachte er treulich mit. Joachims Hühnerei ist auch angekommen. Recht vielen Dank. Wie ihr oben gelesen habt, gibt es auch hier des öfteren Eierzulage, die wohl aus den baltischen Ländern beschafft wird. 9. Juni 1942 Der gestrige stille, aber arbeitsreiche Sommertag hatte einen traurigen Abschluss. Durch Beschuss hatten wir erstmalig in der Stellung Verluste. Zwei Leichtverwundete mit Granatsplittern am Kopf und einen Toten 100 Wolfgang Buff, Vor Leningrad (Gfr. Möller); er geriet am Blockhaus in einen Volltreffer, der ihn in Stücke riss. Er war noch ein verhältnismäßig junger SoIdat, aber sehr geschickter Schreiner und hat sich durch seine entgegenkommenden, willigen Arbeiten auch um unseren Bunker hoch verdient gemacht. Heute Morgen nahmen wir Abschied von ihm. Auf dem Friedhof in M. (Mga) wird er nun ruhen. 9. Juni 1942 Geländeerkundung mit Lt. Weinfurt und Vermessungsarbeiten. Lt. W. scheint ein sehr angenehmer Mensch zu sein. Im Wald gibt es viele herrliche Blumen, besonders auf den vereinzelten Lichtungen und Wiesen. Aber die Mücken, die Mücken! 10. Juni 1942 Major Gobbin besuchte die Stellung. Unser Blockhaus-Bau schreitet rüstig weiter fort. Zusatzportion: Eierpfannkuchen. Seltsamer Abendhimmel mit unzähligen Farbtönen. Im Westen ging golden die Sonne unter, darüber zartblauer Himmel. Im Zenit Silberwölkchen, nach Osten zu schwefelgelbe Wolkenfelder und darauf blauschwarze drohende Gewitterwolken, über die sich ein Regenbogen wölbte. Der Wald aber erstrahlte in einem fast strahlenförmigen Lichterglanz. 14. Juni 1942 Die letzten Tage haben wir mit Hochdruck an unseren Bunkern gearbeitet. Von morgens 6.30 Uhr bis abends 18.30 Uhr und zwischendurch den Spaten hingestellt und gegessen. Wir sind auch ein gutes Stück weiter gekommen. Vorgestern kam das Dach in Gestalt von zwei erdbeschwerten Balkenlagen auf den neuen Rechenbunker; gestern begannen die Innenarbeiten, Fenster, Türen, Abschälen der Balkenenden, woran ich mich wie in alter Zeit als Maurer beim Ausschmieren der Balkenfugen mit Lehm beschäftigte. In Schreinerarbeiten sind P. Linden und Brandt geschickter. Den heutigen Sonntag hat der Leutnant als Ruhetag befohlen. Ich sitze draußen vor dem Zelt, wo die Schreibmaschine noch klappert, und schreibe. Vater meinte neulich mit Recht, die Arche Noah wäre wenig bomben- und granatensicher. Nun, wir haben wohl auch noch einige Male fluchtartig dieses Lokal verlassen, auch schon unter dem Plantisch 101 Wolfgang Buff, Vor Leningrad flach gelegen, aber deshalb werden wir ja auch bald ausziehen und zu Mutter Erde im Bunker zurückkehren. Heute ist strahlender Sonnenschein. Ein Nordwind, der kühl von der See herüberbläst und es nicht wärmer als 8° werden lässt, hat die hässliche Mückenplage vertrieben, so dass man sich gern im Freien aufhält und vor den Bunkern die Rauchfeuer ausgehen lassen kann. Heute Morgen ging es zur zweiten Ruhr-Impfung nach S. (Sinjawino), obwohl bei den meisten die Brust von der ersten Prozedur noch schmerzte. Sonst aber ist der Gesundheitszustand bei uns ausgezeichnet. Ansteckende Krankheiten überhaupt nicht, andere Übelkeiten wenig aufgetreten. Wer von uns abgekämpft ist, kommt für 14 Tage in ein Erholungsheim nach Estland (Fellin), wo die Armee erstklassig für die erholungsbedürftigen Soldaten sorgt. Ich gehöre ja nun zu den wenigen Glücklichen, denen in Kürze ein besserer Erholungsurlaub bevorsteht. Es mag jedoch von hier aus noch ca. 14 Tage dauern. 14. Juni 1942 Heute Morgen evangelischer Gottesdienst in S. (Sinjawino) Als ich beim Antreten fragen ließ, wer hin wollte, meldete sich natürlich niemand. Erst hinterher kam einer nach dem anderen zu mir, so dass wir schließlich zu Sieben waren. In einem dunklen Raum eines ziemlich abgewrackten Hauses war der Altar aufgebaut, dessen Kerzen traulich leuchteten. Und der Divisions-Geistiche hielt Gottesdienst und predigte über das heutige Evangelium vom großen Abendmahl. Außer uns Sieben noch drei Unteroffiziere, der Ortskommandant und ein Musikmeister. Es ist merkwürdig, wie in verborgener Weise durch die schrecklichen Zeitereignisse für Gottes Wort wieder Bahn und Raum gemacht wird in einem Dorf, dessen zerfallene Kirche von der Herrschaft der Dämonen Zeugnis ablegt. Seit vier Jahren hat nach Aussagen der Russen keine kirchliche Amtshandlung in dieser ganzen Gegend mehr stattgefunden, weil es keine Geistlichen mehr gegeben hat. Jetzt beginnt auf eine seltsame Weise in den zerschossenen Dörfern und Siedlungen Gottes Wort wieder auszugehen. In Bunkern, in zerschossenen Häusern und in der Wildnis der Wälder wird es geredet. Im Verborgenen wird das Licht des Evangeliums, das erloschen war, wieder angezündet. Für eure Verhältnisse spät, aber für hiesige noch rechtzeitig, werden jetzt durch Soldaten und die Reste der Zivilbevölkerung die Felder bestellt. 102 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Überall wird Mist gefahren, gepflügt und gesät, werden Kartoffeln gepflanzt. Man hofft noch auf eine gute Ernte. In vier Monaten muß sie reif sein. Ob wir sie noch ernten werden? Der englische Luftangriff auf Köln am 31.5.1942 muss entsetzliche Zerstörungen dort angerichtet haben. Verschiedene Kölner Kameraden, deren Angehörige das nackte Leben gerettet haben, berichteten davon. Man spricht von 70 000 Obdachlosen und mehr. Ein Drittel der Stadt sei noch vorhanden. In den Zeitungen las ich einen traurigen Nachruf über die drei berühmten alten Kirchen (St. Aposteln, Schwarze Madonna und Groß-St.-Martin), die den Bomben zum Opfer fielen. Es muss trostlos aussehen in dieser stolzen Metropole des Rheinlandes. Wie durch ein Wunder blieb der Dom bewahrt. Köln habe ich in seiner ganzen Art früher oft mit Rouen verglichen und auffallend ähnliche Züge gefunden. Nun ist es auch von einem ähnlichen Schicksal heimgesucht worden. 17. Juni 1942 Die letzten Tage waren besonders ruhig. Wir konnten ziemlich ungestört an unserem Bunker arbeiten. Gestern Abend war es so weit, dass wir in den aus Birkenstämmen und Granatkörben gezimmerten Betten die erste Nacht verbringen konnten. Heute weitere Innenarbeiten. 18. Juni 1942 An der Inneneinrichtung des Bunkers arbeiteten Brandt und Linden, zimmerten einen wunderbaren Tisch, Gestell usw. M. und ich übernahmen draußen die Erdarbeiten. Unser Bunker sieht jetzt von außen aus wie ein großer Maulwurfshügel, von innen aber gleicht er schon einem Zimmer. Vor einigen Tagen ging ich mit einem großen Sack in den Wald, um Moos für die Fugen unseres Baues zu suchen. Da springt auf einmal etwas Unbeholfenes vor mir her, und als ich ihm nachlaufe, rollt es sich zusammen. Ein russischer Igel! Ich schnappte ihn mir und nahm ihn im Sack mit zum Bunker. Er sollte als Mäusefänger Verwendung finden. Kaum hatte ihn jedoch der Leutnant erblickt, da hätte er ihn gerne gehabt, und so wurde er dann gleich als Mausjäger im Chef-Bunker eingesetzt. Das Ungeziefer verschwand alsbald, der Leutnant war recht zufrieden mit seinem Hausgenossen, da geschah das große Ereignis: Auf einmal war „Iwan“ - so hatten wir ihn genannt - auffällig klein und dünn geworden, und siehe da, in einer Papierkiste hörte man es rascheln und bei näherem Zusehen lagen darin vier kleine Igelchen, 103 Wolfgang Buff, Vor Leningrad groß wie eine Maus, aber schon stachelbewehrt. Alles hat seinen Spaß an der seltsamen Familie. Der Leutnant möchte sie gern noch acht Tage bei sich behalten. 19. Juni 1942 Nach einer Reihe von paradiesisch schönen Sommertagen heute wieder nicht enden wollenes Regenwetter. Dabei Einrichtung des Bunkers. Mein Urlaub ist jetzt wohl in greifbare Nähe gerückt. Ich rechne mit Abfahrt von hier im Laufe der nächsten Woche. Reisedauer drei bis vier Tage. Da ich jedoch in Berlin kurz und in Hannover je nach Lage der Dinge etwas länger Station machen will, wird es zwei oder drei Tage länger dauern. Ich gebe euch dann von Deutschland aus näheren Bescheid. 20. Juni 1942 Das Rechenzelt „Arche Noah“ abgebrochen und eingepackt; mit den Resten ein lustiges Sonnenwendfeuer entzündet. 21. Juni 1942 (Sonntag) Stiller Sonntag, den wir bei Regen und Wind wohlgeschützt in unserem Bunker verbrachten. Heute Nachmittag kam die überraschende Nachricht von der Erstürmung und Übergabe der Festung Tobruk, wohl eine der größten Leistungen dieses Krieges. 25 000 britische Soldaten streckten die Waffen. Rommels Armee dagegen ist schon auf weiterem Vorstoß über Bardia und Sollum hinaus. Werden sie diesmal Ägypten erreichen und damit den Kampf im Mittelmeer zur Entscheidung bringen? An der Südfront geht es weiter. Um Sewastopol wird erbittert gerungen. Der größte Teil der Festungswerke in unserer Hand, und die Einnahme der Stadt wird täglich erwartet. 25. Juni 1942 Mein Urlaub hat sich nun doch noch etwas verschoben. Hoffentlich klappt es nun in der nächsten Woche! In den letzten Tagen war es ziemlich ruhig, ruhiger als in den Wintermonaten. Das Wetter ist herrlich. Den ganzen Tag herrlicher Sonnenschein, aber keine Hitze. Des Nachts war es gar nicht mehr dunkel, obwohl die Sonne um 21.15 Uhr hinter dem Horizont versank. 104 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Die kleinen Mücken sind in den letzten Tagen etwas weniger zahlreich geworden, dafür kommen jetzt dicke brummende Bremsen, die Mensch und Tier quälen. Die vielen Buschwindröschen sind mit dem Kuckucksruf nun verschwunden. Dafür gibt es Butterblumen und himmelblaue Leberblümchen. Ein herrlich grüner Grasteppich bedeckt die Stellung. 26. Juni 1942 Heute kam eine Karte von Lotte. Ich habe nun vor, doch noch einige Stationen auf meiner Heimreise zu machen, damit ich alle Geschwister sehe: Berlin, Hannover, Braunlage, Frankfurt und dann über Krefeld nach Asperden. Ich halte mich aber überall nur kurz auf, denn ich sehne mich nach daheim. Im übrigen mache ich diese Abstecher auch nur, wenn es sich einigermaßen gut in Deutschland reisen lässt. 28. Juni 1942 (Sonntag) Das Erlebnis der klaren Nächte mit dem weiten nördlichen Sternenhimmel inspirierte zu dem Gedicht: DER MORGENSTERN „Hüter, ist die Nacht schier hin?“ Hör’ ich viele angstvoll fragen, Welche mit betrübtem Sinn Schwere Last des Kreuzes tragen. „Hüter, auf der hohen Wacht Siehst du nicht ein erstes Zeichen, Dass beendet ist die Nacht, Dass die dunklen Schatten weichen?“ Doch die Antwort ist noch nicht Von dem Wächter dir gekommen, Noch verborgen ist das Licht, Und du zagst betrübt, beklommen. Dennoch, siehst du nicht als Pfand Fackelgleich ein Licht entbrennen, Das dir weist des Wächters Hand, Das dir seine Lippen nennen? 105 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Dort am dunklen Horizont Ist ein Sternlein aufgegangen, Das dein Warten nun belohnt Mit des hellsten Strahles Prangen. Ja, es ist der Morgenstern, Der, eh’ noch der Tag erscheinet, Kündet als ein Licht vom Herrn Trost dem, der da seufzt und weinet. Ob auch Finsternis bedecket Noch das Erdreich nachtumhüllt, Dennoch ist ein Licht erwecket, Mächtig, hoffnungsreich und mild. Spürst du nicht, es naht der Morgen Mit des neuen Tages Schein? Lass drum in den dunklen Sorgen Hoffnung deine Freude sein. 30. Juni 1942 Trotz des überaus schönen Wetters der letzten Tage bei 15° bis 20° machen sich allgemeine Müdigkeitserscheinungen unter uns bemerkbar. Liegt es an den zahllosen Mückenstichen, deren Gift uns ins Blut gedrungen ist, liegt es an der dreifachen Ruhr-Impfung, der wir uns unterziehen mussten, oder an den feuchtschimmeligen Bunkern? Man weiß es nicht. Einige von uns liegen mit Temperatur schlapp darnieder. Es soll jedoch nichts Schlimmes sein, sogenanntes „Wolhynien-Fieber“, das rasch wieder vorbeigeht. Bei den Mücken, die hier ihr Unwesen treiben, handelt es sich tatsächlich um die gefürchtete „Anopheles-Mücke“, die Überträgerin der Malaria. Eine Atebrin-Kur, die mittels Tablette einmal täglich bis 31. Oktober durchgeführt wird, gibt uns jedoch hinreichenden Schutz. Gestern erreichten uns zwei erfreuliche Nachrichten: Marsa-Matruk im Sturm genommen und im Osten die Schlacht um den Wolchow-Kessel beendet. Damit ist der seit Februar unternommene Versuch der Russen, unsere Front am Wolchow zu durchstoßen und Petersburg zu entsetzen, endgültig gescheitert. 106 Wolfgang Buff, Vor Leningrad 1. Juli 1942 Mit Blitz und Donner kam über das trocken gewordene Erdreich heute Mittag eine gewaltige Wasserflut. Während P. und ich draußen versuchten, das Wasser, das in unseren Eingang zu fließen drohte, abzuleiten, tropfte es plötzlich durch unsere Bunkerdecke, ausgerechnet auf den offenen Plantisch. Überall standen die Bunker wieder im Wasser. Man kam sich vor, wie in den schlimmen Zeiten des Frühjahrs. Doch der Abend wurde wieder trocken und von der untergehenden Sonne strahlend beleuchtet. Um Mitternacht Das große Ereignis von der Übergabe Sewastopols hat man in der vordersten Linie den Russen zugerufen. Wütend hat er daraufhin mit Granatwerfern auf unsere Gräben geschossen. Jetzt bekommt er von uns Vergeltungsfeuer, aber mit schwereren Brocken. 2. Juli 1942 Hin und wieder gibt es in S. (Sinjawino) und in einem russischen Blockhaus Kino und Varieté, meistens von Soldaten gespielt. Heute aber war eine richtige Streichkapelle dort (Fred Nagel) mit einer Sängerin, Musik von Mozart und Haydn sowie einige volkstümliche Lieder wurden gerne aufgenommen. Das Publikum war allerdings weniger zahlreich. Sechs Kilometer vor der Front verständlich und doch verwunderlich. Ihr seid sicherlich erstaunt, dass ich noch von hier schreibe. Leider muss ich euch und mich noch um eine Woche vertrösten. Vielleicht nächsten Donnerstag ab hier. 3. Juli 1942 Nun wundert ihr euch sicher, dass ich immer noch hier bin, aber heute kann ich euch einen genauen Abfahrtstermin sagen. Also, es soll losgehen am Sonntag, dem 12., oder Montag, dem 13. des Monats. Das bedeutet also Ankunft bei euch in der Zeit vom 18. bis 21. Juli. 5. Juli 1942 (Sonntag) Ausflug mit D. nach Schl. (Schlüsselburg) mit der Moorbahn. Dort in aller Frühe im Finnenhaus Messe. Schl. muss früher eine wohlhabende alte Stadt gewesen sein. Heute sehr zerschossen und mitgenommen. In den Holzhäusern am Stadtrand noch viele russische Zivilisten. Von der 107 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Ortskommandantur, wo auch der russische Bürgermeister sitzt, wird ihnen Essen und Verpflegung zugeteilt. Es gibt dort einen Markt, wo man allerhand nützliche Sachen erhandeln kann. Tauschobjekte sind Brot und Rauchwaren. Vom Stadtkommandant erhielten wir Erlaubnis, ein Fahrzeug herzuschicken, um Kantholz zu holen, natürlich auf Abbruch. Das Wetter war herrlich, strahlender Sonnenschein. Der See in milchigem Weiß, wogegen er sonst meist tiefblau erscheint. Hell leuchtete die weiße Kathedrale der Stadt mit mächtigem Turm und Kuppeln. Aber sie war auch verfallen und zerschossen, man konnte nicht zu ihr gelangen. Auf dem anderen Ufer eine ebenfalls ganz in Trümmern liegende Kirche. Bei dieser Gelegenheit besuchte ich Olt. Schubert auf unserer B.-Stelle. Überall hatte man den Eindruck einer sonntäglichen Stimmung und Ruhe. 8. Juli 1942 Warmer Sommertag, an dem es nachmittags zum „Sport“ dienstfrei gab. Da es an Sportgeräten mangelte und im übrigen allgemeine Müdigkeit vorherrschend war, wurde Sonnenbäder-Dienst eingerichtet. Alles legte sich der Mücken wegen draußen aufs freie Feld. Ich stieg nach morgenländischer Sitte auf das Dach meines „Hauses“ und las in „Anilin“ über v. Hofmann, v. Liebig und andere berühmte Chemiker. Meine Vorfahren hätten jedoch mehr davon verstanden als ich, dem es auf diesem Gebiet an Interesse und Wissen reichlich mangelt. 9. Juli 1942 Ruhiger Tag. An einem neuen Plan am Zeichentisch gearbeitet. Er wird erstklassig und vornehm wie in Le Havre. Dies sind hoffentlich meine letzten Zeilen aus Russland vor dem ersehnten Urlaub. Nun bin ich gespannt, wer eher bei Euch ist, erstere oder ich. 13. Juli 1942 Als wir in T. (Tossno) den aus deutschen D-Zug-Wagen bestehenden Urlauber-Zug nach Wirballen bestiegen, erstrahlte nach einem trüben regnerischen Himmel plötzlich die Sonne. Für jeden war ein Platz im Zuge vorhanden, alles war genau aufgeteilt, und wir richteten uns auf eine mehrtätige Reise ein. 108 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Am gestrigen Sonntag nahm ich Abschied von der Fernsprech-Stelle; das Küchenfahrzeug brachte uns auf sumpfigen Waldwegen und Schneisen zur Protze. Dort herzlicher Empfang und Begrüßung als vielbeneideter Urlauber. Wald und Wiesen wechseln hier parkartig miteinander ab; alles ziemlich urwüchsig, kaum Spuren menschlicher Arbeit und Ordnung. Und doch hausen in diesen sumpfigen Wäldern viele tausend deutsche Soldaten, jetzt schon über zehn Monate lang. In Erdbunkern und Blockhäusern haben sie sich eingenistet und führen dort einen zähen Kampf gegen die Unbilden einer feindseligen Natur. Heute Morgen ging es weiter auf endlosen Knüppeldämmen - zehntausende von Baumstämmen wurden dafür geschlagen - zum nächsten Bahnhof, denselben Weg, den wir vor genau neun Monaten zur Feuerstellung geritten waren. Nie hätte ich geahnt, dass ich auf diese Weise wieder zurückkommen sollte. Ich freue mich schrecklich und wegen der Rückfahrt mache ich mir noch keine Sorge. Bei K. am Bahnhof längerer Aufenthalt und gute Suppe von der Stadtkommandantur. Hier ist schon alles gut eingerichtet. Die Reichsbahn hat das russische Bahnnetz gut ausgebaut und sich zu Nutze gemacht. Im anschließenden Heimaturlaub wurden keine Briefe geschrieben. 6. August 1942 Bis Wirballen ist meine Fahrt planmäßig verlaufen. Ich trennte mich von Vater und Lotte in Krefeld und fuhr dann über Duisburg, Essen, Bielefeld nach Hannover. In Duisburg war von den Bombenschäden vom Zuge aus nicht viel zu sehen. Die Fabrikschornsteine rechts und links der Bahn rauchten, zerstörte Werke sah ich kaum, wohl aber eine Reihe zerstörter Häuser. Auf dem Duisburger Bahnhof sind nur kleine Zerstörungen und fehlende Glasscheiben zu bemerken. Auf der weiteren Fahrt nach Hannover war sehr schönes Sommerwetter. In Berlin war Albert am Zuge. Ich gab ihm euer Paket, fuhr aber doch mit dem gleichen Zuge weiter, um auf jeden Fall pünktlich einzutreffen. Jetzt bin ich munter in Wirballen. Meine Kameraden haben sich auch eingefunden, und wir haben es uns draußen im Schatten grüner Lindenbäume gemütlich gemacht. In den Baracken ist es zu voll und ungemütlich. 109 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Ich speiste eben zu Mittag von eurem köstlichen Kartoffelsalat. Auch die Milch schmeckte herrlich. Ich glaube, Löffel und Gabel sind zurückgeblieben. Schickt sie mir doch bitte - auch die fehlenden Riemen - bald nach. Hier lernte ich zum ersten Mal eine russische Kirche näher kennen. Von außen im üblichen orthodoxem Stil: Kreuzform mit Kuppel. Im Innenraum eine verwirrende Fülle von Bildern, Altären und Figuren. Es war dort gerade eine Art Seelenamt. Der Pope trug ein schwarzes Messgewand mit weißem Kreuz und stand am Altar im Heiligtum, dessen Tür geöffnet war. Feierlicher Gesang eines kleinen Chores wechselte ab mit Gebeten. Es war der reinste Wasserfall an Worten, aber man verstand natürlich nichts. Anschließend schloss der Pope die Tür zum Heiligtum in Form eines Kreuzes und zog einen Vorhang davor. Dann kam er nach Gebeten durch eine Sakristeitür aus dem Heiligtum heraus, trat vor die verschlossene Tür, fiel ehrfürchtig vor den Ikonen nieder und küsste sie ergebenst, anschließend wieder unendliche Gebete. Das Ganze kommt einem unheimlich fremd und merkwürdig vor. Kurz vorher war ich in einer litauischen Kirche. Die Litauer sind bekanntlich römisch-katholisch. Dort war alles ganz ähnlich wie bei uns. Die lithurgischen Handlungen und das Sanktus hatten fast heimatlichen Klang. Viele Landser waren andächtig zugegen. Der eigentliche Ort Wirballen, dessen doppeltürmige deutsche Kirche im Osten zu sehen ist, liegt noch vier Kilometer entfernt. Hier sind nur Bahnhofs- und Zollgebäude und die dazugehörigen Beamtenwohnungen. Einen Kilometer westlich liegt das ostpreußische Städtchen Eydtkau. Die Leute hier, mit denen ich sprach, sind freundlich und können vielfach deutsch. Zum Teil sind sie zerlumpt und arm, zum Teil sind sie aber auch sehr sauber und ordentlich angezogen. Kriegsspuren sind hier nur wenige zu sehen. Die Straßen sind in litauischer und deutscher Sprache beschildert. Soldaten aller Waffengattungen und Formationen beleben sie. Auch viel „Wehrmachtsgefolge“ und Rotkreuz-Schwestern. Tausende von wartenden Urlaubern lagern auf allen freien Plätzen. Heute Abend um 19.18 Uhr werde ich nun weiterfahren. Ich grüße euch Lieben alle sehr herzlich. Habt alle, besonders Mutter, nochmals herzlichen Dank für alle eure Liebe und Sorge, mit der ihr mich umgabt. Besonders das Gastzimmer hat mir so gut gefallen. 110 Wolfgang Buff, Vor Leningrad 8. August 1942 Bis jetzt ist die Reise weiterhin gut verlaufen. Augenblicklich achtstündiger Aufenthalt in T. (Tossno). Heute Abend werden wir dann an Ort und Stelle sein. Der Eisenbahnbetrieb funktionierte in wunderbarer Regelmäßigkeit und Pünktlichkeit. Es war die gleiche Strecke wie auf der Hinfahrt. Überall wird emsig am weiteren Ausbau des Bahnnetzes gearbeitet. Vielfach von Frauen und Jungendlichen. Die Litauer hatten ihren Speck scheinbar ausverkauft. Stattdessen boten die Russen Waldbeeren und Erdbeeren an; gegen eine Scheibe Brot gab es eine Tüte voll. Nach achtstündigem Aufenthalt in T. (Tossno) und vierstündigem in M. (Mga) bei kaltem Regenwetter holte uns ein Fahrzeug mit unseren vielen Kameraden-Paketen ab. Im geheizten Bunker von Fr. Melte in der Protze hoffe ich nun, einen guten Schlaf zu tun. 10. August 1942 Jetzt sitze ich wieder bei Kerzenlicht im Bunker, aber das Einleben fällt schwer. Genau nach vier Wochen brachte mich dasselbe Küchenfahrzeug, das mich am Sonntag, dem 12.7. aus der Einöde herausgebracht hatte, wieder dorthin zurück. Nichts hatte sich geändert, wenigstens nichts zum Vorteil. Nur die liebe Sonne schien auch hier oben nach langer Zeit wieder freundlich und warm. Furchtbar nass ist es hier gewesen, und noch stapft man in der Stellung durch Morast und Schlamm. Unser schöner Bunker begrüßte mich gleich mit nass-dumpfer Luft, die einem schon draußen entgegenschlug. Unter dem „Fußboden“ musste man Wasser herauspumpen, die Wände verschimmelt und schwarz und von oben tropft‘s. Das Regenwetter muss wieder so schlimm wie im Frühjahr gewesen sein. Vor dem einzigen Fenster, das eine kleine Aussicht hatte, hat man einen Splitterschutz gebaut, der innen viel Licht wegnimmt. In die Stellungen hat es nämlich in der letzten Zeit schwer hereingefunkt. Wir hatten glücklicherweise nur einen Verwundeten, aber viele Trichter ringsumher, und man ist sehr vorsichtig geworden. Der Chef lässt sein nettes Blockhäuschen ganz mit Erdwällen und Bunkerstämmen umgeben und bedecken und zu einem „Maxim-Gorki-Fort“ umbauen. 111 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Marstaller und Linden sind zum Geschütz versetzt. Stattdessen als neue Rechner Brandt und Ritzenhoff, beide anständige Kameraden, aber doch nicht so alte Freunde; Hans Käker zur Protze. Nun soll ich die Schreibstube hier oben vorläufig noch mit übernehmen. Demnächst noch mehr; aber weglassen von hier will mich der Olt. nicht. Auf der Reise fühlte ich mich schon nicht gut. Als ich in der Protze ankam, hatte ich Fieber. Heute geht es nun wieder besser; nachdem ich zum Baden war. Ich habe heute Abend meinen Dienst wieder übernommen; aber es will noch gar nicht recht klappen. Die anderen Urlauber sagen auch, sie hätten fast acht Tage gebraucht, bis sie sich wieder zurecht- und hineinfanden. Bei meiner Abreise ist mein Löffel liegengeblieben und mein Waschlappen. Ihr könnt euch denken, wie ich den Löffel entbehre. Hoffentlich habt ihr ihn abgeschickt. Es war schade, dass alles so schnell gehen musste. 11. August 1942 Heute ist wieder warmer Sonnenschein; bei euch werden die Getreidefelder nun abgemäht, hier haben sie noch viel Zeit zur Reife nötig. Trotzdem geht mir immer wieder Ulrichs Erntelied mit seiner eindrucksvollen Melodie durch den Sinn: „Nun nimm die müßige Sense zur Hand“. Ein unvergessliches Stück Heimat, das aber in gleicher Weise auch für die weiten Felder in Russlands Norden gilt. Anbei noch die Lebensmittel-Karte zurück. Ich kam gut aus und erhielt unterwegs noch zwei Marschverpflegungen. Gestern Abend sah ich einen der üblichen Sonnenuntergänge. Das hat mich mit diesem bösen Lande wieder etwas versöhnt. 14. August 1942 In den vergangenen Tagen viel schönes Wetter und viel Ruhe. Mein Glück, denn das Fieber kam immer wieder und ich fühlte mich sehr unpässlich. Die Erfolge unserer Truppen im Süden sind groß. Maikop und Pjatigorsk genommen. Nach Süden geht es weiter, muss es weiter gehen. Nach Osten wird man kaum weiter vorstoßen. Das Kalmückengebiet dürfte uns wenig reizen, und Astrachan wird nur schwer zu halten sein. 112 Wolfgang Buff, Vor Leningrad 15. August 1942 Heute war ein Fass Bier bei unserem Ableger „Belami“ angekommen. Er wohnt nicht weit von hier, etwas tiefer im Wald. Ich war dort hingegangen, um Kameraden nach dem Urlaub wiederzusehen. Wir saßen bei warmer Herbstsonne auf einer Waldwiese im Kreise, leere Pulverfässer als Gartenmöbel, von Mücken kaum behelligt. Wir erzählten viel vom Urlaub, Schoppmann blies lustig Mundharmonika, Dierichs bekam feierlich das Verwundeten-Abzeichen überreicht. Er ließ sich neulich vom Stabsarzt mehrere Splitter aus dem Bauch ziehen, ohne dass er vorher etwas von ihnen bemerkt hatte. Wir tragen jetzt auch das „Winter-Abzeichen“, ein rotes Band mit weißschwarzen Streifen. Die Medaille selbst soll erst später geliefert werden. Böse Zungen sagen, es folge noch ein Schieber für den zweiten, dritten und vierten Winter. Der Orden war ursprünglich nur für die Soldaten gedacht, die vom 15. November bis 15. April im Osten im Einsatz waren. Später wurde diese Zeit auf 60 Tage beschränkt und auf 14 Tage Einsatz in der vordersten Linie. Die Ausführung dieser Bestimmungen ist aber so, dass die in Frage kommenden Einheiten an jeden Angehörigen das Band verteilen, ganz gleich ob die einzelnen Bedingungen erfüllt wurden oder nicht. 16. August 1942 Der heutige Sonntag war wieder warm und sonnig und vor allen Dingen ziemlich ruhig. Am Vormittag saß ich oben auf dem Bunker - ein schönes aussichtsreiches Plätzchen und las den Propheten Habakuk. Zu Mittag gab es Rotwein, allerdings mäßiger Qualität und Pudding als Sonntagszugabe. Das Essen - statt Kartoffeln wird getrocknetes Brot in der Suppe gekocht - schmeckt mir jetzt wieder besser. Mutter hatte mich zu sehr verwöhnt. Am Nachmittag schrieb ich an meine Firma Leufgen in Krefeld, anschließend Spaziergang mit P. zu einigen B-Stellen, wo ich ihm die Versorgung von Petersburg zeigte. 19. August 1942 Die vergangenen Tage verliefen wie bisher ruhig und ereignislos bei schönem Wetter. Man genießt zu Recht die erquickenden Tage des dahinschwindenden Sommers. Heute erhielt ich erste Nachricht von euch seit meinem Urlaub. In Vaters Brief erfreute mich besonders, dass du Herrn Leufgen angetroffen und mit ihm angenehme Bekanntschaft 113 Wolfgang Buff, Vor Leningrad gemacht hast. Ich schrieb ihm dieser Tage. Von dem Erlass des Führers bezüglich Einschränkung des Grundstücksverkehrs im Kriege hatte ich auch schon erfahren. Wir haben also richtig gehandelt, Schulden zu tilgen und wollen das auch weiter tun. 20. August 1942 Bei Dieppe, wo Engländer gestern um 6.00 Uhr mit anscheinend sehr ungenügenden Kräften auf 25 Kilometer Breite zu landen versuchten, hat die englische Führung sich ein Stück geleistet, an dessen Erfolg sie wohl selber kaum glaubte. Das scheint der Erfolg von Churchills Moskauer Besuch und Stalins ultimativer Forderung einer zweiten Front zu sein. Jetzt hat sich für beide die Lage nur verschlimmert, und die sauberen Bundesgenossen werden sich gegenseitig den Misserfolg zum Vorwurf machen. Hoffentlich geraten sie sich dabei gehörig in die Wolle, so dass ein zweiter Versuch dieser Art unterbleibt. Die Steilküste bei Dieppe ist leicht zu verteidigen. Mich wundert, dass man diese Stelle trotz ihrer Ungunst wählte. Immerhin sind von den 39 Transportern die meisten unverrichteter Dinge um 16.00 Uhr zurückgekehrt, hoffentlich auf Nimmerwiedersehen. Um 19.15 Uhr verschwindet der glühende Sonnenball. Dann steigen weiße Nebel aus dem feuchten Waldgrund, und das Gras wird nass wie nach einem Regenschauer. Der Sommer schickt sich an zum Scheiden. Bald kommt der kurze Herbst, dann der lange Winter. Löffel und Gabel angekommen. Vielen Dank! 21. August 1942 Unterricht bei Lt. Purchardt - Märchenstunde über ein neues Vermessungsverfahren. Anschließend im Badekostüm gearbeitet und Sonnenstrahlen eingefangen für den langen Winter. Von der Frauenschaft in Asperden kam ein Halstuch an. Bei Hitze und Staub dürfen solche Halstücher jetzt offiziell getragen werden, nur nicht in leuchtenden Farben. Übermittelt bitte der Frauenschaft meinen herzlichen Dank. In einem Aufsatz von Josef Göbbels in der Zeitschrift „Das Reich“ heißt es: „Die Leiden unserer Tage sind der Ausdruck eines schmerzhaften Geburtsaktes, der unerlässlich ist für neues Leben.“ Göbbels findet wohl die richtigen Worte, aber er versteht sie nur auf seine Weise. 114 Wolfgang Buff, Vor Leningrad 23. August 1942 (Sonntag) Heute früh mit Olt. Bruckmann zum VB. Es war nach langer Zeit ein langer Ritt und dann bei drückender Hitze Herumkriechen in den Gräben. Unaufhörlicher Kleinkrieg. Nachmittags war wieder viel Betrieb in der Rechenstelle. Draußen Fußballspiel, das der Russe durch einige Artillerie-Schüsse beendete. Es passierte aber sonst nichts. Bier und eine halbe Flasche Sekt, Pudding und Salat sollten dem Sonntag eben ein festliches Gepräge geben. Erst am Abend wurde es still. 24. August 1942 Wunderbare, heimliche Mondnächte gab es in diesen Tagen. Um 19.15 Uhr sinkt die Sonne. Dann steigt nach dem warmen (23°), sonnenhellen Tag, ein leuchtender Abendnebel auf, und das üppige Grün des Waldbodens wird feucht wie nach einem langen Regen. Wenn es dunkel geworden ist, erfüllt ein zartes Zirpen von vielen Heimchen den stillen Wald, der gute Vollmond steht über den schwarzen Tannen. Alles liegt beglänzt und doch dunkel in tiefer Stille. Nur weit in der Ferne hört man das kurze Hacken eines MG, einen dumpfen Abschuss einer Kanone, dann ist’s wieder totenstill. Nur die Heimchen zirpen leise, bis die Morgenkühle sie verstummen lässt, und die aufgehende Sonne in Milliarden kristallklarer Tautropfen ihre Strahlen bricht. 25. August 1942 Heute wieder ein stiller Tag. Herrliches Sommerwetter. Der OKWBericht brachte die Nachricht von der Inbesitznahme der höchsten Erhebung des Kaukasus, des Elbrus (5 630 Meter) und weiterem Vordringen. An der Nordfront dagegen (Rshew) scheint es schwierig zu sein. „Erbitterte wechselvolle Kämpfe“, das besagt viel. Und was soll hier werden? Frankfurt am Main und Mainz bombardiert. 27. August 1942, 23.00 Uhr Herr, halte Deine Hand über uns! Seit heute Morgen um 5.00 Uhr greift der Russe an. Bis jetzt abgeschlagen. 28. August 1942 Ein harter Tag. Wir waren in großer Gefahr, aber der Herr hat uns bisher geholfen. Vier Verwundete (Nachtsheim, Beller, Abel, Winterhoff). 115 Wolfgang Buff, Vor Leningrad 29. August bis 1. September 1942 Weitere Angriffstage. Schöne, warme Sommertage, aber während der Nächte bis zu -1° Kälte. Der Sommer ist vorüber und der kurze Herbst beginnt. Heute Brief von Thekla und Joachim. *** Dies war die letzte Eintragung im Heft 14 des Kriegstagebuches von Uffz. Wolfgang Buff in Form von Briefen und Berichten. Noch am gleichen Tage fiel Wolfgang Buff durch „Inf.Geschoss“ - wie im Wehrpass vermerkt - als er nach einem Einbruch russischer Infanterie in die Feuerstellung einem schwerverwundeten russischen Soldaten Erste Hilfe leisten wollte. Er wurde auf dem Heldenfriedhof der 227. Inf.-Div., Reihe 24, Nr. 31, in Mga beerdigt und vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge später nach Sologubowka umgebettet. Die Todesnachricht erhielten die Eltern am 14.9.1942 durch einen Brief des Batterie-Führers, den der NSDAP-Ortsgruppenleiter Härter zusammen mit einer Freundin der Familie Buff, Frau Paula Lange, überbrachte. Noch am gleichen Tage schrieb die Mutter an Wolfgangs Bruder Joachim, der kurz vor Wolfgangs letztem Urlaub zum RAD (Reichsarbeitsdienst, Anm. d. Red.) eingezogen worden war und für ein Wiedersehen damals keinen Urlaub erhalten hatte: 116 Wolfgang Buff, Vor Leningrad Asperden, 15. September 1942 Mein Joachim! Was für eine traurige Kunde müssen wir dir bringen! Mein Junge, sei stark! Denk an die Worte, die uns unser heißgeliebter Wolfgang damals im Spätherbst 1939, als er auf Urlaub war, vorlas: „Wenn ich falle, so falle ich in die Arme unseres himmlischen Vaters.“ Nun ist es geschehen: Wolfgang ruht nach schwerem Kampf in Gottes Armen. Daran wollen wir uns halten und ausschauen nach dem Augenblick, wo wir ihn in der Auferstehung wiedersehen. Wird das nicht Freude sein! Wir werden ihn wiedersehen, seine guten blauen Augen, seine Harmonie, alles wird uns wieder beglücken. Auch in diesem dunklen Tal des Schmerzes ist Gott, unser Heiland, bei uns. Er führt uns doch zum Ziele, auch durch die Nacht. Mein Joachim, kommst du Anfang Oktober? Dann erzählen wir dir noch viel von Wolfgangs letztem Urlaub, den du leider nicht miterlebt hast; er war leider durch meine Kur getrübt. Wir befehlen dich unserem himmlischen Vater und dem Geist, dem Tröster, der dich erfüllen möge! In Gedanken sind wir bei dir in deinem Schmerz, mein lieber Joachim. Deine Mutter und dein Vater in tiefer Trauer 117 Erinnerungen l Erinnerungen Das Grab auf dem Soldatenfriedhof der 227. Infanteriedivision Im Kreise seiner Kameraden rechts im Bild Nach der Schneeschmelze 118 Erinnerungen l Erinnerungen Wolfgang mit der jüngsten Schwester seiner Mutter, Dr. Maria Alpers. Wolfgang mit seiner Mutter und seinen fünf Schwestern, v. l. Ingeborg, Lotte, Mechthild, Thekla und Anna (1924) 119 Erinnerungen l Erinnerungen Wolfgang als Gymnasiast. Letzte Reihe, Dritter von links. Mit seinen jüngsten Brüdern, Waldemar und Gotthart (1940) 120