Die Vermessung der jungen Männer - Lydia Rosenfelder

Transcription

Die Vermessung der jungen Männer - Lydia Rosenfelder
4 POLITIK
FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 19. SEPTEMBER 2010, NR. 37
Die Zukunft der Bundeswehr: Der Erosionsprozess war schon lange in Gang. Taugliche Kandidaten gibt es kaum noch
Die Vermessung
der jungen Männer
Knieprobleme, Leistenbruch und Rückenschmerzen –
vor der Ausmusterung kommt erst einmal die Musterung
VO N LY D I A H A R D E R
Schwerin. Robert möchte ausgemustert werden. Vor dem Ausmustern kommt das Mustern. Auf Roberts Ladung steht 13 Uhr, aber er
ist schon um zwölf gekommen.
Jetzt sitzt er in einer fensterlosen
Warteecke im Schweriner Kreiswehrersatzamt. Automagazine und
die Tageszeitung von vorgestern
liegen herum, zu trinken gibt es
nichts. Gegenüber von Robert sitzen drei junge Männer. Einer sieht
gelangweilt aus, der zweite verängstigt, und der dritte erzählt eine gruselige Geschichte: „Du gehst ins
Untersuchungszimmer, musst dich
nackt ausziehen und den Oberkörper nach vorn beugen. Dann untersucht dich der Arzt am After, und
die Schwester guckt zu.“
Sein Nebenmann wird panisch,
da greift Robert ein. Er hatte
schon zwei Musterungen, das ist
ihm noch nie passiert. Einer will
wissen, ob man beim Griff in die
Hoden wirklich husten müsse.
„Man muss sich räuspern“, erklärt
Robert. „Angenehm ist das alles
nicht. Das waren die beiden einzigen Male in meinem Leben, dass
mich ein Mann da angefasst hat.“
An den Arzt kann er sich noch gut
erinnern, der war ihm unheimlich.
„Der hatte einen militanten Ton
drauf und wirkte verstört.“
Eine Frau zitiert Robert ins Anmeldezimmer. Sie macht Notizen
zu seinem Erscheinungsbild: zwei
Ringe in der Unterlippe, halblange
Haare, schwarze Kappe. „Wir wollen ihre Akte abschließen“, sagt
sie. Darin steht, dass Robert beim
ersten Mal acht Stunden lang gemustert und für tauglich befunden
wurde. Der „Verwendungsausweis“
empfiehlt ihn als Funker oder Fernmelder. Eingezogen wurde er
nicht. Im zweiten Musterungsbescheid heißt es: „vorübergehend
nicht wehrdienstfähig infolge eines
Fehlers“, der erst ausheilen soll.
Robert hatte Knieprobleme. Jetzt
ist er 22 Jahre alt. Er sagt, die Knie
seien immer noch kaputt. Die Beamtin aktualisiert seine Daten auf
dem Server. Robert setzt sich zurück in die Warteecke.
Er blättert in einer Broschüre
mit Bildern von afghanischen Kindern, die auf einer Wüstenstraße stehen und neugierig eine Isaf-Kolonne begutachten. Robert hat ein anderes Bild im Kopf. Er sieht einen
kleinen Jungen vor sich, der ein Maschinengewehr auf ihn richtet. Er
fragt sich, wer zuerst schießen soll.
Ein anderer Wartender erzählt von
der Grundausbildung im Winter.
Marschieren und Zelten bei 15 Grad
minus. Der nächste Einberufungstermin für Robert wäre der 1. Januar. Er schüttelt den Gedanken ab.
Schließlich kommt Doktor Paschen in die Warteecke. Er guckt
sich Robert genau an: Gerade Haltung, wachsamer Gesichtsaus-
druck, kein klassischer Null-BockKandidat. Paschen gibt Robert die
Hand und schaut ihm in die Augen. Robert schaut zurück. Er
wird in den Umkleideraum geführt, zieht sich aus, schließt seine
Sachen in den Spind und geht in
Unterhose und Turnschuhen den
Gang entlang in einen engen
Raum. Eine mollige Schwester
misst seine Körpergröße, stellt ihn
auf die Waage und schiebt ihn in
die Toilette. Robert folgt geduldig, hinterlässt seinen Urin im
Plastikbecher auf der Ablage. Die
Schwester nimmt den Becher und
fühlt, dass er körperwarm ist. So
weiß sie, dass der Urin nicht alt
ist, weil er von jemand anderem
stammt und in Behältern oder sogar Kondomen hierher transportiert wurde. „Alles schon vorgekommen.“ Sie steckt einen Teststreifen in den Becher. Darauf stehen Abkürzungen für Kokain,
Cannabis, Morphium und Amphetamine. Roberts Test zeigt in
allen Fällen zwei rote Streifen an,
Robert ist clean.
Im Untersuchungszimmer von
Doktor Paschen sitzt Robert auf einem desinfizierten Plastikstuhl
und schildert sein Knieproblem.
Paschen fragt nach dem behandelnden Arzt. Das macht er immer, so
erkennt er, ob sich jemand eine
Krankheit nur angelesen hat. Paschen erzählt von einem Wehrpflichtigen, der beklagte, unter
Wer nicht dienen will, liest sich eine Krankheit an: Der erste große Tauglichkeitstest im Jahr 1957 in München
„Morbus Bechterew“ zu leiden.
Die Symptome der Wirbelsäulenkrankheit ratterte er lexikonartig
herunter, konnte aber nicht genau
zeigen, wo es ihm weh tut. Robert
dagegen kann seinen Arzt nennen.
Paschen überprüft Wirbelsäule
und Gelenke, misst Blutdruck und
Puls. Dann erklärt Paschen, dass er
jetzt die Untersuchung im Intimbereich vornehme und warum die
wichtig sei. Besonders bei jungen
Männern trete Hodenkrebs auf,
der aber gut therapierbar sei.
„Und was hat das mit der Bundeswehr zu tun?“, fragt Robert.
„Nichts“, sagt Paschen, „aber einen Leistenbruch müssen wir finden.“ Mit einem Leistenbruch
kann Robert keinen Kampfrucksack oder Seesack schleppen. Der
Arzt führt den Finger über den
Damm und stülpt ihn in die Hoden. „Bitte mal räuspern“, fordert
er. Das erhöht den Druck im
Bauchraum, so wird der mögliche
Leistenbruch nach vorn ge-
quetscht. Robert hat keinen Leistenbruch. Die Schwester sitzt währenddessen am Schreibtisch neben
Doktor Paschen. Dann führt sie Robert nach nebenan, wo sie Hören
und Sehen testet. Sie sagt, dass er
für den Führerschein eine Brille benötige, er könne nicht gut sehen.
Aber für den Wehrdienst reicht es.
Robert zieht sich an, setzt sich
in der Warteecke neben Frank.
Der wartet auf die „EUF“: die Eignungsuntersuchung und -feststellung beim psychologischen Dienst.
Robert kann die EUF auslassen, er
hat sie schon bei der Erstmusterung gemacht. Frank will wissen,
was das eigentlich sein soll. Robert
erklärt: „Du musst am Computer
Deutsch-, Mathe- und Physikaufgaben lösen. Und Morsezeichen
wiederholen, Reaktionstests und
so.“ Es fällt auf, wenn man absichtlich falsch antwortet und sich einfach schnell durchklickt: „Die messen die Zeit, die man für eine Aufgabe braucht.“
Aber Frank will gar nicht durchfallen. Er erzählt, dass er Tischler
ist und gerade keinen Job hat. Auf
dem Handy blinkt eine Kurzmitteilung seiner Freundin: „Sie will
nicht, dass ich zum Bund gehe. Ich
habe ihr gesagt, dass ich ihr damit
den Führerschein bezahlen kann.“
Frank wird zur EUF gerufen. Er
löst die Aufgaben, anschließend
muss er zur psychologischen Beratung. Die Psychologin geht anhand eines Stichpunktzettels mit
ihm sein Leben durch. Auf dem
Zettel steht: Familie, Wohnung,
Schule, Deutschkenntnisse, Ausbildung, Zukunft, Drogen, Alkohol,
Polizei. Sie ist die einzige Person
im Kreiswehrersatzamt, die Einsicht in Franks Polizeiakte hat. Sie
fragt, warum er seinen Führerschein abgeben musste. Frank sagt,
er sei zu schnell gefahren.
Dann kann er sich beim Musterungsbeamten Hetebrüg seinen Bescheid abholen. Er geht den kahlen
Flur entlang, noch zehn Meter bis
zur Entscheidung, noch fünf Me-
Foto Benno Wundshammer
ter, drei, einer. Tür auf, Frank rein.
Er sitzt am Tisch und starrt die Motorradbilder an der Wand an. Hetebrüg heftet den Bescheid zusammen, schiebt ihn rüber. „Sie sind
vorübergehend nicht wehrdienstfähig.“ Der Arzt habe Löcher in den
Zähnen festgestellt, die soll Frank
erst zumachen lassen. Frank sagt
gar nichts. Er nimmt den Bescheid,
geht raus zum Parkplatz am Schweriner See, wo sein Vater wartet.
Robert sitzt jetzt ganz allein in
der Warteecke. Er ist der letzte
Musterungskandidat an diesem
Tag. Er ist sich nicht mehr so sicher, dass er ausgemustert wird. Er
sagt: „Du weißt, da passiert gerade
was. Da entscheidet gerade jemand
über deine Verwendungsmöglichkeiten. Wie über ein Material.“ Er
sagt, dass die Bundeswehr bei ihm
gerade überhaupt nicht passt. Er
hat eine neue Wohnung, einen neuen Job als IT-Berater und eine
neue Punkrockband. „Im Winter
wollen wir ein Album aufnehmen.“
Hetebrüg ruft ihn in sein Büro.