(Selbst)Reflexionen zu einer Theorie von Ulrich Beck
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(Selbst)Reflexionen zu einer Theorie von Ulrich Beck
Selbstbespiegelung im Kontext einer Theorie „eigenen Lebens“ (Auskoppelung aus einer eher biografisch motivierten Studie – Witsch-Rothmund, Koblenz 2002) Ulrich Beck – Ulf Erdmann Ziegeler: eigenes Leben – Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben, München 1997 Wer sich mit der Gesellschaftstheorie Niklas Luhmanns auseinandersetzt, stößt unmittelbar auf die grundlegende Unterscheidung von System und Umwelt und die meistenteils mit Unverständnis aufgenommene Platzierung des Menschen in der Umwelt von Gesellschaft. An anderer Stelle (siehe Anhang) wird diese Sichtweise ausführlicher expliziert. Hier wird nur Bezug genommen, auf die damit verbundene, nüchterne Feststellung, dass soziale Systeme sich ausschließlich über Kommunikationen (Kommunikationen, die an Kommunikationen, die an Kommunikationen... anschließen) reproduzieren, während Menschen als bewusstseinsbasierte oder psychische Systeme ausschließlich im Modus von Gedanken, die an Gedanken, die an Gedanken... anschließen, operieren. Beide Systeme sind gegeneinander abgeschlossen und Luhmann hat den Begriff der „strukturellen Koppelung“ von Maturana übernommen oder greift auf den Begriff der „Interpenetration“ zurück, um registrieren zu können, dass psychische und soziale Systeme Formen des Austauschs kreieren. Nichts anderes geschieht im Folgenden, wenn ich mich selbst anregen lasse durch die Unterscheidungen von Ulrich Beck, der sich im Hinblick auf die Reflexion der Selbstgestaltungsversuche von Menschen in der Gegenwartsgesellschaft auf eine Reihe von Kategorien stützt. Der „Dignität der (Lebens)Praxis“ (Schleiermacher) gegenüber, die immer auch wildeste Exzesse, Höhenflüge und Tunnelerfahrungen, aber auch alltägliche Routine und Langeweile umschließt, injiziert man ein Gerinnungsmittel in Form von Kategorien, die zumindest den Versuch offerieren, sich zu dem, was man als Lebenspraxis empfindet, immer wieder auch reflexiv zu positionieren. In dem Augenblick, wo ich dies vollziehe auf der Grundlage von „wissenschaftlich-publizistisch“ angebotenen Begriffen und dies auch noch anderen Menschen zur Lektüre anbiete, beteilige ich mich an jenem gesellschaftlichen Diskurs, der dieses unablässige Rauschen produziert, aus dem die Wahrnehmungsseismographen von Mitmenschen Sinn filtern. Chaotischer Diskurs ohne geregelte Anschlüsse entsteht allerdings erst dann, wenn andere (möglicherweise du, der du jetzt dich dieser Lesezumutung aussetzt) meine an Ulrich Beck anschließenden Reflexionen zur Kenntnis nehmen. Beck hält „eigenes Leben“ – zumindest in den westlichen Gesellschaften - für eine Schlüsselmetapher. „Wer heute Menschen befragt, was sie wirklich bewegt, was sie anstreben, wofür sie kämpfen, wo für sie der Spaß aufhört, wenn man es ihnen nehmen will, dann wird er auf Geld, Arbeitsplatz, Macht, Liebe, Gott usw. stoßen, aber mehr und mehr auf die Verheißungen eigenen Lebens. Geld meint eigenes Geld, Raum meint eigenen Raum, eben im Sinne elementarer Voraussetzungen, ein eigenes Leben zu führen. Selbst Liebe, Ehe, Elternschaft, die mit dem Verfinstern der Zukunft mehr denn je ersehnt werden, stehen unter dem Vorbehalt, eigene, das heißt zentrifugale Biographien zusammenzubinden und zusammenzuhalten.“ (Beck, 9) Und als sei es nicht „selbstverständlich“ kommt Ulrich Beck zu der Annahme, dass es die Menschen selbst seien, „ihr Wille, ihre Anspruchsinflation, ihr überschäumender Er- lebnishunger, die abnehmende Bereitschaft, auszuführen, sich einzuordnen, zu verzichten“, all dies lasse sie nach den „Sternen des ‚eigenen Lebens’“ greifen. Und dann Fragen über Fragen, spitz, zugespitzt, polemisch – aus welcher Beobachterposition eigentlich? Vor allem folgende Frage: „Ist es eine Art „Egoismus-Epidemie, ein Ich-Fieber, dem man durch Ethik-Tropfen, heiße Wir-Umschläge und tägliche Einredungen auf das Gemeinwohl beikommen kann? Oder sind die einzelnen bei allem Funkeln und Fechten mit dem ‚eigenen Leben’ vielleicht auch Botengänger, Ausführende eines tiefer greifenden Wandels? Sind dies die Vorzeichen eines Aufbruchs zu neuen Ufern, eines Ringens um ein neues Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, das vielleicht sogar noch erfunden werden muss? Zeigt sich also im Ringen um ein eigenes Leben ein evolutionärer Wandel, der westliche Gesellschaften bis in ihre Grundlagen verändert?“ (Beck, 10 - warum setzt Beck als einer der opinion-leader der deutschen Gegenwartsoziologie sich eigentlich nicht mit den Luhmannschen Kategorien auseinander?) Davon geht Ulrich Beck aus, und er beansprucht immerhin – etwas hochtrabend – eine solche „Gesellschaftstheorie des eigenen Lebens“ in 15 Thesen zu umreißen. Ich möchte sehen, inwieweit sich mit Hilfe der Beckschen Unterscheidungen, Selbstverstehen und Selbstbeschreiben – also biographische Selbstreflexion – anregen lässt: 1. Der Zwang und die Möglichkeit, ein eigenes Leben zu führen, entstehen in der hochdifferenzierten Gesellschaft. Wahrscheinlich ist damit die augenscheinlichste und gleichermaßen am wenigsten bewusste Kennzeichnung moderner Lebensverhältnisse angesprochen. Nur ansatzweise vermögen wir uns noch vorzustellen, wie sehr das Leben von Menschen in so genannten segmentär oder auch stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften in „festen Bahnen“ verlief und verbunden war mit relativ eindeutigen Verhaltenserwartungen und entsprechenden „Erwartungserwartungen“. Der „Standort“ in der Gesellschaft war vielleicht in archaischen Gesellschaften mit der Zugehörigkeit zu einem Ganzen, mindestens aber zu einem Clan, einer Verwandtschaftsgruppe, später einem Stand, einer Schicht, einer Familie definiert. Heute empfinden sich Menschen vermutlich immer nur unter Teilaspekten in einzelne Funktionsbereiche eingebunden. In so genannten „funktional differenzierten“ Gesellschaften unterwirft sich der Mensch den unterschiedlichsten Verhaltenslogiken (Erwartungen). Ulrich Beck sieht Menschen ebenso exemplarisch wie willkürlich als: Steuerzahler, Autofahrer, Studentin, Konsument, Wähler, Patientin, Produzent, Vater, Mutter, Schwester, Fußgängerin usw. Zum Teil unvereinbare Verhaltenslogiken zwingen Menschen, sich auf die eigenen Beine zu stellen und das, was zu zerspringen droht, selbst in die Hand zu nehmen. „Die moderne Gesellschaft integriert die Menschen nicht als ganze Person in ihre Funktionssysteme, sie ist vielmehr im Gegenteil darauf angewiesen, dass Individuen gerade nicht integriert werden, sondern nur teil- und zeitweise als permanente Wanderer zwischen den Funktionswelten an diesen teilnehmen.“ (Beck, 10) Ich habe z.B. mit Gleichgesinnten im politischen Raum 6 Jahre durch die Beschaffung von Mehrheiten darum gekämpft, in Koblenz der Idee einer Integrierten Gesamtschule eine Verwirklichungschance zu geben. Am Ziel dieses langen und beharrlich verfolgten Weges vollzogen sich in der eigenen Familie Schullaufbahnentscheidungen gegen diese Möglichkeit. Laura und Anne entschieden sich fürs Hilda-Gymnasium. Mein Selbstverständnis als bildungspolitisch aktiver Teilhaber an Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen musste sich arrangieren mit meinem begrenzten Einfluss auf entsprechende Prozesse in der eigenen Familie. Nicht nur ich bastele an meiner Biographie, sondern auch meine Kinder nehmen früh Einfluss auf ihre individuelle Positionierung in dieser Welt, die Gestaltung eigenen Lebens. Ein unverzichtbarer Exkurs mit den Worten von Reinhard Kahl: (Ich hoffe, all die Publikations-Profis sehen mir die „unsystematische“ Vorgehensweise, das Stricken mit heißer Nadel, nach – macht einfach einen Gedankensprung, „genießt“ Reinhard Kahls Generalabrechnung und sucht danach, den passenden Anschluss im eigentlichen Kontext der „Theorie eigenen Lebens“ wieder herzustellen) Ich kann es nicht lassen!!! Aus meinem Schülerleben heraus haben sich die Vorstellungen und Visionen von einer „anderen Schule“ genährt. Mein Studentenleben lang haben sich diese Visionen konkretisiert – in meinem Lehrerdasein habe ich die unmittelbaren Erfahrungen gesucht und nach meinem Vermögen – aus der Praxis für die Praxis – auf den Begriff gebracht. Und seit 1994 praktiziere ich nach meinem Vermögen eine Praxis der Lehrerausbildung in der 1. Ausbildungsphase von der ich in der absoluten Verwaltung des Mangels annehmen kann, dass sie den Studierenden wenigstens Anregungen und Mosaiksteine für eine eigene angemessene Praxis anbietet. Jetzt – unmittelbar vor Abschluss dieses Buches spielt mir „PISA“ (Program for International Student Assesment) eine Argumentation in die Hände, die mein Herz frohlocken ließe, wenn es denn nicht so traurig wäre. Ich bediene mich der Worte Reinhard Kahls, der sich selbst als „Bildungsjournalist“ versteht, und der uns seit Jahren gebetsmühlenartig den Spiegel einer völlig verfehlten und abstrusen Schul- und Bildungspolitik vorhält: Reinhard Kahl: Depressive Zirkel gibt es genug – PISA zur Mutter der Erneuerung machen in: Erziehung und Wissenschaft (=Zeitschrift der Bildungsgewerkschaft GEW), 12/2001, Seite 2 Der 4. Dezember, Tag der PISA-Veröffentlichung, wird als der schwärzeste Tag in die Geschichte der deutschen Schule eingehen. Vielleicht wird man sich an dieses Gewitter irgendwann auch als radikalen Neuanfang erinnern. Wirksamkeit und Kultur der Schulen sind in Frage gestellt. Diese Doppelniederlage könnte sich als die Mutter der Erneuerung erweisen. Bisher konnte sich mancher trösten: Unsere Schulen sind vielleicht kein Vergnügen, aber doch effektiv. So nach dem Selbstüberwindungsmotto: Nur bittere Medizin hilft. Oder man nahm das Gegenteil in Anspruch: Hauptsache es geht den Kindern gut. Leistung ist nicht so wichtig. Dann wurde ein Glas Limonade neben den Bitterstoff gestellt oder nur noch seichtes Gesöff ausgeschenkt. PISA zeigt, wir brauchen eine andere Ernährung. Was schmeckt, ist gewöhnlich auch das Bekömmlichere, zumal wenn die Gänge gut inszeniert sind. In vielen Schulen muss man allerdings ganz unten ansetzen: Nahrung muss erst mal gehalten werden. Schluss mit der Bulemie, dieses Fressen und Kotzen, Pseudolernen und Vergessen. Schluss vor allem mit dem Bluff, dieser unglaublichen Energieverschleuderung. Er ist oft das eigentliche Hauptfach von der Grundschule bis ins Studium. Erst recht in diesem unprofessionellen Referendariat. Es wird nicht leicht sein, die tief in den Genen unserer Schulen gespeicherte Angst zu vertreiben und die Unkultur des Misstrauens durch die Kultivierung von Vertrauen zu ersetzen. Erfolgreiche Länder wie Kanada und die Skandinavier haben es riskiert, Angst aus dem System zu nehmen und Vertrauen zu investieren. Man glaubt schlicht daran, dass Menschen lernen wollen. Eine große Denkschrift in Kanada hieß ‚For the Love of Learning’. Bei aller notwendigen und kompromisslosen Kritik, die jetzt nötig ist: Wir müssen auch an einer ‚positiven’ Denkschrift arbeiten. Besser als die eine Denkschrift wären viele selbstgeschriebene Denkzettel für diese Mentalitätsänderung. Machen wir dafür doch einen Basar auf! Wenn wir jetzt in kollektive Hypochondrie verfallen und der Vorruhestand das Hauptziel wird, geraten wir erst recht in den Sog der Abwärtsspirale. Depressive Zirkel gibt es genug. Lieber die Bremer Stadtmusikanten zum Vorbild nehmen: Etwas besseres als den Tod finden wir überall. Die Macken unseres Systems, auch die von uns selbst, wo immer wir sie treffen, zum Thema machen! Wir brauchen eine Doppelstrategie. Veränderungen an den vielen kleinen Schritten, aus denen der Alltag besteht, und neue Visionen für die große Fahrt des Bildungsdampfers. PISA zeigt, der deutsche Sonderweg in der Bildung ist gescheitert. Wir brauchen eine andere Navigation. Das anachronistische dreigliedrige Schulsystem ist nicht zu verteidigen. Das Hauptargument für die frühe Selektion hieß, dem begabteren Teil der Bevölkerung durch höhere Schulen gerecht werden. Es ist dahin. Das Gymnasium wird seinem eigenen Anspruch Elitebildung nicht gerecht. Auch unsere guten Schüler sind international nur Durchschnitt, und die Schwachen sind tatsächlich auf Dritte-Welt-Niveau. Das besondere Kreuz unseres Schulsystems ist doch: Wenn ein Schüler schlecht steht, sagen ihm die Lehrer auf der höhreren Schule, „hier bist du falsch, geh ab“. Das funktioniert bis hin zum Verweis von der Haupt- zur Sonderschule. Deutsche Lehrer haben geradezu eine Obsession, die falschen Schüler zu haben. Sie sind fix mit Verachtung. Das führt zu einer fatalen Grundstimmung. Schüler interpretieren sie so: Willkommen bist du nicht. Da sind Gesamtschulen keinen Deut besser, wenn sie die giftige Atmosphäre von Selektion wiederholen. Weder Japan, Finnland, noch Kanada, die Sieger, kennen unseren Selektionswahn. In Schweden ist er gesetzlich verboten. Der misanthropische Zug unserer Schulen hat auch viele Lehrer infiziert, die mal mit anderen Ideen hineingegangen sind. Ein Blick in den Spiegel, und PISA ist ein Spiegel, zeigt unsere hässlichen, besserwisserischen, häufig zur Demütigung anderer neigenden Züge. An welcher deutschen Schule lautete das Motto schon „Love and Consequences“, das ich an der Bäckahagens Skola in Stockholm hörte? Neben der Arbeit an der mentalen Feinstruktur muss die Makrostruktur des Systems neu gedacht werden. Hier ist das PISA-Ergebnis ganz eindeutig: „Schulen schneiden im internationalen Vergleich umso besser ab, je autonomer sie sind“, sagt Andreas Schleicher von der OECD. Die gut platzierten skandinavischen Länder haben ihre traditionell zentralistischen Systeme dezentralisiert. An die einzelnen Schulen in Finnland und Schweden geht das ganze Geld, auch das für Lehrergehälter. Die Zentrale gibt in diesen Ländern Ziele vor und kontrolliert die Ergebnisse. Zur Autonomie gehört Rückmeldung. Dialog ist das allerwichtigste. Den Weg zum Ziel überlässt man der jeweiligen Schule. Um ihren eigenen zu finden, muss sie mit sich selbst in Dialog treten. Dieser Effekt ist beabsichtigt. Bloßes Ausführen geht nicht mehr. Zur Autonomie der Schulen gehört natürlich auch, dass sie sich für den Lernerfolg der Schüler verantwortlich fühlen. Und da wären wir wieder bei der pädagogischen Destruktivkraft unseres Systems, in dem man glaubt, die Probleme aus der eigenen in andere Schulen exportieren zu können. Diese Systemlogik produziert Verantwortungslosigkeit und Verwahrlosung fürs Ganze.“ Na bitte – er passt doch, dieser Anschluss: Ulrich Beck spricht nämlich zu Recht von der „Sozialform des eigenen Lebens“ zunächst als einer „Leerstelle“, die dann angefüllt wird mit „Unvereinbarkeiten, den Ruinen der Traditionen, dem Gerümpel der Nebenfolgen. In den Hohlräumen, welche die einmal regierenden großen Selbstverständlichkeiten mit ihrer Entzauberung hinterlassen, entstehen Trümmerspielplätze des eigenen Lebens.“ (Beck, 10) Lasst sie uns bebauen – diese Trümmerlandschaften des deutschen Selektionswahns – mit einer Schule für alle! Wenn Niklas Luhmann in einem kurzen Vortrag über „Selbstreferentielle Systeme“ (Simon 1997, 69-77) die Interpenetration von sozialen und psychischen Systemen formal so charakterisiert, dass beide wechselseitig füreinander Komplexität in der Form von Kontingenz und Intransparenz zur Verfügung stellen, dann kommt en passent das „Nein“ in die Welt; und zwar bezogen auf die Lebensbedingungen in der Gegenwartsgesellschaft in einer durchaus anderen Bedeutung als noch in früheren Gesellschaftsformationen oder auch nur Generationen (versucht herauszufinden, wie eure Eltern, eure Großeltern „eigenes Leben“ gestalten konnten): „Das soziale System muss sich entwickeln auf der Grundlage von Situationsdefinitionen, die voraussetzen, dass alle Teilnehmer immer auch anders handeln können als sie es tatsächlich tun oder tun sollen oder wahrscheinlich tun werden. Umgekehrt penetriert das soziale System in das psychische System in der Form, dass das Bewusstsein bei aller sozialen Kommunikation immer auch die Möglichkeit mitsieht, Sinnofferten abzulehnen und sich nicht konform, sondern ausweichend, nicht erwartungsgemäß, sondern erwartungswidrig zu verhalten. Und die Sprache, wenn es denn über sie laufen soll, stellt dafür die Möglichkeiten des ‚Nein’ zur Verfügung.“ (Luhmann in Simon 1997, 74) 2. Das eigene Leben ist gar kein eigenes Leben! Auch Ulrich Beck schätzt Paradoxien – weniger als Kontingenzformel – denn als harte Grenzmarkierungen für gar zu frei schwebende Allmachts- und Allmachbarkeitsfantasien. Vielleicht ist die paradoxe Konnotierung von Gegenwartsbedingungen eine ihrer Essentialien; also etwas ist/gilt und ist/gilt zugleich nicht. Bezogen auf unser aller Leben klingen Becks Belege dafür allzu plausibel und eindringlich: Das „eigene Leben“ – so Beck – vollziehe sich merkwürdigerweise unter Bedingungen einer extremen – ja geradezu paradoxen – Form der Vergesellschaftung: „Die Menschen müssen ein eigenes Leben führen unter Bedingungen, die sich weitgehend ihrer Kontrolle entziehen. Das eigene Leben hängt z.B. ab von Kindergartenöffnungszeiten, Verkehrsanbindungen, Stauzeiten, örtlichen Einkaufsmöglichkeiten usw., von den Vorgaben der großen Institutionen: Ausbildung, Arbeitsmarkt, Arbeitsrecht, Sozialstaat; von Krisen der Wirtschaft, der Zerstörung der Natur einmal ganz abgesehen. Manchmal muss nur die Oma, die die Kinder hütet, ausfallen, und die windigen Konstruktionen des eigenen Lebens brechen in sich zusammen.“ (Beck, 11) Wie wahr, wie wahr! Dies ist vielleicht nicht die richtige Stelle, einmal Oma und Opa zu danken. Der Dank der Kinder und der Kindeskinder ist euch hoffentlich gewiss. Die vornehmste Kompetenz mag daher möglicherweise darin liegen, mit den Kontingenzbedingungen in einer (post)-modernen Gesellschaft umgehen zu können: Nichts was ist, muss so sein, wie es ist, oder wie es möglicherweise auch nur scheint. Ich kann erheblichen Einfluss nehmen auf meine Lebensumstände. Zu jeder Wahl gibt es (meist nicht nur) eine Alternative. Wir leben nicht nur semantisch in einer zumindest binär codierten Welt, die nur an einem Punkt begrenzt ist: zum Sterben gibt es nicht die Alternative des Nicht-Sterbens. Alles andere ist kontingent, enthält also immer die Negation von Notwendigkeit, wofür zugegebenermaßen immer auch ein Preis in unterschiedlicher Höhe zu zahlen ist. Diese binäre Orientierung könnte zum Beispiel Alternativen vorhalten im Hinblick auf: Heirat/Nicht-Heirat; Studium/NichtStudium; Kinder/Keine-Kinder; Hund/Kein-Hund; Karriere/Nicht-Karriere; Selbstentfaltung/Selbstbegrenzung; Konfession/Nicht-Konfession etc. Man könnte zeigen, dass die „Selbstverfügbarkeit“ niemals so ausgeprägt war. Man bewegt sich dann jedoch in einem Spannungsfeld von selbst- und fremdvalidierten Zuschreibungen, das im politischen Raum vom freiheitlich-liberalen Prinzip der Selbstverantwortung bis hin zu den sozialethischen Prinzipen des Wohlfahrtsstaates reicht. Dieser Spannungsraum eignet sich weder für Polemik noch für zynische Kommentare. Er zwingt uns der Redlichkeit halber zur eigenen politischen Positionierung. Strukturentscheidungen in westlichen Demokratien sind zumindest vordergründig immer noch Mehrheitsentscheidungen (welch sanfter Zynismus angesichts radikaler Globalisierungsfolgen). Aber das ist im Übrigen die Stelle, wo Luhmanns Platzierung des Menschen in der Umwelt von Gesellschaft am nachhaltigsten überzeugt. Niemand von uns – auch nicht Joschka Fischer – hat auch nur den Hauch einer Chance, anders als kommunikativ einzuwirken auf Kommunikationen. Nur die radikale Verweigerung – auch eine redliche Variante persönlicher Artikulation – bietet sich als radikalste Form des „Neins“ an. Erwägenswert!? 3. Das eigene Leben ist das durch und durch institutionenabhängige Leben. Ulrich Becks Auslassungen an dieser Stelle erscheinen frappierend und ernüchternd zugleich. Die qualitative Differenz zwischen traditionaler und moderner Biographie sieht er eben nicht darin, „dass früher in ständischen und agrarischen Gesellschaften Kontrollen und Vorgaben die Lebensgestaltung auf ein Minimum eingeschränkt und eingeschnürt haben, während diese heute kaum noch bestehen. Gerade im Bürokratie- und Institutionendickicht der Moderne ist das Leben in Netzwerke von Vorgaben und (bürokratischen) Regeln fest eingebunden.“ (Beck, 11) Und dennoch scheint die Differenz galaktisch. Den entscheidenden Unterschied sieht Beck darin, dass die modernen Vorgaben die Selbstorganisation des Lebenslaufs und die Selbstthematisierung der Biographie geradezu erzwingen. Vermutlich liegt genau darin der enorme Druck, die Nischenlosigkeit moderner Existenz. Und es ist auch offensichtlich nicht nur der „Vollzug“ von Handlungszwängen, die uns – bei Strafe ökonomischer und emotionaler Einbußen – zur permanenten Selbstorganisation zwingen, sondern es ist zweifellos auch die biographische Selbstthematisierung, die uns in eine reflexive Position zu unserer Alltagspraxis bringt. „In traditionale Gesellschaften wurde man hineingeboren wie etwa in Stand und Religion), für die neuen Vorgaben dagegen muss man selbst etwas tun, aktiv, findig, und pfiffig werden, Ideen entwickeln, schneller, wendiger, kreativer sein, um sich in der Konkurrenz durchzusetzen – und dies nicht nur einmal, sondern dauernd, tagtäglich. Die einzelnen werden zu Akteuren, Konstrukteuren, Jongleuren, Inszenatoren ihrer Biographie, ihrer Identität, aber auch ihrer sozialen Bindungen und Netzwerke.“ (Beck, 12) Ich glaube, dass genau darin ein Antrieb für dieses Buch (Witsch-Rothmund: Ich sehe was, was du nicht siehst!? Komm in den totgesagten Park und schau! Koblenz 2002) liegt, nämlich 50 Jahren der Selbstkonstruktion, der Selbstinszenierung, der Selbstbespiegelung und Selbstthematisierung ein Forum der bewussten Reflexion und Auseinandersetzung zu geben. 4. Die Normalbiographie wird zur Wahlbiographie, zur „Bastelbiographie (Hitzler), zur Risikobiographie, zur Bruch- oder Zusammenbruchsbiographie Ohne Brüche, ohne Abstürze ergibt sich nicht jene Chance zur Unterschiedsbildung, die Menschen dazu veranlasst, ja manchmal geradezu unausweichlich zwingt, sich dem eigenen Chaos zu stellen, das ein Übergehen zur TagesOrdnung schlechterdings verunmöglicht. Viele Geschichten und Gedichte in diesem Buch hangeln sich an diesen Brüchen und Abstürzen, aber auch an den damit verbundenen Aufstiegen entlang. Die drei Jahre bei der IGST in Heidelberg haben eine Fülle von Anregungen vermittelt, bei den Abstürzen und Tunnelerfahrungen gerade den Punkt intensiv in Augenschein zu nehmen, an dem die Wende manifest wird, an dem zum ersten Mal wieder ein Lichtschimmer das Ende des Tunnels verheißt. Lösungs- und ressourcenorientiertes Denken stellt einen enormen Gewinn dar für die Bewältigung und möglicherweise für die Umwidmung von Krisenerfahrungen in gewinnbringende Schlüsselsituationen. Da wo Existenz in ihrer Grenzwertigkeit spürbar wird, in der Erfahrung und Reflexion unserer Begrenztheit und Endlichkeit, zeigt sich die Seinsverlorenheit des Menschen und Ulrich Beck registriert zutreffend: „In der Risikogesellschaft... bleiben selbst hinter den Fassaden von Sicherheit und Wohlstand die Möglichkeiten des Abgleitens und Absturzes immer präsent. Daher das Klammern und die Angst selbst in der äußerlich reichen Mitte der Gesellschaft (Hervorhebung, Verf.).“ (Beck, 12) 5. Das eigene Leben ist zur Aktivität verdammt An dieser Stelle zwingt Ulrich Beck uns einmal mehr das Verhältnis zwischen selbst- und fremdvalidierten Anteilen auszuloten. Und das qualitative Gütesiegel eines aktiven Lebens sieht er darin, dass es selbst im Scheitern seiner Anforderungsstruktur nach ein aktives Leben sein müsse: „Jedenfalls müssen, damit die Rede vom ‚eigenen Leben’ sinnvoll ist, Aktivitätsanteile nachweisbar und bewusst sein. Wesentlich ist das Tätigwerden im und am Schicksal, das damit erst zum ‚eigenen Schicksal’, zum eigenen Leben wird.“ (Beck,12) Mit der Kultur einer lösungs- und ressourcenorientierten Beratungs- und Therapiearbeit lassen sich schicksalhafte Zwangsbilder beispielsweise von der Suchtpersönlichkeit oder der Krebspersönlichkeit relativieren, ja möglicherweise widerlegen (siehe Grossarth-Maticek/Stierlin). Trotzdem – und ich folge Ulrich Beck in dieser Einschätzung – ist damit nicht der „Schmied des eigenen Glücks“ gemeint, oder der „Held“, der seine Umstände meistert, oder der Architekt, der das Haus des eigenen Lebens plant, bis in die Einrichtung der einzelnen Räume hinein gestaltet. Die Paradoxie schleicht sich auch hier ein, denn Beck ergänzt diese „titanische“ Perspektive durch den entscheidenden Hinweis, dass sich immer wieder beobachten lasse, wie mit Trauer und Stolz über Versäumnisse und Errungenschaften berichtet wird: „Und angesichts der aufbrechenden Entscheidungsmöglichkeiten und Abstimmungszwänge kann es schon erforderlich werden, dass der einzelne zum biographischen Planungsbüro seiner selbst wird. Es kann aber auch sein, dass er ein dilettantischer Situations-Bastler bleibt. Oder scheitert. Oder alles zugleich und nacheinander der Fall ist. Wie wahr! Die Kehrseite? „Scheitern wird zum persönlichen Scheitern – in dem Sinne: es wird nicht (mehr) als Klassenerfahrung, in einer ‚Kultur der Armut’ aufgefangen.“ (Beck, 12) Vermutlich liegen in entsprechenden Verschiebungen im Koordinatensystem zwischen Selbstvalidierung und Selbstverantwortlichkeit einerseits und der fremdvalidierten, schicksalhaft verstandenen Fremdverantwortlichkeit andererseits die markantesten Anforderungen an uns. 6. Eigenes Leben ist eigenes Scheitern Wer das Phänomen der „doppelten Kontingenz“ in der Luhmannschen Version zur Kenntnis genommen hat (wie Charly Brown – siehe…), der wird die folgende Hypothese Becks nur in ihrer Ambivalenz akzeptieren können. In der radikalen Version, in der sich eigenes Leben auch als eigenes Scheitern darstellt, erscheint als eine mögliche Konsequenz, dass auch gesellschaftliche Krisen – zum Beispiel Massenarbeitslosigkeit – in Form individueller Risiken auf den einzelnen abgewälzt werden können: „Gesellschaftliche Probleme können unmittelbar umschlagen in psychischen Dispositionen: in persönliche Schuldgefühle, Ängste, Konflikte und Neurosen. Es entsteht –paradox genug – eine neue Unmittelbarkeit von Individuum und Gesellschaft, die Unmittelbarkeit von Krise und Krankheit in dem Sinne, dass gesellschaftliche Krisen als individuelle erscheinen und nicht mehr oder nur noch sehr vermittelt in ihrer Gesellschaftlichkeit wahrgenommen werden.“ (Beck, 12) Hier liege – so Beck – auch eine Quelle für die gegenwärtigen Ausbrüche von Gewalt um der Gewalt willen, die sich gegen wechselnde Opfer (‚Fremde’, Behinderte, Homosexuelle, Juden) entlade. Nicht um der mir eher fremden Polarisierung sozialpolitischer Positionen aus konservativer Perspektive, sondern aus der durchaus kontingenten Lage persönlicher Lebensumstände, deren beschränkter Beobachter ich immer wieder werde, muss ich an dieser Stelle Becks einseitige Kausalkette in Frage stellen. Und zwar, ohne dabei ignorieren zu wollen, dass Regionen und damit auch Menschen Opfer von Strukturentscheidungen im Zuge globaler Unternehmensstrategien werden. Aber in unseren unmittelbaren Beobachtungen erleben wir zweifelsfrei den ungemein versierten und kompetenten Konstrukteur seiner Lebensumstände, der die persönliche Krise auf Kosten der sozialen Sicherungssysteme auslebt. Wir erleben aber auch das arme Schwein, das die dritte, vierte und fünfte Umschulung, Weiterbildung auf sich nimmt und auf dem Hintergrund seiner zahlreichen Beeinträchtigungen vermutlich nie mehr die Chance haben wird, in Brot und Arbeit zu kommen. All dies steht unter dem Verdikt der blinden Flecken eines jeden Beobachters und der auch von ihm inszenierten „doppelten Kontingenz“ in der Kommunikation. Auch wenn jemand dir anvertraut, dass er die Befindlichkeit, die Motive, die ihn bewegen, niemals in einem Berentungsverfahren, im Rahmen seiner Aktivitäten die vorzeitige Versetzung in den Ruhestand zu bewirken, äußern würde, so bleiben seine Motive seine Motive und seine Handlungen seine Handlungen. Die im folgenden von Ulrich Beck angebotene Unterscheidung zwischen dem „Lebenslauf“ als der Verkettung tatsächlicher Ereignisse und der „Biographie“ als der Erzählform der Ereignisse wird en Detail und im Einzelfall darauf hin zu befragen sein, „ob in einer Biographie nur von ‚Schicksalsschlägen’, ‚Verhältnissen’, von ‚fremden Mächten’ die Rede ist, die ‚hereinbrechen’, ‚vorgeben’, ‚erzwingen’“. (Beck, 12f.) Auch Ulrich Beck würde eine solche Erzählform als den „Widerlegungsfall“ der von ihm formulierten Theorie betrachten. Anders herum lassen sich Elemente einer individualistischen und aktivistischen Erzählform der eigenen Biographie als Grobindikatoren für die „Theorie des eigenen Lebens“ verstehen: „Die Lebensereignisse werden nicht primär ‚fremden’ Ursachen, sondern auch ‚eigenen’ Entscheidungen (Nichtentscheidungen, Versäumnisse, Fähigkeiten, Unfähigkeiten, Errungenschaften, Kompromissen, Niederlagen) zugerechnet.“ (Beck, 13) 7. Die Menschen ringen um ein eigenes Leben in einer Welt, die sich mehr und mehr ihrem Zugriff entzieht Ulrich Beck spricht hier sicherlich den Zusammenhang an, der mich persönlich mit am meisten irritiert. Mit dem Begriff einer „neuartigen Ortlosigkeit“ beschreibt er Entwurzelung als vornehmstes Kennzeichen moderner Lebensverhältnisse. Und der Begriff der „Verhältnisse“ enthält in der Tat eine hohe Eigendynamik, bei der die eigenen steuernden Anteile zunehmend marginalisiert werden: „Welchen Sinn macht es denn noch, von einem bestimmten Ort, gar von Heimat zu reden, wenn doch das ‚hier’ überall ist... Was antwortet zum Beispiel ein Pendler auf die Frage, wo er lebt? Dort, wo er frühstückt, abends fernsieht und zumeist auch schläft – ‚und in den Nächten liegen sie abgestellt neben ihren Autos’ (Ivan Illich)? Oder dort, wo er arbeitet. In meinen Seminaren bin ich immer wieder erstaunt, wie sehr junge Menschen um ihre Orte kämpfen, um eine Perspektive, die den „Ort“ als feste Orientierung will. Und ich bin mehr noch erstaunt über die ausgeprägte Verankerung dieser jungen Menschen im Traditionsgut ihrer Heimatregion. 8. Das eigene Leben ist zugleich das enttraditionalisierte Leben Wie gerade eben erwähnt meint dies nicht, dass Traditionen keine Rolle mehr spielen. „Oft ist das Gegenteil der Fall. Traditionen müssen aber gewählt, oft erfunden werden...“ Sie verstehen sich offensichtlich nicht mehr von selbst. Und dennoch stellt sich im biographischen Prozess, da wo Traditionen (vorgeblich) keine Rolle mehr spielen, irgendwann um so eindringlicher Verlusterfahrung und Sinnkrise ein, weil das Eingewobensein in sinngebende Rituale und Traditionen den Menschen abhanden gekommen ist. Ulrich Beck geht davon aus, dass „die kollektiven und gruppenspezifischen Identitäts- und Sinnquellen (ethnische Identität, Klassenbewusstsein, Fortschrittsglaube) der Industriegesellschaft, die mit ihren Lebensstilen und Sicherheitsvorstellungen bis in die sechziger Jahre hinein auch die westlichen Demokratien und Wirtschaftsgesellschaften gestützt haben, aufgezehrt, aufgelöst, entzaubert werden.“ (Beck, 14) Und wenn daraus folgt, dass alle Definitionsleistungen den Individuen selbst auferlegt werden, dann können die meisten von uns am eigenen Leben nachvollziehen, wie extrem die Distanzierung von Traditionen und wie schmerzhaft die Relativierung von Ritualen sich biographisch vollzogen hat – uns auf den Weg einer säkularisierten, entzauberten Welt getrieben hat – und wie mühsam sich teilweise für uns die Wiedergewinnung und auch die Kreation angemessener Traditionen und Rituale darstellt. Wer hat nicht schon die Sehnsucht nach der „heilen Welt“ der Kindheit in sich verspürt, und wer bemüht sich nicht – zumal wenn er selbst Kinder in diese Welt gebracht hat – diese Welt mit jenem Feingewebe an gemeinsamen Ritualen wieder wirtlich zu machen, die jedenfalls in mir die Schätze der Kindheit wieder lebendig gemacht haben. Ulrich Beck meint, die Idylle – Omas Apfelkuchen, Vergissmeinnicht und Kommunitarismus – habe Hochkonjunktur. Wenn man genauer hinschaut, wird man feststellen, das Lebensentwürfe in besonderem Maße der Gefährdung des nachhaltigen Scheiterns unterliegen, wenn sie nicht von diesem Feingewebe der alltäglichen Routinen, des Traditions- gutes und der großen Rituale gestützt werden. Mit dem Erfindungscharakter und der Herausforderung unserer Phantasie in der Gestaltung dieses Feingewebes ist im übrigen ein wirksamer Schutz gegen ein blindes und zwanghaftes Vollziehen hohler Rituale und dumpfer Traditionen verbunden. Und auch die Demarkationslinie zwischen den Generationen gerät nicht aus dem Blick, um sensibel zu bleiben für Veränderungsbedarf. Vom alltäglichen Frühstücksritual, dem Ordnungsrahmen eines familiären Zusammenlebens, bis hin zur bewussten Gestaltung von Geburts- und Festtagen haben jeder für sich und alle miteinander die Chance den eigenen Raum und den gemeinsamen Raum zu erfahren und zu verändern. 9. Das eigene Leben ist ein experimentelles Leben Im Spannungsfeld zwischen Tendenzen der Globalisierung, der Enttraditionalisierung und der Individualisierung sind wir Nachkriegsgeborenen vielleicht die erste Generation, die sich (in der Masse) der Chance und gleichzeitig dem Zwang gegenübersieht, das eigene Leben als „experimentelles Leben“ zu begreifen. Beck sagt, dass überlieferte Lebensrezepturen und Rollenstereotypen versagen. Das in diesem Buch auch platzierte „Bendorf-Kapitel“ (S. 255ff.) zeigt den Spannungsraum auf, der sich einstellt im Experimentieren mit neuen Lebens- und Wohnformen und dem Weg in tradierte Familienkonstellationen, die aber insbesondere im Hinblick auf die traditionell damit verbundenen Rollenstereotype nicht mehr funktionieren. Insofern weist Ulrich Beck zutreffend darauf hin, dass „eigenes und soziales Leben – in Ehe, Elternschaft ebenso wie in Politik, Öffentlichkeit, Erwerbsarbeit und Industriebetrieben – neu aufeinander abgestimmt werden müssen“ (Beck, 14). Niemand wisse, ob und wie dies gelinge. Anders als frühere soziologische Beschreibungen, die ein weitgehend passives Subjekt – idealtypisch den „Rollenträger“ – unterstellten, habe das eigene Leben demgegenüber den Charakter eines reflexiven Lebens. 10. Das eigene Leben ist ein reflexives Leben Da ich – wie wir alle – hier und heute lebe, vermag ich aus eigener Anschauung nicht zu beurteilen, ob Ulrich Beck nicht mit übertriebenem Pathos daher kommt, wenn er vom „Aufbruch zu dem fremden Kontinent des eigenen Lebens“ spricht. Ich habe – sicherlich in angemaßter Weise – die Lebensumstände meiner Eltern, die Bedingungen, unter denen sie ihren Entwurf von Ehe und Familie bedenken und vollziehen konnten, in winzigen Splittern beschrieben (). Mit dem Zwang und der Neigung schon früh zum Beobachter solcher und ähnlicher Lebensentwürfe zu werden, verbindet sich in der Tat der nachhaltige Eindruck, mit den eigenen Bemühungen und mit dem eigenen Scheitern einen neuen Kontinent zu erschließen. Das Scheitern – wie unter Punkt 6 schon explizit angesprochen – ist zum Signum aktuellen Experimentierens geworden (Beispiel Scheidungsquote). Andererseits scheint es so, dass gerade dieses Scheitern gleichbedeutend ist mit einem außerordentlichen Bedarf an Reflexion: „Soziale Reflexion – Verarbeitung widersprüchlicher Informationen, Gespräch, Verhandlung, Kompromiss – und eigenes Leben sind fast bedeutungsgleiche Wörter.“ (Beck,15) Und möglicherweise wird damit das „Scheitern“ zu einem wesentlichen Element eines gleichermaßen aktiven wie reflektierten Lebens. Niemand glaubt mehr ernsthaft an die Illusionen einer lebenslangen romantischen Liebe (selbstverständlich bis auf die, die verliebt vor den Traualtar treten), niemand glaubt mehr an die Vorstellungen von einer beruflichen Karriere aus einem Guss, und niemand glaubt mehr ernsthaft daran, die Anforderungen und Widersprüche von beruflicher und privater und möglicherweise auch noch politischer Existenz auf einen einzigen Nenner zu bringen. Für mich bedeutet es die alltägliche Quadratur des Kreises. Ulrich Beck wählt eine glattere, schmeichelnde Formulierung, wenn er meint, es sei gerade die Vielzahl sozialer Kreise, in denen die einzelnen zu denken, handeln und leben gezwungen werden, die in ihrer Kombination überhaupt erst so etwas wie die Unverwechselbarkeit des Individuums eröffneten. Und ebenso eingängig formuliert Beck seine elfte Hypothese: 11. Die Sozialstruktur des eigenen Lebens entsteht mit fortlaufender Differenzierung und Individualisierung Ulrich Beck spricht von der „Individualisierung von Klassen, Kleinfamilien und weiblicher Normalbiographie“. Selbst traditionale Lebensverhältnisse würden entscheidungsabhängig, müssten gewählt, gegen andere mögliche Optionen verteidigt und gerechtfertigt und als persönliches Risiko gelebt werden. Die „Kontingenz“ (Luhmann) der Lebensverhältnisse spricht dafür, dass nichts so sein muss, wie es ist: Ob jemand die „Normalbiographie“ einer Frau zurückweist und mit einem 30 Jahre älteren Mann zusammenlebt – oder umgekehrt; ob jemand als Single sein Leben organisiert – putzen, waschen lässt, den eigenen Herd verbannt und neben Muttis gutbürgerlicher Küche multikulturelle kulinarische Genüsse Tag für Tag bezahlt – oder als Single ganz anders die autonome Lebens- und Kommunikationsinsel kreiert; ob jemand in dritter Ehe mit über fünfzig das fünfte Kind zeugt; ob jemand mit jemand in gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaft sein Glück sucht; ob jemand als später Stiefvater Vatersstelle ersetzt und endlich seine Liebe lebt – vice versa; ob jemand mit der/dem siebten oder achten Lebensabschnittsgefährte(i)n alten Wein in neuen Schläuchen „genießt“ und seinen Kindern gute Väter bzw. Mütter besorgt hat, ob jemand sein Leben lang Vater, Mutter, Kind(er) versucht; oder ob jemand als junger wie als alter Mensch (noch einmal) den Versuch wagt, gemeinsames Leben zu organisieren – all dies sind Optionen, die eine Wahl voraussetzen und die als persönliches Risiko gelebt werden. Und um nunmehr zu dem, was bei Beck als Differenzierung und Individualisierung gesehen wird, auch zu ermuntern, gibt es die passende zwölfte Hypothese. 12. Das eigene Leben ist ein hoch bewertetes Leben Ich bin kein Soziologe und nehme mit Interesse Becks Feststellung zur Kenntnis, dass „die positive Bewertung des Individuums“ ein wirklich modernes Phänomen sei. Durch die Geschichte hindurch werde individuelles Verhalten mit abweichendem oder sogar idiotischem Verhalten gleichgesetzt. „In den Räumen der geschlossenen Gesellschaft bleibt das Individuum ein Gattungsbegriff: die kleinste Einheit eines vorgestellten Ganzen. Erst die Enttraditionalisierung, die Öffnung der Gesellschaft, die Vervielfältigung und das Widersprüchlichwerden ihrer Funktionslogiken gibt der Empathie des Individuums gesellschaftlichen Raum und Sinn.“ (Beck, 15) Wie ein roter Faden zieht sich die Ambivalenz gesellschaftlicher Veränderungen durch Becks Argumentation, jedoch immer versehen mit einer deutlichen Präferenz für die damit verbundenen Chancen. Allerdings weist Beck auch darauf hin, dass es damit kein „Allgemeines“ mehr gibt aus dem das Individuelle abgeleitet werden kann; ebenso sehr, wie am Individuellen umgekehrt das nur noch vermutbare Allgemeine zerbricht. Daraus folgt die paradox anmutende Hypothese: 13. Eigenes Leben ist das radikal nichtidentische Leben Ulrich Beck spricht mir aus vollem Herzen, wenn er aus dem Umstand, dass das eigene Leben sich gerade dem Zugriff des verallgemeinernden Denkens und Forschens entziehe, ein eigenwilliges Forschungs- und Reflexionsdesign ableitet: Nämlich die Notwendigkeit Wissenschaft und Kunst, Philosophie und Fotographie, biographische (Re)Konstruktion und soziologische Analyse zu verbinden – ohne Patentrezept oder Drehbuch – mit dem Ziel, aus all diesen Himmelsrichtungen Licht auf die Rätsel des eigenen Lebens zu werfen. „Vielleicht, dass auf diese Weise den Ureinwohnern des eigenen Lebens dieses, aus dem Dunkel des Selbstverständlichen gehoben, fragwürdig und merkwürdig wird.“ (Beck, 16) Dem ist nichts hinzuzufügen! 14. Das eigene Leben ist durchaus ein moralisches Leben „Jedenfalls ein Leben auf der Suche nach einer Moral der Selbstbestimmung.“ (Beck, 16) Das sagt sich so leicht daher. Beck widmet diesem Aspekt gerade einmal 15 Zeilen bei zweispaltigem Lay-out. Man braucht vermutlich den empirisch validierten und therapeutisch erfolgreichen Versuch, einmal zu sehen, wie sich denn menschliches Verhalten und seine möglichen Blockaden und Beeinträchtigungen in einem Koordinatensystem von z.B. „Geben und Nehmen“; „Schuld und Unschuld“ in Beziehungen darstellt. (vgl. z.B. die Arbeit Bert Hellingers in der Dokumentation von Gunthard Weber, 10. Aufl. Heidelberg 1998) „Gegenüber (deduktiv daherkommenden) Moraltheorien, die das Wesen des Moralischen in der Konfliktlösung sehen, hat Luhmann immer wieder überzeugend auf das Konflikterzeugungspotenzial jeder Moral hingewiesen: Konfliktlösung erwartet er eher von einer Trennung des personalen und sozialen Systems, die jeweils füreinander zu Umwelten werden. Diese These hat ihm Kritik und den Vorwurf des Antihumanismus eingetragen, einen Vorwurf, der für Luhmann keiner ist, da die humanistische Semantik für ihn keine adäquate Beschreibung dessen erlaubt, was ist, und mithin auch keine Handlungsanweisungen, die mehr wert sind, als das sie gut gemeint sind...“ (Robert Spaemann in seiner Laudatio auf den Hegel-Preisträger Niklas Luhmann, in: Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral, Frankfurt 1990, S. 63ff.) Es ist – um an die Arbeit von Bert Hellinger und Gunthard Weber anzuschließen – von eminentem Interesse und – als Beobachter – von absoluter Faszination, sich auseinander zu setzen mit Becks ebenso leicht vorgetragener moralischen Attitüde, eine „Moral der Selbstbestimmung“ dürfe freilich nicht mit den „eingeschliffenen, abgegriffenen, widerspruchsvoll gewordenen Pflichtformen und –formeln gleichgesetzt bzw. verwechselt werden“ (Beck, 16). Auch hier gilt, dass wir erst im Scheitern eine Ahnung bekommen von dem, was soziale Beziehungen – von der Ehe bis zur Freundschaft, von der Geschäftsbeziehung bis zur Familie – reguliert und beeinflusst. 15. Das eigene Leben ist das Diesseitsleben, sein Ende ist das Ende Bei aller Lebenserfahrung und bei aller Vielfalt meiner beruflichen Tätigkeiten scheint mir damit jener Aspekt angesprochen, an dem sich die „Seinsvergessenheit“ des „modernen“ Menschen am nachhaltigsten darstellt. Die Soziologie schaut en detail und die Philosophie sucht die Essenz: „Die menschliche Grunderfahrung ist Angst. Die Angst ängstet sich nicht so sehr vor anderem Seienden, sonder um das In-der-Welt-Sein als solches, schärfer gefasst: um die Möglichkeit des eigenen Nicht-Seins. Die Angst ist die radikale Erfahrung, in der dem Menschen das Seiende im Ganzen entgleitet: Er begegnet seinem eigenen Tode. Der Tod begegnet aber dem Dasein nicht von außen her. Er gehört ihm zu: Dasein ist nur als Sein-zum-Tode. Aus dieser Begegnung mit dem eigenen Tod als der absoluten Grenze entspringt die eigentliche Bedeutsamkeit und Dringlichkeit des menschlichen Daseins. Verfügten wir über eine unendlich lange Zeit, so wäre nichts dringlich, nichts wichtig, nichts ‚wirklich’. Für gewöhnlich schließen wir die Augen vor diesem Sachverhalt. Wir vergessen, das wir angesichts des Todes unser je eigenes, unverwechselbares Leben zu verwirklichen haben. Wir gleiten ab ins Uneigentliche, ins Unverbindliche, ins ‚man’. Besinnung aber lehrt uns erkennen, dass der Tod uns zur Übernahme der eigenen Existenz aufruft, er offenbart die Unwiderruflichkeit unserer Entscheidungen, ruft uns auf zum eigentlichen und eigenen (‚je meinen’) Leben in Freiheit und Selbstverantwortung.“ (Heidegger in Sein und Zeit, nachgezeichnet von Hans Joachim Störig, Frankfurt 1999, S. 683) Was soll man noch mehr sagen? Was daran anschließt sind die Gedanken zum Abschied unmittelbar nach diesem Kapitel (siehe dazu…). Ulrich Beck schließt seine fünfzehn Thesen mit einer „Begriffserörterung“ ab. Dies ist hilfreich, um das philosophische Pathos noch einmal in soziologisch fassbare Begrifflichkeit zu übersetzen: Ulrich Beck stört, dass für die von ihm formulierten Bedingungen und Bestimmungen des eigenen Lebens, als da sind die funktional differenzierte Gesellschaft, Zwangsleere, Institutionenabhängigkeit, aktive und individualistische Erzählform der Biographie, Selbstzurechnung auch im Scheitern, Globalität im Sinne von Handlungen über Distanzen hinweg, Individualisierung, enttraditionalisierte, experimentelle, reflexive Lebensform das Etikett „postmodern“ vorherrsche. Vielleicht erhebt Beck seine Einwände zu Recht, wenn er sagt, dass zumindest für seine Konstruktion des „eigenen Lebens“ die angebotenen Bilder unzureichend blieben: Die Lebensform der industriellen Moderne – Klasse oder Schicht, Kleinfamilie, Geschlechterrollen würden weitgehend als normiert und standardisiert gedacht, während die Lebensformen in der so genannten Postmoderne als weitgehend beliebig erschienen. Beide Bilder verkennen nach Beck, worum es eigentlich gehe: „Die soziale Architektur des eigenen Lebens zwischen Individualisierung und Globalisierung, Aktivität und Zuweisung von Anforderungen, die sich dem eigenen Zugriff vollständig entziehen.“ (Beck, 17) Diese „paradoxe Sozialstruktur“ des eigenen und globalen Lebens möchte er entfalten in einer Gedankenfigur, die Modernisierung (im Sinne von Enttraditionalisierung und Individualisierung usw.) auf die Industriegesellschaft selbst anwende: „Das nenne ich ‚reflexive Modernisierung’.“ Gemeint sei damit nicht unbedingt Reflexion von Modernisierung, „sondern ‚Reflexivität’ im Sinne von ungewollter, oft auch ungesehener Selbstinfragestellung, Selbstveränderung... ‚Reflexive Modernisierung’ besagt: Es beginnt ein Konflikt in der Moderne um die Rationalitätsgrundlagen, das Selbstverständnis der Industriezivilisation... Strukturen können nicht mehr nur reproduziert, sie müssen ausgehandelt, entschieden, gerechtfertigt, ja vielleicht sogar neu erfunden werden – in Betrieben und Organisationen ebenso wie in Familien und in der Politik.“ (Beck, 17)