Linking und Delinking-Prozesse in Saïan Supa Crews ‚Preuve par 3`
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Linking und Delinking-Prozesse in Saïan Supa Crews ‚Preuve par 3`
Titelblatt der schriftlichen Hausarbeit Linking und Delinking-Prozesse in Saïan Supa Crews ‚Preuve par 3‘ Schriftliche Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung, dem Landesprüfungsamt für Erste Staatsprüfungen für Lehrämter an Schulen vorgelegt von: Sven Thimm Köln, den 15.02.2016 Prof. Dr. Rappe Hochschule für Musik und Tanz Köln, Fachbereich 5 Inhaltsverzeichnis I. Einleitung ...................................................................................................3 II. Postcolonial Studies und Popmusik ................................................... 6 II.1 Warum Popmusik postkolonial ist................................................. 6 II.2 Kommunikation, Diskurse und Weltbilder ................................... 15 II.2.1 Die Entstehung ‚dominanter Diskurse‘ im Rahmen des Kodieren/Dekodieren-Modells nach Stuart Hall ................................. 16 II.2.2 Die Durchsetzung eines dominanten Diskurses in Form von Stereotypie ........................................................................................... 20 II. 3 Die Bedeutungsaufladung des musikalischen Zeichens ........... 26 II.4 Wie Diskurse Identitäten formen und wie Identitäten ‚Kunst‘ gestalten ................................................................................................... 28 II.5 Delinking ....................................................................................... 32 II.6 Mögliche Repräsentationen im französischen HipHop ............... 36 III. Beschreibung des methodischen Vorgehens in der Analyse ............ 41 IV. Analyse .................................................................................................. 44 IV.1 Audioscapes / Audiotreks ............................................................ 44 IV.2 Saïan Supa Crew – „Preuve par trois“ (1999)............................ 46 IV.3 Spurensicherung ........................................................................ 49 IV.3.1 Der textliche Inhalt................................................................. 49 IV.3.2 Musikalische Spurensicherung ............................................... 51 IV.4 Performative Räume ................................................................... 57 IV.5 Weltauslegungen, Weltaneignungen, Wirklichkeiten............... 60 1 V. Fazit .........................................................................................................65 V.1 Ausblick: ‚Musemes‘ und intermusikalischer Vergleich ...............65 V.2 Können SSC aus der Repräsentation ausbrechen?........................67 VI. Anhang .................................................................................................. 70 Literaturverzeichnis ................................................................................ 70 Discographie ............................................................................................. 73 Übersetzung Preuve par 3 ....................................................................... 74 Erklärung ................................................................................................. 80 2 I. Einleitung Die hier vorliegende Arbeit untersucht den 1999 auf dem Album KLR erschienen Song Preuve par 3 von Saïan Supa Crew und bringt postkoloniale Theorien mit musikwissenschaftlichen Analysen zusammen. Viele Menschen werden mit Stereotypen und Fremdzuschreibungen konfrontiert, für die sie selbst nicht verantwortlich sind. Solcherlei Fremdzuschreibungen ziehen sich häufig durch die gesamte Biographie eines Menschen und haben Auswirkungen auf viele Bereiche des alltäglichen Lebens, - oft in einschränkender Weise. Die daraus resultierende Ungerechtigkeit berührt mich persönlich und bildet das Hauptinteresse dieser Arbeit: Woher kommen die heute gängigen Fremdzuschreibungen und Stereotype und warum entstehen sie? Kann man aus solchen Mustern der Zuschreibung ausbrechen und sich befreien? Vor allem die letzte Frage bildet einen ‚roten Faden‘ für diese Arbeit und daher sollen die Möglichkeiten eines Ausbruches bzw. einer Befreiung in jedem einzelnen Teilkapitel immer wieder aufgegriffen werden. Im Bereich der Musik sind Linking- und Delinking-Prozesse die Mittel, mit denen imaginäre Geographien aufgerufen und wieder verworfen werden. Linking- und Delinking-Prozesse sind selbst eine Form von Festschreibung und Befreiung, sodass ausgehend von Musik und Text in der Analyse der Entwurf eigener ‚Wirklichkeiten, Weltauslegungen und –aneignungen‘ rekonstruiert werden kann. Die Analyse eines HipHop-Tracks bietet sich an, da viele Akteure des HipHops aus benachteiligten Bevölkerungsschichten kommen. Ihre Lebenserfahrung schlägt sich in ihrer Musik, ihren Texten und ihren Videos nieder, sodass durch die künstlerische Umsetzung die Erfahrung der Marginalisation für jeden Rezipienten erlebbar wird. Die in dieser Arbeit im Fokus stehenden Linking- und Delinking-Prozessen sollen verdeutlichen, wie ‚Benachteiligung‘, ‚Diskriminierung‘, ‚Stereotypie‘ und ‚Fremdzuschreibungen‘, aber auch wie ‚Befreiung‘ und wie ‚alternative Lebens- und Wirklichkeitsentwürfe‘ klingen können. Abstrakte Begriffe werden so zu konkret erfahrbaren Lebenswirklichkeiten auf der affektiven Ebene. Konkret beschäftigen wir uns in dieser Arbeit mit Zuschreibungen aus dem Bereich des Rassismus. Viele dieser stereotypen Vorstellungen können auf 3 eine lange Tradition der Fremdzuschreibung zurückblicken. Im ersten Teil dieser Arbeit wird der Ursprung rassistischer Stereotype im Kolonialismus aufgezeigt. Ich stelle die brisante These Ismaiel-Wendts Popmusik ist postkolonial direkt an den Anfang meiner Arbeit, um zu zeigen, wie der Kolonialismus und seine Nachwirkungen die geistige Grundordnung des westlichen Abendlandes bestimmen und welche Verbindungen es dabei zur Musik gibt. Ismaiel-Wendts Arbeit Tracks'n'treks: populäre Musik und postkoloniale Analyse ist mit die wichtigste theoretische Grundlage dieser Arbeit, da sie die Verbindung von Musik und Postkolonialismus ausführlich dokumentiert und zudem das Instrumentarium für die spätere postkoloniale Analyse von Preuve par 3 liefert. Es ist jedoch nicht ganz ungefährlich, die Hauptthese Ismaiel-Wendts direkt an den Anfang zu stellen, da sie das Endresultat einer ganzen Reihe an Ausführungen ist. Ihre Brisanz und provokante Formulierung ist für mich besonders interessant, weshalb sie der Ausgangspunkt aller Betrachtungen sein soll. Um die Klarheit des Textes zu wahren, beginne ich meine Arbeit mit der Darstellung von gängigen Praxen, die eine Verbindung von Musik und Postkolonialismus leicht ersichtlich machen. Die theoretische Komplexität hinter diesen Ausführungen soll dabei im Verlauf dieser Arbeit immer weiter vervollständigt werden. Ein weiterer Grundbaustein für diese Arbeit ist ein zirkuläres Kommunikationsmodell nach Stuart Hall, welches wichtige Einblicke über die Effektivität und Funktionsweise von kommunikativen Zeichen liefert. Da dieses Kommunikationsmodell die Dimension der Macht mit einbezieht, wird es im Hinblick auf Stereotypie, Postkolonialismus und die Befreiung aus der Repräsentation in dieser Arbeit wichtige Erkenntnisse liefern. Des Weiteren bietet dieses Modell auch Einblicke in die (Selbst-)Konstruktion von Identitäten und ihre Handlungsweisen in künstlerischen Prozessen. Die letzte Frage des ersten theoretischen Teils dieser Arbeit widmet sich dann einem weiteren wichtigen Baustein in dieser Arbeit: Dem französischen HipHop und die Repräsentationen, in denen er sich befindet. Zur Analyse sei noch gesagt, dass die darin enthaltenen Transkriptionen zwar mit dem Anspruch gemacht worden sind möglichst genau zu sein, aber 4 auch andere Ausführungen (insbesondere Verteilung der Stimmen in den Streichern) denkbar sind. Des Weiteren verwende ich häufig englische Ausdrücke aus dem ‚HipHop-Vokabular‘, Begriffe aus der klassischen und Jazz/Rock/Pop-Musiktheorie gleichberechtigt nebeneinander. Ich hoffe, dass ich so die Lesbarkeit des Textes erhöhen und eine dem Sachgegenstand angemessene und effektive Sprache finden kann. Mir ist klar, dass die Auswahl und Beschreibung der analysierten Gegenstände bereits eine Art Interpretation ist und bin dennoch um Neutralität bemüht. Ismaiel-Wendt analysiert hauptsächlich die musikalischen Gestalten seiner Tracks. Ich werde mich jedoch auch um den textlichen Inhalt von Preuve par 3 kümmern, da die Lyrics im HipHop eine sehr großer Bedeutung haben und die zentrale Botschaft des Tracks tragen. Eine Übersetzung des Textes mit französischer Originalversion befindet sich im Anhang dieser Arbeit. Das Video von Preuve par 3 kann leider nicht mit in die Analyse aufgenommen werden, da dies den Rahmen dieser Arbeit übersteigen würde. Die Referenzen in Text und Musik bieten jedoch genug Anhaltspunkte für eine sinnvolle Analyse. Der erste Teil dieser Arbeit ist also ein theoretischer Teil, in dem die Arbeit Ismaiel-Wendts durch die postkolonialen Theorien Stuart Halls vertieft wird, um Hinweisen auf eine mögliche ‚Befreiung aus der Repräsentation‘ nachzugehen. Dabei soll auch die besondere Stellung des französischen HipHops mit in den Blick genommen werden. Im ersten Teil werden also fast ausschließlich nur die Gedanken Ismaiel-Wendts und Stuart Halls wiedergegeben. Fachbegriffe, die ich von den Autoren übernehme werden bei ihrer erstmaligen Verwendung durch einfache Anführungszeichen ‚X‘ markiert. Zum Teil werde ich jedoch auch Metaphern, ideologisch-nichtneutrale Begriffe und prosodische Markierungen auf diese Weise kennzeichnen. Die Ergebnisse der Analyse werden dann im Fazit ausgewertet, wobei die theoretischen Ansätze des Anfangs nochmal wichtige Impulse liefern werden. Falls ich eine Antwort auf die Frage finde, welche Wege es aus der Repräsentation gibt und welche Rolle ein kulturelles Produkt wie Musik dabei spielen kann, lässt sich vielleicht auch ein gesellschaftlicher Nutzen aus dieser Arbeit ziehen. 5 II. II.1 Postcolonial Studies und Popmusik Warum Popmusik postkolonial ist Der Popmusikforschung ist es ein zentrales Anliegen, die Bedeutung der postkolonialen Thematik im Schaffen von Künstlerinnen und Künstlern aufzuzeigen. Die markante These Ismaiel-Wendts (2011) Popmusik ist postkolonial weist nicht nur auf die zentrale Bedeutung postkolonialer Theorie für die Forschung hin, sondern kann auch als Ausgangsthese dieser Arbeit angesehen werden. Die postkoloniale Thematik wird bereits in den Lyrics des hier analysierten Tracks Preuve par 3 offensichtlich und weitere Verweise in musikalischer Form sind zu vermuten. Die theoretische Untermauerung dieser Eingangsthese soll in dem nun folgenden Teilkapitel vorgenommen werden. In diesem ersten Teilkapitel soll erläutert werden, wie durch Ortsverweise in populärer Musik eine Verbindung zum Postkolonialismus offensichtlich wird. Im Anschluss beschäftigen wir uns mit der Frage, auf welche Weise der Kolonialismus wirken und in Kraft treten konnte und welche Bestrebungen daher im ‚Postkolonialismus‘ erwachsen. In einem dritten Schritt soll dann gezeigt werden, wie Musik als ein Teilelement von Kultur postkoloniale Mechanismen aufgreifen kann und somit selbst das Attribut ‚postkolonial‘ erhält. Die Eingangsthese Popmusik ist postkolonial wird auf diese Weise bestätigt. Die Argumentationsstruktur Ismaiel-Wendts (2011) beginnt mit der Gegenüberstellung der ‚Topophobie der musikalischen Gestalt‘ und der ‚Topophilie der Agenten populärer Musik‘. Es folgen Theorien über inszenierte Räumlichkeit, die mit historischem Wissen über die Entstehung kolonialer Vorstellungswelten, postkolonialer Theoriebildung und Musikwissenschaft bzw. Musikethnologie verbunden werden. Ismaiel-Wendt liefert auf diese Weise zugleich die theoretische Rahmung für eine spätere (postkoloniale) Analyse verschiedenster Musikstücke. In unserem alltäglichen Leben gibt es viele Indizien, die auf eine Verbindung zwischen Popmusik und Postkolonialismus hinweisen. Ein Großteil aller veröffentlichten Popsongs beinhaltet Texte in englischer, 6 spanischer, französischer oder portugiesischer Sprache, wobei das Englische aufgrund des weltweit einflussreichen angloamerikanischen Musikmarkts eine Sonderstellung einnimmt. Popmusik wird jedoch nicht nur durch die Sprachen ehemaliger Kolonialmächte geprägt. Historische Forschungen bzw. postkoloniale Theoretiker wie Stuart Hall zeigen, dass die Entstehungsgeschichte von Popmusik eng mit Machtkämpfen zwischen Kolonisierten und Kolonisatoren verbunden ist: „Die Geschichte der Popmusik nimmt ihren Ursprung im Geflecht des europäischen Kolonialismus und Imperialismus, heim(at)lichen Kulturen von Sklavinnen und Sklaven, in Widerstandsbewegungen der Unterdrückten, in (kulturindustrieller) Vereinnahmung von Bedeutungsneuschöpfungen und schließlich einem erneuten Kampf darum. Populäre Musik ist postkoloniale Musik, weil sie nicht nur das „Spiel“ der Kolonisatoren mit der Repräsentation ist, sondern auch durch „den Einzug der Marginalisierten in die Repräsentation“ geprägt ist (Hall 1994b: 59).“1 Die Geschichte der Popmusik ist durch ihre Struktur ihrer Entstehung politisch stark aufgeladen. Die politische Brisanz verbirgt sich in zahlreichen Symbolismen, die in einen „Kampf um Repräsentation“ gipfeln und auch den „Einzug der Marginalisierten in die Repräsentation“ bewirken.2 Diese Machtkämpfe begannen im Kolonialismus, wirken bis in die heutige Zeit hinein und werden zudem auch auf symbolischer Ebene, also in den kulturell tradierten kommunikativen Zeichen unserer Gesellschaft ausgetragen. Aus diesem Grund ist wichtig, die alltäglichen Praxen unserer Gesellschaft und die vermeintliche Kategorisierung und Kartierung von Popmusik genauer zu untersuchen. Um diese symbolische Tiefe greifbar zu machen, beginnt Ismaiel-Wendt (2011) beginnt seine Arbeit mit einer Gegenüberstellung: Die ‚Topophilie‘ der Agenten populärer Musik steht der ‚Topophobie‘ der musikalischen Gestalt gegenüber. Eine eigentlich nicht-ortsgebundene musikalische Gestalt wird durch die Bezeichnung des ihr zugehörigen Musikstils an einen bestimmten Ort gebunden z.B. ‚Afro Beat‘, ‚Jungle‘ oder ‚Brit-Pop‘. Das Resultat ist eine intensive „Verklammerung zwischen Musik und Orten“3, die sich anhand zahlreicher Beispiele belegen lässt und auf eine in der populären Musik sehr gängige Praxis hinweist. Es handelt sich hierbei um Ismaiel-Wendt (2011): S. 36. ebd. 3 Ismaiel-Wendt (2011): S. 17. 1 2 7 eine „idealtypische Konstruktion“4, die neben der Kartierung der Musik auch einen Wissenskanon beinhaltet, der in dieser Arbeit besonders betrachtet werden wird. Musik an sich kann laut Ismaiel-Wendt (2011) kaum fixiert werden, da sie in mehrerlei Hinsicht auf Bewegung angewiesen ist. Diese Tatsache betrifft die Ausbreitung der Schallwellen, die Generierung von Klang (z.B. Schwingungen von Saiten oder der Membran eines Lautsprechers) und auch die musizierende Aktivität an sich: Musikalisch produktive Menschen aktivieren ihren ganzen Körper, ihre Finger, Hände, ihren Atmungsapparat und tanzen vielleicht sogar während einer Performance. Die ‚Topophilie‘ der Agenten populärer Musik und die ‚Topophobie‘ der musikalischen Gestalt bilden so einen Gegensatz, der darüber hinausgehend auf politischer Ebene mehrere interessante Fragen aufwirft: „Sobald nämlich die Frage danach gestellt wird, warum es dieses behagliche Schaffen von Spiel-Räumen (die Topophilie), die Verweise auf Orte, Nationen und Kontinente in populärer Musik gibt, tun sich weltpolitisch höchst relevante Diskussionen um Exklusion, Rassismus und Kolonialismus auf.“5 1492 beginnt mit der Entdeckung Amerikas ein Zeitalter, welches einen scheinbar unbegrenzten Expansionsdrang und Imperialismus ‚der alten Welt‘ zur Folge hat. Der Kampf um Territorien, Waren, Rohstoffe und Absatzmärkte gipfelt in einem Wettstreit nach Vorherrschaft und Hegemonie unter den europäischen Großmächten und endet in der Aufteilung der Welt unter ebendiesen. Gleichzeitig beginnt aber auch eine Zeit der Sklaverei und einer rigorosen Unterdrückung von Menschen, die aus Afrika in die ‚neue Welt‘ zwangsverschifft wurden und auf deren ‚Rücken‘ der Wohlstand europäischer Großmächte aufgebaut wurde. Kolonisation und Sklaverei konnten jedoch nur bestehen, wenn eine ideologische Rechtfertigung bzw. Legitimation zur Verfügung stand. Die Grundprämisse einer solchen Legitimation ist die Annahme, dass die eigene (weiße) ‚Rasse‘ einen höherwertigen Status innehat und dadurch gegenüber anderen mutmaßlich ‚minderwertigeren‘ Rassen mit bestimmten vorteilhaften Privilegien ausgestattet ist. Diese grundlegende Überlegenheit 4 5 Ismaiel-Wendt (2011): S. 17. Ismaiel-Wendt (2011): S. 21. 8 der weißen Rasse musste ideologisch gerechtfertigt und legitimiert werden, damit die grausame Praxis der Sklaverei und die widerrechtliche Inbesitznahme fremder Territorien stattfinden konnte. Diese Ideologien untermauern die ‚weiße Überlegenheit‘ auf allen Ebenen des menschlichen Lebens, lassen einen Wissenskanon über die kolonisierten Menschen entstehen und prägen bis heute das Selbstverständnis vieler postkolonialer Gesellschaften. Ein daraus erwachendes sichtbares Resultat sind die willkürlichen Grenzlinien nach europäischen Vorstellungen auf allen Kontinenten der Welt. Diese ‚direkten Kartierung‘ der Welt beinhaltet daher auch eine Abgrenzung im Bereich des Imaginären. Wir können also bis jetzt festhalten, dass mit Beginn des Kolonialismus Vorstellungen über andere Länder und Menschen entstehen, die von einer eurozentrischen, hegemonialen Sichtweise geprägt sind und sowohl eine Aufteilung der Welt, als auch die Aneignung von Menschen zum Zwecke der Versklavung legitimieren. Der Ausgangspunkt des Legitimationsdiskurses ist die Unterscheidung von Menschen aufgrund sichtbarer körperlicher Merkmale wie z.B. weiße und schwarze Hautfarbe. Gleichzeitig werden den als ‚rassisch anders‘ markierten Menschen Eigenschaften und Charakterzüge zugeschrieben, wodurch ein rassistisches Repräsentationsregime entsteht.6 Diese zugeschriebene ‚Minderwertigkeit‘ wird auf eine ganze Gruppe von Menschen übertragen, sodass in Abgrenzung von der einen zur anderen Gruppe eine kulturelle Hierarchie entsteht: „Der Kolonialismus hat zu einer Explosion kultureller oder „imaginärer Geographien“ geführt (ebd: 123), weil er auf ein rassistisches Denken, auf kulturelle Hierarchien und auf den Binarismus „Zivilisierte“ vs. „Primitive“ angewiesen ist (Ashcroft, Griffiths, Tiffin 2000:198).“7 Diese Hierarchie führt dazu, dass ‚Kultur‘ zu einem Element und Mittel der Unterscheidung wird, da „[…] der ‚unzivilisierten‘ Welt die Aufklärung Europas, seine Rationalität und seinen Humanismus gebracht […]“wurde.8 Die europäisch geprägten Vorstellungen über den Kulturbegriff werden so zu einem rassistischen Unterscheidungskriterium, welches die eigene Vgl. Abschnitt II.2 Ismaiel-Wendt (2011): S. 31. 8 Ismaiel-Wendt (2011): S. 32. 6 7 9 Höherwertigkeit untermauert und eine klare Vorstellung über ‚das Andere‘ entsteht lässt. Auf diese Weise wurde auch Musik, als ein Teil von Kultur, zum Bestandteil eines hegemonialen und rassistischen Reprä- sentationssystems, dem ein eurozentristischer Kulturbegriff zugrunde liegt: „Musik ist kulturelle Praxis und wird Teil der Wissens- und Repräsentationssysteme „Rasse“, „Ethnie“, „Nation“. Dadurch, dass „Rasse-“ und „Kultur-“ Diskurse bis heute aufrecht erhalten werden (Moore-Gilbert 1997: 12; Head 2003: 212) – der in der Musikwissenschaft noch immer übliche Terminus „außereuropäische Musik“ macht dies bereits deutlich – unterliegt auch populäre Musik Aneignungsund Sicherungsversuchen von Definitionsmacht.“9 Die Unterscheidung von Menschen überschreitet die rein physische Grenze und dehnt sich auf ideologische und kulturelle Werte aus. Das Resultat ist, dass die Anwendung von Gewalt zum Zwecke der Kolonisation nicht nur militärisch bleibt, sondern auch auf ideologischer und epistemischer Ebene ansetzt. Die Kolonialherren bauen Schulen in den besetzten Gebieten und missionieren die einheimische Bevölkerung. Bis zu diesem Zeitpunkt kann festgehalten werden, dass mit dem Kolonialismus folgende Mechanismen installiert werden: 1. Das ‚Andere‘ wird ausgehend von körperlichen Merkmalen rassisiert, als minderwertiger erklärt als die eigene (weiße, europäische) ‚Rasse‘ und auf diese Weise auf eine untere (entmenschlichte) Stufe degradiert. Sklaverei, verschiedenste Formen von Gewalt und die Inbesitznahme fremder Territorien als Kolonien werden so legitimiert und gerechtfertigt. Die Mechanismen dieser Degradation sind u.a. Objektifizierung und Verdinglichung und führen zur ‚Entmenschlichung‘ des ‚Anderen‘.10 2. Ausgehend von einem essentialistischen, eurozentristischen ‚Kulturbegriff‘ entsteht eine ‚kulturelle Hierarchie‘, die durch den Binarismus ‚zivilisiert‘ / ‚primitiv‘ offensichtlich wird. 3. Es entsteht eine Fülle mehrerer gedanklicher Konstrukte: ‚imaginäre Geographien‘, ‚Rasse‘, ‚Ethnie‘, ‚Nation‘ und ‚Kultur‘. 4. In der Folge werden Herrschaftsbeziehungen installiert, die mit physischer, militärischer, epistemischer und ideologischer Gewalt 9 Ismaiel-Wendt (2011): S. 35. Siehe auch Abschnitt II.2 in dieser Arbeit 10 10 durchgesetzt werden. Ziel der Kolonisatoren ist die menschliche wie wirtschaftliche Ausbeutung des ‚Anderen‘ und die Durchsetzung des eigenen Erkenntnis- und Repräsentationssystems. 5. Der Legitimationsdiskurs beinhaltet auch die Sichtweise, den Kolonialismus als ‚zivilisatorische Mission‘ zu betrachten. 6. ‚Kultur‘ wird dadurch zu einem Mittel der Kolonisation. 7. ‚Musik‘ als ein Element von ‚Kultur‘ wird daher ebenfalls zu einem Bestandteil und Mittel des rassistischen Repräsentationsregimes. Im Folgenden bleibt zu klären, was mit dem Begriff ‚Postkolonialismus‘ gemeint ist, welche Beziehungen zwischen Kolonialismus und Postkolonialismus bestehen und wie Ismaiel-Wendt (2010) dadurch ‚Popmusik‘ beschreibt. Der Begriff ‚Postkolonialismus‘ bezieht sich vor allem auf theoretische Ansätze, die nach den Unabhängigkeitserklärungen der Kolonien Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt worden sind. Diese theoretischen Ansätze stellen die ‚alten‘ mit dem Kolonialismus einhergehenden Repräsentationssysteme in Frage. Trotz einer veränderten politischen Lage bestehen viele kolonial geprägte Denkweisen und Machtstrukturen weiter fort: „Der Begriff „postkolonial“ ist zwar nicht nur als Phase nach der Hochzeit des europäischen Kolonialismus und nach den Unabhängigkeitserklärungen der ehemals kolonisierten Staaten zu denken, sondern bedeutet eben auch das Fortwähren der Repräsentations-, „Rasse“- und „Kultur“- Diskurse.“11 Gerade die immer noch fortbestehende Dominanz kolonial geprägter Diskurse zeigt, dass die politischen Veränderungen nur auf einer ‚oberflächlichen‘ Ebene stattgefunden habe. Für eine breitere und tiefergehende Veränderung postkolonialer Gesellschaften müssen gerade die allem zugrunde liegenden geistigen Strukturen und daher ‚koloniale Diskurse‘ und ‚Repräsentationssysteme‘ in Frage gestellt werden: „Dekolonisierung/Dekolonisation meint Unabhängigkeitsbestrebungen der Kolonisierten gegenüber den Kolonisatoren, die Befreiung von militärischer Besatzung und Ausplünderung geographischer Territorien sowie von der Produktion epistemischer Gewalt (ebd.: 8 und Said 1994a: 219). Dekolonisation 11 Ismaiel-Wendt (2011): S. 33. 11 bedeutet auch die Weigerung, die aufgezwungene Rolle im kulturalisierten Theater und in den rassistischen Diskursen zu spielen.“12 Mit Dekolonisation ist also die Loslösung von allen im Kolonialismus aufgedrängten Formen von Gewalt gemeint und zwar nicht nur auf einer rein physischen, sondern auch auf geistiger Ebene. Eine Auseinandersetzung auf theoretischer Ebene ist notwendig, da sonst die Hegemonie eurozentrischer Sichtweisen weiterhin in Diskursen und Repräsentation bestehen bliebe. Für eine dauerhafte gesellschaftliche Veränderung muss nun die Grundlage ehemaliger kolonialer Legitimationspolitik in Frage gestellt werden: „Die Idee der Repräsentation und ihre umfangreichen offenen und latenten Wirkungen in Geschichte und/oder Gegenwart zu erkennen und zu kritisieren, ist eine Grundintention aller postkolonialen Studien.“13 Während nun die eine Seite versucht, die westlich-koloniale Definitionsmacht auf allen Ebenen in Frage zu stellen, hält die andere Seite an ‚althergebrachten‘ Repräsentationsregimen fest. Es entwickelt sich der bereits erwähnte ‚Kampf um Bedeutungen‘, wie er beispielsweise bei Stuart Hall in Das Spektakel des Anderen oder Kodieren/Dekodieren beschrieben wird. Ismaiel-Wendt (2010) bezeichnet die daraus resultierenden Prozesse als ein „Zusammenspiel aus Kolonisierung, Dekolonisierung und Rekolonisierung“14. Mit ‚Rekolonisierung‘ wird hier der Versuch bezeichnet, die Machtstrukturen, die aus dem Kolonialismus hervorgegangen sind, auf allen Ebenen aufrecht zu erhalten: „Rekolonisierung oder Neo-Kolonialismus ist ein komplexer Prozess, weil sich in ihm Kolonisierung und Dekolonisierung kreuzen. Die Formen Kolonisierung bei gleichzeitigen Dekolonisationsbestrebungen können oft nur subtil und perfide durchgesetzt werden. Außerdem können Kolonisatoren und Ziele der Ausbeutung wechseln. „Der Kolonialismus [erfindet] immer neue Wege […], um sich die Ressourcen der anderen Länder zu sichern (Do Mar Castro Varela und Dhawan 2005: 24).“15 Ein weiteres Element des ‚Postkolonialismus‘ sind die zahlreichen Wanderungsbewegungen ehemals Kolonisierter in die wirtschaftlich Varela & Dhawan (2005): S. 8 und Said (1994): S. 219. Zitiert nach: Ismaiel-Wendt (2011): S. 33. 13 Ismaiel-Wendt (2011): S. 30. 14 Varela & Dhawan (2005): S. 24. Zitiert nach: Ismaiel-Wendt (2011): S. 33. 15 Ismaiel-Wendt (2011): S. 34. 12 12 prosperierenden Zentren Westeuropas und der USA. Dadurch entstehen neue Formen des Zusammenlebens, wodurch die Brisanz eines ‚Kampfes um Bedeutungen‘ aufrechterhalten bleibt und womöglich sogar mit neuer Energie fortgeführt wird: „Die erste Explosion der imaginären Geographien und des repräsentativen Spektakels hat sozusagen eine zweite Explosion der Zerstreuung mit sich gebracht, die sämtliche Kategorisierungen und Kartierungen wieder ins Wanken bringt: Sklaverei, Flucht vor Armut und Krieg sowie Arbeitsmigration haben auch wieder de-territorialisiert. Auch dadurch ist das Postkoloniale gekennzeichnet.“16 Gerade das Aufeinandertreffen ‚Marginalisierter‘ in der Diaspora auf die westlich-dominante Definitionsmacht ist mutmaßlich mit besonderen Dynamiken der Aushandlung und Identitätsfindung versehen. Die soeben dargestellten Prozesse und Dynamiken liefern Ismaiel-Wendt (2010) eine interessante Perspektive, um Popmusik zu untersuchen: „Üblicherweise wird der Begriff Popmusik im Zusammenhang mit Verkaufszahlen, technischer Reproduzierbarkeit, elektrischen/ elektronischen Instrumenten und Sounds, in Abgrenzung zu „Klassik“ oder ähnlichem gedacht. Mein Ausgangspunkt hier ist, dass Popmusik durch eine besonders starke topographische, ethnisierte, kulturalisierte und rassisierte Ausrichtung gekennzeichnet ist, deren Ursprünge ich im Kolonialismus suchen möchte. Die These, die hier entwickelt wird, lautet: Jeder Popsong ist unwiderruflich mit dem Kolonialismus verknüpft. Populäre Musik ist postkoloniale Musik.“17 Wie bereits dargestellt ist Musik ein Teilelement des westlich-hegemonialen Repräsentationssystems. Zahlreiche Praktiken des westeuropäischen Alltags führen uns immer wieder vor Augen, dass auch lange nach den Unabhängigkeitserklärungen und den theoretischen Bemühungen postkolonialer Theoretiker viele koloniale Vorstellungen immer noch in irgendeiner Form weiterbestehen. Eine dieser Formen ist, wie bei IsmaielWendt (2010) dargestellt, die Kategorisierung von Musikstilen durch Orte, womit sich eine Weltkarte „…musikstilistisch von A bis Z durchbuchstabieren: „Afro Beat“, „Britpop“, „Celtic Folk“…“18 ließe. Auch eindrucksvoll ist die Feststellung, dass es zwar ‚Black Music‘ aber nicht ‚White Music‘ als Kategorie gibt: Ismaiel-Wendt (2011): S. 34. Ismaiel-Wendt (2011): S. 28-29. 18 Ismaiel-Wendt (2011): S. 35. 16 17 13 „Populäre Musik ist durch die kolonialistische weiße Idee der „Rasse“ geprägt. Das ist schon daran zu merken, dass es Plattenregale gibt, auf denen das Etikett „Black Music“ klebt. Eines mit der Aufschrift „White Music“, in dem vielleicht Beethovens, Udo Jürgens‘ und Johnny Cashs Musik zusammen einsortiert sind, existiert hingegen nicht (Testcard Juni 2004: 4).“19 Gerade letztere Erkenntnis verdeutlicht, wie dominant das weiße Repräsentationsregime seine Weltsicht in Form von Kategorisierungen und Zuschreibungen durchsetzt. Parallelen zwischen Popmusik und Postkolonialismus werden offensichtlich, da sie auf ähnliche Mechanismen in der Kategorisierung der Welt zurückgreifen: „Wenn ich hier populäre Musik mit postkolonialer Musik gleichsetze, geschieht dies, weil ich in der populären Musik Prozesse wiedererkenne, die auch für postkoloniale Wirklichkeiten im Allgemeinen beschrieben werden. Vorrausetzungen des Kolonialismus sind Verortung, Festschreibung, Kategorisierung bei gleichzeitigem Übersehen von Unterschieden.“20 In diesem Sinne fließen Popularmusik und Postkolonialismus zusammen, da sie im Rahmen von Diskursen und Repräsentation geordnet werden. Verhältnisse von Hegemonie, Macht und Unterdrückung werden anhand verschiedenster kultureller Praxen und Produkte offensichtlich. Die von Ismaiel-Wendt aufgestellt Arbeitsthese ist aus diesem Grund auch der Ausgangspunkt dieser Arbeit: „Die inflationäre Verortung von Musik, die Topophilie der Agenten populärer Musik ist Folge und häufig auch Instrument kolonialistischen Denkens und Handelns in Repräsentationssystemen.“21 Um den Überblick zu wahren, sollen die Hauptargumente, die eine Verbindung von Musik zu Postkolonialismus offenbaren, kurz dargestellt werden 1. Die Verbindung von Musik und Postkolonialismus wird in gängigen Praxen der Kategorisierung von Musikstilen und der intensiven Verklammerung zwischen Musik und Orten offensichtlich. 2. Verortungsstrategien und Kategorisierungen orientieren sich an Weltbildern, die im Zuge des Kolonialismus entstanden sind und bis heute fortwähren. Ismaiel-Wendt (2011): S. 37. Ismaiel-Wendt (2011): S. 37. 21Ismaiel-Wendt (2011): S. 35. 19 20 14 3. Musik selbst ist als ein Element von ‚Kultur‘ mit Begriffen wie ‚Repräsentation‘, ‚Diskurs‘ und auch ‚Identität‘ verbunden.22 4. Musik lässt Räumlichkeiten entstehen, die mit ‚imaginären Geographien‘ verknüpft sind.23 5. ‚Musik‘ war und ist ein Instrument kolonial geprägter Repräsentationssysteme, kann aber dieser Logik folgend auch im Sinne einer ‚Dekolonisation‘ – im Sinne von Widerstand – verwendet werden. In dem nun folgenden Teilkapitel soll dargestellt werden, wie dominante Diskurse entstehen. Des Weiteren soll gezeigt werden, welche Mechanismen und Schwierigkeiten sich für eine Befreiung aus der Repräsentation ergeben. Diese Sichtweisen liefern wichtige Anhaltspunkte für die Analyse, da so genauer betrachtet werden kann, auf welcher Ebene ‚Widerstand‘ ansetzen muss und welche Handlungsspielräume sich für die Agenten populärer Musikstile ergeben (oder auch nicht). II.2 Kommunikation, Diskurse und Weltbilder Zahlreiche Autoren der ‚postcolonial‘ und ‚cultural studies‘ wie u.a. Homi Bhaba, Frantz Fanon, Edward Said und Stuart Hall haben gezeigt, welche Mechanismen mit dem Kolonialismus einhergehen und bis heute fortwirken. Exemplarisch sollen nun zwei Aufsätze Stuart Halls kurz dargestellt werden, da sie eine wichtige theoretische Grundlage für weitere Ausführungen in dieser Arbeit sind. In Das Spektakel des Anderen (2004b) beschreibt Stuart Hall die Installation eines rassistischen Repräsentationssystems. In Kodieren/Dekodieren wird ein Kommunikationsmodell erläutert, welches die beidseitige Aktivität auf Sender- und Empfängerseite betont. Auf diese Weise wird die Offenheit des kommunikativen Zeichens hervorgehoben und das Potenzial für eine In-Frage-Stellung ‚dominanter Diskurse‘ aufgedeckt. Die zusammenfassende Darstellung dieser Aufsätze soll einen Überblick über die Möglichkeiten und Schwierigkeiten innerhalb von Repräsentationsregimen zu handeln geben. 22 23 erläutert in II.4. erläutert in II.3. 15 II.2.1 Die Entstehung ‚dominanter Diskurse‘ im Rahmen des Kodieren/Dekodieren-Modells nach Stuart Hall Bedeutung fließt und kann nicht fixiert werden.24 Diese erste und wichtigste Erkenntnis ergibt sich aus der Gesamtbetrachtung des ‚Kodieren/Dekodieren-Modells‘ und nimmt in gewisser Weise das Endergebnis des hier dargelegten Argumentationsstranges vorweg. Diese Feststellung lässt sich zudem in mehreren Aufsätzen Stuart Halls wiederfinden.25 Bevor jedoch die theoretischen Ausführungen folgen, sei noch angemerkt, dass der hier vorgestellte Aufsatz Kodieren/ Dekodieren viele Bezüge zur Verbreitung televisueller Botschaften aufweist. Stuart Hall geht von einem Kommunikationsmodell aus, welches sich gegen eine lineare Übertragung von Sender zu Empfänger ausspricht. Stattdessen sind Sender und Empfänger eigenständige Elemente des Kommunikationsprozesses und der in einer Nachricht transportierte Inhalt kann auf beiden Seiten eine andere Form haben. Der transportierte Inhalt einer Botschaft wird auf diese Weise mehrdeutig und Kommunikation ist dadurch nicht immer zwangsläufig gelungen. Das zirkulär angelegte Modell, von dem Hall (2004a) ausgeht, besteht aus den Elementen Produktion, Zirkulation, Distribution/ Konsum und Reproduktion. Ein kommunikatives Produkt (gemeint ist hier nicht nur die menschliche Sprache, sondern alle kommunikativen Formen mit symbolischem Inhalt) zirkuliert in diskursiver Form und kommt in der Distribution verschiedenen Öffentlichkeiten zuteil. Im Falle einer Schließung des Kreises wird der Diskurs in gesellschaftliche Praktiken umgewandelt, also reproduziert. Eine wichtige Voraussetzung ist jedoch, dass die Botschaft eine sinnvolle Bedeutung enthält.26 Das Besondere an diesem Modell ist, dass die einzelnen Elemente zwar zirkulär miteinander verbunden sind, aber Brüche innerhalb des Austauschs und damit Fehler in der Kommunikation entstehen können.27 Wichtige Erkenntnisse sollen im Folgenden durch eine kursive Schrift hervorgehoben werden, damit die Übersichtlichkeit im Leseprozess erhalten bleiben kann. 25 Vgl. Hall (2004c,d). 26 Vgl. Hall (2004a): S. 67. 27 Vgl. Hall (2004a): S. 70. 24 16 Innerhalb dieses Prozesses gibt es zwei entscheidende Momente: Das Transponieren in die Nachrichtenform und der Moment der Dekodierung. In beiden Momenten werden Kodes verwendet, um eine Nachricht zu kodieren, oder um diese zu entschlüsseln.28 Die Effektivität im Überbringen der Nachricht hängt dabei von der Passgenauigkeit der verwendeten Kodes in den determinierenden Momenten ab. Die Nachricht erfüllt dann einen Nutzen oder ein Bedürfnis, wenn die Nachricht vom Empfänger als ‚sinntragender Diskurs‘ wahrgenommen wird.29 Um eine Nachricht schneller dekodieren zu können, können sich die Empfänger der Nachricht an vorgegebenen Mustern orientieren, welche im Folgenden als Diskurse bezeichnet werden. Besonders häufig verwendete Diskurse werden als ‚dominant‘ bezeichnet. Hall (2004a) fügt hinzu, dass es eines gewissen Aufwandes bedarf, um dominante Diskurse zu etablieren – die Art und Weise wie eine Nachricht entschlüsselt wird, muss also innerhalb eines kulturellen Systems durchgesetzt werden.30 Diese Feststellung schlägt nun die Brücke zu einer der nächsten wichtigen Erkenntnisse dieser Arbeit: ‚Dominante Diskurse‘ sind „Muster bevorzugter Lesarten“31. Sie setzen auf der konnotativen Ebene des kommunikativen Zeichens an und stehen mit dem kulturellen System und dessen ‚Ideologien‘ in einem Zusammenhang.32 Hall (2004a) unterscheidet für seine Analyse zwischen konnotativen und denotativen Kodes. Denotative Kodes werden hier als die ‚wörtliche Bedeutung‘ und konnotative Kodes als die ‚assoziierte Bedeutung‘ verstanden. Für die Werbeindustrie sind konnotative Bedeutungen von enormer Wichtigkeit, damit Zigaretten beispielsweise mit Unabhängigkeit oder Sexappeal assoziiert werden und sich dadurch besser verkaufen. Im Gegensatz zur wörtlichen Bedeutung, ist die Bedeutung in konnotativen Kodes wandelbarer. Der Zusammenhang mit dominanten Diskursen entsteht dadurch, dass jede Gesellschaft die Masse der ihr zur Verfügung stehenden Vgl. Hall (2004a): S.69. Vgl. Hall (2004a): S. 69-70. 30 Vgl. Hall (2004a): S. 74-75. 31 Hall (2004a): S. 75. 32 Vgl. Hall (2004a): S. 75. 28 29 17 konnotativen Bedeutungen hierarchisch ordnet.33 Da Ideologien ein Bestandteil jeder Kultur bzw. Gesellschaft sind, können sie die konnotative Bedeutung eines Zeichens beeinflussen: „Wir halten an dieser Unterscheidung fest, weil Zeichen scheinbar ihren vollen ideologischen Wert auf der Ebene ihrer ‚assoziativen‘ Bedeutungen (d.h. auf der konnotativen Ebene) erwerben – denn hier werden ‚Bedeutungen‘ nicht in ihrer natürlichen Wahrnehmung festgelegt (d.h. sie sind nicht vollkommen naturalisiert worden), und ihr Bedeutungs- und Assoziationsfluss kann umfassender ausgeschöpft und umgewandelt werden. So verändern und transformieren situationsbedingte Ideologien das Zeichen auf der konnotativen Ebene.“34 Gerade die konnotative Ebene ist also offen für Wandlungsprozesse, unterliegt aber auch einer Definitionsmacht, die durch das beherrschende kulturelle System und deren „tiefen semantischen Kodes“ 35 stark geprägt wird. Auf diese Weise entstehen dominante Diskurse und eine Art Kampf um Bedeutung kann entstehen: „Jede Gesellschaft bzw. Kultur neigt mit variierenden Graden der Geschlossenheit dazu, ihre jeweiligen Klassifizierungen der gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Welt durchzusetzen. Diese bilden eine dominante kulturelle Ordnung, die allerdings weder einhellig akzeptiert noch unumstritten ist.“36 Die Struktur des dominanten Diskurses ist also mit Macht verbunden. Diese Erkenntnis ergibt sich aus der Tatsache, dass eine ‚dominante kulturelle Ordnung‘ ihre jeweiligen ‚Klassifizierungen‘ vorgibt, diese aber gleichzeitig auch angefochten werden können. Diese Klassifizierungen sind mit einer Definitionsmacht verbunden und es gibt daher so etwas wie eine Instanz, die versucht, bevorzugte Lesarten vorzugeben. Wenn wir erneut das zirkuläre Kommunikationsmodell betrachten, können wir im Hinblick auf den Dekodierungsprozess feststellen, dass gerade auf der konnotativen Ebene mehrere (da assoziative) Deutungs- bzw. Dekodierungsmöglichkeiten vorliegen. Das bedeutet also, dass nicht jede Nachricht so verstanden werden muss, wie sie vom Sender intendiert wurde. Jeder Sender, Hall (2004a) nennt immer wieder Rundfunkanstalten als Beispiel, versucht eine Nachricht so zu überbringen, dass sie nach seinen Interessen verstanden wird. Das Endresultat ist jedoch von der Äquivalenz der verwendeten Kodes bzw. dem Grad an Symmetrie oder Asymmetrie im Kreislauf des Kommuni- Vgl. Hall (2004a): S. 74. Hall (2004a): S. 73. 35 Hall (2004a): S. 73. 36 Hall (2004a): S. 74. 33 34 18 kationssystems abhängig. Insofern die verwendeten Kodes auf beiden Seiten, also auf Sender- und auf Empfängerseite, in etwa symmetrisch sind, so kann davon ausgegangen werden, dass die Nachricht verstanden wurde.37 Umgekehrt muss aber auch immer wieder davon ausgegangen werden, dass Nachrichten nicht so verstanden werden, wie beabsichtigt. Man muss also nach Hall (2004a) akzeptieren, „dass es ‚keine notwendige Korrespondenz‘ gibt“38. Daher halten wir an dieser Stelle fest: Der Dekodierungsvorgang kann nicht vorgeschrieben oder gewährleistet werden – es gibt ‚keine notwendige Korrespondenz‘. Hall entwickelt drei hypothetische Positionen, die der Rezipient im Empfangen einer Nachricht einnehmen kann. Dabei wird die aktive Rolle im Empfangen einer Botschaft hervorgehoben: 1. Der dominanthegemoniale Ansatz 2. Der ausgehandelte Kode und 3. Der oppositionelle Kode. Im ersten Ansatz übernimmt der Zuschauer die vom Sender vorgegebene konnotierte Bedeutung. Im zweiten Ansatz erkennt der Zuschauer die intendierten Bedeutungen, bringt aber seiner eigenen Perspektive folgend adaptive und oppositionelle Lesarten mit ein. Im oppositionellen Ansatz entwickelt der Zuschauer eine Haltung, die sich gegen die intendierten Bedeutungen richtet.39 Das Kodieren/ Dekodieren-Modell gibt uns einige Hinweise darauf, welche Möglichkeiten es gibt, sich aus der Repräsentation bzw. aus stereotypen Vorstellungen zu lösen. Bedeutung fließt und kann nicht vom Sender fixiert oder determiniert werden. Gerade die konnotativen Kodes sind mehrdeutig und können auf verschiedene Weisen verstanden werden. Aus diesem Grund müsste es also möglich, sein stereotype Vorstellungen aufzulösen. Wir wissen aber auch, dass dominante Diskurse Muster bevorzugter Lesarten sind und dass es vermutlich schwierig ist, gegen Diskurse anzugehen, die kulturell tradierte sind und von einer großen Masse an Menschen bevorzugt werden. Zudem müssten auch die Machtstrukturen in Frage gestellt werden, die dominante Diskurse prägen. Dennoch ist auch Vgl. Hall (2004a): S. 70. Hall (2004a): S. 77. 39 Vgl. Hall (2004a): S. 77-80. 37 38 19 jeder Empfänger ein aktiver Bestandteil der Kommunikation. Er kann die gesendete Botschaft nach seinem Nutzen verstehen. Der offene Charakter der Nachrichtenform könnte ein Ansatzpunkt sein, um widerständische Elemente mit in die Repräsentation einzubringen. Macht und Bedeutung selbst könnten in Frage gestellt werden. Eine besondere Schwierigkeit ergibt sich, wenn kulturell-hegemonial vorgegebenen Mustern als selbstverständlich – als naturalisiert – aufgefasst werden. Mit diesem Sachverhalt befasst sich nun das folgende Kapitel und fokussiert die Praxis der ‚Stereotypie‘. II.2.2 Die Durchsetzung eines dominanten Diskurses in Form von Stereotypie „Stereotype erfassen die wenigen „einfachen, anschaulichen, leicht einprägsamen, leicht zu erfassenden und weithin anerkannten“ Eigenschaften einer Person, reduzieren die gesamte Person auf diese Eigenschaften, übertreiben und vereinfachen sie, und schreiben sie ohne Wechsel oder Entwicklung für die Ewigkeit fest.“40 Stereotypie ist eine Praxis, die von einem dominanten Diskurs geprägt wird und stellt den Versuch dar, Bedeutung permanent festzulegen. Im Verlauf dieser Argumentation werden wir feststellen, dass Festschreibungen so permanent festgesetzt werden, dass stereotypisierte Menschen sich nur schwer aus diesen ‚Zwängen‘ befreien können – vielmehr müssen sie innerhalb der Repräsentation handeln, um durch die in einer Kultur akzeptierten Lesarten angenommen zu werden. Diesen Sachverhalt werde ich später anhand der Konstruktion schwarzer Männlichkeit erläutern. Zuvor sollen jedoch grundlegende Mechanismen und die Funktionsweisen von Stereotypie beschrieben werden. Stereotypie besitzt reduktionistische, essentialisierende und naturalisierende Effekte. Essenzialisierung ist die Festschreibung des Anderen auf seine Andersartigkeit, z.B. dass er/sie einer anderen Rasse oder Ethnie angehört. Hall (2004b) beschreibt in seiner Arbeit ‚Das Spektakel des Anderen‘, wie konnotierte Bedeutungen in Photos und in der Bericht- 40 Hall (2004b): S. 144. 20 erstattung der britischen Boulevardpresse ihre Wirkungen entfalten. Der Leser wird auf diese Weise mit den essentialistischen Vorstellungen konfrontiert, die die britische Gesellschaft durchkreuzen. Ein Photo zeigt beispielsweise den dunkelhäutigen Sprinter Linford Christie mit dem Union Jack und impliziert direkt und indirekt die In-Frage-Stellung seiner kulturellen Zugehörigkeit, nämlich seines ‚Britisch-Seins‘. Ein anderes Photo fokussiert seine ‚Lunchbox‘ (eine Metapher für Penis) und reduziert ihn somit auf seine Geschlechtsorgane. Es handelt sich hierbei um eine Anspielung auf ein gängiges Vorurteil in der westlichen Welt, welches besagt, dass schwarze Männer mit disproportioniert großen Geschlechtsorgane ausgestattet sind. In der Berichterstattung werden diese konnotierten Bedeutungen teilweise sogar direkt ausformuliert. Die Wirkungen dieser Photos sind in ihrem Ursprung eng mit kolonialen Weltbildern und deren rassistischen Praxen verknüpft.41 Der Ausgangspunkt reduktionistischer oder essentialisierender Praxen ist die Markierung von Differenz. In der Betrachtung sprachwissenschaftlicher, anthropologischer und psychoanalytischer Theorien stellt Hall (2004b) die Ambivalenz des Konstruktes ‚Differenz‘ dar. Die Ausführungen Halls lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Markierung von Differenz dient der Absicherung und Konstruktion von Bedeutung, des eigenen Selbst, der eigenen Identität oder der eigenen Kultur – denn erst durch eine Markierung von Andersartigkeit kann ein Konstrukt des Eigenen in Abgrenzung zum Anderen erschaffen werden.42 Aus anthropologischer Perspektive wird Differenz so zu einer „Basis der symbolischen Ordnung, die wir Kultur nennen. Dinge erhalten eine Bedeutung durch unterschiedliche Positionen innerhalb eines klassifikatorischen Systems.“43 Durch die Mechanismen der Abgrenzung und Ausschließung kann also ein kulturelles System bewahrt werden und die Ambivalenz des Differenzbegriffs wird offensichtlich. Einerseits wird Differenz in einem positiven Sinne, nämlich zur Konstitution des eigenen Selbst verwendet und gleichzeitig werden dadurch Elemente ausgeschlossen, die nicht in das eigene Vgl. Hall (2004b): S. 112-114. Vgl. Hall (2004b): S. 116-122. 43 Hall (2004b): S. 41 42 21 kulturelle System passen. Des Weiteren kommt die Dimension der Macht ins Spiel, da zunächst durch dominante Diskurse festgelegt wird, was die zu bewahrende Kultur ist. Als Resultat des Ausschließens dient die Markierung von Differenz und die daraus erfolgende Installation von Stereotypen dem Schutz einer kulturellen Ordnung und den ihr zugrunde liegenden dominanten Diskursen. In diesem Sinne soll festgehalten werden, dass durch die Markierung von ‚Differenz‘ und der Bildung von Stereotypen, eine durch ‚dominante Diskurse‘ festgelegte kulturelle Ordnung bewahrt bzw. rein gehalten werden kann. In diesem Sinne wird eine Art Selbstschutz dominanter Diskurse installiert. Solche reduktionistischen Festlegungen von Differenz sind nicht nur in Abbildungen der Boulevardpresse relevant, sondern spielten besonders in der Zeit des Kolonialismus im Zusammenhang mit dem bereits erwähnten Legitimationsdiskurs eine große Rolle. Mit dem Rückgriff auf wissenschaftliche Diskurse, v.a. aus der Ethnologie und der Anthropologie, werden im Zuge des Kolonialismus bestimmte Stereotype und Bilder von Schwarzen als natürlich gegeben erklärt. Biologistische Argumentationen nehmen körperliche Merkmale als Ausgangspunkt, um eine geistige und physische Unterlegenheit zu erklären. So wird eine Verbindung zwischen dem Konstrukt ‚Rasse‘ und der intellektuellen Entwicklung, der Fähigkeit zu lernen, der Kultiviertheit oder auch einer zivilisierten Selbstbeherrschung in emotionalen, sexuellen oder gesellschaftlichen Lebensbereichen geschlossen. Der schwarzen Rasse wird dabei zugeschrieben, dass sie mehr vom Instinkt geleitetet seien und dass sie der Natur näher stünden. Kultur sei hingegen ein Besitztum der weißen Rasse und wurde entwickelt, um die Natur zu unterwerfen. Auf diese Weise gelingt gedanklich eine Legitimation zur Unterdrückung der schwarzen Rasse, die jedoch keine solide Grundlage besitzt, da eine Kultur-Natur-Unterscheidung nicht direkt beobachtbar ist.44 44 Vgl. Hall (2004b): S. 127-128. 22 Aus diesem Grund werden körperlich/physische Unterschiede zum Ausgangspunkt eines rassistischen Repräsentationsregimes: „Die Repräsentation von ‚Differenz‘ durch den Körper wurde zum diskursiven Ort, über den ein Großteil dieses ‚rassisierten Wissens‘ produziert und in Umlauf gebracht wurde.“45 An diesem Punkt beginnt der Naturalisierungs-Effekt von Stereotypie, durch den man versucht eine ‚ideologische Schließung‘ sicherzustellen. Bedeutung bzw. Differenz soll so für immer permanent festgeschrieben werden: „Sie ist ein Versuch, das unvermeidbare ‚Entgleiten‘ von Bedeutung aufzuhalten und eine diskursive ideologische ‚Schließung‘ sicher zu stellen.“46 Eine weitere Festschreibung schwarzer Stereotype erfolgt durch die aufkommenden Massenmedien im 19. Jahrhundert. Diese verbreiten die vorhandenen Stereotype zahlreich auf Werbeanzeigen oder in Zeitungen und bewirken eine Verfestigung der Rasserepräsentationen. 47 Nach einer intensiven Rezeption erscheinen sie der Öffentlichkeit als selbstverständlich und ‚natürlich gegeben‘. Wie das Beispiel Christie zeigt, sind Schwarze bis heute in binären Formen der Repräsentation gefangen und oft ist der Körper Ausgangspunkt verschiedenster Diskurse. Gehen sie als Sieger in einem sportlichen Wettkampf hervor, so wird entweder die kulturelle Identität in Frage gestellt, der Sieg auf Doping zurückgeführt oder die Genitalien des Sportlers fokussiert. Der positiv zu wertende Sieg steht dann einem dem Sieg mindernden Kriterium gegenüber. Wir halten daher fest: „Stereotypie reduziert, essentialisiert, naturalisiert und fixiert ‚Differenz‘“48. In der Fixierung von Stereotypen spielen neben naturalisierenden Effekten auch Massenmedien eine bedeutende Rolle. Wie im Vorstehenden bereits angeklungen, spielt die Dimension der Macht im Bereich der Stereotypisierung eine wichtige Rolle, welche sich zumeist gegen die „untergeordnete oder ausgeschlossene Gruppe“ 49 richtet. Hall (2004b): S. 128. Hall (2004b): S. 130. 47 Vgl. Hall (2004b): S. 124, 124-129, 135-142 48 Hall (2004b): S. 144. 49 Hall (2004b): S. 144. 45 46 23 Angelehnt an Foucault, beschreibt Hall (2004b) Stereotypie als ein ‚MachtWissen-Spiel’, in dem Wissen darüber konstruiert wird, wie Menschen entlang einer Norm klassifiziert werden, während das ‚Andere‘ aus diesen Kategorien ausgeschlossen wird.50 Das so erschaffene ‚Wissen‘ ermöglicht die Kontrolle und ‚Wahrung‘ des eigenen Kulturkonstruktes entlang dominanter Diskurse, die hier eine Form von ‚Wissen‘ darstellen. Herrschende Gruppen verfolgen auf diese Weise das Ziel, durch Stereotypie ihre hegemoniale Stellung zu wahren: „Wie bei Dyer festgestellt, ist „die Etablierung von Normalität (d.h. dessen, was als ‚normal’ akzeptiert wird) durch soziale und Stereo-Type (…) ein Aspekt der Verhaltensweise herrschender Gruppen (…), zu versuchen, die ganze Gesellschaft nach der eigenen Ideologie zu formen. So richtig ist diese Weltsicht für die herrschenden Gruppen, dass sie sie für jeden so darstellen, wie sie ihnen selbst erscheint: als ‚natürlich‘ und ‚unvermeidbar‘ – und in dem Maße, in dem sie damit Erfolg haben, etablieren sie ihre Hegemonie“51 Gewalt und Macht ist somit nicht nur als eine Form physischen Zwangs zu verstehen, sondern umfasst gerade auch Praxen, die auf symbolischer Ebene ansetzen. Hall (2004b) beschreibt wie Paul Robeson als schwarzer Schauspieler zugleich weiße und schwarze Lesarten erfüllen muss, um im amerikanischen Mainstream-Kino erfolgreich zu sein. Auf diese Weise bestätigt er aber auch ungewollt rassistische schwarze Stereotype, sodass die Kreisförmigkeit von Macht ersichtlich wird.52 Gerade letztere Erkenntnis bietet einen Einblick in die Handlungsspielräume marginalisierter Gruppen, die durch bestimmte Repräsentationen von der dominanten kulturellen Ordnung ausgeschlossen werden: „Die Kreisförmigkeit der Macht ist besonders wichtig im Kontext von Repräsentation. Das Argument ist, dass jeder – der Mächtige und der oder die Machtlose – wenn auch nicht unter gleichen Bedingungen, in der Zirkulation der Macht gefangen ist. Niemand – weder ihre offensichtlichen Opfer noch Agenten – können vollständig außerhalb ihres Operationsfeldes stehen (man denke hier an das Beispiel von Paul Robeson).“53 Als weiteres Beispiel führt Hall (2004b) die Konstruktion schwarzer Männlichkeit an, die hier in verkürzter Form wiedergegeben werden soll. Schwarze Männer und Frauen werden in den USA oft als ‚boy‘ oder ‚girl‘ bezeichnet. Hall (2004b) argumentiert nach Mercer & Julien (1994), dass Vgl. Hall (2004b): S. 144-145. Dyer, 1977, S.30, zitiert nach Hall (2004b) S. 145. 52 Vgl. Hall (2004b): S. 145-148. 53 Hall (2004b): S. 148. 50 51 24 schwarze Menschen aufgrund der Angst vor ihrer zugeschriebenen ‚ÜberSexualität‘ infantilisiert werden. Die Praxis der Infantilisierung kann in diesem Sinne als eine ‚symbolischen Kastration‘ verstanden werden. Im Zuge des Kolonialismus hatten schwarze Männer kein Recht auf privaten Besitz oder die Bestimmungsmacht innerhalb ihrer Familie und wurden so zentraler männlicher Attribute beraubt. Als Gegenreaktion entwickelten sie ein Repertoire übertrieben männlicher Verhaltensweisen und erschufen ein Bild des Macho, welches die weiße Ursprungsangst eines sexuell besessenen, omnipotenten und unkontrollierbaren Mannes bestätigte. 54 Bis heute sind solcherlei Repräsentationen gängig und lassen sich z.B. in dem Bild des Gangsta-Rappers oder dem Vorurteil eines disproportionierten schwarzen Penis wiederfinden.55 Der Versuch sich aus den Zwängen der Stereotypie zu befreien, wird also durch die kreisförmige Struktur, in der sich Macht und Bedeutung befinden, erschwert. Weitere Schwierigkeiten ergeben sich durch folgende Punkte: 1. Durch die Bestrebung einer sich überordnenden Gruppe eine dominante, kulturelle Ordnung zu erhalten. 2. Durch Versuche der permanenten Festschreibung in Form von Stereotypie, inklusive ihrer Effekte (Reduktion, Essentialisierung und Naturalisierung). 3. Durch die Verbreitung dominanter Diskurse in den Massenmedien. 4. Durch das Machtgefälle zwischen der über- und untergeordneten Gruppe. Aus den Teilkapiteln II.2.1 und II.2.1 folgt also, dass Bedeutung zwar einerseits nicht festgeschrieben werden kann, aber dennoch Versuche unternommen werden, diese permanent festzuschreiben. Der Ausbruch aus der Repräsentation wird dadurch enorm erschwert und es stellt sich nun die Frage, inwiefern Stereotype tatsächlich überwunden werden können, ohne alte Ursprungsängste wiederzubeleben. 54 55 Vgl. Hall (2004b): S. 148-149. Vgl. Hall (2004b): S. 135. 25 II. 3 Die Bedeutungsaufladung des musikalischen Zeichens Ein noch nicht erwähnter Anhaltspunkt für die Verbindung Populäre Musik – Postkolonialismus sind die bei Ismaiel-Wendt (2011) beschriebenen Assoziationsketten: „Booom Booom tà“ und Gentleman: Die erste Referenz ist vielleicht die stilistische: „Ah! Das ist Reggae, Dancehall oder Ragga Muffin oder…“ Hinter dieser Idee von Stil liegen dann zusätzliche Gedankenketten verborgen, wie: „Gentleman, das ist Reggae/ Jamaika/ ein Weißer spricht Patois/ macht NichtWeiße-Musik/ nicht gerade die Lieblingsmusik meiner Eltern/…“ “56 Neben der Kategorisierung oder Bezeichnung von Musik(-stilen), können Assoziationsketten im Rahmen von Praxen betrachtet werden, die eine intensive Verklammerung von Musik mit Orten aufzeichnen. Gleichzeitig sind solcherlei Assoziationsketten ein wichtiges Indiz, für die Bedeutungsaufladung musikalischer Zeichen, denn ein einfacher Beat reicht aus, um Assoziationen und damit Ortsverweise aufzurufen. In der Erklärung dieses Phänomens führt Ismaiel-Wendt (2011) den Begriff des Raums ein und orientiert sich zunächst an den Theorien der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte, die den Unterschied zwischen ‚geometrischen‘ und ‚performativen Räumen‘ herausstellt. Sie betont, dass beide Raumvorstellungen nicht gleichzusetzen sind. Geometrische Räume sind tatsächliche Räume, wie z.B. eine Bühne von 7*4 Metern. Performative Räume hingegen entstehen erst in und durch die Performance und zwar durch einen Prozess der ‚Spacing‘ genannt wird. 57 Die Soziologin Martina Löw (2001) bezeichnet Raum als „eine relationale Anordnung von Lebewesen und sozialen Gütern […]. Raum wird konstituiert durch zwei analytisch zu unterscheidende Prozesse, das Spacing und die Syntheseleistung. Letzteres ermöglicht es Ensembles von Gütern und Menschen in einem Element zusammenzufassen.“58 Der performative Raum im Theater entsteht beispielsweise durch das Verhältnis von Requisiten, Bühnenbildern und die Bewegung der Schauspieler innerhalb dieses Ensembles. In der Musik entsteht Räumlichkeit durch die relationale Anordnung verschiedenster klanglicher Elemente. Der Philosoph Gernot Böhme spricht in diesem Fall von Ismaiel-Wendt (2011): S. 22. Vgl. Ismaiel-Wendt (2011): S. 25-26. 58 Löw (2001): S. 160, zitiert nach Ismaiel-Wendt (2011): S. 26. 56 57 26 „Musikatmosphären“ oder „akustischer Möblierung“59. Ein von IsmaielWendt genanntes Beispiel ist die Entstehung eines Stereoklanges durch die relationale Anordnung zweier Lautsprecher. In beiden Fällen (also Musik und Theater) werden die einzelnen Elemente durch Syntheseleistung zu einem Gesamtbild verbunden. Um nun die Aufrufung geographischer Räume ausgehend von einem musikalischen Zeichen einzuführen, verknüpft Ismaiel-Wendt (2011) Edward Saids Terminus der ‚imaginären Geographien‘ mit dem soeben dargestellten Konzept. ‚Imaginäre Geographien‘ werden durch eine „wechselseitige Beziehung zwischen Räumen, Erinnerung und sozialer Praxis.“60 bestimmt. Auch bezüglich realer Räume betont Said die besondere Wirkung des Imaginären: „The objective space […] is far less important than what poetically it is endowed with, which is usually a quality with an imaginative or figurative value we can name and feel: thus a house may be haunted, or homelike, or prisonlike, or magical.“61 Durch Erinnerung und Imagination werden also einerseits Räume abgerufen und andererseits entstehen diese erst im Prozess des Erinnerns. In dem bei Said dargestellten Beispiel haben die mit dem ‚Raum‘ verbundenen und durch Imagination aufgerufenen Emotionen einen höheren Stellenwert als tatsächliche geometrische Verhältnisse. Die Gemeinsamkeit zwischen Saids Konzept der ‘imaginären Geographie und Fischer-Lichtes ‘performativen Räumen’ ist nun, dass Räumlichkeit als „Effekt sozialer Praxis und Erzählung“62 betrachtet werden kann. Dies schlägt nun die Brücke zu den anfangs genannten Assoziationsketten, da auch Identitäten und Kulturen durch eine solche Praxis des Imaginierten entstehen (Vgl. S.27): „Vereinnahmte Räume werden mit sozialen Praktiken und Erzählungen so abgeglichen, dass sie scheinbar übereinstimmen, zum Beispiel werden musikalische Spielweisen und Instrumente mit einer ganz bestimmten politischen Region verklammert und bilden solcherart einen Bestandteil einer ganz bestimmten kulturellen Identität. Ich schreibe hier bewusst „abgeglichen“, Vgl. Ismaiel-Wendt (2011): S. 27. Ismaiel-Wendt (2011): S. 26. 61 Said (1978 [2006]): S. 55, zitiert nach Ismaiel-Wendt (2011): S. 27. 62 Ismaiel-Wendt (2011): S. 27. 59 60 27 denn am Anfang kann zwar ein geographischer oder geometrischer Raum stehen, aber die soziale Praxis und Diskursivität lässt Räumlichkeit, die Wahrnehmung als Raum, erst entstehen.“63 Bezieht man nun die Theorien Stuart Halls mit ein, so können solcherlei Assoziationsketten, das ‚Imaginierte oder auch nur die Phantasie mit einer Prägung im Rahmen dominanter Diskurse in Verbindung gebracht werden. Dominante Diskurse und Repräsentationen sind ebenfalls ein Produkt sozialer Praxis und Erinnerung. Auf diese Weise wird deutlich, dass im Zuge von Raumvorstellungen die politische Dimension Einzug erhält. Auch Klangbilder in Musik entstehen zunächst in der Vorstellungswelt des Rezipienten. Nach der Wahrnehmung des Spacing und der Syntheseleistung, kann eine räumliche Wahrnehmung entstehen, die wiederum mit geprägten Mustern imaginärer Geographien verbunden wird. Letztere Verbindung ist ein Resultat sozialer Praxis, Erinnerung und ‚Diskursivität‘. Dieser Prozess soll im Folgenden mit ‚Linking‘ bezeichnet werden. II.4 Wie Diskurse Identitäten formen und wie Identitäten ‚Kunst‘ gestalten Mit Beginn dieses Teilkapitels soll zunächst die Frage nach der Definition und der Bedeutung von ‚Identität‘ gestellt werden. In der Literatur werden wir jedoch mit einer großen Anzahl an Identitätsbegriffen konfrontiert, sodass eine eindeutige Orientierung zunächst schwer fällt. Jede der bei Hall und Kimminich vorgestellten Definitionen bzw. Erklärungen ist mit einer unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplin (z.B. Psychoanalyse, Anthropologie, Soziologie, Philosophie) und damit auch einer anderen thematischen bzw. zweckmäßigen Ausrichtung verbunden. Insgesamt hat sich jedoch eine Schnittmenge heraus kristallisiert, die nun vorgestellt werden soll.64 Dabei möchte ich kurz hervorheben, dass die komplexen Theorien Stuart Halls (2004c, d) im Folgenden nur grob und frei wiedergegeben werden, damit die wesentlichen Erkenntnisse besser eingeordnet werden können. 63 64 Ismaiel-Wendt (2011): S. 27. Vgl. Hall (2004c): 167-187. 28 Der Ausgangspunkt aller Betrachtungen ist die Tatsache, dass Individuen mit anderen Individuen zusammenleben. Jedes Individuum für sich und auch alle Individuen im Kollektiv versehen die Welt, in der sie leben, mit Bedeutung. Die durch das Zusammenleben der Menschen entstehenden Geschichten, Bedeutungen und Erlebnisse werden mit Hilfe verschiedener Diskurse mitgeteilt. Dabei gibt es Diskurse, die dominanter sind und sich mehr durchsetzen, und andere Diskurse, die eher als marginal wahrgenommen werden. Individuen nehmen die Masse dieser Diskurse wahr und erfahren, wie sie sich selbst innerhalb dieser Diskurse verorten können. Identität entsteht dann durch einen Abgleichungsprozess, in dem überprüft wird, wie das eigene Selbst zu verorten ist. Das Individuum stellt dabei fest, dass es mit bestimmten Repräsentationen übereinstimmt und sich wiederum von anderen unterscheidet. Durch das Spiel mit Differenz, Identifikation, Selbstpositionierung und Abgleichung entsteht ein Konstrukt, welches als ‚Identität‘ bezeichnet werden könnte. Identität entsteht in einem engmaschigen Geflecht aus Bedeutung, Diskursen und Repräsentation. Alle diese Begriffe und auch der Identitätsbegriff selbst, sind das Ergebnis einer imaginären Produktion ihrer Teilnehmer. Das engmaschige Geflecht entsteht dadurch, dass Identität und auch die anderen Begriffe nicht aus sich selbst heraus entstehen, sondern auf etwas ‚anderes‘ zurück greifen müssen, um sich selbst zu konstruieren bzw. um ihre Verwendung zu finden. Wie bereits im Zusammenhang mit kolonialer Selbstdarstellung angedeutet worden ist, bedient sich Identität der Differenz, um sich anderen Dingen gegenüber abzugrenzen und auf diese Weise ein eigenes Selbst zu kreieren.65 Identität greift also auf Bedeutungen, Diskurse und Repräsentationen zurück, um sich selbst zu erschaffen. Hall betont dabei, dass Identität nicht außerhalb, sondern immer innerhalb von Repräsentationen entsteht.66 Das Resultat dieses Aushandlungsprozesses ist eine Positionierung, die niemals wirklich abgeschlossen sein kann und immer im ‚Werden‘ begriffen ist.67 Das liegt daran, dass Identität auf Muster der Identifikation und Vgl. Hall (2004c): S. 169-171. Vgl. Hall (2004c): S. 171. 67 Vgl. Hall (2004c): S. 169, 171. 65 66 29 Differenz zurückgreift und sich auf diese Weise an verschiedensten Schemata von Bedeutung orientiert. Bedeutung ist jedoch auch selbst nie abgeschlossen, sodass nun ein Kreislauf jeweils wechselseitiger Aushandlung entsteht. Individuen versuchen sich selbst zu verorten, bedienen sich dabei verschiedenster Diskurse und Bedeutungen, kreieren ihre eigene Identität und beginnen in diesem Aushandlungsprozess Bedeutung selbst zu verändern, da sie letztendlich nicht in konservativen Bedeutungsschemata gefangen bleiben wollen. Es ist ebendieser Moment, wo Kunst und Individuen beginnen, unsere Welt(-bilder) zu verändern – der Ausgangspunkt eines ewigen Kreislaufs. Kimminich (2003b) stellt in der Einführung zu Kulturelle Identität – Konstruktionen und Krisen die wichtigsten Erkenntnisse und Eigenschaften von Identität kurz dar und betont gleichzeitig die Bedeutung eines ‚Rückgriffs auf Vergangenes‘: „Fassen wir kurz zusammen: Identität ist a priori narrativ, sie ist dialogisch und sie ist immer in Diskurse und in Geschichten (bewusst und unbewusst) verstrickt. Sie wird durch kulturspezifische diskursive Figuren bestimmt. Um Identität her- und darstellen zu können, muss folglich mehr oder weniger bewusst nach Orientierungspunkten gesucht werden. Sie sind Anlass der Vergegenwärtigung einer sich durch Vergangenes rückversichernden Selbstzuordnung in eine wieder aufgegriffene Geschichte, die unter veränderten Bedingungen weiter- oder umerzählt [Hervorhebung im Original] wird.“68 Zweierlei Dinge sollen hier nochmals herausgestellt werden, da sie in dieser Arbeit von besonderer Bedeutung sind und im Blick behalten werden sollen: 1. Individuen sind auf ‚Andere‘ angewiesen, um sich ein Bild vom eigenen Selbst zu schaffen. 2. Die Art und Weise, wie das ‚Selbst‘ bzw. wie ‚Identität‘ konstruiert wird ist narrativ. Das Andere und dessen Konstruktion erhält insbesondere im Zusammenhang mit der Rassismus- und Kolonialismusthematik eine gefährliche Ambivalenz. Einerseits wird das eigene Selbst erst durch ein Spiel mit Differenz, Identifikation und den dazugehörigen Abgrenzungsmechanismen erschaffen – Ohne ‚das Andere‘ wäre das ‚Selbst‘ nicht existent. 68 Andererseits geht die Konstruktion Kimminich (2003b): S. XVI. 30 eines Anderen in Kolonialismus und Rassismus mit einem bipolaren Gegensatz von höherwertig versus minderwertig einher und schafft auf diese Weise die Grundlage für ein scheinbar legitimiertes Machtungleichgewicht, welches Unterdrückung, Sklaverei und Diskriminierung des Anderen zum Resultat hat. So wie jedes künstlerische Werk ist auch Preuve par 3 selbst narrativ und verdankt seine Entstehungsgeschichte anderen narrativen Elementen. Es besteht aus mehreren Diskursen, nämlich einem sprachlichen, einem visuellen und einem ‚musikalischen‘ Diskurs, da auch Musik mit Bedeutung versehen ist. Es erzählt bereits bestehende Geschichten um oder neu und greift, so wie Kimminich (2003b) es beschreibt, auf Vergangenes zurück. Es erhält somit wiederum Einzug in den ewigen Kreislauf der Auseinandersetzung um Bedeutung, Repräsentation und Identität. Saïan Supa Crew erzählen schon bestehende Geschichten von Rassismus, Kolonialismus und Diskriminierung. Sie erzählen diese Geschichte neu und aus ihrer persönlichen Perspektive. Die eigene Aushandlung der Identität der Künstler ist der Schlüssel zu ebendieser Perspektive. Andere Menschen, die die Musik hören oder das Video sehen, können bewusst oder unbewusst ihre eigene Identität mit dieser Geschichte abgleichen - vielleicht sogar in der Zukunft eine neue Erzählung mit einbringen. Genau dies ist mit der verkürzten Formel im Titel dieses Abschnitts ‚Diskurse formen Identitäten und Identitäten gestalten Kunst‘ gemeint. Es entsteht ein nie endender Kreislauf der Auseinandersetzung, wobei auch scheinbar starre Weltbilder verändert werden können. Zum Schluss soll noch eine Erkenntnis Eva Kimminichs (2003a) zur Identitätskonstruktion im HipHop angeführt werden: „Im Hip-Hop manifestiert sich die Identitäts- und Wirklichkeitskonstruktion einer auf unterschiedliche Weise marginalisierten, entrechteten oder frustrierten Bevölkerungsgruppe. Diese vollzieht sich über eine Aneignung des eigenen Körpers, des Stadtkörpers und des Kulturkörpers und in der Schaffung eines eigenen Kommunikationssystems, das de- und rekonstruierend auf sämtliche Bestandteile der menschlichen Sprache und Körpersprache zugreift.“69 69 Kimminich (2003a): S. 87. 31 Diese Erkenntnis wird uns in der Analyse spannende Erkenntnisse über Aneignungsprozesse auf musikalischer Ebene liefern. De- und Rekonstruktion von bereits vorhandenem Material, werden eine neue Aussage und neue Identitätsstrategien entfalten und auf eine im französischen HipHop gängige Praxis der Selbstpositionierung hinweisen. II.5 Delinking Wie in den vorherigen Kapiteln dargestellt, befindet sich Musik als ein Element von Kultur im Spannungsfeld von Diskursen und Repräsentationen. Eine der wichtigsten Annahmen Ismaiel-Wendts (2011) ist, dass Musik selbst Agenz ist und Kulturverstehen bereitstellt. Das Ziel seiner TRX-Studies ist das „Hörbarmachen der Agenz popmusikalischer Gestalten“70, wodurch die Ebene der reinen Repräsentation musikalischer Gestalten neue Dimensionen erhält. In diesem Sinne (und das wird gleich weiter ausgeführt) werden ‚TRX-Studies‘ zu einem ‚politischen Theorieprojekt‘. Ismaiel-Wendt (2011) stellt die These, dass Musik die Impulse für neue Kulturverständnisse liefern kann: „Es geht um die Möglichkeiten, alternative Inszenierungen von Kultur zu erfassen, die Entwicklung einer dynamischen Begrifflichkeit und die Aufmerksamkeit für Ästhetik beziehungsweise Formen der Bewegung, und zwar vor dem Hintergrund von Repräsentationslogik und (musik)kultureller Vereinnahmung.“71 Ismaiel-Wendts Tracks ‚n‘ Treks (2011) ist durchzogen von Spannungsverhältnissen zwischen Begriffen wie beispielsweise ‚Topophilie‘ und ‚Topophobie, ‚Track‘ und ‚Song‘, oder auch ‚kulturell lokalisierbare‘ und ‚ästhetische Dimensionen‘. Das oppositionelle Verhältnis zwischen ‚Repräsentation‘ und ‚Sensation‘ wird nun zu einem entscheidenden Argument in der Darstellung, wie Musik selbst Agenz wird und Impulse für neue Weltverständnisse liefert.72 Eine wichtige Grundannahme ist hier, dass Musik stets auf bekanntes Material zurückgreift und damit auf der ‚Repräsentationsebene‘ arbeitet. Ismaiel-Wendt (2011): S. 210. Ismaiel-Wendt (2011): S. 211. 72 Vgl. Ismaiel-Wendt (2011): S. 211. 70 71 32 Musik greift auf Archive bzw. ein kulturell tradiertes Verweissystem zurück und schafft dadurch Bedeutung: „Ohne Fremdreferenzen würde sie als geschichtlich, politisch oder kontextuell leer wahrgenommen werden. Das heißt, wenn nach alternativen Kulturkonzepten, Welten, Topoi und Motiven gesucht wird, gilt es, darauf zu verweisen, welche Weltbilder kritisiert und für welche Vorstellungen überhaupt alternative akustische Atmosphären gefunden werden sollen. Die Form muss also bekannte Vorstellungen andeuten oder wiederholen und kann dann vielleicht kontrastieren.“73 Mit ‚Repräsentationsebene‘ ist zunächst das Zurückgreifen auf ein solches System im Sinne von ‚Stellvertretung‘ gemeint. Funktionieren die musikalischen Formen jedoch nur auf einer stellvertretenden Ebene, so können sie keine neuen Welten erschaffen und so als Impulsgeber ein alternatives Kulturverstehen bereitstellen.74 Im Gegensatz zu einer ‚reinen Repräsentation‘ (Simulation) bezieht sich die ‚Sensation‘ auf die durch musikalische Gestalten hervorgerufenen Affekte oder Gemütsbewegungen. Sie wirkt im Sinne einer ‚Stimulation‘ und zeigt durch „das Spielen mit Form und Materialität der Gestalten“75 die produktive Dimension dieser Formen auf. In einer ‚postkolonialen Analyse‘ populärer Musik sollte diese Ebene daher unbedingt mit einbezogen werden: „Es ist ein Problem, wenn den musikalischen Gestalten nur eine Repräsentationsfunktion zugesprochen wird, weil den Zeichen nicht zugestanden wird, in ihrer Form selbst Welt zu präsentieren. Musik wird buchstäblich zum Gegenstand, wenn sie nur zur Repräsentation im Sinne von Stellvertretung benutzt und eingeschlossen wird.“76 Es kann also festgehalten werden, dass anhand der produktiven und affektiven Komponente der musikalischen Form neue Welten oder Kulturkonzepte gelesen werden können. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass die Rezipienten in der postkolonialen Analyse ihre Wahrnehmung anders ausrichten müssen. Damit die Sensationsebene mit einbezogen werden kann entwirft IsmaielWendt, ausgehend von Mignolo (2003), ein Konzept, in dem Repräsentation als Darstellung aufgefasst wird: Ismaiel-Wendt (2011): S. 213. Vgl. Ismaiel-Wendt (2011): S. 213-214. 75 Ismaiel-Wendt (2011): S. 214. 76 Ismaiel-Wendt (2011): S. 213. 73 74 33 „Wenn die Repräsentation als Darstellung verstanden wird, dann könne sie auch etwas Neues und Ambiguitäten erzeugen (ebd.: 325). Für TRX Studies, die nach emanzipatorisch epistemischen Potenzial suchen, bleibt die Dekonstruktion vorgestellter Geographien ein wichtiger Bestandteil – aber die Sensationen des Tracks sind entscheidend, um Neukonfigurationen erlebbar zu machen.“77 Repräsentation als Stellvertretung oder Verkörperung würde nur auf alte Schemata zurückgreifen. Sie spielt der Topophilie zu und unterstützt die kolonialistische Vorstellung einer nach eurozentristischen Maßstäben kartierten Welt. Repräsentation als Performance/ Sensation aufzufassen, ermöglicht ein Hören, welches die eben genannten ‚Neukonfigurationen‘ erlebbar macht und gleichzeitig alte Repräsentationsschemata in Frage stellt. Musik ist ein Teil der kolonial geprägten Wissensebenen, die nun „Entkoppelt“ werden soll, sodass Kartierungs- und Klassifizierungsschemata aufgebrochen werden können. Sonic Delinking bedeutet nun „wider die Angehörigkeit zu hören“, strebt die „Befreiung von der ethnomusikalischen Weltkarte“ an und meint ein „durch musikalische Formen aktiviertes alternatives Weltenverstehen“78. Der Begriff der ‚Dekolonisation‘ erscheint Ismaiel-Wendt (2011) in diesem Zusammenhang jedoch nicht als angemessen, da die Ziele der TRX-Studies vom Wirkungsgrad her ‚kleiner‘ angelegt sind als reale Dekolonisationsbestrebungen. Im Sinne einer ‚Ent-koppelung‘ [Hervorhebung durch Bindestrich im Original] soll nun fortan der Begriff ‚Delinking‘ verwendet und eine Auseinandersetzung auf epistemischer Ebene angestrebt werden.79 Um ‚Delinking-Strategien‘ aufzudecken, muss die Aufmerksamkeit auf die Sensation gelenkt werden. Da auch im Bereich der Musik bisher gängige Repräsentationsschemata aufgebrochen werden, sollte innerhalb der Analyse nach Verfremdungseffekten, Kontrastierungen und Neukonstellationen von musikalischem Material gesucht werden. Auch die ‚relationale Ismaiel-Wendt (2011): S. 214. Vgl. Ismaiel-Wendt (2011): S. 220-221. 79 Vgl. Ismaiel-Wendt (2011): S. 219. 77 78 34 Anordnung‘ musikalischer Elemente untereinander bietet im Sinne des ‚Spacings‘ oder einer ‚akustischen Möblierung‘ interessante Anhaltspunkte. Ismaiel-Wendt (2011) beschreibt, wie die einzelnen Elemente und deren Neukonfigurationen auf symbolischer Ebene erlebt werden können: „Geeignete Mittel bestehen zum Beispiel darin, utopische akustische Atmosphären zu entwerfen, das Repertoire durch Remix zu verändern oder zu synthetisieren (verkünstlichen). Wobbles, Pitchings, Cuts und Breaks können sehr wichtige ästhetische Konzepte sein, die scheinbare Verbindungen stören, destruieren und neues Denken (de-)komponieren (Bröck 1999: 178). Vielstimmigkeit, Polyrhythmus und Polyrhythmik machen „pluriversales“ (Mignolo 2007: 453) Erleben hörbar, statt univokales Wissen und Universalismus zu inszenieren. Zusammengefasst: „[O]ne strategy of de-linking is to de-naturalize concepts and conceptual fields that totalize A reality“ (ebd.: 458)”80 Auch wenn im Rahmen des Sonic Delinking die enge Verklammerung zwischen Musik und imaginären Geographien aufgebrochen werden soll, so geht es nicht darum, eurozentrische Sichtweisen durch ethnozentrische zu ersetzen.81 Musik soll einfach nur kein „nationalistisches, rassistisches oder auch heteronormes Repräsentationsinstrument“82 mehr sein: „Sonic Delinking ist ein Synonym für die Verweigerung, die aufgezwungenen Rollen im kulturalisierten Musical zu übernehmen – dies kann auf der Kompositions- und der Rezeptionsebene geleistet werden. Wider die Angehörigkeit zu hören, bedeutet andere akustische Atmosphären in den topophilen Wissenskanon einzubringen, zu pluralisieren und zu temporalisieren. Mit dem in dieser Arbeit entwickelten Vokabular heißt das: Sonic Delinking ist motivierter, topophober Ungehorsam.“83 Durch eine neue Art des Hörens entstehen also letztendlich neue Formen von Wissen. Die Wahrnehmung der Sensation kann jedoch sehr individuell ausfallen, sodass Ismaiel-Wendt (2011) eine mögliche Subjektivität seiner Analysen betont. Dennoch entstehen Alternativen zu bisher gängigen Repräsentationsschemata, die als „Wissensformen in der Welt“ erhalten bleiben sollen und „explizites Ziel“ 84 dieser Arbeit sind. Ismaiel-Wendt (2011): S. 221. Vgl. Ismaiel-Wendt (2011): S. 222. 82 Ismaiel-Wendt (2011): S. 222. 83 Ismaiel-Wendt (2011): S. 221. 84 Ismaiel-Wendt (2011): S. 223. 80 81 35 II.6 Mögliche Repräsentationen im französischen HipHop Frankreich hat in der Kolonialzeit auf einen Legitimationsdiskurs zurückgegriffen, wie er in II.1 beschrieben wird. 1848 wurde die Sklaverei zwar offiziell abgeschafft, die Unabhängigkeitserklärung der Kolonien (bis auf Haiti 1804) erfolgte jedoch erst sehr viel später, und zwar nach 1945. Bis heute hat Frankreich in den ehemaligen Kolonien (z.B. in Mali) einen großen Einflussbereich. Rassistische Repräsentationsregimes, also die Vorstellung von der eigenen ‚weißen Höherwertigkeit‘ und einer Minderwertigkeit des Anderen, blieben in vielen gesellschaftlichen Bereichen noch vielfach bestehen. Bis heute sind die ‚ehemals Kolonisierten‘ selten in Führungspositionen in erfolgreichen Unternehmen anzutreffen, dafür aber umso mehr in den vorstädtischen Ballungszentren – den Banlieues. Noch nie gab es keinen schwarzen Präsidenten zudem sind Erfahrungen mit Rassismus für viele Menschen in Frankreich gängiger Alltag. Immer wieder erstarkt der rechte Front National und teilt seine rassistischen bzw. essentialistisch geprägten Vorstellungen mit einem nicht unbeachtlichen Teil der Bevölkerung (Wahlerfolge mit über 20 % der Stimmen sind keine Seltenheit). Die im Kolonialismus entstandenen rassistischen Repräsentationen werden im französischen HipHop häufig thematisiert. Wie Henelon (2006) herausstellt, gibt es eine große Anzahl an Rappern, die in ihren Texten Afrikabezüge herstellen, den Kolonialismus kritisieren und die Rolle einer hegemonialen weißen Repräsentation in Frage stellen. In der Frage nach möglichen Repräsentationen im französischen Hiphop muss auch beleuchtet werden, welches Bild die französische, weiße Mehrheitsgesellschaft von HipHop hat. Verschiedene Sachverhalte weisen darauf hin, dass HipHop in einem Image des Gangsta-Raps bzw. von ‚protestierenden Ghetto-Kids‘ gefangen ist. Es sind vor allem medienwirksame Bilder, wie die Skandale um NTM im Jahr 1996 (auch: Ministère Amer und IAM), verbunden mit Auftrittsverboten und Gerichtsurteilen, welche die Mehrheitsgesellschaft prägen.85 Einige Rapper, wie Kool Shen, 85 Vgl. Verlan (2003): S. 48, 50. 36 werden sogar zum „Feindbild weiter Teile der französischen Gesellschaft“86 und von dieser als Bedrohung empfunden. Das Magazin Get Busy versucht unter anderem, diese „stereotype Verbindung von Rap, Banlieue, Gewalt und Drogen“87 aufzubrechen. Im Gegensatz dazu steht die tatsächliche Bandbreite der Texte: Leben in der Banlieue, Gewalt, Drogen, Kolonialismus, Afrika, Liebe und Beziehungen, Familie, Staats- und Gesellschaftskritik u.v.m.. Ein Großteil der Texte versucht bestehende Verhältnisse zu verändern und nutzt HipHop als Plattform für seinen Protest. Hinzu kommt aber, dass ‚Protest‘ von der Mehrheitsgesellschaft zu einer Mode deklariert wird. Bestehende Verhältnisse können nicht verändert werden, da die Mehrheitsgesellschaft die aus dem HipHop kommenden Botschaften nicht ernst nimmt.88 Auf diese Weise entsteht ein neuer Nährboden für Protest und die in II.2 angesprochene ‚Kreisförmigkeit der Macht‘ wird offensichtlich. Dies trifft auch auf Bild des Gangsta-Rappers zu, welches sich aus der „Negation und damit auch aus all jenen Imaginationen, die auf den Ghetto-Bewohner projiziert wurden“89 entwickelte und, wie in II.2.2 dargestellt, tief im Kolonialismus verankert ist. Dieses Bild der Mehrheitsgesellschaft entsteht auch deshalb, da HipHop zumeist in den Spannungsfeldern großstädtischer Banlieues entsteht. Eva Kimminich betont mehrfach, dass HipHop als kultureller Ausdruck ‚marginalisierter Gruppen‘ eine Alternative zu mehrheitsgesellschaftlichen Repräsentationsschemata darstellt. „Hip-Hop ist im Kontext einer überlebensnotwendigen Selbst(-re)konstruktion einer heterogenen und beständig zunehmenden Anzahl postkolonialer Immigranten bzw. einer desillusionierten Jugend zu sehen. Es ist ein vielschichtiges Repräsentationssystem, mit dem Identitäten und Gemeinschaften entworfen werden.“90 Auf diese Weise können Rapper ein eigenes Diskursuniversum eröffnen und die Rolle mit der Mehrheitsgesellschaft tauschen: Sie wandeln sich vom erzählten Objekt ins erzählende Subjekt und bringen „alternative Wirklichkeitsentwürfe in den öffentlichen Raum“ ein.91 In Frankreich wird Vgl. Verlan (2003): S. 15. Verlan (2003): S. 15. 88 Vgl. Verlan (2003): S. 23, 51. 89 Kimminich (2003a): S. 50. 90 Kimminich (2003a): S. 86. 91 Vgl. Kimminich (2004b): S. 244. 86 87 37 die HipHop-Kultur vor allem von Kindern von Migranten aufgegriffen, „die von ihrem Wunsch nach Integration getrieben mit ihr eine ‚Rapublik‘ schufen“92. Viele der Immigranten leben in den Banlieues, sodass hier eine abgeschottete Parallelgesellschaft entsteht, die nicht mit den gleichen Chancen ausgestattet ist wie wohlsituiertere Bürger und aus der sie nur selten herauskommen können. Die multiethnische Zusammensetzung der Banlieues spiegelt sich auch in der Zusammensetzung der HipHopKollektive wieder. Gemeinsame Erfahrung von Exklusion und Rassismus werden dann in HipHop-Texten thematisiert. Interessant ist nun hierbei, dass sich der französische HipHop in der Verarbeitung solcherlei Erfahrungen klar von einigen Repräsentationen in den USA abgrenzt. Viele wissenschaftliche Arbeiten betonen die Eigenständigkeit des französischen HipHops (Vgl. Verlan 2003, Hüser 2004, Hörner 2007), die sich besonders deutlich in einer Abgrenzung zum amerikanischen Gangsta-Rap artikuliert. Sicherlich hat sich der französische HipHop auch am amerikanischen Vorbild orientiert, aber seit den 80er Jahren auch einen „Emanzipationsprozess der Aufnahme, Aneignung und Abwandlung“93 durchlaufen. Neben sprachlichen Barrieren sind „der beschämende Sexismus und übersteigerte Materialismus, die exzessiven Gewaltbezüge und ethnischen Abschottungsmechanismen“ 94 Gründe für eine Ablehnung des amerikanischen Vorbilds. Die gemeinsame soziale Lage bringt Menschen unterschiedlichster Herkunft (auch Franzosen) in den Banlieues zusammen. Um ihre soziale Lage nun anzuprangern, greifen die französischen Rapper nun auf eine interessante Ambiguität zurück: Sie berufen sich auf die ‚republikanischen Gleichheitsrundsätze‘95 liberté, egalité, fraternité – die fundamentalen Werte der ehemaligen Kolonialmacht und der französisch-weißen Mehrheitsgesellschaft. Diese Werte werden nun im HipHop als theoretische Grundlage verwendet, um „Extremismus, Intoleranz und Rassismus die Stirn zu bieten“96, sodass in diesen Bereichen das Versagen des französischen Staates bzw. seiner Kimminich (2004a): S. VII. Hüser (2004): S. 76. 94 Hüser (2004): S. 79. 95 Vgl. Hüser (2004): S. 84. 96 Hüser (2004): S. 82. 92 93 38 Politiker und die fehlende Umsetzung dieser zentralen Werte offensichtlich werden. Es gibt hingegen nur wenige Rapper, die das Bild des ‚GangstaRappers‘ konsequent reproduzieren (z.B. Tout Simplement Noir).97 Viele Immigranten in Frankreich beherrschen bereits die französische Sprache, sodass sich das Problem der Integration grundsätzlich anders artikuliert als beispielsweise in Deutschland. Die französische Sprache verfügt über mehrere Register (deutlicher ausgeprägt, als in der deutschen Sprache), die zum Teil die Verbundenheit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ihrer Sprecher artikulieren und jeweils mit unterschiedlichem Prestige ausgestattet sind.98 Zitiert sei in diesem Sinne Vicelow von Saïan Supa Crew, der in seinem Interview die Überwindung ethnischer Grenzen und den Vorbildcharakter seines Kollektivs im Beherrschen des Standardfranzösischen betont: „Unsere Musik, das ist unser Image. Und dieses Image, das erhält irgendwann einen Status, […], das ist eben superwichtig für uns. Wir haben fünf Schwarze und einen Araber, wir repräsentieren also die Afrikaner, die Antiller und die Araber, mit einem Mikro. Und nachweisen, dass wir gute Musik machen, das ist schon ein Engagement. Das ist ein positives Bild, den ganzen Leuten, die nie die Möglichkeit haben, die Cités kennenzulernen, vor Augen zu führen, dass es Leute gibt, die da rauskommen können, und die nicht nur Argot sprechen, nicht nur Banlieue-Slang, sondern sich einfach ganz normal ausdrücken können. Wirklich, das ist uns superwichtig.“99 Neben dem Beherrschen des Hochfranzösischen und der Berufung auf republikanische Gleichheitsgrundsätze lässt sich bei vielen Immigranten und deren Kindern eine Ausrichtung ihrer Wünsche und Vorstellungen auf bürgerliche Ideale feststellen.100 Insgesamt ergibt sich daher das Bild einer Protestkultur, die im Kern durchaus Identifizierungspunkte mit französischen Werten aufweist. Hier entsteht nun der Gegensatz einer äußeren Zuschreibung zum Gangsta-Rap und einer inneren Orientierung, die als „erzfranzösisch“101 charakterisiert werden könnte. Das Gefangen-Sein im Image des Gangsta-Rap kann mitunter auf die mediale Verbreitung bestimmter Bilder aus Frankreich und den USA zurückgeführt werden. Vor allem Bilder, die in irgendeiner Form mit Gewalt Vgl Hüser (2004): S. 82, 85. Vgl. Stein (2005): S. 170-189. 99 Vicelow von Saïan Supa Crew zitiert nach: Hüser (2004): S. 87. 100 Vgl. Interview mit Zebda, zitiert nach Hüser (2004): S. 92-93. 101 ebd. 97 98 39 verbunden sind, erhalten von Außenstehenden die größte Aufmerksamkeit.102 Die Akteure der HipHop-Kultur erschaffen aber auch eigene Formen von Repräsentation, welche sie in Form von Filmen oder Fernsehsendungen medial verbreiten können. Auf diese Weise haben sie ein Mittel, um den möglichen Zuschreibungen von außen etwas entgegenzusetzen. Sie erschaffen ihre eigenen Diskursuniversen, die sie selbst medial verbreiten. Neben einem direkten Austausch mit den Akteuren in den USA, waren es Filme, die HipHop-Sympathisanten aus aller Welt die Bestandteile der HipHop-Kultur und ihre mentalen Einstellungen näher gebracht haben.103 In der Frage nach möglichen Repräsentationen im französischen HipHop sollen nun folgende Punkte festgehalten werden: 1. Es gibt Repräsentationen, die als Überlieferungen aus dem Kolonialismus bis heute im alltäglichen Leben anzutreffen sind. 2. Französischer HipHop kann als Protestkultur marginalisierter Gruppen verstanden werden, die versuchen bestehende Verhältnisse zu verändern. 3. Der französische HipHop distanziert sich mehrheitlich vom amerikanischen Vorbild und insbesondere von der Repräsentation des Gangsta-Raps. 4. Durch u.a. mediale Inszenierungen ist der französische HipHop, trotz seiner Bemühungen der Distanzierung, mit dem Bild des Gangsta-Rappers verbunden. Die Kreisförmigkeit von Macht und Zuschreibung kann anhand bestimmter medialer Inszenierungen erkannt werden. 5. HipHop erschafft eigene Diskursuniversen und verbreitet seine Bilder zum Teil selbst in eigenen Medien. 6. Viele Rapper orientieren sich an und identifizieren sich mit französischen Grundwerten, die sie als theoretische Grundlage gegen mehrheitsgesellschaftliche Zuschreibungen verwenden. 102 103 Vgl. Hüser (2004): S. 73, 74./ Kimminich (2004): S. 243./ Shusterman (2004): S. 5. Vgl. Verlan (2003): S. 44, 48. 40 III. Beschreibung des methodischen Vorgehens in der Analyse Das hier beschriebene Analyseverfahren richtet sich nach der Methodik Ismaiel-Wendts (2011). Auf eine ausführliche theoretische Begründung seiner Methodik sei an dieser Stelle verzichtet, da sie den Rahmen dieser Arbeit übersteigen würde. Ich verweise daher auf die ausführliche Darlegung bei Ismaiel-Wendt (2011)104 und werde die einzelnen Bestandteile der Analyse im Folgenden nur kurz vorstellen. Der erste Teil ‚Audiotreks/Audioscapes‘ ist eine ‚impressionistische Analyse‘105, in der subjektive Eindrücke, ausgehend vom Hörerlebnis, dargelegt werden. Konkrete Ortsbeschreibungen werden mit einer individuellen Geschichte des Hörers verbunden. Vor allem die dabei entstehenden ‚Raumassoziationen‘ und ‚Bewegungsmetaphern‘ werden auch für andere Analyseteile von Interesse sein. Ismaiel-Wendt (2011) geht davon aus, dass sich „Deckungsgleichheiten mit Assoziationen anderer Hörerinnen und Hörer ergeben werden, weil Musik sozial vermittelt wird.“106. Im Anschluss soll Saïan Supa Crew kurz vorgestellt sowie einige Daten zur Entstehung des Albums genannt werden. Im Fokus stehen hier die musikalische Form und Sachverhalte, die im Hinblick auf eine postkoloniale Analyse von Bedeutung sein könnten. Mit ‚Spurensicherung‘ ist eine ‚strukturelle Analyse‘ gemeint, die mit Hilfe musikwissenschaftlicher und europäisch geprägter Fachbegriffe den Verlauf der Musik nachzeichnet. Einzelne Tonspuren und ihr Zusammenklang, „Soundeffekte, Melodiestränge, Frequenzbewegungen, Ereignisse in der Zeit und Rhythmisierungen“107 sollen hier betrachtet werden. Besonders fokussiert werden Formen, die bereits in ‚Audiotreks/ Audioscapes‘ Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Ismaiel-Wendt siehe Ismaiel-Wendt (2011): S. 61-70. Vgl. Ismaiel-Wendt (2011): S. 66. 106 Ismaiel-Wendt (2011): S. 62. 107 Ismaiel-Wendt (2011): S. 64. 104 105 41 (2011) verwendet die Theorien von Tagg (1995), Diederichsen (2008) und Pfleider (2003, 2006, 2007) als theoretischen Background. Im Analyseteil ‚Performative Räume‘ werden Referenzen herangezogen, die Rückschlüsse auf Raumvorstellungen und insbesondere ‚imaginäre Geographien‘ zulassen. Dabei fließen wieder die Raumassoziationen aus ‚Audiotreks/Audioscapes‘ ein. Referenzen können auch direkter Natur sein und aus dem Gesangstext bzw. Rap entspringen. Die musikalische Inszenierung, d.h. die innere Raumkonstellation durch die Anordnung musikalischer Elemente, wird besonders fokussiert. Ismaiel-Wendts theoretischer Background sind hier die ‚Kategorien interkultureller Rezeption‘ nach Utz (2002).108 Die Hauptfragen richten sich auf die Kompositionsweise: Wie wird ‚Eigenes‘ und ‚Fremdes‘ musikalisch dargestellt? Welche Instrumente werden benutzt und werden dadurch bestimmte Orte beim Hörer wachgerufen? Wie werden mit Hilfe musikalischer Mittel (inklusive Soundeffekte) Orte assoziiert und imaginäre Geographien heraufbeschworen? Wirken die musikalischen Elemente mitoder gegeneinander? Welche räumlichen Entfernungen entstehen in der Anordnung einzelner Elemente? Gibt es „intertextuelle und intermusikalische Verweise“109? Insgesamt ergibt sich aus diesen Fragen bereits ein Bild über das jeweilige inszenierte Kulturverständnis. Ismaiel-Wendt (2011) fragt in diesem Sinne: „Welche Art des transkulturellen Verstehens offenbart der Rezeptionsprozess [= Kompositionsprozess (J.I.-W.)]: ethnozentristisch, regionalistisch, universalistisch/globalistisch, relativistisch? […] Wird eine Sound-/Kultursynthese versucht?“110. Der letzte Analyseteil ‚Weltauslegungen, Weltaneignungen und Wirklichkeiten‘ findet unter postkolonialen/ transkulturellen/ topophobdiskursiven Gesichtspunkten statt.111 Hier wird nach Wirklichkeitsmodellen gefragt, die durch die Musik entworfen wurden. Postkoloniale Theoriebildung ist der theoretische Hintergrund für die hier erstellten Analysen – wie auch bei Ismaiel-Wendt (2011), der nun fragt: Vgl. Ismaiel-Wendt (2011): S. 64. Vgl. Ismaiel-Wendt (2011): S. 65. 110 Ismaiel-Wendt (2011): S. 65. 111 Vgl. Ismaiel-Wendt (2011): S. 66. 108 109 42 „Ist in diesem Stück eine postkoloniale Wirklichkeit oder eine bestimmte Kulturkonzeption in besonderer Weise zu erleben oder hörbar gemacht worden? Wie klingt Reise? Wie klingt Hybridität? Wie klingen Migration und Diaspora? Wie klingt „double-conciousness“? Wie klingt Unglaube an Tradition? Wie klingt ortlose, topophobe Musik?“112 Nach Ismaiel-Wendt handelt sich bei diesen Erkenntnissen nicht um Wahrheiten, sondern um mögliche Deutungen, die als Wirklichkeitsmodelle und vielleicht als neue Diskursuniversen in die Welt gebracht werden können.113 Die aus jeden Analyseteil gewonnenen Erkenntnisse sind untereinander gleichwertig gültig.114 Da Bedeutung im HipHop stark über den Text transportiert wird, möchte ich in der Analyse von Preuve par 3 ergänzend den textlichen Inhalt mit in die Analyse aufnehmen. Dies wird vor allem in dem Analyseteil ‚Spurensicherung‘ geschehen. Ismaiel-Wendt (2011): S. 65. Vgl. Ismaiel-Wendt (2011): S. 65, 223. 114 Vgl. Ismaiel-Wendt (2011): S. 66. 112 113 43 IV. Analyse IV.1 Audioscapes / Audiotreks Wie aus dem Nichts stehe ich mit dem Beginn des Tracks inmitten einer Gruppe von Männern. Jeder versucht sich Gehör zu verschaffen, einer spricht lauter und schneller als der andere und es entsteht ein unglaubliches Gewirr an Stimmen. Obwohl nur Männerstimmen, scheinen sich auch Frauen Gehör verschaffen zu wollen. Jeder spielt seine Rolle nein es geht darüber hinaus, die Rollen scheinen geradezu karikiert zu sein, so extrem wirken die Charakterzüge der Stimmen… Ihr Klang ist recht verschieden, einige reden langsamer, andere schneller, einige aggressiv, andere sind wiederum sehr albern. Eine Stimme näselt und wirkt sehr von oben herab. Den Akzenten nach urteilend - bei manchen schimmern arabische und nordafrikanische Akzente durch – befinde ich mich vielleicht in einem nord- oder westafrikanischen Land, auf der Straße, in einer Gruppe wild gestikulierender und diskutierender Männer. Ich werde jedoch durch eine Vielzahl verschiedenster Situationen katapultiert und am Ende weiß ich nicht mehr, wo ich bin. Die einsetzenden Streicher verwirren mich zudem… sie scheinen sich von oben auf uns zu legen und gehören nicht zu uns. Ich bin zunächst orientierungslos und bleibe es auch: meinen anfänglichen Eindruck bestätigt der Track nicht, vielleicht bin ich nun in einem großstädtischen Raum – europäisch, aber wo genau? Mit Beginn des Beats und des Raps lassen sich die Stimmen nun gegenseitig mehr Raum, um ihre Aussagen zu treffen, während andere Stimmen immer wieder etwas einwerfen. Die Karikatur jedoch bleibt und verdeutlicht mir, wie irrational meine Situation ist und wie groß meine Orientierungslosigkeit mangels Rationalität bleiben wird. Der erste Rapper hat eine auffallend tiefe Stimme, sie wirkt auf mich, wie auf einem langsamer laufenden Kassettenrecorder. Er wird ergänzt von zwei Stimmen direkt neben ihm. Zusammen engen sie mich ein, fast ‚keifen‘ sie, sprechen und singen eher hoch - es wirkt wie Hohn und Spott. 44 Plötzlich das erste Mal mehr Raum für mich. Ich atme kurz auf, als zwei Stimmen ohne Begleitung der Streicher und des Beats nur auf ‚mmh ah hey‘ singen. Es wirkt wie ursprünglicher Gesang, den ich irgendwelchen afrikanischen Stämmen oder karibischen Inselbewohnern zuordnen würde. Nun setzt vermehrt Gesang ein. Es ist der erste Moment, an dem ich das Gefühl habe nicht an einer Karikatur, sondern an ehrlichen Emotionen teilzuhaben. Die Stimmen verlieren immer mehr ihre Härte und nehmen zum Teil weiche, soulige Züge an. Die Sänger berühren mich und ich spüre eine tiefe Melancholie in dem, was sie mir mitteilen wollen. Und doch gibt es wiederum Sätze mit stark affirmativem Charakter – ein finales Statement am Ende einer Aufzählung von Beispielen. Ein zweiter Gesangsteil beginnt. Auch die Sänger erhalten mehr Freiheit, es gibt mehr Raum für alle und auch für mich, jedoch immer nur in kurzen Momenten am Ende gewisser Gesangsphrasen, in denen die Stimmen mit Hall erfüllt werden und meine Gedanken kurz in ferne Inselwelten entfliehen. Wärme, Weichheit, Harmonie – nicht nur wegen der Zweistimmigkeit der Sänger - auch weil sie die Klangfarben ihrer Stimmen verändert haben. Die Streicher bleiben unsere Begleiter und ergänzen die Phrasen der Sänger mit schönen Gegenmelodien. Ich selbst habe mal wieder keinen Raum um mich zu bewegen. Es ist eng. Es scheint, ich sei an einem Punkt fixiert, festgekettet, gefangen und dennoch weiß ich aus Erzählungen, dass es räumliche Weite und damit Freiheit gibt. Gerade ist es so als sei ich in der Mitte und zugleich außerhalb von etwas und darf zuschauen. Links und rechts von mir befinden sich Gegenpole, Kontraste wie senegalesischer Basar und die Stille einer europäischen Kunsthalle, in der das Publikum die Werke großer Maler bewundert; oder der Kontrast des Lebens in den Straßen und Plätzen der Banlieue versus das Leben der Bevorzugten unserer Gesellschaft in einer mit Säulen und Stuck versehenen Villa… Ich stehe im Zentrum und werde zum Spielball im Wechselspiel dieser Kontraste. Mal schlägt sich mir die geballte 45 Aggressivität der gesamten Gruppe entgegen, mal fühle ich mit ihnen und sie lassen mich an ihrer Melancholie teilhaben. In Momenten der Aggression stehe ich immer wieder im Schussfeuer mehrerer Stimmen, die mit ihren kurzen Salven - verstärkt von dumpfen Schlägen der Base- und Snaredrums - mein Ohr befeuern und von einer Armee tiefer Streicher begleitet werden. Die Stimmung wird erneut aggressiver. Das Tempo des verbalen Beschusses steigt und gipfelt geradezu zyklisch in einen Moment, in dem die Kontraste miteinander verschmelzen und sich gegenseitig ergänzen, um mir gemeinsam ihre geteilte Melancholie und zugleich mit Stärke eine gewissen Tatsache entgegenzubringen. Die räumliche Nähe zu ihnen ist verschwindend gering und ich habe ihnen nichts entgegenzubringen – ich kann nur aufnehmen. Am Ende jedoch, kann ich wieder in die immer wiederkehrende ferne Inselwelt meiner Gedanken abtauchen – werde jedoch nicht final erlöst, etwas bleibt. IV.2 Saïan Supa Crew – „Preuve par trois“ (1999) Saïan Supa Crew ist ein 1997 in Paris gegründetes HipHop-Kollektiv, welches nicht nur in Frankreich, sondern auch international, bis zum Jahr der Trennung 2007, kommerziell sehr erfolgreich gewesen ist. Der Name des Kollektivs leitet sich von den Manga Figuren der Dragon Ball Z-Serie, den Saïyayins ab, die sich in Super-Saïyayins transformieren können und danach über mehr Kraft verfügen.115 Saïan Supa Crew ist ein Kollektiv bestehend aus den drei Subdivisionen ‚Explicit Samurai‘, ‚Simple Spirit‘ und ‚O.F.X.‘.116 1997 lernten sich die Künstler im ‚Nomad Studio‘ von DJ Fun kennen, entdeckten ihre gemeinsame Linie und begannen zusammen zu arbeiten. 1999 veröffentlichten sie ihr erstes Album KLR, eine Hommage an den gleichnamigen und kurz zuvor verstorbenen Kollegen. Bis zur Auflösung des Kollektivs im Jahr 2007 wurden drei Alben und zahlreiche Maxi-CDs mit diversen Themen veröffentlicht. Besonders charakteristisch für Saïan sind neben den unterschiedlichen Themen, die 115 116 Vgl. Wikipedia (2015). Vgl. Mollé (1999). 46 vielfältigen musikalischen Einflüsse und die oft humoristisch-ironische Art ihrer Performance. Die Künstler kommen aus verschiedensten Stadtteilen rund um Paris und haben karibische, nigerianische und marokkanische Vorfahren. Ihre soziale wie ethnische Herkunft nimmt immer wieder Einfluss auf ihre Musik und die Texte ihrer Raps. Insgesamt ergibt sich eine unglaubliche Bandbreite an Stilrichtungen, die sich um den musikalischen Raum des ‚Black Atlantic‘ konzentriert: USamerikanischer und französischer HipHop, Reggae, Raggamuffin, Dancehall, Jazz, Soul, Funk, Disco, Bossa-Nova, Salsa und Zouk.117 Als USamerikanische Vorbilder werden in einem Artikel von RFI Musique aus dem Jahr 2005 Gruppen wie A Tribe Called Quest, De La Soul (beide aus N.Y.) und The Pharcyde (aus L.A.) genannt, also Gruppen die eher dem ‚Jazz Rap‘ oder ‚alternative HipHop‘ zuzuordnen sind.118 Ein weiteres wichtiges Element bei Saïan ist das Beatboxing von Sly the Mic Buddah und erfundene, gesprochene Dialoge, die im Intro und Outro in die jeweilige Thematik einführen sollen und oft alberne beziehungsweise karikierend-ironische Züge aufweisen. Solcherlei burleske Szenen sind vor allem auf dem zweiten Album X-Raisons (2001) häufig vorzufinden. Die Themen der Texte sind in allen Alben sehr vielfältig: Neben Themen wie Sexualität (Angela) oder Drogenmissbrauch (Que dit-on?), weist der Großteil der Texte eine gesellschaftskritische Message auf. Rassismus, Diskriminierung und (Post-)Kolonialismus werden auf allen Alben thematisiert - z.B. auf dem Album KLR (1999), das hier analysierte Preuve par 3 oder auf Hold Up (2005) Rouge sang. Interessant ist gerade in diesem Zusammenhang ein Interview mit Féniski aus dem Jahr 2005: 119 « Il est plus difficile de faire passer des titres lourds, surtout sur l’Afrique car beaucoup de gens pensent que tout a été dit. […] Et même si un titre comme ‘Rouge sang’ n’a pas été choisi comme premier single […], on a quand même pu le chanter deux ou trois Vgl. RFI Musique (2005) und Mollé (1999). Vgl. RFI Musique (2005). 119 siehe Rio (2005) auf RFI Musique. 117 118 47 „Es ist viel schwieriger bedrückende Themen zu verbreiten, vor allem über Afrika da viele Leute glauben, es sei bereits alles gesagt. Und selbst wenn ein Titel wie ‚Rouge sang‘ nicht als erste Single ausgewählt wird, so konnten wir ihn dennoch zwei oder drei Mal im Fernsehen fois à la télé. Le vrai problème vient des radios qui ont peur de faire fuir leurs auditeurs. » singen. Das wahre Problem sind die Radiosender, die Angst haben ihre Zuhörer zu verlieren.“ Beziehen wir nun die theoretischen Ausführungen aus II. dieser Arbeit mit ein, so sehen wir, dass die Verbreitung postkolonialer Themen auch mit der Macht der Radiosender zusammenhängt und die Künstler von Saïan Supa Crew direkt mit solcherlei Machtstrukturen konfrontiert werden. Angesichts dieser Schwierigkeiten, ist der große kommerzielle Erfolg von Preuve Par 3 erstaunlich. Die Biographien der Musiker sind in dieser Arbeit nicht das zentrale Thema. Dennoch sollte im Hinterkopf behalten werden, dass die Biographien der Musiker auch immer in einem Zusammenhang mit den von ihnen getroffenen Aussagen stehen. Alle Musiker sind in Frankreich geboren und besitzen die französische Staatsbürgerschaft. Die Hautfarbe bzw. das Aussehen der Mitglieder und die Herkunft der Eltern aus jeweils verschiedenen ehemaligen französischen Kolonien lassen vermuten, dass die Künstler Erfahrungen mit Stereotypie und Fremdzuschreibungen gemacht haben. Des Weiteren ist zu vermuten, dass in der Aushandlung von Identitäten und im Zusammenhang mit Selbst- und Fremdzuschreibungen zahlreiche Widersprüche entstehen können, z.B. die Tatsache, in Frankreich geboren zu sein, jedoch auf Grund der schwarzen Hautfarbe von der Mehrheitsgesellschaft anders kulturell verortet zu werden. Der textliche und auch musikalische Inhalt von Preuve par 3 zeigt nun, wie solche Erfahrungen im HipHop künstlerisch umgesetzt werden und welche persönlichen Formen der Repräsentation die Rapper aus ihren Erfahrungen mit einbringen. 48 IV.3 Spurensicherung IV.3.1 Der textliche Inhalt Bevor an dieser Stelle der Inhalt von Preuve par 3 kurz wiedergegeben wird, sei auf eine französische und eine deutsche Fassung des Textes im Anhang hingewiesen. Der Originaltext kann helfen, der Struktur des hier vorgestellten Tracks zu folgen, zumal dort in den Fußnoten ausführlichere Hinweise zur verwendeten Sprache gegeben werden. Die Übersetzung selbst ist fast wörtlich und orientiert sich an der Struktur des französischen Originaltextes, um diesem besser folgen zu können. Preuve par 3 behandelt die Rassismusthematik aus drei verschiedenen Perspektiven: Es gibt eine weiße, eine arabisch-nordafrikanische und eine schwarze Sichtweise, wobei Vorurteile offen, schonungslos und ohne Rücksichtnahme ausgesprochen werden. Die jeweiligen Charaktere nehmen Bezug aufeinander und antworten auf geäußerte stereotype Vorstellungen mit eigenen stereotypen Sicht- bzw. Reaktionsweisen. Dadurch entsteht eine Spirale an Wortgewalt, die nur überwunden werden kann, wenn die Botschaft des Refrains ernst genommen wird. Der Refrain ist die zentrale Botschaft in Preuve par 3 und besagt, dass die Menschwerdung120 auf diesem Planeten nur funktionieren kann, wenn man die Unterschiede zwischen den Menschen hinter sich lässt und stattdessen die Einheit aller Menschen anstrebt. Das Anstreben der Menschlichkeit funktioniert jedoch gerade in dem Land nicht, in dem die Rapper leben. Im Intro durchläuft der Zuhörer, wie in einer Collage, mehrere Szenen, die unmittelbar in die rassistische Thematik einführen. Der erste Dialog ist ein Witz, der per se nicht komisch ist, aber pejorative Bezeichnungen für einen Araber (un bougnoul, Kameltreiber) und einen Schwarzafrikaner (bamboula) bereithält. In der nächsten Szene stellt ein Mensch von den Antillen klar, dass er kein Afrikaner ist und versucht so einer gängigen Verallgemeinerung zu entgehen. Im Anschluss folgt ein Zitat des Front National-Politikers Le Pen aus den 90er Jahren: „Wir müssen unser Frankreich den unsrigen, den Franzosen“ überlassen. In der wiederum Im Anhang wurde devenir de l’homme mit ‘Menschlichkeit’ übersetzt, ‚Mensch zu werden‘ ist die wörtliche Übersetzung. 120 49 nächsten Szene wird die Fähigkeit rappen zu können als Eigenschaft von Migranten deklariert und den Franzosen abgesprochen. Die nächsten beiden Szenen sind Äußerungen von mutmaßlich weißen Personen, da Farbige mit einer überholten Kultur (im Sinne von nicht europäisch-zivilisierten Normen entsprechend) etikettiert werden. Fremde würden nur solange nicht stören, wie sie bei sich blieben. In der letzten Szene des Intros werden aus arabisch-nordafrikanischer Sicht multiethnische Annäherungsversuche diskreditiert (die Schwester von Fahrid ging mit einem Schwarzen aus). Mit Beginn des Beats und des Raps wird die erste vermutlich weibliche und weiße Perspektive vorgestellt. Auch hier werden gängige Äußerungen aus dem Alltag aufgegriffen und überspitzt in herabschauender Weise zur Schau gestellt. Dabei werden folgende Dimensionen mit einbezogen werden: Eine Fernsehfigur als Pars pro Totum aller Schwarzen in Frankreich (Giant Coocoo), Lebensgewohnheiten (Ich mag diese Angewohnheiten zwar nicht, aber bei euch geht’s), Geruch, Kleidung, Sexualität, Einwanderung als Invasion, sowie Musik und Sport als natürliche Fähigkeit aller Schwarzen. Es folgt ein Prechorus, der auf 400 Jahre Sklaverei und Formen von Gewalt anspielt, die nicht nur physischer Natur sind. Der Prechorus kann als Antwort aus schwarzer Perspektive auf die zuvor gehörten weißen stereotypen Vorstellungen verstanden werden. In den letzten drei Zeilen des Prechorus wird zum Refrain übergeleitet: Ich denke dass ihr einfach zu engstirnig seid/Denn wir sind so gut wie gleich, und in immerwährendem Krieg/ Und das aufgrund eines Haut(farben)unterschieds. Nach dem Refrain mit seiner zentralen Botschaft, folgt die Perspektive eines weißen Rassisten auf seine arabisch-nordafrikanischen Mitbürger. Er weiß, dass es die Maghrebiner sind, die immer klauen und die französische Wirtschaft negativ beeinträchtigen. Aus diesem Grund wählt er die Front national und hofft eines Tages ohne diese Hysteriker aufzuwachen, die alles verdrecken und ihre Schafe erdrosseln. Als unmittelbare Antwort auf diese Äußerungen ruft ein Sprecher mit arabischem Akzent zu Gewalt gegenüber diesem Rassisten auf und sagt, 50 dass dieser doch eigentlich gerne den Araber selbst, sein Geld, die Araberin und ihre gute Laune haben wolle. An diese beiden antagonistischen Perspektiven schließt sich wieder der Refrain an und macht als moralische Instanz deutlich, wie sinnlos solcherlei Anschuldigungen sind. Im dritten Antagonismus ‚schwarz gegen weiß‘ spricht ein schwarzer Rassist aus seiner Perspektive. Für ihn sind Rassenprobleme so auswegslos, dass sie seinen eigenen Rassismus bedingen. Er disst sein weißes Gegenüber, indem er sagt, dass er stinke und schwitze, wenn er ihm hinterherlaufe. Er prangert Polizeigewalt an und sagt, dass es immer die Gleichen seien, die zur Rechenschaft gezogen werden (gemeint sind die Schwarzen). Die nun folgende weiße Perspektive beklagt, dass „der Weiße“ immer feindliche Reaktionen erhalte, wenn er versuche die Hand auszustrecken. Er könne weder die eigene Rasse minimal respektieren, noch die andere maximal, da jedes Mal mit aggressiven Reaktionen zu rechnen sei. Für ihn ist das Rassekonstrukt ausgehebelt und er wisse nun nicht mehr, was zu tun sei. Er glaubt, dass der andere sich wünschte die ganze Vergangenheit löschen zu können und dass der Schwarze am Ende seinen weißen Platz eingenommen hätte. Zum Schluss folgt der Refrain ein letztes Mal. IV.3.2 Musikalische Spurensicherung Kurz nach Beginn der ersten Sketchsituation im Intro, legt sich ein im Loop laufendes Streicherriff in E-Moll über die Sprecher. Die Streicher werden sehr rhythmisch eingesetzt, spielen kurz und betonen dabei die rhythmische Kombination aus einer punktierten Viertel- und einer Achtelnote. Die Mittelstimme ergänzt einzelne Achtelnoten, sodass ein gleichmäßiges rhythmisches Grundgerüst entsteht. obertonreich: 51 Ihr Sound ist zudem sehr Ab ca. Sekunde 0:17 wird über das Streicherriff eine Solovioline gelegt, die die ersten zwei Takte der französischen Nationalhymne zitiert. Die Melodie wird zunächst zum vorläufig höchsten Ton (h2) geführt und bewegt sich nun von dort aus drei Mal im glissando eine kleine Sekunde nach unten, um dann über hb2 die Mollterz g2 zu erreichen. Vergleicht man diese Version nun mit der Marseillaise so wird man feststellen, dass die beiden Versionen maximal die ersten fünf Töne gemeinsam haben. Auf rhythmischer Ebene wird das Tempo der Nationalhymne verdoppelt. Schwerwiegender noch als die rhythmische Diminution, wirkt jedoch die tonale Überführung des Themas von ursprünglich Dur nach Moll. Des Weiteren wurde der letzte Takt wurde so undeutlich eingespielt, dass er sich kaum in Noten darstellen lässt. Er ist rhythmisch ungenau, deutet eventuell noch einen gebrochenen G-Dur Akkord an und erstirbt letztendlich durch sein decrescendo. Man könnte sogar sagen, dass die musikalische Struktur nach dem Erreichen des höchsten Tones h 2 auf allen Ebenen in sich zusammenfällt. Der Streicherloop des gebrochenen E-Moll Akkordes läuft über das Intro weiter hinweg und die Nationalhymne erklingt ein zweites Mal, bevor Beat und Rap beginnen. An dieser Stelle sei noch angemerkt, dass die Streicher insgesamt mit einem leichten Hall-Effekt versehen wurden, wohingegen der Sound der Sprecher eher trocken ist. Das Intro endet mit einem verminderten Akkord, der tonal zurück zum EMoll Streicherriff führt: Der nun einsetzende Grundbeat hat in etwa folgende Struktur, wobei die 16tel-Noten im Swing-Feeling gespielt werden. Das kleinste rhythmische Raster ist also die 16tel-Triole: 52 Der hier transkribierte Beat tritt in dieser vollständigen Form nur im Refrain auf. In allen anderen Teilen von Preuve par 3 wird der Beat ständig verändert. Mal wird er durch Fills ergänzt und intensiviert, mal werden einzelne Elemente entfernt, sodass kleine Lücken entstehen. Alle Formteile (Strophen und Prechorus) befinden sich auf rhythmischer Ebene in einer ständigen Veränderung und nur der Refrain selbst bleibt rhythmisch konstant. Wir hören ein elektronisches Drumset, das mit nur wenig Hall versehen wird (vor allem auf der Snare zu vernehmen). Die HiHats haben unterschiedliche Klangcharaktere. Auf diese Weise entsteht ein Spiel aus intensiveren und weniger intensiveren Sounds, welches die rhythmische Dynamik im Hintergrund beschleunigt und den Eindruck einer ständigen Veränderung verstärkt. Insgesamt gibt es nur zwei instrumentale Elemente, die das rhythmische und harmonische Grundgerüst des Tracks liefern, nämlich die Streicher mit ihrem perkussiven Sound und das Drumset. Eine eigenständige Bassstimme wird nicht eingeführt, da die Kontrabässe, als Element der Streicher, zusammen mit der Basedrum die tiefen Klänge abdecken. Insgesamt entsteht so der Eindruck, dass die Streicher und das Drumset auf rhythmischer Ebene zusammenwirken. Man könnte sogar sagen, dass die Streicher selbst als Rhythmusinstrument funktionieren. Während der ersten Strophe laufen das E-Moll Streicherriff und der Beat in seiner sich ständig verändernden Form durch. Kurz vor Beginn des Prechorus, stoppen beide Loops und singende Männerstimmen werden deutlich hörbar: Dabei gibt es zwei verschiedene Klangfarben in den Gesangsstimmen: Die erste auf den Silben Ah-Mmh umgibt uns mit ihrem Sound vollständig und ist recht basslastig. Die zweite Stimme auf Ah-Hey scheint etwas weiter im 53 Hintergrund zu liegen, ist ein wenig höhenlastiger und wurde mit einem leichten Echoeffekt versehen. Der nun folgende Prechorus könnte in transkribierter Form in den Streichern in etwa so aussehen: Melodisch, harmonisch und rhythmisch gibt es einige interessante Besonderheiten. Die hohen Streicher sind nun zweistimmig angelegt, wobei sich die Oberstimme in Sekundschritten aufwärts bewegt. Die zweite Stimme steigt hingegen chromatisch abwärts und teilt diese Bewegung (fast) mit dem Bass. Die Mittelstimme bleibt ständig in Achtelbewegungen und vervollständigt das harmonische Muster. Auf rhythmischer Ebene wird die Kombination aus punktierter Viertel- und Achtelnote aufgebrochen, da die hohen Streicher nur noch Akzente auf die Zählzeiten eins und drei setzen. Teilweise kann man akustisch nur schwer unterscheiden, ob nun Bass- oder Mittelstimme die Basedrum auf den ‚Und-Zeiten‘ ergänzt. In Takt drei ist der Bass jedoch deutlich zu hören und beschleunigt mit seinem Achtelpuls auf ‚c‘ das gefühlte Tempo. Nicht zuletzt steigt die Spannung durch den Quartsextakkord (Em/B) in Takt vier. Dieser wird durch die Töne h und a (als angedeutete Dominante) aufgelöst, sodass wieder die Zieltonart E-Moll angesteuert werden kann. Der nun folgende Refrain besteht aus diesem harmonischen Grundgerüst: Em / Am / Em / B7. Wie auch im Prechorus wechseln sich einstimmig gesungene mit zweitstimmig gesungenen Passagen ab. Die Sänger ergänzen sich hier gegenseitig mit ihrem Aussagen. Im Refrain fällt auf, dass vor allem die Textzeile „à commencer par ce pays“ (…angefangen mit diesem Land) mit mehr Hall versehen wird als die anderen Textteile und zudem zweistimmig angelegt ist: 54 Die 16tel-Noten der einstimmigen Phrase werden wieder triolisch gespielt, wohingegen die 16tel-Noten der zweistimmigen Phrase binär angelegt sind. Vor allem im Refrain fällt auf, dass die einstimmigen Phrasen mit nur wenig bis gar keinem Hall versehen sind und der Hall in den zweistimmigen Phrasen wesentlich intensiver erlebt werden kann. Zur Frage der Raumgebung im postkolonialen Sinne wird diese Feststellung ein wichtiger Anhaltspunkt für mögliche Deutungen sein. Dahingehend ist auch eine neue Funktion der Streicher im Refrain interessant. Die hohen Streicher ergänzen nun die Sänger durch melodische Fill-Ins, während der ‚Untergrund‘ weiter das harmonische und rhythmische Grundgerüst liefert. Die hohen Streicher sind nun kein reines Rhythmusinstrument mehr – sondern spielen im Legato und mit viel Vibrato schöne Melodiephrasen, bringen aber auch immer wieder rhythmische Ergänzungen mit ein. Der Refrain endet auf B7b9 in den tiefen Streichern, wobei das ‚c‘ etwas mehr betont wird, wodurch das Motiv einen leidenden Charakter erhält: In der nun folgenden Strophe läuft der Grundbeat durch und die Streicher werden extrem reduziert. Sie arbeiten vor allem in tiefen Bereichen, sind einstimmig, lassen mehr Pausen und akzentuieren dadurch bestimmte Rhythmen. Auf diese Weise wird einerseits Spannung erzeugt und andererseits erhält der Rapper mehr klanglichen Raum für sich: 55 Hier abgebildet sind nun die ersten zwei Takte der zweiten Strophe (Weißer Rassist spricht über Nordafrikaner). Die Aussagen des Rappers und die rhythmischen Akzente wirken so stark ineinander, dass Rapper und Streicher zusammenarbeiten. In der darauf folgenden Antwort des Nordafrikaners werden dann die Streicher wieder aufgefüllt und ein durchgängiger Achtelpuls entsteht. In der Strophe des schwarzen Rassisten ändern die Streicher erneut ihre Funktion (ab Minute 3:45) und bringen Liegetöne und neues melodisches Material mit ein, wodurch eine melancholische Stimmung (auch wieder b9 zur 8, also c nach h) entsteht. Durch Pausen der Streicher zusammen mit dem Drumset, wird den Aussagen der Sprecher immer wieder sehr viel Raum gegeben. Der Diss des schwarzen Rassisten kann in Minute 3:34 seine volle Wirkung entfalten, was auch durch ein anerkennendes Aufatmen der Gang im Musikvideo visualisiert wird. Die Antwort des Weißen, der seine Hand ausstrecken will, wird hingegen affirmativ von tiefen Streicherakkorden auf den Zählzeiten 1 und 3 verstärkt (in 4:08). In Minute 4:00 hören wir ein letztes Mal das Zitat der Nationalhymne, die nun im Hintergrund steht und nüchtern in Moll gespielt wird. Anhand dieser Ausführungen wird nun deutlich, dass die Streicher in ihren Funktionen ständig zwischen der rhythmischen und melodischen Ebene wechseln. Die rhythmische Funktion erschafft eine mit Spannung erfüllte Stimmung, wohingegen melodische Elemente eher auf der Affektebene arbeiten und vor allem melancholische Stimmungen erzeugen. Die Instrumentalgruppen wirken so zusammen, dass sich die Botschaft der Rapper optimal entfalten kann. Dabei sind jedoch alle Spuren einer ständigen Veränderung ausgesetzt. 56 IV.4 Performative Räume Wichtige Hinweise auf Ortsreferenzen, geben bereits zahlreiche sprachliche Markierungen. Im Intro hört man beispielsweise afrikanische, karibische und arabische Akzente. Insgesamt werden häufig pejorative Ausdrücke und Register der gesprochenen Sprache verwendet, die zum Teil vulgäre Züge annehmen. Entsprechende Hinweise finden sich z.B. in unvollständigen Verneinungen (Mais je [ne] suis pas africain…) oder Ausdrücken, die dem Register des français vulgaire/argotique zugerechnet werden, wie kiffer (voll auf etw./jdn. stehen) oder putain (Hure bzw. hier: verfickt, dem Anglizismus ‚Fuck‘ gleichzusetzen). Ausdrücke wie Wesh121 oder coucoune (In der Kreolsprache Martiniques: Weibliches Geschlechtsorgan) sind hingegen Marker, die eine kulturelle Zugehörigkeit ausdrücken. Insgesamt ergibt sich so der Eindruck, dass die Sprecher im Intro und den Strophen aus den sozial schwachen Vorstädten, den Banlieues kommen. Die Multikulturalität der Banlieues und spiegelt sich so auch in der hier verwendeten Sprache wieder. Die Sprache des Refrains hingegen, weist hochkulturellere Züge auf, was beispielsweise durch ein kleines Wort wie de surcroît ausgedrückt wird, welches dem Register des français soutenu angehört. Über dieses linguistische Mittel stützen Saïan Supa Crew (SSC) auch hier ihrer wichtigen Botschaft, dass sich die Menschen aus den Banlieues auch „ganz normal ausdrücken können“122. Das Streichensemble könnte als ein Symbol für Hochkultur gedeutet werden. Hierfür gibt es mehrere Hinweise: Durch den Halleffekt entsteht die Assoziation einer großen Konzerthalle. Das verwendete musikalische Material bestätigt diesen Eindruck, da es sich ständig verändert und daher auskomponiert ist. Die Harmonik und Stimmführung im Prechorus kann beispielsweise hervorragend mit den Mitteln der klassischen Harmonielehre gedeutet werden. Ein anderes Beispiel sind die Vorhalte von der b9 zur Oktave am Ende des Refrains oder die Verwendung verminderter Akkorde, die bei mir Assoziationen zur Barockmusik von z.B. J.S. Bachs hervorrufen. Algerischer/Marokkanischer Dialekt: Wesh rak – Wie geht’s dir? (siehe: Afrique magazine, 2008). Hier: Nun, ja. 122 siehe Hüser (2008): S. 87. 121 57 Die Argumentation kann auch im ausschließenden Sinne erfolgen, wenn man nämlich gängige Praxen im HipHop betrachtet. In der von mir konsultierten Discographie, beruht die instrumentale Grundlage meist auf einem einzigen viertaktigen Loop, der sich im Verlauf des Songs nicht wesentlich verändert. Drei verschiedene Formteile (Strophe, Prechorus und Chorus) mit jeweils einem anderen harmonischen Grundgerüst findet man auch in den Alben von SSC nur selten. Auf dem Album KLR ist es das einzige Stück, welches nicht aus einem einzigen durchgängigen Loop besteht. Selbst innerhalb der Strophen wird trotz der gleichen harmonischen Struktur das musikalische Material immer wieder verändert. Hinzukommt nun, dass ich verminderte Akkorde in der von mir konsultierten Diskographie auch nur in Preuve par 3 wiederfinden konnte. SSC verwenden also in Preuve par 3 eine Kompositionstechnik, mit der sie sich von gängigen Praxen im HipHop abgrenzen. Andererseits ist letztere These nicht ganz zulässig. Das Zitat der Nationalhymne ist das Symbol für Hochkultur par excellence. Es wird in Preuve par 3 jedoch massiv umgestaltet und in eine völlig neue Form gebracht. Wie bei Kimminich (2003a) ausgeführt funktioniert Identitäts- und Wirklichkeitskonstruktion im HipHop über Aneignungsprozesse.123 Wir sehen nun, dass SSC sich die Nationalhymne angeeignet und für eigene Zwecke transformiert haben. Dies funktioniert aber auch insgesamt, da hier Streichergruppen zu einem Rhythmusinstrument umfunktioniert werden. In den meisten HipHop-Tracks legen Streicher akkordische Flächen oder bringen einzelne Melodiephrasen ein. Manchmal treten Streicher in Samples aus Filmmusikausschnitten auf. In unserem Falle wird die Streicheranlage regelrecht zerstückelt. In der Mittelstimme wechseln sich Achtelnoten und –pausen ab, die Kontrabässe sind oft nicht von den Mittelstimmen zu unterscheiden und die Oberstimme setzt teilweise ganz aus. Auf diese Weise werden die Streicher in das gesamte DJ-Set integriert unterstützen so die Aussagen der Rapper. Fill-Ins, die vielleicht über das Scratching eingebracht werden könnten, übernehmen nun Streicher und Drumset gemeinsam. 123 Vgl. Kimminich (2003): S. 87. 58 Auf der Suche nach konkreten Ortsverweisen müssen wir nun in dem Spannungsfeld HipHop vs. Hochkultur einen Kompromiss finden. Ein rein hochkultureller Ort kann nicht assoziiert werden, da die Referenzen aus der Banlieue zu stark ins Gewicht fallen. Man könnte Hochkultur aber auch als einen Rahmen betrachten – als ein Ort, in dem alles zusammenfällt. Der direkte Verweis auf die Nation gibt Hinweise darauf, dass dieser Ort Frankreich selbst ist. Die sprachlichen Charaktere und instrumentalen Referenzen stehen dann symbolisch für die Bewohner dieses Landes und nehmen ihre Positionen in einer multikulturellen französischen Gesellschaft ein. Diese Argumentation wird gestützt von der Vielfalt der gehörten Dialekte, Register und musikalischen Ortsverweise, die einem realen Spiegelbild der französischen Gesellschaft entsprechen. Ein weiterer Bestandteil dieser Gesellschaft sind die zweistimmigen Vocals (à commencer par ce pays), die ich im folgenden Reggae-Vocals nennen möchte. Das Gegeneinandersetzen von geraden 16teln bzw. 8teln und 8telTriolen, ist ein häufig auftretendes Element des Toastings in jamaikanischen Musik-stilen. Ein Beispiel aus dem französischsprachigen Raum für diesen Sach-verhalt ist das Stück Rude Boy von Dub Incorporation aus dem Jahr 1999. Weitere Beispiele sind Bam Bam von Sister Nancy oder Welcome to Jamrock von Damian Marley. Zwei- oder mehrstimmigen Gesang findet man im HipHop eher selten, wobei die kubanische HipHop-Band Orishas eine große Ausnahme bildet. Auch in vielen Reggaestücken wird mehrstimmiger Gesang verwendet z.B. bei den Twinkle Brothers, Dennis Alcapone, Bob Marley u.v.m.. Die Phrase à commencer par ce pays könnten wir daher aufgrund ihrer rhythmische Konstellation und ihrer Zweistimmigkeit einem imaginären karibischen Raum zuordnen. Das letzte Element einer möglicher Raumkreation soll nur als Hypothese vorgestellt werden. Ich stelle in Féfés Gesang soulige Anklänge fest, sodass die Frage entsteht, ob auch Elemente des amerikanische Soul mit in unsere imaginäre Raumkonstellation einfließen könnte. Ich möchte diese Frage zunächst offen lassen, da die Erkenntnisse im nächsten Abschnitt 59 Weltauslegungen, Weltaneignungen, Wirklichkeiten genug Spielraum für solche Phantasien bieten werden. Bleibt zum Schluss nur noch die Frage nach der relationellen Anordnung der aufgedeckten imaginären Geographien. Jede vertretene Position erhält bezüglich ihrer dynamischen Anordnung eine ausreichende Lautstärke, sodass auf dieser Ebene alle Stimmen gleichwertig sind und jeder gehört werden kann. Der Unterschied dieser Positionen liegt in der räumlichen Weite, die ihnen von SSC zugestanden wird, d.h. die rassistischen Positionen erhalten einen sehr trockenen Sound, wohingegen im Refrain, also der zentralen Botschaft, mehr Hall verwendet wird. Der Ruf nach einem friedlichen Zusammenleben kann sich daher im Raum weiter ausbreiten. Auf instrumentaler Ebene erhalten die Streicher mehr Raum durch Halleffekte als das Drumset, was vermutlich mit akustisch-ästhetischen Klangidealen zusammenhängt. Die Instrumentalgruppen entfalten ihre symbolische Wirkung vor allem durch ihr Zusammenspiel, sodass wir eine symbolische Deutung ihrer Raumwirkung an dieser Stelle vernachlässigen können. IV.5 Weltauslegungen, Weltaneignungen, Wirklichkeiten SSC inszenieren in Preuve par 3 eine Kultursynthese, in der mehrere Elemente nebeneinander stehen, aufeinander Bezug nehmen, eine bestimmte Position einnehmen, aber auch undurchdringlich miteinander verwoben werden. Gemeint sind Menschen verschiedener kultureller Backgrounds, die in dem gemeinsamen Rahmen der Nation, zusammenleben. Das gemeinsame Zusammenleben wird jedoch von Stereotypen und Rassismus extrem gestört, sodass der erörterte Rahmen grundsätzlich in Frage gestellt wird. Zu Beginn sehen wir, dass die Darstellung rassistischer Stereotype von einer Nationalhymne überlagert wird, die tonal und rhythmisch in sich zusammenbricht. Auf symbolischer Ebene bedeutet dies nun, dass die Idee der Nation mit ihren republikanischen Gleichheitsgrundsätzen nicht funktionieren kann, wenn der Querschnitt der französischen Gesellschaft in rassistischen Stereotypen gefangen ist. Zudem wird die Solovioline nicht, wie sonst üblich, von der Gemeinschaft eines großen Instrumentalensembles getragen. Auf symbolischer Ebene wird daher 60 deutlich, dass die Idee der Nation nicht von einem alleine und von oben festgelegt funktionieren kann. Die tonale und rhythmische Verzerrung der Nationalhymne ist die erste offensichtliche Delinking-Strategie in Preuve par 3. Anhand der vorherigen Analyseteile konnten wir sehen, dass sprachliche und musikalische Zeichen ethnisch und kulturell markiert werden. Text und Musik erschaffen einen gemeinsamen kulturellen Raum für Franzosen, Afrikaner, Kariben und arabischsprachige Nordafrikaner. Die multiethnische Zusammensetzung von Banlieues und HipHop-Gruppen wird so wiedergespiegelt. Eine weitere wichtige Verbindung ist das Zusammenbringen von sub- und hochkulturellen Elementen. Die Streicher als Symbol der Hochkultur werden von der Subkultur HipHop einverleibt, bringen aber auch weiterhin eigenständige, HipHopfremde Elemente mit in die Repräsentation ein. HipHop wird so zu einer Plattform, von der aus Menschen mit verschiedensten Positionen gehört werden können. Gleichzeitig werden gegensätzliche Elemente zusammengebracht und zu einem homogenen Ganzen verbunden. Die so dargestellte Kultursynthese bietet jedoch kein romantisch verklärtes Bild eines friedlichen Zusammenlebens, da die Botschaften der Sprecher eine Gewaltspirale provozieren, die im Sinne einer „Aug‘ um Auge, Zahn um Zahn-Mentalität“ zu verstehen ist. So kann das Ideal eines friedlichen Zusammenlebens nie erreicht werden. Auf instrumentaler Ebene hingegen wird deutlich, worum es eigentlich geht: Das musikalische Material von Streichern und Drumset befindet sich in einem Prozess der ständigen Veränderung. Zudem gibt es mehrere instrumentale und gesangliche Elemente, die ein Gefühl von Melancholie hervorrufen und so zeigen, dass die hier vorgestellten Realitäten nicht positiv bewertet werden können. Der Prozess der ständigen Veränderung zeigt, dass es sich hier um ein Ideal handelt, welches im Werden begriffen ist. Das Ideal einer Kultursynthese mit friedlich zusammenlebenden Menschen ist also ein Zukunftsentwurf, der noch erreicht werden muss. In audiotreks/ audioscapes fühlte ich mich als Hörer dieser aufreibenden Situation ausgesetzt und wurde dann mit 61 dem Eindruck zurückgelassen, dass noch etwas bleibt. Das letzte Wort in Preuve par 3 hatten die Streicher mit ihrem Vorhalt von der b9 zur Oktave - eine angedeutete Dominante, die nicht aufgelöst wird. So wird vermittelt, dass der multikulturelle Einwandererstaat Frankreich noch vor ungelösten Problemen steht, die es zukünftig zu lösen gilt. Wir müssen – ob nun in Dur oder Moll – eine Tonika installieren, das heißt eine Lösung für die Probleme in unserem Zusammenleben finden und die Gewaltspirale beenden, da ansonsten eine weitere Strophe mit rassistischem Gedankengut folgen könnte. Nur so kann das im Refrain angestrebte Ideal erreicht werden. Die weitere wichtige Delinking-Strategie in Preuve par 3 war die Aneignung des klassisch-hochkulturellen Streicherapparates und seine Integration ins Dj-Set. Trotz einer rhythmischen Zerstückelung der Streicher, wird ein homogenes Ganzes erreicht. Es werden vollständige Akkorde gebildet und an vielen Stellen interagieren Instrumentalgruppen mit den Sprechern nach dem so gennanten Call-Respons-Prinzip. Dieser Aneignungsprozess hätte deutlich schmerzhafter ausgehen können. Ismaiel-Wendt (2011) macht uns darauf aufmerksam, dass Delinking-Strategien auch mit elektronischen Mitteln der Verzerrung hätten stattfinden können.124 Die hier vorliegende ‚Ent-Koppelung‘ findet jedoch auf einer viel subtileren Ebene statt und erfordert ein genaues Hinhören. Die Streicher greifen einige traditionelle Mittel auf (Vorhalte, verminderte Akkorde und Melodiephrasen), müssen sich dafür aber den stilistischen Idealen des HipHops anpassen. So entstehen Breaks und Cuts, die jedoch im Zusammenspiel mit Drumset und Rap stattfinden. SSC geben auf diese Weise ein Signal für einen möglichen Weg in die Zukunft: Nur durch gegenseitiges Hinhören, Anpassung, Zusammenarbeit, Kompromissbereitschaft und stetige Veränderung kann ein homogenes und ästhetisch befriedigendes Ganzes erreicht werden. Das Festhalten an antiquieren Werten (vgl. Text: „zu meiner Zeit gab es noch weniger Cheb Khaleds und dafür mehr Yves Montands“) steht in Diskrepanz zu gesellschaftlichem Fortschritt. Den Subkulturen ein Handlungsfeld zu überlassen, muss nicht schmerzhaft sein und ist nicht zwingend von Nachteil, sondern kann ein ästhetisch 124 Vgl. Ismaiel-Wendt (2011): S. 221. 62 ansprechendes Novum schaffen, also einen optimierten Gesellschaftsentwurf. Die Botschaften der Sprecher sind gekennzeichnet von rassistischen Beleidigungen und Ausdrücken der Gewalt, können aber durch die Art der Deklamation nicht wörtlich verstanden werden. Die in Preuve par 3 entworfenen Figuren sind völlig überzeichnet und wirken wie eine Karikatur ihrer selbst. Insbesondere das Intro ist von einem hohen Sprechtempo und überspitztem Gelächter gekennzeichnet. Stuart Hall (2004b) spricht in Das Spektakel des Anderen die Praxis des Signifizierens an, die Parodie der Verhaltensweisen weißer Sklavenhalter „durch ihre übertriebenen Imitationen“125. Betrachten wir kurz das Musikvideo, so sehen wir, dass Vicelow die Verhaltensweisen Jean-Marie Le Pens imitiert und sein Zitat „Wir müssen unser Frankreich den unsrigen, den Franzosen lassen“ mit Hilfe seine näselnde Artikulation und übertriebene Gestik überzeichnet. Letzten Endes wird aber jede der hier vorgestellten Charaktere überspitzt dargestellt, sodass die Sinnlosigkeit aller Äußerungen ersichtlich wird. Die Praxis des Signifizierens erscheint in Preuve par 3 besonders dann absurd, wenn schwarze Darsteller weißen Rassismus verkörpern und umgekehrt. Dieser ständige Moment der Irritation zeigt, dass Rassismus keine Frage der Hautfarbe ist und jeder Mensch Opfer von Rassismus oder selbst Rassist werden kann. Die ursprünglich weißen Kolonialherren sind heute in der Praxis des Signifizierens austauschbar durch Menschen jeglicher Couleur. Die zentrale Botschaft „Um die Menschlichkeit voranzutreiben, müssen wir in dem Land anfangen, in dem wir leben“ wird um die Multiperspektivität im Rassismusthema erweitert. Die Ausgangsfrage dieser Arbeit war unter anderem, wie man stereotypen Vorstellungen entkommen kann und sich so aus Mustern der Repräsentation befreit. SSC arbeiten deutlich mit kulturellen Markierungen und stellen gängige rassistische Stereotypen aus dem Querschnitt der französischen Gesamtgesellschaft vor. Obwohl sie eigentlich demonstrieren wollen, dass sie im Französischen eines hohen Niveaus mächtig sind und somit aus der Repräsentation ausbrechen wollen, verwenden sie hier 125 Hall (2004b): S. 129. 63 Wörter aus Registern mit niedrigem Sprachstatus und Ausdrücke der kulturellen Zugehörigkeit. Zudem werden rassistische Äußerungen offen und ohne Rücksicht auf das Gegenüber ausgesprochen. Der Effekt ist nun, dass die vorgestellten Stereotype gegen sich selbst arbeiten und sich dadurch final selbst zerstören. Genau dieser Sachverhalt wird auch als eine der Möglichkeiten, aus gängigen Mustern der Stereotypie zu entfliehen, bei Stuart Hall (2004b) vorgestellt.126 Es handelt sich um eine dekonstruktivistische Strategie, die mit rassistischen Stereotypen arbeitet und das Hinschauen nicht unterbindet. SSC arbeiten zwar nur bedingt mit der sexuellen Dimension und sie stehen nicht in einem positiven Verhältnis zu den dargestellten Stereotypen, jedoch ist diese Strategie auch auf Preuve par 3 übertragbar, da Repräsentationen „von innen heraus“ 127 angefochten werden: „Daher meidet dieser Ansatz den schwarzen Körper nicht etwa deshalb, weil er so sehr in die komplexen Zusammenhänge von Macht und Unterordnung innerhalb der Repräsentation verwickelt wurde, sondern bezieht sich positiv auf ihn als wesentlichen Ort ihrer Repräsentationsstrategien. Damit wird versucht, die Stereotype gegen sich selbst wirken zu lassen. Anstatt das gefährliche Terrain […] zu umgehen, stellt diese Strategie die dominanten gesellschaftlichen und sexuellen Definitionen rassischer Differenz bewusst in Frage, indem sie mit schwarzer Sexualität arbeitet.“128 Ob nun der übersteigerte Fokus auf die vorgestellten Stereotype und ihr selbstzerstörerisches Potenzial eine Veränderung in der französischen Gesellschaft bewirken kann, kann in dieser Arbeit nicht beantwortet werden. Die hohen Verkaufszahlen weisen jedoch auf eine gewisse gesellschaftliche Zustimmung hin und geben Hoffnung auf positive Veränderungen in den 17 Jahren nach Veröffentlichung des Albums KLR. Vgl. Hall (2004b): S. 159-166. Hall (2004b): S. 163. 128 Hall (2004b): S. 163-164. 126 127 64 V. Fazit V.1 Ausblick: ‚Musemes‘ und intermusikalischer Vergleich Viele Erkenntnisse aus dieser Arbeit provozieren neue Fragen und könnten wissenschaftlich vertieft werden. Hier könnte eine Analyse musikalischer Zeichen nach Philipp Tagg besonders interessant sein. Philipp Tagg (2001) untersucht in seiner Arbeit Fernando The Flute einzelne musikalische Zeichen und deckt Parallelen zu anderen Musikstücken auf. Mithilfe eines intermusikalischen Vergleichs, konnte er feststellen, in welcher Bedeutungsumgebung sich die Zeichen befinden und damit deren semantischen Gehalt aufdecken. In Anlehnung an den sprachwissenschaftlichen Terminus ‚Semem‘, sind die kleinsten bedeutungstrangenden Einheiten in der Musik folglich ‚Museme‘ (engl. ‚museme). Viele seiner Erkenntnisse lassen sich mit postkolonialen Theorien interpretieren, sodass sich auch IsmaielWendt (2011) auf seine Arbeiten bezieht. Die Bedeutungsanalyse einzelner Musemes bietet nämlich Erkenntnisse, die über den Bereich der Musik hinausgehen: „Instead it is suggested that the sort of semiotic approaches presented here in conjunction with a large amount of interdisciplinary overlap, provides a viable contribution to the understanding popular music in terms of Weltanschauung, socialization, ‘affective education’, etc.”129 Ich habe die Transkriptionen dieser Arbeit bereits nach potenziellen Musemes ausgerichtet. Im Rahmen dieser Arbeit ist jedoch nur ein kleiner Ausblick auf einen intermusikalischen Vergleich möglich. Ich habe in Performative Räume darauf verwiesen, dass die rhythmische Konstellation der Reggae-Vocals auch bei Dub Incorporation, Sister Nancy oder Damian Marley wiedergefunden werden kann. In einer genaueren Analyse könnten die Texte dieser Interpreten weiter untersucht und Transkriptionen der betreffenden Stellen geliefert werden. Ich vermute, dass eine Hinwendung zu jamaikanischen Rhythmen im Sinne eines Widerstands gegen herrschende Systeme verstanden werden könnte. Viele Interpreten wie z.B. Tiken Jah Fakoly oder Bob Marley kritisieren ein imaginäres oder reales Babylon, das mal der eigene Staat, die Gesellschaft oder die ehemalige Kolonialmacht sein kann. SSC würden dann solcherlei 129 Tagg (2001): S. 123. 65 Zeichen bewusst oder unbewusst aufgreifen, um den Widerstandsgehalt ihrer eigenen Botschaft auszudrücken oder um ihre Sympathie mit der Gedankenwelt der Reggaekünstler zu bekunden. Zum Beispiel kritisiert Fabe in Code Noir (1998) den Kolonialismus und zitiert den Kolonialismuskritiker und Mitbegründer der Négritude Aimé Césaire. Das Intro zu diesem Stück besteht aus einem Reggaebeat, der später in einen HipHopBeat umgewandelt wird. Das Verwenden der Nationalhymne als Zitat hingegen, wird vermutlich oft in einem Zusammenhang genutzt, in dem der Staat oder die Idee der Nation kritisiert wird. Jimmy Hendrix zerstört die National Anthem in The Star Spangeled Banner (1969) geradezu mit seinem Gitarrensolo und lässt Laute entstehen, die wie Maschinengewehrfeuer klingen. Auf diese Weise kritisiert er die Kriegspolitik der USA im Vietnamkrieg. KDD inszenieren in Une couleur de plus au drapeau eine akustische französische Revolution, in welcher mehr Rechte für französische Immigranten gefordert werden. Die Aneignung der Nationalhymne erfolgt hier jedoch nur auf der Ebene des Textes. Die erforderliche Veränderung des status quo mittels textlicher Ergänzungen erfolgt vor einer militärisch geprägten Soundkulisse, die eine akustische Revolution mit Stiefel- und computerspielartigen Fanfarengeräuschen darstellt. SSC, Jimmy Hendrix und KDD stellen mit der Dekonstruktion der Nationalhymne die Nation und deren politische Ausrichtung selbst in Frage. Die Suche nach chromatischen Abstiegen im Bass und gleichzeitigem Aufstieg der Melodiestimme für das Museme des Prechorus hat sich als diffizil herausgestellt. Gemeinsam haben Positive Black Soul in Respect The Nubians und McSolaar in Les colonies mit Preuve par 3 zumindest ihre Kritik am Kolonialismus und die Verwendung einiger chromatischer Schritte im Bass. Auch die harmonische Konstellation ist ähnlich, jedoch ist das klangliche Ergebnis different. Ich vermute allerdings, dass sich in den Untiefen der Musikgeschichte noch einige passendere intermusikalische Referenzen finden lassen. Für eine tiefergehende Recherche, würde ich mir neben HipHop auch diverse Jazz- und Brazilian Standards, klassische und romantische Musik und französischen Chansons anhören. 66 Der bisher erfolgte intermusikalische Vergleich zeigt zudem, inwiefern SSC in Preuve par 3 etwas besonders gemacht haben. Innerhalb des HipHop werden nur selten drei verschiedene Formteile (Strophe, Prechorus und Chorus) mit jeweils drei verschiedenen harmonischen Konstellationen verwendet. Darüber hinaus wird auch nur selten jede einzelne Strophe mit einem klassischen Streichorchester auskomponiert, sodass sich musikalisch fortlaufend etwas Neues ergibt. Auf inhaltlicher Ebene bleibt zu vermerken, dass die Rassismusthematik nur selten aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wird. Jedenfalls in der von mir konsultierten Diskographie war Preuve par 3 dahingehend einzigartig. Da die Welt des HipHops allerdings immens groß ist, werde ich an dieser Stelle nicht ausschließen, dass auch andere Interpreten ähnlich gehandelt haben. Der soeben erfolgte Ausblick sollte daher auch nur zeigen, in welche Richtungen noch weiter geforscht werden könnte. V.2 Können SSC aus der Repräsentation ausbrechen? Können wir bzw. SSC aus der Repräsentation ausbrechen? Die mit der Überschrift gestellte Frage war eines der zentralen Anliegen dieser Arbeit. Anhand der hohen Verkaufszahlen von Preuve par 3 sehen wir, dass die vermittelten Botschaften des Tracks als sinntragender Diskurs in der französischen Gesellschaft wahrgenommen werden. Das bedeutet, dass mit den Botschaften des Tracks bestimmte Bedürfnisse bzw. Stimmungen in der Gesellschaft aufgegriffen werden: Der Wunsch nach einem friedlichen Zusammenleben geht einher mit einer Resignation gegenüber bestehenden Verhältnissen, was auf musikalischer Ebene durch das offene Ende und die allgemein düstere Stimmung im Track gezeigt wird (z.B. die tiefen Lagen der Streicher). Dennoch werden dominante Diskurse und der damit verbundene Machtapparat bewusst angegriffen – eine neue Machtkonstellation und der Ausbruch aus der Kreisförmigkeit der Macht wird so angestrebt. Auch mit den bei Kimminich (2003a) angesprochenen Aneignungsprozessen kann in bestehende Machtkonstellationen eingegriffen werden. Die Frage ist nun, wie dominante kulturelle Ordnungen darauf reagieren werden. In diesem Sinne zeigt das Kodieren/ DekodierenModell mitunter die Probleme, denen SSC gegenüber stehen: Als Sender der Botschaften können sie den Dekodierungsvorgang zwar beeinflussen, 67 indem sie sich an einem gesellschaftlichen Konsens dominanter und sinntragender Diskurse orientieren, jedoch wird durch die drei bei Hall (2004a) aufgezeigten Lesarten deutlich, dass es unmöglich ist den individuellen Dekodierungsvorgang endgültig festzulegen. Die Begünstigten der bereits bestehenden Verhältnisse werden vermutlich nicht daran interessiert sein, diese zu ändern und daher die Botschaften in Preuve par 3 oppositionell lesen. Außerdem sind sie selbst die Begünstigten der dominanten Diskurse, die als kulturelle dominante Ordnung gehalten werden wird. Trotz einer breiten gesellschaftlichen Resonanz, werden der Kampf um eine gleichberechtigte Teilhabe subkultureller Elemente und der Versuch einer Kultursynthese schwierig werden. Für weitere Forschungsarbeiten könnten Höreranalysen interessant sein, die zeigen, welchem sozialen Umfeld die Hörer von Preuve par 3 angehören. Sind es nur die Benachteiligten aus den Banlieues, Staatskritiker, Reggae-Hörer oder auch konservative Mittelständler oder potenzielle Präsidenten? Finden die Botschaften von Preuve par 3 nur bei Sympathisanten oder auch bei Oppositionellen Gehör und bewirkt das Gehörte vielleicht eine Verhaltensänderung oder Bewusstseinserweiterung? In Hall (2004b) wurden drei Strategien dargestellt, die einen Weg aus den Praktiken der Stereotypie zeigen können. In der ersten Strategie, der ‚Umkehrung der Stereotype‘, wird aus dem infantilisierten Schwarzen ein sexbesessenes, omnipotentes und gefährliches Monster. In der zweiten Strategie werden negative Bilder durch positive ersetzt, sodass z.B. in den Photoserien von United Colors of Benneton Vielfalt und Hybridität gefeiert werden. Die dritte Strategie, die auch bei SSC angewendet wird, arbeitet bewusst mit Stereotypen und lässt diese gegen sich selbst wirken. Keine dieser Strategien schafft jedoch einen endgültigen Ausweg und es besteht die Gefahr, dass die rassistischen, diskriminierenden und bereits naturalisierten Vorstellungen erhalten bleiben.130 Diese drei Strategien zeigen lediglich einen Weg anders mit stereotypen Vorstellungen zu arbeiten, greifen diese an und vergrößern die Vielfalt möglicher Deutungsmuster. Da es nach Stuart Hall (2004b) „keine eindeutige 130Vgl. Hall (2004b): S. 158-165. 68 Antwort“ auf die Frage gibt, welche dieser Strategien die „effektivste“131 sei, ist auch bei SSC der Kampf um Bedeutung noch nicht abgeschlossen. Eigene Medien aus Subkulturen können helfen, bestimmte Repräsentationen in einen gesamtgesellschaftlichen Alltag einzubringen. Durch die Vielfalt und große Masse an medialen Distributionsformen in der heutigen Zeit können eigene Vorstellungen und Botschaften leicht und oft verbreitet werden. Auf diese Weise könnten Subkulturen versuchen die Gesellschaft mit ihren Vorstellung vertraut zu machen, die Frage ist nur, wie diese Botschaften dann gelesen werden. Durch einen hohen Gewöhnungsgrad der Rezipienten an die subkulturellen Kodes, könnten manche Botschaften nach einer langen Zeit vielleicht als naturalisiert empfunden werden. Ob dies nun gelingt, ist eine andere Frage, da dominante kulturelle Ordnungen und bisherige Machtkonstellationen auch immer einen Gegenpol bilden werden und der finanzielle Aufwand für eine effektive Gestaltung von Medien mitunter enorm sein kann. Zumindest bieten eigene Medien eine eine selbst- und nicht fremdbestimmte Form von Diskursen und Mustern der Festlegung. Am Ende soll noch einmal festgehalten werden, dass Bedeutung fließt und der Bedeutungswandel an sich nicht aufgehalten werden kann. Trotz zahlreicher Schwierigkeiten könnten so auch manche Stereotype überwunden werden. An und für sich wird es jedoch auch immer Typen und Stereotype geben, da das menschliche Denken durch eine Ordnung in festgelegte und einfache Schemata erleichtert wird. Das Spiel mit Linkingund Delinking Strategien, welches bei uns ein Spiel mit imaginären Geographien, Stereotypen und deren Ent-Koppelung war, wird in Preuve par 3 zu einem Mittel, das den Bedeutungswandel auf vielerlei Ebenen der Kommunikation anstrebt. Verbale und physische Gewalt kennzeichnen gängige Stereotype über HipHop. Eine reflektierte Analyse der verwendeten Formen zeigt jedoch, dass Gewalt auch verwendet werden kann, um etwas zu parodieren, um sich aus der Repräsentation zu befreien. Auch ein genaueres Hinhören kann helfen, bestimmte Stereotype zu überwinden. 131 Hall (2004b): S. 165. 69 VI. Anhang Literaturverzeichnis BÖHME, GERNOT (2006): Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Erstausg., 5. Aufl., [Nachdr.]. Frankfurt a. M.: SUhrkampt (Edition Suhrkamp, 1927 = N.F., 927). Zitiert nach: I.-W. (2011): S. 27. FISCHER-LICHTE, Erika (2004): Ästhetik des Performativen. Orig.-Ausg., 1. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Edition Suhrkamp, 2373). Zitiert nach: I.W. (2011): S. 25 ff.. GILROY, Paul (1993): The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, S. 1-40. HALL, Stuart (2004a): Kodieren/Dekodieren. In: HALL, Stuart; KOIVISTO, Juha; MERKENS, Andreas (Hg.): Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4. 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Les gars ! Eh ! Bon OK, vous avez gagné. Vous avez gagné! hé oh hé oh ! La différence entre un bougnoul132 et un bamboula133 ? - Bah je sais pas moi - Bah y en a pas, sauf que le bougnoul, il monte pas aux arbres !! ... [Intro] - Hey! Stop! Jungs! Hey! Gut OK, ihr habt gewonnen. Ihr habt gewonnen! Ok, ok! Der Unterschied zwischen einem Araber und einem Buschmann? - Ähm keine Ahnung - Nunja es gibt keinen, außer, dass der Araber nicht auf Bäume klettert!! …(Gelächter) Mais oui je suis noir. Mais je suis pas africain, je suis antillais des Antilles ! ... Je pense qu'il faut laisser notre France à nos Français ... - Eeeeeeh, tu rappes, toi ? - Oui j'rappe un petit peu oui - Mais depuis quand il rappe, le JeanMichel, depuis quand ?? ... Non, non non. je ne dis pas que les gens de couleur sont différents. Je dis simplement que leur culture est totalement dépassée ... Les étrangers, moi, ils me dérangent pas, hihihi, du moment qu'ils restent chez eux, hahahaha !! ... 132 133 Ja klar, ich bin schwarz, aber ich bin kein Afrikaner, ich komme von den französischen Antillen! Von den Antillen! … Ich denke wir müssen unser Frankreich immer noch den unsrigen Franzosen lassen … - Eeeeeeh, rappst du? - Ja, ein bisschen schon - Schau an! Seit wann rappt denn unser kleiner Jean-Michel hier? Seit wann?? … Nein, nein, nein. Ich sage ja nicht, dass farbige Menschen anders sind. Ich sage nur, dass ihre Kultur antiquiert und unaufgeklärt ist … Also mich, mich stören Ausländer ja nicht, hihihi, solange sie bei sich bleiben, hahahaha! Rassistische Beleidigung für ‚Araber‘. Auch: Kameltreiber. Rassistische Beleidigung: Schwarzafrikaner. 74 - Yeah wesh134 regarde ! Wesh j'ai vu la soeur à Fahrid, la vie de ma mère, elle traînait avec un re-Noi135, mec - Alter, zieh dir das mal rein! Ich hab die Schwester von Fahrid gesehen, beim Leben meiner Mutter, sie ist mit ‘nem Schwarzen umhergezogen143, Alter - Erzähl nichts von deiner Mutter, verdammt! - Parle pas de ta mère, putain136 ! [Sly the Mic Buddah] (Mes cocos137, en vous, je vois mon caca et Giant Coocoo) J'aime pas trop ces habits, mais sur vous ça va (Une odeur de cul, ça cocotte, mon majeur vous fait coucou) L'affiche si je devais m'habiller comme ça (Vous sortez de votre cocon une invasion à la Cocoon) La rap dance, bizarre, mais vous avez ça dans la peau (Le pire, c'est que vous êtes kiffés par mes blanches coucounes138) Le sport, la chanson, vous êtes forts en tout, c'en est trop ! [Sly the Mic Buddah] (Leute, in euch sehe ich all meinen Scheiß und „Giant Coocoo“144) Ich mag diese Angewohnheiten zwar nicht, aber bei euch geht’s (Ein Höllenmief, da sagt mein Mittelfinger „Hallo“ zu euch) Eine Schande, wenn ich mich so anziehen müsstete (Ihr kommt aus eurem Nest, es gleicht der Invasion aus Cocoon145) HipHop-Tanz, komisch, aber ihr habt das wohl im Blut (Das schlimmste ist, dass euch meine weißen Muschis auch noch geil finden) Sport, Gesang, ihr könnt echt alles! Was zu viel ist… Algerischer / Marokkanischer Dialekt: Wesh rak – Wie geht’s dir? (Vgl. Afrique magazine, n° 269 à 274, page 59, éditions Jeune Afrique, 2008). Hier: Nun, ja (Funktion eines Füllwortes und markiert gleichzeitig die soziale Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation und der nordafrikanischen Herkunft). 135 Verlain ist die Verdrehung von Silben und eine typische Stilistik der französischen Jugend- und Umgangssprache: Noire wird zu re-Noir. 136 Eigentlich: „Schlampe“, kann man aber immer am Schluss eines Satzes verwenden, sodass die Bedeutung des Wortes allgemeiner wird. Die Bedeutung entspricht dann in etwa dem Anglizismus „Fuck“ im Deutschen. 137 Hier: Gruppe von Personen mit negativer Konnotation. 138 In der Kreolsprache Martiniques: Weibliches Geschlechtsorgan. 143 Gemeint ist: „Sie ist mit einem Schwarzen zusammen“. 144Gemeint ist die Rolle des „Giant Coocoo“ des französischen Schauspielers Désiré Bastareaud in der Serie „Le miel et les abeilles“ aus den 1990er-Jahren. 145Cocoon (Film): Science-Fiction-Drama aus dem Jahr 1985 von Ron Howard. Aliens haben neben einem Altenheim einen Jungbrunnen angelegt, dessen Wirkung jedoch durch die Gier der Rentner bald nachlässt. Der Anführer der Aliens bietet den Rentnern jedoch an mit auf sein Raumschiff zu kommen, sodass sie ewiges Leben genießen könnten. 134 75 [Prechorus: Sir Samuël] Plus de 400 ans d'esclavage, ça ne leur suffit pas et le résultat ? À l'aube du nouveau millénaire et encore le même climat La violence n'est plus physique, elle est morale et de surcroît De jour en jour elle accroît, le peuple noir en est la proie Vous n'êtes supérieurs en quoi que ce soit, si oui en quoi ? Je crois que vos esprits sont trop étroits Car nous sommes quasiment similaires, et en perpétuelle guerre Celà à cause d'une différence d'épiderme... [Prechorus: Sir Samuël] Mehr als 400 Jahre Sklaverei reichen ihnen nicht. Und das Ergebnis? Im Morgengrauen des neuen Jahrtausends ist noch immer dasselbe Klima Die Gewalt ist zwar nicht mehr körperlich, sie ist strukturell und darüber hinaus nimmt sie zu von Tag zu Tag zu, das schwarze Volk wird ausgebeutet Ihr seid ja in allem überlegen. Worin nochmal genau? Ich denke, dass ihr einfach einen zu engen Horizont habt Denn wir sind so gut wie gleich, und doch in immerwährendem Krieg Und das aufgrund eines Haut(farben)unterschieds [Refrain - Sir Samuël] Il y a de quoi se faire du souci [Refrain - Sir Samuël] Es gibt etwas, worüber man sich Sorgen machen sollte Was die Menschlichkeit auf diesem Planten betrifft Mit dem Land anfangen, in dem ich lebe Wo man Unterschiede kultiviert und die Einheit vernachlässigt Quant au devenir de l'homme sur la planète À commencer par ce pays dans lequel je vis Où l'on cultive la différence, laissant l'unité dans l'oubli [Vicelow] Pourquoi être l'inspecteur Maigret Pour savoir qui me vole qui m'agresse? Ce sont toujours ces Maghrébins [Vicelow] Warum Inspektor Maigret sein? Um zu wissen, wer mich bedroht? L'économie de la France est maigre ? Eh ben ! C'est de la faute de ces bougnouls Cet été, au camping, j'ai mis le grappin Sur un de ces ouf qui allait prendre mon grille-pain On est barge, hein ! On en héberge un Et c'est toute une famille qui se ramène avec des moutons Qu'ils égorgent. Un matin 76 Es sind doch immer diese Nordafrikaner Die Wirtschaft Frankreichs ist schwach? Na und! Es ist die Schuld dieser Kameltreiber Diesen Sommer, beim Campen, habe ich einen Haken An einen dieser Verrückten gemacht, der meinen Toaster klauen wollte Man muss doch bescheuert sein! Man nimmt einen auf und es kommt eine ganze Familie mit Schafen hinterher, denen sie die dann Kehle durchschneiden. Eines morgens Je voudrais me lever sans qu'il y ait tous ces boutons Histoire d'être seul ici C'est pour cela que je sollicite Le National Front Pour nettoyer ce que salissent ces hystériques qui n'ont pas mon teint würde ich gerne aufstehen ohne diese Pest Es ist eine Frage der Einsamkeit Und deshalb, wähle ich Front National Um wieder in Ordnung zu bringen, was diese Hysteriker beschmutzt haben, die nicht meine Hautfarbe haben Blau, Weiß, Rot, Farben meiner Zeit, zu meiner Zeit Gab es weniger Cheb Khaled146 und mehr Yves Montand147! Bleu, blanc, rouge, moi, de mon temps, de mon temps Y avait moins de Cheb Khaled et beaucoup plus d'Yves Montand ! [LeeroY Kesiah] Alors toi t'es con, puis t'es laid [LeeroY Kesiah] Also, du bist dumm wie du hässlich bist Genauso wie die Araber-Hasser! Legt sie alle um! Auf der Stelle! Weg mit ihnen! Alle! Prügelt sie nieder! Auf jeden Fall ist der engstirnige Typ, der einen Rachid nicht mag, ein krasser Rassist. Die tun zwar einen auf Rassist Aber, glaub mir, im Grunde finden sie Erdnussöl geil Und ich wette, er war schon auf dem Schulhof so! Damals! Winter wie Sommer, immer das Gleiche Du hast dich immer brav an den Lehrer gewendet um dich ohne Unterlass über Kamel zu beschweren Heute, schätzt du Khaled Aber wenn man dich auch schräg von der Seite anglotzt, schreist du „Zu Hilfe!“ Tut mir leid, aber es fällt mir schwer zu glauben, dass du Aicha nicht schlecht fandest Man fühlt das Unbehagen Sobald du den Mund aufmachst, kommt da nur Dummes raus, nur Schwachsinn Stürz dich von der Klippe, denn mit dir geht es mir schlecht Es ist einfach: Comme eux, ceux qui aiment pas les bicots139, butez-les Tous, plus qu'illico, foutez-les Par terre puis, tous, piétinez-les T'façon, le raciste C'est le gars borné qui aime pas Rachid Ça joue les fascistes Mais crois-moi, dans le fond, ça kiffe l'huile d'arachide Et je parie qu'à la récré, c'était la même A l'époque, de l'hiver à l'été, la même T'alertais le maître pour te plaindre sans cesse de Kamel Maintenant, t'apprécies Khaled Mais quand on te tape, tu scandes "à l'aide" Désolé, mais j'ai du mal à croire qu'en fait, Aïcha, tu la trouvais pas laide On sent le malaise Dès que t'ouvres la bouche, y a que des conneries, des foutaises Jette-toi d'une falaise car quand t'es là, je suis mal à l'aise C'est simple : Schimpfwort für nordafrikanische Männer. Berühmtester Vertreter der algerischen Volks- und Populärmusik Raï. 147 Französischer Chansonnier. 139 146 77 Tu ne peux pas avoir le beur, l'argent du beur La beurette, sa bonne humeur Et en plus qu'on t'accueille avec un sourire balaise Du kannst nicht den Araber haben, das Geld des Arabers haben Die Araberin, ihre gute Laune Und dass man dich dabei auch noch mit einem breiten Lächeln empfängt [Refrain - Sir Samuël] Il y a de quoi se faire du souci [Refrain - Sir Samuël] Es gibt etwas, worüber man sich Sorgen machen sollte Was die Menschlichkeit auf diesem Planten betrifft Angefangen mit dem Land anfangen, in dem ich lebe Wo man Unterschiede kultiviert und die Einheit vernachlässigt Quant au devenir de l'homme sur la planète A commencer par ce pays dans lequel je vis Où l'on cultive la différence, laissant l'unité dans l'oubli [Specta] Les problèmes raciaux sont si denses que mon esprit Suit un mauvais chemin, et font que je suis raciste Alors je n'aime ni toi, ni tes femmes, ni tes gosses, gars Ni que tu me kiffes, ni que tu kiffes mon Beretta140 Vu ? T'as vu comment tu pues ? Quand tu cavales derrière-moi, t'as vu comment tu sues ? Mille Et Une Nuits dans mes ve-ca141, n'y pense pas Car tu sais, chez moi, ils pensent tous comme ça... ...fait mal, un coup de pied dans la figure J'en sais quelque chose : dans la police, ils assurent Pour moi, les Blancs sont tous mauvais Et c'est toujours les mêmes qui paient [Specta] Rassenprobleme sind so erdrückend, dass meine Seele Einem schlechten Weg folgt und bewirken, dass ich Rassist bin Also mag ich weder dich, noch deine Frau, noch deine Blagen, Alter Weder dass du mich magst, noch dass du meine Knarre magst. Merkst du‘s? Merkst du wie du stinkst? Wenn du hinter mir herläufst, merkst du, wie du da schwitzt? Tausend und eine Nacht in meiner Hütte, denk nicht mal dran! Denn du weißt bei mir denken alle wie… …Ein Tritt in die Fresse tut weh! [Feniksi a.k.a. Féfé] Réaction hostile quand je tends la main Je ne comprends pas, je retenterai demain Je suis qu'un babtou142 [Feniksi a.k.a. Féfé] Verachtende Reaktion, wenn ich dir die Hand gebe Ich verstehe es nicht, ich werde es morgen wieder versuchen Ich bin nur ein Weißer Davon hab‘ ich Ahnung - bei der Polizei, können sie das bestätigen Für mich sind alle Weißen schlecht Und es sind immer die gleichen, die dafür herhalten müssen Markenname einer Pistole. Verlain für ‚la cave‘. 142 Verlain: Aus ‚toubab‘ (Wolof: abendländischer Weißer) wird babtou. 140 141 78 Sur ma peau, ça gaze tout part en baffes, tout Les maux, vices, fléaux, sur moi tout y passe, tout Auf meine Haut regnet es Ohrfeigen, Alles Schlechte, schlechte Angewohnheiten, alles Unheil, alles fällt auf mich zurück Wenn ich meine Rasse auch nur minimal respektiere Machst du mich an und ich riskiere, dass du mich zu Brei schlägst Wenn ich deine Rasse maximal respektiere, Machst du mich an, mir bleibt gar keine Rasse mehr Was soll ich denn machen? Du hättest gerne, dass ich alles ungeschehen mache Du stellst dir wohl vor wie bei einem Zaubertrick, alles verschwindet einfach Einfach alles, alles um dich und mich herum, ausnahmslos Nur…dann wärst du an der Stelle des Drecksweißen Si je respecte un minimum ma race Ça t'agresse, je prends le risque que tu me terrasses Quand je respecte un maximum ta race Tu m'agresses, il ne me reste même plus de race Que veux-tu que je fasse ?? T'aimerais bien que j'efface tout Comme par tour de magie, t'imagines changer tout Du tout au tout, tout autour de toi, moi sans atout Mais... t'auras pris la place du sale babtou [Refrain - Sir Samuël] Il y a de quoi se faire du souci [Refrain - Sir Samuël] Es gibt etwas, worüber man sich Sorgen machen sollte Was die Menschlichkeit auf diesem Planten betrifft Angefangen mit dem Land anfangen, in dem ich lebe Wo man Unterschiede kultiviert und die Einheit vernachlässigt Quant au devenir de l'homme sur la planète A commencer par ce pays dans lequel je vis Où l'on cultive la différence, laissant l'unité dans l'oubli 79 Erklärung Ich versichere, dass ich die schriftliche Hausarbeit – einschließlich beigefügter Zeichnungen, Kartenskizzen und Darstellungen – selbstständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe. Alle Stellen der Arbeit, die dem Wortlaut oder dem Sinne nach anderen Werken entnommen sind, hab ich in jedem Fall unter Angabe der Quelle deutlich als Entlehnung kenntlich gemacht. Köln, den 15.02.2016 (Sven Thimm) 80