Ausweg aus Stigmatisierung und Scham oder doch nur die zweite
Transcription
Ausweg aus Stigmatisierung und Scham oder doch nur die zweite
Helga Bader Ausweg aus Stigmatisierung und Scham oder doch nur die zweite Wahl? Die Rolle der Zweiten Sparkasse im Zuge eines Privatkonkurses Diplomarbeit Zur Erlangung des akademischen Grades Magistra der Philosophie Diplomstudium Psychologie Alpen-Adria-Universität Klagenfurt Fakultät für Kulturwissenschaften Begutachter : O. Univ.-Prof. Dr. Klaus Ottomeyer Institut für Psychologie Juli 2011 EHRENWÖRTLICHE ERKLÄRUNG Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende wissenschaftliche Arbeit selbstständig angefertigt und die mit ihr unmittelbar verbundenen Tätigkeiten selbst erbracht habe. Ich erkläre weiter, dass ich keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe. Alle ausgedruckten, ungedruckten oder dem Internet im Wortlaut oder im wesentlichen Inhalt übernommenen Formulierungen und Konzepte sind gemäß den Regeln für wissenschaftliche Arbeiten zitiert und durch Fußnoten bzw. durch andere genaue Quellenangaben gekennzeichnet. Die während des Arbeitsvorganges gewährte Unterstützung einschließlich signifikanter Betreuungshinweise ist vollständig angegeben. Die wissenschaftliche Arbeit ist noch keiner anderen Prüfungsbehörde vorgelegt worden. Diese Arbeit wurde in gedruckter und elektronischer Form abgegeben. Ich bestätige, dass der Inhalt der digitalen Version vollständig mit dem der gedruckten Version übereinstimmt. Ich bin mir bewusst, dass eine falsche Erklärung rechtliche Folgen haben wird. Helga Bader Rosegg, 10. 7. 2011 DANKSAGUNG Danken möchte ich an dieser Stelle vor allem meinen beiden Kindern Elisabeth und Michael für ihr Verständnis und ihre Geduld während der Zeit des Studiums. Auch für das Lektorat der Diplomarbeit bin ich ihnen, sowie Jörg und Thomas sehr verbunden. Ebenso möchte ich mich bei jenen Kollegen und Kolleginnen der Kärntner Sparkasse und der Zweiten Sparkasse bedanken, die mich während meines Studiums unterstützt haben. Danken möchte ich auch meinem Betreuer Univ.-Prof. Dr. Klaus Ottomeyer für seine fachliche Unterstützung. INHALTSVERZEICHNIS KURZFASSUNG ............................................................................................................................. 5 ABSTRACT ..................................................................................................................................... 6 1. EINLEITUNG .......................................................................................................................... 7 2. PRIVATVERSCHULDUNG .................................................................................................. 9 2.1 STATISTISCHE DATEN.................................................................................................. 9 2.1.1 Überschuldung in Europa ........................................................................................... 9 2.1.2 Privatverschuldung in Österreich ............................................................................. 11 2.1.3 Privatverschuldung in Kärnten ................................................................................. 12 2.2 URSACHEN UND AUSLÖSER........................................................................................ 12 2.2.1 Arbeitslosigkeit bzw. Einkommensverschlechterung ................................................. 13 2.2.2 Gescheiterte Selbstständigkeit ................................................................................... 14 2.2.3 Mangelhafter Umgang mit Geld ................................................................................ 14 2.2.4 Bürgschaft und Wohnraumschaffung ........................................................................ 15 2.2.5 Trennung und Scheidung ........................................................................................... 15 2.2.6 Sonstige Gründe ........................................................................................................ 16 2.2.6.1 Kaufsucht................................................................................................................. 16 2.2.6.2 Spielsucht ................................................................................................................ 16 2.3 GESELLSCHAFTLICHE AUSWIRKUNGEN ............................................................... 17 2.3.1 Verschuldung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ....................... 18 2.3.2 Familien in der Schuldenfalle ................................................................................... 21 2.3.3 Working poor ............................................................................................................. 22 2.3.4 Stressfaktor Geld ........................................................................................................ 23 2.3.5 Geld und Kreditkarte als Statussymbol und Teil der Identität................................... 27 2.3.6 Finanzielle Exklusion ................................................................................................. 29 3. PRIVATKONKURS (PRIVATINSOLVENZ).................................................................... 31 3.1 VORAUSSETZUNGEN .................................................................................................. 31 3.2 KONKURSERÖFFNUNG ............................................................................................... 34 3.3 AUSWIRKUNGEN DER ERÖFFNUNG ........................................................................ 34 3.4 MÖGLICHKEITEN DER SCHULDENREGULIERUNG ............................................. 35 3.4.1 Sanierungsplan (früher: Zwangsausgleich) .............................................................. 35 3.4.2 Zahlungsplanverfahren ............................................................................................. 36 3.4.3 Abschöpfungsverfahren ............................................................................................. 36 3.4.4 Restschuldbefreiung .................................................................................................. 37 4. DIE ZWEITE WIENER VEREINSSPARKASSE (ZWEITE SPARKASSE) ................. 38 4.1 GRÜNDUNG ................................................................................................................... 38 4.2 ORGANISATION ............................................................................................................ 39 4.3 FUNKTION...................................................................................................................... 40 4.4 ANGEBOT ....................................................................................................................... 41 4.5 CHRONOLOGIE EINER „ERFOLGSGESCHICHTE“ .................................................. 41 4.6 KUNDENENTWICKLUNG ............................................................................................ 42 4.7 PARTNER DER ZWEITEN SPARKASSE ..................................................................... 43 5. STIGMATISIERUNG UND SCHAM ................................................................................ 45 5.1 STIGMATISIERUNG ...................................................................................................... 45 5.2 SCHAM ............................................................................................................................ 46 5.2.1 Formen von Scham ................................................................................................... 48 5.2.2 Ursachen von Scham ................................................................................................. 49 5.2.3 Erleben von Scham.................................................................................................... 49 5.2.4 Scham und Gesellschaft............................................................................................ 50 5.2.5 Abwehr von Scham .................................................................................................... 51 6. STUDIE .................................................................................................................................. 52 6.1 EINFÜHRUNG ................................................................................................................ 52 6.2 STRUKTUR ..................................................................................................................... 53 6. 3 METHODENFESTSTELLUNG ...................................................................................... 56 6.4 QUALITATIVE INHALTSANALYSE ........................................................................... 58 6.4.1 Induktive Kategorienbildung.................................................................................... 60 6.4.2 Zusammenfassung .................................................................................................... 66 6.4.3 Auswertung und Interpretation ................................................................................. 69 6.4.3.1 Geldmanagement ................................................................................................... 69 6.4.3.2 Finanzielle Belastungen durch Familie und Dritte ................................................ 70 6.4.3.3 Körperliche Beschwerden ..................................................................................... 72 6.4.3.4 Psychische Auswirkungen ..................................................................................... 73 6.4.3.5 Sozialer Kontakt (Familie und Freunde) ............................................................... 74 6.4.3.6 Einschränkungen auch bei den Kindern ................................................................ 76 6.4.3.7 Stigmatisierung ...................................................................................................... 78 6.4.3.8 Schamgefühle bezüglich Schulden ........................................................................ 81 6.4.3.9 Angst (Zukunftsangst) ........................................................................................... 83 6.4.3.10 Selbstverantwortung und Eigeninitiative .............................................................. 84 6.4.3.11 Suchtverhalten ....................................................................................................... 86 6.4.3.12 Selbstwert und Identität als geschäftsfähiger Mensch .......................................... 87 6.4.3.13 Bagatellisierung bzw. Verheimlichung der Schulden ........................................... 89 6.4.3.14 Einschätzung der Lebensqualität ........................................................................... 91 6.5 AUSWEG AUS STIGMATISIERUNG UND SCHAM ................................................... 94 ODER DOCH NUR DIE ZWEITE WAHL? .................................................................... 94 6.6 DIE ZWEITE SPARKASSE AUS MITARBEITERSICHT ............................................ 99 7. ZUSAMMENFASSUNG UND ZUKUNFTSPERSPEKTIVE......................................... 101 8. LITERATURVERZEICHNIS ............................................................................................ 105 9. ANLAGEN ............................................................................................................................ 112 9.1 ANLAGE 1: INTERVIEWLEITFADEN KUNDEN ZWEITE SPARKASSE ................... 112 9.2 ANLAGE 2: AUSWERTUNG KATEGORIEN UND HÄUFIGKEIT (TABELLE X) ...... 114 9.3 ANLAGE 3: AUSWERTUNG KATEGORIEN UND HÄUFIGKEIT (TABELLE Y) ...... 119 9.4 ANLAGE 4: ABBILDUNGSVERZEICHNIS .................................................................... 120 KURZFASSUNG Vom Schuldenregulierungsverfahren, kurz Privatkonkurs oder Privatinsolvenz genannt, sind in Österreich jährlich über 10.000 Privatpersonen betroffen. Nicht zu reden von den über 52.000 Menschen, die bei der ASB (Allgemeine Schuldnerberatungen GmbH) Jahr für Jahr Unterstützung und Beratung erhalten. Rund 80 Prozent der Klienten der Schuldnerberatungen sind zwischen 20 und 50 Jahre alt und Arbeitslose sind acht Mal häufiger vertreten als in der Gesamtbevölkerung. 763 Menschen haben im Jahre 2009 allein in Kärnten den Privatkonkursantrag eingereicht. Da nach einem Konkursantrag die bestehenden Konten gesperrt werden und es in Österreich keine gesetzliche Verpflichtung für die Banken gibt, ein neues Girokonto zu eröffnen, ist der Zugang zu Überweisungs- und Zahlungsverkehrsdiensten dem Schuldner nicht mehr möglich. Es findet unweigerlich eine Ausgrenzung und dadurch eine Stigmatisierung statt. Im Jahre 2006 wurde aus den Mitteln der Privatstiftung der ERSTE Bank für diese Kundenschicht die Zweite Sparkasse in Zusammenarbeit mit der Schuldnerberatung Wien und der Caritas gegründet. Mit verschiedenen Partnerorganisationen werden zurzeit in allen Bundesländern fast 7.000 Kunden von über 400 ehrenamtlichen Mitarbeitern betreut. Durch klar festgelegte Richtlinien können die Partnerorganisationen für die in Frage kommenden Personen eine sogenannte Empfehlung aussprechen und daraufhin wird in der Zweiten Sparkasse ein Gehaltskonto eröffnet. In der Schuldenregulierungsphase ist der Alltag der Betroffenen geprägt von Stigmatisierung und Scham. Meine Arbeit geht der Frage nach, inwieweit die Zweite Sparkasse einen Ausweg aus diesem Teufelskreis bieten kann. 5 ABSTRACT In Austria, more than 10.000 individuals per year are concerned by personal bankruptcy or personal insolvency, more formally called ‘Schuldenregulierungsverfahren’. Additionally, more than 52.000 persons every year get support and counseling from the ASB (Allgemeine Schuldnerberatungen GmbH – General Debt Counseling Ltd.). About 80% of the clients of debt counseling are between 20 and 50 years old, and the rate of unemployed persons is eight times higher than in the total population. In Carinthia (Kärnten) only, 763 persons handed in a personal bankruptcy request in 2009. After such a request, the existing bank accounts are being blocked. Austrian banking institutions are not obligated by law to open a new bank giro account, and so the debtor has no access to bank transfer and payment transaction services anymore, resulting inevitably in exclusion and thus a stigmatization of the debtor. In 2006, the Zweite Sparkasse was founded for this customer stratum in cooperation with the Schuldnerberatung Wien (Debt Counseling Vienna) and the Caritas, funded by the private foundation of the Erste Bank. Along with various partner organizations, nearly 7.000 clients are serviced by more than 400 honorary employees. Partner organizations can give a recommendation for eligible persons in accord with clearly defined directives, and thereupon a payroll account will be opened at the Zweite Sparkasse. During the phase of debt regulation (Schuldenregulierungsphase), the everyday life of the persons concerned is characterized by stigmatization and shame. This work investigates the question to what extent the Zweite Sparkasse offers a way out of this vicious circle. 6 1. EINLEITUNG „Ich weiß heute ganz genau, zu dem und dem Datum zahle ich nichts mehr, sind die Schulden weg, und ich bin ein freier Mensch.“ (KD7 Z.91)1 Die Grundlage der in dieser Arbeit präsentierten Studie bildeten Interviews mit vierzehn Kunden der Zweiten Sparkasse in Kärnten, die sich knapp vor oder in einem Schuldenregulierungsverfahren (Privatkonkurs) befanden. Die Tatsache, dass sie mir überhaupt ein Interview gegeben haben und mich an ihren Gefühlen und Befindlichkeiten teilnehmen ließen, ist keine Selbstverständlichkeit. Auf diesem Wege bedanke ich mich sehr herzlich für das Vertrauen und für die Offenheit. Zur besseren Schreib- und Lesbarkeit bei allgemeinen Ausführungen wurde auf die Doppelnennung von weiblichen und männlichen Formen verzichtet. Da bei Schuldnerberatung als auch bei der Zweiten Sparkasse die Männer in der Mehrzahl vertreten waren, wurde die männliche Form bevorzugt. Es sind aber bei den meisten Darlegungen beide Geschlechter gemeint. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich vor allem mit Überschuldung, Privatkonkurs und den damit zusammenhängenden Fakten und Problemen. Außerdem wird die Frage gestellt, ob die Tätigkeit der Zweiten Sparkasse als Institution die Menschen in ihrer prekären Lage unterstützen kann. Die Scham und die Stigmatisierung der Betroffenen wurden behutsam in den Interviews und den Analysen und Auswertungen hinterfragt. Vorerst wird die Privatverschuldung in Europa, Österreich und speziell in Kärnten beleuchtet und deren Auslöser untersucht. Anschließend geht es um die Auswirkungen auf die Gesellschaft und sowohl der Privatkonkurs in seinem Ablauf als auch die Zweite Sparkasse als Institution werden vorgestellt. Als Abschluss des theoretischen Teils kommen die Themen Stigmatisierung und Scham zur Sprache. Mithilfe der Fragen des Interviewleitfadens wurde versucht, Einblick in die Gefühle und Befindlichkeiten von 14 Interviewpartnern zu erhalten. Ein zusätzliches Interview mit dem Geschäftsführer der Schuldnerberatung Kärnten und fünf Kollegen von der Zweiten Sparkasse, stellvertretend für alle Mitarbeiter, ergänzten die Arbeit. Nach der Analyse, den Ergebnissen und den Auswertungen wurden neben der Zusammenfassung auch eventuelle Zukunftsperspektiven erörtert. 1 (KD7 [siehe Interview Kunde 7], Z. 91 [Zeilenabschnitt 91]) 7 Das Thema der Scham war während meiner ehrenamtlichen Tätigkeit in der Zweiten Sparkasse bei einer betroffenen Kundin so stark aufgetaucht, dass es mich zu interessieren begann und nicht mehr losließ. Scham ist ein tabuisiertes Thema, das trotzdem allgegenwärtig ist, vor allem bei Menschen, die ausgegrenzt werden. Scham kann man sehr schwer verbergen und „nur schwer heucheln“ (Diebitz, 2005, S. 62). Es gibt daher viele Arten, Scham abzuwehren, um nicht „seelisch in Zweifel am Selbstwert“ (Marks, 2007, S. 157) abzustürzen. Wir können uns aber nur schämen, „weil wir in der Welt sind und um unser Personsein wissen“ (Diebitz, 2005, S. 86). Und gerade dieses „Personsein“ in der schwierigen Phase eines Privatkonkurses weckte meine Anteilnahme. „[…] wenn ich meinen Betreuer gesehen habe, habe ich versucht, dass ich auf die andere Seite gehe, dass er mir nicht in die Augen schaut. Es war peinlich und es ist mir immer noch peinlich.“ (KD1 Z. 43) Es geht mir aber auch darum aufzuzeigen, dass die Zone der gesicherten Existenz nicht mehr so klar definierbar ist. Hier steht auch die „Frage von Auf- und Abstieg, von Stabilisierung und Destabilisierung von Sicherheit und Unsicherheit zur Diskussion“ (vgl. Vogel, 2006). Vermehrt ist die Zone der sozialen Mittelschicht in der Stabilität bedroht und „Verschuldung ist nicht nur das Resultat mangelnder finanzieller Kalkulierfähigkeit, sondern immer häufiger auch Statussicherungsstrategie“ (vgl. Vogel, S. 349). Viele Menschen bewegen sich in einem finanziell überaus engen Korsett. Es dürfen weder Ehescheidung, Krankheit oder andere finanzielle Probleme „dazwischenkommen“. Die (noch vorhandenen) Ressourcen sind knapp kalkuliert. „Die Prekarität des Wohlstands setzt Wohlstand voraus, und das Gefühl sozialer Verwundbarkeit kennen nur diejenigen, denen soziale Sicherheit und Stabilität nicht fremd ist“ (vgl. Vogel, 2006, S. 346). „[…] es war wie Geburtstag […] und der Gedanke: habe ich das überhaupt verdient und es war einfach unbeschreiblich. Und die Bankomatkarte, wo ich sie in den Händen gehabt habe, jetzt habe ich ein Zahlungsmittel, kann ich damit noch umgehen?“ (KD12, Z. 98) 8 2. PRIVATVERSCHULDUNG 2.1 STATISTISCHE DATEN Bei der Verschuldung wird in einer Zeitperiode das Verhältnis der Einnahmen zu den Ausgaben negativ. Bleibt dieses Verhältnis dauerhaft negativ, tritt mittelfristig Überschuldung und langfristig Insolvenz auf. (vgl. Lange, 2007) Eine andere Systematisierung des Begriffs „Überschuldung“ wurde unter anderem von Korczak (2003, zitiert nach Angel, 2010, S. 1) vorgenommen, der auf Basis einer umfassenden Literaturrecherche drei unterschiedliche Definitionen von Überschuldung vorschlägt: Subjektive Überschuldung ist dann gegeben, wenn sich eine Person psychisch und finanziell überfordert fühlt, Schulden zurückzuzahlen. Relative Überschuldung ist dann gegeben, wenn trotz Reduzierung des Lebensstils der Einkommensrest nach Abzug der Lebenshaltungskosten (Miete, Energie, Versicherung, Grundnahrungsmittel, Telefon, Kleidung etc.) nicht zur fristgerechten Schuldentilgung ausreicht. Absolute Überschuldung (Insolvenz) liegt vor, wenn das Einkommen und Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr decken. 2.1.1 Überschuldung in Europa Die Überschuldung ist vor allem seit der Wirtschaftskrise 2008 in ganz Europa präsent. Van der Klis (2011) führt in ihrer Dissertation aus: Die sozioökonomischen Merkmale der Überschuldeten, die ein privates Insolvenzverfahren betreiben, weisen in allen Ländern Europas ähnliche Merkmale auf, das heißt, betroffen sind in erster Linie Alleinerziehende und allein Lebende mittleren Alters, Arbeitslose und Empfänger von Niedrigeinkommen bzw. staatlicher Leistungen. (S. 61) Laut Angaben der Creditreform der Privatinsolvenzen Europas 2009 liegt Großbritannien an der Spitze, gefolgt von Deutschland und Frankreich. Österreich befindet sich an der vierten Stelle (siehe Abbildung 1). 9 Abbildung 1 Abbildung 2 Die Überschuldung von Privatpersonen in Deutschland hat erstmals seit 2007 wieder zugenommen (siehe Abbildung 2). Für die gesamte Bundesrepublik wurde zum Stichtag 1. Oktober 2010 eine Schuldnerquote von 9,5% gemessen. Damit sind rund 6,5 Millionen Bürger über 18 Jahre überschuldet und weisen nachhaltige Zahlungsstörungen auf. Im Vergleich zu 2009 hat sich die Anzahl an Schuldnern um rund 300.000 Personen erhöht (+4,7%). (Quelle: Creditreform) 10 2.1.2 Privatverschuldung in Österreich Bis 1995 hat es in Österreich nur Konkurse von Firmen gegeben und aufgrund der rechtlichen Konstruktion sind immer wieder Haftungen für Privatpersonen übrig geblieben. Deswegen sind vom Gesetzgeber die Schuldnerberatungen gegründet worden. Es gibt heute die staatlich anerkannten Schuldnerberatungen in jedem Bundesland. Dachorganisation ist die ASB (Allgemeine Schuldnerberatungen GmbH) in Linz. Die Beratung und die Vertretung vor Gericht sind für den Schuldner kostenlos. Es arbeiten in der Schuldnerberatung Juristen, die speziell in Richtung Konkursrecht geschult werden. „Unser Interesse ist es, den Klienten schuldenfrei zu stellen [...], aber auch der Gläubiger soll etwas davon haben“. (K. Kleindl, GF Schuldnerberatung Kärnten, persönliche Mitteilung v. 19.10.2010). Deswegen werden zusammen mit den Betroffenen Auswege aus der Überschuldung gesucht. Voraussetzung ist, dass diese engagiert mitarbeiten und ihren Teil zur Entschuldung beitragen. Es sollen nicht kurzfristige sondern nachhaltige Lösungen gefunden werden. Laut Schuldenreport 2010 von der ASB hat sich die Anzahl der Personen, die von den Schuldnerberatungen Unterstützung erhielten von 41.681 im Jahre 2007 auf 52.613 im Jahre 2009 erhöht. Außerdem beträgt die Höhe der Schulden bei 61,8% der Schuldner durchschnittlich bis 50.000 Euro. Rund 80% der Klienten der Schuldnerberatungen sind zwischen 20 und 50 Jahre alt und Arbeitslose sind acht Mal häufiger vertreten als in der Gesamtbevölkerung. Bei den Schuldenregulierungsverfahren 2009 gab es 10.362 Konkursanträge (+5,2% zu 2008) und davon wurden 9.089 Konkurse eröffnet (+3,9% gegenüber 2008). „Etwa jeder siebente österreichische Haushalt ist beim Eintritt in die Gesamtobligationen an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit oder darüber“ (vgl. Schönbauer, 1990, S. 137). Auch Kovacic (1986) hat den Filialleiter einer großen Bank aus seiner Berufserfahrung sprechen lassen: „Mir machen zur Zeit die finanziellen Zusammenbrüche in den Familien mehr Sorgen als die Firmenpleiten [...]“ (vgl. S. 68). Und an einer anderen Stelle zitiert er den Geschäftsführer des Bundesverbandes Deutscher Banken in Köln: „Wir leben in einer freien Gesellschaft und haben es mit freien und mündigen Bürgern zu tun. Jedermann kann selbst entscheiden, ob er einen Kredit aufnimmt oder nicht, gleichgültig, wie die Angebote seitens der Kreditwirtschaft sind“ (vgl. S. 163). Ist die derzeitig hohe Anzahl von Privatkonkursen auf die jahrelange Misswirtschaft im privaten Bereich zurückzuführen oder liegen die Gründe woanders? Die Erfahrung der Schuldnerberater geht eher in die Richtung, dass manche Leute mit wirtschaftlichen Begriffen wie zum Beispiel 11 Zinsen nichts anfangen können. Man geht naturgemäß auch mit den Banken hart ins Gericht: „[…] da liegt noch sehr vieles im Argen und es kommen immer nur die Spitzen ans Tageslicht“ (K. Kleindl, persönliche Mitteilung v. 19.10.2010) 2.1.3 Privatverschuldung in Kärnten Von der Schuldnerberatung Kärnten wurden 3.167 Fälle im Jahr 2010 bearbeitet, davon waren 1.185 Menschen, die das erste Mal zur Beratung gekommen sind, die „restlichen“ waren Altfälle, die weiter bearbeitet wurden (vgl. Pizzato, 2011). Das bedeutet einen Rückgang gegenüber dem Jahr 2009, in dem 3.255 Fälle bearbeitet wurden und 1.354 neue Schuldner zu verzeichnen waren. (Stat. Daten 2009: K. Kleindl, persönliche Mitteilung v. 19.10.2010) 763 Privatkonkurse hat Kärnten 2009 verzeichnet, im Jahre 2010 gab es einen Rückgang auf 725 Fälle (Gross, 2011). Allein in Villach haben im Jahre 2010 von Jänner bis Anfang Dezember 419 Personen erstmals bei der Schuldnerberatung Hilfe gesucht. Es musste in 186 Fällen der Privatkonkurs eröffnet werden (Santner, 2010). Halmer et al. (2008) berichten, dass Kärnten 734 Privatkonkurse im Jahr 2006 verzeichnet hatte und es lag damals mit einer Durchschnittsverschuldung der privaten Haushalte von 145.000 Euro über dem Österreichschnitt von 130.000 Euro. Wie die Autoren erwähnen, sind die Banken mit Abstand die größten Gläubiger. Außerdem stellen sie fest, dass Konsumkredite stark beworben werden, weil für Banken in Österreich „die Möglichkeit der rigorosen Eintreibung der Schulden durch Lohnpfändung besteht“ (S. 275). Das sei in einigen EU-Staaten entweder überhaupt nicht vorgesehen oder nur dann möglich, wenn es sich dabei um Unterhaltsschulden oder um Forderungen des Staates handelt. 2.2 URSACHEN und AUSLÖSER Gründe für die Überschuldung können bei einigen Klienten der Schuldnerberatungen statistisch nicht eindeutig zugeordnet werden. Es ist oft eine Kombination aus vielen verschiedenen Faktoren, die zu einem Schuldenberg akkumulieren. 12 Gründe für Überschuldung 2009 Einfachnennungen bei Erstberatung Sonstige Gründe; 13,4% Selbstständigkeit; 19,4% Wohnraumschaffung; 8,4% Bürgschaften / Mithaftungen; 7,3% Arbeitslosigkeit / Einkommensverschlechterung; 27,3% Scheidung / Trennung; 6,4% Umgang mit Geld; 17,7% Abbildung 3 Laut Schuldenreport 2010 wurde die Arbeitslosigkeit bzw. Einkommensverschlechterung mit 27,3% am häufigsten genannt, gefolgt von der gescheiterten Selbstständigkeit mit 19,4%, mangelhafter oder ungeplanter Umgang mit Geld mit 17,7%, Bürgschaften und Haftungen mit 7,3% Wohnraumschaffung mit 8,4%, Scheidung oder Trennung mit 6,4% und sonstige Gründe wie Sucht, Krankheit, Unterhaltsverpflichtungen, usw. mit 13,4%. (siehe Abbildung 3) 2.2.1 Arbeitslosigkeit bzw. Einkommensverschlechterung Arbeitslosigkeit als Grund von Überschuldung ist bei den Klienten der staatlich anerkannten Schuldenberatungen in Österreich von 19% (2008) auf 27,3% im Jahre 2009 gestiegen. Da aber für eine Eröffnung des Privatkonkurses Voraussetzung ist, dass der Schuldner ein Einkommen hat, um seinen Prozentsatz der Rückzahlungsquote bedienen zu können, wird auch hier ein Kreislauf sichtbar, dem nur sehr schwer zu entkommen ist. Wenn dann noch andere Faktoren, wie die derzeitige schlechte Wirtschaftslage und private Krisen dazukommen, ist die Situation für den Schuldner fast aussichtslos. Viele Familien mit Kindern sind betroffen, aber auch Personen mit Teilzeitjobs, vor allem alleinerziehende Mütter. 13 2.2.2 Gescheiterte Selbstständigkeit Oft bestehen private Haftungen von Firmeninhabern und deren Angehörigen im Falle eines Firmenkonkurses. Diese Schulden bleiben aufrecht, erst recht bei einer Schließung der Firma. Sie können aber im Rahmen eines Privatkonkurses reguliert werden. Hier ist der Anteil von 22% (2008) auf 19,4% (2009) gesunken (vgl. Schuldenreport 2010). Da die durchschnittliche Verschuldung von früheren Selbstständigen deutlich über dem Niveau von anderen Überschuldeten liegt, gibt es bei diesen Schuldenregulierungen das Problem, dass die Schuldner die 10% Quote in einem Abschöpfungsverfahren nicht erreichen. Hier sollen die Privatkonkursregelungen noch „nachgerüstet“ werden, um in sozialen Härtefällen auch hier eine Entschuldung zu ermöglichen. (vgl. www.unternehmer-in-not.at/ 2010) 2.2.3 Mangelhafter Umgang mit Geld Erschreckend hoch ist der Prozentsatz an Klienten der Schuldnerberatungen, die mit Geld nicht oder nur mangelhaft umgehen können (17,7%). Im Jahre 2008 lebten 9% der österreichischen Bevölkerung (748.000 Personen) in Haushalten, die zum Zeitpunkt der Befragung bzw. während der letzten 12 Monate zumindest einmal Zahlungsrückstände aufwiesen (Schuldenreport 2010, S. 17). Einige Gründe für diesen relativ sorglosen Umgang mit Geld können nicht nur an der fehlenden Ausbildung liegen, sondern auch an den derzeit herrschenden Wertvorstellungen. Die Inhalte und die Art der Werbung, aber auch der „lockere“ Umgang mit Geld in der Gesellschaft sind sicher zwei der Faktoren, die zur derzeit herrschenden Einstellung zu Geld führen. Gross (1990) schreibt über die Werte der modernen Gesellschaft: Die Löcher in der Seele werden mit materiellen Gütern gestopft: CD-Player und modische Kleidung, getunte Autos und digitale Videogeräte als Verbandsmaterial für seelische Wunden. Aber wenn das Glück (oder dessen Abklatsch) käuflich wird, weshalb soll man sich dann um etwas anderes bemühen als um das Geld, das man dazu braucht? (vgl. S. 217). Neben vielen Erwachsenen tappen auch immer mehr Jugendliche in die Schuldenfalle. Die Studie von Elmar Lange (2004) über den Jugendkonsum im 21. Jahrhundert kommt zu dem Schluss, dass viel zu wenig über Geld geredet und „vor allem unzureichende ökonomische Kenntnisse über die Folgen der Verschuldung im kritischen Alter des Übergangs vom Jugendlichen zum Erwachsenen in die Überschuldungssituation führen“ (S. 165). 14 Außerdem findet Lange (2004) auch einen Grund für den sorglosen Umgang mit Geld: „Geld wird nicht als knappes Zahlungsmittel gesehen, sondern als Mittel, mit dessen Hilfe sich soziales Ansehen kaufen lässt“ (Seite 130). 2.2.4 Bürgschaft und Wohnraumschaffung Katharina Martin (2005) kennt und beschreibt die Stellung der Frauen in Partnerschaften und sie findet, dass sich die Gesellschaft von der Vorstellung verabschieden sollte, dass es einen „quasi ‚natürlichen‘ Anspruch von Männern“ gäbe, „über mehr finanzielle Autonomie zu verfügen als Frauen“ (vgl. S. 7). Sie findet, dass sogar finanzielle Gewalt im Spiel ist, sobald „Frauen offensichtlich gegen ihre persönlichen Interessen handeln, indem sie Kredite für Autos aufnehmen, die sie nicht fahren, die Geschäftsführung von Betrieben übernehmen, die sie nicht leiten, oder Rechte abtreten, die ihnen von Gesetzes wegen zustehen“ (S. 9). Normalerweise haftet man nicht generell ohne Unterschrift für die Schulden seines Partners, aber es gibt eine Ausnahme, die sogenannte „Schlüsselgewalt“, die nur für Ehepartner gilt, nicht aber für Lebensgefährten. „Derjenige Ehegatte, der den gemeinsamen Haushalt führt und keine oder nur geringe eigene Einkünfte hat, vertritt den anderen bei Rechtsgeschäften des täglichen Lebens […], er kann den Partner zur Zahlung der Schulden aus Einkäufen für den gemeinsamen Haushalt verpflichten“ (Broschüre BMSK, S. 16). Auch Bürgschaften oder sonstige Mitschuldnerschaften bei anderen Familienmitgliedern oder Freunden können ins Auge gehen, wenn der Hauptschuldner nichts mehr zahlen will oder kann. Dann wird vom Gläubiger gnadenlos der Mitschuldner zur Kasse gebeten. 2.2.5 Trennung und Scheidung Nachdem sehr viele Ehegatten oder Lebensgefährten ein gemeinsames Konto führen oder gemeinsam einen Wohnkredit aufnehmen, kommt es sehr oft vor, dass nach der Trennung bzw. Scheidung ein Schuldenberg übrig bleibt. Für Schönbauer (1990) „weist auch die Auflösung der Partnerschaft [...] die besorgniserregendsten Rückzahlungsverläufe auf. 40% dieser Kreditnehmerhaushalte waren überschuldet, wenn sie nur vom Partnerverlust betroffen waren, knapp 50% waren es, wenn zum Partnerverlust auch andere Risiken dazukamen“ (S. 144). Und auch die gesteigerte Anzahl der Privatkonkurse ist auf diese Tendenz zurückzuführen. Ebenso führen Alimentationszahlungen für minderjährige Kinder und Unterhaltszahlungen an die Exfrau nicht selten zu einer enormen Schuldenspirale, der der Schuldner nicht mehr entkommen 15 kann. Viele Betroffene können nicht einmal daran denken, eine neue Partnerschaft, Ehe oder eine neue Familiengründung ins Auge zu fassen. 2.2.6 Sonstige Gründe Bei der Analyse der Schuldnerberatungen rangiert das Suchtverhalten als Grund für die Überschuldung unter den sonstigen Gründen (13,4%) neben Krankheit, Tod und besonderen Härtefällen. Im Hinblick auf die Überschuldungsthematik spielt aber meiner Meinung nach das Suchtverhalten, vor allem die Kaufsucht und die Spielsucht, eine viel größere, andererseits aber auch eine viel subtilere Rolle, als es vielleicht aufgrund der statistischen Daten scheinen mag. 2.2.6.1 Kaufsucht Kaufsucht liegt dann vor, wenn das kompensatorische Konsumverhalten die für ein Suchtverhalten typischen Merkmale zeigt, nämlich die Verengung auf bestimmte Objekte, die Unwiderstehlichkeit und in vielen Fällen auch die Dosissteigerung und das Auftreten von Entzugserscheinungen. Kaufsucht kann zur Kaufsuchtkrankheit führen. (Lange, 2004, S. 133) Nach Reisch et al. (2004, zitiert nach Wilkoutz, 2005, S. 67) wird „die Entwicklung einer Kaufsucht auch durch die herrschenden Bedingungen und Möglichkeiten der heutigen Konsumgesellschaft beeinflusst, in der Konsumieren und Kaufen eine zentrale Rolle – ökonomisch, sozial, psychologisch und kulturell – spielt“. Es kommt gar nicht mehr darauf an, was man kauft, oder ob man es braucht: „Sparen habe doch heutzutage keinen Sinn; wenn man etwas sehe, was einem gefalle, kaufe man es sofort, eben auf Kredit, und damit werde es zugleich bedeutungs- und wertlos“ (Gross, 1990, S. 207). Durch die Kaufsucht werden ganze Familien in die Überschuldung getrieben und als einziger Ausweg bleibt nur mehr der Weg zur Schuldnerberatung und vor den Konkursrichter. 2.2.6.2 Spielsucht „Die verwetteten und verlorenen Einsätze der Österreicher machten 2007 rund 2 Milliarden Euro aus“, schreibt Damberger (2008). Die Spieleinsätze erreichten 2008 eine Höhe von 15,4 Milliarden Euro. Hauptursache dafür ist der Boom des Internet-Glücksspiels. Die World Lottery Association in Basel schätzt den Gesamtumsatz des legalen Glückspiels in Europa auf rund 115 Milliarden Euro pro Jahr (ebd.) 16 Die Spielsucht ist derzeit massiv im Steigen begriffen. 3.000 Personen sind allein in Kärnten spielsüchtig, also „abhängige“ Spieler und bis zu 15.000 Personen sind „problematische“ Spieler (Lavanttaler, 2011). In der Broschüre des Amtes der Kärntner Landesregierung, Spielsuchtambulanz de La Tour (2010), berichtet Univ.-Prof. Dr. Herwig Scholz, ärztlicher Leiter der Spielsuchtambulanz, dass sich seit der Änderung des Gesetzes zum „Kleinen Glücksspiel“ im Jahre 1997 die Zahl der Spielsüchtigen drastisch erhöht hat. Mehr als 40% der Spieler haben auch ein Alkoholproblem und 15% der Spielsüchtigen weisen schwere Depressionen auf. Neben den körperlichen und psychischen Auswirkungen gerät der Spieler in finanzielle Bedrängnis, aber auch die Angehörigen werden von der Schuldenspirale nicht verschont. Sie helfen immer wieder, leihen Geld, begleichen Schulden, um den Betroffenen vor den Außenstehenden nicht bloßzustellen. So geraten sie nicht selten selbst in die Schuldenfalle. Der Grund für die Zunahme der Spielsucht kann aber sicher nicht nur in der Lockerung des Gesetzes hinsichtlich des „Kleinen Glücksspiels“ gesehen werden. Schon Gross (1990) hat hervorgehoben, dass „unspezifische Dinge wie Essen oder Geldverspielen erst dann zu einem Suchtmittel werden können, wenn sie einem gesellschaftlichen Bedeutungswandel unterliegen [...] Auch Geld dient nicht mehr unbedingt dem Lebensunterhalt, sondern dem Status, dem Konsum, dem Ersatz wirklicher Bedürfnisse“ (S. 213). 2.3 GESELLSCHAFTLICHE AUSWIRKUNGEN Verschuldungen und Kreditaufnahmen sind in einer Marktwirtschaft völlig normal, wenn sie bewusst eingegangen werden und wenn sie im Rahmen des Einkommens auch zurückgezahlt werden können. Problematisch wird es erst dann, wenn nach der Zahlung von Tilgungsraten und Zinsen nicht mehr genügend finanzielle Mittel zum Leben und zur Befriedigung der Grundbedürfnisse bleiben (vgl. Lange, 2007). „Überschuldungen und ihr Anstieg stellen dagegen sehr wohl ein Problem für den Einzelnen wie für die Gläubiger dar, besonders dann, wenn sie längerfristig auftreten“ (Lange, 2007, S. 3). 17 2.3.1 Verschuldung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen Lange (2007) stellt aufgrund seiner verschiedenen Studien fest, dass jeder Versuch, den Grund für die Verschuldung von Jugendlichen mit familiären, schulischen oder Peergruppen-spezifischen Bedingungen zu erklären, gescheitert ist. Genauso wie der Versuch, die Verschuldung auf „individuelle Handlungsbedingungen, wie Persönlichkeitsmerkmale oder Einstellungen zurückzuführen. Die verschuldeten Jugendlichen zeigen damit im Unterschied zu den nichtverschuldeten Jugendlichen weder ein ‚gestörtes‘ Persönlichkeitsprofil noch kommen sie aus ‚zerrütteten‘ Familienverhältnissen“ (S. 5). Am meisten Geld ausgeliehen, das nicht sofort zurückgezahlt werden kann, wird in der Gruppe der 10- bis 17-Jährigen für Fast Food, das außerhäuslich am Kiosk, Tankstellen und anderen Einrichtungen gekauft wird. An zweiter Stelle stehen das Ausgehen und Kleidung und erst an letzter Stelle stehen die Ausgaben für das Handy (vgl. Lange, 2007). Bei den 15- bis 24-Jährigen steht an erster Stelle der Anschaffungen das Auto, gefolgt von Computer und Computerzubehör. Auch hier steht das Handy mit 9% erst an vorletzter Stelle (vgl. Lange, 2004). Lange (2007) führt weiter aus, dass als Gläubiger der Jugendlichen bei den 10-bis 17-Jährigen die Freunde mit 57% vor den Eltern aufscheinen und bei den älteren Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren dreht sich die Reihenfolge um und die Eltern rangieren mit 57% vor den Freunden. Darüber hinaus gehen über 40% der jungen Erwachsenen über 18 Jahre zu einer Bank oder Sparkasse, um einen Kredit zu erhalten. An diese Institutionen wenden sich aber eher junge Männer als junge Frauen. Des Weiteren stellt Lange (2007) fest, dass Hilfe bei Überschuldung logischerweise zuerst bei den Eltern gesucht wird (58%). Zur Schuldnerberatung ist von den untersuchten Jugendlichen noch niemand gegangen, obwohl diese der Hälfte der Jugendlichen (52%) bekannt war. Wie Lange (2004) ausführt, führt Verschuldung und Überschuldung bei den Jugendlichen zu ökonomischen, sozialen und psychischen Problemen. Sie müssen die Ausgaben einschränken, es kommt zu familiären Konflikten und sie berichten von einer Abnahme der sozialen Kontakte. Die psychischen Probleme äußern sich in zunehmendem Stress (16%), und in einem Anstieg des Suchtverhaltens, vor allem bei männlichen Jugendlichen. 14% berichten von resignativen Tendenzen, die eher von jungen Frauen geäußert werden und 11% berichten von Minderwertigkeitsgefühlen. Auf die Frage, wieso es zur Überschuldung gekommen ist, gesteht ein Drittel der Jugendli18 chen, durch unzureichende Wirtschaftsplanung die Überschuldung selbst verursacht zu haben. Immerhin 10% der Jugendlichen verweisen auf psychische Probleme, die sie mit der Verschuldung in Beziehung setzen. Hier fragt sich der Autor „handelt es sich hier etwa um familiären, schulischen oder beruflichen Stress, der dann über den kompensatorischen Konsum und die Kaufsucht zur Überschuldung führt?“(Lange, 2007, S. 6). Der Übergang vom Minderjährigen zum Erwachsenen erweist sich ebenfalls als „kritische Lebensphase“ (Lange, 2007, S. 7). Hier steigen die Verschuldungs- und Überschuldungsraten deutlich an. Die Schuldnerberatung Oberösterreich hat in einer Studie im Jahre 2007 (Gabanyi et al.) festgestellt, dass von den befragten 138 Klienten und Klientinnen zwischen 18 und 25 Jahren 26% Schulden zwischen 10.000 und 20.000 Euro hatten, 35% zwischen 20.000 und 50.000 Euro und 7% über 50.000 Euro (S. 14). Als Ursachen werden auch hier sorgloser alltäglicher Konsum, die Anschaffung von kostenintensiven Gütern wie Auto und Wohnraumausstattung oder allgemein zu hohe Kosten im Vergleich zum Einkommen bei Wohnung und Unterhaltszahlungen angegeben. Wenn dann noch Arbeitslosigkeit, familiäre Probleme wie Trennung, Scheidung, Todesfall oder Bürgschaften dazu kommen, kann der Lebensunterhalt mit der vorhandenen finanziellen Ausstattung nicht mehr bewältigt werden. Bei mehr als einem Viertel der Befragten haben die finanziellen Probleme schon vor dem 18. Lebensjahr begonnen und es waren vorwiegend Banken, bei denen die Schulden gemacht wurden. In dieser Studie von Gabanyi et al. (2007) gaben mehr als die Hälfte der Befragten (54%) an, die erste Kontoüberziehung sei eine bewusste Entscheidung gewesen, mehr Geld auszugeben als sie hatten. Den anderen ist „die Überziehung passiert“, und sie merkten es erst im Nachhinein (S. 15). In einer im Jänner 2007 veröffentlichten Umfrage des Bundesverbandes deutscher Banken gaben „zwei Drittel aller 14- bis 27-Jährigen zu, sich in Geld- und Finanzfragen ‚eher nicht‘ oder ‚überhaupt nicht‘ auszukennen“ (Müller-Michaelis, 2009, S. 54). Auch in Österreich warnt das Bundesministerium für Soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz in seiner Broschüre „Jugendliche und Verschuldung. Alles was Recht ist“ vor Bürgschaften, Kontoüberziehungen usw. und empfiehlt die Schuldnerberatungen, wenn „Feuer am Dach“ (ebd.) ist. 19 Manche Geldinstitute haben schon die Notwendigkeit für Informationen rund um das jugendliche „Geldleben“ erkannt und wollen Jugendlichen und Eltern Stolpersteine auf dem Weg ins Geldleben aufzeigen (Broschüre Kärntner Sparkasse, 2008). Es werden Bemühungen unternommen, um die Gefahren von Handy, Internet, Bankomatkarte und anderen Kostenfallen aufzuzeigen. Es wird auch nicht mit Informationen rund um Verschuldung und Privatkonkurs mittels ansprechender Präsentation gespart, es darf aber bezweifelt werden, dass diese Tipps von den Jugendlichen im Rahmen der Vorträge auch internalisiert werden. Hier könnte sich die Installation von Peer-Mediatoren als hilfreich erweisen, die unter den Gleichaltrigen eher Akzeptanz erfahren. Ein derartiges Projekt startet nach der Peermediationsgrundausbildung im vierten Quartal 2011 als Pilotprojekt in Zusammenarbeit mit der Kärntner Sparkasse, der Höheren Lehranstalt für wirtschaftliche Berufe (HLW) in Hermagor und dem Verein FairMittler Kärnten. (persönliche Mitteilung v. 15.4.2011, Jörg Bader, Obmann Verein FairMittler Kärnten) Inwieweit hier aber trotz umfangreicher und relativ leicht zugänglicher Informationen durch schulische und außerschulische Veranstaltungen, Internet und Sensibilisierung des Schuldenthemas die Konsumgesellschaft und vor allem die Medien Anteil an dieser negativen Entwicklung haben, zeigt Gert Heidenreich (2002) auf. Er betont, dass durch die Erziehungsmuster der Mediengesellschaft schon Jugendliche wissen, dass „zur Anerkennung das richtige Styling des eigenen Körpers und Gesichts nebst den entsprechenden Klamotten und Accessoires gehört. Hier wird der Blick nach oben antrainiert, Leben als Konjunktur, Glück als Maskierung und Ausstaffierung- vor allem mit dem nötigen Geld, sei es als Kredit und die mit ihm verbundene juvenile Verschuldung“ (S. 400). Korczak (2005) weist außerdem in einer Pilotstudie der Schuldnerberatung zur Überschuldung junger Erwachsener darauf hin, dass es einen Unterschied zwischen „männlichen und weiblichen Biografien“ der Überschuldung gibt. Es wurde neben der Tatsache von Niedrigeinkommen, frühzeitige oder zu großzügige Zurverfügungstellung von Dispositionskrediten oder Insolvenz des Arbeitsgebers beobachtet: Dass die jungen Männer nicht über die notwendige hohe kognitive Komplexität verfügten, um mit ihrer Lebenssituation zurecht zu kommen. Dass die Übernahme von Eigenverantwortung zu früh erfolgte. Dass auch keine hinreichend große Ambiguitätstoleranz entwickelt worden ist (S. 167). 20 Außerdem ist bei den jungen Männern in dieser Studie festgestellt worden, dass die Resilienz überwiegend schwach ausgeprägt war und die Risikofaktoren umso stärker gegeben waren. Weibliche Biografien der Überschuldung zeichnen sich laut Korczak (2005) dadurch aus, dass junge Frauen noch früher die elterliche Wohnung verlassen und zumeist zu ihrem Freund ziehen. In der Folge werden in einer „quasi Trotzreaktion gegen elterliche Beschränkungen“ (S. 167) die finanziellen Möglichkeiten voll ausgeschöpft und teilweise überspannt. Die jungen Frauen übernehmen auch sehr oft die Kosten für die Einrichtung des neuen Heimes. Daher häufen sich bei Frauen neben Bankschulden in stärkerem Maße Mietschulden und Schulden beim Versandhandel. Stärker als bei Männern ist bei Frauen aber ein „ aktiver Abnabelungsversuch von der Überschuldung“ zu erkennen, der an einem „aktiven Bemühen um Schuldenregulierung“ abzulesen ist (S. 168). 2.3.2 Familien in der Schuldenfalle Lange (2007) hat sehr richtig festgestellt, dass die Situation besonders kritisch wird, wenn junge Erwachsene mit ihren teils hohen Kreditverpflichtungen nach einer Eheschließung und Familiengründung einige Jahre später entweder arbeitslos werden bzw. sich scheiden lassen. Am häufigsten verbreitet sind laut EU-SILC 20082 Kreditschulden für Eigentum. 48% der Bewohner und Bewohnerinnen von eigenen Häusern bzw. Eigentumswohnungen haben ihren Wohnraum mit Fremdkapital finanziert. Aus dieser Studie ging ebenfalls hervor, dass 1,5 Millionen Menschen in Österreich (18%) in Privathaushalten leben, in denen zumindest ein Haushaltsmitglied sein Konto überzogen hatte. Der mittlere Anteil des Kontoüberzugs betrug 51%, gemessen am verfügbaren gesamten monatlichen Haushaltseinkommen. Auffallend höher war der Anteil aber insbesondere bei Personen in EinEltern-Haushalten. Hier betrug er 85% (S. 1113). In diesen Ein-Eltern-Haushalten stach auch der besonders hohe Anteil von Personen hervor, der sich die Zahlungen für Wohnraumbeschaffung (3%) sowie für laufende Wohnkosten (14%) nicht leisten konnte. „Alleinerziehende (und ihre Haushaltsmitglieder) weisen zudem ein im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung mehr als doppelt so hohes Risiko auf, mit mindestens zwei Zahlungen im Rückstand zu sein (7%)“ (S. 1111). 2 Statistics on Income and Living Conditions; von der EU-Statistik Behörde Eurostat koordinierte Erhebung über Einkommen und Lebensbedingungen von Privathaushalten in Europa. 21 Laut Stiastny (2008) sind noch rund 60% der Klienten der Schuldnerberatungen männlich, die jungen Frauen sind aber auf der Überholspur. Neben zu geringem Einkommen werden Haftungen oder eine gescheiterte Selbstständigkeit als Grund angegeben. Aber auch Scheidung und Trennung führen „zum Absturz“ (ebd.). Auch ein „zu großzügiger Kontoüberziehungsrahmen“ wird neben zu hohen Konsumausgaben, wie Internet-Shopping oder Auto, als Problem genannt. In Vorarlberg hat sich das Verhältnis von Mann und Frau dahingehend verändert, dass es sich bei den jüngeren Klienten „fast die Waage hält“(ebd.). 2.3.3 Working poor Die Schweizerin Anna Liechti (1998) hat sich mit den „working poor“ in ihrem Land befasst, dem Land mit dem höchsten durchschnittlichen Einkommen der Welt. „Working poor“ sind „erwerbstätige Arme“. Einkommensschwache, deren Erwerbseinkommen für den normalen Lebensunterhalt nicht ausreicht. Die Aufnahme von Konsum- und anderen Krediten stellt eine Möglichkeit dar, finanzielle Engpässe zu überbrücken. Es ist daher nicht erstaunlich, dass Personen in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen häufiger Kleinkredite aufnehmen als die Durchschnittsbevölkerung […] Einkommensschwache nehmen oft Kredite auf, um andere zu tilgen oder die Steuern zu bezahlen. Die hohen Zinsen und die prekäre finanzielle Lage führen vielfach in den Teufelskreis einer wachsenden Verschuldung. (Liechti, 1998, S. 44) Dieselbe Thematik wird auch von der Arge Sozial Villach, der Anlaufstelle für Menschen, die nicht mehr weiterwissen, an die Öffentlichkeit getragen. Sie stellen einen „deutlichen Zuwachs an ‚working-poor‘-Fällen“ fest (vgl. Santner, 2011). Auch die Villacher Arbeiterkammer hat eine Studie veröffentlicht, wonach 18.000 Kärntner trotz regelmäßigen Erwerbseinkommens unter der Armutsgrenze leben (vgl. Kassin, 2010). 22 2.3.4 Stressfaktor Geld Nach einer Umfrage der American Psychological Association im Jahre 2004 betrachten 73% aller US-Amerikaner „das Geld als Hauptfaktor für Stress in ihrem Leben, noch weit vor Stress am Arbeitsplatz, durch Familie oder Krankheiten“ (vgl. Sonnenmoser, 2009). Nach der Wirtschaftskrise 2008 wird sich dieser Prozentsatz sicher nicht verringert haben, aber dennoch gilt weltweit eine Regel: „Über Geld spricht man nicht – und über finanzielle Probleme oder Schulden schon gar nicht“ (Müller-Michaelis, S. 11). Merkwürdigerweise neigen die meisten Menschen dazu, unangenehme Dinge zu verdrängen, statt sich mit ihnen zu beschäftigen und aus dem Schlechten noch das Beste zu machen. Diese Vogel-Strauß-Methode des Kopf-in-den-Sand-Steckens ist typisch gerade in finanziellen Dingen (Müller-Michaelis, 2008, S. 28). Aber bei einigen ist es nicht nur der Stress oder die fehlende Zeit oder die Verdrängung der Probleme, die zum finanziellen Desaster führen. Laut Müller-Michaelis (2008) sind „bereits viele Verschuldete mit der Aufgabe überfordert, sich eine simple Übersicht zu verschaffen“ (S. 63). Es fehlen einfach grundlegende Fähigkeiten in Mathematik oder im Lesen und Verstehen von Versicherungsverträgen, Mietverträgen oder Leistungsbescheiden. Des Weiteren berichtet Müller-Michaelis (2008) von einem Experiment der Schuldnerberatung in den Schulen, wo das genaue Lesen von Vertragsinhalten den Kindern mit einem Trick nahegebracht wurde. Zu Beginn der Unterrichtsstunde erhielt jeder Schüler eine Teilnahmeerklärung, die er durchlesen und unterschreiben sollte. Und obwohl jeder einzelne Schüler beteuerte, dass er nie etwas Ungelesenes unterschreiben würde, hatte sich versteckt im Text jeder mit seiner Unterschrift verpflichtet, zum Ende der Stunde 20 Euro zu bezahlen (vgl. S. 57). Bei einigen Personen, die mathematisch überfordert sind, könnte es sich aber auch um eine „Rechenstörung“ handeln, die laut ICD-10-WHO Version 2011 unter F81.2 folgendermaßen definiert wird: Diese Störung besteht in einer umschriebenen Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft vor allem die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten, wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die hö- 23 heren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie oder Differential- und Integralrechnung benötigt werden.3 Aber auch Lernen durch Imitation und Nachahmung hat seine Folgen. Die von Müller-Michaelis (2008) so genannte „Generation Pleite“ hat „bereits im Elternhaus gelernt: Konsumschulden von gestern lassen sich aus dem Mehrverdienst von morgen abzahlen“ (Müller-Michaelis, S. 58). In vielen Familien wird das „Unternehmen Haushalt“ durch Zufallsmanagement geführt. „Entscheidungen werden aus dem Moment heraus getroffen, ohne Überlegung, ohne Planung, ohne die dafür notwendigen Informationen zu besitzen“ (Müller-Michaelis, S. 76). Kirchler (1989) erklärt ebenfalls, dass die Logik familiärer Kaufentscheidungen auf Versuch und Irrtum beruht: In Kaufentscheidungen verfolgen die Ehepartner verschiedene Ziele: Der andere soll dazu gebracht werden, einem Kaufwunsch zuzustimmen, dem er anfänglich vielleicht ablehnend gegenübersteht, aus dem Produktangebot soll jenes Produkt ausgewählt werden, das den höchsten Nutzen verspricht und schließlich soll die Entscheidung so verlaufen, daß negative Konflikte möglichst vermieden werden und die Beziehung zwischen den Partnern nicht belastet wird ( S. 237). Die Partner folgen also nur Konfliktvermeidungsstrategien, obwohl sie glauben, eine gemeinsame Entscheidung zu treffen. Sie treffen aber in Wirklichkeit nur eine Auswahl durch unstrukturierte, schrittweise „Versuchs-Irrtums-Aktionen“ (Park, 1982; zitiert nach Kirchler, 1989, S. 243). Neben diesen Strategien bei Kaufentscheidungen gibt es auch im Gehirn eine Strategie, um einen Überblick über die Finanzen zu bewahren, die sogenannte „Buchhaltung im Kopf“ (MüllerMichaelis, S. 67). Demnach definiert Thaler (1999, zitiert nach Hornung, 2006, S. 37) diese mentale Kontoführung folgendermaßen: Perhaps the easiest way to define it is to compare it with financial and managerial accounting as practised by organizations. According to my dictionary accounting is ‚the system of recording and summarizing business and financial transactions in books, and analyzing, verifying, and reporting the results‘. Menschen haben also für verschiedene Bereiche verschiedene Konten im Kopf und regeln mithilfe dieser Konten ihre Finanzen. Hornung (2006) hat untersucht, wie dieses „mental accounting bei überschuldeten Personen“ abläuft und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass Überschuldete keine 3 ICD 10, WHO Version 2011, Zugriff 17.3.2011 unter http://www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/htmlamtl2011/block-f80-f89.htm 24 Einteilung in mental accounts besitzen, sondern nur einen breiten unspezifischen account. Dieser wird jedoch sehr häufig evaluiert. Auch bezüglich Budget findet sich bei Überschuldeten keine Einteilung. (Hornung, 2006, S. 2) Wieso handeln viele Menschen oft so irrational, wenn es ums Geld geht? Eine Antwortmöglichkeit könnte Kogler (2011) geben. Er beschreibt eine Forschungssituation an der Standford University, in der die Fragestellung lautete: „Wie und wo beeinflussen Gefühle und Emotionen unser Stammhirn?“ (S. 177). Während der Untersuchungen im Computertomografen werden den Testpersonen Fragen gestellt, unter anderem: „Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie viel Geld gewinnen würden?“ Es wurde von den Forschern „eine außerordentliche Reaktion dieser Gehirnregionen“ festgestellt. Nicht nur Sex und Nahrung aktivieren sie; Geld tut dies auch. Und um ehrlich zu sein: Der Begriff Geld tut dies mit aller Macht“ (S. 178). Kogler (2011) berichtete außerdem in seinem Artikel über einen anderen Versuch an der Harvard Universität, wo einige Probanden an Sensoren angeschlossen wurden und es wurde ihnen eröffnet, dass sie im Laufe der Zeit einige Entscheidungen treffen müssten. Der Versuch lief entspannt und ruhig ab, es wurden aber einigen Kandidaten Szenen aus einem traurigen Film vorgeführt. Dann mussten die Teilnehmer in rascher Abfolge Geldentscheidungen treffen. Für eine einfache Wasserflasche wurde daraufhin in der Trauerstimmung nach dem Film zum Teil der vierfache Preis geboten, im Gegensatz zu einer ruhigen, entspannten Stimmung. Als Resultat hatte sich immer wieder herausgestellt: „wer traurig und niedergeschlagen ist, hat ein völlig anderes Bewertungssystem“ (S. 179). Dowideit (2009) berichtet, dass Schulden in Deutschland ein noch größeres Tabu darstellen als in anderen Ländern. Die Universität Mainz hat herausgefunden, „dass 80 Prozent der Deutschen, die bei der Schuldnerberatung Hilfe suchen, unter Depressionen oder anderen Krankheiten leiden“ (ebd.). Dowideit berichtet in ihrem Artikel auch vom Unternehmer Attila von Unruh, der selbst Insolvenz anmelden musste, als ein großer Kunde zahlungsunfähig geworden war. Er gründet 2007 den „Gesprächskreis Anonyme Insolvenzler“ und auf der Homepage (http://www.anonymeinsolvenzler.de/initiator.html) sagt er selbst: Die Insolvenz habe ich traumatisch und lebensbedrohend empfunden – sie hat sich auf alle Lebensbereiche ausgewirkt: Familie, Freundeskreis, Kollegen, Geschäftspartner. Meine Identität und mein Selbstwert waren in Frage gestellt, ich fühlte mich unglaublich allein mit meinen Sorgen und sah für eine Zeitlang für mich keine Perspektiven mehr. Erst als ich anfing, über meine Situation zu reden, konnte ich Hilfe erfahren – durch Freunde, die einfach nur zuhörten und mir beistanden. Dabei traf ich immer mehr Menschen, die selber in einer ähnlichen Situation waren – gemeinsam stellten wir fest, dass es Wege und Mittel gibt, die Insolvenz zu ‚überleben‘. Indem wir den Tatsachen ins Auge blicken und das 25 Beste daraus machen, mit gegenseitiger Unterstützung und Hilfe. So sind neue Freundschaften entstanden, haben sich neue persönliche und berufliche Perspektiven ergeben und ich bin gestärkt aus diesem Prozess herausgekommen. Durch die Gründung des Gesprächskreises möchte ich ein Netzwerk von Menschen schaffen, die sich gegenseitig unterstützen. Es ist an der Zeit, Insolvenz nicht mehr als Stigma zu verstehen. Jeder kann scheitern. Es gilt, trotz Scham und Schuldgefühlen konstruktiv mit dem Thema umzugehen und aus der Krise zu lernen. Das ist die Basis für einen erfolgreichen Neustart. Am 7. Juli 2010 wurde auch in Wien der erste „Gesprächskreis Anonyme Insolvenzler“ in Österreich gegründet (vgl. http://www.anonyme-insolvenzler.or.at/). Die Teilnehmer treffen sich jeden vierten Mittwoch im Monat. Es handelt sich um einen offenen Gesprächskreis, der von ehrenamtlichen Mitarbeitern geleitet wird. Die Teilnahme ist anonym und jeder ist eingeladen zu kommen, der von dem Thema Insolvenz betroffen ist. Zu den Treffen kommen Menschen, die sich schon in der Insolvenz befinden (sowohl Firmen- als auch Privatinsolvenz) und einige kommen in der Phase vor einer möglichen Insolvenz, um sich Rat zu holen. Sowohl Angehörige von Betroffenen sind eingeladen, als auch Menschen, die die Insolvenz hinter sich haben, denn die seelischen Folgen wirken oft noch lange nach. Schenk (2008) findet dass sich Armutsbetroffene „überproportional öfter in Situationen“ (S. 202) wiederfinden „in denen weniger Anerkennung, weniger ‚social support‘ und weniger Selbstwirksamkeit erfahren wird; dafür wesentlich mehr Beschämung, mehr Isolation und mehr Ohnmacht. [….]“ (ebd.) Scham kommt bei der Verarbeitung ökonomischer Probleme eine zentrale Bedeutung zu. Die Furcht vor Bloßstellung und vor dem Verlust des Ansehens wiegt vielfach schwerer als rationale Überlegungen und blockiert die für viele Lösungsstrategien notwendige Mobilisierung sozialer Unterstützung. Leben am Limit macht Stress [….] Der belastende Alltag am finanziellen Limit bringt keine ‚Belohnungen‘ wie besseres Einkommen, Anerkennung, Unterstützung oder sozialen Aufstieg. Eher im Gegenteil, der aktuelle Status droht stets verlustig zu gehen. (Salentin, 2002; zitiert nach Schenk, 2008, S. 202) Henkel (2011) berichtet über das Stigma einer Enddreißigerin, die sogar ihren Wohnort gewechselt hat, weil sie mit dem Stigma des Versagens nicht leben konnte. „Es ist, als ob man Aussatz hat“, sagt sie im Bericht. Auch Freundschaften und Beziehungen zerbrechen, weil es jahrelang nur mehr ein Thema, den Privatkonkurs, gibt, und das hält fast keine Partnerschaft aus. Und deswegen sei auch der „Gesprächskreis ‚Anonymer Insolvenzler“ so erfolgreich. 26 2.3.5 Geld und Kreditkarte als Statussymbol und Teil der Identität Geld in Form von Geldscheinen oder Münzen ist laut Storch (1962) aus dem Leben nicht mehr wegzudenken. „Soweit wir die Geschichte der Völker zurückverfolgen können, hat es immer eine Ware gegeben, die als allgemeines Tauschmittel – mit anderen Worten als Geld – gebraucht wurde“ (S. 14). Früher war bei vielen Völkern das Rind ein solches Tauschmittel. Das hat auch im lateinischen Wort für Geld ‚pecunia‘ seinen Niederschlag gefunden, es bedeutet nämlich auch Vieh (ebd.). Storch (1962) erörtert weiter: „Banknoten oder Papiergeld sind im Gegensatz zu den Münzen […] stofflich völlig wertlos. Allein durch staatliche Anordnung wird ein in bestimmter Form bedrucktes Papier zu Geld. Seine Deckung findet das Papiergeld in den Gütern und Dienstleistungen, die die Volkswirtschaft hervorbringt“ (S. 19). Kirchler (2003) beschreibt sehr genau, welch großes Spektrum das „bedruckte Papier“ abdecken kann: „Mittels Geld können Primärbedürfnisse wie Hunger, Schutz vor Kälte, Sicherheitsbedürfnisse abgedeckt werden, und vor allem Sekundärbedürfnisse, wie Bedürfnisse nach Macht, Anerkennung oder Erfolg und die Möglichkeit, die Umwelt zu kontrollieren“ (S. 341). Und er beschreibt ebenfalls, wie Geld auf die Identität einer Person wirkt: Geld ist in einer materialistischen Welt Teil der Identität jener Person, die es besitzt und drückt vor allem Sicherheit, Macht und Freiheit zu konsumieren aus, Geld bietet Möglichkeiten zu handeln. Nachdem die Identität einer Person an dem gemessen wird, was sie tut und was sie hat, wird das Selbst auch über das verfügbare Geld definiert. (S. 339) Und um dazuzugehören tragen im Kapitalismus „die Menschen ihren Zusammenhalt mit der Gesellschaft, ihr Band zu den anderen Menschen in versachlichter Form als Geld in der Tasche mit sich umher“ (Ottomeyer, 2004, S. 41). Habermas (1996) beschreibt die Rolle von Dingen für das Selbstgefühl insofern, als dass „solche Dinge besonders vertraut sind, die gut zu der Person passen, d. h. mit denen die Person automatisiert, habitualisiert interagieren kann. Solche Interaktionen kosten die Person keine Aufmerksamkeit, sie sind ihr selbstverständlich“ (S. 83). Im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts wird aber hauptsächlich nicht mehr das Geld an sich als Objekt herumgetragen, sondern das Symbol für das Geld, die Bankomat- oder die Kreditkarte. Mit diesen Zahlungsinstrumenten hat man mehr oder weniger unbeschränkt Zugriff zu den vorhandenen oder fiktiven Geldreserven. Sie sind aber auch nur dann „wertvoll“, wenn ein gut dotiertes Konto bei einer Bank dahinter steht, ansonsten sind sie auch „wertlos“. 27 Bankomat- und Kreditkarten sind in den letzten dreißig Jahren eine Selbstverständlichkeit geworden und aus dem Finanzdienstleistungsbereich nicht mehr wegzudenken. Mattes (2010) berichtet, dass 90% der Österreicher das Haus nie ohne Geldkarte verlassen. Die Karten werden also nicht an bestimmten Orten aufbewahrt, sondern ständig bei sich getragen. „Durch diese intime Nähe wird das persönliche Objekt quasi Teil der Person in dem Sinne, dass andere es mit ihm identifizieren und ebenso die Person sich mit ihm identifiziert“ (Habermas, 1996, S. 162). So ist es nicht mehr weit hergeholt, in diesem Zusammenhang von einem „Fetisch“ zu sprechen. „Fetisch“ [ portugies.- frz.; zu lat. ‚facticius‘ nachgemacht] ist die Bezeichnung für einen beliebigen Gegenstand, der, im Gegensatz zum Amulett, nicht aus sich heraus, sondern erst durch einen in ihn gelegten Zauber schützend oder helfend wirken soll. (Meyers Lexikon, 1979, Band 3, S. 34). Aber die Macht geht nicht vom Fetisch aus, sondern „von den Gefühlen und Vorstellungen, die man an ihn geheftet hat“ (Zugriff am 21.3.2011 unter http://www.psychology48.com/deu/d/fetisch/fetisch.htm ). Schon Karl Marx (1872) hat diesen „Fetisch“ enttarnt, indem er schrieb: „Das Rätsel des Geldfetischs ist daher nur das sichtbar gewordne, die Augen blendende Rätsel des Warenfetischs“ (K. Marx, 2009, ungekürzte Ausgabe nach der 2. Auflage v. 1872, S. 103). Ich würde sogar noch weiter gehen und behaupten, dass heute statt des „Geldfetischs“ der „Kartenfetisch“ seinen Platz in der Gesellschaft erobert hat. „Kartenfetisch“ als Ausdruck und Beschreibung für die heutige „Kartengesellschaft“, in der man ohne Kundenkarten, Konto- und Kreditkarten, Ausweiskarten und Ermäßigungskarten nicht mehr als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft gewertet wird. Das Individuum bewegt sich laut Ottomeyer (1992, 2004) zeit seines Lebens in drei voneinander abgrenzbaren Abschnitten: in der Produktionssphäre, in der Zirkulationssphäre und in der Reproduktionssphäre (vgl. 1992, S. 116). Und in allen drei Abschnitten ist mittlerweile jeder Einzelne von Karten in allen möglichen Ausprägungen abhängig. Von der „Zutrittskarte“ oder „Zeitkarte“ im Arbeitsleben, über die Kundenkarten verschiedenster Unternehmen bis hin zur Freizeit, wo auch nach den normalen Öffnungszeiten durch persönliche Karten der Zugang zu Fitnesscenter und Co genehmigt wird. Als ganz besonders wichtigen „Kartenfetisch“ würde ich aber eine Bankomatkarte bzw. eine Kreditkarte bezeichnen. Man braucht ein Konto und eine Karte, um überhaupt an der Arbeitswelt teilnehmen zu können. Ohne Vorweisen einer Bankomat- oder Kontokarte in der Personalabteilung 28 als Nachweis einer gültigen Bankverbindung für die Lohnverrechnung ist heute kein Unternehmer mehr gewillt, Personal einzustellen. In der Zirkulationssphäre ist die Bankomatkarte genau so wichtig. Mattes (2010) berichtet, dass 40% der Zahlungen im heimischen Handel bereits mit Karte abgewickelt werden (S. 13). Auch in der Freizeit ist die Bankomatkarte ebenfalls nicht mehr wegzudenken. Vom Kinobesuch bis zu verschiedensten Konzerten, alles kann mit Kreditkarte im Internet bestellt werden. Manche Billigfluglinien kann man überhaupt nur mehr mittels Kreditkarte buchen. Mit Bargeld hat man hier auf jeden Fall das Nachsehen. Auch bei Zigarettenautomaten wird die Bankomatkarte verwendet, um zu gewährleisten, dass der Bezug der Zigaretten dem gesetzlichen Mindestalter entspricht. Karten sind also im 21. Jahrhundert ein sehr wichtiger Teil unserer Identität geworden und sie fungieren als wichtiger Gradmesser für Inklusion oder Exklusion. 2.3.6 Finanzielle Exklusion „Finanzielle Exklusion“ bedeutet, „keinen oder nur erschwerten Zugang zu wesentlichen Finanzdienstleistungen in einer Gesellschaft zu haben“ (EU-SILC 2008, S. 1113). Der Zugang zu Finanzdienstleistungen und finanzielle Inklusion wird von der Weltbank (2005, S. 5) durch folgende Indikatoren identifiziert: Access to Transactions and Payments Services Access to Saving Services Access to Loan and Credit Services Den Zugang zu Überweisungen und Zahlungsverkehrsdiensten, der Zugang zum Sparen und der Zugang zu Krediten ist aber nur über ein Konto möglich. Wenn dieser Zugang aber verwehrt wird, findet unweigerlich eine Ausgrenzung statt. Sämtliche regelmäßige Zahlungen müssen mit Zahlschein oder bar bezahlt werden. Zusätzlich zur Ausgrenzung kommt es zu einem höheren Zeitaufwand bei Barzahlungen und zu einem höheren finanziellen Aufwand durch Zahlscheingebühren, die sich, je nach Institut, zwischen zwei und sieben Euro bewegen. Der Median beträgt Euro 3,20 (Arbeiterkammer Wien, 2009, S. 5). Daher fordert die Arbeiterkammer in ihrer Aussendung vom 10.2.2011 das „Recht auf ein Girokonto für alle“ (Zugriff am 13.3.2011 unter http://kaernten.arbeiterkammer.at/online/ak-will-rechtauf-girokonto-fuer-alle-59810.html ) . In dieser Aussendung wird auch hochgerechnet, wie viel ein Kunde ohne Konto und mit nur sechs Zahlungen pro Monat an Zahlscheingebühren für Grundbedürfnisse wie Miete, Strom, Telefon, im 29 Jahr ausgeben muss. Wenn man einen Zahlschein mit durchschnittlich drei Euro annimmt, kommt man auf 216 Euro im Jahr. Laut EU-SILC 2008 (vgl. Angel, 2009) sind zwei Prozent der Bevölkerung in Privathaushalten ohne eigenes Konto. Am häufigsten betroffen sind Armutsgefährdete (6%) und Personen in der Altersgruppe 65+ (5%). Als zweiter Indikator zur finanziellen Ausgrenzung in Österreich wurde im Rahmen der EUSILC-Befragung die „Nicht-Leistbarkeit“ einer Haushaltsversicherung als wesentliche Finanzdienstleistung gewählt. Insgesamt besitzen 940.000 Personen (11%) in Österreich keine Haushaltsversicherung. „Rund die Hälfte gibt an, dass ihr Haushalt aus finanziellen Gründen diese nicht abschließen kann“ (EU-SILC 2008, S. 1113). Da in diesen Fällen auch meist keine finanziellen Reserven vorhanden sind, kann ein etwaiger Schadensfall zur Existenzbedrohung werden. 30 3. PRIVATKONKURS (PRIVATINSOLVENZ)4 (gerichtliches Schuldenregulierungsverfahren) Ziel dieses Verfahrens ist es, dem redlichen Schuldner die Möglichkeit für einen wirtschaftlichen Neubeginn durch Sanierungsplan Zahlungsplan oder Abschöpfungsverfahren mit jeweiliger Restschuldbefreiung zu bieten. Zahlreiche Einleitungshindernisse und Mitwirkungspflichten sollen den Missbrauch dieser Verfahren verhindern, die Möglichkeit der Restschuldbefreiung steht daher nur redlichen und hoch motivierten Schuldnern offen. Für das Konkursverfahren von Privatpersonen ist das Bezirksgericht zuständig. Staatlich anerkannte Schuldnerberatungsstellen haben im Privatkonkurs besondere Bedeutung. Diese Beratungseinrichtungen sind vom Justizministerium anerkannt und unterstützen die Schuldner kostenlos bei ihren außergerichtlichen und gerichtlichen Bemühungen und können diese auch beim Bezirksgericht im Privatkonkurs vertreten. 3.1 VORAUSSETZUNGEN Damit ein Schuldenregulierungsverfahren beim Bezirksgericht eingereicht werden kann, müssen folgende Voraussetzungen zutreffen: Der/ Schuldner muss zahlungsunfähig sein. Zahlungsunfähigkeit ist gegeben, wenn der Schuldner seine fälligen Schulden nicht in angemessener Zeit bezahlen kann. Davon kann insbesondere dann ausgegangen werden, wenn der Schuldner, nachdem sämtliches Vermögen verwertet ist (also kein Vermögen mehr vorhanden ist), neben der Abdeckung seiner Fixkosten, seine gesamten Schulden nicht innerhalb von sieben Jahren begleichen kann. 4 vgl. www.privatkonkurs.at/content/privatkonkurs.php Zugriff am 3.4.2011 31 Der Schuldner darf kein Unternehmer sein. Einen Privatkonkurs kann nur eine Privatperson (eine unselbstständig erwerbstätige Person) beantragen. Die Möglichkeit eines Schuldenregulierungsverfahrens beim Landesgericht haben zwar auch Unternehmer, hier sind jedoch teilweise andere gesetzliche Bestimmungen anzuwenden. Der Schuldner muss versucht haben, seine Schulden außerhalb des Gerichts zu regulieren (außergerichtlicher Ausgleich). Um einen Antrag auf Eröffnung des Schuldenregulierungsverfahrens stellen zu können, muss entweder ein außergerichtlicher Ausgleich mit den Gläubigern gescheitert oder dieser von Anfang an aussichtslos sein. Ein außergerichtlicher Ausgleich ist dann aussichtslos, wenn der Schuldner mehr als 14 Gläubiger hat, oder die Gebietskrankenkasse, die Sozialversicherungsanstalt oder das Oberlandesgericht auf Grund von Unterhaltsrückständen zu den Gläubigern zählen. Der Schuldner muss bescheinigen, dass die Kosten des Verfahrens voraussichtlich gedeckt werden. Die Kosten des Verfahrens sind die Kosten der Inventarisierung (Schätzung des vorhandenen Vermögens durch den Exekutor), die Kosten eines allfälligen Masseverwalters (ca. 1.100 bis 2.000 Euro); und allfällige Kosten der Gläubigerschutzverbände. Damit der Konkurs eröffnet wird, muss der Schuldner nachweisen, dass er diese Kosten innerhalb von drei Jahren decken kann. Der Schuldner muss ein Zahlungsangebot anbieten. Der Schuldner muss einen Betrag anbieten, der seiner wirtschaftlichen Lage entspricht. In der Regel ist das der pfändbare Teil des Einkommens. Wenn nichts pfändbar ist, kann der Schuldner auch freiwillige Zahlungen aus dem Existenzminimum leisten. Praktische Voraussetzungen für den Privatkonkurs: Neben den rechtlichen Voraussetzungen: Der Schuldner muss für die Dauer des Schuldenregulierungsverfahrens eine möglichst stabile Lebenssituation haben, d. h. die Wohnsituation soll gesichert sein, die Fixkosten wie Miete, Strom usw. müssen ohne Probleme bezahlt werden können und die Einkommenssituation muss möglichst sicher sein. Der Schuldner muss für die Dauer des Schuldenregulierungsverfahrens von seinem Existenzminimum leben bzw. unter Umständen auch noch Zahlungen aus dem Existenzminimum leisten können. Nur wenn das dem Schuldner wirklich möglich ist, macht das Schuldenre32 gulierungsverfahren Sinn. Es dürfen keine neuen Schulden gemacht werden, die bei Fälligkeit nicht zurückgezahlt werden können. Nicht beschränkbare Forderungen. Es gibt eine Reihe von Forderungen, die auch im Schuldenregulierungsverfahren zu 100% zu bezahlen sind, bzw. bevorzugt behandelt werden. Masseforderungen, Gerichtskosten, Masseverwaltungskosten laufende Verpflichtungen: Alimente, Miete, Betriebskosten usw. offene Geldstrafen Schulden, die während des laufenden Konkursverfahrens gemacht werden Unterhaltsvorschüsse Aufrechnungen der bezugsauszahlenden Stelle Aussonderungen und Absonderungsrechte bleiben bestehen z.B. Hypotheken auf ein Haus, Eigentumsvorbehalt beim Auto das durch Leasing finanziert wird. Gläubiger, welche ein Aussonderungsrecht am Einkommen des Schuldners durch Lohnpfändung oder Zession haben, erhalten zwei Jahre lang den pfändbaren Teil des Einkommens. Erst danach wird das pfändbare Einkommen für den Gläubiger frei. Mitschuldner und Bürgen Die Haftung der Bürgen und Mitschuldner (das sind Personen, die sich ebenfalls verpflichtet haben, Zahlungen zu leisten) bleibt in vollem Umfang aufrecht. Die Gläubiger können sich weiterhin an die Mithaftenden halten und von diesen die Zahlung der noch offenen Forderungen verlangen. Bürgen und Mitschuldner können die an die Gläubiger geleisteten Zahlungen nicht mehr vom Hauptschuldner zurückverlangen. Das kann bedeuten, dass Mithaftende selbst zahlungsunfähig werden und so Konkurs anmelden müssen. Bürgen und Mithaftende haben jedoch die Möglichkeit, soweit sie schon vor Konkurseröffnung Zahlungen an die Gläubiger geleistet haben, diese als Konkursforderung anzumelden. Sie bekommen dann wie alle anderen Konkursgläubiger die vereinbarte Quote. (Zugriff Internet am 3.4.2011 unter: www.privatkonkurs.at/content/privatkonkurs.php) 33 3.2 KONKURSERÖFFNUNG Der Antrag kann mündlich oder schriftlich beim zuständigen Bezirksgericht eingebracht werden (Unterstützung gibt die Schuldnerberatungsstelle). Es muss glaubhaft gemacht werden, dass die Konkursvoraussetzungen erfüllt sind. Das Verfahren wird üblicherweise vom Rechtspfleger geleitet. Wenn Aktiva (Vermögen) von mehr als 50.000 Euro vorhanden sind, fällt es in die Zuständigkeit des Richters. Die Eröffnung erfolgt mittels Beschluss (veröffentlicht auch in der öffentlichen Ediktdatei, www.edikte.justiz.gv.at). Nach etwa zwei bis drei Monaten findet die erste und meist einzige Verhandlung (Tagsatzung) vor Gericht statt. Zu dieser Tagsatzung muss der Gläubiger unbedingt persönlich erscheinen, ansonsten gilt der Antrag als zurückgezogen. Bei diesem Termin werden die angemeldeten Forderungen der Gläubiger auf deren Richtigkeit überprüft, und es kann bereits über den vorgelegten Zahlungsplan oder Zwangsausgleich abgestimmt bzw. das Abschöpfungsverfahren eingeleitet werden. (vgl. www.privatkonkurs.at/content/privatkonkurs.php). 3.3 AUSWIRKUNGEN DER ERÖFFNUNG Die Veröffentlichung erfolgt von Amts wegen im Internet auf www.edikte.justiz.gv.at. Auch in Tageszeitungen und anderen Medien werden regelmäßig Konkurseröffnungen bekannt gegeben. Des Weiteren werden der Arbeitgeber, die Gläubiger und die kontoführende Bank direkt vom Gericht von der Konkurseröffnung verständigt. Es erfolgt daraufhin ein Verfügungsverbot. Die Möglichkeit des Schuldners, Geschäfte abzuschließen, wird für die Dauer des gerichtlichen Verfahrens, also für circa vier Monate in gewissem Maße eingeschränkt. Die Geschäfte des täglichen Lebens können gemacht werden, nur große Geschäfte wie z.B. ein Autokauf oder der Abschluss von Versicherungen bedürfen der Zustimmung des Insolvenzverwalters. Der so genannte „Freigabebeschluss“ wird ausgestellt um über das vorhandene Konto verfügen zu können. Insolvenzverwalter ist meist ein Rechtsanwalt. Wenn die Vermögensverhältnisse nicht überschaubar sind oder für die Gläubiger Nachteile zu erwarten sind, oder kein Vermögensverzeichnis gelegt wird, ist ein Masseverwalter (ab 1.7.2010 Insolvenzverwalter) zu bestellen. Der Insolvenzverwalter bekommt sämtliche Post des Schuldners, auch die private. Er hat dadurch die Möglichkeit weitere Gläubiger und auch verschwiegenes Vermögen herauszufinden und überprüft die angemeldeten Forderungen. 34 Im Konkursverfahren können zweiseitige Verträge gekündigt werden. Insbesondere werden Lebensversicherungen und Bausparverträge aufgelöst und das Guthaben der Konkursmasse zugeschlagen. Es kommt zu einer Prozesssperre und einem Exekutionsstopp. Strittige Forderungen werden im Konkursverfahren ohnehin geprüft. Mit Konkurseröffnung werden vorläufig alle gerichtlichen Verfahren unterbrochen. Außerdem kommt es zu einem Zinsenstopp. Die Gläubiger können ab der Konkurseröffnung keine weiteren Zinsen verrechnen. Von allfälligen Bürgen oder Mitschuldnern werden sie allerdings weiterhin verlangt. Rückzahlungen von Schuldnern, die vor Konkurseröffnung vorgenommen wurden, und wodurch einzelne Gläubiger besser gestellt wurden, können von einem Gläubiger oder Masseverwalter bei Gericht angefochten und für ungültig erklärt werden (Aufrechnung von Rechtsgeschäften). Es darf kein Gläubiger von dem Schuldner mehr erhalten als im Schuldenregulierungsverfahren vereinbart wurde (Gläubigergleichbehandlung). (vgl.www.privatkonkurs.at/content/privatkonkurs.php) 3.4 MÖGLICHKEITEN DER SCHULDENREGULIERUNG (vgl. www.privatkonkurs.at/content/privatkonkurs.php) 3.4.1 Sanierungsplan Dieses Verfahren wurde mit 1.7.2010 eingeführt und ersetzt den bisherigen „Zwangsausgleich“. In der Praxis wird dieses Verfahren allerdings von Privatpersonen kaum in Anspruch genommen. Die Mindestquote im Sanierungsplan sowohl für natürliche als auch juristische Personen beträgt 20%. Natürliche Personen, die kein Unternehmen betreiben, können eine Zahlungsfrist von zwei bis fünf Jahren in Anspruch nehmen. Zur Annahme des Sanierungsplanes ist erforderlich, dass die Mehrheit der bei der Tagsatzung anwesenden stimmberechtigten Insolvenzgläubiger dem Antrag zustimmt, und dass die Gesamtsumme der Forderungen der zustimmenden Insolvenzgläubiger mehr als die Hälfte der Gesamtsumme der Forderungen der bei der Tagsatzung anwesenden stimmberechtigten Insolvenzgläubiger beträgt. 35 3.4.2 Zahlungsplanverfahren Es gibt einige Voraussetzungen, die eingehalten werden müssen: Die angebotene Quote muss der Einkommenslage der nächsten fünf Jahre entsprechen (keine Mindestquote). Die Zahlungsfrist darf höchstens sieben Jahre betragen. Die Vermögensverwertung wird durchgeführt. Die Zustimmung der Gläubigermehrheit muss gegeben sein. Es gibt keine Mindestquote, der Schuldner muss jedoch den Gläubigern eine Quote anbieten, die der Einkommenssituation der nächsten fünf Jahre entspricht. Meist handelt es sich im Zahlungsplan um monatliche Zahlungen für die Dauer von fünf bis sieben Jahren, es können jedoch auch Sofortzahlungen geleistet werden. Die mögliche Zahlungsfrist beträgt bis zu sieben Jahre. Ein Zahlungsplan kommt nur mit Zustimmung der Gläubigermehrheit zustande. Sämtliches Vermögen des Schuldners wird verwertet, z. B. werden Sparguthaben und Bausparverträge aufgelöst, Wertsachen wie Auto, Stereoanlage verkauft bzw. versteigert. Dinge zur einfachen Lebensführung und zur Berufsausübung müssen dem Schuldner belassen werden. Auch eine Änderung des Zahlungsplanes ist möglich, wenn sich die Einkommenssituation des Schuldners ohne sein Verschulden wesentlich und dauerhaft verschlechtert. 3.4.3 Abschöpfungsverfahren Für den Fall der Ablehnung eines Zahlungsplanverfahrens durch die Gläubigermehrheit kann der Schuldner die Durchführung des Abschöpfungsverfahrens mit Restschuldbefreiung beantragen. Auch hier müssen verschiedene Voraussetzungen zutreffen: Der Zahlungsplan muss vorher abgelehnt worden sein. Es kommt zu einer Gehaltsabtretung für die kommenden sieben Jahre. Die Vermögensverwertung wird durchgeführt. Es darf kein Einleitungshindernis geben. Der Schuldner muss bei Antragstellung erklären, dass er den pfändbaren Teil seiner Einkünfte für die Zeit von sieben Jahren an einen Treuhänder abtritt. Dass heißt, dass der pfändbare Teil und alle (auch freiwilligen) zusätzlichen Leistungen (z.B. Erbschaften, Schenkungen) von einem gerichtlich bestellten Treuhänder an die Gläubiger verteilt werden. Der Schuldner lebt somit sieben Jahre vom Existenzminimum. Im Rahmen seiner Möglichkeiten muss sich der Schuldner bemühen, möglichst hohe Zahlungen an die Gläubiger zu tätigen. 36 3.4.4 Restschuldbefreiung Wenn der Schuldner nach sieben Jahren eine Mindestquote von 10% oder schon nach mindestens drei Jahren eine Summe von 50% der Konkursforderungen plus Verfahrens-, Masse- und Treuhandkosten erreicht hat, wird er auch gegen den Willen der Gläubiger von seinen restlichen Schulden befreit. Konnte trotz aller Bemühungen die Mindestquote nicht erreicht werden, kann das Gericht bei Billigkeit5 trotzdem die Restschuldbefreiung erteilen. Liegt kein Billigkeitsgrund vor, kann das Gericht das Verfahren um maximal 3 Jahre verlängern. Wenn die 10% Quote nicht erreicht wurde, keine Billigkeitsgründe vorliegen und kein Grund für eine Verlängerung gegeben ist, dann endet das Verfahren ohne Restschuldbefreiung. Die restlichen Schulden bleiben aufrecht, die Zinsen werden nachverrechnet und die Gläubiger können wieder Exekution führen. Um die Restschuldbefreiung zu erhalten, müssen folgende Mitwirkungspflichten für die Dauer des Abschöpfungsverfahrens erfüllt werden: Eine angemessene Erwerbstätigkeit muss ausgeübt werden oder bei Arbeitslosigkeit muss man sich um eine Arbeitsstelle bemühen. Man muss den Treuhänder von den Bemühungen, eine Arbeitsstelle zu finden, in Kenntnis setzen. Unentgeltliche Zuwendungen (z.B. Schenkungen, Erbschaften,) müssen herausgegeben werden. Jeder Wohnsitz- oder Drittschuldnerwechsel (meist Arbeitgeber) muss dem Gericht und dem Treuhänder gemeldet werden. Dem Gericht und dem Treuhänder muss auf Verlangen Auskunft über die Erwerbstätigkeit, die dabei erzielten Bezüge und das Vermögen erteilt werden. Die Zahlungen zur (teilweisen) Begleichung der Schulden dürfen nur an den Treuhänder geleistet werden. Soweit der Schuldner eine selbständige Tätigkeit ausübt, müssen die Gläubiger so gestellt werden, als würde man eine angemessene unselbständige Erwerbstätigkeit ausüben. Außerdem darf der Schuldner kein Vermögen verheimlichen oder dessen Erwerb unterlassen, keinem Konkursgläubiger (z.B. einem Privatgläubiger) besondere Vorteile einräumen und keine neuen Schulden eingehen, die bei Fälligkeit nicht bezahlt werden können. 5 Billigkeit (rechtl. Bewertungsmaßstab nach den besonderen Umständen des Einzelfalles [Meyers Lexikon Band 1, S. 592]). 37 4. DIE ZWEITE WIENER VEREINSSPARKASSE 4.1. GRÜNDUNG Die Gründung der Zweiten Sparkasse beruht auf dem sozialen Gedankengut der Sparkassen aus dem 19. Jahrhundert. Die Armenfürsorge lag zu dieser Zeit traditionell in den Händen der Kirchen und Klöster. Als Pfarrer der Wiener Vorstadtgemeinde St. Leopold hatte Johann Baptist Weber (1786-1848) schon eine Pfarrkasse eingerichtet, die zinsenlose Kredite an bedürftige Bürger vermittelte. Das Kapital wurde von wohlhabenden Gemeindemitgliedern zur Verfügung gestellt. Aufgrund seiner guten Kontakte zu finanzkräftigen Bewohnern und zum Hochadel brachte er in kurzer Zeit 10.000 Gulden als Stammkapital für die Sparkasse auf (Rapp, 2005, S. 19). So wurde „Die Erste Bank“ 1819 in der Wiener Leopoldstadt als Sparkasse gegründet. Geöffnet war jeden Dienstag und Freitag für einige Stunden. Ein Auszug aus dem im Jahre 1820 gedruckten Bücherl „Errichtet Spar-Cassen!“ bietet eine sehr aktuelle „Produktbeschreibung“ des Sparbuches: „Jeder kann in diese Casse auf seinen, oder auf fremden Nahmen, auf den Nahmen eines Kindes oder auf eine erdichteten Nahmen einlegen“ (Strauß, 1820, S. 3). Und auch im 21. Jahrhundert gültige Aussagen finden sich in dieser ersten „Broschüre“: Die besonderen Vortheile sind, daß, so wie das Lotteriespiel durch die Anstalten, die dafür bestehen, unter der gemeinen Classe um sich gegriffen hat, weil sie einen Ort findet, wo sie spielen kann, durch Spar-Cassen, auch der Geist der Sparsamkeit in dieser Classe rege werden wird, wenn sie eine Anstalt weiß, wo sie ihre Ersparnisse sicher hinterlegen, und nach Wunsch wieder erheben kann. (Strauß, 1820, S. 6) Andreas Treichl, Vorstandsvorsitzender der DIE ERSTE österreichische Spar-Casse Privatstiftung erläutert: „Der Gedanke der sozialen Verantwortung ist durch das Gründungsstatut im Wesen unseres Unternehmens angelegt und keine zeitgeistige Modeerscheinung“ (Rapp, 2005, S. 7). Die Umwandlung des Hauptaktionärs, der ‚DIE ERSTE österreichische Spar-Casse Anteilsverwaltungssparkasse‘ in die ‚ERSTE österreichische Spar-Casse Privatstiftung‘ im Jahr 2003 erfolgte vor diesem Hintergrund. „Die Stiftung und ihre Organe werden künftig dafür sorgen, dass ein Teil der Erträge, die in der Erste-Bank Gruppe erwirtschaftet werden, nachhaltig und sinnvoll einem wohltätigen und gemeinnützigen Zweck gewidmet werden“ (Andreas Treichl in Rapp, 2005, S. 7). 38 Boris Marte, der Managing Director der „Die Erste österreichische Spar-Casse Privatstiftung“ ist zuständig dafür, dass das Geld der Stiftung auch in gemeinnützige Projekte fließt. Er ist zu den Ursprüngen zurückgegangen und hat diese „Ur-Idee“ der Sparkassen wieder aufgenommen. Zusammen mit Stefan Wallner, dem Generalsekretär der österreichischen Caritas, Alexander Maly, dem Leiter der Schuldnerberatung Wien und Hans Grohs, dem Leiter des österreichischen Dachverbandes der Schuldnerberatung (ASB) in Linz, wurde ein Projekt ausgearbeitet und in die Realität umgesetzt (vgl. Pletter, 2007). „Die Zweite Wiener Vereinssparkasse“ (Die Zweite Sparkasse) wurde daher am 15. Mai 2006 als Projekt und auf Initiative von Boris Marte aus den Mitteln der ERSTE Stiftung gegründet. Die Privatstiftung stellte 5,8 Millionen Euro als Gründungskapital zur Verfügung. Fünf Millionen Euro für die Bankgründung und 800.000 Euro für den Betrieb (vgl. Pletter, 2007). Am 4. Oktober 2006 nahm „Die Zweite Wiener Vereinssparkasse“ ihre Tätigkeit auf und am 21. November 2006 wurde die erste Filiale in Wien Leopoldstadt durch den Bundespräsidenten Dr. Heinz Fischer feierlich eröffnet. (vgl. www.sparkasse.at/diezweitesparkasse) 4.2 ORGANISATION Die Zweite Sparkasse ist eine unabhängige Bank, mit dem einen Unterschied, dass sie ausschließlich von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geführt wird. Über 400 Freiwillige von Erste Bank und Sparkassen in ganz Österreich engagieren sich bei diesem Projekt, das damit auch eine enorme identifikationsstiftende Wirkung in den beteiligten Instituten entfaltet. Die Geschäfte leitet und koordiniert der ebenfalls ehrenamtlich tätige Vorstand. Vorstandsvorsitzende ist Dr. Evelyn Hayden, die zusammen mit dem zweiten Vorstand, Dr. Gerhard Ruprecht, auch die Schulungen der ehrenamtlichen Mitarbeiter organisiert und die Vertretung der Sparkasse nach außen übernimmt. Dem achtköpfigen Sparkassenrat, dem auch der für die Zweite Sparkasse zuständige Direktor des Programms „Soziales“ der ERSTE Stiftung, Franz Karl Prüller, angehört, steht Mag. Reinhard Ortner vor. Sie alle wurden vom Verein „Die Zweite Wiener Vereins-Sparcasse“, der 46 Mitglieder zählt, entsandt. (Internet Zugriff am 14.3.2011 unter: www.sparkasse.at/diezweitesparkasse) 39 Die Präambel der Zweiten Sparkasse: Im Wissen um die sozialen Herausforderungen unserer Zeit und im Bewusstsein der Würde jedes einzelnen Mitglieds unserer Gesellschaft entsteht mit vereinten Kräften ein Institut das sich vor allem einer Aufgabe widmet: Eine Beitrag zur Ermöglichung der wirtschaftlichen Teilhabe aller Menschen an unserer Gemeinschaft zu leisten. Die Sparcasse bietet Finanzdienstleistungen an, wo Menschen keinen Partner finden, um ihr finanzielles Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Die „Zweite Wiener Vereins-Sparcasse“ ist für Menschen da, die einen Zweiten brauchen. Denn manchmal geht es nicht alleine. (www.sparkasse.at/diezweitesparkasse) 4.3 FUNKTION Menschen, die in eine schwierige finanzielle Situation geraten sind und bei keiner anderen Bank mehr ein Konto erhalten, sich aber um eine Lösung ihrer Probleme bemühen, werden von definierten Beratungsorganisationen an die Zweite Sparkasse vermittelt. Aufgrund dieser Empfehlung erhalten sie ein vorerst auf drei Jahre befristetes Konto, das nicht überzogen werden kann. Es fällt eine geringe Kontoführungskaution (drei Euro im Monat) an, die den Kunden jedoch wieder zurückgezahlt wird, wenn sie zu einer neuen Bankverbindung wechseln. Die Idee der Kontoführungskaution kam nicht von der Sparkasse, sondern von Caritas und Schuldnerberatung, die nicht wollten, dass „die Banker das Konto, wie sie es geplant hatten, kostenlos anbieten. Ein Bewusstsein dafür, dass Leistungen nicht gratis zu bekommen seien, sei wichtig“ (Pletter, 2007). Mit der Bankomatkarte der Zweiten Sparkasse kann weltweit (im Maestroverfahren) bargeldlos bezahlt und in den Foyers von Erste Bank und Sparkassen über Automaten Geld vom Konto behoben oder eingezahlt werden. Auch die Kontoauszüge werden damit ausgedruckt. Es können gebührenfrei Daueraufträge eingerichtet und Überweisungen getätigt werden. Wenn die Betroffenen ihre finanzielle Krise bewältigt haben und eine Bankverbindung bei einer anderen Bank erhalten, wird das Konto bei der Zweiten Sparkasse wieder geschlossen. 40 4.4 ANGEBOT (https://www.sparkasse.at/diezweitesparkasse) Jede Kundin und jeder Kunde der Zweite Sparkasse erhält nach Empfehlung durch eine Partnerorganisation: ein Basiskonto inklusive Bank Card eine kostenlose Rechtsberatung pro Quartal eine kostenlose Unfallversicherung Zusätzlich kann auf Wunsch ein Aufbaukonto mit erhöhtem Zinssatz zum Sparen abgeschlossen werden und eine günstige Haushaltsversicherung. Eine besondere Partnerschaft verbindet die Zweite Sparkasse mit der Wiener Städtischen Versicherung, die die Versicherungskomponenten der Angebote gratis bzw. zu einem kostengünstigen Tarif abdeckt. Auch hier fanden es Caritas und Schuldnerberatung nicht gut, alles gratis anzubieten (vgl. Pletter, 2007). 4.5 CHRONOLOGIE EINER „ERFOLGSGESCHICHTE“ (dokumentiert mittels interner Infonet-Nachrichten und www.zweitesparkasse.at) Mehrere Bundesländer-Sparkassen bekundeten bereits ab 2007 ihr Interesse, die Zweite Sparkasse und ihre Produkte auch für die Menschen in ihrem Einzugsgebiet zugänglich zu machen. Vorerst war an eine Eröffnung von „Filialen“ in den Sparkassen der jeweiligen Landeshauptstädte gedacht. Die Arbeitsteilung wurde derart vereinbart, dass die regionale Sparkasse für ein geeignetes Lokal und die Mitarbeiter zu sorgen hatte und auch die vor Ort anfallenden Kosten übernehmen sollte. Bei den örtlichen Sparkassen wurden Kontaktpersonen definiert. In einer für ein halbes Jahr vorgesehenen Probephase wurde wie bisher in Wien ausschließlich mit der Schuldnerberatung und der Caritas kooperiert. Ebenfalls wie in Wien sollten die vor Ort tätigen Mitarbeiter ihre Aufgabe ehrenamtlich in ihrer Freizeit übernehmen. (vgl. https://diezweite.web-bank.at/200705.pdf) 14. September 2007 Die Innsbrucker Filiale wurde feierlich eröffnet. 22. November 2007 Die Salzburger Filiale wurde feierlich eröffnet. 12. Februar 2008 Eröffnung Filiale Klagenfurt: um 11 Uhr war es so weit: Seit diesem Tag, der übrigens auch der 173. Geburtstag der Kärntner Sparkasse war, gab es nun auch in Klagenfurt eine Filiale der Zweiten Sparkasse. (vgl. https://diezweite.web-bank.at/200803.pdf) 41 15. Mai 2008 Die Filiale in Graz wurde feierlich eröffnet. 26. Mai 2008 Die Sparkasse Wiener Neustadt kooperierte als erste Korrespondenzsparkasse mit der Zweite Sparkasse und nahm die Kundenbetreuung auf. 20. April 2009 Die Zusammenarbeit mit den oberösterreichischen Regionalsparkassen wurde gestartet. 14. Oktober 2009 Eröffnung der Filiale Villach. (vgl. https://diezweite.webbank.at/200909.pdf ) 20. November 2009 im Burgenland wurde die Geschäftstätigkeit aufgenommen. Als Korrespondenzbanken fungierten Erste Bank und Sparkasse Hainburg-BruckNeusiedl. 17. Jänner 2011 4.6 Die Linzer Filiale nahm ihren Geschäftsbetrieb auf. KUNDENENTWICKLUNG Dr. Evelyn Hayden, Vorstandsvorsitzende der Zweiten Sparkasse berichtet: „Dank der Hilfe der Sparkasse Oberösterreich ist die Zahl der Filialen der Zweite Sparkasse mit jener in Linz auf nunmehr sieben selbständige Filialen in sechs Bundesländern gewachsen. Für uns ist diese Erweiterung des Filialnetzes ein wesentlicher Schritt. In ganz Österreich machen derzeit 6.800 Kunden betreut von 412 ehrenamtlichen Mitarbeitern - vom Angebot der Zweite Sparkasse Gebrauch". (https://diezweite.web-bank.at/201102.pdf) 42 4.7 PARTNER DER ZWEITEN SPARKASSE (entnommen: www.sparkasse.at/diezweitesparkasse)6 Durch eine Empfehlung einer dieser Organisationen wird ein Konto bei der Zweiten Sparkasse erst möglich. Unabhängig von deren sozialer, nationaler oder religiöser Zugehörigkeit berät, begleitet und unterstützt die Caritas Menschen in schwierigen Lebenssituationen, bei Krankheit oder Behinderung, nach Unglücksfällen oder Katastrophen. www.caritas-kaernten.at Schuldnerberatungen bieten verschuldeten Einzelpersonen, Familien und Haushalten Hilfe zur Selbsthilfe an, um die Ver- bzw. Überschuldung zu beseitigen oder zu verringern. www.asb-gmbh.at Die MA 40 ist die offizielle Anlaufstelle der Stadt Wien für Menschen in sozialen Notlagen. www.wien.gv.at/gesundheit/leistungen Der Verein Dialog bietet Beratung, Betreuung und Behandlung für Personen mit Suchtproblemen und für Angehörige sowie Unterstützung bei der Stabilisierung und beruflichen Orientierung. www.dialog-on.at NEUSTART hilft straffällig gewordenen Personen wieder in der Gesellschaft Fuß zu fassen und Opfern Schadenswiedergutmachung und eine Entschuldigung des Täters zu bekommen. www.neustart.at Das Wiener Hilfswerk bietet Hilfestellungen in unterschiedlichen Lebenssituationen an. Hilfe zur Selbsthilfe, vorbeugende Hilfe und Förderung der Eigenverantwortung sind zentrale Anliegen. www.wien.hilfswerk.at Die ARGE SOZIAL VILLACH wurde mit dem Auftrag gegründet, Obdachlose, Langzeitarbeitslose, Haftentlassene und Menschen mit verschiedenen psychosozialen und wirtschaftlichen Problemen zu beraten und betreuen. Ziele sind Integration und Rehabilitation. www.arge-sozial-villach.at Die Wiener BerufsBörse, das Beratungszentrum für Sucht & Arbeit in Wien, bietet Beratung und Betreuung für Menschen mit Suchterfahrung auf ihrem Weg zur beruflichen (Re)Integration. www.berufsboerse.at 6 Zugriff Internet am 30.4.2011 43 Die SHG Anonyme Spieler bietet kostenlos Sozialberatung für Glückspielabhängige und deren Angehörige, die zum Beispiel mit Delogierung, Arbeitsplatzverlust oder Strafverfahren konfrontiert sind, unterstützt beim Geldmanagement und eröffnet mit der Unterstützung von professionellen Therapeuten, Sozialarbeitern und ehemals Spielsüchtigen Möglichkeiten zur Therapie. www.anonymespieler.at Die Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie ist eine staatlich anerkannte Opferschutzeinrichtung, die nach einer polizeilichen Intervention tätig wird. Sie berät und unterstützt Opfer familiärer Gewalt vertraulich und kostenlos in psychosozialen, zivil- und strafrechtlichen Fragen. www.interventionsstelle-wien.at Der Verein neunerHAUS führt in Wien drei Wohnhäuser, in denen rund 160 obdachlose Frauen und Männer ein menschenwürdiges Zuhause finden. Mit dem Team neunerHAUSARZT und der neunerHAUS Zahnarztpraxis für obdachlose Menschen bietet der Verein auch medizinische Betreuung. www.neunerhaus.at Aktion leben unterstützt schwangere Frauen in Krisensituationen finanziell, mit Sachspenden sowie durch Patenschaften. Neben der Beratung von schwangeren Frauen in Not engagiert sich aktion leben unter anderem in der Bildungsarbeit für Kinder und Jugendliche sowie in der aktiven Öffentlichkeitsarbeit zu bioethischen Fragen. www.aktionleben.at Das Lighthouse Wien ist ein nicht gefördertes Projekt, das HIV+, obdachlosen, substanzabhängigen Menschen einen dauerhaften Wohnplatz, Sozialarbeit, medizinische Betreuung und Psychotherapie bietet. Tel. (01) 315 55 55 – e-mail: lighthouse@gmx.eu Volkshilfe Beschäftigung betreibt sozialökonomische Betriebe und Beschäftigungsprojekte für arbeitsuchende Menschen und Menschen mit Behinderungen. Im Rahmen einer befristeten Beschäftigung wird ehemals langzeitbeschäftigungslosen Frauen und Männern Qualifizierung und individuelle persönliche Personalentwicklung geboten, um den Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt zu erleichtern." www.vhbi.at Der gemeinnützige Verein AhZ „Arbeit hat Zukunft" berät und begleitet kostenlos Menschen in der 2. Lebenshälfte, die Arbeit suchen, deren Arbeitsplatz gefährdet ist und/oder die dabei sind, sich beruflich neu zu orientieren. www.ahz.or.at Die Schuldner-Hilfe OÖ ist eine staatlich anerkannte Schuldenberatungsstelle, die Hilfestellung für Privatpersonen mit Schuldenproblemen bietet. Weiters werden Finanzworkshops und der OÖ Finanzführerschein zur Verbesserung der Finanzkompetenz junger Menschen angeboten. www.schuldner-hilfe.at 44 5. STIGMATISIERUNG UND SCHAM 5.1 STIGMATISIERUNG Stigmatisierung [griech.], „Bez. der Soziologie für die Zuordnung bestimmter von der Gesellschaft bzw. einer sozialen Gruppe negativ bewerteter Merkmale (z.B. nicht ehelich, vorbestraft) auf ein Individuum, das damit sozial diskreditiert wird“ (Meyers Neues Lexikon, 1980, S. 527). Goffman (1994) verweist auf die Griechen, die den Begriff Stigma [Stich, Punkt, Brandmal] schufen, „als Verweis auf körperliche Zeichen, die dazu bestimmt waren, etwas Ungewöhnliches oder Schlechtes über den moralischen Zustand des Zeichenträgers zu offenbaren. Die Zeichen wurden in den Körper geschnitten oder gebrannt und taten öffentlich kund, dass der Träger ein Sklave, ein Verbrecher oder ein Verräter war – eine gebrandmarkte, rituell für unrein erklärte Person, die gemieden werden sollte, vor allem auf öffentlichen Plätzen“ (S. 9). Hohmeier (1975) erläutert, dass „wahrscheinlich unter gewissen Bedingungen“ jedes objektive Merkmal zu einen Stigma werden kann: Ein Stigma ist danach der Sonderfall eines sozialen Vorurteils gegenüber bestimmten Personen, durch das diesen negative Eigenschaften zugeschrieben werden [...] Für Stigmata ist nun charakteristisch, dass einmal das vorhandene Merkmal in bestimmter negativer Weise definiert wird und dass zum anderen über das Merkmal hinaus dem Merkmalsträger weitere ebenfalls negative Eigenschaften zugeschrieben werden, die mit dem tatsächlich gegebenen Merkmal objektiv nichts zu tun haben. Die Wahrnehmung des Merkmals ist dann mit Vermutungen über andere vorwiegend unvorteilhafte Eigenschaften der Person gekoppelt. Es findet eine Übertragung von einem Merkmal auf die gesamte Person, von den durch das Merkmal betroffenen Rollen auf andere Rollen der Person, den tatsächlich eingenommenen wie den potentiell einzunehmenden, statt. (S. 7) Von Goffman (1994) wiederum werden drei verschiedene Arten von Stigmata erwähnt: „Erstens gibt es Abscheulichkeiten des Körpers – die verschiedenen physischen Deformationen. Als nächstes gibt es individuelle Charakterfehler [...] Schließlich gibt es die phylogenetischen Stigmata von Rasse, Nation und Religion“ (S. 12). Das Zusammenwirken von Stigma und Gesellschaft bringt Hohmeier (1975) sehr deutlich auf den Punkt: Auch wenn man davon ausgehen kann, dass es stigmatisierte Gruppen wahrscheinlich in allen Gesellschaften gibt, so dürften doch ihre Zahl sowie die Stärke der Stigmatisierung nicht zuletzt von der Gesellschaftsstruktur abhängen. Es ist anzunehmen, dass Stigmatisierungen besonders häufig und ausgeprägt in Gesellschaften auftreten, die entweder auf den Prinzipien der individuellen Leistung und Konkurrenz beruhen oder in denen starke Spannungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen bestehen. (S. 10) 45 Die Bedrohlichkeit des Stigmatisierten besteht ferner darin, dass dem „Normalen“ das Instrumentarium fehlt, mit dessen „Anderssein“ kognitiv, emotional und instrumental fertig zu werden. Er greift dann häufig zu Identitätsstrategien wie Ablehnung, Interaktionsvermeidung und soziale Isolierung, um sein bedrohtes seelisches Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. (S. 11) 5.2 SCHAM Die Scham ist sogar heute im freizügigen, aufgeklärten und globalisierten 21. Jahrhundert ein Tabuthema. Sie ist allgegenwärtig, wird aber versteckt und auch mit allen Mitteln abgewehrt. Sie tritt mit vielen Gesichtern und in allen Bevölkerungsschichten auf. Die Abwehr kann auch erfolgen durch Angreifmechanismen wie Perfektionismus, Verachtung, Schamlosigkeit, Zynismus, Arroganz, Beschämung und Suchtverhalten (vgl. Marks, 2007). In seinem Buch Der kleine Prinz beschreibt Antoine de Saint-Exupéry (1990) diesen Teufelskreis aus Sucht und Scham: „Was machst du da?“ fragte er den Säufer, den er stumm vor einer Reihe leerer und einer Reihe voller Flaschen sitzend antraf. „Ich trinke“, antwortete der Säufer mit düsterer Miene. „Warum trinkst du?“ fragte ihn der kleine Prinz. „Um zu vergessen“ antwortete der Säufer. „Um was zu vergessen?“ erkundigte sich der kleine Prinz, der ihn schon bedauerte. „Um zu vergessen, daß ich mich schäme“, gestand der Säufer und senkte den Kopf. „Weshalb schämst du dich?“ fragte der kleine Prinz, der den Wunsch hatte, ihm zu helfen. „Weil ich saufe!“ endete der Säufer und verschloß sich endgültig in sein Schweigen. (S. 42f) Diebitz (2005) hat sich ebenfalls mit dem Thema der Scham auseinandergesetzt und er findet: „Die Scham ist besonders geeignet, das Besondere des Menschseins aufscheinen zu lassen, weil in ihr die Seele aufleuchtet“ (S. 23). Das Wort „Scham“ stammt „von einer alten germanischen Wurzel skam/skem (althochdeutsch scama, angelsächsisch skamu) und hat die Bedeutung ‚Schamgefühl, Beschämung, Schande‘. Es geht zurück auf die indogermanische Wurzel kam/ken: ‚zudecken, verschleiern, verbergen‘“ (Kluge, 1975, zitiert nach Wurmser, 1990, S. 42). 46 Steger (1997) erklärt, dass es im Griechischen zwei Begriffe gibt, die dem deutschen Wort „Scham“ entsprechen, das sind aidos und aischyne. Aidos präsentiert sich in verschiedenen Bedeutungsfeldern. Aidos tritt uns in concreto als erlebter psychischer Erfahrungsinhalt, eingebettet in komplexe Bewusstseinslagen, entgegen und meint entweder eine Furcht-Scham vor etwas und jemandem oder ein tief inneres Gefühl der Scheu, ‚nicht die speziell religiös-magische Scheu‘, die ‚sebas‘ heißt, sondern ‚jede Art von Ehrfurcht‘, die man den Göttern, wie auch den Älteren, Eltern, Alten und Vorgesetzten, aber auch den Armen, Kranken, Kindern, Frauen, Freunden und sich selbst gegenüber hat oder haben sollte. Der Referenzgegenstand von aidos kann auch folgende begrifflich identifizierbare Bedeutung haben. Schande, Schmach, Genitalien, Achtung, Ansehen, Dignität, Ehre, Geltung, Respekt, Würde, eine Gottheit. Aischyne bezeichnet zum einen das, dessen man sich zu schämen hat. Das kann eine Handlung sein [...], eine Person [...], eine Gesinnung […] Zum anderen kann dieses Wort auch ein Ehr-, ein Ehrfurchts- oder ein Furchtgefühl ausdrücken, also alle Bedeutungen von aidos außer die von ‚Genitalien‘ annehmen. (vgl. Steger, S. 58) Aidos wird als Ehr- und Ehrfurchtsgefühl entsprechend dem Moralkodex wahrgenommen oder als Furcht-Scham, wenn man die „ehrfürchtige Achtung“ der Mitbürger verloren hat oder wenn sie entzogen wird. Steger (1997) führt weiter aus, dass Aidos auch ein Inferioritätsgefühl beinhaltet, wenn man durch den Entzug der ehrfürchtigen Achtung auch „wert- und würdelos“ erscheint (S. 64). Wenn es also bei den Griechen hauptsächlich um die Ehre und um den guten Ruf geht, so erhält bei den Christen im Neuen Testament die Scham „die Funktion, als religiöser Verhältnisbegriff eine gestörte Beziehung zum mitmenschlichen Partner und zu Gott zu markieren“ (vgl. Steger, S. 70). Und hier wird die Bedrohung sehr viel stärker wahrgenommen: „Denn einer, der öffentlich beschämt dasteht, weil direkt oder indirekt das göttliche Gerichtswirken über ihn ergangen ist, ein solcher ist nicht nur ohne Ehre, er ist ohne Zukunft, er ist ein ‚Nichts‘“ (Steger, 1997, S. 71). Und Briegleb (2009) erläutert noch genauer die Herkunft dieses christlichen Schamempfindens aus der Geschichte vom Sündenfall: „Die verbotene Frucht, der Apfel der Erkenntnis, befreit den Menschen aus seiner Monotonie gläubigen Glücks und zwingt ihn, mit dem Stachel der Scham im Fleisch sein Leben selbst in die Hand zu nehmen“ (S. 20). Im 20. Jahrhundert finden wir den Begriff Scham in Meyers Neuem Lexikon (1980) folgendermaßen definiert: Scham, anerzogene menschl. Unlustreaktion (sog. Schamgefühl), die sich häufig auf die Verletzung der Intimsphäre bezieht, daneben aber auch andere soziale Bereiche (Ansehen bzw. Geltung, Erfolg usw.) betreffen kann. Grundlage der Scham ist das Bewußtsein, durch bestimmte Handlungen oder Äußerungen sozialen Erwartungen nicht entsprochen 47 bzw. gegen wichtige Normen oder Wertvorstellungen dieses Bereichs verstoßen zu haben. Scham kann sich durch Senken des Blicks, Erröten, Herzklopfen u. ä. äußern. (S. 110) 5.2.1 Formen von Scham Leon Wurmser (1990) definiert drei Formen von Scham: Schamangst. Scham ist eine spezifische Form von Angst, die durch die drohende Gefahr der Bloßstellung, Demütigung und Zurückweisung hervorgerufen wird. Schamangst ist, wie alle Angst, doppelter Natur. Entweder ist sie eine Antwort auf das überwältigende Trauma der schon erfahrenen Hilflosigkeit […] oder die Erniedrigung […] (vgl. S. 74). Der eigentliche Schamaffekt. Wenn die Bloßstellung und Demütigung, das Zeigen von Schwäche, schon geschehen ist, entweder in milder oder in traumatischer Form, folgt gewöhnlich ein sehr viel komplexeres affektives und kognitives Reaktionsmuster als bloße Schamangst [….] Aber es hat auch Selbstverachtung zur Folge sowie Versuche, die erlittene Schande irgendwie wiedergutzumachen, um sowohl den Makel auszulöschen als auch weitere Erniedrigung […] zu verhindern (vgl. S. 75). Schamhaftigkeit. Scham könnte eine allgemeine Haltung [sic] von Schüchternheit genannt werden, ein Vermeiden von Situationen und Handlungen, die Demütigung mit sich bringen würden [….] (vgl. S. 75) Der Inhalt des Schamaffekts – das, weswegen man sich schämt – gruppiert sich nach Ansicht von Wurmser (1990) um verschiedene Themen: 1.)„Ich bin schwach, ich versage in Rivalitätssituationen“; 2.) „Ich bin dreckig, schmutzig, der Gehalt (content) meines Selbst wird mit Verachtung und Ekel angeschaut“; 3.) „Ich habe einen Defekt, ich bin in physischer und geistiger Ausstattung zu kurz gekommen“; 4.) „Ich habe über meine Körperfunktionen und meine Gefühle die Kontrolle verloren“; 5.) „Ich werde sexuell erregt durch Leiden, Erniedrigung und Schmerz“; 6.) Wahrnehmen und Zeigen sind gefährliche Aktivitäten und können bestraft werden. Verachtung ist ein sehr wichtiger Teil des Schamaffekts. (Wurmser, 1990, vgl. S. 40) Marks (2007) hingegen unterscheidet sechs Formen von Scham: Die Anpassungsscham: sie bezieht sich auf die eigene Person und die Schamgefühle werden ausgelöst, weil man den herrschenden Erwartungen und Normen nicht entspricht. Die Gruppenscham (oder „fremdschämen“): sie bezieht sich auf andere Personen, wenn man sich für ein Familienmitglied, die eigene ethnische Gruppe oder die Nation schämt. Die mitgefühlte oder empathische Scham: sie bezieht sich auch auf andere Personen. Wir fühlen mit, wenn wir Zeuge der Beschämung von Mitmenschen werden. Die Intimitätsscham oder Schamhaftigkeit: sie hat die Aufgabe, die eigene Privatsphäre gegenüber anderen zu schützen. 48 Die traumatische Scham: wenn die Privatsphäre durch andere Menschen in traumatischer Weise verletzt wurde. Die Gewissens-Scham: die Gefühle eines Täters, der sich für sein Handeln schämt (vgl. Marks, 2007, S. 13f). 5.2.2 Ursachen von Scham Fossum und Mason versuchten die Ursachen von Scham vor allem in Familien herauszufinden. Sie fanden verschiedene Auslöser (vgl. Fossum & Mason, 1992, S. 66-75): Äußere oder traumatische Scham. „Externe oder traumatische Scham stellt sich ein, wenn der Körper, die Gedanken oder Gefühle eines Menschen in einer Weise verletzt werden, dass er oder sie sich wie ein Objekt oder Ding fühlt und in der Folge auch so behandelt wird“ (S. 66). Vererbte, generationsübergreifende Scham. „Wenn Geschichten vererbter Scham ans Licht kommen, stößt man auf Armut infolge von Bankrott, Selbstmorde, Todesfälle und Unfälle von Kindern, an denen sich die Eltern schuldig fühlen, oder um Geheimnisse um Schwangerschaften, Geburten und Adoptionen. Die Regeln des schamdominierten Systems bringen mehrere Generationen hervor, die ihre Affekte verdrängen […] (S. 72). Aufrechterhaltene Scham. „Mitglieder schamdominierter Familien finden Mittel und Wege, die Scham zu verewigen, um ihr ihren Platz im System zu sichern“ (S. 75). 5.2.3 Erleben von Scham Scham wird natürlich unterschiedlich erlebt, je nach Inhalt des Schamaffekts und je nach eigenem Temperament und je nach Schamauslösern. Wir empfinden uns aber „als unfähig, unzulänglich, minderwertig, hilflos, schwach, machtlos, wertlos, lächerlich, gedemütigt oder gekränkt“ (vgl. Marks, 2007, S. 37). Auch Wurmser (1990) beschreibt die Scham als einen „affektiven Zustand, entweder kurzlebig oder anhaltend“ (S. 72). Ein Aspekt dabei ist auch die „plötzliche Bloßstellung, und zwar eine Bloßstellung, die die Diskrepanz zwischen Erwartung und Versagen abrupt an den Tag bringt“ (S. 77). Es werden daraufhin verschiedene Reaktionen gewählt (Marks, 2007): „einfrierende“ Reaktionen und Versteck-Impulse: wir erstarren und verharren im Schmerz [….] Wir wollen im Boden versinken, uns verbergen oder verstecken. Flucht-Impulse: Wir verlassen fluchtartig die Scham auslösende Situation, laufen weg. Kampf-Reaktionen: Wir ärgern uns über uns selbst, werden wütend, aggressiv oder überheblich (vgl. Marks, S. 37). 49 Fossum & Mason (1992) haben den Begriff der „Reißverschlußmetapher“ geprägt, der beschreibt, wie die „Grenze oder der Schutzschirm, der das Selbst umgibt, reguliert wird“ (vgl. S. 99). Sie unterscheiden den „äußeren Reißverschluß (Scham)“ und den „inneren Reißverschluß (Selbstachtung)“. Kinder oder Menschen, die in einem „schamdominierten System aufwachsen, werden mit unklaren Grenzen groß, ihr Reißverschluß ist außen; sie meinen, dass sie tatsächlich von anderen, von der Außenwelt gesteuert werden“ (vgl. Fossum & Mason, S.101). Sie sind „den Schikanen anderer ausgesetzt, die jederzeit an sie herantreten und ihren Reißverschluß aufmachen können, sie überrumpeln und ihnen ihr ‚Zeug‘ nehmen“ (ebd.). Der innere Reißverschluß hingegen ist „ein Regulativ für die eigenen Grenzen, für die Selbstachtung und Integrität der Persönlichkeit. Indem Sie den inneren Reißverschluß behutsam regulieren, können Sie, soweit dies möglich ist, Ihren Wertvorstellungen treu bleiben und verantwortlich handeln“ (vgl. Fossum & Mason, S. l10). 5.2.4 Scham und Gesellschaft „In einem wohlgeordneten Land kein Einkommen zu haben, oder in einem ungeordneten Land Einkommen zu haben, das ist Schande“ (Konfuzius, zitiert nach Wurmser, 1994, S. 88). Diese Aussage beschreibt sehr treffend den Stellenwert von Scham und Schande in der Gesellschaft und es hat sich daran seit Jahrhunderten nichts geändert. Briegleb (2009) erläutert, dass der Mensch immer brillantere Methoden der Umlenkung und Maskierung der Scham ersonnen hat, um „dieses belastende Gefühl zu vermeiden, zu verbergen, zu regulieren oder nach dem Desaster der Beschämung zurück in ein Gleichgewicht zu finden – sei es ein seelisches oder staatliches Gleichgewicht“ (S. 9). Bastian (1998) spricht von Scham als dem „Aschenputtel unter den Gefühlen“ (S. 9). Aber in der gesellschaftlichen Umgebung ist, wie Wurmser (1994) richtig feststellt, „Schuld die Furcht vor innerer Verurteilung, und Scham die vor äußerer Verurteilung“ (vgl. S. 25). Und gerade deshalb ist „Scham im weiteren Sinne selbstbezogen, Schuld ist objektbezogen“ (vgl. S. 40). Verstößt jemand gegen die moralischen Regeln der Gesellschaft, „reagiert diese mit den Waffen von Schmach und Schande, um ihm gegenüber ihren sehr viel höheren Wert zu demonstrieren“ (Neckel, 1991, S. 61). Aber nicht nur der Verstoß gegen moralische Regeln führt zur Ausgrenzung und zur Beschämung. Auch „soziale Schwäche, ganz gleich, ob diese in Armut, Abhängigkeit von anderen, besonders 50 als Annahme von Almosen, oder im Ruf eines Verlierers besteht“ (Wurmser, 1990, S. 46) gilt als beschämend. „Ganz besonders Armut hat schon seit der Antike als Schande gegolten“ (ebd.). 5.2.5 Abwehr von Scham Wurmser (1990) und Marks (2007) definieren unzählige Abwehrmechanismen von Scham. Bei Wurmser werden drei Symptome als besonders wichtig im Kampf gegen Scham angesehen: „Depersonalisation, Mangel an Verständlichkeit und Schamlosigkeit“ (Wurmser, S. 335). Die Abwehrmechanismen bei Marks (2007) reichen vom Verstecken hinter einer Maske, über „sich einigeln“ bis zur emotionalen Erstarrung bzw. zur Verwandlung in einen Eisblock. Des weiteren wird die Scham durch Projektion abgewehrt. Hier werden Eigenschaften auf eine andere Person oder Gruppe projiziert, um sich selbst zu entlasten. Angriff durch Beschämen ist eine weitere Abwehrform, wodurch andere erniedrigt, gedemütigt und verspottet werden. Verachtung, Zynismus, Negativismus und Schamlosigkeit sind ebenfalls bekannte Abwehrmethoden, um die Scham von sich abzulenken. Manche fliehen auch in Größenphantasien, Idealisierung, Suchtverhalten oder ins Gegenteil, in den Perfektionismus (vgl. Marks, 2007, S. 71-100). Im Zeitalter des Internets und der Informationsüberflutung führt die Scham entweder zum vermehrten Rückzug oder es werden alle Abwehrstrategien eingesetzt, um sich nicht der Scham auszusetzen. Das Hochschwappen des Aggressionspegels bei Jugendlichen ist sicher auch eine Reaktion auf beschämende Ereignisse. „Ab dem 13. Jahrhundert war der Pranger oder Schandpfahl weit verbreitet. Ein Verurteilter wurde gefesselt und öffentlich zur Schau gestellt. der Verurteilte musste die öffentliche Schande und die Schmähungen durch die Zuschauer erdulden. Nach einem solchen massiven Ehrverlust war ein normales Weiterleiben in der Gemeinschaft erschwert oder unmöglich gemacht“ (Marks, S. 81). Heutzutage ist der Pranger das Herumzeigen von peinlichen Videos oder aber auch die Bekanntmachung des Privatkonkurses auf der Homepage des Bezirksgerichtes, die öffentlich zugänglich ist. 51 6. STUDIE 6.1 EINFÜHRUNG Seit Beginn meiner ehrenamtlichen Tätigkeit in der Zweiten Sparkasse hat mich das Thema der Scham in Verbindung mit der Zweiten Sparkasse und dem Privatkonkurs berührt und nicht mehr losgelassen. Ich entschied mich, diesen Themenkreis für meine Diplomarbeit aufzugreifen und stand demnach auch vor der Entscheidung, welche Methode ich für meine Studie anwenden sollte. Es wurde mir sehr schnell klar, dass es aufgrund des sehr sensiblen Themas nur eine qualitative Methode sein konnte. Um wirkliche, offene Antworten zu erhalten, musste eine Erhebungsmethode und Erhebungssituation geschaffen werden, in der sich der Kunde wohl fühlt und frei antworten kann. Daher kam für mich nur mehr das problemzentrierte Interview in Frage. Ich begann aus den Kunden der Zweiten Sparkasse, die ich in meiner ehrenamtlichen Tätigkeit kennenlernen durfte, eine Stichprobe herauszufiltern, die dem Kundenspektrum der Zweiten Sparkasse entsprach. Da der Großteil der Kunden zwischen 31 und 50 Jahre alt war (60,6%, interne Kundenanalyse Zweite Sparkasse vom 30.9.2010), lag das Hauptaugenmerk bei den Interviewpartnern auf dieser Kundengruppe. Wie schwierig es aber oft war, einen terminlich bereits fixierten Interviewtermin wirklich zu erhalten und das Interview auch durchzuführen, kann man am sogenannten „Zwischenstand“ meines Interviewtagebuches ersehen: „Ich habe inzwischen fünf Terminvereinbarungen getroffen, vereinbarte Termine in neutraler Umgebung. Zwei Interviewpartner sind tatsächlich erschienen, zwei haben das Interview abgesagt und eine Person (heute) ist weder erschienen noch telefonisch erreichbar. Ich habe es mir leichter vorgestellt“ (eigene Aufzeichnungen v. 29.3.2010). Insgesamt konnte ich aber schließlich vierzehn Interviews führen, die zum Teil sehr umfangreich waren und ich bin sehr dankbar, dass diese vierzehn Kunden mir ihr Vertrauen und ihre Zeit geschenkt haben. 52 6.2 STRUKTUR Um die Struktur der Stichprobe darstellen zu können, wurden am Anfang des Interviews auch einige persönliche Daten abgefragt. Aufschlüsselung nach Geschlecht weiblich männlich 35,7% 64,3% Abbildung 4 Die Interviewpartner waren zu 64,3% männlich und 35,7% weiblich (siehe Abbildung 4). Die Kunden der Zweiten Sparkasse waren laut interner Statistik ebenfalls zu 65,5% männlich und 34,5% weiblich. (interne Statistik Zweite Sparkasse v. 30.9.2010) Beim Erstkontakt bei der Schuldnerberatung wurden 59% Männer und 41% Frauen erfasst. (vgl. Schuldenreport 2010) Die Zuordnung zur Nationalität der Befragten betrug 13 österreichische Staatsbürger, davon zwei mit Migrationshintergrund und einem Staatsbürger aus einem EU-Ausland (siehe Abbildung 5). Die Kunden der Zweiten Sparkasse waren zu 88,4% Österreicher und zu 11,6% aus verschiedenen anderen europäischen Ländern. (interne Statistik Zweite Sparkasse v. 30.9.2010) 53 Aufschlüsselung nach Nationalität 7% EU-Ausländer 21% Österreicher Österreicher mit Migrationshintergrund 72% Abbildung 5 Die Schuldenhöhe der befragten Personen (siehe Abbildung 6) repräsentierte mit 64,9% den Durchschnitt der Schuldenhöhe aller Schuldner in Österreich. (Laut Schuldenreport 2010 beträgt der Prozentsatz der Schuldner bis 50.000 Euro 61,8%). Schuldenhöhe in t und € 7 6 5 4 Anzahl n = 14 3 2 1 0 20 bis 39,99 40 bis 59,99 60 bis 79,99 80 bis 99,99 über 100 Abbildung 6 54 Das Alter der Interviewpartner war im Unterschied zum Schuldenreport 2010 eher im mittleren Segment von 30 bis 49 Jahren angesiedelt (siehe Abbildung 7). Dieses Segment ist in der Stichprobe daher überproportional vertreten. Die Bereitwilligkeit zum Interview war im Randsegment bis 29 Jahre und ab 51 Jahre leider nicht sehr stark gegeben. Alter der Kunden 7% 7% 7% 36% 20 - 29 30 - 39 40 - 49 43% 50 - 59 über 60 Abbildung 7 aktueller Familienstand 6 5 4 3 2 1 Anzahl n = 14 Partnerschaft Anzahl n = 14 ledig geschieden verheiratet 0 Abbildung 8 Zum Zeitpunkt der Befragung gaben sechs Interviewpartner ihren Familienstand als geschieden an, vier Personen waren verheiratet, drei Personen ledig und eine Person lebte in Partnerschaft (siehe Abbildung 8). 55 6. 3 METHODENFESTSTELLUNG Wichtig für die Interviewdurchführung ist die Offenheit, erklärt schon Mayring (2002). Man soll natürlich auch überprüfen können, ob man von den Interviewpartnern unter anderem überhaupt verstanden wurde. „Der Interviewte sollte sich ernst genommen und nicht ausgehorcht fühlen“ (S. 69). Ich versuchte eine Vertrauensbeziehung zwischen mir und dem jeweiligen Interviewpartner aufzubauen, indem ich schon vorher beim so genannten „Erstgespräch“ in der Zweiten Sparkasse den Kunden höflich fragte, ob er sich für ein Interview zur Verfügung stellen wolle. Gleichzeitig hielt ich mich auch an die Grundgedanken von Mayring (2002): Das ‚Problemzentrierte Interview‘ wählt den sprachlichen Zugang, um seine Fragestellung auf dem Hintergrund subjektiver Bedeutungen, vom Subjekt selbst formuliert, zu eruieren. Dazu soll eine Vertrauenssituation zwischen Interviewer und Interviewten entstehen. Die Forschung setzt an konkreten gesellschaftlichen Problemen an, deren objektive Seite vorher analysiert wird. Die Interviewten werden zwar durch den Interviewleitfaden auf bestimmte Fragestellungen hingelenkt, sollen aber offen, ohne Antwortvorgaben, darauf reagieren. (S. 69) Ich erstellte also einen Interviewleitfaden (Anlage 1), aber nach dem ersten Probeinterview wurde mir bewusst, dass auch spontane „Ad-hoc-Fragen“ (vgl. Mayring, 2002, S. 70) unumgänglich waren. Zusätzlich wurde manchmal auch zugelassen, dass der Kunde narrativ etwas darlegen konnte, wenn es zum Thema passte. Außerdem stand nach dem ersten Interview außer Zweifel, dass es notwendig war, die Erhebungssituation frei von Störvariablen (Geräusche usw.) zu halten (vgl. Trimmel, 1994). Deswegen wurden alle Interviews in den Räumlichkeiten der Zweiten Sparkasse abgehalten. Die zuerst angedachte „teilnehmende Beobachtung“ (vgl. Mayring, 2002) wurde von mir wieder verworfen, obwohl die Beobachtung der Alltagssituation der Kunden sehr interessant gewesen wäre. Ob die Interviewpartner aber in familiärer Umgebung dieselben Aussagen getätigt hätten, wage ich zu bezweifeln. Dem Kunden wurde auch eine „Einwilligungserklärung“ (vgl. Helfferich, 2004, S. 177) über das Vorgehen beim Interview, die Transkription, die Auswertung und bezüglich Anonymisierung vorgelegt. Diese wurde ausnahmslos von allen unterschrieben und damit erklärten sich die Interviewten mit den Bedingungen einverstanden (genauer Wortlaut der Einwilligungserklärung siehe Anlage 5). Es wurden auch „Interviewprotokollbogen“ (vgl. Helfferich, S. 175) nach dem Interview vom Interviewer ausgefüllt. Vor allem, um besondere Vorkommnisse bei Kontaktierung oder im Interview oder sonstige zusätzliche Informationen sofort festzuhalten. 56 Als einziger Interviewer konnte von mir keine „Abstinenz“ (vgl. Helfferich, S. 87) in der Interviewsituation eingehalten werden, „nonverbale Gesprächssignale und parasprachliche Signale“ (ebd.) wurden von mir genauso ausgesandt wie vom interviewten Kunden. Das Interview wurde mit einem digitalem Diktiergerät mitgeschnitten und anschließend wörtlich transkribiert, um die Basis für eine ausführliche Auswertung zu erhalten. Prinzipiell stehen laut Mayring (2002) bei der wörtlichen Transkription drei Techniken zur Verfügung: Das Internationale Phonetische Alphabet, um alle Dialekt- und Sprachfärbungen wiederzugeben; Die literarische Umschrift, die auch Dialekt im gebräuchlichen Alphabet wiedergibt; Die Übertragung in normales Schriftdeutsch. (S. 91) Bei dieser Studie wurde die dritte Variante, die Übertragung in normales Schriftdeutsch gewählt, wobei einige Kärntner Mundartausdrücke mit Hilfe des „Kleinen Kärntner Wörterbuches“ übersetzt wurden. Das Transkript umfasste fast keine Änderungen hinsichtlich Paraphrasierung und wurde sehr oft auch nicht grammatikalisch geglättet, um bei Lesen auch etwas von der Gefühlslage bzw. auch von der Sprachkultur des Interviewten aufrecht zu erhalten. Außerdem wurde vielfach eine „kommentierte Transkription“ (Mayring, 2002) verwendet, um kürzere Pausen (..) oder längere Pausen (…) oder lange Pausen (Pause) in die Transkription einzufügen. Es wurde auch eine „Charakterisierung von nichtsprachlichen Vorgängen bzw. Sprechweise, Tonfall“ (Mayring, S. 91) zum Beispiel: (Lachen; leise Stimme) als zusätzliche Beschreibung eingebaut. Für die Auswertung der Interviews wurde die Methode der qualitativen Inhaltsanalyse gewählt, da „ein besonderer Vorteil inhaltsanalytischen Vorgehens im Vergleich zu anderen Textanalyseansätzen die kommunikationswissenschaftliche Verankerung“ ist. „Das Material wird immer in seinem Kommunikationszusammenhang verstanden“ (Mayring, 2008, S. 42). 57 6.4 QUALITATIVE INHALTSANALYSE Mayring (2002) beschreibt den Grundgedanken folgendermaßen: „Qualitative Inhaltsanalyse will Texte systematisch analysieren, indem sie das Material schrittweise mit theoriegeleitet [sic] am Material entwickelten Kategoriensystemen bearbeitet“ (S. 114). Das Ablaufmodell induktiver Kategorienbildung nach Mayring (2002) zeigt uns die einzelnen Schritte (siehe Abbildung 9) von der Fragestellung und dem Gegenstand der Analyse bis zur Interpretation und Auswertung (S. 116): Gegenstand der Analyse Fragestellung, Theorie Festlegung eines Selektionskriteriums, Kategoriendefinition Zellenweiser Materialdurchgang: Kategoriendefinition Subsumption oder neue Kategorienformulierung Revision der Kategorien nach 10 – 50% des Materials Endgültiger Materialdurchgang Interpretation, Auswertung Abbildung 9 Nachdem im Zentrum der Analyse immer das Kategoriensystem steht, wurden diese Kategorien in einem „Wechselverhältnis zwischen der Theorie (der Fragestellung) und dem konkreten Mate58 rial entwickelt, durch Konstruktions- und Zuordnungsregeln definiert und während der Analyse überarbeitet und rücküberprüft“ (Mayring, 2008, S. 53). Als Analyseeinheit wurde im ersten Durchgang der erste Kunde und im zweiten Durchgang zwei weitere Kunden und im dritten Durchgang das gesamt Material gewählt. Die einzelnen Analyseeinheiten wurden laut Mayring (2008) festgelegt in eine Kodiereinheit (Satz), eine Kontexteinheit (größter Textbestandteil) und eine Auswertungseinheit (das gesamte Interview eines Kunden). Es wurden vorerst 21 Kategorien festgelegt: Geldmanagement, finanzielle Belastungen durch Familie und Dritte, physische Beschwerden, psychische Beschwerden, sozialer Kontakt, Familienzusammenhalt, Kinder sind betroffen, Stigmatisierung, Scham, Idealisierung, Angst/Zukunftsangst, Selbstverantwortung, Suchtverhalten, Identität, Freude, Eigeninitiative, Verheimlichung, Arbeitslosigkeit, Verdrängung, Selbsteinschätzung und Lebensqualität. Nach dem zweiten bzw. nach dem dritten Durchlauf wurde das Kategoriensystem lt. Modell (s. o.) auf 14 Kategorien subsumiert. Als Variablen wurden verwendet: von V1(Variable 1) bis V14: Geldmanagement (V1), finanzielle Belastungen durch Familie und Dritte (V2), körperliche Beschwerden (V3), psychische Beschwerden (V4), sozialer Kontakt: Familie und Freunde (V5), Einschränkungen auch bei Kindern (V6), Stigmatisierung: eigene Stigmatisierung und Stigmatisierung der Familie (V7), Schamgefühle bezüglich Schulden (V8), Angst/Zukunftsangst (V9), Selbstverantwortung und Eigeninitiative (V10), eigenes Suchtverhalten oder beim Partner (V11), Selbstwert/Identität als geschäftsfähiger Mensch (V12); Bagatellisierung bzw. Verheimlichung der Schulden (V13) und Einschätzung der Lebensqualität (V14). Es wurden auch verschiedene Ausprägungen als Untergruppierung ( bei Variable V1 Geldmanagement wurde K1 [ Kategorie 1] bis K5) gewählt, um die Struktur etwas überschaubarer zu gestalten. Nach der Analyse wurden aufgrund der vorliegenden Kategorien und auf Grundlage der Interviewtranskripte die Ankerbeispiele aus dem Text gefiltert. Der Status der Kunden war verschieden, sieben Personen (50%) befanden sich seit einem Jahr im Schuldenregulierungsverfahren, zwei Personen (14,2%) standen erst am Beginn des Privatkonkurses und für fünf Personen (35,7%) war die Privatinsolvenz schon länger als zwei Jahre Realität. Die Variablen bezogen sich also auf die Äußerungen der Kunden der Zweiten Sparkasse in ihrem jeweils aktuellen Status der Schuldenregulierung bzw. reflektierten die Erinnerungen an die Zeit „davor“. Die Auswertung und Kodierung bezog sich rein auf die im Interview geäußerten und transkribierten Aussagen. 59 Bei einigen Ausprägungen, vor allem bei Kategorie 1 der jeweiligen Variable, fanden keine Äußerungen statt, deswegen waren hier auch keine Ankerbeispiele möglich. Ansonsten wurde je Kategorie ein „Ankerbeispiel“ aus den Interviews zitiert. Kodierregeln (Mayring, 2008) waren nur einmal zur klaren Abgrenzung und Definition notwendig (V8, K3). Ansonsten wurde darauf verzichtet. 6.4.1 Induktive Kategorienbildung Variable V1: Geldmanagement Ausprägung Definition Ankerbeispiel K1: klar überschaubar Kommt mit Gehalt sehr gut aus, kann auch etwas ansparen K2: Überschaubar Kommt gut zurecht „[…] wenn da ein bisschen zu wenig oben war, […] haben sie es auch abgebucht, nicht einmal da war ein Problem“ (KD7, Z. 56). K3: wenig überschaubar Kommt recht und schlecht über die Runden „ […] jetzt habe ich drei oder vier Jahre zurückgezahlt, da ist überhaupt nichts heruntergegangen“ [von der Kreditsumme] (KD3, Z. 28). K4: nicht überschaubar Kommt nicht mehr über die Runden „Vom Lohn ist nichts mehr geblieben, immer Minus, es haben wir [sic] nicht mehr geschafft“ (KD1, Z. 16). Kodierregel 60 Variable Ausprägung Definition Ankerbeispiel V1: Geldmanagement K5: Chaos Kunde hat überhaupt keine Übersicht mehr „[…] und irgendwann ist dann der Überblick komplett weg“ (KD14, Z. 130) V2: K1: keine Belastung Kunde ist nur für sich selbst verantwortlich „Die Kredite […] habe ich aufgenommen zwecks den Zähnen, dann Wohnungen […]“ (KD 8, Z. 28) K2: geringe Belastung Kunde betont Geringfügigkeit der Belastung „[…] wenn sie gearbeitet hat, dann war das ihr Geld und wenn ich gearbeitet habe, das war dann unser Geld“ (KD2, Z. 144) K3: hohe Belastung Hohe zusätzliche Zahlungen müssen geleistet werden „[…]da waren eine zehnköpfige Familie, die wir unterstützen haben müssen [sic]“ [Familie des Mannes] (KD1. Z. 27) K4: extrem hohe Belastung Außerordentlich hohe zusätzliche Zahlungen müssen geleistet werden. [beim Ex-Partner ] „[…] ich habe ihm bei 40.000 oder 45.000 Euro unterschrieben […] und nachher irgendwann bin ich nicht mehr zurecht gekommen“ (KD11, Z. 16) K1: keine Beschwerden Keinerlei körperliche Anzeichen werden genannt K2: leichte Beschwerden Fieber; schlecht werden (eher psychosomatische Beschwerden) „[…] ich habe schon einmal Fieber bekommen..mir war einmal wirklich total schlecht, wie ich da hineingegangen bin… (Pause)“ [bei der Schuldnerberatung] (KD1, Z. 77) K3: schwerwiegende Krankheiten bzw. Unfall Bandscheibenvorfall, Herzinfarkt, Unfall „[…] ich denke auch sehr viel an den Tod […] ich habe da meine Hand verletzt […]“ (KD10, Z. 102) Finanzielle Belastungen durch Familie und Dritte V3: Körperliche Beschwerden Kodierregel 61 Variable V4: Psychische Auswirkungen V5: Sozialer Kontakt: Freunde und Familie V6: Einschränkungen auch bei den Kindern Ausprägung Definition Ankerbeispiel K1: keine Auswirkung Keine Anzeichen K2: leichte Auswirkung Sich Sorgen machen; nicht schlafen können; verzweifelt sein; streiten; „[…] mache ich mir viel zu viele Sorgen (kurze Pause) und da gibt es eigentlich viele Streitereien daheim.“ (KD4, Z. 126) K3: schwere Auswirkung Suizidversuch; Depression; Scheidung; Trennung Gewalt in der Familie „[…] und da habe ich eigentlich schon an Selbstmord gedacht.“ (KD10, Z. 102) K1: soziale Kontakte bleiben weiterhin aufrecht Kunde hat viele Freunde und Bekannte; Familienzusammenhalt ist eng „[…] im Freundeskreis, da wo du dich drin bewegst, die wissen das […]“ (KD14, Z. 64) K2: Kontakte werden teilweise abgebrochen wenige Freunde und Bekannte „[…] man merkt schon, die Leute ziehen sich zurück, wenn man nichts mehr ist und nichts mehr hat.“ (KD10, Z. 38) K3: Kontakte werden ganz abgebrochen Fast kein Kontakt zu Freunden und im Familienverband „Es haben sich mehr oder weniger alle abgewendet (längere Pause), vor allem die Familie.“ (KD12, Z. 80) K1: nicht betroffen Kinder haben keine Nachteile „Meine Tochter hat einen Computer gebraucht, einen Laptop, habe ich gesagt: ja passt, drei Monate und dann hat sie ihn gehabt.“ (KD13, Z. 152) K2: Betroffen Kinder erleiden Nachteile „[…] weil bis jetzt haben wir immer vom Konto heruntergeholt von den Kindern (längere Pause), wenn wir etwas gebraucht haben.“ (KD2, Z. 187) Kodierregel 62 Variable V6: Einschränkungen auch bei den Kindern V7: Stigmatisierung: Eigene Stigmatisierung und Stigmatisierung der Familie V8: Schamgefühle bezüglich Schulden Ausprägung Definition Ankerbeispiel K3: stark betroffen Kinder erleiden Nachteile am eigenen Leib bzw. sind direkt stark betroffen „Obwohl die am meisten darunter gelitten haben […] Weil die haben auf vieles verzichten müssen, weil die Mutter alles ‚verzockt‘ [verspielt] hat.“ (KD9, Z. 138) K1: keine Stigmatisierung Keinerlei öffentliche und heimliche Stigmatisierung „[…] es ist heutzutage ein offenes Thema. Man redet einfach darüber und es ist einfach so.“ (KD14, Z. 62) K2: Verdeckt es wird nicht darüber geredet, aber der Kunde fühlt die Stigmatisierung: „[…] es ist einfach die Beziehung abgekühlt […] aber so, dass wir das freundschaftliche, das, was wir früher gepflegt haben, das gibt es nicht mehr[…] und dann immer wieder die Ausreden […] (KD12, Z. 80) K3: Offen Bekanntgabe ist öffentlich; keine Handyverträge; kein neues Konto möglich „[…] da steht alles drinnen vom Konkurs, da steht alles drinnen (längere Pause).das ist […] das was mich geschockt hat (längere Pause) das kann jeder lesen“. (KD2, Z. 221) K1: keine Scham Kunde ist sich keiner Schuld bewusst „Ich war eigentlich nicht in der Situation, dass ich mich geschämt hätte, dass ich Schulden habe, weil ich gewusst habe, es hat jeder Mensch Schulden.“ (KD13, Z. 72) K2: verdrängte Scham Kunde verdrängt seine Schamgefühle „[…] je weniger es wissen, umso lieber ist es dir selber“. (KD5, Z. 64) K3: verleugnete Scham Kunde verleugnet die Schamgefühle „Mein Gott (längere Pause) der eine hat einen Autounfall und ich habe eben das (kurze Pause) das war eben mein Schicksalsschlag, quasi.“ (KD6, Z. 54) Kodierregel Redet nicht direkt darüber oder umschreibt 63 Variable V8: Schamgefühle bezüglich Schulden V9: Angst/ Zukunftsangst V10: Selbstverantwortung und Eigeninitiative Ausprägung Definition Ankerbeispiel Kodierregel „[…] wenn ich meinen Betreuer gesehen habe, habe ich versucht, dass ich auf die andere Seite gehe, dass er mir nicht in die Augen schaut (kurze Pause) es war peinlich (längere Pause) und es ist mir immer noch peinlich.“ (KD1, Z. 43) K4: ausgesprochene Scham Kunde spricht offen über seine Scham K1: keine Angst Keine Angstgefühle vor/während oder nach der Konkurseröffnung K2: geringe Angst Geringe Zukunftsängste „Ich weiß heute ganz genau, zu dem und dem Datum zahle ich nichts mehr, sind die Schulden weg, und ich bin ein freier Mensch.“ (KD7, Z. 91) K3: große Angst Große Angst vor der Zukunft „So wie es im Moment ausschaut, man lebt (kurze Pause) und es kommen jeden Tag schwere Tage(längere Pause), wo man überlegt: so, heute habe ich das und was ist mit morgen?“ (KD1, Z. 91) K1: Vorhanden Wird vom Kunden selbst wahrgenommen „Wenn man Schulden hat, hat man Schulden, aus. Muss auch geradestehen dafür“ (Pause) (KD7, Z. 32) K2: Verantwortung wird abgeschoben Verantwortung für Schulden wird abgeschoben „[…] ich darf ja nicht dem Euro die Schuld geben, aber es ist schon alles anders wie früher […]“ (KD3, Z. 172) 64 Variable V11: eigenes Suchtverhalten oder beim Partner V12: Selbstwert/ Identität als geschäftsfähiger Mensch V13: Bagatellisierung bzw. Verheimlichung der Schulden Ausprägung Definition Ankerbeispiel K1: nicht vorhanden Kein erkennbares Suchtverhalten K2: Vorhanden Suchtverhalten ist zusätzlicher Erschwernisfaktor bei der Verschuldung „[…] meine Frau.[…].sie hat Kaufsucht […], da hat sie immer bestellt von Versandhäusern und so (kurze Pause) und das hat nie aufgehört.“ (KD4, Z. 16) K1: unabhängig vom Besitz eines Kontos und einer Bankomatkarte Kunde ist der Besitz einer Bankomatkarte nicht wichtig [Ohne Konto]: „Kein Problem, ich habe so viele Jahre lang kein Geld gehabt, das war mir eigentlich egal (längere Pause). Nein, ich habe echt kein Problem gehabt.“ (KD9, Z. 76) K2: teilweise abhängig vom Besitz einer Bankomatkarte Kunde fühlt sich im Besitze einer Bankomatkarte als „wertvoller“ „[…] das ist ganz ein anderes Gefühl, wenn man hört, man kriegt eine Kontokarte […]da ist mein Herz wieder leichter geworden.“ (leichtes Lachen). (KD4, Z. 106) K3: stark abhängig vom Besitz einer Bankomatkarte Selbstwert des Kunden ist stark an seine Karte gebunden [Ohne Konto und Bankomatkarte]: „[…] für mich ist es kein Leben (längere Pause)[…] eine Bankomatkarte ist das Um und Auf im Leben, kommt mir vor.“ (KD5, Z. 78) K1: keine Verheimlichung über Schulden wird offen geredet „[…] ich habe ja kein Problem damit gehabt, dass ich mich oute und sage: hej, ich habe Schulden, ich bin jetzt bei der Schuldnerberatung gewesen.“ (KD 13, Z. 72) Kodierregel 65 Variable V13: Bagatellisierung bzw. Verheimlichung der Schulden V14: Einschätzung der Lebensqualität Ausprägung Definition Ankerbeispiel K2: Bagatellisierung Schuldenthema wird bagatellisiert „[…] steht schon oben: Privatkonkurs. Aber steht oben: geringfügig […]“ (KD3, Z. 85) K3: Verheimlichung Schulden werden lange Zeit verheimlicht, auch innerhalb der Familie „[…] der größte Fehler war natürlich, dass ich es daheim nicht gesagt habe […] “(KD3, Z. 28) K1: gut Kunde fühlt sich derzeit wohl; teilweise ist Idealisierung vorhanden. „Ich lebe genauso schön wie früher, (längere Pause) ich meine […] mit ein bisserl mitdenken, aber das schadet nicht, das schadet überhaupt nicht.“ (KD11, Z. 123) K2: Mittelmäßig Kunde fühlt sich mittelmäßig gut. „Es geht so mittelmäßig, mittelmäßig, ich schaue wohl, dass immer alles pünktlich gezahlt wird.“ (KD1, Z. 83) K3: schlecht Kunde fühlt sich sehr eingeschränkt; geht schwer mit der derzeitigen Situation um „[…] es wäre mir lieber, wenn es nicht so wäre (Pause) [..] weil (längere Pause) weil es ist ein irrsinnig langer Prozess, bis man sich daran gewöhnt.“ (KD10, Z. 86) Kodierregel 6.4.2 Zusammenfassung Das Ziel der zusammenfassenden Analyse ist „das Material so zu reduzieren, dass die wesentlichen Inhalte erhalten bleiben“ und durch Abstraktion einen „überschaubaren Korpus“ zu schaffen, der immer noch ein „Abbild des Grundmaterials ist“ (vgl. Mayring, 2002, S. 115). Nachdem die wichtigsten Aussagen der vierzehn Interviews kategorisiert und kodiert worden waren, wurden sie zusammengefasst und quantitativ in einer Häufigkeitstabelle (siehe Anlage 2) ausgewertet. Die verschiedenen Variablen wurden mit ihren Ausprägungen pro Auswertungseinheit beurteilt. Zuerst wurde die Häufigkeit an sich beurteilt und dann aus Gründen der Fairness und Nachvollziehbarkeit dem ruhigen, kurz angebundenen Interviewpartner gleich viel Raum gegeben 66 wie dem Selbstdarsteller und Vielredner. Da es sich außerdem hauptsächlich um ein Thema handelte, von dem viele nicht so gerne sprachen, wurde eine Gleichbehandlung der Häufigkeit vorgezogen. Daher wurden nur die Antworten pro Auswertungseinheit und Ausprägung der Variablen (z.B. K1-K5) herangezogen und sowohl prozentmäßig als auch nach Anzahl der Personen erfasst (siehe Anlage 2). Der Gesamtprozentsatz pro Variable kann daher mehr als 100% betragen. Die Intercoderreliabilität konnte nicht angewandt werden, da die vierzehn Interviews nur von mir als Interviewer selbst im Zuge der Studie ausgewertet wurden. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass von den vierzehn Kunden keiner mit seinem Geld so gut auskam, dass er auch etwas sparen hätte können. 7,1% kamen gut zurecht, 14,2% kamen mehr schlecht und recht über die Runden, 57,1% kamen nicht zurecht und 42,9% hatten überhaupt keine Übersicht mehr. Nur 7,1% waren für sich selbst verantwortlich, 7,1% betonten die Geringfügigkeit der Belastung und 35,7% mussten hohe zusätzliche finanzielle Belastungen für die Familie oder für Dritte aufbringen. Außerordentlich hohe Belastungen mussten von 35,7% für die Familie getragen werden. Es gab niemanden, der keine körperlichen und psychischen Beschwerden angab. 35,7% berichteten vielmehr über psychosomatische Anzeichen und 28,6% erwähnten schwerwiegende körperliche Krankheiten wie Herzinfarkt oder erzählten von einem Unfall. Sorgen machten sich 57,1% und 64,3% der Interviewten berichteten von schweren psychischen Auswirkungen, wie von einem Suizidversuch, Depressionen oder Gewalt in der Familie. Die sozialen Kontakte wurden teilweise abgebrochen (42,9%) und bei 50% gab es fast keinen Kontakt mehr zu Freunden oder im weiteren Familienverband. Nur 21,3% hatten noch viele Freunde und der Familienzusammenhalt war eng. Die Kinder erlitten zu 35,7% Nachteile und ebenso viele waren stark betroffen von den Schulden und dem Schuldenregulierungsverfahren der Eltern. Nur 7,1% berichteten davon, dass die Kinder keine Nachteile erlitten hatten. (leider konnten die Kinder selbst nicht befragt werden). Bezüglich eigener Stigmatisierung oder Stigmatisierung der Familie während der Überschuldung und des Privatkonkurses erlebten nur 7,1% keinerlei öffentliche oder heimliche Brandmarkung. 57,1% fühlten sie durch die Umgebung, obwohl nicht darüber gesprochen wurde. Ein hoher Prozentsatz von 78,6% hingegen erzählte von öffentlicher Stigmatisierung wie zum Beispiel durch Verweigern von Handyverträgen oder Ablehnung von Kontoeröffnungen oder einfach durch das Bekanntmachen der Schuldenregulierung im Internet. 67 14,2% der Kunden empfanden keine Schuldgefühle in Bezug auf ihre Schulden und zeigten keine Schamgefühle. Die Hälfte der Befragten (50%) verdrängte ihre Schamgefühle, ebenfalls 50% der Kunden verleugneten sie an anderer Stelle, nur 42,9% sprachen offen über ihre Scham. Große Angst vor der Zukunft hatten 35,7% und 42,9% hatten zumindest geringe Zukunftsängste. Es hatte allerdings niemand ausdrücklich davon berichtet, dass er keine Angstgefühle während oder nach Konkurseröffnung empfunden hätte. Selbstverantwortung und Eigeninitiative wurde von 50% der Kunden in dieser Phase wahrgenommen, allerdings wurde noch immer von 28,6% die Verantwortung für die Schulden auf andere Personen oder Umstände abgeschoben. Suchtverhalten war für 28,6% ein zusätzlicher Erschwernisfaktor bei der Verschuldung. Für 21,3% war der Besitz einer Bankomatkarte nicht wichtig, allerdings fühlten sich 42,9% „wertvoller“, wenn sie eine Bankomatkarte ihr Eigen nannten. Bei 35,7% war der Selbstwert sogar sehr stark an die eigene Karte gebunden. Die Schulden wurden von 64,3% sogar innerhalb der eigenen Familie lange Zeit verheimlicht. Von 28,6% wurde das Schuldenthema bagatellisiert, lediglich von 21,3% wurde offen darüber gesprochen. Letztendlich fühlten sich 28,6% in dieser Phase (den Umständen entsprechend) wohl, teilweise war aber Idealisierung vorhanden. 57,1% fühlten sich mittelmäßig in ihrer Einschätzung der Lebensqualität und 42,9% fühlten sich stark eingeschränkt und konnten mit der derzeitigen Situation, in der sie sich befanden, nur schwer umgehen. 68 6.4.3 Auswertung und Interpretation 6.4.3.1 Geldmanagement Geldmanagement war eine der größten Schwachstellen der Betroffenen. Mangelnde Übersicht über die Kontogebarung und schwankendes bzw. geringes Einkommen führten dazu, dass die Betroffenen immer tiefer in der Schuldenspirale versanken: „[…] wenn natürlich auf einer Seite Schulden sind, die man begleichen soll, und auf der anderen Seite ist das Einkommen gering, […] es hat sich immer zugespitzt, sagen wir so […] “ (KD12, Z. 14). „[…] ich habe auf drei Seiten gearbeitet und trotzdem finanzielle Probleme gehabt.“ (KD9, Z. 16). Als Gründe für die Überschuldung wurden bei fünf Personen (35,7%) immer wieder gewährte Aufstockungen von Krediten genannt: „Die Kredite […] habe ich aufgenommen zwecks den Zähnen, dann Wohnungen […].umgesiedelt drei- viermal, dann Auto, ja, und so halt [eben] verbraucht einfach. Immer was dazugekommen, aufgestockt (kurze Pause) so ist es halt [eben] gegangen über 15 Jahre.“ (KD8, Z. 28) „[…] und dann war es vorbei, dann ist überhaupt nichts mehr gegangen […] habe ich dann auch nichts mehr bekommen.“ (KD2, Z. 17) Die Folgen dieses Lebens über die Verhältnisse haben schon Neuner &Reisch (2002) beschrieben: Da die finanziellen Verhältnisse ein „unendliches“ Kaufen meist nicht zulassen, greifen sie häufig auf Ersparnisse zurück, haben kein Geld mehr für gemeinsame Familienaktivitäten (wie Urlaub fahren oder dergleichen) oder sie plündern sogar die Sparbücher ihrer Kinder. Manche Kaufsüchtige greifen sogar in die Kasse ihres Dienstgebers, um sich ihre Sucht weiterfinanzieren zu können. (Neuner & Reisch, 2002; zitiert nach Wilkoutz, 2005, S. 70ff) Auch bei einigen Interviewpartnern wurden in der Zeit vor der Schuldenregulierung verzweifelte Aktionen gesetzt, um den Alltag finanziell bewältigen zu können: „[…] weil bis jetzt haben wir immer vom Konto heruntergeholt von den Kindern (längere Pause), wenn wir etwas gebraucht haben. Ohne irgendetwas kannst du nicht einkaufen.“ (KD2, Z. 187) „Ich habe eine Kasse als xxx (längere Pause) dort herausgenommen und wieder zurückge- tan und immer so finanziell jongliert. Ich habe wohl immer geschaut, dass die Kassa wieder passt.“ (KD3, Z. 16) 69 Eine Interviewpartnerin nannte für die fortlaufenden Überziehungen und Aufstockungen ihres Kontos unter anderem folgenden Grund: „[…] weil er [der Partner] ist spielen gegangen, Schulden gemacht und die Leute sind zur Haustür gekommen und ich bin weiter gegangen, wieder Konto überziehen, Rahmen überziehen (kurze Pause) und so ist gegangen (Pause) bis es nicht mehr gegangen ist.“ (KD11, Z. 28) Bei allen 14 Interviews war es aber immer eine Kombination von mangelndem Geldmanagement und verschiedenen anderen Gründen, wie zum Beispiel Sucht, Bürgschaften oder Unfall. Das lässt den Schluss zu, dass erst eine Kombination von mehreren Ursachen in eine Überschuldung bzw. in einen späteren Privatkonkurs führt. „[…] ich konnte meine Zahlungsverpflichtungen, wie ich dann nur mehr die Pension bekam, das war eigentlich nur mehr die Hälfte, nicht mehr bezahlen und dadurch der Privatkonkurs.“ (KD 10. Z. 16) „[…] irgendwann bin ich nicht mehr zurecht gekommen (kurze Pause) vor lauter helfen, Liebe, rosaroter Brille oder wie auch immer.“ (KD11, Z. 16) Durch das neueröffnete Konto auf Habenbasis bei der Zweiten Sparkasse konnte das Chaos im Geldmanagement ein wenig geordnet und unter Kontrolle gebracht werden: „[…] dafür haben wir nicht mehr Minus und so viel Schulden (kurze Pause) es läuft alles perfekt (Pause).“ (KD1, Z. 41) „[…] und dann haben wir auch immer das unter Kontrolle, schauen wir, das alles passt, alles perfekt läuft […]“ (KD1, Z. 83). „Jetzt gehe ich hin mit der Karte und hebe nicht mehr ab, als was ich oben habe.“ (KD 9, Z. 148) 6.4.3.2 Finanzielle Belastungen durch Familie und Dritte Partnerschaften waren durch die Schulden sehr stark belastet. Sie gingen entweder schon während der Überschuldung in die Brüche (acht Personen, 57,1%) oder verharrten in ewigen Streitereien (sechs Personen, 42,9%) wegen der Schuldenproblematik. Sogar nach Scheidungen waren Schulden immer noch ein Streitpunkt und nur wenige neue Lebenspartner konnten gut damit umgehen oder die Schuldensituation akzeptieren. Ein Kunde beschrieb seine Situation als „Ernährer“ der Familie so: „[…] da wird das eingekauft und das eingekauft, […] im Endeffekt bleibt mir gar nichts übrig.“ (KD2, Z. 156) 70 Da das Geld nie reichte, kam es immer wieder zu Krisen: „[…] seit 13 Jahren tu ich streite […]“ (KD2, Z. 201). Die Gefühle schlugen hoch und wenn es nicht zur Scheidung kam, kam es zur Resignation: „[…] jetzt sind wir auf dem Punkt, wo nichts mehr geht […]“ (KD2, Z. 17). Laut Kirchler (1989) lassen sich Kaufentscheidungen aus sozialpsychologischer Sicht einteilen ob sie: (a) echte gemeinsame Entscheidungen, habituelle oder impulsive Käufe oder autonome Entscheidungen darstellen, (b) ob echte Entscheidungen einen Konflikt zwischen den Partnern darstellen oder nicht und (c) ob ein Sach-, Wert- oder Verteilungskonflikt vorliegt. Je nach Konfliktart und Familienstruktur ist die Entscheidungsdynamik unterschiedlich (vgl. S. 256). „Das Vertrauen wird auch wahnsinnig missbraucht, so wie es bei mir auch war. Ich habe mich schon immer gewundert: dieses Monat ist nicht so viel übrig geblieben: habe ich mir auch oft gedacht: gibt es ja nicht, so und so viel habe ich verdient: dann kommt sie ja wieder daher: ich habe mir das und das gekauft (kurze Pause) ja, gut passt, da denkt man nicht nach, weil ich sage: ich bin ja eh die halbe Zeit nicht zu Hause gewesen, wieso soll sie dieses und jenes nicht haben.“ ( KD7, Z. 211) Kirchler (1989) hat in seiner Studie außerdem festgestellt, dass die Qualität der Kaufentscheidung auf den Familienalltag zurückwirkt. Und er merkt an: „Die Voraussetzungen dafür, daß die Familie sachlich zufriedenstellende Entscheidungen trifft, sind allerdings schlecht“ (S. 256). Er führt aus, dass nicht nur die Gefühle wichtig sind, die während der Diskussion mit dem Partner wach werden, sondern dass auch die Sachqualität der Entscheidung auf das zukünftige Geschehen zu Hause abfärbt. Er wundert sich, dass so viele Entscheidungen getroffen werden, ohne dass die Familie in eine finanzielle Krise hineinmanövriert. Aber er gibt zu, dass „finanzielle Entscheidungen als eine der häufigsten Konfliktherde identifiziert“ (S. 256) wurden, und er fragt sich, ob hier nicht der Familie „in ökonomischen Entscheidungssituationen fachliche Hilfestellung“ (vgl. ebd.) angeboten werden sollte. Es führten auch Scheidung bzw. Trennung vielfach in die Überschuldung: „[…] meine Schulden die ich jetzt gehabt habe, sind rein nur auf die Scheidung [zurückzuführen].“ (KD7, Z. 20) „[…] da habe ich dann die Scheidung eingereicht. Das war die Katastrophe (längere Pause) ich bin auf der Straße gesessen,(längere Pause) .das einzige, das letzte Geld auf dem Konto, das hat sie nicht erwischt, weil ich habe nämlich noch vor Weihnachten das Konto gesperrt, dass sie nicht mehr dazu gekommen ist.“ (KD7, Z. 183) 71 Und umgekehrt führte auch die Überschuldung zu Trennung oder Scheidung: „[…] von meinem Ex-Partner, ich habe ihm bei 40.000 Euro oder 45.000 Euro unterschrieben […] Musste ich damals meinem Ex-Partner sagen [wegen dem Privatkonkurs] und (kurze Pause) nach 3 Wochen hat er mit mir Schluss gemacht (längere Pause) weil er hat gemerkt, da ist nichts mehr zu holen“. (KD11, Z. 16) Katharina Martin (2005) liefert uns für oben getätigte Aussage eine mögliche Erklärung: „Bevor Frauen in Armut geraten, sind sie zumeist in emotionalen Fallen gelandet. Ihr Partner hat sie im Griff, psychisch, körperlich, finanziell“ (S. 8). Und sie führt weiter aus: „Oft glauben Frauen, das Teilen ihres Geldes und seiner Schulden ‚schuldig‘ zu sein. Sie teilen und unterschreiben aus Angst. Vor Gewalt. Vor Liebesentzug. Vor Verlust ihrer Partnerschaft und/oder Familie“ (S. 9). Und sie bezeichnet den „Einsatz des Finanziellen als Zwangsmittel“ als „finanzielle Gewalt“ (S. 14). Als Auslöser für den Privatkonkurs fungierten aber nicht nur Partner oder Ex-Partner, sondern auch die Unterstützung anderer Familienmitglieder führte in den finanziellen Ruin. Eltern und andere Mitglieder einer Großfamilie wurden unterstützt und das führte zur Überforderung der eigenen finanziellen Kapazitäten. „[…]da war eine zehnköpfige Familie, die wir unterstützen mussten […]“ (KD1, Z.27 [Familie des Mannes]). „[…] es hat angefangen mit meinen Eltern, […], [die] immer mehr Geld gebraucht haben […]“ (KD12, Z. 14). 6.4.3.3 Körperliche Beschwerden Aber neben den bereits genannten Gründen konnten auch eine plötzliche Krankheit bzw. ein Unfall den finanziellen Rhythmus ganz schön durcheinanderbringen und den Menschen an den Rand der Gesellschaft katapultieren. „[…] und zwei Bandscheibenvorfälle gehabt und ich habe nicht jede Arbeit machen dürfen.“ (KD1, Z. 31) „[…] zuerst war Scheidung und dann war ein schwerer Verkehrsunfall (kurze Pause) und durch den Unfall war ich nicht mehr arbeitsfähig […]“ (KD13, Z. 16). Zusätzlich zu den beiden einschneidenden „Life Events“ kam es hier auch noch zu einer Exklusion aus der Arbeitswelt. Wie schon Böhnke (2006) erwähnt, konzentriert sich hier die subjektive Einschätzung nicht mehr „voll und ganz der Gesellschaft zugehörig zu sein“ auf „Lebenssituationen, die neben extremer Benachteiligung auch Identitätsverlust und Abkoppelung von einem als 72 durchschnittlich akzeptierten Lebensstandard bedeuten“ (S. 109).Und wenn die sozialen Netzwerke dann auch noch fehlen, „ist die Ausgrenzungsgefahr am größten“ (vgl. Böhnke, 2006, S. 112). Es konnten aber auch durch die Überschuldungssituation körperliche Beschwerden ausgelöst werden: „Ich habe schon einmal Fieber bekommen, mir war einmal wirklich total schlecht, wie ich da hineingegangen bin (Pause).“ (KD1, Z. 77 [bei der Schuldnerberatung]). Psychogenes Fieber kann durch „Aufregungen, Angst, Wut und Ärger“ ausgelöst werden (vgl. Klußmann, 1998, S. 275). 6.4.3.4 Psychische Auswirkungen Generell wollte eigentlich niemand mehr etwas von den Schulden hören oder darüber sprechen. Aber auf Nachfrage wurde doch ein wenig über die Gefühle, die die Schuldensituation begleiten, Auskunft gegeben. Es reichte von „schlechtem Gewissen“, „schlechtem Gefühl“, „sich Sorgen machen“, „Wut auf sich selbst“, Traurigkeit, Verzweiflung, Enttäuschung bis zu innerfamiliären Streitereien, familiärer Gewalt, Depression, Gedanken an Selbstmord bis zum Suizidversuch: „[…] mache ich mir viel zu viele Sorgen, und da gibt es eigentlich viele Streitereien auch daheim […] “ (KD4, Z. 126). „[…]da habe ich nicht mehr arbeiten gehen wollen […]“ (KD5, Z. 159). „[…] ich war schon im […] Männerheim.“ (KD2, Z. 199) „[…] ich war schon oft in der Zeit (längere Pause) nach der Schuldnerberatung, wo ich im Frauenhaus gesessen bin und gedacht habe: ich schaffe das nicht.“ (KD12, Z. 54) „[…] man sackt dann […] irgendwo in ein Loch hinein […] “ (KD14, Z. 22). „[…] und da habe ich eigentlich schon an Selbstmord gedacht.“ (KD10, Z. 102). „[…] da war ich dann zwei Wochen unten auf der Seelischen [Zentrum für seelische Gesundheit), versucht man sich, wegzutun […] “ (KD9, Z. 120). Diebitz (2005) schreibt über die Scham: und es gibt auch in unserem eigenen Seelenleben kein gleichartiges Gefühl und kein vergleichbares Erlebnis. Allenfalls als das Gegenteil der Scham den Stolz. Oder vielleicht eine Depression, in der Elemente eines aktuellen Schamgefühls aufgehoben sind. Aber das sind nur Annäherungen, keinesfalls Entsprechungen. (vgl. S. 29) 73 „[…] wenn man hinten und vorne nicht mehr zurechtkommst und knapp vor einem Blödsinn (kurze Pause) ja […], bei mir ist immer so gewesen (sehr leise und sehr undeutlich) ich war immer (kurze Pause) meine Einstellung ist heute noch so: ich will nie auf einen anderen angewiesen sein (längere Pause) nie. Das ist heute meine Einstellung und das wird immer so sein und ich meine, ich mache auch etwas dafür. Weil andere sagen: ja, passt geht schon irgendwie (kurze Pause) geht aufs Sozialamt und so weiter und so fort. Das gibt es aber bei mir nicht.“ (KD5, Z. 149 u. 155) Eine andere Interviewpartnerin schämte sich so wegen ihrer Gesamtsituation, dass sie auch in eine Depression geschlittert war: „[…] und nur solche Gedanken waren, weil die Leute so über dich denken oder teure Klamotten obwohl ich nie in meinem Leben teure Klamotten oder Markenklamotten angezogen habe oder (kurze Pause) teure Autos. Was werden die denken und ich war so leise beim ersten Gespräch, […] und schämen, total schämen.“ (KD11, Z. 64) Und an anderer Stelle gestand dieselbe Interviewpartnerin: „[…] ich bin depressiv geworden […]“ (KD11, Z. 92). Hilgers (1996) erläutert, wie Scham zu ausgeprägten klinischen Veränderungen führen kann: Scham ist also zunächst kein pathologisches Gefühl, sondern gegenteilig ein wichtiger Regulationsmechanismus des Selbst wie auch der Beziehungen zwischen dem Selbst und den anderen. Schamgefühle fordern dazu heraus, Selbstkonzepte wie auch Konzepte von anderen und umgebender Realität zu überprüfen. Erst ihre überwältigende Qualität – wenn Schamaffekte das Ich überschwemmen – führt zu destruktiven Entwicklungen: Größengefühle als Abwehr von Scham, Gewalt, Suchtmittelmissbrauch oder depressive Verstimmungen mit extremer Verletzbarkeit sind Beispiele solcher pathologischer Konsequenzen (S. 11). 6.4.3.5 Sozialer Kontakt (Familie und Freunde) Die sozialen Kontakte wurden entweder von außen oder von den Betroffenen selbst massiv eingeschränkt. Die Interviewpartner gingen sehr spärlich mit Informationen über sich selbst um: bei zwei Menschen (14,2%) wusste nur eine Freundin davon und bei acht Personen (57,1%) wussten außer ein paar Freunden nur Teile der Familie oder niemand vom Privatkonkurs. Bei vier Schuldnern (28,6%) wussten die Freunde oder Bekannten von der derzeitigen Situation. Obwohl also nur so wenige von der Schuldensituation und vom Privatkonkurs wussten (laut Angaben der Interviewpartner) reagierte die Umgebung doch recht heftig: „[…] man merkt schon, die Leute ziehen sich zurück, wenn man nichts mehr ist und nichts mehr hat.“ (KD10, Z. 38) „[…] ja, Freunde verliert man viele, die so genannten Freunde […]“ (KD9, Z. 50). „[…] Freundeskreis fast null, früher Hunderte […] “ (KD10, Z. 38). 74 Zu diesen Äußerungen der Interviewten kann Goffman (1994) eine Erklärung geben: ‚Mit‘ jemandem zu sein heißt, bei einem gesellschaftlichen Ereignis in seiner Begleitung anzukommen, mit ihm eine Straße hinunter zu gehen, ein Mitglied seiner Tischgesellschaft in einem Restaurant zu sein und so weiter. Der springende Punkt ist, dass unter bestimmten Umständen die soziale Identität derer, mit denen ein Individuum zusammen ist, als eine Informationsquelle über seine eigene soziale Identität benutzt werden kann, wobei die Annahme gemacht wird, dass es ist, was die anderen sind. (vgl. S. 63) Für Böhnke (2006) ist es durchaus ein „Ausgrenzungsrisiko, nicht auf soziale Unterstützung zurückgreifen zu können“ (S.110). Sie betont, dass „soziale Kontakte, Partizipation in Vereinen und Organisationen sowie familiärer Rückhalt“ stabilisierend wirken. Wenn diese Ressource nicht vorhanden ist, kann es bei finanziellen Problemen zu zusätzlichen sozialen Schwierigkeiten kommen: „Es haben sich mehr oder weniger alle abgewendet, vor allem die Familie.“ (KD12, Z. 80) „Und seitdem [Eröffnung des Privatkonkurses] habe ich jetzt keinen Kontakt mehr zu den Kindern.“ (KD7, Z. 131) Auch hier wurde sehr deutlich, dass „die Vertrauten eines Individuums ebenso wie die ihm Fremden von seinem Stigma zurückgestoßen werden“ (Goffman, S. 70). Stigmatisierungen haben sehr häufig den „formellen oder informellen Verlust von bisher ausgeübten Rollen zur Folge“ erklärt Hohmeier (1975). Deshalb verläuft die Kommunikation gespannt und unsicher: Spannungen, Unsicherheit, Verlegenheit und Angst zeichnen deshalb Interaktionen zwischen Stigmatisierten und Nicht-Stigmatisierten in der Regel aus. Für den Stigmatisierten ist es dann schwer, in derart verunsicherten Interaktionen seine persönliche Identität aufrechtzuerhalten oder zu entwickeln. (vgl. Hohmeier, 1975, S. 14) „Es ist einfach die Beziehung abgekühlt […] aber so, dass wir das freundschaftliche, das, was wir früher gepflegt haben, das gibt es nicht mehr […] und dann immer wieder die Ausreden […] “ (KD12, Z. 80). Aber andererseits gab es von den Betroffenen selbst auch eine Technik der Informationskontrolle, die angewandt wurde, um ihre Risiken so zu lenken, „dass sie [die Person] die Welt aufteilt in eine größere Gruppe, der sie nichts erzählt, und in eine kleinere Gruppe, der sie alles über sich erzählt und auf deren Hilfe sie sich dann verlassen kann“ (Goffman,1994, S. 121). „[…] ich habe nur mehr mit meinen Eltern geredet.“ (KD4, Z. 26) 75 An anderer Stelle erläutert Goffman (1994), dass das entscheidende Problem nicht ist, „mit der Spannung, die während sozialer Kontakte erzeugt wird, fertig zu werden, sondern eher dies, die Information über ihren Fehler zu steuern. Eröffnen oder nicht eröffnen; sagen oder nicht sagen; rauslassen oder nicht rauslassen; lügen oder nicht lügen; und in jedem Fall, wem, wie, wann und wo“ (vgl. S. 56). Nur drei Interviewpartner waren in ein gutes soziales Netzwerk eingebettet und konnten sich auf ihre Familie und Freunde verlassen: „[…] ich habe überall nur Hilfen gehabt.“ (KD7, Z. 50) „[…] im Freundeskreis, wo man sich bewegt, die wissen das […] “ (KD14, Z. 64). 6.4.3.6 Einschränkungen auch bei den Kindern Die Kinder waren massiv betroffen, obwohl dieser Umstand von den Beteiligten sehr oft verniedlicht wurde. Die Interviewpartner sprachen davon, dass die Kinder „sehr einsichtig und sehr sparsam“ (drei Personen; 21,3%), „sehr eigenständig“ (ein Interviewpartner; 7,1%) oder „bei den Wünschen eingeschränkt“ (eine Person; 7,1%) waren. Kinder konnten kein Handy anmelden (berichtet von einer Person, 7,1%). Sie sprachen eher mit Außenstehenden über die Probleme zu Hause (eine Person, 7,1%), zum Teil sprachen Kinder überhaupt nicht mehr mit dem Vater seit dem Privatkonkurs (eine Person, er ist geschieden). Ein Interviewpartner redete mit seinem großjährigen Sohn nicht über das Schuldenthema, und einige Kinder waren noch zu klein. In einer Familie wurden die Kinder von einer Familienbetreuerin unterstützt und ein Kind hatte selbst auch schon Geldprobleme. „Und weil mein Sohn steht wegen seiner Schulden im Computer […]“ [auf der Warnliste der Banken] (KD11, Z. 131). Dieselbe Betroffene musste z. B. auch bei der Direktorin in der Schule anrufen, weil sie sich die Kosten der Italienfahrt [gemeinsamer Schulausflug] ihrer Tochter nicht leisten konnte: „[…] ich bin nicht in der Lage, diesen Betrag zu zahlen […] ich bin froh, dass ich leben kann die fünf Jahre […] aber das kann ich mir nicht leisten.“ (KD11, Z. 105) Mütter, aber auch Väter waren trotzdem sehr bemüht, den Kindern an nichts fehlen zu lassen. Klocke (2001) unterstützt diese Aussage: „In qualitativen Studien ist erkennbar, dass in vielen Armutsfamilien die Eltern und insbesondere die Mütter darum bemüht sind, die Armut vor den Kindern zu verbergen bzw. den Kindern die Auswirkungen der Armut weitestgehend zu ersparen“ (vgl. S. 284). 76 „Meine Tochter hat einen Computer gebraucht, einen Laptop, habe ich gesagt: ja passt, drei Monate und dann hat sie ihn gehabt.“ (KD13, Z. 152) „Ich habe den Kindern das gezahlt (kurze Pause) die Kinder haben neue Räder bekommen (längere Pause) und ich bin mit ihnen Schifahren gegangen […]“ (KD7, Z. 131). „Und sie weiß, die Mama muss arbeiten, wenn ich für die Schule die Sachen haben möchte, die ich brauche.“ (KD12, Z.114) Einige Kinder sprachen lieber mit Außenstehenden über ihre Probleme: „Haben wir kein Geld und so, kann mir nie was kaufen, und das sagt er eigentlich. Mit uns hat er eigentlich weniger geredet, eher mit jemandem anders redet er viel.“ (KD4, Z. 154) „Und es kommt wahrscheinlich auf die subjektive, kindliche Einschätzung an, ob die Einschränkung als negativ wahrgenommen wird“ (vgl. Knapp & Köffler, 2009, S. 151). Da die Kinder aber nicht als Interviewpartner fungierten, konnten nur die Aussagen der Eltern herangezogen werden: „[…] sie sind ja damit aufgewachsen, sie wissen ganz genau, wie viel Geld wir haben, was wir uns leisten können und was nicht, das wissen sie schon.“ (KD2, Z. 150) „Obwohl die [die Kinder] am meisten darunter gelitten haben. Die hätten mir nie Vorwürfe gemacht. Weil die haben auf vieles verzichten müssen, weil die Mutter alles verzockt [verspielt] hat.“ (KD9, Z. 138) „Voriges Jahr sind wir nicht Kirchtag [Villacher Kirchtag] gegangen, dafür haben wir dem Buben die Eisschuhe gekauft.“ (KD3, Z. 176) Neuberger (1997) stellt auch bezüglich Auswirkungen von Armut auf Familie und Kinder fest, „dass das Familiensystem stärker gefährdet ist, wenn die familiären Beziehungen schon vor der finanziellen Verknappung“ beeinträchtigt ist (S. 106). In einer intakten Familienbeziehung können Kinder einiges kompensieren und „gehen zumindest zum Teil- mitunter sogar gestärkt aus der benachteiligten Lebenssituation heraus“ (vgl. Knapp & Köffler, 2009, S. 390). „[…] sie haben auf vieles verzichten müssen und heute sagen sie mir: sie sagen mir sogar heute: sie sind froh, weil was Besseres hätte ihnen gar nicht passieren können, weil sie heute wissen, was es heißt: Geld zu verdienen und was du fürs Geld kriegst.“ (KD9, Z. 142) „[…] meine Kinder, ,ja, die wissen, dass Mama sich nicht mehr so viel leisten kann wie früher.“ (KD11, Z. 103) Grundsätzlich wurde aber beteuert, dass mit den Kindern sehr viel mehr über Geld und auch über das Sparen gesprochen wurde als vor dem Privatkonkurs: „Die [die Tochter] fängt aber schon so an, dass sie sparen tut und das was sie sich zusammengespart hat, da kauft sie sich etwas. Und bei ihr merkt man schon, dass sie ein bisschen mehr aufs Geld schaut.“ (KD4, Z. 156) 77 6.4.3.7 Stigmatisierung Die Angst vor Stigmatisierung am Arbeitsplatz in dieser heiklen Lebensphase war für die meisten unbegründet. Die Arbeitgeber bzw. die lohn- oder pensionsauszahlenden Stellen haben durchwegs positiv reagiert. Dies wurde von sechs Personen (42,9%) erklärt. Es gab moralische und unterstützende Hilfe. Eine neutrale Reaktion wurde von sieben Personen (50%) angegeben. Nur ein Interviewpartner (7,1%) erhielt nach seinen Aussagen keinerlei Hilfestellung von seinem Arbeitgeber. Die Arbeitgeber waren teilweise sogar froh, weil die zeitraubende Arbeit der Gehaltsexekutionen nicht mehr anfiel: „[…]gut, dass du es gemacht hast. Wir haben die Lohnpfändung da, eine Schreiberei bis zum geht nicht mehr, das sieht keine Firma gern.“ (KD7, Z. 44) „[…] eigentlich gelassen, also (längere Pause). Er hat nur gesagt: schau, dass du das auf die Reihe bekommst und fertig (längere Pause).Weil, wie hat er gesagt: dann hat die Buchhaltung auch einen Tag länger frei, wenn sie meine Sachen nicht bearbeiten muss (lacht ein wenig).“ (KD14, Z. 54) Einige Interviewpartner versuchten natürlich, ein Konto bei einer anderen Bank zu erhalten. Durch die öffentliche Bekanntmachung des Schuldenregulierungsverfahrens waren aber alle Personen auf einer sogenannten „Warnliste“, einer bankinternen Datenbankanwendung der österreichischen Kreditinstitute. Diese Datenbank enthält Daten von Privatpersonen bei unerlaubter Verwendung von Bankomat- oder Kreditkarten, unerlaubter Ausstellung von Schecks und Fälligstellung bzw. Rechtsverfolgung von Girokonten, Krediten und Kreditkarten (vgl. KSV 1870, Zugriff am 14.5. 2011 unter: http://www.ksv.at/KSV/1870/de/pdf/964Informationsblatt_Privatpersonen.pdf, unter 1.3). In Österreich gibt es auch kein gesetzlich verankertes „Recht auf ein Girokonto“7, deshalb erfuhren die Betroffenen auch nur Absagen: „Ich habe nicht gewusst, dass man da kein Konto kriegt. Ich möchte ja kein Geld aufnehmen, ich möchte nur ein Konto, wo ich mein Geld hintun kann. Kriegst keines (längere Pause) das ist ja der Oberhammer, da war ich total schockiert.“(KD9, Z. 69) „Ich habe nicht einmal ein Pensionskonto gekriegt […] keine Chance.“ (KD13, Z. 90). Hier wurde aber auch oftmals von Kundenseite nicht mit offenen Karten gespielt, die Interviewpartner haben den betroffenen Institutionen von vorne herein nicht gesagt, dass sie Privatkonkurs beantragt haben. 7 (vgl. AK. Wien, Zugriff am 13.5.2011 unter : http://wien.arbeiterkammer.at/online/jeder-soll-ein-recht-auf-eingirokonto-haben-58599.html?mode=711&STARTJAHR=2008 78 Bei Goffman (1994) gibt es auch die Technik des „Täuschens“ oder Verheimlichen des „Stigmas“. Das Individuum teilt seine Welt ein in „verbotene, bürgerliche und abgesonderte Bereiche“ und setzt den „Preis fest für Enthüllen oder Verbergen“ (vgl. Goffmann, 1994, S. 106). Deswegen kann derjenige, der täuscht, auch „die klassische und zentrale Erfahrung von Bloßstellung während unmittelbarer Interaktion erleiden“ (vgl. S. 108). „[…] wenn wir ein Handy anmelden wollten, das hat auch keiner akzeptiert, da war ich wirklich psychisch fertig.“ (KD1, Z. 79) „Es sind die Handytarife gesperrt worden und so weiter und so fort (längere Pause).“ (KD5, Z. 74) „Ja wenn ich jetzt in Privatkonkurs bin, nicht (Pause), darfst ja nichts anmelden.“ (KD14, Z. 96). Ohne die Möglichkeit, ein Konto zu bekommen oder ein Handy auf den eigenen Namen anzumelden, fühlten sich viele Menschen weniger wertvoll. Ein Interviewpartner hatte treffend dazu bemerkt: „Aber nach dem Konkurs, was bist du?(längere Pause) hast du schon einen Stempel drauf oder hast du keinen Stempel drauf?“ (KD2, Z. 116) Bei Goffman (1994) wird dieser „Stempel“ als „Stigmasymbol“ bezeichnet. Er erläutert dazu: Zeichen, die soziale Information übermitteln, unterscheiden sich danach, ob sie angeboren sind oder nicht, und wenn nicht, ob sie, einmal eingesetzt, ein bleibender Teil der Person werden. […] Noch wichtiger ist es, dass nichtbleibende Zeichen, die allein zur Vermittlung von sozialer Information dienen, gegen den Willen des Informanten verwendet werden können; in diesem Falle zielen sie darauf ab, Stigmasymbole zu sein. (vgl. S. 61) Die vorhergehende Bank hatte oftmals das Konto gekündigt, in jedem Fall wurde das Konto gesperrt und die Karte eingezogen. Einige Interviewpartner (zwei Personen, 14,2%) mieden die vorhergehende Bank, bei drei anderen (21,3%) war die Bank nicht „sehr erfreut“, ein Kunde (7,1%) wurde „hinausgeworfen“: „Dann hat er mich zumindest hinausgeschmissen [hinausgeworfen] aus der Bank und ich habe dann eine andere Bank suchen müssen.“ (KD4, Z. 66) Menschen, die Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt haben, verlieren „an Kreditwürdigkeit“ (vgl. Paugam, 2008, S. 245) und Stigmatisierungen sind „gegen Gruppen, die über wenig Macht verfügen, leichter durchzusetzen als gegen Gruppen mit großer Macht“ (vgl. Hohmeier, 1975, S. 9). Die Begegnung mit einem Stigmatisierten stellt in vielen Fällen eine Bedrohung der eigenen Identität insofern dar, als man an eigene Abwehrtendenzen erinnert wird. Das Gleich79 gewicht wird dann durch betonte Abgrenzung, d. h. durch Herausstellen der eigenen „Normalität“ und Ablehnung der Abweichung des anderen, zu stabilisieren versucht. (vgl. Hohmeier, 1975, S. 11) „[…] wenn du jetzt mit einem normalen Bankangestellten redest, ich kenne welche von der x. oben, die waren so herablassend, sie haben dir schon zu spüren gegeben, dass du einfach ein Lump bist mehr oder weniger.“(KD9, Z. 94) Hier wurde auch das ganze Dilemma auf beiden Seiten des „Bankschalters“ aufgezeigt. Auf der einen Seite der emotional aufgewühlte und überforderte Kunde und auf der anderen Seite der Angestellte, der mit dieser Situation schwer umgehen konnte. Dies wurde von der Interviewpartnerin nicht verstanden: „[…] aber als Bankangestellter muss ich mit sowas, muss ich mit sowas umgehen können (längere Pause) mit so jemanden, die müssen ja wissen, wie es rundgeht auf dieser Welt.“ (KD9. Z. 96) Sowohl im Freundeskreis als auch in der Arbeitswelt war es möglich, im Internet Einsicht zu nehmen und die Tatsache des Privatkonkurses der Betroffenen zu erfahren. Viele der Interviewpartner waren ziemlich überrascht, als sie feststellten, dass die Bekanntgabe öffentlich ist und dass sie quasi „an den Pranger gestellt“ wurden: „[…] da steht alles drinnen vom Konkurs, da steht alles drinnen (längere Pause) das ist […] was mich geschockt hat (Pause) das kann jeder lesen.“ (KD2; Z. 221) Nur ein Interviewpartner fühlte sich überhaupt nicht stigmatisiert, er fühlte sich in seiner Familie und in seinem Freundeskreis sozial aufgehoben und es wurde auch offen über das Schuldenthema diskutiert: „[…] es ist heutzutage ein offenes Thema. Man redet einfach darüber und es ist einfach so.“ (KD14, Z. 62) 80 6.4.3.8 Schamgefühle bezüglich Schulden Neckel (1991) sieht Scham als „eine moralische Emotion: der persönliche Wertverlust, den man in ihr empfindet, ist immer auch von dem Gefühl begleitet, dass man sich etwas zu Schulden kommen ließ, für seinen selbst empfundenen Mangel auch selbst verantwortlich ist“ (S. 16). „[…] ich bin von mir schon enttäuscht. Ich bin enttäuscht, aber gut, es hilft mir auch nicht weiter (kurze Pause) ich muss mit der Situation fertig werden.“ (KD10/ Z. 88) „[…] ich war zornig auf mich selber (längere Pause) ich war zornig auf mich selber[...]“ (KD11, Z. 88). Eine Interviewpartnerin wollte den Privatkonkurs überhaupt nicht beantragen, sie wehrte sich mit Händen und Füßen. Sie erzählte: „[…] ich tu das nicht, mir ist lieber, ich gehe putzen (längere Pause) ich gehe noch irgendwohin arbeiten, Tag und Nacht arbeite ich, aber ich wollte überhaupt nicht.“ (KD11, Z.34) Manche Betroffene konnten über das Thema der Schulden fast gar nicht sprechen: „[…] das Reden und das ist ein bisschen schwer über solche Sachen“ (lacht verlegen). (KD4, Z. 182) Und Diebitz (2005) erläutert die Scham folgendermaßen: Die Scham ist stumm und vorbegrifflich; wer sich schämt, wird nur noch stammeln, denn ihm steht nicht länger eine geordnete Rede zur Verfügung. Der Verschämte ist immer still und zurückhaltend, der Unverschämte laut und dröhnend; die Scham sucht die Peripherie, die Unverschämtheit stellt sich in den Mittelpunkt. (vgl. S.92) „[…] das tut einem schon weh (Pause) das ist nicht so einfach, wenn man so was hat (Pause).“ [gemeint ist der Privatkonkurs] (KD4, Z. 64) „Ja geschämt, fest geschämt. Weiß nicht, so ein komisches Gefühl, ich habe auch fast nichts gesagt.“ (KD2, Z. 50) Die Betroffenen schämten sich bezüglich der Schulden vor der Familie, vor den Freunden, am Arbeitsplatz und auch in Alltagssituationen: „[…] und das muss ich dann den Kindern erklären: wir haben so viele Schulden gehabt und wir haben es nicht zurückbezahlen können […] sie können ja nicht damit umgehen […]“ (KD1, Z. 81). „[…] je weniger es wissen, umso lieber ist es dir selber […]“ (KD5, Z. 64). „[…] wenn es der Falsche erfragt, dann geht es eh [ohnehin] dahin (Pause).“ (KD3, Z. 105) „[…] jetzt habe ich mich eh [ohnehin] schon vor den Arbeitskollegen versteckt […]“ (KD3, Z. 126). 81 „[…] wenn ich meinen Betreuer gesehen habe, habe ich versucht, dass ich auf die andere Seite gehe, dass er mir nicht in die Augen schaut (kurze Pause) es war peinlich (längere Pause) und es ist mir immer noch peinlich.“ (KD1, Z. 43) „[…] ich meine, wenn du irgendwo hingehst, gehst [geht man] mit einem unguten Gefühl hin und sagst [sagt man]: du bist in Konkurs gegangen und das und das gibst [gibt man] und dann muss ich die Kontonummer angeben und auch das Treuhandkonto, weil was darüber hinausgeht musst du abliefern.“ (KD9, Z. 116) „[…] vor Österreich habe ich mich geschämt, dass ich so wie ein asoziales Wesen bin in Österreich […]“ (KD1, Z. 43). „[…] ich habe mich gefühlt wie ein Obdachloser […], wie die Leute, die betteln gehen, also das ist total peinlich […]“ (KD1, Z. 77). Und auch beim Bezirksgericht musste man sich in der Öffentlichkeit den Blicken der Mitmenschen aussetzen. Und hier kann man bei Seidler (1995) nachlesen, dass es „dieser objektivierende Blick“ ist, „der als Verachtung interpretiert wird“ (vgl. S. 73). „[…] das ist schon (längere Pause) ich meine, da sehen mich Leute hineingehen, die drin sitzen und […] da glaubst du, jetzt schauen dich alle an.“ (KD3, Z. 170) Und manche Kunden berichteten von der vorherigen Bank, dass sie sehr demütigende Erfahrungen in der Zeit der Überschuldung erfahren haben. Sie fühlten sich schikaniert: „[…] ich brauche 50 Euro, weil Monatsende (längere Pause) da kannst [kann man] betteln gehen […]. Keine Chance, da kannst [kann man] betteln drüben. Das ist schon (Pause) das ist erniedrigend […]“ (KD9, Z. 96). Und Neckel (1991) meint: „Schikanen sind eine besonders diabolische Form der Beschämung, agieren sie doch vor dem Hintergrund sie [sic] einschränkender Persönlichkeitsnormen, der ‚Würde‘, deren zentralen Inhalt der Unverletzlichkeit der Person sie sich zugleich als Angriffspunkt wählen“ (vgl. S. 111). Es gab nur zwei Interviewpartner, die sich wegen der Schulden nicht schämten. Sie standen zu ihren Schulden und konnten dadurch auch besser damit umgehen: „Ich habe mich auch nicht geschämt, wie ich die Schulden gemacht habe […] “ (KD7, Z. 211). „Ich war eigentlich nicht in der Situation, dass ich mich geschämt hätte, dass ich Schulden habe, weil ich gewusst habe, es hat jeder Mensch Schulden.“ (KD13, Z. 72) 82 6.4.3.9 Angst (Zukunftsangst) Wie schon Riemann (2003) erwähnt, tritt Angst immer dort auf „wo wir uns in einer Situation befinden, der wir nicht oder noch nicht gewachsen sind“ (vgl. S. 9). Die Interviewpartner berichteten von der täglichen Angst und Sorge, wie sie den Alltag bewältigen sollten oder von der Angst, dass ihre Verheimlichung der Schulden auffliegen würde: „So wie es im Moment ausschaut, man lebt (kurze Pause) und es kommen jeden Tag schwere Tage [sic] (längere Pause), wo man überlegt: so, heute habe ich das, und was ist mit morgen?“ (KD1, Z. 91) „Und nachher, weil ich da wieder Fuge [Angst] gehabt habe, habe ich der Frau nie gesagt, wie es mit dem Konto steht, nachher habe ich die Kontoauszüge auch nur geholt und dann weggeworfen […] “ (KD3, Z. 28). Die Betroffenen wussten nicht, was in den nächsten Wochen auf sie zukommen würde, Verunsicherung und Ängste waren zu spüren: „[…] wie die [die Gläubiger] reagieren oder (kurze Pause) was die da tun oder (Pause) ich weiß nicht.“ (KD3, Z. 154) „Wenn das da jemand so wegsteckt und sagt, es ist bald vorbei, der lügt Sie sicher an […]“ (KD3, Z. 128). Wie schon Bastian (1998) erkannte, ist „Scham, jedenfalls beim Erwachsenen, in hohem Maße angstinduzierend. Auch diese Angst vor der Scham will erkannt – vor allem aber respektiert sein“ (S. 59). „Geld ist da, Geld zahlen (Pause) fertig (kurze Pause) weil ich habe Angst, Geld ist Geld.“(KD11, Z. 70) „[…] wenn es nicht gegangen wäre [die Kontoeröffnung bei der Zweiten Sparkasse] hätte ich nicht gewusst, was ich tun soll.“ (KD2, Z. 116) Erich Fromm (1980) nennt uns die Erfahrung des „Abgetrenntseins“ als die Quelle aller Angst: Abgetrennt sein heißt abgeschnitten zu sein und ohne jede Möglichkeit, die eigenen Kräfte zu nutzen. Daher heißt abgetrennt sein hilflos sein, unfähig sein, die Welt – Dinge wie Menschen – mit eigenen Kräften zu erfassen; es heißt, daß die Welt über mich herfallen kann, ohne daß ich in der Lage bin, darauf zu reagieren. Daher ist das Abgetrenntsein eine Quelle intensiver Angst. Darüber hinaus erregt es Scham und Schuldgefühle. (vgl. S. 18) Die Unsicherheit bezüglich der eigenen Fähigkeiten und des Durchhaltevermögens bis zur Restschuldbefreiung wurde hier teilweise sichtbar. „Bevor ich es erfahren habe: Habenbasis, habe ich gedacht: Bankomatkarte (längere Pause) das könnte schwierig werden (etwas zögerliche Stimme, skeptisch). Obwohl ich jetzt eigentlich eine Zeitlang (Pause) ohne (längere Pause) der Schwierigkeit gelebt habe (län83 gere Pause) du hast ja keine Schulden (längere Pause) und du kommst ja nicht (Pause) du kannst keine Schulden machen (kurze Pause) trotzdem war das Gefühl (kurze Pause) dann (Pause) auf Habenbasis, das hat mich dann beruhigt. Mehr als ich habe, kann ich nicht verbrauchen, und das ist ok.“ (KD12, Z. 98) Auch die Dauer der Bankverbindung mit der Zweiten Sparkasse wurde einige Male angesprochen, obwohl die Befristung auf drei Jahre schon beim Erstgespräch deutlich kommuniziert wurde. Nachdem die Zusammenarbeit klappte, wollte man nicht schon wieder in Unsicherheit gestürzt werden. „Das Konto bei der Zweiten, wie lange kann ich das haben?“ (KD10, Z. 112). „Das ist jetzt das Einzige, was ich mir so denke. Ok, das Konto geht jetzt auf 3 Jahre, wir haben zwar darüber geredet, das wird dann verlängert, aber wo ich dann sage: wenn man schon den Schritt daher hat, dass du dann da das Konto kriegst, und alles passt (längere Pause) arbeitet jetzt mit den Leuten jetzt zusammen, telefonisch oder man sieht sich.“ (KD14, Z. 234) Sicherheit in dieser Phase bot die Struktur des Zahlungsplans, der genau die Anzahl der Halbjahresraten bis zur Restschuldbefreiung festlegte: „Ich weiß heute ganz genau, zu dem und dem Datum zahle ich nichts mehr, sind die Schulden weg, und ich bin ein freier Mensch.“ (KD7, Z. 91) 6.4.3.10 Selbstverantwortung und Eigeninitiative Selbstverantwortung und Eigeninitiative war eine Kategorie, wo eher die Ressourcen der Interviewpartner gefordert wurden. Hier ergab die Auswertung, dass nur die Hälfte der Befragten in der Phase der Überschuldung und vor dem Schuldenregulierungsverfahren die Initiative zur Regelung der Schulden selbst ergriffen hatte. „Wenn man Schulden hat, hat man Schulden, aus. Muss auch geradestehen dafür (Pause).“ (KD7, Z. 32) habe ich einfach 10 Jahre versucht […] 15 Jahre, meinen ‚Krempel‘ [„Gerümpel, Sachen] zu zahlen.“ (KD9, Z. 36) „Dann „[…] ich habe gesagt: du musst es selber schaffen (längere Pause) du musst es selber schaffen.“ (KD10, Z. 92) Die Verantwortung wurde von einigen Interviewpartnern einfach auf andere abgeschoben, wobei manche Vorgehensweisen zwar sehr drastisch geschildert wurden, aber in der Studie nicht nachgeprüft werden konnten: „[…] von klein auf nie ein Geld gehabt, von daheim aus nie sparen gelernt.“ (KD2, Z. 15) 84 „[…] zwar gezahlt, aber zu spät gezahlt, und da ist dann ‚ zack‘ der Rechtsanwalt ganz brutal darübergefahren.“ (KD2, Z. 38) „[…] keine Ahnung, wieso das Geld immer weg ist […] “ (KD2, Z. 175). „[…] ich meine, ich darf ja nicht dem Euro die Schuld geben, aber es ist schon alles anders wie früher beim Einkaufen […]“ (KD3, Z. 172). Als erste Anlaufstelle wurde von allen befragten Schuldnern die Schuldnerberatung Kärnten genannt und bis auf eine Person, die die Voraussetzungen nicht erfüllten konnte, waren alle sehr zufrieden: „[…] das war eine optimale Beratung […] die haben mir geholfen (längere Pause) eine Super Sache.“ (KD5, Z. 36) „Die [die Schuldnerberatung] machen das sehr professionell, muss ich sagen […] Frau A. war sehr gut, die hat das wirklich ganz genau gemacht und ich bin eigentlich sehr zufrieden, dass sie mir da geholfen hat und ich habe zuerst gar nicht gedacht, dass das möglich sein wird.“ (KD10 Z. 28) Als Unterstützung der Eigeninitiative wurde die Schuldnerberatung sehr oft erwähnt und die Hilfestellung in der ausweglosen Situation der Überschuldung wurde sehr hoch bewertet. „[…] ich habe mich ja gar nicht ausgekannt, ich habe nicht gewusst, wie und was (Pause) und da haben sie mir eben da geholfen, und gesagt: so läuft es ab und ja (kurze Pause) sie waren wirklich sehr hilfsbereit.“ (KD6, Z. 46) Im Zuge eines einstündigen Interviews mit Herrn Mag. Kleindl, Geschäftsführer der Schuldnerberatung Kärnten wurde von ihm die Institution so vorgestellt: Wir sind zu 95% vom Land Kärnten finanziert, sind aber keine Angestellten vom Land Kärnten, sondern ein selbständiger Verein. Zugeordnet der Abteilung 13, Soziales und werden ca. zu 5% über das AMS Kärnten im Wege einer Projektförderung finanziert. In Kärnten gibt es vier Stellen in Klagenfurt, Villach, Spittal und Wolfsberg. Für die Klienten ist die Beratung kostenlos. Es gibt für die Zusammenarbeit mit der Zweiten Sparkasse einvernehmliche Kriterien: Die Leute müssen bei uns in Beratung sein. Es muss festgestellt werden, wie ist der Status (sind sie also nur in der Beratung, oder gibt es einen Privatkonkurs oder gibt es einen außergerichtlichen Ausgleich). Daraufhin kommt ein schriftlicher Antrag an die Zweite Sparkasse. Die Zweite Sparkasse nimmt dann den Kontakt mit dem Klienten auf und vergibt das Konto. (K. Kleindl, persönliche Mitteilung v. 19.10.2010). Es gibt bei der Schuldnerberatung zuerst ein Erstgespräch, bei dem eine persönliche Vermögensanalyse durchgeführt wird, wobei die monatlichen Einnahmen und Ausgaben abgeklärt werden. Es wird dann auf Grund der Unterlagen der Klienten eine Gläubigerliste erstellt und die Gläubiger werden angeschrieben. Die gesamte Schuldenregulierung läuft dann im Einvernehmen mit dem 85 Klienten über diesen Verein. Die Berater haben auch für jeden Unselbständigen eine Vertretungsbefugnis vor Gericht (vgl. persönliche Mitteilung, [gekürzt] v. 19.10.2010). 6.4.3.11 Suchtverhalten Ein Betroffener hatte schon in den ersten drei Minuten des Interviews das ganze Dilemma seiner Beziehung in klare Worte gefasst. Er selbst ist ein arbeitsamer und sparsamer Mensch, ist aber mit einer Frau verheiratet, die kaufsüchtig ist: „Und meine Frau […] hat Kaufsucht. Und die Kaufsucht, da hat sie immer bestellt so wie von Versandhäuser und so (kurze Pause) und das hat nie aufgehört. Wenn die Rechnungen gekommen sind, sind die Rechnungen verschwunden und (Pause) die (Pause) die habe ich dann nicht gesehen. Da war sie noch daheim und sie hat die Post abgefangen da habe ich das dann nicht mehr (längere Pause) und dadurch sind wir in den Konkurs hineingekommen.“ (KD4, Z. 16) Aber nicht nur dieser Interviewpartner hatte ein Suchtproblem in der Familie. Eine Betroffene hatte einen spielsüchtigen Partner und zwei weitere Interviewte waren selbst spielsüchtig: „[…] weil er ist spielen gegangen, Schulden gemacht und die Leute sind zur Haustür gekommen […]“ (KD11, Z. 28). „[…] ich habe es mir einfach eingestehen müssen: bist spielsüchtig, aus, fertig.“ (KD9, Z. 18) „Und ich habe gedacht, es wird ewig so weitergehen und dann kam aber der Absturz, die 40 waren weg und noch 40 dazu, und dann habe ich aufgehört [… ] Ich habe dann angefangen, Alkohol zu trinken, ich habe viel Alkohol getrunken, bin dann ins Casino marschiert, um mich irgendwie seelisch zu beruhigen oder aufzurichten […], ich bin eigentlich sehr stolz, ich habe nie jemanden gebraucht, ich bin nie zu einem Psychologen gegangen, oder zu einem Psychiater, […] ich habe gesagt: du musst es selber schaffen, du musst es selber schaffen. Und sehr viel geholfen hat mir der Sport. Da baust sehr viel ab (kurze Pause) da musst du dich natürlich quälen, du musst dich quälen […]“ (KD10, Z. 92). Bei dem zuletzt erwähnten Interviewpartner kam nicht nur die Spielsucht ans Tageslicht sondern auch generell die Gier nach dem Leben. Ähnlich dozieren auch Schuller und Kleber (1993) über die Suche und die Süchte in der modernen Gesellschaft : Angesichts der Leistungsorientierung moderner Gesellschaften ist der Kontrollverlust einerseits die einzige Möglichkeit des ekstatischen Heraustretens, die das System der Selbstkontrolle verlässt. Andererseits wird aber gerade er wieder zum Zwang. Die Sucht ist ein Kreislauf des unmöglichen Potentials. Parallel zur zunehmend virtueller generierten Realität entstehen immaterielle Formen der Sucht. Liebessucht, Spielsucht, Computersucht bis hin zur – das ist nur scheinbar ein Paradoxon – Gesundheitssucht. (vgl. S. 7) 86 Bezüglich Kaufsucht und kartengestützte Systeme hat Wilkoutz (2005) in ihrer Studie herausgefunden, „dass bei den als stark kaufsuchtgefährdet identifizierten Personen ein wesentlich stärkerer Zusammenhang zwischen der bevorzugten Zahlung mittels Karte als in der Gruppe der nicht kaufsuchtgefährdeten Personen“ bestand. Das heißt, laut Wilkoutz (2005) „dass kaufsuchtgefährdete Personen häufiger und auch lieber mit Karte zahlen, als nicht Kaufsuchtgefährdete“ (S. 166). „Sie hat genauso die Bankomat (stottert) karte gehabt […] und dann haben wir ein gemeinsames Konto gehabt und dadurch hat sie auch (Pause) und dann nach ein paar Monaten war wieder das Problem.“ (KD4, Z.80) Aber nicht nur die Bankomatkarten wurden von den Kauf- und Spielsüchtigen benutzt, sondern jede Art von Geldbeschaffung stand auf dem Programm. Da wurden trickreich die Losungsworte der Sparbücher erkundet oder den Angehörigen ins Gesicht gelogen, nur um an Bargeld für das Befriedigen der Sucht zu kommen: „[…]sie hat wieder solange herumgetan, dass ich ihr es gesagt habe (Pause)“ (KD4, Z. 118). „[…] ich habe gelogen, was das Zeug herhaltet. Da erfindet man Sachen, das ist ganz schlimm. Da darf ich heute gar nicht mehr dran denken.“ (KD9, Z. 130) 6.4.3.12 Selbstwert und Identität als geschäftsfähiger Mensch Die Übergabe der Bankomatkarte beim Erstgespräch in der Zweiten Sparkasse wurde von allen durchwegs sehr positiv aufgenommen und beim Großteil (zehn Personen , 71,4%) gab es zum Teil sehr euphorische Aussagen wie „ es war wie Geburtstag“ (wurde zweimal erwähnt), oder „wie ein kleines Kind vorm Christbaum“ (wurde einmal erwähnt). Es wurde von allen Personen Erleichterung und Freude verbalisiert und auch Dankbarkeit ausgedrückt: „Da ist mir eigentlich schon wieder besser gegangen (lacht das erste Mal) weil das ist so toll erklärt worden. Das ist ganz ein anderes Gefühl, wenn man hört, man kriegt eine Kontokarte, dann ist man […] da ist mein Herz wieder leichter geworden.“ (KD4, Z. 106) „[…] ich kann nur Danke sagen“ (kurz und bündig) (KD5, Z. 183). „[…] ich habe echt Freud gehabt, weil es zuerst bei der Bank nicht gegangen ist […]“ (KD2, Z. 124). „[…] hat mir getaugt wieder ein Konto zu haben und eine Karte […]“(KD8, Z. 102). „[…] wie ein kleines Kind vorm Christbaum. Kleine Kinder vorm Christbaum, wenn sie den Christbaum sehen.“ (KD14, Z. 84, 86) Die Kontoeröffnung und die Übergabe der Bankomatkarte als Sinnbild der wiedergewonnenen Geschäftsfähigkeit wurden wirklich als Besonderheit empfunden. Habermas (1996) sieht „die Notwendigkeit von öffentlichen Identitätssymbolen in den Erfordernissen sozialer Interaktion be87 gründet“ (vgl. S. 233). Und er führt aus, dass Dinge sich besonders dazu eignen, diese erforderlichen Identitätssignale zu geben. „Identitätssymbole sind die standardisierten Teile dessen, was den ersten Eindruck von einer Person ausmacht“ (vgl. ebd.). „Ja, es ist nichts anderes, als wenn du kein Handy hast. Kein Handy, keine Bankomatkarte, keine e-card bist du aufgeschmissen [erledigt]. Ohne die drei Sachen bist du wirklich aufgeschmissen […] die sind ja auch alle aus Plastik, ob Führerschein, die Bankomatkarte, die e-card […] die SIM Karte, es ist alles, alles auf Karte aufgebaut und ohne Karte geht nichts.“ (KD13, Z. 130, 132) Habermas (1996) gibt uns weiteren Einblick: „Aber nicht allein der praktische Nutzen von uns gehörenden Dingen evoziert Interesse, das zur Aneignung motiviert; bereits allein die Vertrautheit mit bestimmten Dingen, die mit ihnen verknüpften Erinnerungen und die durch sie wachgerufenen praktischen Hoffnungen und Erwartungen lassen uns diese Dinge besonders lebendig sein“ (S. 22). „In der heutigen Zeit wäre das wirklich (längere Pause) ich glaube, das würde kein Mensch verstehen (hysterisches Lachen) dass ich keine Bankomatkarte habe oder so.“ (KD6, Z. 76) „[…] für mich ist es kein Leben […] eine Bankomatkarte ist das Um und Auf im Leben, kommt mir vor.“ (KD5, Z. 78) „[…] es war wie Geburtstag […] und der Gedanke: habe ich das überhaupt verdient und es war einfach unbeschreiblich.Und die Bankomatkarte, wo ich sie in den Händen gehabt habe: jetzt habe ich ein Zahlungsmittel, kann ich damit noch umgehen?“ (KD12.Z. 98) Zwei Betroffene aus der Stichprobe hatten nach ihren Angaben wiederum kein Problem ohne Konto und Bankomatkarte. Sie hatten sich anscheinend an die Situation gewöhnt und das Beste daraus gemacht: „[…] war eigentlich nicht schlimm […]“(KD14, Z. 78). „Kein Problem, ich habe so viele Jahre lang kein Geld gehabt, das war mir eigentlich egal. Nein, ich habe echt kein Problem gehabt.“ (KD9, Z. 76) Eines der wichtigsten Voraussetzungen für einen Privatkonkurs ist ein geregeltes Einkommen. Ohne Konto gab es aber meist keinen Arbeitsplatz und kein geregeltes Einkommen, da der Großteil der Firmen den Zahlungsverkehr und damit die Gehaltsabrechnungen nur mehr unbar über Girokonten durchführte: „[…] es gibt Firmen bei uns, da kriegst du [bekommt man] gar keine Arbeit, wenn du kein Konto hast.“ (KD7, Z. 62) „Ich habe bekanntgegeben und er hat überwiesen, fertig […]“ (KD3, Z. 150). 88 Wenn man also kein gültiges Konto vorweisen konnte, fiel man bei der Arbeitssuche schon durch den Rost und der Teufelskreis von Arbeitslosigkeit und Überschuldung drehte sich immer schneller weiter. Hier wurde dann ein laut den Allgemeinen Geschäftsbedingungen österreichischer Sparkassen8 nicht erlaubter „Umweg“ eingeschlagen und es wurde das Konto der Lebenspartnerin angegeben, um überhaupt den Lohn ausbezahlt zu bekommen: „Ja dann habe ich halt natürlich über die Freundin gemacht das Konto […], ich mache ein neues auf, auf ihren Namen und basta.“ (KD7, Z. 54) Aber derselbe Interviewpartner war am Ende des Interviews froh über sein eigenes Konto bei der Zweiten Sparkasse. Jeder Kontoinhaber ist selbst verantwortlich für sein Konto und seine Bankomatkarte und Zeichnungsberechtigungen sind nicht zugelassen. „Dafür brauche ich auch ein eigenes Konto, da greift keine Frau mehr darauf zurück.“ (KD7, Z. 195) 6.4.3.13 Bagatellisierung bzw. Verheimlichung der Schulden Sechs Personen (42,9%) erklärten, dass sie mit niemanden über die Schulden gesprochen haben. Fünf Personen (35,7%) zogen die Eltern ins Vertrauen, mit Bankbeamten haben drei Personen (21,3%) die Sachlage besprochen und nur ein Interviewpartner (7,1%) hatte sein gesamtes Umfeld mit einbezogen. „Mit niemanden, weil ich habe mich ja geniert.“ (KD10, Z. 18) „Aber es darf keiner wissen.“(ganz leise.) (KD11, Z. 16) In beiden Aussagen kam die Scham sehr deutlich zum Ausdruck. Schon Fossum & Mason (1992) geben ihrem Buch von Scham und Selbstwertgefühl in Familien den Titel „Aber keiner darf’s erfahren“. Und die Autoren definieren Scham als „ein inneres Gefühl der völligen Herabwürdigung und Unzulänglichkeit als Person“ (vgl. S. 25). Um diesem Gefühl der Beschämung auszuweichen, wird einfach nicht „darüber“ gesprochen. Und häufig ist die Abwehr so stark, dass sich diese Personen „als sehr leistungsfähige, kompetente Menschen darstellen“ (S. 72). Von den meisten Befragten (12 Personen, 85,7%) wurde viel zu spät Hilfe in Anspruch genommen. Vier Personen (28,6%) gaben an, vorerst versucht zu haben, selbst aus dem Schlammassel herauszufinden, fünf Personen (35,7%) wurden von Bekannten, Kollegen oder Mitarbeitern aus 8 AGB österr. Sparkassen, Ausgabe November 2009, Z 29: Zur Verfügung über das Konto ist lediglich der Kontoinhaber berechtigt. Und Z 30: Der Kontoinhaber kann anderen Personen ausdrücklich und schriftlich eine Zeichnungsberechtigung erteilen. Der Zeichnungsberechtigte ist ausschließlich zur Vornahme und zum Widerruf von Dispositionen über die Kontoforderung befugt. 89 verschiedenen Institutionen bezüglich Schuldenberatung aufgeklärt und fünf Personen (35,7%) ergriffen selbst die Initiative. Viele Kunden in der Überschuldungssituation wollten die Realität einfach nicht sehen: „[…] dann habe ich angefangen, den Kopf in den Sand zu stecken […]“ (KD9, Z. 18). Diese Situation ist den Banken sehr wohl bekannt, wie Kovacic (1986) den Filialleiter einer großen Bank zitiert: „viele Leute benehmen sich wie die Kinder. Wir lassen bestimmt gerne mit uns reden, aber man muß eben zu uns kommen und dann auch mit uns reden wollen und nicht den Kopf einziehen und warten, bis der große Schlag kommt“ (vgl. S. 68). Auch der Geschäftsführer der Schuldnerberatung Kärnten, Herr Mag. Kleindl erklärt, dass die Klienten „meist zu spät“ zur Beratung kommen: „Zumeist kommen die Leute zu uns, wenn bereits die Exekutionen laufen und da ist schon eine relativ lange Vorlaufzeit dahinter [….] Die, die kommen, kommen entweder weil in der Familie der Partner sagt: jetzt geh endlich zur Schuldnerberatung oder was zunehmend vorkommt: die Arbeitgeber schicken uns die Mitarbeiter und auch Banken sehen aufgrund des monatlichen Status und sagen dann oft: du pass auf, es ist besser, du meldest dich einmal bei der Schuldnerberatung und besprich einmal, welche Möglichkeiten es gibt“ (persönliche Mitteilung vom 19.10.2010). „[…]das wissen sie ‚eh‘ [ohnehin], dass nie Geld da war (lacht befangen)“ (KD2, Z. 78). „[…] steht schon oben: Privatkonkurs. Aber steht oben: geringfügig […] “ (KD3, Z. 85). „[…] 1ch bin ja ein junger Mensch, ist ja klar, dass ich nicht immer so viel zur Verfügung gehabt habe, und das hat er aber nicht eingesehen (redet sehr schnell) und dann hat er gesagt: bitte Konkurs anmelden.“ (KD6, Z. 28) Die Verheimlichung der Schulden ging so weit, dass sogar die eigenen Partner nicht oder sehr spät informiert wurden. Hier war doch sehr viel Angst vor der Reaktion des Partners im Spiel und davor, dass er sich vielleicht abwenden könnte. Die Angst vor Liebesverlust und der Wunsch dazuzugehören führten dazu, die Schulden zu verheimlichen: „[…] ich habe ein bisschen Zeit gebraucht, bis ich es ihm gesagt habe […]“ (KD1, Z. 33). „[…] der größte Fehler war natürlich, dass ich es daheim nicht gesagt habe […] “ (KD3, Z. 28). „Ich habe mich geschämt. Ich habe es ihm 6 Monate nicht gesagt (Pause)[…] “ (KD11, Z. 44). „Und so bin ich mit Schulden schon in die Ehe rein gestiegen, wobei ich es meinem damaligen Mann, jetzt Exmann, (holt tief Luft) verschwiegen habe.“ (KD12, Z. 14) 90 Drei Interviewpartner waren aber in ihrem sozialen Umfeld sehr gut integriert und hatten keine Probleme, die Schulden zum Gesprächsthema zu machen: „[…] mein Umfeld hat das damals schon gewusst, das ist kein Geheimnis gewesen.“ (KD7, Z. 30) „[…] ich habe ja kein Problem damit gehabt, dass ich mich oute und sage: hej, ich habe Schulden, ich bin jetzt bei der Schuldnerberatung gewesen.“ (KD13, Z. 72) „Es wissen alle.“ (KD14.Z. 62) 6.4.3.14 Einschätzung der Lebensqualität Bezüglich Ihrer Lebensqualität fühlten sich sechs Personen (42,9%) nicht eingeschränkt. Wobei hier doch eine gewisse Idealisierung sichtbar wurde, da ein Befragter einräumte, dass er sich im Vergleich zu früher doch etwas eingeschränkt fühlte, aber in der derzeitigen Situation, „wenn man sich an das neue Leben angepasst hat“ fühlte er sich nicht eingeschränkt. Ein anderer „atmet jetzt wieder auf“, da er „vorher fast resigniert“ hatte. Weitere sechs Personen (42,9%) fühlten sich eingeschränkt, wobei es hier auch eine gewisse Bandbreite gab: Manche fühlten sich „sehr eingeschränkt“ und andere berichteten nur von „kleineren Einschränkungen“. Zwei Personen (14,2%) fühlten sich „mittelmäßig“ oder waren „mit wenig zufrieden“. Goffman (2003) meint zur Idealisierungstendenz: „Der Einzelne wird sich also bei seiner Selbstdarstellung vor anderen darum bemühen, die offiziell anerkannten Werte der Gesellschaft zu verkörpern und zu belegen, und zwar in stärkerem Maße als in seinem sonstigen Verhalten“ (vgl. S. 35). lebe genauso schön wie früher, ich meine […], mit ein bisserl Mitdenken, aber das schadet nicht, das schadet überhaupt nicht.“ (KD11, Z. 123) „Ich „Es geht so mittelmäßig, mittelmäßig, ich schaue wohl [ich bemühe mich], dass immer alles pünktlich gezahlt wird.“ (KD1, Z. 83) „[…] 94) ich kann nicht sagen, dass ich überglücklich bin, aber ich bin zufrieden.“ (KD10, Z. Laut Hauser (1997) ist die Lebenslage eines Menschen dann „besonders schlecht [sic], wenn sie in der jeweiligen Gesellschaft, in der er lebt, so weit unter den durchschnittlichen Lebensverhältnissen liegt, dass der Betroffene an den Rand gedrängt und von den üblichen anerkannten Aktivitäten der Gesellschaft ausgeschlossen wird“ (vgl. S. 30). 91 „Früher habe ich mir viel mehr leisten können, ich habe sozusagen alles gehabt, ja (sehr traurig) und jetzt, kann ich mir eigentlich nichts leisten.“ (KD4, Z. 170) „[…] die Frau will immer Urlaub fahren, aber ich (längere Pause) weiß nicht, wenn ich einmal Zeit habe, tue ich fischen. Das geht.“(KD2, Z. 168) Es gab auch Betroffene, die sich als sehr bescheiden bezeichneten und Weber (2008) charakterisiert in ihrem Artikel die Bescheidenheit als „still, sie erregt kein Aufsehen, sie ist leise und doch sehr präsent“ (vgl. S. 64). „Ich bin eher immer auf der bescheidenen Seite, ich bin kein materieller Mensch […] und mir geht es gut […] “ (KD9, Z.146). Fünf Befragte (35,7%) mussten im Gegensatz zu früher auf nichts verzichten. Auf ein Auto mussten zwei Personen (14,2%) verzichten, auf Urlaub drei Personen (21,3%) und der Verzicht auf eine eigene Wohnung wurde von einer Person (7,1%) angegeben. Zwei Personen (14,2%) gaben an, auf vieles verzichten zu müssen und eine Person (7,1%) berichtete ,,dass kein Sparen möglich“ war, aber durch den Privatkonkurs „ist alles geordneter“. „[…] ja, wenigstens ist jetzt eine Ruhe, ich kriege keine Gerichtsbriefe mehr, keine Mahnungen mehr, das ist viel wert.“ (KD9, Z. 20) „Ich habe natürlich meinen Lebensstandard heruntergeschraubt: ich fahre nur mehr mit dem Rad […]“ (KD10, Z. 30). Dieser Interviewpartner sprach relativ trocken über seinen eingeschränkten, neuen Lebensstil. Aber wie Schneider (1997) in seinem Artikel erörtert, ist „die Folge der Einschränkung Ausgrenzung. Das schmale Budget lässt es nicht zu, teilzuhaben an den Angeboten und an dem fast immer mit Geld verknüpften Miteinander in unserer Gesellschaft. Ausgrenzung findet zudem statt durch die Augen der anderen, die die so wichtigen Statussymbole vermissen, vom Auto über die Kleidung bis hin zur gelegentlichen Großzügigkeit“ (S. 13). Für einige Interviewpartner war es aber sehr schwierig, mit dieser Situation umzugehen: „Irgendwie schwer zu glauben, dass du selber auch so drinnen hängst […]“ (KD3, Z. 200). „[…] da weiß ich schon, dass nichts mehr geht jetzt, es kann nur mehr aufwärts gehen, sagen wir so (längere Pause) abwärts nicht mehr. Ich probiere es halt […]“ (KD2, Z. 203). „[…] es wäre mir lieber, wenn es nicht so wäre […] weil, weil (längere Pause) es ist ein irrsinnig langer Prozess, bis man sich daran gewöhnt.“ (KD10, Z. 86) Dieser Satz charakterisiert sehr gut den langen, beschwerlichen Weg aus der Schuldenspirale zurück ins normale schuldenfreie Leben und alle Befragten würden mit der Erfahrung von heute anders handeln. Sie würden mit „Geld anders umgehen“ ( zwei Personen, 14,2%), „mit Geld vor92 sichtiger umgehen“ (zwei Personen, 14,2%), „auf das Geld mehr aufpassen“, das „eigene Geld mehr schützen“ (zwei Personen, je 7,1%), „sparsamer sein“ (drei Personen, 21,3%), Ehepartner in die Kontoführung einbinden (eine Person, 7,1%), „andere nicht mehr unterstützen“, „keine Kreditaufnahmen“ mehr tätigen, „nicht mehr als Bürge unterschreiben“ (drei Personen, je 7,1%), „mit Partnern vorher die finanziellen Dinge regeln“ (fünf Personen, 35,7%). Nur eine Person (7,1%), die durch einen Unfall in diese missliche Lage gekommen war, hatte keinen Einfluss auf ihr Handeln. (Auch bei dieser Frage gab es als Antwort zahlreiche Mehrfachnennungen). „[…]also dazu muss ich schon sagen, mit dem Wissen von jetzt, wie das jetzt ausgehen würde, würde ich ALLES ändern. Also würde ich komplett alles anders machen.“ (KD14, Z. 204) 93 6.5 AUSWEG AUS STIGMATISIERUNG UND SCHAM ODER DOCH NUR DIE ZWEITE WAHL? Stigmatisierung und Scham spielen bei den Betroffenen in einem Schuldenregulierungsverfahren eine sehr große Rolle, wie die Analyse schon gezeigt hat. Bude (2008) beschreibt diesen „Teufelskreis der Scham“(vgl. S. 78) sehr treffend: „Wer nicht mehr auftaucht, verliert den Anschluß“ (S. 78) und Lautmann (1975) sieht das Problem der Stigmatisierung hauptsächlich als ein Problem der Gesellschaft: Vorurteile und Diskriminierungen sind nicht Merkmale der betroffenen Minderheit und nicht bei ihr zu kurieren, vielmehr bestehen sie in den Köpfen der Mehrheit. Stigmata, Stereotype oder Vorurteile sind Einstellungen der Mehrheitsbevölkerung. Im gleichen Maße, wie die stigmatisierten Einstellungen sich milderten, würde die soziale Lage der Stigmatisierten sich bessern: Unberührbarkeit und Kommunikationsbarrieren würden fallen, Arbeitsplätze stünden offen, die Segregation wäre aufgehoben. Entstigmatisierung kann nur insoweit gelingen, als die diskriminierenden Einstellungen der Gesellschaft verschwinden. (vgl. S. 173) Der Schwerpunkt meiner Diplomarbeit beschäftigt sich mit der Frage, ob sich für meine Interviewpartner durch die Eröffnung eines Kontos bei der Zweiten Sparkasse und durch eine eigene Bankomatkarte ein Ausweg aus Stigmatisierung und Scham ergeben hatte. Alle 14 Interviewpartner betonten, dass das Konto und die Bankomatkarte der Zweiten Sparkasse mitsamt den dazu gehörenden Dienstleistungen (netbanking, SB-Überweisung usw.) ein wunderbares Hilfsmittel war, um das finanzielle Leben wieder in den Griff zu bekommen. „[…] ich war einfach froh, dass ich ein Bankkonto kriegt [bekommen] habe, dass alles wieder normal, so normal (kurze Pause) man hat ja die Abbuchungen (längere Pause) und so […]. Und dann hast du wieder deine Regelmäßigkeit drinnen, die du einfach brauchst. Und ich war dann auch erleichtert, dass ich das Konto gehabt habe.“ (KD9, Z. 84) Durch ein Zahlungsverkehrskonto und eventuell auch ein Sparkonto kam wieder Struktur in das Leben der Betroffenen. Und viele waren sehr dankbar, dass sie in dieser Situation Hilfe erfuhren: „Ich sage so, von der Zweiten Sparkasse her (Pause) es ist wenn dich auch sonst keine andere Bank (kurze Pause) weil, wenn du im Privatkonkurs drinnen bist, dann bist du bei allen Banken gesperrt, auch wenn du den Höchsten kennst bei der Bank, der kann selber nichts machen. […] Wenn du dann wieder eine gerade Linie hineinbringen willst, dass dein Leben wieder auf geordneten Schienen läuft, bist schon froh, dass da irgendwo wer ist, der sagt: Komm, ich helfe dir.“ (KD14, Z. 114) 94 Einige Interviewpartner hatten schon einen sehr langen und beschwerlichen Weg hinter sich, mit vielen Höhen und Tiefen und einigen schweren Schicksalsschlägen. Und sie waren froh, dass sie in Teilzielen dem großen Ziel der Entschuldung entgegengehen konnten: „[…] weil du dann merkst: du hast das beim Schuldnerberater so weit fertig, du kommst dann her: das ist dann der nächste Schritt mit der Bankomatkarte. Wo das dann irgendwo, wo du dann siehst: da ist ein langer Gang und die bist jetzt im viertelten, dann in der Hälfte drin und es wird einmal fertig (Pause) das ist schon (seufzt erleichtert) wichtig.“ (KD14, Z. 88) Auch für das Selbstwertgefühl waren das Konto und die Bankomatkarte sehr wichtig: „Ja, das auf alle Fälle, da hast du dann ein Selbstwertgefühl […]. Und dann gehst du hinüber, wenn du etwas oben hast, holst es heraus und zack, fertig.“ (KD5, Z. 88) Die Hilfe zur Selbsthilfe und die Übernahme der Verantwortung für das eigene Geld spielten eine große Rolle. Dadurch, dass in der Organisation der Zweiten Sparkasse kein Schalter vorgesehen ist, müssen die Kunden der Zweiten Sparkasse nach dem Erstgespräch und der Übergabe der Bankomatkarte die Infrastruktur in den Foyers und die Selbstbedienungsautomaten (SB-Terminals) benutzen. Es stehen während der Schalterstunden die Sparkassenangestellten der jeweiligen Landessparkassen als Ansprechpartner zur eventuellen Hilfestellung zur Verfügung, aber nach der Einschulung müssen die Kunden selbst ihre Überweisungen und sonstigen Transaktionen durchführen. Manche Probleme der Interviewpartner ließen sich durch Telefonate mit der Zentralstelle oder der Hotline lösen. Im Großen und Ganzen waren die Kunden zufrieden und stolz auf ihre Selbstständigkeit: „[…] da fangt man richtig an sparen […] ich bin selber draufgekommen, wenn man direkt bei die Sachen dabei ist, so wie unten bei den Automaten, man setzt sich richtig ein, und dann denkt man, dann schreibt man sich die Sachen auf. Die Kontoauszüge holt man sich heraus und daheim schreibe ich es zusammen.“ (KD4, Z. 120) Die Scham, die die Interviewpartner durch die Überschuldung und durch den Privatkonkurs erfahren hatten und die damit verbundenen körperlichen und seelischen Auswirkungen konnten durch die Zweite Sparkasse gemildert, aber nicht aufgehoben werden. Ein Großteil der Interviewpartner (11 Personen, 78,6%) verspürte auch nach der Kontoeröffnung bei der Zweiten Sparkasse Scham. Es wurde in den Interviews sehr viel Freude über das neue Konto ausgedrückt, aber trotzdem hatten nur wenige ihrer Umwelt mitgeteilt, dass sie das Konto bei der Zweiten Sparkasse führten: „Das weiß ja fast niemand. Das weiß eigentlich niemand. Also von meiner Bank, das weiß eigentlich niemand.“ (KD10, Z. 76) „[…] viele wissen gar nicht, dass ich die Zweite Sparkasse habe, weil eigentlich von die Banken her nie ein Thema war, wo wer hingeht.“ (KD14, Z. 106) 95 Und auf die Frage, ob die Zweite Sparkasse ein Ausweg aus Stigmatisierung und Scham wäre, sagte ein Kunde trocken: „[…] ist es schon, auf jeden Fall. Wenn das jemand so wegsteckt und sagt, es ist bald vorbei, der lügt Sie sicher an […]“ (KD3, Z. 128). Es gibt laut Aussage von Bude (2008) anscheinend auch einen „subjektiven Faktor“, der „darüber entscheidet, ob man die eigene Lage als gefährdet oder als aussichtslos beurteilt […], ob man sich seinen Stolz bewahrt oder vor Scham vergeht“ (vgl. S. 52). Auch die Auswertung nach dem Kategoriensystem ergab nach Kontoeröffnung (Anlage 3: Tabelle Y) einige Treffer: „Es ist schon, ich meine, es ist auch eine Sparkasse aber trotzdem […] wäre mir lieber, wenn du bei der Ersten hineingehen kannst.“ (KD 3, Z. 128, Z. 130), „[…] und ich gehe natürlich auch nicht hinaus und sage: hey, ich habe jetzt bei der Zweiten […]“ (lacht etwas verlegen) (KD7, Z. 83). Von einigen Interviewpartnern wurde auch die Bankomatkarte mit dem Sparkassenlogo und dem Schriftzug „Zweite Sparkasse“ eher als „Stigmasymbol“ gesehen: „Wahrscheinlich, wenn du einmal mit dem Bankomat auch einmal zahlst, dann wirst du den Finger draufhalten, wo Zweite draufsteht (kurze Pause) oder (längere Pause) so stell ich mir das vor, wenn jemand daneben steht oder so.“ (KD3, Z. 126) „Es steht schon Zweite (längere Pause). Und zum Beispiel, wenn jetzt wo anders das Konto gebraucht wird, dann wird schon nachgefragt: ah, so, Zweite Sparkasse (kurze Pause) sag ich schon: ja, das ist die Zweite Sparkasse.“ (KD6, Z. 86) Und ein paar Minuten später erzählte dieselbe Kundin von einer „peinlichen“ Situation: „Einmal im Foyer war es schon ein bisschen komisch (kurze Pause) weil, ich wollte nachfragen, (verlegen) wie es so ausschaut, wie lange ich das Konto bei der Zweiten habe und wann ich wieder halt eben umsteigen kann auf die Erste Bank (längere Pause) und dann war es aber nicht, dass wir hinten ins Büro gegangen sind, sondern es war halt im quasi (längere Pause) und dann hat sie irgendwie ganz so laut geredet: Zweite Sparkasse und hat jeder schon so geschaut, irgendwie (lacht hysterisch) da bin ich mir eben schon ein bisschen blöd vorgekommen (Lachen) weil jeder schon so geschaut hat. Sonst eigentlich eh nicht, aber da schauen eben die Leute oder (längere Pause) da habe ich mir gedacht: ja Mein Gott na (hysterisches Lachen).“ (KD6, Z. 88) Goffman (1994) beschreibt diese für beide Seiten unangenehme Situation folgendermaßen: „In sozialen Situationen mit einem Individuum, bei dem ein Stigma bekannt ist oder wahrgenommen wird, verwenden wir also wahrscheinlich Kategorisierungen, die nicht passen, und sowohl wir als auch der Stigmatisierte erfahren wahrscheinlich Unbehagen“ (vgl. S. 30). 96 Es wurde aber grundsätzlich sehr viel Freude und Dankbarkeit ausgedrückt. Kritik wurde laut in Hinblick auf die gesetzliche Lage in Österreich und dass es kein Recht auf ein Girokonto gibt: „[…] ja, aber da verstehe ich den Gesetzgeber nicht, es gibt Firmen bei uns, da kriegst du [bekommt man] keine Arbeit, wenn du kein Konto hast.“ (KD7, Z. 62) Hierzu schreibt Valina (2010) in seiner Diplomarbeit: „Ein Girokonto ist für die Teilnahme am wirtschaftlichen Leben unverzichtbar. Banken verwehren ca. 50.000 Menschen in Österreich das Recht ein solches Girokonto zu eröffnen. Sie verweisen auf die mangelnde Bonität dieser KundInnen und verweigern die Führung von Girokonten auf Habenbasis“ (vgl. S. III). Laut der Studie von Angel et. al. (2009) gibt es in nur acht von 19 europäischen Ländern ein Recht auf ein Girokonto. Neben Österreich gibt es in zehn weiteren europäischen Ländern keine gesetzliche Regelung für diese finanzielle Grundversorgung der Menschen. Darunter befinden sich auch Länder wie Deutschland, Großbritannien, Italien, Luxemburg und die Niederlande. Hingegen ist in Belgien, Spanien, Finnland, Frankreich, Litauen, Norwegen, Portugal und Schweden das Recht auf ein Girokonto gesetzlich verankert (vgl. Angel, 2009, S. 11). In Belgien z. B. gibt es dieses Gesetz schon seit 1.9.2003 und jedes Kreditinstitut muss ein solches Konto anbieten. Um zu verhindern, dass einzelne Banken von Kunden mehr als andere in Anspruch genommen werden, ist ein Kompensationsfonds eingerichtet worden, in den alle Banken einzahlen müssen und der von der Belgischen Nationalbank verwaltet wird. (Internetzugriff am 15.4.2011 unter: http://www.tacheles-sozialhilfe.de/harry/view.asp?ID=1114) Von den Schuldnerberatern in Österreich wird auch gewünscht, dass „das Ganze ganz normal als Girokonto der Sparkassen oder des Sparkassenverbandes abgehandelt worden wäre“ (vgl. Mag. Kleindl, persönliche Mitteilung v. 19.10.2010). Der Geschäftsführer der Schuldnerberatung Kärnten freut sich zwar, dass es „das gibt“ [Die Zweite Sparkasse], aber er bedauert, dass es trotzdem zu einer Stigmatisierung der Kunden kommt, weil eben allein durch die Tatsache, dass es nicht: Sparkasse oder Erste Bank ist, sondern die Zweite Sparkasse, die Stigmatisierung bereits erfolgt ist“ (vgl. ebd.). Und er findet, dass die Zweite Sparkasse die zweite Wahl ist, aber gleichzeitig betont er: „aber ich bin trotzdem froh, dass es diese zweite Wahl gibt“ (vgl. ebd.). Valina (2010) zitiert die ASB: „Die immer wieder als Good Practice ins Spiel gebrachte Idee der Zweiten Sparkasse in Österreich ist aus unserer Sicht nur insofern passend, als sie zwar das Thema aufrollt und öffentlich macht, von ihren Kapazitäten jedoch nie in der Lage sein wird, die Versorgungslücke zu schließen“ (vgl. S. 44). 97 Und Neckel (1991) meint dazu: Antidiskriminierungsgesetze, Ombudsmänner, Gleichstellungsämter – wie überhaupt alle öffentlichen Rechtsinstanzen, aber auch die Medien – sind Institutionen, die sicher nicht zur Entlastung sozialer Scham begründet wurden, hierzu aber beitragen können. Selten jedoch sprechen öffentliche Instanzen soziale Scham direkt an. Dies ist zumeist nur dann der Fall, wenn die Benachteiligung eine soziale Gruppe betrifft, deren Ansprüche eine hohe moralische Legitimität besitzen, sich nicht zuletzt aus diesem Grund die stellvertretende Entlastung von Scham besonders gut zur Darstellung der selbstbeanspruchten moralischen Maßstäbe der betreffenden Institution eignet. (vgl. S. 72) Valina (2010) bemerkt an einer anderen Stelle aber auch, dass „in praktisch allen politischen Stellungsnahmen zu diesem Thema die bestehenden Angebote der Banken, allen voran die ‚Zweite Sparkasse‘ als erfolgreiche Maßnahme gegen finanzielle Ausgrenzung genannt“ (vgl. S. 3) wird. Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass das Angebot der Zweiten Sparkasse und die Möglichkeit, ein Konto und eine Bankomatkarte zu erhalten, von allen Interviewpartnern als positiv bewertet wurde. Da diese Kontoeröffnung eine der wenigen Möglichkeiten darstellt, nach einem Schuldenregulierungsverfahren am Finanzleben wieder teilnehmen zu können, wurde die Zweite Sparkasse als große Unterstützung und als Hilfestellung gesehen. Sie konnte wieder Struktur und gewisse Regelmäßigkeiten bieten. Eine eventuelle Stigmatisierung durch das eigene Logo der Zweiten Sparkasse (Zweite Sparkasse als Aufschrift auf der Bankomatkarte) und der eigenen Bankleitzahl war vorhanden, wurde aber nur von wenigen direkt angesprochen. Für alle Betroffenen ist es die zweite Wahl, in Ermangelung einer gesetzlichen Alternative ist aber jeder trotzdem froh, ein Konto und eine Bankomatkarte zu erhalten. Und ein Interviewpartner bringt es auf den Punkt: „Gut, dass es die Zweite gibt. Privatkonkurs ist schlecht.“ (KD3, Z. 214) 98 6.6 DIE ZWEITE SPARKASSE AUS MITARBEITERSICHT Das Modell der Zweiten Sparkasse wurde auch in den Medien positiv erwähnt und zahlreiche Ehrenpreise konnten schon entgegengenommen werden. (Internet: Zugriff unter : https://www.sparkasse.at/Zweite_Sparkasse/Auszeichnungen/) Aber was wäre die Zweite Sparkasse ohne ihre Mitarbeiter? Die Mitarbeiter der Zweiten Sparkasse arbeiten ehrenamtlich, das heißt ohne Entgelt durchschnittlich drei Stunden pro Monat. Je nach Verfügbarkeit der Mitarbeiter werden die Kundentermine vereinbart. Da aber sehr viele Mitarbeiter hauptberuflich im Sparkassensektor arbeiten, werden die Termine mit den Kunden in den jeweiligen Landessparkassen auch auf diese Tatsache hin angepasst. Die Termine finden z. B. in Kärnten meist gegen Abend statt. Im Anschluss an die Normalarbeitszeit in der jeweiligen Filiale der Kärntner Sparkasse werden am Dienstag und Donnerstag in Klagenfurt und am Mittwoch in Villach in den Räumlichkeiten der Zweiten Sparkasse Kundentermine wahrgenommen. Es gibt aber auch zahlreiche Pensionisten der jeweiligen Landessparkassen und der Erste Bank, die im Ruhestand weiterhin für die Kunden der Zweiten Sparkasse unentgeltlich zur Verfügung stehen und ihr Wissen, ihre Berufserfahrung und ihre Menschenkenntnis einbringen. Die Motivation zur Mitarbeit in der Zweiten Sparkasse ist sehr unterschiedlich. Einige wollten ihre Zeit und ihr Fachwissen bewusst einem guten Zweck zur Verfügung stellen, andere haben sich einfach nur zur Verfügung gestellt. Erst im Laufe der Tätigkeit stellte sich dann ihre Entscheidung als richtig heraus, da es „ den Leuten doch gut tut, dass sie von uns beraten werden“ (Interview MA1 [Mitarbeiter 1], bzw. sie sahen „dass es eine andere Seite auch gibt“ (MA5). Da der Großteil der Mitarbeiter den Kunden nur einmal beim Erstgespräch, also bei der ersten Beratung und bei der Übergabe der Bankomatkarte in der Filiale sieht, wird keine allzu große Kundenbindung aufgebaut. Die Mitarbeiter sind bestrebt, die Situation zu entspannen, dem Kunden einen Kaffee anzubieten und ihm die Nervosität zu nehmen. Zur Termintreue der Kunden ist zu bemerken, dass die Termine sehr gut eingehalten werden, manche kommen schon eine Viertelstunde früher, „damit sie ja nicht zu spät kommen“ (MA5). Scham wird von den Mitarbeitern der Zweiten Sparkasse (laut ihren Aussagen) bei den Kunden selten bis kaum festgestellt. Und wenn, dann höchstens, wenn sie nicht selbst in diese Situation gerutscht sind. Die eventuell vorhandene Scham wird eher überspielt, denn die Kunden wären nach Mitarbeitersicht „schon lieber woanders“ (MA3). Generell erklären die interviewten Mitar99 beiter auf die Frage nach den aufkommenden eigenen Gefühlen beim Kundengespräch, dass sie sich selbst gut abgrenzen könnten. Die Struktur der Zweiten Sparkasse und die Richtlinien würden dabei helfen. Außerdem ist ja meistens auch nur eine Stunde für die Beratung eingeplant und eine gute Beratung samt Einschulung an den Geräten lässt wenig Zeit, sich mit dem Kunden und seinen Problemen noch näher zu beschäftigen. Die Frage nach einer eventuell notwendigen Supervision für die Mitarbeiter wurde von allen fünf befragten Kollegen mit „nicht erforderlich“ beantwortet. Positiv erwähnt wird, dass das Modell der Zweiten Sparkasse in ein Netzwerk eingebettet ist, das auch „noch stärker ausgebaut werden könnte“ (MA3). Schuldnerberatung und andere Institutionen helfen, für den Kunden ein Gesamtpaket zu schnüren, „damit ein Einzelschicksal durch diese Vernetzung besser abgefedert werden kann“ (MA3). Die Zweite Sparkasse allein reicht dafür nicht aus, sie kann „nur Struktur bieten“ (MA3). Auf die direkte Frage, ob die Zweite Sparkasse nur die zweite Wahl wäre, gibt es sehr unterschiedliche Antworten der Mitarbeiter. Viele sehen die Zweite Sparkasse eher als zweite Chance für den Kunden, obwohl die Kunden sich schämen, wenn sie die Bankomatkarte herzeigen müssen. Da aber „der Staat seine Verantwortung nicht wahrnimmt“ (MA2), ist es auch eine zweite Wahl, aber es kommt natürlich auf die Information und auf das allgemeine Wissen an. Die Beschämung erfolgt eher durch „Menschen, die überhaupt keine Ahnung haben, was die Zweite tut […]. Aber die haben oft auch keine Ahnung, wie es solchen Menschen geht, wie sie dorthin kommen, und was sie tun müssen, um da wieder heraus zu kommen.“ (MA3) Hier ist noch sehr viel Informationsarbeit in alle Richtungen zu leisten, sowohl in den Medien als auch im zwischenmenschlichen Bereich. Mehr Mitgefühl und Einfühlungsvermögen wären für alle Beteiligten angebracht. Es müsste bewusst gemacht werden, dass der Schritt von der sogenannten Mittelschicht ins Abseits nur ein kleiner ist. „In Zeiten des Turbokapitalismus kann es jeden treffen“ (vgl. Bude, 2008, S. 118). 100 7. ZUSAMMENFASSUNG UND ZUKUNFTSPERSPEKTIVE Wenn ein Mensch Probleme macht, dann ist er Symptomträger einer problematischen Gesellschaft und nicht deren Ursache. (R. Federsel)9 Die vorliegende Studie versucht zu hinterfragen, wie nachhaltig die Zweite Sparkasse dazu beitragen kann, den Menschen während eines Schuldenregulierungsverfahrens aus seiner stigmatisierenden Rolle als Schuldner und „Privatkonkursler“ zu helfen und die damit verbundene Scham etwas abzubauen. Bei den Privatinsolvenzen Europas im Jahre 2009 lag Österreich an vierter Stelle. Es wurden über 9.000 Privatkonkurse eröffnet und allein in Kärnten wurden von der Schuldnerberatung 1.354 neue Fälle bearbeitet. Die Ursachen der Überschuldung reichen von Arbeitslosigkeit über gescheiterte Selbstständigkeit, falschem Umgang mit Geld, Bürgschaft, Trennung und Scheidung, Kaufsucht, Spielsucht bis zu Unfall und Krankheit. Jugendliche Verschuldung ist ebenso ein Problem wie die Überschuldung von Familien und Alleinerzieherinnen. In Kärnten leben bereits ca. 18.000 Personen trotz regelmäßigem Einkommen unter der Armutsgrenze. Da aber Geld generell ein Tabuthema darstellt und sehr oft einfache finanzielle Grundkenntnisse fehlen, wird Geld zum Stressfaktor und belastet nicht nur die Seele der Betroffenen sondern auch deren zwischenmenschliche Beziehungen. Grundsätzlich kann gesagt werden, dass ausgehend von der Stichprobe von vierzehn Interviewpartnern, Probleme im Geldmanagement eine große Schwachstelle darstellten. Zusätzlich verstärkt wurde dies durch außerordentliche Belastungen im familiären Umfeld und meist führte anschließend eine Kombination dieser Ursachen in die Überschuldung. Während der Phase der Überschuldung und des Schuldenregulierungsverfahrens traten vermehrt körperliche und psychische Beschwerden auf, die von „sich Sorgen machen“ bis zum Suizidversuch reichten. Die sozialen Kontakte wurden teilweise oder ganz abgebrochen und Kinder erfuhren zahlreiche Einschränkungen. Stigmatisierung wurde von den Betroffenen massiv wahrgenommen durch öffentliche Bekanntmachung des Konkurses, Verweigerung des Abschlusses von Handyverträgen, Sperre der bestehenden Konten und Ablehnung von neuen Kontoeröffnungen. Sie fühlten sich öffentlich „an den Pranger“ gestellt. 9 Federsel, R. (1991), S. 140 101 Schamgefühle wurden von den Interviewpartnern nur sehr selten offen geäußert. Nur zwei Personen schämten sich nicht wegen ihrer Schulden. Scham wurde grundsätzlich eher verleugnet und verdrängt. Die Schulden wurden von neun Personen sogar innerhalb der eigenen Familie lange Zeit verheimlicht und die Einschätzung der persönlichen Lebensqualität war von Idealisierungstendenzen geprägt. Auch Ängste wurden eher verdrängt, obwohl elf Personen im Laufe des Interviews Zukunftsängste artikulierten. Keiner der Interviewpartner konnte mit dieser Situation wirklich gut umgehen. Ein gewisses Maß an Hilfestellung wurde sichtbar, wenn die Betroffenen in gute soziale Netzwerke eingebettet waren und die Kommunikationsebene in der Familie und bei Freunden schon vor der Verschuldung funktioniert hatte. Geld ist ein wichtiges Statussymbol und die dazugehörende Geld- oder Kreditkarte ist in unserer Gesellschaft ein wichtiger Teil der Identität geworden. Die Bankomat- und Kreditkarte erobert als so genannter „Kartenfetisch“ die verschiedenen Lebensbereiche des Individuums. Wenn man über diese Karten als Zahlungsmittel und Identitätssymbol nicht mehr verfügen kann, lernt man die finanzielle Exklusion kennen, hat keinen oder nur mehr erschwerten Zugang zu den Finanzdienstleistungen und gehört zu den „Ausgeschlossenen“ (vgl. Bude, 2008). Ebenso wie in zehn weiteren europäischen Ländern gibt es in Österreich keine gesetzliche Verpflichtung der Banken ein Konto für „jedermann“ zu eröffnen, obwohl laut EU-SILC 2008 zwei Prozent der Bevölkerung in Privathaushalten ohne eigenes Konto sind. Die Zweite Sparkasse versucht seit ihrer Gründung im Jahre 2006 in enger Zusammenarbeit mit verschiedenen sozialen Partnerorganisationen, diesen finanziell „Ausgeschlossenen“ in ihrer prekären Situation Hilfestellung zu geben. Die Zweite Sparkasse wurde sowohl von den interviewten Kunden wie auch von den befragten ehrenamtlichen Mitarbeitern der Zweiten Sparkasse als professionelle Unterstützung und als „Hilfe zur Selbsthilfe“ gesehen. Durch die Bereitstellung eines eigenen Kontos, das nicht überzogen werden darf, wurde eine gewisse finanzielle Struktur und Sicherheit geboten. So rückte die Zweite Sparkasse, in Ermangelung der Möglichkeit einer ersten Wahl, als „zweite Wahl“ doch an die erste Stelle, bis sich eine andere Möglichkeit erschließen würde. Stigmatisierung durch Kontoführung und Bankomatkarte bei der Zweiten Sparkasse und ein damit verbundenes Schamgefühl waren vorhanden. Sie wurden aber durch die Möglichkeit des eher unpersönlichen und technisierten Ablaufs mittels Selbstbedienungsterminals teilweise kompensiert. Erst wenn alle Personen, die Umgang mit Überschuldeten haben, vermehrt aufgeklärt werden und mit Privatkonkurs, Eröffnung, Tagsatzung oder einem Freigabebeschluss umgehen können und sich dadurch besser in die Situation der Betroffen einfühlen können, wird sich die oft gespannte Situation verbessern. Sowohl für die Schuldner selbst, die sich dann verstanden fühlen und auch 102 Informationen erhalten, wie auch beim Gegenüber, seien es Bankangestellte oder auch andere Personen, wird es eine neue Art von Akzeptanz geben und so manche „peinliche“ bzw. „beschämende“ Situation könnte vermieden werden. Es wäre auch sinnvoll, dahingehend zu arbeiten, den Schamerfüllten durch geschulte Berater zu helfen und die Betroffenen zu lehren „ihre Scham auszuhalten“ (vgl. Marks, 2007). Am Ausdruck dieser Gefühle zu arbeiten, damit sich die Gefühle von der Destruktivität in konstruktives Verhalten wandeln können, wäre für viele Beteiligte überaus notwendig. Aber es ist noch sehr viel Aufklärungsarbeit notwendig, um die vorhandene Stigmatisierung und die Scham von Betroffenen in dieser Ausnahmesituation, wie es ein Schuldenregulierungsverfahren darstellt, wahrzunehmen und Hilfestellungen zu bieten. Sonnenmoser (2009) berichtet von einer Studie, in der Psychodrama-Gruppentherapie und Meditation als auch Psychoedukation und Informationen über finanzielle Angelegenheiten angewandt wurden. Die 33 Probanden berichteten im Anschluss darüber, dass ihre Nervosität, inneren Spannungen, Ängste, Schamgefühle und Befürchtungen in Hinblick auf Geld nachgelassen hatten. Die Wissenschaftler in dieser Studie regten an, dass nicht nur Rechtsanwälte und Finanzberater, sondern auch Psychologen und Psychotherapeuten sich der finanziellen Themen annehmen sollten oder sie wenigstens „im Hinterkopf“ (vgl. ebd.) haben sollten, um den Klienten auch geeignete Interventionen anzubieten. Erschwerend kommt noch hinzu, dass die Personen, die sich selbst überschulden, eher „Gegenwartsmenschen“ (vgl. Zimbardo & Boyd, 2009) sind, und hier wäre es auch wichtig „verhaltensverändernde Programme zu entwickeln, die nicht darauf aufbauen, dass die Teilnehmer zukunftsorientiert sind. Solche Programme sollten ausschließlich durch die Gegenwart wirken, um Verhaltensweisen zu ändern“ (S. 356). Durch die Eigeninitiative eines Betroffenen wurde bereits ein wichtiges Zeichen gesetzt. Mit der Gründung der Selbsthilfegruppe der „anonymen Insolvenzler“ (http://www.anonyme- insolvenzler.de) wurde die Möglichkeit eines Informationsaustausches auf einer anonymen Internetplattform geschaffen. Außerdem wären grundsätzliche, präventive Maßnahmen in Hinblick auf den Umgang mit Geld sehr wichtig, um nicht nur den Betroffenen sondern auch zahlreichen gefährdeten Personen Hilfestellung zu geben. Hier bleibt noch sehr viel zu tun und der ehrenamtliche Geschäftsführer der Zweiten Sparkasse in Kärnten erklärt, dass „ Prävention auch eine Zukunftsvision des Institutes darstellt“ (Interview MA3 v. 5.10.2010). Er merkt auch an, dass es notwendig sei, durch Aufklärung und Hilfestellung den Umgang mit Geld zu festigen, da „die Gefahr des Rückfalls sehr wohl vorhanden sei“ (ebd.). 103 Die Schuldnerberatung verfügt auch über einige Projekte, in denen präventive Maßnahmen, wie Vorträge in Schulen und Fachhochschulen, gesetzt werden. Es wurden aber in Kärnten im Jahr 2010 die Budgetmittel für die Schuldnerberatung um 20% gekürzt und so musste „ leider die hauseigene Präventionsabteilung geschlossen werden, da die primäre Aufgabe die Beratung von Schuldnern ist“(K. Kleindl, GF Schuldnerberatung Kärnten, pers. Mitteilung v. 19.10.2010). Überschuldete Personen, die es schon bis zur Schuldnerberatung oder bis zur Zweiten Sparkasse geschafft haben, haben schon eine einen wichtigen Schritt in Richtung Eigeninitiative gesetzt. Die meisten der Betroffenen ergriffen diese Maßnahme aber viel zu spät und steckten lieber den „Kopf in den Sand“ oder verfielen in Depression oder versuchten, sich das Leben zu nehmen. Die Interviews zeigten auch, wie wichtig das Gespräch für viele Interviewpartner war. Einfach nur reden und sich verstanden fühlen: „Ich sage auch: danke, es war gut, wieder einmal darüber zu reden, man hat nicht oft die Gelegenheit, sagen wir so.“ (KD12, Z.135) Es wäre sicher sinnvoll, eine kostengünstige Therapie (z. B. Gesprächstherapie oder GruppenPsychodrama [vgl. Sonnenmoser, 2009] anzubieten, um im Vorfeld die Ressourcen der Betroffenen zu stärken und die Eigeninitiative zu fördern. Abschließend möchte ich noch an die Verantwortung aller Institutionen appellieren, die mit Betroffenen arbeiten. Diejenigen, die von der misslichen Lage Bescheid wissen, müssten sofort präventiv tätig werden und bereits im Frühstadium der Verschuldung Alternativen aufzeigen und Hilfestellungen anbieten. Es gibt genügend Warnsignale und viele Betroffene wären sehr dankbar, wenn sie Anlaufstellen für besseres Geldmanagement aufsuchen und Informationen einholen könnten, ohne sofort als unfähig abgestempelt zu werden. Sämtliche Maßnahmen, die erst nach dem „worst case“ getätigt werden (sei es bezahlte oder ehrenamtliche Arbeit) können nur versuchen, die Folgen zu lindern. Das eigentliche Problem wird nicht gelöst und damit wird es auch keinen Ausweg aus der Stigmatisierung und der damit verbundenen Scham geben. Auch in Kärnten ist der Grat zwischen der wohlsituierten Mittelschicht und dem Absturz sehr schmal geworden. Es ist niemand mehr davor gefeit, durch wirtschaftliche oder private Katastrophen in den Abgrund der „finanziellen Exklusion“ zu stürzen. Stigmatisierung ist für die Betroffenen neben der finanziellen Belastung eine überaus große psychische Belastung. Sie steht in absolut keiner Relation zur gesellschaftlichen Einstellung gegenüber der gesamtwirtschaftlichen Schuldenpolitik. Hier müssten zuerst die Probleme und die Einstellungen zur Schuldenproblematik der Gesellschaft aufgezeigt und gelöst und nicht Privatpersonen als „Symptomträger“ an den Pranger gestellt werden. 104 8. LITERATURVERZEICHNIS Amt der Kärntner Landesregierung. (2010). Spielsuchtambulanz de La Tour. Diakonie Kärnten. Zugriff am 31.1.2011 unter http://olga.pixelpoint.at/media/PPM_3DAK_suchtvorbeugung/~M1/586.3dak.pdf Angel, St., Einböck, M., Heitzmann, K. (2009). Politik gegen und Ausmaß derÜberschuldung in den Ländern der Europäischen Union. Working Papers. Wien: Institut für Sozialpolitik. Zugriff am 22.2.2011 unter http://epub.wu.ac.at/278/1/document.pdf Angel, St., Einböck, M., Heitzmann, K., Till-Tentschert, U. (2009). Verschuldung, Überschuldung und finanzielle Ausgrenzung österreichischer Privathaushalte. Ergebnisse aus EU-SILC 2008. Statistische Nachrichten 12/2009, S. 1104-1116. Zugriff am 6.3.2011 unter http://www.statistik.at/web_de/static/verschuldung_ueberschuldung_und_finanzielle_ausgrenzung_oesterreichischer__042945.pdf Angel, St., Heitzmann, K. (2010). Auslöser, Verläufe und Auswirkungen von Überschuldung in Privathaushalten. Ergebnisse einer sekundärstatistischen Quer und Längsschnittanalyse des Europäischen Haushaltspanels (ECHP) für Österreich. Forschungsbericht, 01/2010. Institut für Sozialpolitik, WU Vienna. Arbeiterkammer Wien. (2009). Kunden zahlen drauf. Konsumentenschutz Nr. 51. S. 1-16. Zugriff am 13.3.2011 unter www.arbeiterkammer.at/bilder/d105/Kreditzinsen2009.pdf ASB Schuldenreport 2010: Zugriff am 28.1.2011 unter http://www.schuldenberatung.at/asb/equal/newssystem/asb_schuldenreport _2010_END.pdf Bastian, T. (1998). Der Blick, die Scham, das Gefühl. Eine Anthropologie des Verkannten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. BMSK. Bundesministerium für Soziales und Konsumentenschutz. (2007). Ausweg gesucht! Schulden und Privatkonkurs. (5. Auflage) [Broschüre]. Wien. Böhnke, P. (2006). Marginalisierung und Verunsicherung. Ein empirischer Beitrag zur Exklusionsdebatte. In: H. Bude & A. Willisch (Hrsg.), Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige.(S. 100-119). Hamburg: Hamburger Edition. Briegleb, T. (2009). Die diskrete Scham. Frankfurt am Main: Insel Verlag. Bude, H. (2008). Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft. (Ungekürzte Ausgabe 2010). München: Carl Hanser Verlag. Bundesministerium für Soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz. (2005). Jugendliche und Verschuldung. Alles was Recht ist. [Broschüre]. Wien. Damberger, G. (2008, 21. September). In der Pleitefalle. Warum wir immer zu wenig Geld haben. Weekend Magazin, S. 18-21. Zugriff am 8.3.2011 unter http://www.schuldenkoffer.at/downloads/inderpleitefalleweekendmagazin210908.pdf Deutsche Gesellschaft für Psychologie. (2007). Richtlinien zur Manuskriptgestaltung. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Göttingen: Hogrefe Verlag. 105 Diebitz, St. (2005). Seelenkleid. Münster: Lit Verlag. Dowideit, A. (2009, 26. September). Geldsorgen belasten die Seele. Welt am Sonntag. Weltonline. Zugriff am 18.3.2011 unter http://www.welt.de/wams_print/article3624400/Geldsorgenbelasten-die-Seele.html Federsel, R., Daucher H. (1991). …fliege, bunter Schmetterling. Graz: Weishaupt Verlag. Fossum, M., Mason. M. J. (1992). Aber keiner darf`s erfahren. Scham und Selbstwertgefühl in Familien. München: Kösel Verlag. Fromm, E. (1980). Die Kunst des Liebens. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt. Gabanyi, A., Hemedinger, F., Lehner, M. (2007). Jugendverschuldung. Analyse und Präventionsansätze. Linz Zugriff am 1.3.2011 unter http://www.klartext.at/presseartikel/studien/Jugendverschuldung_Studie_2007.pdf Goffman, E. (1994). Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. 11. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. Goffman, E. (2003). Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. (8. Auflage März 2010). München: Piper Verlag. Gross, D. (2011, 28. Jänner). Männlich, Städter, zwischen 30 und 50. Kärntner Tageszeitung. S 24-25. Gross, W. (1990). Sucht ohne Drogen. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. Habermas, T. (1996). Geliebte Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung. Berlin: Verlag Walter de Gruyter. Halmer, S., Hauenschild, B., Höferl, A. (2008). Armut in Kärnten und Tirol. Eine vergleichende Studie. In: Knapp, G., Pichler, H.(Hrsg.). Armut, Gesellschaft und Soziale Arbeit. Perspektiven gegen Armut und soziale Ausgrenzung in Österreich. Klagenfurt: Verlag Hermagoras. Hauser, R. (1997). Wächst die Armut in Deutschland? In: S. Müller, U. Otto (Hrsg.), Armut im Sozialstaat. Gesellschaftliche Analysen uns sozialpolitische Konsequenzen. Neuwied: Luchterhand Verlag. Heidenreich, G. (2002). Die Ränder so nah. In: Grass, G., Dahn, D., Strasser, J. (Hrsg.). In einem reichen Land. Zeugnisse alltäglicher Leiden an der Gesellschaft. Göttingen: Steidl Verlag. Helfferich, C. (2004). Die Qualität qualitativer Daten. Wiesbaden: VS, Verlag für Sozialwissenschaften. Henkel, K. (2011, 18. Januar). Der lange Weg zur zweiten Chance. Der „Gesprächskreis Anonyme Insolvenzler“ bietet Hilfe beim Neuanfang nach dem Konkurs. Neue Zürcher Zeitung. Internationale Ausgabe Nr. 14. Zugriff am 19.3.2011 unter http://www.anonymeinsolvenzler.de/pdf/nzz_18_01_11.pdf Hilgers, M. (1996). Scham. Gesichter eines Affekts. Göttingen [u.a.]: Vandenhoek & Ruprecht. 106 Hohmeier, J. (1975). Stigmatisierung als sozialer Definitionsprozeß. In: M. Brusten & J.Hohmeier (Hrsg.), Stigmatisierung 1. Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen.(S. 7-15). Neuwied u. Darmstadt: Luchterhand Verlag. Hornung, B. (2006). Mental accounting bei überschuldeten Personen. Diplomarbeit. Universität Wien. Zugriff am 19.3.2011 unter http://www.schuldnerberatungwien.at/studien/mental_account.pdf ICD 10, WHO Version 2011, Zugriff 17.3.2011 unter http://www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/htmlamtl2011/block-f80-f89.htm Kärntner Sparkasse. (2008). So werden Teenager fit fürs Geldleben. Ein Leitfaden für Jugendliche und ihre Eltern. [Broschüre]. Klagenfurt. Kassin, L. (2010, 14. Jänner). 18.000 Kärntner am Rand des Abgrunds. Kärntner Tageszeitung. S. 27. Kirchler, E. (1989). Kaufentscheidungen im privaten Haushalt. Eine sozialpsychologische Analyse des Familienalltags. Göttingen: Verlag für Psychologie, Hogrefe. Kirchler, E. (2003). Wirtschaftspsychologie. Grundlagen und Anwendungsfelder der Ökonomischen Psychologie. Göttingen: Hogrefe, Verlag für Psychologie. Klocke, A. (2001). Die Bedeutung von Armut im Kindes- und Jugendalter – ein europäischer Vergleich. In: A. Klocke, K. Hurrelmann (Hrsg.). Kinder und Jugendliche in Armut. Opladen: Westdeutscher Verlag. Klußmann, R. (1998). Psychosomatische Medizin. Berlin: Springer Verlag. Knapp, G., Köffler, M. (2009). Kinderarmut in Kontext der Kindheits- und Armutsforschung. In: G. Knapp, G. Salzmann (Hrsg.). Kindheit, Gesellschaft und Soziale Arbeit. Klagenfurt: Hermagoras Verlag. Kogler, G. (2011). Welche Mächte uns beeinflussen: Der unheimliche Charme des Geldes. €co 2011, 23. Ausgabe, Wien: Dr. Peter Müller Verlag. S.170-181. Korczak, D. (2005). Pilotstudie zur Überschuldung junger Erwachsener. Zugriff am 6.3.2011 unter http://www.schufa-kreditkompass.de/media/studien/pdf_1/kk05_pilotstudie_junge_erwachsene.pdf Kovacic, A. (1986). Suppe genug, aber Seele kaputt. Die neue Armut in der Industriegesellschaft. München: Heine Verlag. Lange, E. (2004). Jugendkonsum im 21. Jahrhundert. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Lange, E. (2007). Zur Verschuldung von Kindern und Jugendlichen zwischen 10 und 24 Jahren. Zugriff am 22.2.2011 unter http://www.politische-jugendbildunget.de/share3/admin2.Lange_Verschuldung.pdf Lautmann, R. (1975). Staatliche Gesetze als Mittel zur Entstigmatisierung. In: . In: M. Brusten & J. Hohmeier (Hrsg.). Stigmatisierung 2. Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen. Neuwied u. Darmstadt: Luchterhand Verlag. 107 Lavanttaler, (2011, 20. Jänner).Kampf der steigenden Spielsucht in Kärnten. Lavanttaler, 2, S. 25 . Zugriff am 25.4.2011 unter: http://www.kregionalmedien.at/channel/la-02-11.pdf Liechti, A. (1998). Trotz Einkommen kein Auskommen – working poor in der Schweiz. Luzern: Caritas Verlag. Marks, St. (2007). Scham – die tabuisierte Emotion. Düsseldorf: Patmos Verlag. Martin, K. (2005). Bis das Geld euch scheidet. Finanzielle Gewalt in Beziehungen. Berlin: Orlanda Frauenverlag. Marx, K. (2009). Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Ungekürzte Ausgabe nach der zweiten Auflage von 1872. Köln: Anaconda Verlag Mattes, K. (2010). Selbst ist der Kunde. Die Zukunft der Selbstbedienung. Team, Das Mitarbeitermagazin der Sparkassengruppe, S. 12-13. Mayring, Ph, (2008). Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 10. Auflage. Weinheim und Basel: Beltz Verlag. Mayring, Ph. (2002). Einführung in die qualitative Sozialforschung. Weinheim und Basel: Beltz Verlag. Meyers Neues Lexikon. (1978). In 8 Bänden. Band 1: A-Bo. Mannheim: Bibliografisches Institut. Meyers Neues Lexikon. (1979). In 8 Bänden. Band 3: Fe-Hn. Mannheim: Bibliografisches Institut. Meyers Neues Lexikon. (1980). In 8 Bänden. Band 7: Ru-Td. Mannheim: Bibliografisches Institut. Müller-Michaelis, M. (2008). Generation Pleite. Was tun, wenn das Geld nie reicht? München: Th. Knaur Nachf. GmbH & Co KG. Neckel, S. (1991). Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit. Frankfurt am Main: Campus Verlag. Neuberger, Ch. (1997). Auswirkungen elterlicher Arbeitslosigkeit und Armut auf Familien und Kinder. In: U. Otto (Hrsg.), Aufwachsen in Armut. Erfahrungswelten und soziale Lagen von Kindern armer Familien. Opladen: Leske + Budrich. Ottomeyer, K. (1987). Lebensdrama und Gesellschaft. Szenisch-materialistische Psychologie für soziale Arbeit und politische Kultur. Wien: Franz Deuticke Verlagsgesellschaft. Ottomeyer, K. (1992). Prinzip Neugier. Einführung in eine andere Sozialpsychologie. Heidelberg: Asanger Verlag. Ottomeyer, K. (2004). Ökonomische Zwänge und menschliche Beziehungen. Soziales Verhalten im Kapitalismus. Münster: LIT Verlag. 108 Paugam, S. (2008). Die elementaren Formen der Armut. Hamburg: Hamburger Edition. Pizzato, P. (2011, 14. Mai). Nicht Ende – sondern Anfang. Kärntner Tageszeitung. S. 26. Pletter, R. (2007). Soziale Innovation, Folge 17: Das Konto für Mittellose. BrandeinsOnline. 6/2007.Zugriff am 14.3.2011 unter http://www.brandeins.de/archiv/magazin/anstand-undkapitalismus/artikel/soziale-innovation-folge-17-das-konto-fuer-mittellose.html Pohl, H. (2007). Kleines Kärntner Wörterbuch. Klagenfurt: Verlag Johannes Heyn. Rapp, Chr., Rapp-Wimberger, N. (2005). Arbeite, Sammle, Vermehre. Von der ersten Oesterreichischen Spar-Casse zur Erste Bank. Wien: Verlag Karl Brandstätter. Riemann, F. (2003). Grundformen der Angst. 35. Auflage. München: Ernst Reinhardt Verlag. Saint-Exupéry, A. de (1990). Der kleine Prinz. (109- -116. Tausend). Zürich: Verlags-AG Die Arche. Santner, D. (2010, 2. Dezember). Zuwachs bei Privatkonkursen. Kleine Zeitung. S. 26. Santner, D. (2011, 27. Jänner). Armut in Villach steigt an. Kleine Zeitung. S. 29. Schenk, M. (2008). Armut in Österreich – Ein Befund. Auszug aus WISO 3/2008. S. 192-206. Zugriff am 22.2.2011 unter http://www.isw-inz.at/themen/dbdocs/Schenk_LF_03_08.pdf Schneider, U. (1997). Armut in einem reichen Land. In: S. Müller, U. Otto (Hrsg.), Armut im Sozialstaat. Gesellschaftliche Analysen uns sozialpolitische Konsequenzen. Neuwied: Luchterhand Verlag. Schönbauer, U. (1990). Konsumentenkredite. Zwischen Wunderwelt und Offenbarungseid. Wien: Institut für Gesellschaftspolitik. Schuller, A., Kleber, J. (1993). Gier. Zur Anthropologie der Sucht. In: A. Schuller, J. Kleber (Hrsg.). Gier. Zur Anthropologie der Sucht. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. Seidler, G. (1995). Der Blick des Anderen. Stuttgart: Verlag Internationale Psychoanalyse. Sonnenmoser, M. (2009). Psychologische Hilfe: Stressfaktor Geld. Deutsches Ärzteblatt. PP 8, Ausgabe April 2009, S. 178 Zugriff am 17.3.2011 unter http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=64147 Steger, Ph. (1997). Die Scham in der griechisch-römischen Antike. In: R. Kühn (Hrsg.), Scham – ein menschliches Gefühl. Opladen: Westdt. Verlag. Stiastny, C. (2008, 24. Jänner). Frauen in der Schuldenfalle. Vorarlberger Nachrichten. Zugriff am 25.4.2011 unter www.schuldenkoffer.at/downloads/fraueninderschuldenfallevn240108.pdf Storch, G. (1962). Umgang mit Geld und Gut. Gütersloh: Bertelsmann. Strauß, A. (1820). Errichtet Spar-Cassen! Worte eines Menschenfreundes, an alle Älteren, Seelsorger, Schullehrer, Fabriks-, Gewerbs- und Dienst-Herren. Faksimile. Wien: Erste Österreichische Spar-Casse. 109 Trimmel, M. (1994). Wissenschaftliches Arbeiten. Ein Leitfaden für Diplomarbeiten und Dissertationen in den Sozial- und Humanwissenschaften mit besonderer Berücksichtigung der Psychologie. Wien: WUV- Universitätsverlag. Valina, Th. (2010). Das Recht auf ein Girokonto als Bestandteil adäquater Daseinsvorsorge? Diplomarbeit. Wien: Fachhochschule fh campus. Zugriff am 22.2.2011 unter http://www.schuldnerberatung.wien.at/studien/DiplomarbeitValina2010.pdf Van der Klis, J. (2010). Die zweite Chance? vormals überschuldeter Privathaushalte mit unterschiedlichem Bildungsniveau unter besonderer Berücksichtigung der Auswirkungen des Scheiterns auf die Lebenssituation .Dissertation Chemnitz: Technische Universität. Zugriff am 22.2. 2011 unter http://www.qucosa.de/fileadmin/data/qucosa/documents/6501/diss_ van_der_Klis.pdf Vogel, B. (2006). Soziale Verwundbarkeit und prekärer Wohlstand. Für ein verändertes Vokabular sozialer Ungleichheit. In: H. Bude & A. Willisch (Hrsg.), Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige.(S. 100-119). Hamburg: Hamburger Edition. Weber, D. (2008). Ich bin klein. Publik Forum. Zeitung kritischer Christen. 14, S. 60-64. Wilkoutz, D. (2005). Kaufsucht – eine neue Sucht, ein neuer Kick? Klagenfurt: Universität Worldbank. (2005): Indicators of Financial Access - Household - Level Surveys. Zugriff am 8.3.2011 unter http://siteresources.worldbank.org/FINANCIALSECTOR/539914-111843 9900885/20700929/Indicators_of_Financial_Access_Household_Level_Surveys.pdf Wurmser, L. ( 1990). Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Berlin u. Heidelberg: Springer Verlag. Zimbardo, P., Boyd J. (2009). Die neue Psychologie der Zeit und wie sie ihr Leben verändern wird. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag. 110 Internet: Anonyme Insolvenzler: Zugriff am 26.4.2011 unter http://www.anonyme-insolvenzler.de/initiator.html http://www.anonyme-insolvenzler.or.at/ Bezirksgericht, öffentliche Ediktdatei. Zugriff am 30.4.2011 unter: www.edikte.justiz.gv.at. Creditreform. Zugriff am 6.3.2011 unter: http://www.creditreform.de/Deutsch/Creditreform/Presse/Archiv/SchuldnerAtlas_Deutschl and/2010/Analyse_SchuldnerAtlas_Deutschland_2010.pdf/ Die Zweite Sparkasse. Zugriff am 30.4.2011 unter: https://www.sparkasse.at/diezweitesparkasse EU-SILC 2008. Ergebnisse. Zugriff am 6.3.2011 unter: http://www.statistik.at/web_de/static/verschuldung_ueberschuldung_und_finanzielle_ausgr enzung_oesterreichischer__042945.pdf Unternehmer in Not. Zugriff am 30.4.2011 unter: www.unternehmer-in-not.at 111 9. ANLAGEN 9.1 Anlage 1: Interviewleitfaden Kunden Zweite Sparkasse Begrüßung und Hinweis auf Anonymität; Aufnahme von statistischen Daten (Höhe der Schulden, Anzahl der Gläubiger, Familienstand, Anzahl der Kinder, für die noch Kinderbeihilfe bezogen wird). Hinweis, dass das Gespräch mittels Diktiergerät mitgeschnitten wird. Frage 1: Seit wann sind sie in Privatkonkurs bzw. seit wann haben Sie den Privatkonkurs angemeldet? Frage 2: Aus welchem Grund sind Sie in die Überschuldung geraten? Frage 3: Haben Sie damals schon mit jemandem darüber gesprochen? Frage 4: Zu welchem Zeitpunkt haben Sie Hilfe in Anspruch genommen? Frage 5: Von welcher Institution sind sie beraten worden? Frage 6: Welche Informationen haben Sie bekommen? Frage 7: Wie hat Ihr Arbeitgeber auf den Privatkonkurs reagiert? Frage 8: Welche Auswirkungen spüren Sie an Ihrem Arbeitsplatz bzw. in Ihrer Umgebung? Frage 9: Wie hat Ihre vorherige Bank auf den Privatkonkurs reagiert? Frage 10: Wie haben Sie Ihre Zahlungen nach der Schließung des Kontos getätigt? Frage 11: Wie ist es Ihnen anschließend ohne Konto und Bankomatkarte ergangen? Frage 12: Mit welchen Gefühlen und Erwartungen sind Sie zum Termin der Zweiten Sparkasse gekommen? Frage 13: Welches Gefühl hatten Sie beim Erstgespräch in der Zweiten Sparkasse und bei der Übergabe der Bankomatkarte? Frage 14: Wie ist es Ihnen nachher mit dem Konto der Zweiten Sparkasse und der Bankomatkarte ergangen? 112 Frage 15: Was sagen die Angehörigen, Bekannten oder Freunde zu Ihrer neuen Bank? Frage 16: Wie hat Ihr Arbeitgeber auf das neue Konto und Ihre neue Bankverbindung reagiert? Frage 17: Welches Gefühl haben Sie selbst, wenn Sie an Ihre Schulden denken? Frage 18: Wie gehen Ihre Angehörigen und Ihre Kinder damit um? Frage 19: Fühlen Sie sich derzeit massiv eingeschränkt bezüglich Ihrer Lebensqualität? Frage 20: Worauf müssen Sie heute im Gegensatz zu früher verzichten? Frage 21: Wenn Sie das Rad der Zeit in die Zeit vor Ihrer Verschuldung zurückdrehen könnten, würden Sie anders handeln? 113 9.2 Anlage 2: Auswertung Kategorien (Tabelle X) Anzahl der Kunden = 14 Variable (Variable 1)V1: Geldmanagement V2: Finanzielle Belastungen durch Familie und Dritte V3: Körperliche Beschwerden Ausprägung Definition Auswertung Anzahl der gefundenen Textstellen pro Auswertungseinheit (=Interview) Prozentsatz (Kategorie 1) K1: klar überschaubar Kommt mit Gehalt sehr gut aus, kann auch etwas ansparen Null 0% K2: überschaubar Kommt gut zurecht 1 7,1% K3: wenig überschaubar Kommt recht und schlecht über die Runden 2 14,2% K4: nicht überschaubar Kommt nicht mehr über die Runden 8 57,1% K5: Chaos Kunde hat überhaupt keine Übersicht mehr 6 42,9% K1: keine Belastung Kunde ist nur für sich selbst verantwortlich 1 7,1% K2: geringe Belastung Kunde betont Geringfügigkeit der Belastung 1 7,1% K3: hohe Belastung Hohe Zusätzliche Zahlungen müssen geleistet werden 5 35,7% K4: extrem hohe Belastung Außerordentlich hohe zusätzliche Zahlungen müssen geleistet werden. 5 35,7% K1: keine Beschwerden Keinerlei körperliche Anzeichen werden genannt Null 0% K2: leichte Beschwerden „Fieber“; schlecht werden (eher psychosomatische Beschwerden) 5 35,7% 114 V4: Psychische Beschwerden V5: Sozialer Kontakt: Freunde und Familie V6: Einschränkungen auch bei den Kindern V7: Stigmatisierung: Eigene Stigmatisierung/ Stigmatisierung der Familie K3: schwerwiegende Krankheiten bzw. Unfall Bandscheibenvorfall,, Herzinfarkt, Unfall 4 28,6% K1: keine Auswirkung Keine Anzeichen Null 0% K2: leichte Auswirkung Sich Sorgen machen; nicht schlafen können; verzweifelt sein; streiten; 8 57,1% K3: schwere Auswirkung Suizidversuch; Depression; Scheidung; Trennung Gewalt in der Familie 9 64,3% K1: soziale Kontakte bleiben weiterhin aufrecht Kunde hat viele Freunde und Bekannte; Familienzusammenhalt ist eng 3 21,3% K2: Kontakte werden teilweise abgebrochen wenige Freunde und Bekannte 6 42,9% K3: Kontakte werden ganz abgebrochen Fast kein Kontakt zu Freunden und im Familienverband 7 50% K1: nicht betroffen Kinder haben keine Nachteile 1 7,1% K2: betroffen Kinder erleiden Nachteile 5 35,7% K3: stark betroffen Kinder erleiden Nachteile am eigenen Leib bzw. sind direkt stark betroffen 5 35,7% K1: keine Stigmatisierung Keinerlei öffentliche und heimliche Stigmatisierung 1 7,1% 115 V8: Schamgefühle bezüglich Schulden V9: Angst/ Zukunftsangst V10: Selbstverantwortung und Eigeninitiative V11: eigenes Suchtverhalten oder beim Partner K2: verdeckt es wird nicht darüber geredet, aber der Kunde fühlt die Stigmatisierung: 8 57,1% K3: offen Bekanntgabe ist öffentlich; keine Handyverträge; kein neues Konto möglich 11 78,6% K1: keine Scham Kunde ist sich keiner Schuld bewusst 2 14,2% K2: verdrängte Scham Kunde verdrängt seine Schamgefühle 7 50% K3: verleugnete Scham Kunde verleugnet die Schamgefühle 7 50% K4: ausgesprochene Scham Kunde spricht offen über seine Scham 6 42,9% K1: keine Angst Keine Angstgefühle vor/während oder nach der Konkurseröffnung Null 0% K2: geringe Angst Geringe Zukunftsängste 6 42,9% K3: große Angst Große Angst vor der Zukunft 5 35,7% K1: vorhanden Wird vom Kunden selbst wahrgenommen 7 50% K2: Verantwortung wird abgeschoben Verantwortung für Schulden wird abgeschoben 4 28,6% K1: nicht vorhanden Kein erkennbares Suchtverhalten Null 0% K2: vorhanden Suchtverhalten ist zusätzlicher Erschwernisfaktor bei der Verschuldung 4 28,6% 116 V12: Selbstwert/ Identität als geschäftsfähiger Mensch V13: Bagatellisierung / Verheimlichung der Schulden V14: Einschätzung der Lebensqualität K1: unabhängig vom Besitz eines Kontos und einer Bankomatkarte Kunde ist der Besitz einer Bankomatkarte nicht wichtig 3 21,3% K2: teilweise abhängig vom Besitz einer Bankomatkarte Kunde fühlt sich im Besitze einer Bankomatkarte als“wertvoller“ 6 42,9% K3: stark abhängig vom Besitz einer Bankomatkarte Selbstwert des Kunden ist stark an seine Karte gebunden 5 35,7% K1: keine Verheimlichung über Schulden wird offen geredet 3 21,3% K2: Bagatellisierung Schuldenthema wird bagatellisiert 4 28,6% K3: Verheimlichung Schulden werden lange Zeit verheimlicht, auch innerhalb der Familie 9 64,3% K1: gut Kunde fühlt sich derzeit wohl; teilweise ist Idealisierung vorhanden; 4 28,6% K2: mittelmäßig Kunde fühlt sich mittelmäßig gut; 8 57,1% K3: schlecht Kunde fühlt sich sehr eingeschränkt; geht schwer mit der derzeitigen Situation um 6 42,9% Auswertung erfolgte laut Tabelle X (siehe nächste Seite) 117 Tabelle X : Auswertung Interviews Kunden Zweite Sparkasse Gesamtübersicht Variable und Kategorien HÄUFIGKEIT (KD1= Interviewpartner Kunde 1) KD1 V1/1 2 3 4 5 V2/1 2 3 4 V3/1 2 3 V4/1 2 3 V5/1 2 3 V6/1 2 3 V7/1 2 3 V8/1 2 3 4 V9/1 2 3 V14/1 2 3 KD3 KD4 KD5 KD6 KD7 KD8 KD9 KD1 0 KD1 1 KD1 2 X X KD1 3 KD 14 X X X X X XX X X X X X X X X X X XX XX X X XX X X X XX XX X X XX X X XX X X X X X X X XX XXX XX X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X XX X X X X X X X X X X X X X X XX X X X X X X X X X X XXX XX X XXX XX XX XXX XX X X X XX X X X XX X X X X X X X XX X X X X XX X XX XXX XXX XXX X X X X X X XX XXX X X XX XX X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X XX X X X X X X X XXX X X X X X X XX X X X X X XXX XX X X X XX X XXX X XXX XX X X X X X V10/1 2 V11/1 2 V12/1 2 3 V13/1 2 3 KD2 X X XX X XX XX XX X 118 9.3 Anlage 3: Häufigkeit, Tabelle Y Y = nach Eröffnung eines Kontos bei der Zweiten Sparkasse KD V1/1 2 3 4 5 V2/1 2 3 4 V3/1 2 3 V4/1 2 3 V5/1 2 3 V6/1 2 3 V7/1 2 3 V8/1 2 3 4 V9/1 2 3 V10/1 2 V11/1 2 V12/1 2 3 V13/1 2 3 V14/1 2 3 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Y Y 11 12 13 14 YY Y Y Y Y Y Y Y Y Y Y Y YY Y Y Y Y Y 119 9.4 Anlage 4: Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Privatinsolvenzen in Europa 2009 ............................................................................ 10 Abbildung 2: Überschuldete Privatpersonen in Deutschland 2004-2009 ....................................... 10 Abbildung 3: Gründe für die Überschuldung 2009 (Österreich) .................................................... 13 Abbildung 4: Stichprobe Zweite Sparkasse: Aufschlüsselung nach Geschlecht ............................ 53 Abbildung 5: Stichprobe Zweite Sparkasse: Aufschlüsselung nach Nationalität ........................... 54 Abbildung 6: Stichprobe Zweite Sparkasse: Schuldenhöhe in Tausend ......................................... 54 Abbildung 7: Stichprobe Zweite Sparkasse: Alter der Kunden ...................................................... 55 Abbildung 8: Stichprobe Zweite Sparkasse: Aktueller Familienstand ........................................... 55 Abbildung 9: Ablaufmodell induktive Kategorienbildung nach Mayring (2002) .......................... 58 120 9.5 Anlage 5: Einwilligungserklärung zum Interview Wie schon in der Methodenfeststellung erwähnt wurde, haben alle interviewten Kunden und die interviewten Mitarbeiter der Zweiten Sparkasse folgende Einwilligungserklärung (vgl. Helfferich, 2004, S. 177) unterschrieben: Einwilligungserklärung Ich bin über das Vorgehen bei der Auswertung der persönlichen „freien“ Interviews informiert worden (u.a.: die Abschrift gelangt nicht an die Öffentlichkeit, Anonymisierung bei der Abschrift, Löschung von Namen und Telefonnummer, Aufbewahrung der Einwilligungserklärung nur im Zusammenhang mit dem Nachweis des Datenschutzes und nicht zusammenführbar mit dem Interview). Unter diesen Bedingungen erkläre ich mich bereit, das Interview zu geben und bin damit einverstanden, dass es auf Band aufgenommen, abgetippt, anonymisiert und ausgewertet wird. Ort, Datum Unterschrift Aus diesem Grund konnten die transkribierten Interviews auch nicht als Anlage auf CD beigefügt werden. Wenn Sie Fragen oder zusätzliches Interesse bezüglich der transkribierten Interviews haben, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung: Tel. 0650/7202867 oder email: h2pirker@gmx.at. 121