Predigt - Nydegg
Transcription
Predigt - Nydegg
Gottesdienst mit Abendmahl und der Möglichkeit zur Salbung, Nydeggkirche 8.3.2015 Predigt zu Markus 10,46-52 Die Heilung des blinden Bartimäus. Markus Niederhäuser Das Wort, in welchem wir heute Nahrung suchen, steht im Markusevangelium in Kapitel 10. Jesus ist mit den Seinen zum letzten Mal unterwegs nach Jerusalem. Der Weg führt über Jericho, seit jeher die letzte Rast der Pilger auf ihrer Wallfahrt nach Jerusalem. Noch eine Tagesreise, bis Jesus als Messias begrüsst und mit Palmzweigen gefeiert werden wird, bei seinem Einzug in die goldene Stadt. Da erzählt uns das Evangelium: 46 b Und als er und seine Jünger und etliches Volk von Jericho weiterzogen, sass Bartimäus, der Sohn des Timäus, ein blinder Bettler, neben dem Weg. 47 Und als er hörte, dass es Jesus von Nazaret sei, begann er laut zu schreien: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir! 48 Da fuhren ihn viele an, er solle schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! 49 Und Jesus blieb stehen und sprach: Ruft ihn her! Und sie rufen den Blinden und sagen zu ihm: Sei guten Mutes, steh auf! Er ruft dich. 50 Da warf er seinen Mantel von sich, sprang auf und kam zu Jesus. 51 Und Jesus wandte sich ihm zu und sagte: Was willst du, dass ich dir tun soll? Da sagte der Blinde zu ihm: Rabbuni, mach, dass ich wieder sehen kann. 52 Und Jesus sagte zu ihm: Geh, dein Glaube hat begonnen, dich zu befreien. Und sogleich sah er wieder und folgte ihm auf dem Weg. Kunstvoll ist alles komponiert: Das Evangelium erzählt uns das Drama der sehend blinden Jünger auf dem Hintergrund des einen Blinden, der durch Jesus wieder sehend wird. Gerade der Blinde neben dem Weg ist es, der sieht, wofür jene, die Jesus auf dem Weg folgen, blind sind. Aber nun der Reihe nach: Jesus zieht mit seinen Weggefährten hinauf nach Jerusalem. Es wird das letzte Mal sein. Doch seine engsten Vertrauten erweisen sich sehenden Auges als blind. Dreimal hat Jesus sein Leiden angekündigt1 – doch seine Begleiter können und wollen nicht begreifen. Wunschdenken trübt ihnen den Blick. Unmittelbar vor der Heilung des blinden Bartimäus erzählt das Evangelium, wie zwei der Jünger, Jakobus und Johannes, mit der Bitte an Jesus herantreten, ob er ihnen den Ehrenplatz reservieren könne in seinem Reich.2 Sie bitten um den berühmten Fensterplatz im Himmel. Einmal mehr erweisen sich die Schüler Jesu als menschlich-allzumenschlich. Mit ihrem Wunsch nach einer Sonderbehandlung offenbaren sie bloss, dass sie die Botschaft ihres Meistes nicht verstanden haben. 1 2 Zum 3.Mal Mk 10, 32-34 vor der Perikope mit dem Wunsch nach einem Platz im Himmel Mk 10,35-45 Mk 10,35-45 Noch sind sie blind und Jesus muss sie - und uns - lehren: Wer unter euch gross sein will, sei euer Diener, wer unter euch der Erste sein will, sei der Knecht aller.3 Gleich nach dieser Szene erreicht die Reisegesellschaft Jericho. Und als sie wieder aufbrechen sitzt da eben Bartimäus, ein blinder Bettler neben dem Weg. 47 Und als er hörte, dass es Jesus von Nazaret sei, beginnt er laut zu schreien: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir! Bartimäus sieht nicht, umso feiner ist sein Gehör. Er hört ihn kommen. Und er hat von Jesus gehört, jenem messianischen Mann, durch dessen göttliche Kraft Blinde und Taube, Aussätzige und Lahme Heilung finden. So schreit er: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir! Sohn Davids – mit diesen messianischen Worten hat noch niemand Jesus angesprochen! Woher kennt dieser blinde Bettler das Geheimnis des Menschensohnes? Sohn Davids – das ist der Messias, der erwartete Befreier! Aber die Begleiter um Jesus wollen sich nicht stören lassen, wollen dass der aufsässige Blinde den Mund hält. Sie wollen, dass ihre Welt übersichtlich bleibt: Jesus ist doch für die Menschen da, die ihm auf dem Weg folgen, nicht für die neben dem Weg. 48 Da fuhren ihn viele an, er solle schweigen. Bartimäus aber hält seinen Mund nicht, denn Jesus kommt vorbei! Dieser königliche Mensch aus Davids Geschlecht, der gekommen ist, um zu dienen und das Verlorene zu suchen. So hat er es gehört. Und wenn er richtig gehört hat, dann wird ihn dieser Gottesmann auch sehen. So schrie er noch viel mehr: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! Der blinde Bartimäus glaubt, dass sein Leben eine Wendung nehmen kann. Er vertraut auf den, den er gar nicht sehen kann. Und dieser Glaube ist seine Rettung. 49 Und Jesus blieb stehen und sprach: Ruft ihn her! Und sie rufen den Blinden und sagen zu ihm: Sei guten Mutes, steh auf! Er ruft dich. 50 Da warf er seinen Mantel von sich, sprang auf und kam zu Jesus. 51 Und Jesus wandte sich ihm zu und sagte: Was willst du, dass ich für dich tun soll? Die gleiche Frage hat Jesus vor kurzem noch Jakobus und Johannes gestellt: „Was wollt ihr, dass ich für euch tue?“ 4 „Wir möchten später so gern die Ehrenplätze“ antworteten sie in ihrer Blindheit. Und der blinde Bettler? Was antwortet der? Rabbuni, mach, dass ich wieder sehen kann. 3 4 Mk 10,43f Mk 10,36 Jesus sieht ins Innerste, hört hinter die Oberfläche. Und diesmal geht er auf die Bitte ein. Auf den anmassenden Wunsch von Johannes und Jakobus ist er nicht eingetreten. In der Bitte um einen Ehrenplatz im Himmel hörte er blossen Geltungsdrang. Aber hier, da, wo die andern nur lästiges Geschrei hören, vernimmt er den Aufschrei der Hoffnung, die jetzt ihre einmalige Chance wittert. Und Jesus lässt sich stören. 52 ... Geh, dein Glaube hat begonnen, dich zu befreien. Subjekt der Heilung ist der Glaube, das Vertrauen von Bartimäus. Und wunderbar genau erneut der Text: das Verb „retten, befreien, gesund/heil machen“ – steht im Perfekt. D.h. es zeigt eine Handlung in der Vergangenheit an, die in die Gegenwart hineinwirkt. Daher die Übersetzung: dein Glaube hat begonnen, dich zu befreien5... Das Befreiungsgeschehen in der Begegnung mit Jesus wirkt weiter. Bartimäus macht den ersten Schritt in eine ganz neue Zukunft. Und sogleich sah6 er wieder und folgte ihm auf dem Weg. Nochmals schön das Verb im Griechischen: Es meint mehr als bloss „sehen“, sondern „auf-sehen“, eigentlich „zum Himmel aufblicken.“ Bartimäus geht wirklich der Himmel auf. Vorher war er als Blinder aus der Gesellschaft ausgestossen, abseits des Weges. Jetzt ist er mit auf dem Weg, ein Mensch unter Menschen. Und endlich ist inmitten der vielen, die Jesus auf seinem Weg folgen, zumindest einer, der nicht blind ist, sondern hell sieht. Bartimäus, als er sich zu Jesus aufmacht, wirft er seinen Mantel ab, sein Bettlergewand – Bild für sein altes Leben, mit dem er brechen will. Nun macht er erste Schritte im neuen Leben. Er sieht die Menschen und die Welt ganz im Licht, das Jesus ihm geschenkt hat. Die normal Sehenden, die sich über das Geschrei des Blinden ärgerten, sind die eigentlich Blinden. Sie sind blind für den elementaren Glauben, der im Geschrei des Blinden aufgebrochen ist. Sie sind zugleich blind für die unglaublichen Möglichkeiten Jesu. Liebe Gemeinde, sind nicht auch wir immer wieder blind für den Glauben, für die Hoffnung, also für das Schönste und Beste, das sich in einem Mitmenschen regen kann? Erst recht, wenn diese Regungen uns ärgern oder stören. 5 σεσωκεν σωζειν : retten, befreien, gesund, heil machen im Perfekt -> Handlung in der Vergangenheit, die in die Gegenwart nachwirkt 6 αναβλεπειν: aufsehen, wieder sehen (können), eig. zum Himmel hinaufblicken Das Drama der sehend blinden Jünger wird weiter gehen. Beim Einzug in Jerusalem an Palmsonntag werden sie im Hochgefühl des Triumphs schwelgen. Die Katastrophe fünf Tage darauf an Karfreitag wird sie umso unvorbereiteter treffen. Erst nach Ostern werden ihnen die Augen aufgehen. Das Drama der sehend blinden Begleiter von Jesus – ist es nicht auch unser Drama? 7 Wir werden gefragt: Wo sind wir blind? Was wollen wir nicht sehen? Wo wollen wir uns nicht stören lassen? Wo sind wir blind für die Hoffnung der Armen? Aber auch das Andere: Wo müssten wir uns den Mund nicht verbieten lassen und tapfer schreien? Und in welcher Situation daran glauben, dass unser Leben eine heilsame Wendung nehmen kann? Und auf die Gegenwart DESSEN vertrauen, der uns heil machen kann? Ja, auch wir sind oft sehend blind und können nur darum bitten: Rabbuni, mach, dass ich wieder sehen kann. Amen Zwischenspiel der Orgel 7 Das Evangelium ist von der Überzeugung des Osterglaubens getragen: „Jesus ist keine Figur der Vergangenheit, sondern der Zukunft stiftende Messias und Herr jeder Gegenwart“. Kurt Marti im Vorwort zu seiner Auslegung des Markus Evangeliums, 2. Auflage 1985