Neue Medien in der Literatur: Intermedialität in Erik Honorés Roman
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Neue Medien in der Literatur: Intermedialität in Erik Honorés Roman
Universität zu Köln Philosophische Fakultät Institut für Nordische Philologie Neue Medien in der Literatur: Intermedialität in Erik Honorés Roman Orakelveggen Magisterarbeit vorgelegt von Sebastian Pantel Moltkestr. 25 58332 Schwelm se.pa@gmx.de vorgelegt bei Prof. Dr. Stephan Michael Schröder Köln, im Januar 2006 Erklärung Hiermit versichere ich, dass ich diese Magisterarbeit selbstständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe. Die Stellen meiner Arbeit, die dem Wortlaut oder dem Sinn nach anderen Werken entnommen sind, habe ich in jedem Fall unter Angabe der Quelle als Entlehnung kenntlich gemacht. Dasselbe gilt sinngemäß für Tabellen, Karten und Abbildungen. Inhalt 1 1.1 1.2 1.3 EINLEITUNG Forschungsüberblick und Begriffsklärungen Intermedialität nach Irina Rajewsky Methode Seite Seite Seite Seite 2 3 5 7 2 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.3 MATERIAL Der Roman Die Medientheoretiker Vilém Flusser: Das Universum der technischen Bilder Jean Baudrillard: Realität ist Simulation Paul Virilio: Beschleunigung Zusammenfassung Seite 9 Seite 9 Seite 11 Seite 11 Seite 14 Seite 19 Seite 20 3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 3.3 3.3.1 3.3.2 INTRAMEDIALE BEZÜGE Literarische Prätexte von Christie, Poe, Obstfelder und Shaw Theorien von Flusser, Baudrillard und Virilio als Prätexte Codes, Medienwechsel Technische Bilder als neue Sprache Computer und Netze Neue Medien: Komputationen Auswirkungen des Medienwechsels Krieg und Medien Intramediale Systemreferenzen Digitale Texte: Chats, Logfiles und Online-Artikel Der Kriminalroman als literarisches Bezugssystem Seite 21 Seite 21 Seite 23 Seite 23 Seite 26 Seite 27 Seite 28 Seite 30 Seite 32 Seite 35 Seite 35 Seite 38 4 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 INTERMEDIALE BEZÜGE Einzelbezüge zu Musik, Kunst, Foto, Film, Fernsehen und Computer Intermediale Systemreferenzen Polaroid-Fotos als Bezugssystem Sitcom, Roadmovie, Kino und Simulation als Bezugssysteme Entfesselung des Blicks – ein komplexer intermedialer Systembezug Kontamination des Romans mit Strukturen der ‚neuen Medien‘ Seite 39 Seite 39 Seite 48 Seite 48 Seite 50 Seite 56 Seite 60 5 AUSBLICK Seite 66 6 ANHANG Seite 67 LITERATUR Seite 70 1 Einleitung 2 1 Einleitung Die Literatur spricht selten nur über die Welt allein, sondern oft auch darüber, wie Menschen sich diese Welt durch Bilder, Musik, Worte und andere kulturelle Ausdrucksformen erschließen, erklären und als ihre Lebenswirklichkeit konstruieren. Warum Literatur sich der ‚Umwege‘ über andere Kunst- oder Medienformen bedient, und wie sie das tut sind Fragen, die häufig gestellt und ganz unterschiedlich beantwortet worden sind - vielleicht umso dringlicher, je mehr ‚Realität‘ als mentales, mediales und kulturelles Konstrukt bewusst wird. So ist die „konsequente Hereinnahme der fragmentierten fortlaufenden medialen Wirklichkeitserzählung in die fiktive Wirklichkeit des [...] Romans“ ein dezidiertes Projekt der sogenannten Postmoderne1 - daran anschließend auch die Versuche der Geisteswissenschaften, intermediale Verflechtungen kultureller und medialer Produkte und Systeme zu durchleuchten. Der Schriftcode und mit ihm die Literatur sehen sich in den letzten zwei Jahrhunderten von jüngeren Techniken herausgefordert, die wie eine Rückkehr des Bildes auf den Platz des vorherrschenden kulturellen Codes erscheinen: Fotografie, Film, Fernsehen, Digitalbild, Computersimulation und Internet scheinen weit besser geeignet zu sein, sich „ein Bild von der Welt zu machen“ als abstrakte Reihen alphanumerischer Schriftzeichen. Doch gerade die Abstraktheit ist es, die die Schrift in die Lage versetzt, nicht nur die neuen Bilder und Techniken, sondern auch sich selbst und ihr Verhältnis zu ihnen zu reflektieren. Dies nachzuvollziehen ist Aufgabe literaturwisschenschaftlicher Beschäftigung mit der ‚Intermedialität‘. Die junge skandinavische Literatur auch unbekannter Autoren scheint auf die Herausforderungen des Codewechsels besonders zu reagieren, wie Annegret Heitmann feststellt.2 Die Auswahl des Romans Orakelveggen für diese Untersuchung kann als Bestätigung dessen angesehen werden; der Debutroman des Autors Erik Honoré, nach der Jahrtausendwende entstanden, knüpft „ein dichtes intermediales Netz unter dem Text“,3 das sich auf eine Vielzahl ‚neuer‘ technischer Medien bezieht. Damit laufen Gegenstand und Untersuchung einer historisierenden Perspektive entgegen; der Roman bezieht sich nicht auf „Klassiker der Kunstgeschichte“, wie Heitmann es für einen großen Teil der aktuellen Texte feststellt, sondern auf die gegenwärtige Medienwirklichkeit. Daher stellt sich der Untersuchung auch das Problem der (fehlenden) Historisierung nicht, auf das Hockenjos und Schröder hinweisen4 selbst wenn dadurch ein vielleicht wünschenswerter ‚Abstand‘ zum Gegenstand der Forschung verloren geht. ‚Neue Medien‘ als Gegenstand des ‚alten Mediums‘ Schrift zu beschreiben,5 an einem aktuellen Text zu zeigen, wie diese Auseinandersetzung Teil einer „kulturelle[n] Praxis“ durchaus konfliktreicher Medienperformanz ist,6 wie also ‚Kultur‘ selbst als intermediales, polymediales „Bedeutungsgewebe“7 ständig prozessiert wird, das sind die Intentionen, die bei dieser exemplarischen Untersuchung im Hintergrund stets mitzudenken sind. 1 Brüggemann 2000, 26 Heitmann 2002, 10 3 Ebd., 18 4 Hockenjos / Schröder 2005, 18 5 Jensen 1999, 78 6 Hockenjos / Schröder, 29 7 Gerhard Neumann, zitiert nach Brüggemann 2000, 24 2 1.1 Forschungsüberblick und Begriffsklärung 3 1.1 Forschungsüberblick und Begriffsklärung Sich mit Intermedialität in der Literatur zu beschäftigen heißt, sich auf ein doppelt unsicheres Terrain zu begeben. Denn sowohl der Begriff des ‚Mediums‘ als auch der der ‚Intermedialität‘ ist weit davon entfernt, mit klaren Definitionen gefasst werden zu können. Ein Blick auf die Forschungsgeschichte mit ihrer terminologischen Vielfalt rund um intertextuelle, intermediale und Interart-Phänomene kann ebensolche Verwirrung stiften wie die unüberschaubare Ansammlung von Definitionen, mit denen die Medientheorie ihren Forschungsgegenstand zu greifen versucht hat. Sind mal, oft in Verbindung mit einer streng essentialistischen und deterministischen Medienauffassung wie etwa bei Friedrich Kittler, nur technische Medien wie Radio, Fernsehen, Kino und alle Arten technischer Speicher- und Aufschreibsysteme gemeint, mal Kommunikationsträger wie Schrift, Bild und Ton, gehen einige ‚Klassiker‘ der Medientheorie entschieden weiter. Für Marshall McLuhan, der Medien als Erweiterungen des menschlichen Körpers ansieht,8 fallen auch das Rad, der Schraubenzieher, die Computermaus und das Internet unter den Oberbegriff ‚Medium‘. Bei Niklas Luhmanns systemtheoretisch geprägter Definition gehören sogar abstrakte Phänomene wie Liebe, Geld und Macht zu den „symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien“.9 Fast scheint es, als sei der Medienbegriff inzwischen so weit gesteckt, dass er alles umfasst und daher nichts mehr aussagt. Ähnliches lässt sich für die Forschungsgeschichte der Intermedialität ausmachen; sie kann hier allerdings nur grob skizziert werden. So leitet etwa Peter V. Zima den Forschungsgegenstand aus Krisen der Ästhetik her,10 die vor allem auf der Ausblendung von Medialität beruhten oder darauf, dass eine bestimmte Codeform als dominant über die anderen verstanden wurde, oder auch auf dem Scheitern der Versuche, entweder eine strenge Homogenität (eine ‚gemeinsame Sprache‘) oder unvereinbare Heterogenität der Kunstgattungen zu methodisieren. Vreni Hockenjos und Stephan Michael Schröder wiederum bieten einen guten Überblick11 über den Ursprung der Intermedialitätsforschung in den beiden Traditionslinien von Interart-Forschung über die „wechselseitige Erhellung der Künste“12 auf der einen, und der (post-)strukturalistischen Intertextualitätsforschung auf der anderen Seite, die sich von den russischen Formalisten über Mikhail Bakhtin bis zu radikal erweiterten Textbegriffen von Julia Kristeva oder auch Jacques Derrida erstreckt.13 Letztere verstehen auch nichtverbalsprachliche mediale Produkte als ‚Texte‘ und machen so eine Unterscheidung zwischen Intertextualität und Intermedialität schwierig bis unmöglich. Heute scheint es eher Versuche zu geben, die immer weiter gesteckten Definitionsgrenzen wieder zu beschränken, auch auf die Gefahr hin, einer polymedial verwobenen Medienrealität und literarischen Bezugnahmen auf diese nicht mehr gerecht werden zu können. Dennoch bieten Vorschläge einer strengen Systematisierung, wie etwa Irina Rajewsky sie 2002 aus literaturwissenschaftlicher Sicht vorgelegt hat, fruchtbare Ausgangspunkte für eine aussagekräftige Analyse intermedialer Phänomene in der Literatur. Eine andere vielver8 Vgl. McLuhan 1992, 11 Vgl. z.B. Krause 2001, 155 10 Vgl. Zima 1995 11 S. Hockenjos / Schröder 2005, 9ff. 12 Das einflussreiche Werk von Oskar Walzel von 1917 gilt als Klassiker der Interart-Forschung. 13 Vgl. für einen gründlichen Überblick den Aufsatz von Gunhild Agger, 1999. 9 1.1 Forschungsüberblick und Begriffsklärung 4 sprechende Vorgehensweise ist die, den universalistischen Anspruch vieler Intermedialitätstheorien in der Einzelfall-Untersuchung wieder auf konkrete Beispiele herunterzubrechen. Dezidiert für den skandinavischen Raum tut das etwa der Sammelband zur „Intermedialität in den skandinavischen Literaturen um 1900“ von Vreni Hockenjos und Stephan Michael Schröder,14 in dem die einzelnen Autoren neben der thematischen Eingrenzung auf Medien wie das Telefon15 oder den Phonographen16 auch eine historisierende Perspektive einnehmen. Auch auf Annegret Heitmanns Bände zu Text-Bild-Beziehungen,17 zu Bildbezügen in der skandinavischen Gegenwartsliteratur18 sowie in skandinavischen Texten der frühen Moderne19 sei in diesem Zusammenhang verwiesen. Doch auch hier lauern Gefahren, wie Hockenjos und Schröder richtig anmerken. Ein allzu minimalistisches Intermedialitätsverständnis, wie es sowohl in dem Begriff der ‚Unreinheit‘ von Texten aufscheint,20 einer Verharmlosung also der oft gravierenden Mutationen der sprachlichen und narrativen Struktur eines intermedial ‚kontaminierten‘ Textes, als auch in der Einschränkung von Intermedialität auf intendierte fremdmediale Bezüge,21 droht über das Ziel der begrifflichen und konzeptuellen Fokussierung hinauszuschießen und einige der interessantesten Implikationen von intermedialen Bezügen in der Literatur für die Analyse wieder zu verbauen.22 Zudem darf bei allen Nachweis-Orgien nicht vergessen werden, neben dem ‚Was‘ und ‚Wie‘ der intermedialen Bezugnahme eines Textes auch das ‚Warum‘ und ‚mit welcher Wirkung‘ anzusprechen – die Frage also, welchen rezeptionellen Effekt die intermedialen Bezüge in einem Text eigentlich haben, was also den „Raum zwischen den Medien“ ausmacht.23 Wird dann zusätzlich noch der schillernde Medienbegriff konkretisiert, wie es diese Arbeit durch die Beschränkung auf drei Theoretiker mit eng verwandtem Theoriedesign und einem Verständnis von Medien als kulturelle Praxis zu tun versucht, ist es vielleicht möglich, der konzeptuellen Beliebigkeit, der willkürlichen Vermischung verschiedener Ansätze sowie dem Problem, dass ein Text je nach Auswahl von Werkzeug und Methode in jede beliebige Richtung ‚gebogen‘ werden kann, eine systematische und überzeugende Arbeitsweise entgegen zu stellen. Auch wenn dies hier nur anhand eines einzigen Textes gezeigt werden kann, 14 Hockenjos / Schröder 2005 Beitrag von Martin Zerlang über „Die ersten Anrufe in der dänischen Literatur“ (Hockenjos / Schröder 2005, 105-124) 16 Beitrag von Vreni Hockenjos über „August Strindbergs Funktionalisierung des Phonographen“ (Hockenjos / Schröder 2005, 125-158) 17 Heitmann 2000 18 Eglinger / Heitmann 2002 19 Heitmann 2003 20 S. etwa das Essay „Fram for det urene“ in Kjærstad 1997, 17-24. Dieser Text und seine Kritik am allzu konventionellen Schreibstil norwegischer Autoren sind allerdings vor dem Hintergrund der besonderen Situation einer engen Verflechtung von Literaturschaffen, -theorie und -kritik in Norwegen zu lesen. 21 Hockenjos und Schröder (2005, 16) zitieren hier Werner Wolf. Auch Irina Rajewsky verweist mit dem Argument der Rezeptionslenkung auf die Notwendigkeit einer „ausdrücklichen Thematisierung des Bezugssystems“ eines mit intermedialen Strategien arbeitenden Textes (vgl. Rajewsky 2002, 82). S. dazu auch Fußnote 28 auf S. 6 22 Dass dies nicht nur für intermediale Bezüge, sondern für literarische ‚Aussage‘ allgemein gilt, zeigt Jan Mukařovský in seinem schon 1943 erschienenen Aufsatz über Intentionalität und nicht-Intentionalität sehr deutlich, etwa wenn er schreibt: „Det er mottakerens holdning til verket, ikke opphavsmannens, som er den grunnleggende, eller ‚umarkerte‘, for å forstå verkets egentlige kunstneriske bestemmelse. Hvor paradoksalt dette enn lyder, framstår kunstnerens holdning som sekundær.“ (Mukařovský 1991, 32) 23 von Amelunxen 1995, 219 15 1.2 Intermedialität nach Irina Rajewsky 5 soll der Versuch durchaus als ein Beispiel für die fruchtbare Kombination literatur- und medienwissenschaftlicher Methoden, Konzepte und Arbeitsweisen dienen – als, dieser leicht ironische Verweis sei gestattet – ‚wechselseitige Erhellung der Wissenschaften‘. 1.2 Intermedialität nach Irina Rajewsky Wie oben bereits erwähnt, leitet Irina Rajewsky ihren Neuansatz einer begrifflichen und konzeptuellen Klärung des Intermedialitätsbegriffs24 aus einem engen Verständnis der Intertextualität ab. Sie trennt dabei klar „verbalsprachlich fixierte Texte von anderen medialen Produkten“,25 um so überhaupt sinnvoll zwischen Intertextualität und Intermedialität unterscheiden zu können. Die Intertextualität sieht sie dabei als einen verbalsprachlich fokussierten Sonderfall intramedialer Bezüge, die sich ansonsten auch etwa zwischen Filmen oder Gemälden finden können. Außerdem unterscheidet sie, wie auch bei intermedialen Bezügen, zwischen Einzelreferenz (= Intertextualität im Fall intramedialer Textbezüge) und Systemreferenz – einem Bezug eines einzelnen medialen Produkts auf das mediale System, dem es angehört, als solches. Bei letzterer unterscheidet sie wiederum zwischen Systemerwähnung und Systemaktualisierung. Kurz gefasst können für den Bereich intramedialer Bezüge im Fall verbalsprachlich fixierter Texte folgende Definitionen gegeben werden:26 I II II.1 II.2 Intertextualität als der Bezug eines Textes auf konkrete Einzeltexte desselben Mediums Systemreferenz als der Bezug eines Textes auf literarische Subsysteme oder das literarische System als solches Systemerwähnung als der Bezug eines Textes auf fremde Genres, Texttypen, literarische oder andere verbalsprachliche Textformen bzw. auf das literarische System als solches. Der Bezug ist dabei punktuell im Text nachweisbar und äußert sich in Form eines Redens bzw. Reflektierens über das angesprochene (Sub-)System. Systemaktualisierung als durchgängige Verwendung des Bezugssystems zur Textkonstitution Alle drei Formen lassen sich in Orakelveggen nachweisen, wie in Kapitel 3 gezeigt wird. Sobald Bezüge innerhalb eines Textes die Grenzen des verbalsprachlichen Textmediums überschreiten, spricht Rajewsky von Intermedialität. Diese kann in drei Ausformungen auftreten: als Medienkombination, wobei mindestens zwei distinkte Medien zu einem polymedialen Produkt gekoppelt werden (etwa Musik, Text und Schauspiel in der Oper); als Medienwechsel, wobei ein medienspezifisches Produkt komplett in ein anderes Medium transformiert wird (etwa in der Literaturverfilmung); und als intermedialer Bezug. Letzterer ist für die textorientierte Untersuchung von Intermedialität wegen seiner Möglichkeiten, aber auch seiner Probleme bei der Überbrückung der medialen Unterschiede besonders interessant und wird daher von Rajewsky sehr genau aufgeschlüsselt – er wird auch als einzige der drei Varianten bei der Romananalyse verwendet werden. Analog zu den intramedialen Bezügen können kurz folgende Definitionen für intermediale Bezüge von Texten auf andere mediale Produkte gegeben werden:27 24 Für ein Schema der Einteilungen und Terminologievorschläge Rajewskys s. Abbildung 1 im Anhang, S. 68 Rajewsky 2002, 59 26 Für eine ausführliche Darstellung siehe Rajewsky 2002, 65ff. 27 Für einen ausführlicheren Überblick siehe Rajewsky 2002, 149 ff. und 158ff. sowie Abbildung 1 im Anhang, S. 68 25 1.2 Intermedialität nach Irina Rajewsky 6 Einzelreferenz als der Bezug eines Textes auf ein konkretes fremdmediales Einzelprodukt Systemreferenz als der Bezug eines Textes auf fremdmediale Subsysteme oder ein fremdmediales System als solches in Form von Systemerwähnung oder Systemkontamination II.1 Die Systemerwähnung kann (immer punktuell) explizit oder qua Transposition erfolgen II.1.1 explizite Systemerwähnung als ausdrückliches Reden oder Reflektieren über ein fremdmediales (Sub-)System II.1.2 Systemerwähnung qua Transposition als punktuelle Anwendung einzelner Regeln des fremdmedialen (Sub-)Systems zum Zweck einer Illusionsbildung bzw. einer „Als-ob“-Transformation des fremdmedialen ins verbalsprachliche System in drei Ausprägungen: evozierend, simulierend und (teil-)reproduzierend II.1.2a evozierende Systemerwähnung als reine Thematisierung des Bezugssystems über Vergleiche und Metaphorik; das sprachliche System bleibt unangetastet II.1.2b simulierende Systemerwähnung als Suggestion einer fremdmedialen Erfahrung mit Mitteln der Sprache; fremdmediale Erfahrungen des Lesers werden damit aktiviert und nutzbar gemacht, das sprachliche System wird in Ansätzen modifiziert II.1.2c (teil-)reproduzierende Systemerwähnung als faktische Übernahme medienunspezifischer bzw. codegleicher Elemente aus einem fremdmedialen System, etwa Genrestrukturen, typische Figurenkonstellationen, Klischees, sprachliche Formen. Auch hier werden fremdmediale Lesererfahrungen nutzbar gemacht und das sprachliche System nach Regeln des Fremdmediums modifiziert II.2 Systemkontamination als kontinuierlicher Bezug des Textes zu Teilen des Fremdsystems, wobei ständig die fremdmediale Makroform evoziert wird, in zwei Ausprägungen: qua Translation und teilaktualisierend II.2.1 Systemkontamination qua Translation als Kontamination und Dekonstruktion des sprachlichen Systems mit Strukturen des Fremdmediums II.2.2 teilaktualisierende Systemkontamination als kontinuierlicher Einbezug medienunspezifischer bzw. medial deckungsgleicher Elemente des fremdmedialen Systems, das dadurch ständig im Text (teil-)aktualisiert wird I II Natürlich ist diese systematische Grenzziehung nie so streng analog im Text vorzufinden, die einzelnen Kategorien überlagern einander oder können als Bestandteile anderer oder als Hinweise auf andere Kategorien gelesen werden.28 Dennoch können alle erwähnten Kategorien in Orakelveggen nachgewiesen werden; dem wird sich Kapitel 4 widmen. Eine weitere Schwierigkeit in der Anwendung des recht strikten Schemas, das Rajewsky aufstellt, liegt in einer doppelten Polymedialität begründet. Denn erstens beschränkt sich Orakelveggen nicht auf intermediale Bezüge zu lediglich einem Fremdmedium; vielmehr wird eine Vielzahl von fremdmedialen Produkten und Systemen aufgerufen, von Bildender Kunst über Architektur bis zum Kino, zum Internet, zur analogen wie digitalen Fotografie, zum Theater und zur klassischen wie populären Musik, wobei sich diese Bezüge häufig aufeinander beziehen lassen und in Abhängigkeit zueinander stehen. Und zweitens ist der Begriff der ‚neuen Medien‘, auf die sich diese Untersuchung besonders konzentrieren will, vor allem als ein Sammelbegriff für all jene aktuellen medialen Erscheinungsformen zu verstehen, die bisher als distink wahrgenommene Einzelmedien zu digital codierten Mischproduk28 Rajewsky spricht von der Notwendigkeit einer „Markierung“: „so ist vorauszusetzen, dass diese [Referenzen] in irgendeiner Weise als solche und als auf ein bestimmtes mediales Produkt oder System bezogene ausgewiesen, d.h. markiert sind“ (Rajewsky 2002, 200). Neben direkten Markierungen durch Erwähnung eines medialen Produkts oder Systems ist jedoch auch eine indirekte Variante vorstellbar: indem z.B. eine intermediale Einzelreferenz als Marker für eine sie begleitende simulierende Systemerwähnung dient, welche dann wiederum als Hinweis auf systemkontaminierende Elemente im Text gedeutet werden kann. Ein solcher Fall wird in Kapitel 4.2.3 zur Sprache kommen. 1.3 Methode 7 ten bündeln: der mit dem Internet verbundene Computer vereint Text, Bild und Musik, Zeitung, Radio, Fernsehen und Video, ja auch Rezeptions- und Kommunikationsformen wie Kunstgalerie, Brief, Telefonat, Videokonferenz im interaktiven und vor allem multimedialen Interface. Intermediale Bezüge eines Textes auf ein derart vielgestaltiges ‚Medium‘ müssen notgedrungen eine strenge, an einzelnen und klar umreißbaren Fremdmedien orientierte Systematik wie die von Rajewsky vorgeschlagene sprengen und teilweise in Frage stellen. Das Problem dieser doppelt polymedialen Intermedialität, die im Text zu multiplen, einander beeinflussenden und teils ambivalenten Bezugnahmen, Modifikationen und Kontaminationen des sprachlichen Systems bzw. der narrativen Struktur führen, wird daher automatisch während der gesamten Untersuchung präsent sein. 1.3 Methode Um intermediale Bezüge zwischen einem literarischen Text und sogenannten ‚neuen Medien‘ überhaupt untersuchen zu können, wie es diese Arbeit zum Ziel hat, ist es nötig, die durchaus schwammige Sammelbezeichnung zu konkretisieren und außerdem festzustellen, was eigentlich medienspezifische Charakteristika dieser ‚neuen Medien’ sind, wie sie also strukturell organisiert sind und sich in Aufbau und Wirkungsweise von technischen Vorgängermedien unterscheiden lassen. Zu diesem Zweck soll theoretisches Werkzeug aus den Medienwissenschaften für die Romananalyse herangezogen werden. Ein Blick auf die zahlreichen und teils unvereinbaren Ansätze, Schulen und Schwerpunkte zeigt jedoch schnell, dass hier eine Eingrenzung unabdingbar ist. Eine gute Kategorisierung bietet etwa Stefan Weber in Theorien der Medien von 2003. Er bildet elf Kategorien von Medientheorien, die sich natürlich teils überschneiden. Neben reinen Techniktheorien wie denen von Kittler und McLuhan und ökonomisch fokussierten Theorien grenzt er folgende Ansätze von einander ab: die Kritische Medientheorie nach Adorno und Enzensberger, den kulturtheoretischen Ansatz der angloamerikanischen Cultural Studies, einen zeichentheoretischen Schwerpunkt mit Vertretern wie Saussure und Peirce, die konstruktivistischen Ansätze von Foerster und Maturana, Luhmanns Systemtheorie der Medien, feministische Theorien aus dem Umfeld der Gender Studies, psychoanalytisch beeinflusste Mediensichten von Lacan bis zu Deleuze und Guattari, und schließlich poststrukturalistische sowie medienphilosophische Theorien.29 Die beiden letzteren sieht er als Ausdifferenzierungen „postmoderner Medientheorien“ an, die sich aus philosophischer Sicht und mit teleologischer Ausrichtung mit der Situation des Medienwechsels beschäftigen, mit Fokus auf Themen wie Virtualität, Computer, Netze, Simulation sowie den Folgen einer zunehmenden Medialisierung der Welt30 und Veränderungen kultureller Codes, wobei die Medien, anders als in technikzentrierten Ansätzen, als Ausdruck und Werkzeuge, aber nicht als Auslöser kultureller Veränderungen verstanden werden.31 Postmoderne Theorien scheinen also dazu geeignet zu sein, für die Intermedialitätsanalyse fruchtbare Definitionen und Interpretationen der ‚neuen Medien‘ und ihrer Wirkungen zu liefern. Außerdem, so Claus Pias in Webers Sammelband, haben „die hier versammel29 Für einen umfassenden Überblick vgl. Weber 2003, 30ff. Ebd., 33 31 Ebd., 318 30 1.3 Methode 8 ten Theorien allesamt ein gebrochenes Verhältnis zur Theorie“, sie sprechen „von Unmöglichkeiten, nicht von Gewissheiten, sondern von deren Auflösung“.32 Diese Skepsis gegenüber angeblich objektiven, essentialistisch argumentierenden Theorien rückt sie gleichzeitig in die Nähe einer Literatur, die von Ungewissheiten, Identitätsproblemen und Realitätsverlust erzählt wie der Roman Orakelveggen – wobei auch ihre oft essayistische, metaphernreiche und um Bildlichkeit bemühte Sprache die Grenzen zur Literatur verwischt. Der mit dieser Arbeit verfolgte Ansatz einer Kopplung von literatur- und medienwissenschaftlichen Werkzeugen kann also auch als Ausdruck eines noch immer recht jungen Trends gesehen werden, geisteswissenschaftliche Einzeldisziplinen unter dem breiteren Ansatz der ‚Kulturwissenschaften‘ zu bündeln, um so der zunehmenden Durchdringung verschieden medialer Kunstformen zu begegnen. Innerhalb der Theoriegruppe „Postmoderne Theorien“ sind nun Autoren auszumachen, die sich besonders mit jenen Themen beschäftigen, die der Roman anschneidet, und die gleichzeitig bestimmte mediale Erscheinungsformen begründet unter den schwierigen Begriff der ‚neuen Medien‘ subsumieren: technische Bilder und ihre Illusionskraft, Internet und Computer und ihre Verdrängung von Realität sowie den damit einhergehenden Verlust von sicherem Lebensgefühl. Drei dieser Autoren sollen zur Analyse des Romans herangezogen werden: erstens Vilém Flusser mit seinen Gedanken zur telematischen Gesellschaft, zum Codewechsel von der Schrift zum Technobild und dessen Wechselwirkungen mit kulturellen Programmen; zweitens Jean Baudrillard mit seiner These, dass ein ‚Außerhalb‘ von Medien nicht mehr festzumachen sei, dass die Realität hinter ihren Simulationsformen verschwinde und daraus eine radikale Unsicherheit als neues Lebensgefühl resultiere; und drittens Paul Virilio, der das Hauptmerkmal ‚neuer Medien‘ in ihrer Beschleunigung hin zur EchtzeitVermittlung und einem damit einhergehenden Verschwinden von Raum- zugunsten von Zeiterfahrung sieht, sowie die Medienentwicklung als strukturell verflochten mit Krieg und Kriegstechnik analysiert. Natürlich ist diese Auswahl, wie Stefan Weber für jedes Arbeiten mit Medientheorien bemerkt, notgedrungen „optional, [...] weil die Wahl einer anderen Theorie [...] grundsätzlich immer möglich ist [...], und situativ, weil die Entscheidung für eine Theorie untrennbar mit forschungspragmatischen Aspekten verbunden ist“.33 Letzteres spricht im Fall dieser Arbeit aber eher für eine solche Auswahl, denn die Theorien, so Claus Pias, beschäftig[en] sich mit den Poetologien oder Präsentationsformen des Wissens, seiner Inszenierung in Karten oder Listen, Diagrammen oder Bildern, Computernetzen oder Enzyklopädien, literarischen Texten oder wissenschaftlichen Protokollen, deren Besonderheit medialen Bedingungen unterliegt.34 Weitere Unterstützung erfährt die Auswahl der drei Theoretiker durch Heinz Brüggemann, der im Rahmen seines Aufsatzes über „Literatur und mediale Wahrnehmung in kulturwissenschaftlicher Perspektive“ über die Auswirkungen des ‚pictorial turn‘35 äußert: 32 Ebd., 277 Ebd., 333f. 34 Ebd., 289 35 Ein Terminus des Bildtheoretikers W.J.T. Mitchell (1994, 41). Ebenfalls gebräuchlich ist die deutsche Variante „ikonische Wende“; dieser Begriff stammt von Gottfried Boehm (1994, 13). 33 2 Material 9 Die neuen technischen Möglichkeiten (der Fotographie, des Films, des Fernsehens, von Video, Computer und Neuen Medien) haben die Verbreitung und die Verfestigung dieser Strukturen [einer visualisierten Gesellschaft; Anm. d. Autors] erheblich beschleunigt. An die Stelle der ‚Bilder in der Welt‘ scheint die ‚Welt im Bild‘, die Welt als Bild getreten (so früh schon Günther Anders, seitdem weit radikaler vorgetragen und verallgemeinert von Baudrillard, Virilio, Flusser); das Universum der technischen Bilder hat uns immer schon eingeholt.36 Unter dieser Prämisse bietet sich die Einbeziehung von Medientheorien in die Intermedialitätsanalyse von Literatur geradezu zwingend an. Nicht nur bietet sich so die Möglichkeit (wie Zima es fordert, wenn auch eingegrenzt auf den „Vergleich verschiedener Kunstformen“),37 Zusammenhänge auf abstrakten Ebenen von Struktur, Code oder innerer (Dis)kontinuität, auf einzelwissenschaftlicher Basis mit den Werkzeugen der jeweiligen Disziplinen zu verknüpfen und an Einzelbeispielen zu belegen.38 Zudem liegt, wie Irina Rajewsky feststellt, eines der Erkenntnisziele im Bereich intermedialer Bezüge in der Literatur gerade darin festzustellen, wie ein Text mit Hilfe fremdmedialer Bezüge metafiktional wird, sich selbst als Text in Abgrenzung zu anderen Medien reflektiert,39 und so auch poetologische Aussagen trifft über das (Roman-)Schreiben im und über das Zeitalter technischer (Bild-) Medien – „der Haken an der Sache ist“, wie Vilém Flusser in der Einleitung zu Die Schrift bemerkt, „daß ein solches Buch eben ein Buch“ ist.40 Die bewusste Wahl der Romanform und der Umgang mit dem „intermedial gap“41 werden so zum Gegenstand der Untersuchungen. 2 Material Dieses Kapitel soll zunächst dazu dienen, den Gegenstand der Untersuchung, Erik Honorés Roman Orakelveggen, und das theoretische Analysewerkzeug, die Medientheorien von Vilém Flusser, Jean Baudrillard und Paul Virilio, getrennt voneinander vorzustellen. Erst in den folgenden Kapiteln sollen beide, Gegenstand und Theorien, zusammengeführt werden. 2.1 Der Roman Orakelveggen erschien im Herbst 2002 im Gyldendal Norsk Forlag. Es ist der Debutroman von Erik Honoré, der sich bis dahin vor allem als Musiker und Produzent hervorgetan hatte. So gab er etwa im Jahr 2000 zusammen mit Christian Wallumrød, Arve Henriksen und Jan Bang die CD Birth Wish heraus, für die er selbst elektronische Klänge beisteuerte und die er bei Pan M Records verlegte, der norwegischen Vertretung des Labels BMG, deren Leiter er ist. Außerdem arbeitet er an Soundlösungen für das Internet. Vor diesem Hintergrund lassen sich die zentralen Themen des Romans, Internet und digitale Bilder, Popkultur und -musik, durchaus mit der Biographie des Autors erklären, auch wenn sie natürlich allgemeine Aktualität besitzen. Ein kurzer Überblick über die Roman36 Brüggemann 2000, 22f. Zima 1995, 20 38 Vgl. hierzu Zima 1995, 20ff. 39 Rajewsky 2002, 153 40 Flusser 1989, 8 41 D.h. der unüberbrückbaren Verschiedenheit verschiedener medialer Systeme (Rajewsky 2002, 70). 37 2.1 Der Roman 10 handlung soll einen Einblick geben, wie Honoré die Themen umsetzt. Es sei jedoch gleich auf ein Problem hingewiesen: von der Haupt-‚Story‘ zweigen so viele Handlungslinien ab, dass sie in ihrer eng miteinander verwobenen Struktur nicht alle genannt werden können. Die meisten dieser ‚Wucherungen‘ werden jedoch bei der Romananalyse zur Sprache kommen. Der zentrale Erzähler im Roman ist der Ermittler David Malm, der zusammen mit dem verurteilten jugendlichen Hacker Peach pädophile Verbrecher im Internet aufstöbert. Bei der routinemäßigen Überwachung verdächtiger Chatrooms stoßen sie auf ein Gespräch zwischen den Teilnehmern <magician> und <webchild>,42 das nach dem typischen Muster ‚älterer Mann bedrängt minderjähriges Mädchen‘ abzulaufen scheint. Bei Nachforschungen stoßen David und Peach jedoch auf die Tatsache, dass <webchild> eine äußerst kunstvoll konstruierte Web-Persönlichkeit ist - keineswegs das unschuldige Mädchen, als das sie auftritt, sondern ein Experiment der Musikproduzentin und Webdesignerin Marie Kammer. Sowohl David als auch Peach sind fasziniert von der digitalen Kunstperson; den Ermittler erinnert sie an eine tragische Jugendliebe, Peach an seine drogenabhängige Schwester. Für beide hat diese Faszination fatale Folgen: Peach ‚kapert‘ die <webchild>-Identität und startet eine (allerdings von vornherein zum Scheitern verurteilte) Kombination aus Racheaktion gegen die von ihm verabscheuten Pädophilie-Verdächtigen, und dem parallelen Versuch, im Netz eine Idealwelt für seine Schwester zu erschaffen, welche er zunehmend in die <webchild>-Figur projiziert. David hingegen lässt sich bei seinen Nachforschungen so sehr von Kindheitserinnerungen, Gedanken an seine gescheiterte Ehe und eine irrationale Liebe zu <webchild> hinreißen, dass er seinerseits die <magician>-Identität kapert, um mit <webchild> in Kontakt zu treten. Beide, Peach und David, verlieren also zunehmend die Fähigkeit, zwischen realer und virtueller Welt zu unterscheiden. In einem dramatischen Finale verwickeln sich die Ereignisse ebenso wie die realen und virtuellen Identitäten: Peach ermordet den Mann hinter der <magician>-Maske, einen gealterten Illusionskünstler. Außerdem beschuldigt er David der Pädophilie und will ihn in seine Racheaktion mit einbeziehen. David ist weiterhin davon überzeugt, dass Marie Kammer die Triebkraft hinter <webchild> ist und schlägt sie in einem Gewaltausbruch krankenhausreif; seine Karriere scheint besiegelt und seine Freiheit in Gefahr. Peach erleidet wegen Übermüdung und einer Überdosis Drogen einen Zusammenbruch und wird ebenfalls ins Krankenhaus eingeliefert. In dieser Schwebesituation ist die Erzählung aufgehängt: David beschreibt, wie er im Wartezimmer sitzt und die Ereignisse bis hierher in sein Notebook tippt, fremde Texte und Protokolldateien der Chats einfügt. Am Ende jedoch lässt Peach Gnade walten: er ruft die digitale Racheaktion, ein von ihm erstelltes Virus-Programm, zurück, löscht alle belastenden Dateien und verschwindet. David sieht sich wie durch ein Wunder als freier Mann. Die zentrale ‚Story‘ hat eine für das Drama typische Spannungsstruktur: Konflikte bauen sich auf, kulminieren samt Peripetie in einem ausweglos scheinenden Höhepunkt, und eine Art Deus ex machina löst den Knoten mit einem Schlag auf. Trotzdem ist die Handlung, die gerade am Anfang auch klassische Krimi- oder Detektivgeschichten-Züge trägt, durch Nebenhandlungen, Reflektionen des Erzählers, das Eindringen ‚fremder‘ Texte und das Einziehen von Metaebenen gebrochen. Einige der Nebenstränge erzählen vom Kriegsgeschehen 42 Die Einrückung der online-Benutzernamen in spitze Klammern entspricht der gängigen Praxis in Chatrooms und wird aus der Typographie des Romans übernommen – auch um die Konstruiertheit der online-Charaktere zu betonen. 2.2 Die Medientheoretiker 11 in einem fiktiven Balkan-Land namens Monterbia; von der Vermarktung des norwegischen Teenager-Superstars Christina Carrera; von Davids Jugendliebe, der halb italienischen und fotografieversessenen Emilia Rizzuti; von seiner Ex-Frau Liv und ihren gemeinsamen Reisen nach Silicon Valley und nach Bhaktapur in Nepal; von Peachs Nebentätigkeit als DJ. Außerdem werden die drei Hauptteile des Romans, die nach den Trojaner-Programmen benannt sind, mit denen Peach seine Weltverbesserungs-Kampagne, seinen Rachefeldzug sowie dessen Rücknahme bewerkstelligt, von einem Prolog und einem Epilog gerahmt, deren Hauptfigur der glücklose Erfinder der Fotografie, Joseph Niépce, ist. Der Prolog beschreibt die Aufnahme des allerersten Fotos im Paris des Jahres 1827 im Beisein von Louis Daguerre, der die Erfindung später allein vermarktete. Der Epilog ist eine schwebende, keiner bestimmten Zeit zugeordnete, deutlich fiktive und ohne eine sichere Erzählerinstanz vermittelte Beschreibung Niépces, der mit seinem neunjährigen Sohn an der Seine spazieren geht. All diese Nebenhandlungen sind sowohl motivisch, inhaltlich und strukturell miteinander verwoben; wie das umgesetzt ist und auf welche Weise es sich als Einbezug intermedialer Strategien im Bezug auf ‚neue Medien‘ deuten lässt, wird vor allem in Kapitel 4 zu zeigen sein. 2.2 Die Medientheoretiker Nachdem der Gegenstand der Untersuchung, der Roman Orakelveggen, in den Grundzügen vorgestellt wurde, soll es nun darum gehen, kurz die wichtigsten Aspekte der einzelnen Medientheorien zu beleuchten, die bei der Analyse des Romans helfen sollen. Nach Einblicken in Aufbau und zentrale Thesen der einzelnen Theoriegebäude von Vilém Flusser, Jean Baudrillard und Paul Virilio soll versucht werden, gemeinsame Argumentationslinien, aber auch gegensätzliche Standpunkte zu benennen, die eine Anwendung auf Themen und Aufbau des Romans Orakelveggen als sinnvoll erscheinen lassen. Außerdem soll dieser Blick auf die Theorien konkretisieren helfen, was hier unter ‚neuen Medien‘ verstanden wird. 2.2.1 Vilém Flusser: Das Universum der technischen Bilder Vilém Flusser wurde 1920 in Prag geboren, lehrte Kommunikationsphilosophie an der Universität in São Paulo und starb 1991. Sein erstes Buch, Die Geschichte des Teufels,43 wurde wie die meisten folgenden auf deutsch geschrieben; die sprachbewusste Terminologie ist also nicht durch eine Übersetzung verunklärt. Hier entwirft Flusser anhand der sieben Todsünden eine (Geistes-)Geschichte des menschlichen Fortschritts, der Technik, Ökonomie, Kunst, Wissenschaft und der sie tragenden Medien. Dieser eher literarisch-essayistische als wissenschaftliche Text legt in Themen und Stil die Grundlagen für die späteren Veröffentlichungen, aufgrund derer Flusser oft mit dem Etikett ‚Medienphilosoph‘ versehen wird.44 1983 folgte Für eine Philosophie der Fotografie. In dem schmalen Band entwickelt Flusser erste Grundzüge einer Theorie des technischen Bildes und seiner Unterschiede zu herkömmlichen Bildern sowie zum Schriftcode. Er stellt die Entwicklung der Medien als eine zunehmende Abstraktion von der Realität dar:45 ist die medial unvermittelte Lebenswelt 43 Es erschien 1965 unter dem Titel „A história do diabo“ in São Paulo, und posthum 1993 in Deutschland. Z.B. durch Weber 2003 45 Siehe zu diesem Abstraktionsprozess vor allem Flusser 1988 44 2.2.1 Vilém Flusser: Das Universum der technischen Bilder 12 noch eine vierdimensionale Einheit von Raum und Zeit, so stellen frühe Bilder eine erste Abstraktion in zweidimensionale, konnotative Symbole dar. Diese Bilder vermitteln zwar zwischen Welt und Mensch, verstellen aber auch den direkten Blick auf die Realität. So kommt es, wie Flusser es für jede Medienstufe nachweist, zu einem Feedback zwischen dem Mediencode, seinem Gebrauch und dem Weltverständnis des Menschen, der ihn benutzt. Das von frühen Bildern geprägte Lebensgefühl ist laut Flusser ein „magisches“, da die Welt nun wie ein Bild gelesen wird, mit auf der Oberfläche kreisendem Blick, Bedeutungsräume und – zeiten konstruierend. Die Lebenswelt besteht dabei aus einem ununterbrochenen Kreislauf von Entstehen und Vergehen ohne Entwicklung, wobei bildliche Repräsentation und das, was sie „bedeutet“, sich wechselseitig beeinflussen: „Diese dem Bild eigene Raumzeit ist nichts anderes als die Welt der Magie, [...] in der sich alles wiederholt und in der alles an einem bedeutungsvollen Kontext teilnimmt. […] In der magischen Welt bedeutet der Sonnenaufgang das Krähen des Hahns und das Krähen den Sonnenaufgang.“46 Die Erfindung der Schrift beschreibt Flusser als Erfindung eines Metacodes, der die Flächen der Bilder zu (Buchstaben-)Reihen umcodiert und also sowohl eine weitere Dimension ärmer als auch eine Stufe abstrakter ist. Auch das Medium Schrift hat Auswirkungen auf Denken und Weltverständnis: laut Flusser überwindet es das magische, von Kreisen und Zirkeln geprägte Denken zugunsten des historischen Welt- und Zeitverständnisses. So macht die Schrift eine Geschichtsschreibung sowie die Ausbildung von Wissenschaften möglich, die auf kausalen Schlüssen basieren; es entstehen Staatengebilde, Hierarchien, Technologie. In einem weiteren medienevolutiven Schritt löst schließlich das technische Bild die Schrift ab;47 dieser Bruch beginnt laut Flusser mit der Erfindung der Fotografie und dauert bis in die heutige Zeit fort. Neu an den technischen Bildern ist, dass sie eine Objektivität vorgaukeln, die sie gar nicht besitzen, und dass sie erstmals in Apparaten konstituiert werden, also nicht mehr „Abbilder“ von menschlichen Vorstellungen, sondern von ApparatFunktionen und Programm-Modellen sind. So wie Texte eine ikonoklastische Tendenz hatten, sind die neuen Bilder gegen eine „Textolatrie“ engagiert:48 sie zielen auf Verewigung und wirken daher, so Flusser, als „Staudämme“ für Geschichte,49 die zuvor in der Prozessierung durch lineare Texte frei geflossen war. In dieser Umbruchphase erkennt Flusser einige Gefahren, die von der unangemessenen Reaktion auf den neuen Code ausgehen. Zum einen müssten die Menschen erst lernen, die neuen Bilder nicht wie die alten, also magisch zu lesen: als bedeutungsgeladene Symbole mit Weltbezug, als objektive Abbilder von Realität. Vielmehr stellten Fotos „transcodierte Begriffe dar, die vorgeben, sich automatisch aus der Welt her auf der Fläche abgebildet zu haben“.50 Daher seien technische Bilder noch abstrakter als Texte, sie seien aus Körnern zusammengesetzt,51 die nach den Möglichkeiten der Apparate „gerafft“ und nach Belieben 46 Flusser 1983, 9 Zum Medienwechsel hin zum technischen Bild hat Flusser einen ‚Abgesang‘ auf das lineare Medium, Die Schrift, verfasst, der sich auch mit neuen Textformen und Hybriden wie Drehbüchern, Skripten und Computer-Programmiersprache beschäftigt und daher für die Untersuchung des Romans Orakelveggen ebenfalls von Bedeutung ist (s. Flusser1989). 48 Flusser 1983, 12 u. 16 49 Ebd., 18 50 Ebd., 41. Der Begriff der „Heliographie“ für frühe Fotografien ist auch von dieser Vorstellung geprägt. 51 Die Pixel des digitalen Bildes meint er dabei ebenso wie die Reaktion von Photonen auf Silbernitratmoleküle bei der Fotografie (s. Flusser 1999, 21). 47 2.2.1 Vilém Flusser: Das Universum der technischen Bilder 13 komputiert (zusammengesetzt) werden können.52 Der Mensch wird daher zu einem „Apparat-Sklaven“,53 der nur die in den Apparaten angelegten Programme verwirklichen kann und darf, und das technische Bild zum medialen Abbild einer quantischen, zertrümmerten Realitätserfahrung. Die Unfreiheit des Menschen und seine Abhängigkeit von sozialen, neuronalen, genetischen und anderen Prozessen, die die modernen Wissenschaften beschreiben und die sich dem Einfluss des Einzelnen entziehen, hat ihre Parallele in seiner Funktion als reiner Verwirklicher von Apparat-Programmen. Geschieht dies auf unreflektierte Weise, so Flusser, führt das zu einer durch Apparate programmierten Massen-Einheits-Kultur, einer Automatisierung von Wahrnehmung und zu Redundanz- statt Informationserzeugung.54 Der Ausweg sei, so Flusser, die Apparate entgegen ihrer Programme zu benutzen, der programmierten Redundanz den menschlichen Drang nach Information entgegen zu setzen – oder sich den Apparaten und ihrer programmierenden Absicht zu verweigern.55 Diese Ideen führt Flusser in seinem Hauptwerk Ins Universum der technischen Bilder von 198556 konsequent weiter und ergänzt sie durch einen visionären Anteil, der sich in der Prognose einer möglichen Zukunft versucht, wie sie aus dem Medienwechsel hin zum technischen Bild entstehen könnte. Der Titel bezieht sich wohl bewusst auf Marshall McLuhans Formulierung von der „Gutenberg-Galaxis“,57 jenes Schriftuniversum also, das nun durch eines ersetzt wird, in dem Apparat-Bilder das vorherrschende Medium darstellen. Flusser erweitert hier den Begriff des technischen Bildes vom Foto auf digitale, filmische und Fernseh-Bilder, die die Abstraktion des linearen, eindimensionalen Schriftcodes zu einem nulldimensionalen Punktcode (Pixelcode) deutlich zeigen. Diese Pixel sind, und das ist das revolutionär Neue an den technischen Bildern, komputierbar, also mit Hilfe von Apparaten zu neuen Bildern zusammensetzbar. Dies sei „nichts anderes als eine technische Anwendung der theoretischen Erkenntnis, dass alle Informationen aus Komputationen von Informationsbits entstehen“.58 Die Bilder hören dann auf, Dinge in der Welt zu bedeuten oder abzubilden: sie schaffen ein autarkes (Bild-)Universum, werden zu Abbildern von Apparat-Prozessen und sind nur „scheinbar“: erst im Auge des Betrachters verbinden sich die Punkte zu einer „bedeutsamen Fläche“. Daher liest der die neuen Bilder meist noch „magisch“, nicht als Konkretisierung von Kalkulationsprozessen und Programmen.59 Die „neuen Bildermacher“, Programmierer und Komputierer, nennt Flusser „Einbild60 ner“. In seiner Utopie einer zukünftigen Gesellschaft sind die Einbildner miteinander in dialogischen Netzen verbunden und kommunizieren mit Hilfe des Codes der technischen Bilder, die sie am Computer erzeugen, verschicken, verändern und weiterschicken. So entstehen Bilder nur noch als Reaktion auf andere Bilder und nicht mehr auf eine externe Welt. Das führt laut Flusser (wie bei jedem bisherigen Medienwechsel) zu einer Veränderung von Denkweise und Wahrnehmung: die Welt verliert an Bedeutung, es macht keinen Sinn mehr, zwischen ‚real‘ und ‚simuliert‘/‚komputiert‘ zu unterscheiden, alles wird in Bilder verwan52 Flusser 1999, 20 Flusser 1983, 53 54 Ebd., 18, 64 und 42 55 Vgl. ebd., 72ff. 56 Die hier verwendete Ausgabe ist die der Edition Flusser von European Photography, Göttingen 1999. 57 McLuhan 1962 58 Flusser 1999, 111 59 Flusser 1983, 13-15 60 Flusser 1999, 25 53 2.2.2 Jean Baudrillard: Realität ist Simulation 14 delt, und jedes Handeln richtet sich an Bildern aus und auf Bilder. Damit hört das traditionelle Konzept von ‚Geschichte‘, verstanden als menschliches Engagement an der Welt und den Lebensumständen, auf. Auch hier nennt Flusser Gefahren. Sollten die Kommunikationsnetze nicht allesamt dialogisch geschaltet werden, sondern (wie heute in Rundfunk, Fernsehen, Kino, Presse und den meisten Internet-Inhalten noch üblich) die Menschen zu Empfängern zentral gesendeter Information degradieren, würde keine Freiheit und Verantwortung im Umgang mit den neuen Bildern entstehen, sondern eine lediglich auf Zerstreuung ausgerichtete, „zerkörnte“ Massenkultur,61 bestehend aus Individuen, die durch zunehmenden Ich-Verlust in Folge ihrer passiven Haltung zur Welt sowie zu den technischen Bildern geprägt sind. Flusser wünscht sich daher statt einer diskursiven (Informationen weitergebenden) eine dialogische (Informationen erzeugende) Gesellschaft.62 Im utopisch gehaltenen Schlussteil entwirft er eine solche Gesellschaft aus spielerisch Bilder erzeugenden Individuen: eine Struktur, die der eines „träumenden kosmischen Hirns“ ähnelt,63 das stetig aus sich selbst heraus neue (in Bilder codierte) Informationen synthetisiert. Der menschliche Körper würde dann an Bedeutung verlieren, und mit ihm jede Vorstellung von Geschichte, von Handeln in und an der Welt: „Die Wissenschaft, Technik, Politik (kurz: Geschichte) werden sich so verändern, dass sie diese Namen nicht mehr verdienen. Sie werden dem Spiel der Einbildungskraft dienen“.64 Die Themenfelder, die im Zusammenhang mit der Analyse von Orakelveggen hilfreich und erhellend erscheinen, sind vor allem Flussers Gedanken zur Codestruktur der technischen Bilder sowie ihrer Auswirkungen als ‚neues Medium‘ auf Wahrnehmung und Weltsicht der Menschen, die sie benutzen. Die Personen des Romans wie auch der ganze Text selbst lassen sich unter dem Gesichtspunkt einer ‚Medienkonkurrenz‘ zwischen Schrift und technischem Bild untersuchen, und mit eben dieser Konkurrenz- oder Umbruch-Situation dürften sich zahlreiche Konflikte auf inhaltlicher sowie Brüche auf struktureller Ebene erklären lassen. Ein kritischer Blick auf das utopische Moment in Flussers Sicht der neuen Technologien kann zudem ebenso hilfreich sein wie seine Gedanken zur Veränderung von Charakter und sozialem Leben durch ‚neue Medien‘ sowie seine Überlegungen zum Verwischen der Grenzen zwischen Fiktion, Realität und Traum – ein Thema, das sich ebenfalls auf der inhaltlichen Ebene des Romans, in seinen Figurenkonstellationen wie auch auf metaphorischer, erzählerischer und struktureller Ebene widergespiegelt findet. 2.2.2 Jean Baudrillard: Realität ist Simulation Wo Flussers Texte trotz seines breiten Zugangs zum Thema Medien und der essayistischen Sprache immer eine präzise Argumentationsstruktur behalten, präsentiert Jean Baudrillard seine Gedanken eher als heterogene Mischung assoziativ miteinander verknüpfter Theoriefragmente, die der Leser selbst zu einem stimmigen Bild fügen muss – damit erscheint auch Baudrillard als sprachbewusster Schreiber, der die Grundzüge seiner Gedanken zu Fragmentierung, Atomisierung und chaotischen Prozessen formal spiegelt. 61 Ebd., 68 Ebd., 90 63 Ebd., 137 64 Ebd., 149 62 2.2.2 Jean Baudrillard: Realität ist Simulation 15 Baudrillard wurde 1929 in Reims geboren und hatte bis 1986 eine Professur für Soziologie an der Universität Paris-Nanterre inne. 17 Bücher sowie zahlreiche Aufsätze und Vorträge machen sein Werk deutlich umfangreicher als das Flussers, weshalb sich hier nur auf eine einigermaßen repräsentative Textauswahl bezogen wird. Zentrale Aussagen sollen nun nachvollzogen und ihre Relevanz für die Analyse von Orakelveggen geprüft werden. Agonie des Realen ist der Titel einer Aufsatzsammlung Baudrillards aus den Jahren 1977/1978. Hier entwirft er Grundzüge seiner Theorie und führt eine besondere Terminologie ein, mit der er vor allem die Natur der Simulation beschreibt. Ganz ähnlich wie Flusser und Virilio nimmt auch Baudrillard an, dass Simulationen (gemeint sind alle Arten technischer Bilder) nicht Realität abbilden, sondern sie erzeugen. Diese simulierte Realität (man könnte auch von ‚Medienrealität‘ sprechen) hat allerdings bestimmte Eigenschaften, die sie von der unvermittelten Realität unterscheidet: sie ist referenzlos, sie bildet keine äußeren Phänomene ab, sie ist steuerbar und reproduzierbar; Baudrillard spricht daher von „Hyperrealität“.65 Diese besteht aus „Simulakra“, künstlichen Bildern, die eine neue Form von Bildlichkeit darstellen: sie kreisen um sich selbst, lassen sich niemals „gegen das Reale austauschen“66 und sind daher das Gegenteil von Repräsentationen. Baudrillard deutet dies als das letzte Stadium einer Bilderentwicklung, die sich in gewissem Sinne parallel zu Flussers Medienevolution lesen lässt. Im ersten Stadium ist das Bild der „Reflex einer tieferliegenden Realität“ und gehört zur „Ordnung des Sakraments“. Im zweiten Stadium „maskiert und denaturiert“ es die Realität, im dritten maskiert es die Abwesenheit einer solchen; beides gehört zur Ordnung von Magie, Zauberei und Illusion. Im vierten Stadium schließlich verweist das Bild „auf keine Realität: es ist sein eigenes Simulakrum“.67 Dieses schrittweise Verschwinden der Realität hinter den Zeichen hat laut Baudrillard den Effekt, dass durch die Verdopplung der Welt in der Hyperrealität die Realität selbst zunehmend als irreal erscheint. Mehr noch: die Simulationen beginnen, authentischer zu erscheinen als das Original: ‚Realität‘ wird als Illusion demaskiert, als Konstruktion des menschlichen Wahrnehmungsapparates nach Parametern des vorherrschenden Codesystems. Gleichzeitig lassen sich Realität und Simulation nicht mehr getrennt von einander beobachten, da sie vor allem in den Medien (der medial vermittelten Realität) untrennbar vermengt werden: jedes mediale Bild enthält Bestandteile von Simulation, gleichzeitig ist jede Simulation mit einigen Aspekten in der realen Erfahrungswelt verankert. Diesen „Kampf zwischen Realität und Simulation“68 verdeutlicht Baudrillard beispielhaft an den Feldern Macht und Politik, die ihr Handeln zunehmend an medialen Erfordernissen ausrichten, es also auf Simulation statt auf reale Situationen gründen, gleichzeitig jedoch versuchen, „immer wieder und überall neue Formen des Realen und Referentiale“ zu injizieren69 – am liebsten in Form von Krisen-Diskursen. Darin sieht er eine zentrale Umwertung, die sich auch auf andere Bereiche, etwa Kunst, Arbeit, Liebe usw. beziehen ließe: 65 Baudrillard 1978, 8 Ebd., 14 67 Ebd., 15 68 Ebd., 38 69 Ebd., 39 66 2.2.2 Jean Baudrillard: Realität ist Simulation 16 Solange vom Realen eine historische Bedrohung ausging, hat die Macht Dissuasion und Simulation gespielt und alle Widersprüche mit Hilfe der Produktion äquivalenter Zeichen aufgelöst. Heute, wo die Bedrohung von der Simulation ausgeht (eine Bedrohung, im Spiel der Zeichen zu verdunsten), bringt die Macht das Reale und die Krise ins Spiel und erzeugt dabei fortwährend künstliche, soziale, ökonomische und politische Einsätze. Die Macht spielt um ihr Leben, doch es ist bereits zu spät.70 Zu spät deshalb, weil jede „Injektion“ von Realität in die Simulation diese Realität verdoppelt und gleichzeitig vernichtet, also „kurzschließt“ und wiederum zu einem Simulakrum werden lässt. Als Beispiel nennt Baudrillard das sogenannte „Reality TV“, wobei schon der Begriff Unklarheit darüber verbreite, ob er „Realitäts-Fernsehen“ meint oder vielmehr „Fernseh-Realität“. Baudrillard behauptet, er meine beides zugleich: Realität und mediale Vermittlung lösen sich untrennbar ineinander auf, ebenso wie vormalige Gegensatzpaare wie Ursache und Wirkung, aktiv und passiv, Sender und Empfänger.71 In dieser kurzen Zusammenfassung wird schon deutlich, dass Baudrillard stark abstrahieren, in manchmal sogar zweifelhaftem Maße. Trotzdem sind sie konkret bei der Analyse von Orakelveggen zu gebrauchen. Denn das, was der Theoretiker als symptomatisch vor allem für das Fernsehen beschreibt, ist erst recht auf ein potenziell dialogisches, multimediales und nicht kontrollierbares Medium wie das Internet anwendbar und trifft daher den Kern des Romans: die Schwierigkeit bzw. Unmöglichkeit, noch zwischen Realität und Simulation zu unterscheiden, sei es im Fall des lediglich medial vermittelten Monterbia-Krieges, sei es in Bezug auf von Peach gefälschte Website-Artikel, auf die Identität von <webchild> oder des Teenager-Stars Christina Carrera. Auch auf der Ebene der Erzählstruktur setzt sich dies fort: lange bleibt die Erzählerfigur hinter bestimmten Abschnitten nicht identifizierbar, Geträumtes und Erlebtes verschwimmen, und den Epilog kann man als eine Art ‚textliche Simulation‘, eine intermediale Übertragung der Struktur neuer Medien auf die der Literatur lesen: Fakten und Fiktion sind untrennbar vermischt, der Erzähler ist ebenso verschwunden wie der Adressat, die Realitätsebenen fließen zusammen zu einem „schwerelosen Nebel“.72 Agonie des Realen enthält Baudrillards zentrale Thesen, die er in den folgenden Büchern ausweitet, ergänzt und von verschiedenen Seiten beleuchtet. Von den übrigen verwendeten Werken soll daher nur noch vorgestellt werden, was bei der Analyse von Orakelveggen Verwendung finden wird. Im Aufsatz Videowelt und fraktales Subjekt73 entwickelt Baudrillard Gedanken zu zerbrochener (fraktaler) Weltsicht, Lebensgefühl und Identität im Zeitalter technischer Medien. Das Subjekt werde durch die Medien von sich entfremdet, in einer Steigerung der These McLuhans, dass Medien Prothesen seien, also Erweiterungen des menschlichen Körpers: Baudrillard sieht die Gefahr, dass der Mensch zu einer Prothese seiner Apparate zu werden droht – dies entspricht Flussers Begriff der „Funktionäre“, der Apparat-Bediener. Einen für die Romananalyse sehr nützlichen Abschnitt widmet Baudrillard der These, dass die ZoomTechnik und Oberflächlichkeit künstlicher digitaler Bilder in ihrer Struktur pornographische Züge tragen, und äußert sich über die Natur von ‚Cyber-Sex‘. Ein weiterer wichtiger Abschnitt beschäftigt sich mit dem Fotoapparat als „magisches Instrument des entpersonali70 Ebd., 40 Ebd., 46ff. 72 Ebd., 38 73 Baudrillard 1989, basierend auf einem Vortrag, den er am 14. September 1988 auf dem Symposion Philosophien der neuen Technologie in Linz hielt; zu den Referenten gehörte auch Vilém Flusser. 71 2.2.2 Jean Baudrillard: Realität ist Simulation 17 sierten Sehens“,74 eine These, die gut an Flusser und Virilio anschließbar ist und für die Analyse von Davids Jugendliebe zu Emilia und ihrer Fotografie-Besessenheit geeignet ist, ebenso wie für einen Blick auf den gesamten im Roman angelegten Fotografie-Diskurs. Die Illusion des Endes oder Der Streik der Ereignisse (1994 auf deutsch erschienen) setzt einen etwas anderen Schwerpunkt. Baudrillard entwickelt darin, ausgehend von seinen Gedanken zur Simulation, die Theorie vom Verschwinden der Geschichte durch ihre mediale Aufbereitung in Echtzeit. Genau wie die Realität durch die Simulation ersetzt und vernichtet wird, lassen technische (Bild-)Medien durch eine immer schnellere Prozessierung von Ereignissen die kausale Chronologie verschwinden: statt ‚Geschichte‘ scheinen sich nur noch voneinander unabhängige ‚Geschichten‘ zu ereignen, die endlos in sich selbst kreisen und so stetig Unsicherheit und damit Bedarf an neuen Geschichten erzeugen.75 Die Geschichte verliert den Glauben an ein (wenn auch utopisches) Ende, von dem aus sie sich definieren könnte, fällt in sich zusammen und kehrt sich um.76 In der Postmoderne wird sie in Form von Dokumentationen, Kinofilmen, Zitaten usw. ständig bildhaft recycelt – in diesem andauernden Revisionismus hat Geschichte dann keine Zeit mehr, noch stattzufinden. Statt kausaler, historischer Verknüpfung wird die Geschichte nunmehr in ihrer wahllosen Vergegenwärtigung und Anreicherung mit fiktivem Material variabel und immer neu schreibbar. Für den Menschen haben diese Mechanismen Folgen. Er wird durch die Medialisierung des Lebens und der Erfahrungswelt zu einem interaktiven Teilchen, das zwar unter ständigem Stress nach Selbstverwirklichung und -perfektionierung strebt, aber dennoch gleichgültig gegenüber fast allem wird: der Zeit, die sich in Echtzeit auflöst, dem Raum, der nur noch medial vermittelt erfahren wird, dem eigenen Körper, da sich Persönlichkeit interaktiv und virtuell konstituiert. Dieser Verlust von räumlichen, zeitlichen und geschichtlichen Parametern spiegelt sich in Orakelveggen in der Figur Peach, aber auch in der Entwicklung des Erzählers David und ebenfalls in der zunehmend zerfallenden Erzählstruktur des Romans. Die Folgen der Auflösung von Realität zugunsten der Simulation beschreibt Baudrillard in Der unmögliche Tausch (auf deutsch 2000 erschienen). Durch die Unsicherheit allem gegenüber, durch die freie Gestaltbarkeit von Realität in der Simulation, macht Baudrillard ein „katastrophisches“ Lebensgefühl der heutigen Zeit aus, was sich deutlich in der Schilderung der inneren Gedankenwelt des Roman-Erzählers David äußert. Baudrillard verwendet hier den aus der Teilchenphysik entlehnten Begriff der Unschärfe, der sich auf viele Lebens- und Erfahrungsbereiche anwenden lässt, in denen Definitionen, Abgrenzungen und Ordnungen sich nicht mehr treffen lassen. Auf formaler Ebene wird das im Roman an der Erzählhaltung deutlich. Die eigentliche ‚Story‘ gerät immer mehr aus dem Fokus, Nebensächliches erhält große Wichtigkeit, die Autorität des Erzählers und seine Kontrolle über die Erzählung gehen verloren. In diese Auflösung bricht jedoch die ‚katastrophische Form‘ in allerlei Erscheinungen wieder ein: als Perversion, Wahn, Millenniums-Angst, Störung, Unfall, Virus und Gewaltausbruch. Alles, was zentrale Triebfedern der Romanhandlung ausmacht, wird von Baudrillard als typische Nebenwirkung der postmodernen Auflösungserscheinungen definiert: als der Versuch gewaltsamer Rückkehr der Realität in die „unscharfe“ Welt der Simulation. 74 Baudrillard 1989, 124 Dieser Gedanke bildet auch die Basis in einer allerdings völlig anders gearteten Medientheorie: Niklas Luhmanns systemtheoretischem Ansatz. In Realität der Massenmedien (1996) spricht er von der selbsterzeugten Unsicherheit der Medien, die deren weiteres Prozessieren aus sich selbst heraus gewährleistet. 76 Baudrillard 1994, 23 75 2.2.2 Jean Baudrillard: Realität ist Simulation 18 Als ein weiteres Thema schneidet Baudrillard das Problem an, das entsteht, wenn man virtuell alle Träume und Utopien verwirklichen kann – das Projekt, an dem Peach letztlich scheitert. Durch die Realisation, so Baudrillard, wird das Utopische zerstört77 – Perfektion ist unmöglich, da Ambivalenz, die Anwesenheit des ‚Bösen‘, eine Grundeigenschaft aller Dinge ist. Das erklärt, warum aus Peachs idealer Digitalwelt am Ende eine strafende Rachemaschine wird. Ähnliches gilt für die virtuellen Doppelleben, die die meisten Romanfiguren führen. Diese „Befreiung von mir selbst“78 im Rollenspiel schlägt dann in Unfreiheit und Katastrophe um, wenn die beiden Leben miteinander kollidieren oder für den, der spielt, untrennbar verschmelzen. Auch dieser Mechanismus wird anhand der zentralen Figuren im Roman durchgespielt. Als letzten wichtigen Punkt enthält Der unmögliche Tausch einige Gedanken zur Fotografie. Dadurch, so Baudrillard, dass das Foto aus dem Zeitfluss ein einziges „Momentum“ herauslöst, lässt es die Realität als Simulation des menschlichen Geistes erfahrbar werden.79 Die fotografierten Objekte werden ohne ihren raumzeitlichen Kontext sinnlos und beginnen, nur noch sich selbst zu bedeuten. Das Foto ist also keine Repräsentation der Welt, vielmehr zeigt es, dass zwischen Bild und Welt keine Konvergenz besteht: „Der photographische Blick erforscht und analysiert keine ‚Realität‘, er legt sich ‚buchstäblich‘ auf die Oberfläche der Dinge und illustriert ihre Erscheinung in Form von Fragmenten und für eine sehr kurze Zeitspanne, auf die unverzüglich die ihres Verschwindens folgt.“80 Diese Gedanken zum Foto werden sich vor allem für die Analyse des Epilogs als nützlich erweisen. Als letztes Werk Baudrillards soll die Aufsatzsammlung Short Cuts des Zweitausendeins-Verlags aus dem Jahre 2003 verwendet werden, da hier einzelne Aspekte des schwer zu fassenden Theoriegebäudes exemplarisch beleuchtet werden. Einer davon ist das Themenfeld (Cyber-)Liebe und (Cyber-)Sex, die in ihrer medialen Verwirklichung abgeschafft werden. Ein zweiter Aspekt dreht sich um die Zusammenhänge von Tod, Unfall, Terror und Krieg: auch diese existenziellen menschlichen Erfahrungen sieht Baudrillard vom Verschwinden in ihren medialen Prozessierungen bedroht; der plötzlich im medialen Koma verschwundene Monterbia-Krieg in Orakelveggen zählt ebenso dazu wie Peachs (auto-)destruktive Haltung. Schließlich, und dies ist eine gute Überleitung zum dritten Theoretiker Paul Virilio, erkennt Baudrillard die zunehmende Beschleunigung und EchtzeitProzessierung von Gegenwart als Grund für eine „Wüstenbildung“ in sozialen, kommunikativen und ethischen Bereichen,81 die zu Brüchen, Spaltungen, Porösitäten, Verschiebungen führt: ein metaphorisches Feld, das auch Orakelveggen zur Beschreibung der inneren Befindlichkeit des Erzählers David nutzt82 und durch dessen Blick den Roman färbt. 77 Keine neue Idee übrigens – der Gedanke findet sich etwa auch schon 1843 bei Søren Kierkegaard, bei ihm in Bezug auf die Liebe, wenn er schreibt: „Elskov lader sig ikke udtrykke i et Ægteskab. [...] I samme Øieblik Virkeligheden indtræder, er Alt tabt.” 78 Baudrillard 2000, 82 79 Ebd., 190f. 80 Ebd., 191 81 Baudrillard 2003, 125 82 „min ørken av et liv“, wie David selbst sagt (Honoré 2002, 216). 2.2.3 Paul Virilio: Beschleunigung 19 2.2.3 Paul Virilio: Beschleunigung In den Werken des 1932 geborenen Architekten und Essayisten Paul Virilio lassen sich drei zentrale Themenfelder erkennen: erstens der Zusammenhang zwischen Kriegs- und Medientechnologie,83 zweitens die (auch darin begründete) zunehmende Verwandlung von Wahrnehmung in einen Akt der Aggression, sowie drittens die paradoxale Beschleunigung, mit der sich die heutige Informationsgesellschaft ihrem Ende nähert, und die zu einem zentralen Wahrnehmungsparameter wird.84 Alle drei Themen bieten in Bezug auf die Analyse von Orakelveggen eine gute Ergänzung zu den Theorien von Flusser und Baudrillard. Elektrische (oder wie Flusser sagen würde: technische) Bilder verschieben laut Virilio die zentrale Wahrnehmungsdimension des Menschen vom Raum auf die Zeit. Technische Bilder zeigen „Nicht-Orte“;85 aus der in Realzeit übertragenen Flut der unverorteten Bilder lassen sich dann individuell beliebige Schnipsel miteinander koppeln, unabhängig von ihrem Ursprung – eine Technik, die im Zusammenhang mit Fernsehrezeption oft als ‚Zapping‘ oder ‚Switching‘ bezeichnet wird.86 Der mechanischen Erschließung des Realraums (durch Eisenbahn, Automobil, Flugzeug etc.) folgt heute die Realzeit-Erschaffung eines Bildraums, der den Realraum überblendet.87 Die Bilder hören also auf, Reales darzustellen, sie werden selbst zur Realität und lösen die Tatsachen in sich auf: wahr ist, was abgebildet wird.88 Als Konsequenz daraus wird das konkrete physische Reisen unnötig: die technischen Bilder übernehmen die Rolle von „audiovisuellen Vehikeln“.89 Das hat Folgen für die Wahrnehmung wie für den wahrnehmenden Menschen. Die Wahrnehmung wird, da sie sich in immer stärkerem Maße auf technische Bilder gründet, halluzinatorisch und programmierbar: die „Telerealität“90 lässt keine Unterscheidung mehr zwischen innen und außen, real und irreal, Traum und Wachzustand zu. Die Menschen, Auf-der-Stelle-Reisende, werden, so Virilios Prognose, zu spezialisierten, Terminals bedienenden Invaliden werden,91 die am Bildschirm in Realzeit Bilder kommutieren (in Flussers Terminologie: komputieren). Die Lebenswelt der zukünftigen Menschen, und hier spricht der Architekt Virilio, wird sich daher zum Kokon entwickeln, zu einer abgeschlossenen Innenwelt, in der „freiwillige Behinderte“ den Außenkontakt ausschließlich über ihr Terminal herstellen.92 Diese Kokonisierung kann, so Virilio, schnell zu Zusammenbrüchen des Egos, zu „Besessenheiten“ führen:93 Besessenheit von Technik, von technischen Bildern und von künstlichen Personen – zum Beispiel online-Avataren wie der <webchild>-Figur im Roman. Was bei Flusser wie utopische, bei Baudrillard und Virilio eher dystopische Zukunftsmusik klingt, führt letzterer theoretisch bis auf die Fotografie zurück, die die Raum- und 83 Virilio 1989, 1993 und 2000. Letzteres Werk entstand anlässlich des Kosovo-Krieges, was fruchtbare Parallelen für die Analyse des Monterbia-Krieges in Orakelveggen eröffnet. 84 Virilio 1997. Der Titel Rasender Stillstand ist eine treffende Umschreibung der paradoxen Situation. 85 Virlio 1997, 11 86 Vgl. etwa Winkler 1992 87 Virilio 1997, 14f. 88 Ebd., 31 89 Ebd., 38 90 Ebd., 61 91 Ebd., 51 92 Ebd., 116ff. 93 Ebd., 118 2.3 Zusammenfassung 20 Zeiterfahrung einer neuen „Belichtungsordnung“ unterwirft.94 Das Foto „intensiviert“ die Zeit,95 friert sie auf einen einzigen Augenblick ein. Damit stellt das Fotografieren eine Handlung dar, die sich konträr zur extensiven Zeiterfahrung von chronologisch fortschreitender Geschichtsschreibung verhält. Dennoch ist die Optik des Fotos und aller technischen Bilder eine „Optik der Täuschung“.96 Wenn sich nun der Mensch bei der vermittelten Wahrnehmung der Welt zunehmend auf diese Optik verlässt, begründet das die Unsicherheit als zentrales Lebensgefühl des technischen Zeitalters, den Verlust von objektiven Größen, Wahrheiten, Sichtbarkeiten und Chronologien in der Realitätserfahrung.97 Damit führen Virilios Gedanken am Ende ebenfalls zur Baudrillards zentraler Aussage von Realität als Simulation und Simulation als Realität.98 Paul Virilios Thesen sind sehr gut dazu geeignet, die psychische Entwicklung der ‚heimlichen Hauptfigur‘ des Romans, Peach, als eine in der Person vorweggenommene Entwicklung der ganzen Gattung zu deuten, die Virilio als Folge der medialen Strukturen kommen sieht. Außerdem kann sein Text dabei helfen, zentrale Symbole des Romans wie den Kokon, den Sternenhimmel oder die Wüste als symptomatische Bilder für Aspekte der Informationsgesellschaft zu deuten, ebenso wie die motivische Parallelführung von Popkultur, Kino und Krieg, die im Roman angelegt ist. Nicht zuletzt für die Deutung der Rolle und der eigentümlichen Erzählstruktur des Epilogs eröffnet Virilio mit seinen Gedanken zum Wesen der Fotografie eine zusätzliche, erhellende Sichtweise. 2.3 Zusammenfassung Obwohl alle drei Theorien jeweils andere Akzente setzen, ergänzen sie sich doch in vielen Fällen. So ist ihnen der Grundgedanke gemeinsam, dass Medien entscheidende Auswirkungen auf Kultur haben – ohne jedoch den radikal essentialistischen Standpunkt einzunehmen, Medien seien die (einzige) Triebkraft hinter der Kultur.99 Vielmehr sehen Flusser, Baudrillard und Virilio die Beziehung als die einer fruchtbaren Wechselwirkung, eines ständigen Feedbacks an. Flusser beschreibt dies für bildgeprägte Gesellschaften so: Das eben bedeutet ‚publizieren‘: eine subjektive Anschauung in Symbole eines Gesellschaftscodes zu fassen. Freilich muss dies nicht immer gelingen. Da jede Anschauung subjektiv ist, wird sich bei jedem neuen Bild irgendein neues Symbol in den Code einschieben. […] Es wird den Gesellschaftscode verändern und die Gesellschaft ‚informieren‘. Das eben ist die Gewalt der Imagination: daß sie der durch Bilder informierten Gesellschaft erlaubt, immer neue Erfahrungen und Erlebnisse zu haben und zu immer neuen Wertungen und Handlungen zu gelangen.100 94 Ebd., 71f. Ebd., 104 96 Ebd., 86 97 Ebd., 103 98 Für eine konzentrierte Darstellung s. Virilio 1991 99 Für diesen Ansatz stünde etwa die Medienvorstellung von Friedrich Kittler. Als Beispiele seien hier nur der Titel des Aufsatzes „Die Welt des Symbolischen – eine Welt der Maschine“ genannt, sowie die darin mit Lacan im Hintergrund getroffene Aussage, dass „Menschen die Informationsmaschinen nicht erfunden haben können, sondern sehr umgekehrt ihre Subjekte sind“. (Kittler 1993, 77) 100 Flusser 1999, 17 95 3 Intramediale Bezüge 21 Kultur- und Medienentwicklung erscheinen also als einander verstärkende, beeinflussende und verändernde Größen. Eine zweite Gemeinsamkeit der Theorien besteht darin, dass sie von Beobachtungen der Gegenwart aus Prognosen für die Zukunft von Medien und Menschheit erstellen. In diesen Prognosen liegen dann jedoch auch die größten Unterschiede. Während Flussers Vorstellung einer dialogisch vernetzten, am traumartigen Bildertausch engagierten Gesellschaft, in der der Tod nur eine Option ohne Schrecken ist, ein sehr positives Bild entwirft, tendieren Baudrillard und Virilio eher zum Gegenteil. Ihre Vorstellungen von Ende der Geschichte und „Involution“ der Gattung Mensch101 zu in Kokons gepferchten, körperlichen und zerebralen Invaliden102 gehen zwar von den gleichen Voraussetzungen aus wie Flusser und ziehen auch ganz ähnliche Schlüsse, werten die prognostizierten Entwicklungen jedoch völlig anders. Als dritte Übereinstimmung kann man die Gedankenfigur erkennen, dass technische Bilder eine simulierte Realität neben die reale Erfahrungswelt setzen, diese damit marginalisieren, ihre Wahrnehmung verändern, in Zweifel ziehen oder gar auslöschen. Dieser Gedanke wird sich bei der Analyse intermedialer Strategien im Roman als zentraler Ansatzpunkt für die Untersuchung von Bezügen zwischen Literatur und ‚neuen Medien‘ erweisen. 3 Intramediale Bezüge Wie unter 1.2 beschrieben, unterscheidet Rajewksy zunächst zwischen intramedialen und intermedialen Bezügen. Erstere finden, beschäftigt man sich mit Literatur, zwischen Texten statt; die Intertextualität als Bezug eines literarischen Texten auf einen einzelnen anderen Text nennt Rajewsky auch intramediale Einzelreferenz. Diesem Sonderfall soll ein Teil dieses Kapitels gewidmet werden, zum einen, weil intertextuelle Bezüge als der Intermedialität analoge, wenn auch keine Mediengrenze überschreitende Mechanismen zu definieren sind, und zum anderen, weil auch hier schon eine ‚übergreifende‘ Methode Anwendung finden soll. Neben ‚typischen‘ Intertexten, die in Punkt 3.1 aufgezeigt werden, sollen nämlich auch die Theorien von Flusser, Baudrillard und Virilio, zusätzlich zu ihrer Funktion als ‚Definitionsgeber‘ für den Begriff der ‚neuen Medien‘, als Prätexte ausgewiesen werden, die ein dichtes Netz von Bezügen mit dem Roman Orakelveggen verbindet. Diese Untersuchung unter 3.2 soll, der Übersichtlichkeit halber und ausgehend vom Romantext, nach zentralen Themenfeldern gegliedert vorgenommen werden. Unter Punkt 3.3 schließlich soll kurz gezeigt werden, dass auch andere intramediale Bezüge neben dem ‚Spezialfall‘ Intertextualität, nämlich intramediale Systemreferenzen, im Roman zu finden sind. 3.1 Literarische Prätexte von Christie, Poe, Obstfelder und Shaw Für einen Roman, der, wie zu zeigen sein wird, mit einer Fülle intermedialer Bezüge arbeitet, fallen die intertextuellen Referenzen zu anderer Literatur recht spärlich aus – zumindest, wenn man das enge Intertextualitätsverständnis von Rajewsky anlegt. Dennoch sind diese Bezüge erhellend und dienen zudem oft als Markierungen für andere intra- und intermediale Referenzen. 101 102 Baudrillard 1994, 132 Virilio 1997, 51 u. 132 3.1 Literarische Prätexte von Christie, Poe, Obstfelder und Shaw 22 Einen deutlichen Bezug stellt der Roman zu den Detektivgeschichten von Agatha Christie her. An der Stelle im Roman, als der Erzähler David mit der Niederschrift der Geschehnisse in seiner Gegenwart angelangt ist, mit dem Laptop auf den Knien im Warteraum eines Krankenhauses, hängt die Handlung in der Schwebe, während alle Personen, mit denen ihn enge Kontakte verbinden, im Krankenhaus behandelt werden: „Jeg fatter det nesten ikke selv: hvorfor vi er samlet her. Jeg, Marie, Peach, morfar. Som når alle møtes til oppgjørets time i det siste kapittelet av en Agatha Christie-roman“.103 Dies ist, wenige Seiten vor dem kurzen letzten Teil des Romans, die erste explizite Erwähnung des literarischen Bezugssystems ‚Kriminalroman‘; der intertextuelle Verweis dient als Markierung für eine intramediale Systemaktualisierung dieses Genres.104 Doch auch schon vorher gibt es weniger direkte intertextuelle Hinweise. So sagt David von sich: „Jeg er en digital Hercules Poirot; jeg samler på referansepunkter i tid og rom og glemmer dem aldri.“105 Dies ist ein Hinweis auf den pedantischen Charakter der Ermittlerfigur in mehr als 30 Chistie-Romanen, der ebenfalls auf den Krimi als literarisches System verweist, aber über die Eigenschaften des ledigen Ordnungsfanatikers Poirot indirekt auch eine Charakterisierung des geschiedenen, auf Daten, Uhrzeiten und Wetterverhältnisse fixierten David evoziert. Dies sind die beiden deutlichsten Verweise auf das System ‚Kriminalliteratur‘; einige indirektere werden später noch angesprochen. Zwei weitere intertextuelle Bezüge haben Verwirrung und Bedrohung als moderne Lebensgefühle zum Gegenstand. Direkt nach einer metatextuellen Reflektion über seinen Erzählstil beschreibt David einen autistischen Jungen in der U-Bahn: „Amerikanerne har et fantasifullt, obstfeldersk navn på tilstanden: Oops, Wrong Planet! Syndrome“.106 Der Bezugstext ist hier das bekannte, kanonisierte Gedicht Jeg ser von Sigbjørn Obstfelder, und dort vor allem die Zeilen „Jeg ser, jeg ser... / Jeg er vist kommet på en feil klode!“.107 Die hier geschilderte Betrachtung einer scheinbar fremden Welt wird in Orakelveggen durch den den Absatz einleitenden Satz „Jeg vet ikke hva gutten ser, hvor han befinner seg, men han er i alle fall ikke her“ auf die Ebene eines psychisch verschlossenen, persönlichen Fremdheits-Zustands gehoben, der sich im Laufe der Erzählung in weniger extremer Form als Wahrnehmungsstörung, Traum und Halluzination auch bei David selbst findet. Gleichzeitig lässt sich der Verweis auf einer Metaebene deuten: auch David ist in gewissem Sinne ‚blind‘, da er nicht sieht (oder sehen will), dass sein Kollege Peach längst die <webchild>-Maske übernommen hat, die David immer noch Marie Kammer zuschreibt. Der zweite Verweis ist direkt in eine der halluzinatorischen Erfahrungen Davids eingebunden. Bei einem Gang durch Oslo verwischen sich für ihn die Grenzen zwischen Innenund Außenwelt. Der Lärm eines Open-Air-Musikfestivals vermischt sich mit den massiven Störgeräuschen in Handys und Lautsprechern aufgrund eines Sonnensturms: „en stadig eskalerende torden av talløse sladrehjerter under gulvplankene, som i et mareritt drømt frem av Edgar Allan Poe“ und „ståket fra et infernalsk maskineri som kverner i et lukket rom i mitt eget sinn“.108 Hier schwingen als Prätexte sowohl Edgar Allen Poes Erzählung Das verräterische Herz als auch die Pendel-Maschinerie der lichtlosen Gefängniszelle in Die Foltern 103 Honoré 2002, 208 S. Kapitel 3.3.2, S. 38 105 Ebd., 25 106 Ebd., 162 107 Obstfelder 1950, 8 108 Honoré 2002, 202 104 3.2 Theorien von Flusser, Baudrillard und Virilio als Prätexte 23 an.109 Im Zusammenhang mit Davids Vermutung, er halluziniere, werden diese Prätexte zu Metaphern für seinen psychischen Zustand. Gleichzeitig wird im Leser mit Poe-Erfahrung die typisch morbide Stimmung der Erzählungen mit abgerufen. Noch ein letzter intertextueller Bezug soll genannt werden, der wie die anderen auf im ganzen Roman anklingende Motive verweist. David trifft sich mit Marie Kammer, der ‚Schöpferin‘ sowohl des Pop-Stars Christina Carrera als auch der Internet-Konstruktion <webchild>, und fragt sie über ihre Tätigkeit aus. Sie antwortet bereitwillig: „Hun liker tydeligvis å fortelle meg om sin pygmalionvirksomhet“.110 Dieser Bezug ist eindeutig; in dem Stück von George Bernard Shaw von 1912 versucht Professor Higgins, aus dem Straßenmädchen Eliza Doolittle eine Dame zu machen. Bedient sich Higgins allerdings noch harmloser Mittel wie Sprecherziehung, Kleidung usw., geht Marie Kammer mit den heutigen medialen Möglichkeiten entschieden weiter: ihre Identitäts-Konstrukte sind, teilweise wie bei Christina Carrera und gänzlich wie bei <webchild>, virtuell, Neuschöpfungen aus biographischen Versatzstücken, manipulierten Bildern, gestellten Pressekampagnen und nur scheinbar intimen Homepages. Damit verweist dieser intertextuelle Bezug auf die im Roman angelegte Schwierigkeit des Identitätsbegriffs im Medienzeitalter. 3.2 Theorien von Flusser, Baudrillard und Virilio als Prätexte Neben diesen Bezügen zu anderen literarischen Texten soll nun versucht werden zu zeigen, dass die Theorien von Flusser, Baudrillard und Virilio in ihrer Eigenschaft als ‚Definitionsgeber‘ für den Begriff der ‚neuen Medien‘ und ihrer Wirkungen auch als Prätexte gelesen werden können, auf die der Roman Bezug nimmt – wenn auch nie explizit wie im Fall der oben beschriebenen Bezüge. Eher sind die Theorien als kultureller Hintergrund zu verstehen, als Teile des postmodernen Mediendiskurses, mit dem sich der Roman, wie zu zeigen sein wird, teilweise verschränkt. Entkräftet man Irina Rajewskys strenge Forderung, dass Textbezüge immer als intendiert markiert sein müssen,111 kann eine solche Lesart sicher versucht werden. Da dies jedoch wegen der zahlreichen Berührungspunkte nur exemplarisch geschehen kann, sollen die Bezugnahmen nach thematischen Schwerpunkten geordnet beleuchtet werden. Außerdem kommen an dieser Stelle nur solche Bezüge zur Sprache, die in späteren Kapiteln nicht mehr anklingen werden. Dort genannte Parallelen zwischen Roman und Theorien werden das hier skizzierte Bild dann ergänzen. 3.2.1 Codes, Medienwechsel Wie Vilém Flusser in seinem Aufsatz Krise der Linearität argumentiert, hängen Wechsel von vorherrschenden medialen Systemen fast immer auch mit Wechseln des Codes zusammmen, in dem diese Systeme sich ausdrücken – und damit einhergehend strukturiert sich die Weltsicht derjenigen, die die Codes benutzen, um: „Sollten unsere Kinder und Enkel die Welt und sich selbst mittels anders strukturierter Codes (etwa mittels technischen Bildern wie Fotos, Filmen und Fernsehen, und mittels Digitalisation) erfahren, dann wären sie 109 Vgl. Poe 1996, 37-47 und 364-391 Honoré 2002, 124 111 S. hierzu auch Fußnote 28 auf S. 6 110 3.2.1 Codes, Medienwechsel 24 anders in der Welt als wir es sind“.112 Ein solcher Codewechsel scheint sich heute mit dem ‚pictorial turn‘ zu ereignen. Die Unsicherheiten, die entlang dieser Bruchstelle entstehen, bilden eine zentrale Triebkraft für die Handlung und Thematik des Romans, indem zahlreiche heterogen strukturierte Codes miteinander in Konflikt geraten und vermengt werden. So sagt David über <webchild>: „Hun kommuniserer som en kinesisk kalligrafist“, mit Hilfe von „snikskyttersalver av ord og bilder“.113 Nicht nur unterstreicht dies Flussers These des Wechsels vom Schrift- zum Bildcode. Wenn David wenig später fasziniert das Flackern einer defekten Neonröhre betrachtet „som om det er en kode, et slags språk“,114 dann spricht daraus auch die Unsicherheit, die beim Verlust eines zentralen Codes die Welt als angefüllt mit unverständlichen Zeichen erfahren lässt. Selbst die Körpersprache der Schauspielerin Anne Krigsvoll erscheint ihm als „en fullendt kode, og denne koden resonnerte, samklang, med omgivelsene. Med lyset, scenografien, synkopene i musikken, publikums blikk“.115 Der Code selbst erscheint hier als ein intermediales Phänomen,116 ganz so wie auch die ‚neuen Medien‘ von einer polymedialen Struktur gekennzeichnet sind. Indem der Sprachcode an Präsenz verliert und andere Codes an seine Seite treten, werden die einzelnen Elemente, „rester av et språk, av en kode“,117 zum Material für Komputationen. Marie Kammer, die ‚Mutter‘ von <webchild>, beschreibt diese Technik: „Regissere og systematisere mine egne filtrerte versjoner av alt det vi hele tiden plukker opp fra omgivelsene – fra filmer, bøker, magasiner, internett og TV. [...] Jeg tar egentlig bare tak i noe som allerede eksisterer, setter det i system“.118 Diese Technik, nach der Peach sie auch „Menneskesampleren“ nennt,119 mit einer Metapher aus der elektronischen Musik,120 entspricht dem, was Flusser visionär über die kommende „telematische Gesellschaft“ schreibt: „Nicht nur bisher ungeahnte Bilder und ungeahnte Musik von bisher ungeahntem Informationsreichtum werden entstehen, sondern die jetzt ins Spiel tretende Informationstheorie wird den Erzeugungsprozess aus der Kompetenz des einzelnen Schöpfers in die Kompetenz des überindividuellen Dialogs heben“.121 Indem Marie jedoch mit David darüber spricht, genau wie der ganze Roman über die ‚neuen Medien‘ schreibt, offenbart sich darin die Sprache als ein „Metacode der Bilder“, denn „[d]ie Absicht der Texte ist, Bilder zu erklären, die der Begriffe, Vorstellungen begreifbar zu machen“.122 So ließe sich das intermediale Projekt des Romans auch beschreiben. 112 Flusser 1989, 7 Honoré 2002, 136. Paratextuell wird dies auf dem Umschlagbild des Romans wieder aufgenommen; hier sind Verfassername und Titel mit pseudo-asiatischen Schriftzeichen gedoppelt, so dass sie zu gleichen Teilen eine graphische und eine Bedeutungsfunktion haben. 114 Ebd., 137 115 Ebd.,140 116 Mit Rajewskys Terminologie: als eine Medienkombination. 117 Honoré 2002, 126 118 Ebd. 119 Ebd., 11 120 „Sampling“ bezeichnet das Mixen zweier oder mehrerer Tonquellen bzw. Musikfragmente zu einem neuen Musikstück. DJs, wie auch Peach einer ist, bedienen sich dazu meist des Plattenspielers, der „erst nach seiner funktionalen Freisetzung vor der Folie digitaler Speichertechnologien und -manipulationen als Musikinstrument und in Bezug auf den DJ als human sampler, neu entdeckt und besetzt werden konnte“ (Harenberg 2003, 87f.). 121 Flusser 1999, 112 122 Flusser 1983, 11 113 3.2.1 Codes, Medienwechsel 25 Der digitale Code, die Pixel des technischen Bildes und die unorganischen 0/1-Ketten der Computeroperationen, laut Flusser ein letztes Abstraktionsstadium der Codes, haben Auswirkungen auf die Denkweise. „Peach påstår at det organiske uansett er en illusjon, fordi vår fortolkning av virkeligheten er et resultat av elektriske impulser; vi har mer til felles med maskinene enn våre romantiske oppfatninger om naturen tilsier“.123 Diese Wirklichkeitsauffassung führt, denkt man sie weiter, entweder zu utopischen oder dystopischen Visionen der Zukunft. Flussers Tendenz, „die emportauchende Gesellschaft eine utopische zu nennen“ deckt sich mit Peachs Projekt einer besseren Welt im Netz: „Sie wird sich an keinem Ort und in keiner Zeit mehr befinden, sondern in eingebildeten Flächen“.124 Dem gegenüber steht die pessimistische Sicht des Erzählers David, der von einer neuen Verletzlichkeit spricht und von den Verheißungen der Technologie als „forheksende sanger“ von Sirenen.125 Diesen Skeptizismus teilt er mit Baudrillard, wenn dieser davor warnt „maschineller [zu] werden als die Maschine“,126 da dies zu Inhumanität führe, zum fraktalen Subjekt, „das um den Preis der Abtötung des Blicks, des Körpers, der realen Welt nunmehr zur Zerstreuung in den Netzen verdammt ist“.127 Betrachtet man, wie Peach den Realitätsbezug verliert, am Scheitern seines Projektes zugrunde geht und zum Mörder wird, scheint im Roman zunächst die Baudrillardsche Sichtweise über die Flussers zu siegen. Da Peach am Ende jedoch Gnade walten lässt, kehrt sich die Bewertung nochmals um. Das letzte Trojaner-Programm mercy.exe ist als Musikdatei getarnt; nachdem die ersten beiden Programme (remington.exe als Text mit utopischer und trial.exe als Digitalbild mit zerstörerischer Absicht) Flussers medienevolutiver Richtung folgten, schließt sich mercy.exe an. Auch für Flusser sind die Schöpfungen seiner utopischen Gesellschaft musikalischer Natur: „Komponieren ist ein Synonym für Komputieren“,128 und „Kammermusik kann als ein Modell der telematischen Gesellschaftsstruktur dienen“,129 indem Bild und Musik zu einer gekoppelten freien Kunstform verschmelzen. Peach, so stellt David fest, entwickelt seine Tätigkeit ebenfalls von „manipulering, retusjering av noe som allerede eksisterte“ zu einer „distinkt dreining i prosjektet. Han har begynt å skape, fortelle, på fritt grunnlag.“130 Indem diese ‚Musik der Gnade‘ „fremkallingen av bildene“ wieder umkehrt,131 geht sie über das technische Bild hinaus, das, so Davids These, durch Daguerres Betrug an Niépces Erfindung „fra heliografi til pornografi“ wurde.132 123 Honoré 2002, 68 Flusser 1999, 8. Für Peachs Sichtweise s. Honoré 2002, 216 und seine Aussage „Snart er alt rent og nytt“ (Ebd., 187), entsprechend Flussers Forderung nach einer „ästhetischen Katharsis“ (Flusser 1989, 66) durch die Abschaffung des Alphabets. 125 Honoré 2002, 27f. 126 Baudrillard 2000, 158 127 Ebd., 73 128 Flusser 1989, 32 129 Flusser 1999, 177 130 Honoré 2002, 229 131 Ebd., 232 132 Ebd., 161 124 3.2.2 Technische Bilder als neue Sprache 26 3.2.2 Technische Bilder als neue Sprache Indem das Technobild in Flussers Vorstellung die Schrift ablöst, wird es zur ‚neuen Sprache‘ – falls es dialogisch zur zwischenmenschlichen Kommunikation (Komputation) genutzt würde und nicht, wie heute noch üblich, in diskursiven, von Sendern ausgestrahlten Bündeln.133 Im Roman sind Ansätze jenes neuen Bildgebrauchs manifest. Indem Marie Bilder von <webchild> komputiert, schafft sie erst die Grundlage für die online-Kommunikation mit <magician>. Nachdem Peach <webchild> übernommen hat, stattet er deren Homepage mit immer neuen, komputierten Bildern aus, die der kunstvollen Formulierung einer Botschaft an seine Schwester dienen: „Bli med meg, lille søster, jeg er så spent på hva du vil synes: Vi er på reise“.134 Auf diese Weise erschafft Peach eine ‚neue Welt‘, die jedoch den Prämissen des Codes folgt, der sie konstituiert – ebenso wie die Welt des alphanumerischen Codes dessen Prämissen von Kausalität, Historizität, Logik und Gesetzmäßigkeit folgte, wie Flusser immer wieder betont. Dass die technischen Bilder nicht mehr die Welt bedeuten, sondern nur noch Vorstellungen, dass sie also „nicht Spiegel, sondern Projektionen sind“,135 erklärt, warum sowohl Peach als auch Marie sich dieser neuen Sprache bedienen, um sich auszudrücken. Marie sagt: „Jeg elsker å leke med bilder, med skjønnhet, med det groteske, med kontraster, med erotikk, med alle slags illusjoner. Image er alt for meg“.136 Damit ist sie schon Teil der von Flusser vorhergesehenen Gesellschaft von „Homines ludentes“,137 allerdings mit Konsequenzen für das Verständnis der Welt: „Derfor kann Marie snakke om krigen som om den også bare er et Photoshop-produkt. [...] Hos oss føles alt fjernere jo mer vi ser. Som om alle bildene ... kansellerer hverandre“.138 Damit schneidet David, dem im Ensemble der Romanfiguren der technikkritische Blick zukommt, einen zentralen Gedanken Baudrillards zum technischen Bild als Simulation an: Es geht nicht mehr um die Imitation, um die Verdopplung oder um die Parodie. Es geht um die Substituierung des Realen durch Zeichen des Realen, d.h. um eine dissuative Operation, um die Dissuasion realer Prozesse durch ihre operative Verdopplung, eine programmatische, fehlerlose Signalmaschinerie, die sämtliche Zeichen des Realen und Peripetien (durch Kurzschließen) erzeugt.139 Es ist, als würden Peach und Marie zunächst Flussers utopischem Programm des spielerischen, poetischen und selbstgenügsamen Bilderkomputierens folgen, um sich dann unversehens einer baudrillardesken Welt gegenüber zu sehen, in der die von ihnen erzeugten Bilder die Realität überdecken und ausgelöschen, und in der sich alle Handlungen und Gefühle nur noch auf Bilder beziehen lassen: Peach verstrickt sich in sein illusorisches Projekt für das Mischkonstrukt aus der virtuellen <webchild> und seiner Schwester, ein Realitätsverlust, der ihn an den Rand des Selbstmords treibt; Marie verliert die Kontrolle über ihr Bildwesen, was ihr am Ende einen Krankenhausaufenthalt einbringt. Baudrillards Hyperrealität der technischen Bilder vermischt sich untrennbar mit der hinter ihr verblassenden Realität. 133 Vgl. Flusser 1999, 88 Honoré 2002, 224 135 Flusser 1999, 54 136 Honoré 2002, 122 137 Flusser 1999, 93 138 Honoré 2002, 122 139 Baudrillard 1978, 9 134 3.2.3 Computer und Netze 27 3.2.3 Computer und Netze Als Träger, Mittler, Codierer und Übersetzer der ‚neuen Sprache‘ dient das Universalwerkzeug des Computers, als Un-Ort von Austausch und Leben der Bilder das Internet. Dass dieser virtuelle ‚Raum‘ des Netzes als Parallelwelt kein ganz neues Konzept ist, zeigt die Informatikerin und Wissenschaftsjournalistin Margaret Wertheim in ihrer Kulturgeschichte des Raumes,140 in der sie den mittelalterlichen „Seelenraum“ von Paradies und Hölle mit dem Cyberspace141 vergleicht: „der Cyberspace wird uns, wie der Himmel, angekündigt als entkörperlichtes Paradies für unsere Seelen [...], die naturgegebene Domäne für die Verwirklichung eines neuen Jerusalem“.142 Auch wenn Wertheim der religiösen Bewertung des „Cyber-Seelen-Raums“ skeptisch gegenüber steht, ist ihre Parallelführung der beiden nichtphysikalischen, aber doch realen Parallelräume in Mittelalter und Jetztzeit überzeugend. Im Roman scheint Peachs Projekt, die Errichung einer Idealwelt „i et stort, mørkt rom, et Camera Obscura, der ordene gir oss form“,143 sehr wohl quasi-religiöse Formen anzunehmen – bzw. techno-religiöse, was sich auch in der Bezeichnung des Netzraums als „Camera Obscura“144 manifestiert. Ein zweites Indiz im Roman ist die Fabel über einen Anthropologen, der ein mikronesisches Volk erforscht, für welches auf dem Meer ein aus der Realität exkludierter Raum existiert, der die Seelen der Kinder aufnimmt. Diese Fabel lässt sich leicht parallel zum Internet und speziell Peachs Verständnis oder utopistische Interpretation dessen als „Seelenraum“ für sich und seine Schwester lesen: midt mellom det kjente og det ukjente lå et ingenmannsland, et slags transittområde. [...] Dette stedet, landet bak den usynlige grenselinjen i havet, var tabu. Det var et paradis, et avskjermet territorium hvor barna fikk leve det livet de var frarøvet, i en slags konstant, evigvarende harmoni.145 Auch als dem Weltraum bzw. Sternenraum analog wird der Zweitraum des Internets beschrieben, wenn Peach seinen Idealort „Andromedahøyden“ nennt.146 Die immaterielle, ex nihilo erschaffene Netzwelt ist für Baudrillard die der Simulation: Überall, wo diese Leere eliminiert wird, kommt es unmittelbar zu diesem antagonistischen Paralleluniversum, zu dieser radikalen, nicht auf die Gegebenheiten des Realen und des Rationalen rückführbaren Illusion, zur Katastrophe des Realen. [...] Das vom Anti-Realen gereinigte Reale wird hyperreal, realer als das Reale, und verflüchtigt sich in die Simulation.147 Dies beschreibt Peachs ideale Welt sehr gut; sie ist „radikal“ in dem Sinne, dass sie „fylt av betingelsesløs kjærlighet og like betingelsesløs hat“ ist;148 sie ist irrational und führt zur 140 Wertheim 2002 Das Wort geht zurück auf die Neuromancer-Trilogie (1984-1988) von William Gibson (Gibson 2004). 142 Wertheim 2002, 9 143 Honoré 2002, 184 144 Eine ‚Urform‘ der Kamera, bei der eine Linse ein spiegelverkehrtes, auf dem Kopf stehendes Bild auf eine transparente Rückwand wirft. Nièpce ersetzte diese Rückwand durch eine beschichtete Zinnplatte und konnte so das flüchtige Bild erstmals speichern. 145 Honoré 2002, 240f. 146 Ebd., 225 147 Baudrillard 2000, 21 148 Honoré 2002, 216 141 3.2.4 Komputation 28 Katastrophe des Realen, denn Peach „har [...] krysset grensen mellom drøm og virkelighet, og gjort seg til morder“;149 sie führt schließlich dazu, dass das Reale (selbst für den ‚Beobachter‘ David) hyperreal wird: „En ny virkelighet vokste frem og slo rot i meg [...]. Nettet lokket meg inn i en technicolordrøm der lyset var sterkere, klarere, virkeligere“.150 Das Nebeneinander der beiden „antagonistischen“ Räume stellt im Roman daher auch das zentrale Konfliktpotential bereit. 3.2.4 Komputation Flussers Begriff der Komputation und Virilios analoger Ausdruck „Kommutation“ beschreiben die Eigenschaft technischer Bilder, aus Punktelementen zusammengesetzt werden zu können, und so frei von ihrer Abbildfunktion zu werden. Der ‚Computer‘ als Apparat der Komputation „rafft“ die Punktelemente zu Flächen „scheinbarer“ Bilder.151 Diese Zerkörnung sieht Flusser als typisch nicht nur für technische Bilder an; Quantenphysik zerkörnt die Materie, Datenbits jede Art von Information, Aktome menschliche Handlung. In diesem weitgefassten Sinne sind Komputationen in zahlreichen Spielarten im Roman zu finden. Marie Kammer verdient ihr Geld mit Komputation: ihr ‚Produkt‘, der Popstar Christina Carrera, konstituiert sich aus Versatzstücken. Ihr Tanz ist „konstruert, selvølgelig er det robotaktig kaldt og maskinelt. Ikke en eneste av Carreras bevegelser er hennes.“152 Der Gesang lebt von „en plagiert lidenskap: små hikst og brekk i stemmen“, und auch ihren ersten Song komputiert der Techniker „i fire stive timer foran datamaskinen og klipper, kopierer og limer“.153 Für die Erschaffung der Pop-„Ikone“ wird auch das Leben und die Identität der Sängerin zu einem Mosaik aus erfundenen biographischen Daten und Brocken einer fremden Sprache, die das öffentliche Auftreten des Stars färben: „Charity, stylist, script, gig, royalties, recoupable, territories, website, MP3, storyline, break even, dance routine, compilation, UK, Billboard, MTV Europe, charity, career, I, me, Christina Carrera“.154 Hier wird die Zertrümmerung und Neukomputation der Identität auch auf sprachlicher Ebene gespiegelt. Die rein virtuelle <webchild>, ein Hobby und Übungsfeld Marie Kammers, radikalisiert die Technik noch. „Jeg skapte biografiene på samme måte“, berichtet Marie, „en bit av livshistorien til Siv fra Arendal, noen naive fremtidsdrømmer beskrevet av Monica fra Stockholm, en liten tenåringsdikt rappet fra den digitale skrivebordsskuffen til ei hestegal jente i Skottland. [...] Copy, copy, paste, og et barn er født“.155 Ganz nah an Flussers Definition von Komputation kommt Marie bei der Erstellung der <webchild>-Fotos: „Et ansikt fra svenske Maria Sundströms glorete hjemmeside, kombinert med ti andre ansikter fra ti andre hjemmesider. En bikinikledd kropp fra en dansk families feriebilder, et hagemøblement fra nettkatalogen til IKEA som bakgrunn – og så var det plutselig et nytt menneske der.“156 Diese Produktion statt Reproduktion von Realität ist laut Flusser typisch für das Zeitalter komputierter Bilder, und sie dient seiner Meinung nach dazu, „in das absurde Chaos“ der 149 Ebd. Ebd. 151 Flusser 1999, 14 152 Honoré 2002, 89 153 Ebd., 37 154 Ebd., 173 155 Ebd., 124 156 Ebd., 123 150 3.2.4 Komputation 29 zerkörnten Welt „eine Form“ hineinzudrücken – und zwar nicht mehr, um die Welt zu verändern. Sie ist „im Gegenteil, ein Symptom dafür, dass sich der Spielende dabei selbst verwirklicht“.157 Genau das scheint scheint auch Maries Intention mit <webchild> zu sein. Eine weitere Form der Komputation mit Hilfe des digitalen Mediums verfolgt Peach mit seinem ersten Trojaner-Programm remington.exe. Man könnte das Projekt als RealitätsKomputation bezeichnen; in den Strom der medialen Vermittlung der Welt schleust er gefälschte Brocken in Form von Internet-Artikeln ein. David vermutet: „Jeg tror det er noen som bygger en ny verden, punkt for punkt, tegn for tegn, tone for tone.“158 Die erfundenen Texte führen die Natur der ‚echten‘ Internet-Artikel konsequent zu Ende, findet David, denn „så mange av deres egne historier er gjøkunger: klippet og kopiert fra andre nettsteder“.159 Damit erscheint Peach als jemand, der die Natur des Internets, seine Autorlosigkeit und „Dialogizität“ im Sinne Flussers bewusst einsetzt.160 Daher liegt auch sein Scheitern darin begründet, dass er trotzdem nach ‚Autorität‘ strebt, nach „koden som skal tilsidesette alle koder“,161 nach Kontrolle also über ein Medium, dessen Wesen darin besteht, eben nicht „fascistisch“ (bestehend aus gebündelten Strahlen) strukturiert zu sein, sondern dialogisch.162 Dadurch offenbart Peach, dass seine Motivation im Grunde genommen eskapistisch und unkritisch ist: „Absoluter Trost des Netzes als Nische, in der man so leicht verschwinden kann. [...] Denn jenes Parallelunsiversum steht in keinerlei Beziehung mit diesem hier. Es ist seine künstliche Transkription, sein totaler Widerschein, reflektiert es aber nicht.“163 Andere komputatorische Prozesse sind bei den Nebenfiguren des Romans zu finden. Leif Rizzuti, der Vater von Davids Jugendliebe Emilia, definiert sich über eine simulierte Vergangenheit und über die italienische Sprache, „liflige koder fra Rizzutis drømte barndom ved Middelhavet“.164 Auch seine Tochter hat ein Spiel erfunden, dass auf Komputation beruht: aus den Schatten an einer Kirchenwand erzeugt sie mit Hilfe ihrer Polaroid-Kamera „informative Bilder“ (im Sinne Flussers) von Engeln. Ihr Interesse als Fotograf „ist auf den Apparat konzentriert, die Welt ist ihm nur Vorwand für die Verwirklichung von Apparatmöglichkeiten“,165 und zwar solcher, die das Apparat-Programm unterlaufen. Das Ziel ist es, Unwahrscheinlichkeiten, also Informationen zu produzieren – Engel statt Schatten. Dass auch Identitäten Komputationen aus Bruchstücken sein können, zeigt der Roman anhand von Peachs Freundeskreis; Musiker, Hacker und Computerkünstler, die er „Brigaden“ nennt.166 David beschreibt sie und ihre hybride,167 ironische Selbstinszenierung zunächst als „en gruppe ganske karikerte personligheter, at det er noe kunstig og tilgjort 157 Flusser 1989, 37f. Honoré 2002, 171 159 Ebd., 230 160 Flusser spricht von einer neuen Form der Kritik, mit der auf das Digitale reagiert werden müsse. Da die Bilder schon in Pixel „durchkalkuliert“ und „durchkritisiert“ seien, müsse die neue Kritik darin bestehen, sie zu „re-synthetisieren“ (vgl. Flusser 1989, 149). Nichts anderes tut Peach mit remington.exe auf der Ebene der digitalen Texte. 161 Honoré 2002, 188 162 vgl. Flusser 1999, 68 163 Baudrillard 2000, 25 164 Honoré 2002, 54 165 Flusser 1983, 25 166 Vgl. Honoré 2002, 91-94 167 Zur Hybridkultur, ihrer Manifestation in Lebensläufen, Mode, Religion, Architektur, Kunst, Medien und Medieninhalten (das, was Rajewsky als „Medienkombination“ bezeichnet) sowie zu Folgen für die „Pluralität von Wirklichkeitsvorstellungen und die Flexibilität von Mustern der Sinnstiftung“ s. Schneider 1994. 158 3.2.5 Auswirkungen des Medienwechsels 30 over de outrerte særegenhetene i klesvalg, sminke, og også oppførsel, språk“,168 „noe med sammenhengen, eller mangelen på sammenheng“.169 Dennoch, und damit entspricht Davids Reaktion der Rezeption des aus Pixeln bestehenden Bildes als einheitliche Fläche, findet er „noe ekte [...] over disse menneskene. De har skarpe konturer. De er tydelige. Det er folk man ville kjent igjen på lang avstand“.170 Das Komputierte ist zwar nur scheinbar, wie Flusser sagt, aber überzeugender und ‚beeindruckender‘ als die Realität, wie Baudrillard betont. Indem die Identität dem Bauprinzip des technischen Bildes folgt, zeigt sich, wie eine dominante mediale Struktur die Kultur, ihr Verständnis und ihren Ausdruck beeinflussen kann. 3.2.5 Auswirkungen des Medienwechsels Wie schon deutlich wurde, legen die Theoretiker, was die Auswirkungen des Medienwechsels zum Technobild (Flusser), zur Simulation (Baudrillard) bzw. zur Sehmaschine (Virilio) angeht, ihr Augenmerk vor allem auf den Wegfall der Grenzen zwischen Realität und Illusion. Im Roman wird dies auf mehreren Ebenen deutlich. Ein Indiz ist die Rolle von Davids Träumen, die so stark von medialen Erfahrungen beeinflusst scheinen und Traum- und Wachzustände verschwimmen lassen, dass sie im Rahmen der Untersuchung intermedialer Bezugnahmen genau untersucht werden sollen.171 Dort werden auch die zahlreichen Bezüge zu den Medientheorien deutlich werden, die hier nicht vorweggenommen werden sollen. Eine Nebenfigur, die das Illusionistische und, wieder mit Flusser gesprochen, NeoMagische an der Medienrealität symbolisiert, ist der Zauberkünstler hinter der online-Maske <magician>. Er selbst versteht sich, anders als seine kommerziell erfolgreichen Kollegen, als Künstler: „copperfield er bare en oppblåst drittunge, det er ikke noe magi i det han gjør, bare teknikk“.172 Neben seinem Beruf, der auf kunstvoller Unterwanderung der Realitätserfahrung beruht, ist er nach Davids Meinung „en samler, en sampler, et menneske som har redusert virkeligheten til katalogiserbare fragmenter [...]: forsøk på å skape sammenheng og symmetri“.173 Diese Reaktion auf fragmentierte Lebenserfahrung bei gleichzeitiger Vereinsamung, äußert sich bei dem Illusionisten in Bildbesessenheit: Peach findet in seinem Rechner „et par merkelige, amatørmessige Photoshop-collager, [...] de klønete mosaikkene besto av små utsnitt av andre bilder: en bit av en pikearm, litt hud fra en hals. Et kne, en hånd, en fot.“174 Auf primitive Weise macht der Illusionist sich die Technik der Komputation zu Nutze, wobei eine Eigenschaft des digitalen Bildes zum Tragen kommt, die Baudrillard beschreibt: Jedes Bild, jede Form, jedes Körperteil, das man aus der Nähe betrachtet, ist ein Geschlechtsteil. Der Promiskuität des Details und der Vergrößerung des Zooms haftet eine sexuelle Prägung an. [...] Die Pornographie [...] zerlegt den Körper in seine kleinsten Teile [...]. Und unser Verlangen gilt gerade diesen neuen kinetischen, numerischen, fraktalen, künstlichen, synthetischen Bildern. [...] Jeden- 168 Honoré 2002, 93 Ebd., 94 170 Ebd. 171 S.u., z.B. S. 52 f. 172 Honoré 2002, 72 173 Ebd., 165 174 Ebd., 42 169 3.2.5 Auswirkungen des Medienwechsels 31 falls suchen wir in diesen Bildern nicht mehr den imaginären Reichtum, sondern den Taumel ihrer Oberflächlichkeit, das Künstliche ihres Details, die Intimität ihrer Technik.175 Peach erkennt ebenfalls, dass die Fotomontagen des Pädophilie-Verdächtigen „underlig uerotiske“ sind,176 dass das Verlangen des Illusionisten sich eher auf die „renhet“ des aus Fragmenten komputierten Bildes als auf die Person dahinter bezieht. Er wird dadurch aber auch zu einer Figur, die Flussers Behauptung der heutzutage noch ‚falschen‘ Rezeption der technischen Bilder illustriert, indem er eine (erotische) Beziehung zu Bildern aufbaut, und nicht zu anderen Menschen durch Bilder.177 Andere Auswirkungen des Medienwechsels, die mit Beobachtungen der Theoretiker übereinstimmen, sind zu zahlreich, um erschöpfend genannt zu werden – im Folgenden können nur einige kurze Schlaglichter geworfen werden. Wenn David seine Situation wie ein „marionettespill“ vorkommt,178 so kann das im Bezug zu Flussers Aussage „alle apparatischen Universen robotisieren den Menschen und die Gesellschaft“179 gelesen werden. Die Verschleifung von Mensch und Technik zu einem „Möbiusschen Kreisring“, in dem der „Bildschirm des Computers und der mentale Bildschirm meines eigenen Gehirns“ miteinander verflochten sind,180 äußert sich im Text in vielen Äußerungen Davids: „verden har hengt seg opp“, „logaritmiske forskyvninger.“181 „Og latteren var [...] et destruktivt virus, en utilgivelig kommafeil i kildekoden“.182 Sehr häufig dient diese technologische Färbung der Metaphern als Marker für einen intermedialen Bezug; in Kapitel 4 werden daher noch andere Beispiele dafür zur Sprache kommen, wie die Äußerungen der Theoretiker und der Romantext motivisch miteinander verflochten sind. Als ein letztes gemeinsames Motiv sei schließlich der Kokon als neuer, den technischen Bildmedien angemessener ‚Wohnort‘ genannt, den der Architekturtheoretiker Virilio prognostiziert. Das „Cocooning“ als eine Rückzugshandlung von der Welt geht für ihn einher mit der „Wirkung eines Auf-der-Stelle einer Kontrolle der Umwelt von zu Hause aus“.183 Die Behausung wird damit zum „Gehäuse“ einer Regiekammer, in der der Bewohner über das Vehikel des technischen Bildes virtuell auf Reisen geht.184 Das Symbol des Kokons taucht im Roman in dieser Bedeutung mehrfach auf. David etwa ordnet und formuliert die zurückliegenden Ereignisse im Warteraum des Krankenhauses: „I dennen kokongen har jeg redigert mine egne logger og notater“,185 Davids Reisevehikel ist der Text. Der Krankenhaus-Kokon als Endpunkt einer ‚Reise‘ wird mit einem anderen Raum parallelisiert, den man als Ausgangspunkt bezeichnen könnte: dem Haus in Bhaktapur, wo David selbst pädophile Neigungen offenbart: „og du tenker at dette rommet er innsiden av en kokong eller en puppe, et åsted 175 Baudrillard 1989, 116 Honoré 2002, 42 177 S. Flusser 1999, 57f. 178 Honoré 2002, 196 179 Flusser 1983, 64 180 Baudrillard 1989, 122 181 Honoré 2002, 185 182 Ebd., 57 183 Virilio 1993, 83 184 Vgl. Virilio 1997, 68 und 110 185 Honoré 2002, 208 176 3.2.6 Krieg und Medien 32 for død eller fødsel, eller begge deler samtidig”.186 Die Erinnerung an jene Reise führt also bloß von einem Kokon in den nächsten. Auch in anderen Passagen des Romans wird Virilios These deutlich, dass mit dem virtuellen Reisen eine körperliche Unbeweglichkeit einhergehe. Peach benötigt im Krankenbett nur einen Laptop, um die beiden letzten Trojaner-Programme in Gang zu setzen und wird so zu einem Beispiel für den „wohlausgerüstete[n] Invalide[n]“.187 Peachs Verstrickung in die virtuelle Welt zeigt jedoch auch, dass es sich bei dem Kontroll-Kokon um eine Falle für jemanden handeln kann, „dessen Wahrnehmung im voraus durch die Rechenleistung des Computers programmiert wird“.188 Diesen Verlust des Außen- oder Realitätsbezugs bezeichnet Virilio auch, in der Krankheitsmetaphorik bleibend, als „technisches Koma“.189 Das Wartezimmer, das Krankenbett und das Kokon-Haus folgen dem selben Muster des involutiven Einschlusses des Menschen (mit allen rauschhaften Folgen und „Halluzinationsphänomenen“190) wie „diskjockeyboksen, der Peach står og vugger som en mediterende sjaman“, und wie „teknikerboksen“ im Theater, „Amfiscenens kontrollrom“, „kommandodekket“ von dem David meint: „Peach ville elsket dette rommet“.191 3.2.6 Krieg und Medien In diesem letzten Kapitel, das die Kriegsmotive in Orakelveggen auf medientheoretischer Folie deuten will, wird vor allem der Textcorpus von Virilio zum Tragen kommen, der sich ausführlich mit dem Zusammenhang zwischen Krieg und Medien beschäftigt hat. Ein erstes Motiv ist Maries Werbekampagne für Ärzte ohne Grenzen, in der sie den Balkankrieg über Bildmanipulation in die „sørlandsidylle“ Norwegens verpflanzt: „Alt er bygd på redsler klippet ut av Monterbias krigshelvete og limt inn i norsk virkelighet. Det er rått, brutalt og urovekkende estetisk“.192 Virilio sagt zur medialen Kriegsvermittlung: es „verdoppelt sich die Front“ hinein in den zivilen Raum;193 ein Prinzip, mit dessen verunsichernder Wirkung Maries Kampagne bewusst arbeitet: Kriege werden zu Ereignissen, die, so Baudrillard, „zwar eine unmittelbare (über die Medien vermittelte) Glaubwürdigkeit haben, die man aber nicht überprüfen kann. [...] Diese Unsicherheit ist so etwas wie ein Virus, der [...] jedes Bild betrifft oder befällt“.194 Marie verschmilzt also die typisch zivile mediale Kriegserfahrung mit der hyperrealen Natur des Technobildes. Der Krieg, der den Anlass zur Werbekampagne gibt, findet im fiktiven Balkan-Land Monterbia statt. Dort baut der Diktator und Schriftsteller Milo Marovic seinen Krieg auf Fabeln aus Folkore und rassischen Visionen. „Og disse livsfarlige fabler blir distribuert via alle tilgjengelige kanaler: skoler, kirker, aviser, TV, profesjonelt utformede hjemmesider på nettet“.195 Der internen Propaganda, als deren begabten Regisseur David den Diktator be186 Ebd., 154 Virilio 1997, 51 188 Ebd., 48 189 Ebd., 123 190 Ebd., 48 191 Honoré 2002, 138f. 192 Ebd., 121 193 Virilio 1993, 47 194 Baudrillard 1994, 89 195 Honoré 2002, 34 187 3.2.6 Krieg und Medien 33 schreibt,196 steht die seltsam ‚unterbelichtete‘ Resonanz in den westlichen Medien gegenüber: die Fußball-WM-Spiele „stjeler avisforsidene fra Barna på Balkan“;197 getreu Virilios These, dass das Fernsehen die Echtzeit-Übermittlung zur beherrschenden Zeitkategorie erhebt, die die „extensive Zeit“ ablöst.198 Der Monterbia-Krieg erhält bald, wie viele andere Medienkriege auch, seine Ikone: die Fotografie eines Jungen, der einen Molotow-Cocktail auf einen Kampfhubschrauber wirft.199 Dieses Bild, das David auf seinem Computerbildschirm betrachtet, bündelt einen Komplex an Bedeutungen: erstens „kunne [det] vært hentet fra en hvilken som helst krig“, was die Austauschbarkeit der Kriegsberichterstattung ebenso verdeutlicht wie die generelle Referenzlosigkeit des technischen Bildes; es symbolisiert zudem die groteske Überlegenheit einer Kriegsmaschinerie, die das horizontale, erdgebundene Schlachtfeld in den Himmel verlagert.200 Außerdem scheint mit dem online-Bild etwas nicht zu stimmen; David kann es nicht schließen, und bei jedem Erscheinen hat sich der Helikopter dem Jungen scheinbar ein Stück genähert. Diese Wiederholung und Manipulation (denn als solche stellt sich das Bild letztlich heraus) der Kriegsbilder „erklärt auch das Gefühl der ‚Entwirklichung‘, das die Menschen befällt, und sie daran hindert, vorbehaltlos den surrealistischen Krieg der NATO gegen Serbien gutzuheißen“.201 Das Gefühl beschleicht auch David nach Ende der Kampfhandlungen: Og når jeg søker etter mer detaljerte opplysninger om hva som har hendt i Monterbia, finner jeg bare brokker og biter. [...] Hele sommer har det forekommet meg at det var alvorlige logiske brister i beretningene fra Monterbia; noe med motivene, noe som gjorde at plottet virket litt ... søkt. En begivenhet til terningkast 3. Og nå virker det som om historien er i ferd med å bli borte.202 Davids Suche im Netz kann laut Virilio gar keine anderen Ergebnisse bringen, denn „woran es dem WEB nach der ‚Befreiung der Information‘ am meisten mangelt, ist der Sinn, mit anderen Worten, ein Kontext, in dem die Internauten die Fakten einordnen und so das WAHRE vom FALSCHEN unterscheiden können“.203 Der Krieg als „Fernsehduell“ und seine Diplomatie sind „die Kunst geworden, Bilder zu finden, mit denen nichts, oder beinahe nichts gezeigt wird“.204 Dieses „Fehlen der Bilder“,205 das aus einem bewussten Vorenthalten ebenso entsteht wie daraus, dass das Ereignis selbst hinter seiner medialen EchtzeitAufbereitung verschwindet, bewirkt für den Monterbia-Krieg das, was Virilio als Komprimierung und anschließende Fiktionalisierung im ‚Wargame‘ beschreibt.206 Als dieser Krieg nämlich endet, tut er das undramatisch und in Form einer Implosion, die mediale Realität und Kriegsgeschehen kurzschließt: CIA-Hacker frieren Marovics Bankkonten ein, und im Nach196 Ebd., 33. Nach Virilio ist Marovic eine der „Führungsgestalten, die die Massen demselben charismatischen Einfluss unterwarfen wie die Generation der Magier-Regisseure und -Schauspieler.“ Seine Macht basiert zu gleichen Teilen auf Kriegs- und Propagandatechnik (Virilio 1986, 104). 197 Ebd., 39 198 Vgl. Virilio 1993, 133 199 S. Honoré 2002, 80f. 200 Vgl. z.B. Virilio 1986, 155ff. 201 Virilio 2000, 171. Viele Beobachtungen, die Virilio in „Strategie der Täuschung“ über den Balkankrieg 1999 trifft, lassen sich so mit dem Monterbia-Krieg in Orakelveggen parallelisieren. 202 Honoré 2002, 234 203 Virilio 2000, 193 204 Virilio 1993, 14 205 Ebd., 100 206 Ebd., 147 3.2.6 Krieg und Medien 34 hinein stellen sich zahlreiche der grausamen Internet-Fotos, die das harte Vorgehen gegen den Diktator begründet hatten, als Fälschungen heraus.207 Dieser Kurzschluss zwischen Realität und Fiktion schließlich ist eines der Merkmale, die alle drei Theoretiker als zentrale Wirkung des technischen Bildes auf Handlung und Welterfahrung beschreiben. Eine zentrale Denkfigur bei Virilio besteht darin, die Kamera und die moderne Waffe zu parallelisieren und ineinander verschränkt zu denken; ein Umstand, der in Orakelveggen nicht nur in Maries Foto-Kampagne anklingt. Auch verdeckter findet sich dieses Motiv wieder. Beim Videoclip-Dreh mit Christina Carrera „sirkler [kamerakranen] som et kamphelikopter over stranden“.208 In diesem Bild klingt Virilios These an, dass eine „aufschlussreiche Koinzidenz existiert zwischen der Erfindung des kinematographischen Abdrehens der Sequenzen, der filmischen Schwerelosigkeit der Bilder des Photogramms und der Erfindung eines kinematischen Abdrehens aus der Luft“, das zur Luftaufklärung und letzten Endes zur oribtalen Satellitenüberwachung führt.209 Diese ‚abgehobene‘ Optik geht zudem mit einer „Begehrlichkeit des Sehens, Schamlosigkeit und Entregelung der Blicke“ einher,210 so als habe der kriegerische Ursprung der Sehmaschinen den durch sie vermittelten Blick aggressiver und obszöner gemacht. Damit spielt der beschriebene Videodreh ebenso wie der militärisch gefärbte Text des dazugehörigen Liedes: „Linsene [...] glir tilsynelatende tilfeldig over den nakne maven hennes, hotpantsene, lårene. Hun minner teksten, ‚shields down/I’m letting you in/[...]keep coming closer‘“.211 Hier wird der Starkörper „wie eine Landschaft“ abgefilmt, wie die Topographie eines Schlachtfeldes. Diese technisch vermittelte Nähe des Starkörpers sieht Virilio historisch an die Bild-Logistik des 1. Weltkriegs gekoppelt.212 Der Zusammenhang zwischen Krieg und Sexualität färbt die Sprache vieler Schilderungen von Christina Carrera und <webchild>.213 In der Disko HeadCase etwa erlebt David die Annäherungsversuche der Jugendlichen „Krieger“ wie einen Kampf: „man enten lykkes og forlater stedet i triumf eller blir avvist og forlater slagmarken blodig ydmyket“.214 Die „Brigade“, mit der er und Peach nachher gehen, wohnt in „Lille Sarajevo“, einem Hinterhof, der aussieht „som om det har slått ned en bombe“.215 Durch das mediale Eindringen in die Erfahrungswelt beginnen auch bestimmte Stadtviertel Kriegszonen zu ähneln:216 sie „sind unterm Blick der [...] großen Reporter-Touristen des Weltbürgerkriegs zu Drehfeldern eines permanenten Kinos geworden. [...] Hier handelt es sicht nicht mehr um ein Nachrichtenbild, sondern um Sehrohstoff.“217 Als davon kontaminiert erweist sich auch Davids Wahrnehmung, etwa wenn er die Bandruine der Wohnung besucht, wo der Illusionist zu Tode kam: „Soverommet ligner en ruin fra krigen i Monterbia.“218, der Krieg dringt über die Wahrnehmung ins Private ein. 207 Vgl. Honoré 2002, 234 Ebd., 80 209 Virilio 1997, 54 210 Virilio 2000, 31. Vgl. zur Verschmelzung von Blick und Waffe, von Bild und Projektil auch Virilio 1986, 168 u. 180 211 Honoré 2002, 80 212 S. Virilio 1986, 39f. 213 Dies zieht sich bis in Davids Träume: <webchild>s Augen „er fiksert på et punkt langt bak meg. Tusenmetersblikket. Øynene til soldater som har vært for lenge i kamp“ (Ebd., 96). 214 Ebd., 91 215 Ebd., 92 216 Virilio 1993, 24ff. 217 Virilio 1986, 146 218 Honoré 2002, 190 208 3.3 Intramediale Systemreferenzen 35 3.3 Intramediale Systemreferenzen Neben der oben behandelten Möglichkeit eines Textes, sich (explizit oder implizit) auf konkrete (literarische oder theoretische) Einzeltexte zu beziehen, spricht Rajewsky auch von Bezugnahmen auf das sprachliche oder literarische System als Ganzes bzw. auf Subsysteme derselben wie etwa Genres, Texttypen usw.: also von Systemreferenzen. Im Fall der intramedialen Bezüge unterscheidet sie zwei Typen: Systemerwähnung und Systemaktualisierung. Für beide sollen in Orakelveggen Beispiele gefunden und ihre Funktion gedeutet werden. 3.3.1 Digitale Texte: Chats, Logfiles und Online-Artikel Die intramediale Systemerwähnung definiert Rajewsky219 als das punktuelle Reden bzw. Reflektieren über sprachliche (Sub-)Systeme, als auch als die reine Reproduktion bestimmter Regeln des aufgerufenen Systems, die allerdings im Text auf den Raum der Bezugnahme beschränkt bleiben müssen. Solche Fälle gibt es in Orakelveggen in verschiedenen Komplexitätsgraden. Der einfachste Fall ist dabei wohl der der Chat-Gespräche zwischen <webchild> und <magician>, die regelmäßig in die Erzählung eingebunden werden.220 Sie sind vom Kontext abgesetzt und befolgen die ‚Regeln‘ jener Form von online-Kommunikation: konsequente Kleinschreibung aller Worte, reduzierte bis fehlende Interpunktion, ein ‚mündlicher‘ Schreibstil, die typische Markierung von nicht-‚gesprochenen‘ Passagen durch Sternchen (z.B. *ler*) und Stimmungsäußerungen mit Hilfe gekippter Smilies (z.B. :-) ). Die Form des Chats als ein Hybrid aus geschriebener und gesprochener Sprache221 hat sich erst im Medium Internet entwickelt und ist auf dieses beschränkt.222 Auch wenn die Erwähnung dieser Textform hier als intramedialer Bezug aufgeführt wird, ist diese Einordnung eigentlich nicht ganz korrekt; man könnte auch von einem intermedialen Bezug zu einem verbalsprachlich codierten Teil des ‚neuen Mediums‘ Internet sprechen. Schon an diesem einfachen Beispiel wird also deutlich, dass das mit recht klaren Abgrenzungen arbeitende Schema Rajewskys im Fall eines multimedialen (oder multi-codialen) Bezugsmediums nicht mehr ohne weiteres trägt. Indem Honoré punktuell die Textform des Chats in seinen Text einbindet, untergräbt er mit dem ‚mündlichen‘, an Tippgeschwindigkeit und Flüchtigkeit orientierten GebrauchsStil den schriftsprachlich-artifiziellen Erzählstil eines Romans. Die Systemerwähnung zielt daher nicht auf ein dezidiert literarisches, sondern ein gesamtsprachliches Subsystem, und funktioniert autoreflexiv, indem Unterschiede zwischen den Konventionen der interaktiven Chatsprache und der eher „fascistischen“ Struktur223 des Romans bewusst werden.224 219 Rajewsky 2002, 66ff. Erstmals auf S. 28 in Honoré 2002 221 „Es sieht wie Schreiben aus, aber das ist es nicht. Es gibt einem das Gefühl von Sprechen, aber das ist es auch nicht. Es ist – geschriebene Sprache.“ (Mandel / van der Leun 1997, 109) 222 Auch bei der Kommunikation via SMS über Mobiltelefon kommt es zu ähnlichen sprachlichen Modifikationen, die dort jedoch wegen der begrenzten Zeichenzahl noch radikaler ausfallen. 223 Flusser verwendet den Ausdruck, um Kommunikationssituationen zu beschreiben, in denen Informationen in Strahlenform von Sendern (Fernsehanstalten, Verlagen, ...) an Empfänger (Zuschauer, Leser, ...) ausgehen. Diese Strahlen-Kanäle strukturieren eine Gesellschaft „fascistisch“, und eben nicht dialogisch (zu interaktiven Kommunikationsnetzen). Vgl. Flusser 1999, 68 220 3.3.1 Digitale Texte: Chats, Logfiles und Online-Artikel 36 Ganz ähnlich funktionieren die in den Text eingebauten Logfiles von Peach, eine Art digitaler Tagebucheinträge, die explizit an David gerichtet sind.225 In diesen Passagen wechselt nicht nur die Erzählerinstanz, auch der Stil wird fabulöser, bildreicher, ja sogar schwülstig und deutlich ‚gekünstelter‘ als der der sie umgebenden Romanerzählung. Obwohl also sprachlich konträr zu den Chat-Passagen, ist die Wirkung dieselbe: der Romantext reflektiert hier seine eigene Künstlichkeit. Das dritte Beispiel, das genannt werden soll, ist weitaus komplexer und weist zudem über den Romantext als Ganzes hinaus, mit Implikationen auch für die Funktionalisierung dieser Passage. Bei seinen Recherchen über Marie Kammer stößt David zufällig auf einen Zeitungsartikel auf der Homepage der norwegischen Tageszeitung Dagbladet, ein Interview mit der Künstlerin und Musikerin Yoko Ono.226 Anlässlich einer Ausstellung im HenieOnstad-Senter in Oslo spricht Ono über ihre Installation mit leuchtenden Seesternen aus Mikronesien, wie auch über bisher geheim gebliebene Geschehnisse bei John Lennons Produktion des Wedding Album. Lennon löschte damals angeblich die perfekten, aber seiner Meinung nach nicht authentischen Einspielungen, und die übrig gebliebenen Sinustöne landeten zufällig auf einem Rezensionsexemplar der Platte – ein Unfall, der vom Kritiker Richard Williams damals als musikalisches Meisterstück gelobt wurde. Dieser online-Zeitungsartikel stellt sich im Laufe des Romans jedoch als Fälschung heraus, die Peach auf die Internetseite der Zeitung geschleust hatte. Ebenso wie einige andere gefälschte Texte, die in die Erzählung eingebunden werden, ist die Passage durch ein typographisches Detail markiert: der Buchstabe ‚t‘ ist leicht höhergestellt. David assoziiert dies wieder mit dem Krimi-Genre: Det føles som om jeg studerer et utpresningsbrev i en klassisk detektivfilm og finner en ledetråd, et typografisk fingeravtrykk: en justeringsfeil på en gammel Remington-skrivemaskin. Bokstaven som er hevet ørlitt over linjen.227 remington.exe ist gleichzeitig auch der Name des Trojaner-Programms, mit dem Peach seine gefälschten Texte im Netz platziert, wie auch die Überschrift des ersten Romanteils, der von Elementen eines typischen Krimi-Plots geprägt ist. Der typographische Kniff hat zwei Funktionen, die man mit Hockenjos und Schröder als „autoreflexiven Bruch der literarischen Diegese“ beschreiben kann:228 erstens macht der Text seine mediale Gebundenheit deutlich, die Notwendigkeit, in alphabetischen Zeichen codiert zu sein, die wiederum auf einem Träger fixiert sind, und die in ihrer Form Einfluss auf den Inhalt haben können. Zweitens überführt der Text das von David erwähnte Krimi-Klischee der Suche nach Anomalien im Schriftbild auf die Ebene des Lesers: dessen eigenes ‚detektivisches Gespür‘ wird angespornt, rückwärts und vorwärts im Romantext auf der Suche nach den ‚t‘s zu gehen und so die von Peach gefälschten von den ‚echten‘ Texten zu unterscheiden. 224 Umso mehr als dass die Chat-Auszüge natürlich ebenfalls nur ein artifizielles ‚Als-ob‘ sind. Sie imitieren nur die Pseudo-Mündlichkeit des Chats und verweisen damit in einem weiteren Reflexionsschritt auch auf die artifizielle Natur des ganzen Romans. 225 erstmals s. Honoré 2002, 20 226 Honoré 2002, 110ff. 227 Ebd., 118 228 Hockenjos / Schröder 2005, 33 3.3.1 Digitale Texte: Chats, Logfiles und Online-Artikel 37 Was an diesem Beispiel auffällt, ist die vielschichtige Vermengung von Realität und Fiktion, laut Virilio eines der Hauptmerkmale des Internets.229 Die historischen Personen Yoko Ono und John Lennon kommen in einem Text zur Sprache, der auf der Ebene der Erzählung zunächst real erscheint, sich später aber als fiktiv herausstellt. Je nach Vorkenntnis wird auch der Leser den Text zunächst vielleicht als tatsächliches Dagbladet-Zitat lesen, das Honoré in seinen Roman eingefügt hat. Denn auch die angebliche Ausstellung im HenieOnstad-Senter ist nicht völlig fiktiv: 1990/91 hatte Ono tatsächlich eine Ausstellung in diesem Museum, wenn auch nicht mit einer Seestern-Installation. Ähnlich verhält es sich mit der in den Artikel eingebetteten Systemerwähnung, die das ‚Zitat‘ eines Telegramms von Lennon an den Musikkritiker Williams aufruft. Die doppelte Fiktionalität des Artikels (auf Ebene der Erzählung wie auf der des Lesers) wird durch ein Genre-Zitat aus dem Detektivfilm (remington) markiert und in der Typographie des Romantextes tatsächlich wiedergegeben, motivisch gekoppelt an den Programmier-Text des Trojaners remington.exe. Allein diese Verfahren wirken schon autoreflexiv und metafiktional, weil sie über die verschachtelten Realität-/Fiktions-Spiele den Roman selbst als artifizielles Produkt herausstellen.230 Verdoppelt wird dies noch durch einen amüsanten Zug, der jedoch außerhalb des Romans und des Gestaltungsspielraums des Autors liegt: in einem nachgelagerten kulturellen Paratext: am 20. August 2002 veröffentlichte die Tageszeitung Dagbladet auf ihrer Website eben jene Passage mit dem gefälschten Yoko-Ono-Interview als Leseprobe für den Roman Orakelveggen.231 Dieser Fall der Systemerwähnung, der Bezugnahme des Romantextes auf das Genre der Netzausgabe einer Tageszeitung, ist nur noch mit Hilfe medientheoretischen Werkzeugs zu greifen. Der Text thematisiert durch die Verschachtelung realer und fiktiver Inhalte, Textformen, Sprachgebrauch und Medien sowie die Überführung auf die typographische Ebene und die Rückkopplung an das Rezeptionsverhalten des Lesers das Verschwinden einer verlässlichen Autor-Instanz, die „Infragestellung des Urhebers“,232 wie sie für InternetInhalte signifikant ist. Diese Eigenschaft des digitalen Mediums, die Flusser in seinem Begriff der Komputation, Virilio und Baudrillard in der „Auflösung“ der Realität durch die Simulation fassen,233 wird schließlich zu einer den Romantext konstituierenden Größe. Hier gibt es von Anfang an mehrere (teils unsichere, teils maskierte) Erzähler-Instanzen, die unklaren Identitäten der sprechenden und handelnden online-Charaktere <webchild> und <magician>, sowie einen daraus resultierenden, zunehmenden Verlust der Erzählerautorität Davids, der im ‚erzählerlosen‘ Epilog schließlich vollkommen ist. Die hier behandelte intramediale Systemerwähnung wird damit zu einer Markierung des intermedialen Bezugs zwischen dem Romantext und dem Medium Internet, das, wie unter 4.2.3 zu zeigen sein wird, das sprachliche System des ganzen Romans mit seinen Regeln und Strukturen kontaminiert. 229 vgl. z.B. Virilio 2000, 107 Außerdem legen sie nahe, das Gleiche für reale, scheinbar objektive Texte wie online-Artikel anzunehmen. Dies liegt auf der Argumentationslinie Jean Baudrillards, der die Bezugsrealität hinter ihrer medialen Verdopplung verschwinden sieht. 231 www.dagbladet.no/kultur/2002/08/20/346559.html (Stand vom 12.11.2005) 232 Virilio 2000, 118 233 Ebd. 230 3.3.2 Der Kriminalroman als literarisches Bezugssystem 38 3.3.2 Der Kriminalroman als literarisches Bezugssystem Der Fall der intramedialen Systemaktualisierung ist, wie Rajewsky bemerkt, eher selten. Denn hier wird ein Bezugs(sub-)system durchgängig zur Konstitution des gesamten Textes verwendet, seine Regeln formen nachweisbar die sprachliche Gestaltung des kontaktnehmenden Textes. Da ein solcher Bezug die Textkonstitution permanent beeinflussen würde, kommen solche Bezugnahmen selten oder nur in abgeschwächter Form vor. Im Fall von Orakelveggen könnte man das Genre des Detektiv- oder Kriminalromans als ein solches Bezugssystem ansehen, das der Roman zwar ständig im Hintergrund mitführt, durch zahlreiche andere Bezüge (intra- wie vor allem auch intermediale) jedoch ständig dekonstruiert. Darin läge dann auch die Funktion einer solchen Bezugnahme: ein bekanntes Genre samt seiner Konventionen im Leser aufzurufen, um die dadurch entstehende Erwartungshaltung dann zu unterminieren und die Illusionsbildung des Textes zu brechen. Typische Muster des Detektivromans sind in der Figurenkonstellation angelegt: ein Ermittler (David) umgibt sich mit einem jüngeren, unerfahrenen Assistenten (Peach). Undurchsichtige Verdächtige mit vielfältigen Motiven treten auf, die sie alle zu potentiellen Tätern machen, um Spannung aufrecht zu erhalten: der Illusionist, Marie Kammer und auch <webchild> folgen zunächst diesem Muster. Auch der Spannungsbogen des Krimis, eine Verdichtung und Verkettung der Ereignisse bis hin zum gewalttätigen, dramatischen Finale, bei dem sich der Täter offenbart, bildet ein Gerüst in der Erzählung von Orakelveggen. Doch von Anfang an gibt es Elemente, die dem Genre zuwider laufen. Die Ermittlungen gehen nicht von einem Mord aus, sondern von einem ‚abgehörten‘ Chat-Gespräch. ‚Täter‘- und ‚Assistent‘-Rolle fallen am Ende in Peachs Person zusammen und kippen die typische Rollenwertung des ‚guten‘ Ermittlers, der den ‚Bösen‘ überführt, genauso wie die Tatsache, dass eigentlich Peach David eines (fiktiven) Verbrechens überführt und schließlich vor genau dieser Überführung bewahrt; dem Ermittler entgleiten die Zügel, ebenso wie seine Erzählerstimme der Autorität verlustig geht. Markiert wird der Bezug auf das Kriminal-Genre durch die oben genannten AgathaChristie-Verweise, die Ansiedlung der Geschichte im Osloer Polizeimilieu, das Thema Internetkriminalität und typographische Markierung durch die hohen ‚t‘. Unterminiert hingegen wird die Systemaktualisierung dadurch, dass die Ermittlungen ins Leere laufen, dem Ermittler wie dem Leser unwichtig werden und von zahlreichen in die Handlung einbrechenden Nebensträngen ‚gestört‘ werden. Auslöser dafür sind, wie in den folgenden Kapiteln gezeigt werden soll, die intermedialen Bezüge zu technischen Medien, deren Struktur die Sprachstruktur des Romans beeinflusst und die nicht mehr mit dem streng linearen, auf kausalen Schlüssen basierenden Genre des Kriminalromans kompatibel sind. Genauso, wie David sich in seine online-‚Beziehung‘ zu <webchild> verstrickt, darüber seine Ermittlungen vergisst und seinen Beruf riskiert, so wird das Krimi-Genre im Roman durch intermediale Bezüge zu den ‚neuen Medien‘ demontiert. 4 Intermediale Bezüge 39 4 Intermediale Bezüge Wenn ein Textes seine medialen Grenzen überschreitet und fremdmediale Systeme aufruft, simuliert oder deren Struktur die eigene Konstitution beeinflussen lässt, hat man es mit intermedialen Bezugnahmen zu tun. Wie unterschiedlich diese in Technik und Auswirkung auf Textstruktur und Lesehaltung ausfallen können, soll in diesem Kapitel anhand zahlreicher Beispiele gezeigt werden. Rajewskys Typologie der intermedialen Bezüge steht dabei im Hintergrund und strukturiert in der Abfolge von einzelnen, klar begrenzten hin zu komplexen, den ganzen Text durchsetzenden Bezügen auch den Aufbau des Kapitels. Dennoch wird sich zeigen, dass die Unterscheidungen, die Rajewsky zwischen den Kategorien trifft, in der Anwendung oft nicht in derselben Klarheit zu halten sind. Dies ist jedoch nicht als ein Fehler in ihrer Konzeption der intermedialen Bezugnahmen zu verstehen; vielmehr resultieren die Überschneidungen und Verwischungen einerseits aus der Tatsache, dass ein allgemeines Schema in der Anwendung meist durch Ausnahmen und ambivalente Fälle relativiert (aber eben auch konkretisiert) wird. Und andererseits sind die Objekte der Bezugnahmen von Orakelveggen nicht ein einzelnes, sondern eine Vielzahl von fremdmedialen Systemen, unter ihnen das in sich polymediale Konglomerat namens ‚neue Medien‘. Diese Vielfalt der Bezugssysteme wird am deutlichsten, wenn man zunächst intermediale Einzelreferenzen betrachtet, den strukturell unkompliziertesten Fall der intermedialen Bezugnahme. 4.1 Einzelbezüge zu Musik, Kunst, Foto, Film, Fernsehen, Computer Als intermediale Einzelreferenzen sind Bezüge des Textes auf bestimmte fremdmediale Produkte zu verstehen, die wiederum meist als Markierungen für intermediale Systembezüge zu deuten sind. Die strikte Trennung, die Rajewsky zwischen Einzel- und Systemreferenz vornimmt, kann daher bei dieser Analyse nur schwer eingehalten werden – immer wieder wird im Zusammenhang mit Einzel- auch auf Systemreferenzen zu verweisen sein.234 Hier zur Sprache kommen sollen Bezüge zu a) Musikstücken, b) Bildkunstwerken und Fotografien, c) Film-, Kino- und Fernseh- sowie d) Internet- und Computerprodukten. Laut Rajewsky kann die intermediale Einzelreferenz drei Strategien benutzen:235 erstens die der associative quotation, wobei etwa ein zitierter Liedtext im Leser auch die dazugehörige musikalische Ebene aktiviert; zweitens die des „Redens über“ bzw. „Reflektierens“; und drittens die des Evozierens des Fremdmedialen, was laut Rajewsky für den Leser eine „fremdmedial bezogene Illusionsbildung“ zur Folge hat.236 a) Musik Die Bezüge zum Medium Musik sind zahlreich, vor dem Hintergrund von Honorés Tätigkeit als Musikproduzent sicherlich keine Überraschung. Gleichzeitig spielt die Musik für Handlung, Motivik und Metaphorik eine zentrale Rolle und soll deshalb nicht zugunsten der 234 Zumal auch Rajewsky betont, dass „mit dem einzelreferentiellen Verfahren immer auch ein Rekurs auf das kontaktgebende fremdmediale System einhergeht“ (Rajewsky 2002, 149). 235 Ebd., 150f. 236 Ebd., 151 4.1 Einzelbezüge zu Musik, Kunst, Foto, Film, Fernsehen, Computer 40 Bildmedien vernachlässigt werden. Auch dienen die musikalischen Referenzen häufig als Markierungen für oder Verknüpfungen zu anderen fremdmedialen Bezügen. An einigen Stellen ruft der Text die musikalische Ebene als ‚assoziatives Zitat‘ auf, indem er Liedtexte zitiert. Dreimal handelt es sich um Songs von Leonard Cohen, und jedesmal markieren die Zitate eine entscheidende Wendung in der Romanhandlung. Mit dem ersten Zitat:237 „It’s here we’ve got the range/and the machinery for change“ vom Album The Future beschreibt David seinen drängenden Verdacht, dass Peach sich nicht zufällig bei seiner Hacker-Aktivität erwischen ließ, sondern sich ganz absichtlich Zugang zur ‚Maschinerie‘ der polizeilichen Web-Ermittler-Werkzeuge verschafft hat, um sein Projekt noch effektiver ausführen zu können. Kurz zuvor schreibt David die ‚Besetzungsliste‘ seiner Erzählung dergestalt um, dass Peach zum eigentlichen Erzähler und David nur zu seinem Chroniker wird.238 Diese metatextuelle, auf die Genres Theater und Film-Drehbuch verweisende Reflexion, die den Verlust der Erzählerautorität thematisiert, wird durch das Musikzitat erhärtet. Das zweite Cohen-Zitat taucht wenig später innerhalb eines längeren, stark assoziativen und fragmentierten Abschnitts auf,239 der bei der Untersuchung der intermedialen Kontamination des Textes durch ‚neue Medien‘ noch eine wichtige Rolle spielen wird. Als Auslöser eines der Gedankensprünge kommt David die Textzeile „the cradle of the best and of the worst“ in den Sinn, eine Charakterisierung Amerikas, durch die hier Davids Reise in die Wüste bei Silicon Valley mit seinem Aufenthalt in Bhaktapur gekoppelt wird, wo er fast den sexuellen Reizen einer Minderjährigen erliegt. Silicon Valley fungiert dabei als Chiffre für die Entwicklung der Computer-Technologie, die ‚Wiege‘ der digitalen Technik, die in David sein Bhaktapur-Erlebnis Jahre später durch die ‚Beziehung‘ zu <webchild> wieder aufleben lässt. Das dritte Cohen-Zitat setzt dies fort. Als David sich kurz vor seiner Verurteilung durch Peachs Virusprogramms trial.exe sieht, seinen Selbstmord erwägt und wenig später doch vom Folgevirus mercy.exe gerettet werden wird, kommen ihm die Textzeilen „There is a crack / There is a crack in everything / That’s where the light gets in“ in den Sinn.240 Nicht nur greift der Song das im ganzen Roman präsente Bild des Risses auf, das auch als Metapher für Bruch-Erscheinungen auf der Ebene der Erzählung gelesen werden kann; es nimmt ebenfalls die Hoffnung auf eine positive Wendung, die schließlich doch erfolgen wird, vorweg. Das letzte Beispiel zitiert einen Song von Prefab Sprout, „Andromeda Heights“.241 Der Song ist Teil der ständig wachsenden Homepage von <webchild>, die sich längst in Peachs Händen befindet, ohne dass David dies ahnt. Die beiden Strophen erzählen vom Bau eines Heims ohne Steine, Holz oder Beton, über den Wolken mit den Sternen als Nachbarn. Nicht nur ist dies eine treffende Metapher für Peachs leidenschaftlichen Versuch, sich und seiner Schwester im Cyberspace eine ideale, immaterielle Welt zu erschaffen. Der Song ist gleichzeitig eines der vielen Bruchstücke, aus denen zuerst Marie Kammer und nach ihr Peach die Persönlichkeit von <webchild> zusammensetzen – ein multimediales Konstrukt aus (komputierten) Bildern, Klängen, Textzitaten und biographischen Versatzstücken. Die verhexend anheimelnde Stimmung der Website-Welt wird durch die associative quotation des Songs 237 Honoré 2002, 144 Vgl. ebd., 142f. 239 Ebd., 154 240 Ebd., 242 241 Ebd., 182 238 4.1 Einzelbezüge zu Musik, Kunst, Foto, Film, Fernsehen, Computer 41 evoziert, wenn der Erzähler das Zitat mit den Worten einleitet: „Paddy McAloons stemme klinger varmt fra die små høyttalerne.”242 Andere Musik wird lediglich erwähnt, um durch die im Leser aufgerufene klangliche Ebene eine gewisse Stimmung zu transportieren, jedoch allgemeiner, als wenn ein bestimmter Song anzitiert würde. In der schon angesprochenen Szene, wo David im lärmenden Oslo zu halluzinieren meint, ruft er den wilden, aggressiven Eindruck im Leser durch einen Verweis auf Strawinskys „Vårofferet”,243 das Ballett Sacre du printemps, auf. Andere Nennungen, wie Brian Enos Discreet Music,244 eine Aufzählung von Noise-Bands245 und der Hinweis auf „det infernalske skriket fra massakrerte gitarer“ in Lou Reeds Metal Machine Music246 haben dieselbe, Stimmungen evozierende Wirkung. Weitere Musikbezüge werden mit der Nennung anderer Medienprodukte verknüpft und rufen so synästhetische Assoziationen beim Leser auf. Das geschieht etwa, wenn Peach in einem seiner Log-Einträge schreibt: „Webchilds hjemmeside er et kunstverk. Stina Nordenstams uskyldige stemme og Andy Warhols funksjonelle suppebokser og filmstjerneportretter vevd sammen.“247 Hier werden nicht nur zwei intermediale Einzelreferenzen zu einer allein im Kopf des Lesers stattfindenen polymedialen Referenz verbunden; das Wort „vevd“ schlägt zudem noch eine Brücke zum Gegenstand der Beschreibung, der „Web“seite. Die Musikverweise sind nicht nur punktuell anzutreffen. In der Beschreibung einer Aufführung des Illusionisten für <webchild>, die David sich auszumalen versucht, wird der Stimmungwechsel der Bühnenshow fast ausschließlich über Verweise auf bekannte Musikstücke im Leser lebendig: von Strauss’ Also sprach Zarathustra zu Saties Gymnopedie nr.1.248 Manchmal jedoch sind die Musikverweise auch komplexer. Zum Stück „Dark eyed sister“ vom Album The Pearl von Brian Eno kommen David zwei Erkenntnisse über seinen Assistenten Peach. Zum einen, dass dessen Plan im Ausgangspunkt wohl darin bestand, „å skape noe som ligner denne musikken. Noe lett, noe gjennomskinnelig, vakkert”,249 und dass er nur dafür die mächtige ‚machinery‘ des polizeilichen Internet-Werkzeugs benötigte. Und zum anderen erinnert David sich an einen Tag, an dem er und Peach den Osloer Bahnhofsplatz per Kamera überwachten und Peach auf dem Computerbildschirm seine drogenabhängige Schwester entdeckte, für die er dann sein zum Scheitern verurteiltes Projekt einer besseren Welt im Netz anging. Metaphorisch wird die Musik hier mit einer Art technologischer Ästhetik beschrieben, die erst wirksam wird, wenn der Leser die klangliche Ebene mit aufruft: „Summen av århundrers matematiske erfaringer, millioner av kalkulasjoner, minutiøse filtreringer, endeløse labyrinter av transistorer og kabler“.250 Ein Verweis auf Ry Cooder während der Beschreibung von Davids Reise mit seiner Frau Liv nach Silicon Valley wird zur ironischen Brechung und Reflektion der Situation genutzt, wenn es heißt: 242 Ebd. Ebd., 202 244 Ebd., 66 245 Ebd., 73 246 Ebd., 83 247 Ebd., 77 248 Ebd., 85 249 Ebd., 146 250 Ebd., 147 243 4.1 Einzelbezüge zu Musik, Kunst, Foto, Film, Fernsehen, Computer 42 Ry Cooder-kassetten jeg satte på for en halvtime siden, først lav og så gradvis høyere, som om jeg kryssfadet musikken med den svinnende vegetasjonen, blir en klisjé i en klisjé, istedenfor lydsporet til den drømmen vi trenger. Slidegitaren er ikke lenger klangen av Mojave-ørkenen [...]. Den er lyden [...] av et norsk ektepar på tokt i en Buick Stateline, et ekko av „vi må komme oss vekk, bare vi to, finne tilbake til...” En nostalgisk reise til et sted vi aldri har besøkt.251 Dieser Verweis ironisiert den Versuch, eine gescheiterte Beziehung zu retten, durch Bezüge auf andere Medien: die Klischeehaftigkeit einer (Film-)Musik, das Genre des RoadMovies. Dadurch wird eine unwirkliche Stimmung erzeugt, die ganze Reise ähnelt mehr einem Film oder der Simulation einer Reise, also einem Medienerlebnis. An dieser Stelle schwingt wieder Virilios Vorstellung vom Reisen auf der Stelle mittels „audiovisueller Vehikel“ mit.252 Der Musikverweis wird in diesem Kapitel zum Baustein einer Erzähltechnik voller intermedialer Verweise, die die Episode filmisch, als hyperreale Simulation erscheinen lassen. Unter 4.2.2 wird dies als evozierende Systemerwähnung beschrieben. Ein letzter Musikverweis in Orakelveggen fällt in gewisser Weise aus Rajewskys Schema der intermedialen Bezüge heraus. Das dritte Virenprogramm mercy.exe ruft Davids öffentliche Verurteilung wieder zurück, und es tarnt sich als Musikdatei.253 Die Musik besteht aus Samples des Stückes „Birth Wish“ von der gleichnamigen CD. Jener Abschnitt, in dem David aus heiterem Himmel Gnade widerfährt, eine Wiedergeburt nach seinem in Gedanken schon vollzogenen Selbstmord, ist zudem geprägt von einem Wechsel der Erzählerperspektive: Davids „jeg“ wird zu einem von einer erzählenden Figur losgelösten „du“. Auf Birth Wish wirkt neben Christian Wallumrød, Arve Henriksen und Jan Bang auch Erik Honoré selbst als Musiker mit. In diesem Verweis ist daher etwas angelegt, das Honoré in seinem aktuellen dritten Roman Kaprersanger254 konsequent weiterführt: der Versuch einer (nach Rajewskys Definition) Medienkombination, indem er parallel zum Roman die CD Hijacker’s Songs mit der Gruppe Elswhere herausgab, auf die der neue Roman sich explizit bezieht.255 Auch wenn Birth Wish zwei Jahre vor Orakelveggen erschien, ist die Idee auch hier schon präsent. Honoré selbst nennt die Technik in Anlehnung an Film- und Fernsehterminologie „produktplassering“.256 Gleichzeitig sind für ihn Musik- und Textproduktion so eng gekoppelt, dass sich Analogien zwischen anzitierter Musikart und Romanstruktur ergeben: „De to første romanene var nyjazz/elektronika, mens Kaprersanger er pop“.257 b) Bildkunst und Fotografie Die intermedialen Bezüge zu einzelnen Kunstwerken sind nicht so zahlreich wie die zur Musik, außerdem wurden zwei zuvor schon genannt: Yoko Onos (imaginäre) Installation mit einem Becken voller leuchtender Seesterne, sowie Andy Warhols Suppendosen und Filmstar-Porträts als Teil einer synästhetischen Beschreibung von <webchild>s Homepage. Ein dritter Kunstbezug allerdings verdient nähere Betrachtung. Es handelt sich um ein Bild von 251 Ebd., 98 Virilio 1997, 38 253 vgl. Honoré 2002, 232ff. 254 Honoré 2005 255 Holen 2005 256 Ebd. 257 Ebd. 252 4.1 Einzelbezüge zu Musik, Kunst, Foto, Film, Fernsehen, Computer 43 Gerhard Richter,258 das David zufällig im Astrup Fearnley-Museum entdeckt – kurz nachdem er und Peach ein Foto von <webchild> entdeckt haben, und kurz bevor sie es als Komputation enttarnen: „Et fotografi igjen, men uskarpt denne gang. Duse farger og myke linjer. [...] En liten gutt fotografert bakfra.“259 Als David das Bild auf der Suche nach einer nicht vorhandenen Signatur näher betrachtet, muss er jedoch feststellen: „Bildet jeg var sikker på var et fotografi, er et maleri, riktignok malt etter et fotografi – det må det være – et uskarpt snapshot gjengitt med imponerende presis penselføring.”260 Bei einem späteren Besuch des Museums revidiert er seine Erkenntnisse nochmals: Det er ingen gutt som er avbildet, heller ingen jentunge. Det er en ung kvinne. [Bildet] er basert på et uskarpt fotografi av hans kone, en kvinne på vei inn i mørket, tvunget inn dit av en gryende sinnssykdom. Det er ett av kunstnerens mange bilder som eksisterer i det ladede vakuumet mellom maleri og fotografi.261 Zusätzlich hat sich David im Netz ein Zitat Richters besorgt: „Det individuelle bildet eksisterer ikke lenger. Det eneste vi kan gjøre nå, er å forsøke å ordne og systematisere den endeløse bildestrømmen.”262 Dies, so meint David, sei das einzige, was auch ihm jetzt noch bleibe, Chronologie und Zusammenhang. Dieser Bildbezug geht deutlich über eine einfache intermediale Einzelreferenz hinaus. Schon das Richter-Gemälde selbst könnte man ja als einen intermedialen Bezug zum Medium Fotografie bezeichnen. Sein im Roman wiedergegebenes Zitat schlägt zudem eine Brücke zu Fotografietheorien, von Benjamins Gedanken zum „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“263 bis zu Flussers Äußerung zum Universum der technischen Bilder: „Kopieren macht alle Autorität und alle Autoren überflüssig und stellt daher die schöpferische Begeisterung in Frage“.264 Außerdem klingt im Richter-Zitat auch Flussers Vision einer telematischen Gesellschaft an, in der „der Verkehr zwischen Mensch und Mensch durch Bilder“ im Mittelpunkt steht.265 Indem David die Maltechnik des Bildes, seine Illusionswirkung, die es aus der Verwischung von Mediengrenzen bezieht, und die Aussagen des Künstlers auf seine eigene Erzählsituation bezieht, gibt er dem Leser die Möglichkeit, dies auf die Struktur des Textes zu übertragen. Auch hier wird der Erzähler immer mehr zum „kronikør“,266 der den Ereignisstrom nur noch ‚ordnet und systematisiert‘: er verliert die Autorität über seinen Text. Reale, fiktive, komputierte, simulierte und kopierte Elemente verschwimmen, die Forderung nach Chronologie nimmt David selbst wenig später zurück: „Jeg oppdager en endring i notatene mine. [...] En dreining bort fra logger, rekonstruksjoner, hypoteser, og over mot noe som er 258 Der Titel des Bildes wird nicht erwähnt; der Beschreibung nach könnte es sich um „I.G/“ aus dem Jahre 1993 handeln. Für einen Eindruck s. www.gerhard-richter.com/art/detail.php?paintID=8003 . 259 Honoré 2002, 43 260 Ebd., 44 261 Ebd., 160 262 Ebd. 263 Vgl. Benjamin 1963. Der Aufsatz, der schon 1935/36 entstand, gilt als früher Klassiker der FotografieTheorie, auf den sich auch Flusser immer wieder bezieht. 264 Flusser 1999, 105 265 Ebd., 75 266 Honoré 2002, 143. 4.1 Einzelbezüge zu Musik, Kunst, Foto, Film, Fernsehen, Computer 44 løsere, mindre lineært. [...] Jeg er i ferd med å miste fokus“.267 In der Metaphorik („fokus“), und Davids zunehmender ‚Klärung‘ oder ‚Scharfstellung‘ der Hintergründe des oberflächlich unscharfen Gemäldes wird auch über sprachlich eine Konnotation zur Fotografie aufgerufen. Die unsichere Identität von <webchild> ist ebenso im Bild, in Davids Rezeption und der Platzierung im Roman symbolisiert: gleich nach dem ersten Betrachten, bei dem David die dargestellte Person noch für einen Jungen hält, enttarnt Peach das <webchild>-Porträt als Komputation aus zahlreichen Fotografien.268 Dem zweiten Museumsbesuch folgt die eben zitierte, in Klammern aus der Erzählung ausgerückte Reflexion des Erzählers über sein Schreiben. Die intermediale Einzelreferenz auf das Gemälde Richters bekommt somit eine metatextuelle Funktion. Ähnlich wie der oben erwähnte Web-Artikel über Yoko Ono, der sich später als Fälschung entpuppt, bricht auch der Bildverweis die Diegese des Textes, seinen „Status [der] Referentialität“,269 und lässt den Roman als ‚gemacht‘, als Täuschungsmanöver, als ‚Sampling‘, als ‚Nachzeichnung‘ oder Simulation einer erfahrbaren Realität erkennbar werden. Der Bildbezug wird so zur Markierung einer Systemkontamination mit Elementen aus dem Bereich der „technischen Bilder“, welche den ganzen Text auf motivischer und struktureller Ebene durchzieht, wie unter 4.2.3 nachzuweisen sein wird. Das Richter-Gemälde steht als Hybrid auf der Grenze zur Fotografie, welche ein weiteres zentrales Bezugsfeld für den Roman eröffnet. Von den konkret anzitierten (analogen) Fotografien ist jedoch nur eine weitere tatsächlich in der außertextlichen Realwelt verankert: das erste Foto von Joesph Niépce und Louis Daguerre aus dem Jahr 1827, 270 dessen Entstehung im Prolog des Romans beschrieben wird. Zunächst scheint dies eine einfache Einzelreferenz auf die ‚Geburtsstunde‘ des neuen Mediums Fotografie zu sein, deren Zusammenhang mit dem restlichen Roman zunächst im Dunkeln bleibt. Dennoch ist, nach Rajewskys Definition, auch in dieser Einzelreferenz automatisch eine komplexe Systemreferenz auf das fotografische Medium angelegt. Hinweise, die sich direkt an theoretische Gedanken zur Fotografie als früheste Vertreterin technischer Bilder koppeln lassen, finden sich z.B. in der Metaphorik des Prologs. Die Gardinen in Niépces Arbeitszimmer „separerer virkeligheten fra bildet“,271 in den Umständen der ersten Fotografie ist daher schon jene Warnung angelegt, die Flusser für den Umgang mit technischen Bildern ausspricht: „daß sie nicht Fenster sind, sondern Bilder, also Flächen, die alles in Sachverhalte übersetzen; daß sie, wie alle Bilder, magisch wirken“,272 dass sie also keine objektiven ‚Abbilder‘ sind. Ebenfalls parallel zu Flusser, diesmal zu seiner Vorstellung vom Technobild als „neue Einbildung, in der wir uns erst zu üben haben“,273 lässt sich die Beschreibung des Fotos als „[d]en første fortellingen på et nytt språk“274 lesen, ebenso wie die Sätze „Herfra er alt drøm“ und „Det er ren magi!“,275 welche Flussers Vision des in 267 Ebd., 160f. Auch die Geschlechter-Verwirrung, die spätestens dann entsteht, wenn Peach <webchild> übernimmt, ohne dass David dies ahnt, und die bis hin zum ‚Cybersex’ zwischen Peach und David führt (s. Honoré 2002, 186), klingt in Davids Rezeption des Richter-Gemäldes bereits an. 269 von Amelunxen 1995, 212 270 s. Abbildung 2 im Anhang, S. 68 271 Honoré 2002, 7 272 Flusser 1983, 15 273 Flusser 1988, 39 274 Honoré 2002, 7 275 Ebd., 8 268 4.1 Einzelbezüge zu Musik, Kunst, Foto, Film, Fernsehen, Computer 45 Bildern „träumenden kosmischen Gehirns“ entsprechen,276 sowie seiner Feststellung, dass die Technobilder seit ihrer Entstehung bis heute fälschlicher Weise „neo-magisch“ gelesen werden.277 Auch die Erzähltechnik, die Szenerie im ersten Absatz zunächst wie ‚blind‘ zu beschreiben, nur über Gerüche und Geräusche, bis zum Satz „Du åpner øynene“,278 kann als sprachliche Aktualisierung des Vorgangs der ersten Fotografie, der erste Blick des ‚KameraAuges‘, gedeutet werden – in Rajewskys Terminologie ein typisches Beispiel für den ‚Als-ob‘Charakter eines intermedialen (hier: ‚fotografischen‘) Schreibens. Gleichzeitig beinhaltet die sprachliche ‚Momentaufnahme‘ dieses ersten FotografieProzesses zahlreiche Vorausverweise auf den Roman, welche beim ersten Lesen zwangsläufig unverständlich bleiben müssen – der Verweis auf die kommerzielle Ausbeutung der Erfindung durch Daguerre, welche in Davids Vorstellung den Weg zur Foto-Pornografie der Jetztzeit ebnet, ebenso wie ein in Klammern gefasster Abschnitt voller punktförmiger Verweise auf Bilder und Motive des Romans: „(ja, du aner allerede omrisset av engler i arkitekturen, fingeravtrykk på taster, illrøde vulkaner under porselenshud; knyttenever av lys, en levitasjonsakt, et fall, en hellig offerhandling).“279 Dieser Bruch der chronologischen Erzählung durch vorausweisende Motivfragmente gleich zu Beginn des Romans ist der erste Hinweis auf die Kontamination des sprachlichen Systems mit Elemente des technischen Bildes und der ‚neuen Medien‘: die Ablösung des linearen Schriftcodes durch den punktförmigen, komputierbaren Technobild-Code280 bzw. die Hyperlink-Struktur des Internets. c) Film, Kino und Fernsehen Auch auf das Medium Film, in noch größerem Maße als das Foto ein Medium „technischer Bilder“, finden sich in Orakelveggen alle Arten von Einzelbezügen. Einige sind wiederum unkompliziert in ihrer Funktion, der Verweis auf Darth Vader etwa,281 jene prototypische Gestalt des Kino-Bösen aus George Lucas’ Star Wars-Epos, mit dem die vernichtende Gewalt eines zufällig gelegten Feuers in Davids Kindheit medial verbildlicht wird. Auf einer weiteren Ebene funktioniert dieser Verweis, wenn man, wie es unter 4.2.2 geschehen soll, die Schilderung von Davids (Tag-)Träumen als von Elementen des Filmsystems modifiziert untersucht. Denn auch die Feuer-Episode wird als Traum erzählt, gespickt mit filmischen Anweisungen wie „Sceneskift“ und „Blackout“ sowie geprägt von einem abgehackten Stil. 276 Flusser 1999, 137 Vgl. ebd., 10 278 Honoré 2002, 7 279 Ebd., 8. Gleichzeitig können sich diese Zeilen auch als doppelter intertextueller, wahrscheinlich nicht intendierter Bezug lesen lassen: zum einen zu Tarjei Vesaas’ Gedicht Regn i Hiroshima aus der Sammlung Leiken og lynet (1947), das mit fast analogen Bildern arbeitet. Zum anderen klingt in diesem ersten Textbezug wie auch in den Bildern „fingeravtrykk på taster“, „engler i arkitekturen“, „knyttenever av lys“, „illrøde vulkaner under porselenshud“, Paul Virilios Parallelführung von Atombombe und Fotografie in Krieg und Kino an: „Die erste Bombe hatte [...] einen Blitz verursacht, einen atomaren flash von einer Fünfzehnmillionstel-Sekunde, dessen Schein bis in die Häuser und Keller drang [...]. Die Muster der Kimonos tätowierten die Haut der Opfer. War die Photographie, ihrem Erfinder Nicéphore Niépce zufolge, nur einer Methode der Lichtgravur, [...] so war die Atomwaffe Nachkomme [...] der Dunkelkammern [...] und der Kriegsscheinwerfer. [...] Die Mauern der Stadt wurden jetzt zu Bildschirmen.“ (Virilio 1986, 176f.) 280 Bei Flusser die fünfte Stufe einer Entwicklung von der medienlosen zur telematischen Gesellschaft: „Die Texte [...] zerfallen zu Punktelementen, welche gerafft werden müssen. Es ist die Stufe des Kalkulierens und Komputierens. Auf ihr stehen die technischen Bilder.“ (Flusser 1999, 11) 281 Honoré 2002, 82 277 4.1 Einzelbezüge zu Musik, Kunst, Foto, Film, Fernsehen, Computer 46 Ein ebenfalls filmisch geprägter Tagtraum-Abschnitt enthält eine Referenz zur Zeichentrick-Figur Timmy Gresshoppe aus Walt Disneys Pinocchio,282 mit der der Kellner einer Kellerbar beschrieben wird. Ein dritter einfacher Verweis schließlich, die Referenz auf die Serie Derrick,283 dient als erneuter Marker für das im Roman aktualisierte Krimi-Genre. Andere Einzelreferenzen sind komplexer gebaut. Einen Theaterbesuch, den David in der Techniker-Kabine verbringt, schildert er konsequent mit metaphorischen Verweisen auf die Fernsehserie und Kinofilm-Reihe Star Trek: „Dette var kommandodekket på stjerneskipet USS Enterprise, lydteknikeren var løytnant Spock“.284 Der Lichttechniker wird zum Androiden Data, die Inspizientin zu „president Lora på planeten Nexus 4“, Bühnenanweisungen klingen nach Befehlen für den Warp-Antrieb, und die Lichtregie erscheint David wie eine Reise durch den Hyperraum. Neben der ironischen Brechung, die sprachlich die eher ‚ernste‘ Rezeptionssituation des Theaters unterläuft, wird auch das auf Illusionismus angelegte Bühnengeschehen durch die Science-fiction-Perspektive als Fiktion entlarvt, was wiederum als Hinweis auf eine Brechung der Illusionswirkung des Romans gelesen werden kann. Gleichzeitig wird hier der Sternenraum des Weltalls metaphorisch parallel zum Bühnenraum des Theaters geführt; hier „funklet og gnistret“ die Filmschauspielerin Anne Krigsvoll „i det faste ensemblet av lyssvake stjerner“.285 Zusammen mit einer Beschreibung der Tonregie in Tagen des Plattenspielers, als die Szenen-Musik live zu mischen war, driftet Davids Erzählung aus dem Theaterraum in eine reflexive Sphäre ab, in der er über die Kopplung von Musik, Film und Bühne, und über eine Revision der ‚Besetzungsliste‘ seines Roman-Berichtes schließlich Peachs eigentliche Motive zu ahnen beginnt. Der Filmverweis auf Star Trek wird damit zu einem Auslöser für eine assoziative, reflexive Kette von intermedialen Systembezügen. Auch diese Passage wird daher unter 4.2.2 und 4.2.4 nochmals zur Sprache kommen. Eine weitere Film-Referenz verstärkt die Rolle des Lesers als ‚Detektiv‘, die schon zuvor angesprochen wurde. Peach und David chatten miteinander und schieben einander Filmzitate zu, die der andere zuzuordnen hat – in diesem Fall ist die Lösung Down by Law von Jim Jarmusch.286 Darin kann sich der Leser, der sich im Roman selbst mit zahlreichen medialen Verweisen konfrontiert sieht, die es zuzuordnen gilt, wiederfinden. Als letzte Referenz soll eine lediglich indirekte Bezugnahme angesprochen werden, die den stilistischen und typographisch markierten Bruch am Anfang des Epilogs einleitet – da auf diesen Schlussteil wegen seiner sprachlichen Besonderheiten später genau eingegangen werden wird, fällt die Untersuchung hier knapper aus. Im Paris des Jahres 2002 sieht David einen amerikanischen Film im Kino: „Plastposen på lerretet danser, som om den er koreografert. Umulige bevegelser. Hvordan har regissøren klart å lure inn denne sekvensen i en Hollywood-film?”287 Gleich danach kippt die Filmhandlung in eine imaginäre Szenerie über, in der Joseph Niépce mit seinem Sohn auftritt - das Kino wird, wie Virilio beschreibt, zum Ort der „Entmaterialisierung“.288 Der aufgerufene Film ist wohl American Beauty von Sam Men282 Ebd., 204 Ebd., 218 284 Ebd., 139f. 285 Ebd., 140 286 Ebd., 23 287 Ebd., 247 288 Virilio 1986, 56 283 4.1 Einzelbezüge zu Musik, Kunst, Foto, Film, Fernsehen, Computer 47 des aus dem Jahre 1999. Die entsprechende Szene ist innerhalb des Films schon ein intermedialer Verweis, da es sich bei der Aufnahme der tanzenden Plastiktüte um ein digitales Video handelt. Der junge Videofilmer Ricky beschreibt die Szene als das Schönste, was er je gesehen habe, und tatsächlich stellt die Sequenz in ihrer Länge und Minimalistik einen deutlichen ästhetischen Bruch innerhalb des Filmes dar, während sie gleichzeitig das Verhältnis zwischen Kunst, Schönheit, Artifizialität und Zufall sowie die Filmrezeption selbst reflektiert. Mit dem Verweis auf eine Medienverschiebung innerhalb des Films also markiert der Text hier seine eigene ‚Bruchstelle‘, an der der Erzähler endgültig entpersonalisiert wird und verschwindet, während der Text den höchsten Grad an Kontamination mit Elementen der ‚neuen Medien‘ erreicht – und sich ‚selbst erzählt‘. d) Internet und Computer Intermediale Einzelreferenzen, die sich auf die Digitalmedien Internet und Computer beziehen, sind nicht sehr zahlreich289 – dieser mediale Bereich wird eher durch Systemverweise im Text aktualisiert. Zudem gehen die Einzelreferenzen über eine bloße Nennung nicht hinaus; sowohl der Hinweis auf die Internetseite dagbladet.no290 als auch die Beschreibungen von <webchild>s Homepage,291 der komputierten Digitalbilder,292 Marie Kammers Bildmanipulationen für eine Anti-Kriegs-Werbekampagne293 und eines Kriegsfotos aus Monterbia, das sich bei jedem Betrachten leicht zu verändern scheint,294 dienen lediglich einer Verankerung der Erzählung in der medialen Erfahrungswelt des Lesers sowie einer Markierung des Systems ‚neue Medien‘, auf das sich der Roman dann auf struktureller und sprachlicher Ebene höchst komplex bezieht. Etwas genauer sollen lediglich zwei Hinweise auf Computersoftware betrachtet werden. Nach einem „dårlig lyssatt drøm“ aus körnigen Bildern295 hat sich David „et tredve sekunder langt Quick-Time-klipp av Marie Kammer [...] som en endeløs loop“296 im Kopf festgesetzt. Mit diesem Vergleich werden Traum und Erinnerung in ihrer Ungenauigkeit, Bruchstückhaftigkeit und Unschärfe mit der bis heute schlechten Qualität audiovisueller OnlineInhalte verglichen – ein Hinweis darauf, dass die ‚neuen Medien‘ Wahrnehmungsmuster beeinflussen, was der Roman auch auf formaler Ebene spiegelt. Der zweite Hinweis ist in dem Beinamen „drømmevever“297 verborgen, mit dem David Peach bezeichnet. Nicht nur auf metaphorischer Ebene (auch mit Flussers Formulierung vom träumenden kosmischen Gehirn im Hintergrund298) ist das Bild des „Traumwebers“ Peach, der seine ideale Welt im Netz konstruieren will, treffend – Dreamweaver ist auch der Name einer Software zur Entwicklung von Internet-Inhalten. 289 Dies liegt sicher auch an der zuvor schon angesprochenen Problematik vieler digitaler Produkte, noch von einem ‚Autor‘ oder einem einzelnen ‚Werk‘ im weitesten Sinne sprechen zu können. 290 Honoré 2002, 110-117 291 Ebd., erstmals S. 35 292 Ebd., 45 293 Ebd., 121 294 Ebd., 81 295 Ebd., 95 296 Ebd., 97 297 Ebd., 181 298 Flusser 1999, 137 4.2 Intermediale Systemreferenzen 48 4.2 Intermediale Systemreferenzen Nachdem bisher recht ausführlich zahlreiche intermediale Einzelreferenzen zur Sprache kamen, soll es nun darum gehen, die immer wieder angesprochene Funktion dieser Verweise als Marker für Systemreferenzen an Beispielen zu belegen. Wie oben erwähnt, teilt Rajewsky die intermedialen Systemreferenzen in eine Vielzahl von Unterkategorien auf; dass diese Trennung im Zusammenhang dieser Arbeit nicht so streng erhalten werden kann, werden die Beispiele zeigen. Dennoch soll die Untersuchung der Systemverweise zunächst von den drei goben Kategorien ausgehen, die Rajewsky ausmacht: der Systemerwähnung, die sowohl explizit (4.2.1) wie auch qua Transposition, also in Form einer Als-ob-Umsetzung des fremdmedialen Systems im Text (4.2.2) erfolgen kann, und der Systemkontamination (4.2.4). 4.2.1 Polaroid-Fotos als Bezugssystem Explizite Systemerwähnungen können laut Rajewsky extradiegetisch, also über Erzähler und Metaphorik, intradiegetisch, also über Figurensprache und -handlung, sowie paratextuell über Titel, Überschriften, Layout usw. im Text aktualisiert werden.299 Für das erste Beispiel, die (analoge) Fotografie bzw. die Polaroids von Davids Jugendfreundin Emilia, können alle drei Strategien nachgewiesen werden. Erzähler- und Figurensprache fallen in Orakelveggen häufig zusammen, da David über weite Passagen als Ich-Erzähler auftritt. Das gesamte achte Kapitel ist ein Rückblick auf Davids Begegnung mit Emilia, die metaphorisch sofort an das Medium (Polaroid-)Fotografie gekoppelt wird – eine Metaphorik, die dann das ganze Kapitel durchzieht: „Hva er dette ustabile kjemikaliet i hjernen, denne bristen, som gjør det aller første bildet man virkelig ønsker å huske uklart og utflytende [...]?“300 Nur wenig später folgt mit der Erwähung von Emilias Polaroidkamera und einem Hinweis auf die verzerrte Farbigkeit der Instant-Fotos die explizite Erwähnung des Bezugssystems, mit dessen Hilfe hier die Erinnerung intermedial metaphorisiert wird. Diese ‚erste Erinnerung als Foto‘ wird zudem an die ‚Erinnerung an das erste Foto‘ gekoppelt, an Joseph Niépces Aufnahme von 1827, die im Prolog beschrieben wird.301 Die Polaroid-Technik in Emilias Händen illustriert anschaulich Flussers zentrale These, dass Fotos eben „nicht Fenster sind, sondern Bilder“.302 Denn Emilia fotografiert Schatten auf der Wand von Knut Isachsen Hagebyen Kirke, und auf den Fotos werden diese Schatten zu Engeln: „Skikkelsene trådte frem like tydelig som om de var antikke, halvt utviskede fresker“.303 299 Vgl. Rajewsky 2002, 82 Honoré 2002, 46 301 Die Schilderung von Erinnerung als mediales Erlebnis verweist auch darauf, dass das Gedächtnis selbst, wie Medienprodukte, inszeniert und zumindest in Teilen fiktiv sein kann – der interessante Widerspruch, über technische ‚Speichermedien‘ die Flüchtigkeit und Unzuverlässigkeit des Erinnerns zu thematisieren, kann hier leider nicht näher untersucht werden, wäre aber mittels medientheoretischer Aussagen über die mediale Konstruktion von Realität deutbar. 302 Flusser 1983, 15 303 Honoré 2002, 48. Über die Illusionswirkung von Freskenmalerei als „virtuelle Welt“ vgl. Wertheim 2002, 81. Baudrillard äußert über Polaroids: „Es ist, als ob sich die alte Physik oder Metaphysik des Lichtes erfüllt hätte, derzufolge jedes Objekt Doppel oder Abbilder von sich abwerfe, die unserem Gesichtssinn entgegenkommen. – Ein reiner Traum. – Die optische Materialisierung eines magischen Prozesses. Das Polaroidfoto ist wie ein vom wirklichen Objekt abgesondertes ekstatisches Negativ.“ (Baudrillard 1989, 120). Das beschreibt sowohl Emilias Projekt wie auch Davids faszinierte Reaktion zutreffend. 300 4.2.1 Polaroid-Fotos als Bezugssystem 49 David führt dies auf „svakhetene i polaroidteknologien“ zurück,304 in einem fast theoretischen Abschnitt reflektiert er, wie die verschobenen Farbwerte eine ‚Hyperrealität‘ verursachen – terminologisch parallel zu Jean Baudrillards Aussagen über die Medienwirklichkeit.305 Emilias Polaroids sind damit als (analoge) Form von Komputation zu deuten, die für sie und auch für David die Realitätswahrnehmung (‚neo-magisch‘) beeinflusst. Analog zu dieser Ästhetik und Realitätskonstruktion, die auf technischen Schwächen beruht, wird Davids Faszination für Emilia beschrieben. Denn das katholische Mädchen mit ihrer südländischen Körpersprache ‚passt‘ nicht ins Nachbarschaftsmilieu. Und, seinen unscharfen Erinnerungen misstrauend, zweifelt David: „Her jeg sitter og forsøker å skimte henne, kan jeg ikke bekrefte med sikkerhet om Emilia virkelig var så vakkert som jeg husker henne, eller om hun bare var annerledes, eksotisk; at jeg [...] skapte henne“.306 So wie Emilia ihre Vorstellungen in die Schatten auf der Kirchwand projiziert, konstruiert David sich seine ‚ideale Freundin‘. Dies und die Tatsache, dass, wie David berichtet, ihn heute nur noch Brüche faszinieren können, „en brist, en asymmetrie“307 wie die Narbe in Emilias Gesicht, schlägt eine Brücke zu seiner späteren Faszination zur (nun eindetig konstruierten) <webchild>: „Og nå ser jeg deg igjen: i det lille arret i et konstruert ansikt på nettet. Du er tilbake“.308 Aus diesem Grund ‚passiert‘ der Flashback auch in genau dem Moment, als Peach ihm das komputierte Foto im Netz zeigt: die Konstruiertheit des digitalen Bildes ruft in ihm die Erinnerung an die hyperrealen Polaroids wach, die besonders durch ihre Echtzeit-Qualität309 als frühe Vorläufer des digitalen Bildes angesehen werden können. In seiner Reflektion über die Auswirkungen der irrealen Farbwerte verweist David auf die Abhandlung Distortions des kanadischen Ästhetik-Theoretikers Robert Barfeld – wobei der Titel der Schrift wiederum intertextuell auf Davids Vorliebe und Bessenheit für Störungen verweist. Und schließlich wird der Bezug auch paratextuell verankert; das Titelbild des Romans ist ein (farb-) manipuliertes Foto der Osloer Innenstadt. Die Motivation für den intermedialen Systemverweis ist es also, neben der angedeuteten Parallelführung von Erinnerung und (oder als) mediale Konstruktion, die Entwicklung der Fotografie von Niépces erstem grobkörnigen Bild über die farbschwachen Polaroids bis zu den komputierten Digitalbildern als die Geschichte eines Mediums zu beschreiben, das noch nie ein ‚Abbild-‘ oder ‚Aufschreibsystem‘310 gewesen ist, sondern immer das eines bewussten oder unbewussten Schwindels ganz im Sinne der Bildtheorien von Flusser, Virilio und Baudrillard. Ein weiterer Nebenstrang der Romanhandlung, die Beschreibung von Davids Großvater als fotografierender „Perspektivschwindler“,311 unterstreicht dies nur. Letzten Endes weist all das auch wieder den Text als Konstrukt und den Erzähler als unzuverläs304 Ebd. Vgl. z.B. Baurillard 1978, 24f. Hier wird anhand von Disneyland gezeigt, wie Illusion und Simulation nicht Fiktionales neben der Realität etablieren, sondern die Fiktionalität einer Realität betonen, die sich mit Hilfe von Simulationen selbst beschreibt. Diese ‚neue‘ Realitätserfahrung nennt Baudrillard dann ‚hyperreal‘. 306 Honoré 2002, 52f. 307 Ebd., 53 308 Ebd. 309 Ihre Eigenschaft also, „fast im selben Moment das Objekt und dessen Bild vor sich zu haben“ (Baudrillard 1989, 120). Beim digitalen Bild fällt dann die Notwendigkeit eines ‚Objektes‘ als Ausgangspunkt fort. 310 Eine Kittlersche Terminologie; vgl. Kittler 1985 311 Vgl. Honoré 2002, 220ff. Die Tiefe des technischen Bildes gewinnt laut Virilio „Oberhand gegenüber den drei Dimensionen des Volumens der tatsächlich gegenwärtigen Dinge und Orte“ (Virilio 2000, 20). 305 4.2.2 Sitcom, Roadmovie, Kino und Simulation als Bezugssysteme 50 sig aus, der ja rückblickend erzählt, verschiedene Perspektiven einnimmt, den Erzählfluss bricht und Unregelmäßigkeiten der Geschehnisse zum Anlass für Ausschweifungen nimmt. Auch das Medium Film wird als System an mehreren Stellen im Roman explizit erwähnt; in diesem Fall sind jedoch Grenzziehungen zu anderen Systembezügen fast nicht mehr möglich. So soll hier nur darauf hingewiesen werden, dass über die oben behandelten Einzelreferenzen immer auch das Filmsystem als Ganzes aufgerufen wird. Zwei weitere markante explizite Systemerwähnungen, die beide jedoch rein als solche unerklärbar bleiben, finden sich einmal in der Schilderung eines Traums, den David als „en merkverdig film“ beschreibt und der ein Kino und die Filmrezeptions-Situation zum Gegenstand hat.312 Zum anderen sei wiederum der Epilog genannt, der mit der Situation eines Kinobesuchs und der Referenz auf den Film American Beauty eingeleitet wird.313 Die komplexen Filmsystembezüge sollen hingegen erst im folgenden Kapitel ausführlich zur Sprache kommen. Gleiches gilt für den Bereich Computer, Internet und digitale Bilder, deren explizite Erwähnung im Roman so offensichtlich ist, dass sie nicht einzeln nachgewiesen werden muss. 4.2.2 Sitcom, Roadmovie, Kino und Simulation als Bezugssysteme Unter der Kategorie Systemerwähnung qua Transposition eröffnet Rajewksy die Unterkategorien evozierende, simulierende und teilreproduzierende Systemerwähnung, die sich vor allem durch Art und Grad der Modifikation des sprachlichen Systems unterscheiden. Neben einigen einzelnen Beispielen für jede Kategorie soll schließlich anhand eines komplexeren Systembezugs gezeigt werden, dass diese Dreiteilung bei der Analyse nicht zwingend praktikabel ist – ausgehend von einer (intertextuellen) Einzelreferenz über verschiedene Stufen der (intermedialen) Systemerwähnung führt jener Bezug nämlich bis hin zur Kontamination des gesamten sprachlichen Systems des Romans. Die evozierende Systemerwähnung ist nach Rajewsky diejenige, die am wenigsten ins sprachliche System eingreift – ihre Bezüge thematisieren lediglich das Bezugssystem über Vergleiche und Metaphorik, einzelne Regeln des Bezugssystems werden übernommen. Als ein typisches Beispiel kann man einen Bezug zum Fernsehgenre der Sitcom anführen, mit dem David sein Gefühl der Absurdität beschreibt: Det hele er en spøk! En velregissert, fabelaktig gjennomført kosmisk spøk. Noen der oppe eller der ute kikket ned eller inn på oss og bestemte seg for at vi var de perfekte ofrene for en øvelse i absurd teater. Noen i en annen dimensjon eller en parallel verden sitter akkurat nå med potetgullposen i fanget og gumler og humrer over våre viderverdigheter, og det er ikke Detektimen de ser på, men en slags psykedelisk situasjonskomedie: David & Peach, Peach & Dave, Punch & Judy, Marie & David, Donny & Marie ... whatever, Webchild, whatever!314 Hier wird nicht nur mit genretypischen Titeln gespielt, um die Situation ironisch zu unterwandern. Indem er David seine Realität als Inszenierung denken lässt, reflektiert der Text seine eigene Fiktionalität (und auch Absurdität) anhand des offensiv unrealistischen Genres der Sitcom mit ihrem Theaterbühnen-Interieur, den an Gagdichte orientierten Dialo312 Ebd., 205ff. Ebd., 247 314 Ebd., 195f. 313 4.2.2 Sitcom, Roadmovie, Kino und Simulation als Bezugssysteme 51 gen und dem ‚Dosenlachen‘ des unsichtbaren Publikums. Gleichzeitig unterwandert dieser Genrebezug explizit das im Roman scheinbar ‚dominante‘ Genre des Krimis,315 indem betont wird: „det er ikke Detektimen“,316 und stellt überdies, mit dem augenzwinkernden Verweis auf kosmische Beobachter, die alte Frage nach der Scheinbarkeit des Seins, die in Baudrillards Formel von der Realität als Simulation wieder aufscheint. Die Silicon-Valley-Episode in Kapitel 13 von Orakelveggen kann als komplexeres Beispiel dienen. Das mediale Bezugssystem ist hier der Film, genauer das Genre des amerikanischen Roadmovies, das auch explizit erwähnt wird.317 Mit einer Reihe klischeehafter Bilder, vom Erzähler als solche auch erkannt und ironisch kommentiert, werden Stereotypen dieses Filmgenres im Leser aufgerufen: „Vi har akkurat oppdaget at det faktisk finnes bensinstasjoner med plakater som roper ‚Last chance gas & water!‘ [...] Det føles nesten skuffende at en kafé som dette eksisterer i virkeligheten. Som om man stjeler magi fra filmene.“318 Auch über die ‚Tonspur‘ wird das Genre mit dem Verweis auf Ry Cooder aktiviert,319 sowie über zahlreiche Details, die im Leser eine Illusionswirkung hervorrufen dürften, welche von seiner Filmerfahrung gesteuert und geprägt ist: hierzu zählen der verrostete Buick, die Silhouette eines Joshua-Baums, die Beschreibung des genretypischen Cafés. Auf diese Weise wird das Filmgenre eigentlich nicht nur evoziert, sondern sogar teilreproduziert, indem die Klischees als medienunspezifisches Element faktisch in den Text übernommen werden.320 Trotzdem wird der Genre-Verweis ständig unterlaufen, und mit ihm auch die illusionsbildende Funktion des Systemverweises: durch die ironische Kommentierung der Klischeehaftigkeit der Szenerie, die sie hyperreal erscheinen lässt;321 durch Bezüge zu anderen Genres;322 durch die untypische Wendung, dass die scheinbar so abgeschieden lebenden Bewohner des Fleckens ihr Geld mit silikonhaltigem Sand für die Computerherstellung verdienen; durch den Einbezug anderer medialer Systeme;323 durch die Bewusstmachung der Sprachbarriere, indem englische Vokabeln in die norwegischen Sätze eingebaut werden („Hun var jo rimelig ... weird“) und dies wiederum kommentiert wird: „Feil språk, feil tunge“;324 durch die Anbindung der Episode an das metaphorische Netz rund um das Begriffsfeld „stjerne“, welches den ganzen Roman durchzieht;325 und schließlich durch die metaphorische Aktualisierung all dieser ‚Brüche‘ des Genrebezugs durch das Bild des St.-AndreasGrabens, welches die ganze Episode auch an die Haupthandlung des Romans, an David von Unsicherheit geprägte Verfassung koppelt:326 „Står jeg her og nyter vissheten om at jeg ba315 S. die Ausführungen zur intramedialen Systemaktualisierung, S. 38. Detektimen ist ein wöchentlicher Sendeplatz für Krimi-Serien freitags abends beim öffentlich-rechtlichen norwegischen Fernsehsender NRK1. 317 Honoré 2002, 99 318 Ebd., 98 319 Vgl. die Ausführungen zur intermedialen Einzelreferenz auf S. 41 f. 320 Auch an diesem einfachen Beispiel zeigen sich schon Probleme mit Rajewskys Schemabildung. 321 „At vi bare bytter bilder, drømmer, lik guttunger som bytter fotballkort“ (Honoré 2002, 102) 322 Etwa zu Science-fiction und Kriegsfilm über den Verweis auf „Area 52“ (Honoré 2002, 99) oder zum Cyberpunk über die Beschreibung der Amerikanerin Jennie (Ebd., 101). 323 Deutlich sind die Verweise auf das System Musik: Ry Cooder, Toyah Wilcox, Paul Simon, und auf das Medium Computer, was dem eher romantischen Stil des Roadmovies entgegenläuft. 324 Honoré 2002, 104 325 Vgl. hierzu in Kapitel 4.2.4 die Ausführungen zur Systemkontamination mit Elementen der Linkstruktur des Internets (s. S. 60) 326 „Hele sommeren har jeg observert ørsmå forskyvninger“, berichtet David zu Beginn seiner Erzählung (Honoré 2002, 12). Baudrillard stellt für das „Zeitalter der Simulation“ fest: „Der Himmel fällt einem nicht 316 4.2.2 Sitcom, Roadmovie, Kino und Simulation als Bezugssysteme 52 lanserer på kanten av en tektonisk plate, at en ørliten geologisk forskyvning når som helst kan styrte meg ned i San Andreas-forkastningen?“327 Die evozierende Systemerwähnung des Kapitels dient also vor allem als Auslöser für eine Systemkontamination, die Elemente der ‚neuen Medien‘ (Brüche, Parodien, Dekonstruktionen, Unsicherheiten) in den Romantext eindringen lässt. Zwei weitere Beispiele für eine evozierende Systemerwähnung führen die angesprochene Strategie noch weiter, indem sie das System der ‚neuen Medien‘ als ein die Erzählerwahrnehmung punktuell bestimmendes aufzeigen. Zunächst sei jene Passage genannt, auf die sich zuvor schon im Zusammenhang mit intertextuellen Verweisen328 und Verweisen auf Musik329 bezogen wurde: Davids von ihm selbst halluzinatorisch gedeutete, albtraumartige Wanderung durch Oslo, sowie sein daran anschließender Kino-Traum, der schon als Beispiel für eine explizite Systemerwähnung zur Sprache kam.330 In surrealen, von elektro-optischen Medien beeinflussten Bildern beschreibt David seine Eindrücke: „En prosesjon mennesker flimrer forbi meg“, „Lyset er feil“, „noen har sølt melk utover himmelen. Kritthvit, fluorescerende væske over en blåsort duk“, „og nå jafser de elektriske garasjeportene bak Spektrum etter meg, åpner og lukker seg som kjempekjefter“. Diese chaotische, aggressive und bedrohliche Außenwelt scheint eine Spiegelung von Davids Innerem zu sein; gerade hat Peach seine digitale Rachemaschinerie in Form des Trojaners trial.exe losgelassen, und David hat in einem Gewaltausbruch Marie Kammer krankenhausreif geschlagen. Das ununterscheidbare Verschwimmen von Innen- und Außenwelt ist für Baudrillard typisch für die Wahrnehmung im Zeitalter digitaler, ins tägliche Leben integrierter Technologie: „Das Virtuelle im allgemeinen ist weder real noch irreal, [...] weder innen noch außen“.331 Auch Virilio konstatiert mit Bezug auf das elektronische Bild „die fortschreitende Vermischung der direkt sichtbaren Realität und ihrer medialen Darstellung“ und spricht von „einer Welt, die sich langsam entmaterialisiert“.332 „Jeg hallusinerer, det må være forklaringen“, beschließt David. Tatsächlich beschreiben die Theoretiker das mediale Erleben genauso, „als Halluzinationsphänomen, das demjenigen von Drogen ähnlich ist“,333 oder als „Wachtraum“.334 Flusser stellt fest: „Die technischen Bilder sind psychedelisch“.335 Die in diesem Kapitel kulminierende Kopplung von Wahn, Drogennutzung, Traum und verstörter Realitätswahrnehmung ist im ganzen Roman angelegt: auch Peach bricht zuvor unter einer Überdosis Amphetamin und LSD zusammen.336 Wie zuvor erwähnt werden Davids Träume häufig als mediale Erlebnisse geschildert. An diemehr auf den Kopf, dafür rutscht einem der Boden unter den Füßen weg. Wir befinden uns in einem brüchigen Universum [...]. Das uns drohende Erdbeben bewirkt, auch in einem geistigen Sinn, einem (sic) Wegbrechen der Zwischenräume“. (Baudrillard 2003, 166). Und weiter, was geradezu als programmatisch für die Erzählungs-Konstruktion des Romans, das ‚Einbrechen‘ zahlreicher Nebenhandlungen bis hin zum erzählerlosen Epilog, gelesen werden kann: An Stelle der historischen Großereignisse „treten, durch fortgesetzte Verschiebungen, die kleinen Ereignisse“ (Ebd., 172f.). 327 Honoré 2002, 104 328 S.o., S. 22 f. 329 S.o., S. 41 f. 330 Für alle folgenden Zitate s. Honoré 2002, 202-207 331 Baudrillard 1989, 126 332 Virilio 1986, 161f. 333 Virilio 1997, 48 334 Ebd., 61 335 Flusser 1999, 152 336 Vgl. Honoré 2002, 197 4.2.2 Sitcom, Roadmovie, Kino und Simulation als Bezugssysteme 53 ser Stelle jedoch kehren sich Traum- und Wachzustand um, wodurch die Wirklichkeit hyperreal wird – auch dies eine logische Konsequenz aus der Medialisierung der Welt, einer „Umkehrung von Information und Realem, die eine Unordnung von Ereignissen und völlig überdrehte Medienwirkungen erzeugt“.337 Ohne also das System der ‚neuen Medien‘ explizit als Bezugssystem einzuführen, ruft der Text es über den erzählerischen Zusammenhang und die Metaphorik im Leser auf, der bis zur Präsentation der ‚Lösung‘ (ein Sonnensturm und ein Musikfestival sind der Grund für technische Pannen und Lärmkulisse) Davids halluzinatorischem Erzählerblick, seinem „technischen Delirium“338 ausgeliefert ist, das geprägt ist von der „Vermischung der virtuellen Bilder des Bewusstseins, der Bilder des menschlichen Auges [...] sowie der elektro-optischen [...] Bilder des computergestützten Videos“.339 Im anschließenden Traum kehrt sich das Verhältnis Realität / Traum / mediales Erlebnis nochmals um: er erscheint höchst real, und die mediale Situation (Kinobesuch) verwandelt sich in eine gestörte Form der Realität: „Dette burde vært et teater“, denkt David.340 Gleichzeitig kann diese Traumschilderung als allegorischer Kommentar sowohl der Romanhandlung als auch deren Prägung durch fremdmediale Elemente und der damit verbundenen Auswirkungen auf die Art des Erzählens gedeutet werden. In einem Kinosaal sitzt David mit den übrigen Hauptpersonen des Romans: seiner Frau Liv, Marie, Peach. Der Film ist merkwürdig: „På lerretet beveger menneskene seg tilsynelatende planløst omkring, de myser ut mot oss som om de leter etter noen i salen, kanskje en regissør som kan fortelle dem hvilke posisjoner de skal innta“.341 Die Zuschauer haben Textbücher in den Händen, und David vermutet, dass die Schauspieler danach suchen. Dann verschwimmen Illusion und Realität: „Filmen blir enda merkeligere: Skuespillerne kommer ut av den, [...] de avleverer stotrende, halve replikker mens andre fremdeles stirrer lengselsfullt ut mot dem fra sin celluloidverden“.342 Nach einem elliptischen Bruch („Lysskift“) ist der Film zu Ende, und David soll am Ausgang des Kinos sein Textbuch zurückgeben, das er jedoch verloren hat. Nach dem Aufwachen riecht er noch „en anelse av lavendel“, Marie Kammers Parfüm. Als allegorischer Kommentar der Romanhandlung beschreibt der Traum Davids Situation: Er hat das ‚Skript‘ eigentlich in der Hand, er könnte verstehen, dass Peach längst <webchild> gekapert hat und für den Trojaner verantwortlich ist, trotzdem liest er es nicht und verliert es sogar. Für die Ebene der Erzählung symbolisiert der Traum das Verschwinden eines Regisseurs oder Erzählers; dass David sein Textbuch verliert, steht für seinen Autoritätsverlust als zentraler Erzähler. Auf medialer Ebene schließlich thematisiert der Traum die schon angesprochene Vermengung von Realität und Medienerlebnis, und das auf mehreren Ebenen: im Traum, den David in einem Kino wie einen Film erlebt, entwickelt sich der fiktionale Film zu einem interaktiven Theater.343 Ein Text verspricht Lösungen, geht jedoch verloren – hierin liegt auch ein autoreflexives Element, indem der Text sich selbst als unzulängli337 Baudrillard 1994, 171 Virilio 1986, 183 339 Virilio 1991, 26 340 Honoré 2002, 205 341 Ebd., 206 342 Ebd. 343 Die Konfusion von Zuschauer- und Schauspielerfigur und -rolle sind laut Lehmann (1999, 178f. und 185ff.) typische Merkmale des postdramatischen Theaters, hervorgerufen durch den „Verlust des Grundelements der Theaterfiktion, das als ‚Einheit der Zeit‘ bekannt ist“, was wiederum eine Folge der Struktur der technischen Medien ist (vgl. Virilio 2000, 113). 338 4.2.2 Sitcom, Roadmovie, Kino und Simulation als Bezugssysteme 54 ches Instrument der ‚Welterklärung‘ thematisiert, zumal in einer medial vermittelten Welt. Und der Lavendelduft beim Aufwachen schließlich schlägt eine Brücke zurück zum Prolog, zur Entwicklung des ersten Fotos und zu den ersten Worten des Romans „Eimen av lavendel“.344 Damit wird das Traumbild im Sinne Flussers mit dem technischen Bild parallelgeführt,345 und Marie Kammer als Trägerin des Lavendel-Parfüms zu einer Person, die durch ihre Erschaffung fiktionaler Persönlichkeiten wie Christina Carrera bzw. <webchild> und durch ihre Kriegsbild-Kampagnen Simulation und Fotografie im digitalen Bild vereint.346 Was in der Schilderung dieses Traumes an intermedialer Referenz in der sprachlichen Umsetzung angelegt ist, führt der Epilog konsequent zu Ende. „Herfra er alt drøm“, hieß es im Prolog, und der Epilog schließt die Klammer dieser ‚Rahmenhandlung‘, indem er Traum, Film, Realität, Fiktion und die verschiedenen Medienbezüge vollständig verschmilzt. Eingeleitet wird die Episode wieder durch einen Kinobesuch und einen markierenden Filmbezug zur Videosequenz aus American Beauty.347 Eine weitere Verknüpfung mit dem ‚Binnentext‘ findet statt, indem auf die letzten Sätze des letzten Kapitels rekurriert wird. Hier knackt Peach den CD-Code, um beim letzten Stück einer CD voller letzter Stücke bekannter Alben, A Day in the Life von den Beatles, die Endlosschleife der innersten Rille der Vinyl-Ausgabe auch im digitalen Medium CD zu realisieren. Dieses Motiv taucht im Epilog formal auf, da er sich wie in einer Schleife auf den Prolog zurückbezieht, und inhaltlich, indem Niépces Sohn auf der Seine einen Stein hüpfen lässt, der endlos immer weiter zu springen scheint.348 Eine weiterer Rückbezug findet statt, indem das „Du åpner øynene“ des Prologs hier zu einem „Ikke åpne øynene“349 wird, und das „Regarde, papa!“ des Sohnes zu einem „Écoute!“.350 Wo der Prolog über Gerüche in den Roman einführte, schließt der Epilog ihn über die auditive Ebene ab – dazwischen liegt die eigentliche Romanerzählung und ihr ausdifferenzierter visueller Diskurs mit zahlreichen Bezügen zu Bildkunst, Fotografie, Film und Digitalbildern. Diese polymediale Prägung des Epilogs wird durch einen Verweis auf das in sich polymediale Medium Internet unterstrichen, wenn es heißt: „La denne setningen, denne hyperlinken, folde seg ut til et lite liv.“351 Nicht nur ist dies ein weiterer expliziter Marker für die Kontamination der Erzählung mit Elementen des Mediums Internet, durch die sie zu einem Geflecht von Erzählsträngen wird; bezogen auf den Epilog markiert der Verweis auf das Internet auch den erzählerischen Versuch, hier zahlreiche Medien zu verschmelzen: Die Mu- 344 Ebd., 7 Vgl. Flusser 1999, 137 346 Mit in dieses symbolische Feld gehört auch die Tatsache, dass Peach und seine Schwester an einer „Fotoallergie“ leiden, was Peach auf <webchild> projiziert (Honoré 2002, 65). Diese Krankheit lässt sie kein Sonnenlicht vertragen, auf ihrer Haut hinterlässt die Sonne ebenso Spuren wie auf der silbernitratbeschichteten Zinnplatte von Niépces ‚Heliographie‘. In <webchild>s Fall ist die Allergie aber auch im übertragenen Sinne zu lesen: Als Nicht-Person hält sie keiner ‚Belichtung‘ durch eine herkömmliche, analoge Fotografie stand, da sie als Komputation nur aus Brocken digitaler Bilder besteht. 347 S.o., S. 46 f. 348 In diesem Moment scheint die Zeit in der Endlosschleife eingefroren zu sein – dadurch erhält der Text den Charakter einer Fotografie: aus Literatur über Fotografie wird „Literatur als Photographie“ (von Amelunxen 1995). Das Foto hebt die Zeit in seinem singulären „punctum“ auf und verweist den Betrachter auf das „Es-ist-gewesen“ des Dargestellten (vgl. Barthes 1989), in diesem Fall darauf, dass Niépce und sein Sohn, trotz ihres scheinbaren Verharrens im Moment, längst gestorben sind (vgl. auch Heitmann 2003, 51). 349 Honoré 2002, 248 350 Ebd., 250 351 Ebd., 249 345 4.2.2 Sitcom, Roadmovie, Kino und Simulation als Bezugssysteme 55 sik- und Geräuschebene der ‚blinden‘ Schilderung von Niépce und seinem Sohn;352 die Bildkunst über die Verweise auf die erstaunlich reifen Zeichnungen des Sohnes, die vom Klangerlebnis des Echos unter der Seine-Brücke beeinflusst werden;353 die Deutung des Epilogs als „blinde variasjonene over et Hollywood-soundtrack“; der stilistische Bezug auf die Fotografie, der in der ‚zeitlosen‘, sich auf Einzelszenen und „tablå[er]“354 konzentrierenden Erzählweise zum Ausdruck kommt; und schließlich die erneute Aktualisierung des Computermediums, indem der Epilog mit eben jener Type mit den hochgestellten ‚t‘ gesetzt ist, die im Roman Peachs gefälschte Internet-Texte markiert. Letzteres trägt mit dazu bei, dass die Erzählerfigur hinter diesem Epilog gänzlich unsicher bleibt; ein „du“ wird angesprochen, aber nicht definiert.355 Es gibt Indizien, Peach als Verfasser dieser Zeilen auszumachen – oder einen Erzähler, der Peachs Standpunkt einnimmt bzw. simuliert: „Slik begynner et merkverdig, speilvendt forhold, der barnet er fortelleren, i kraft av sin gave, og faren loggfører og kronologiserer historien“.356 So betrachtet wäre der Epilog eine erzähltechnisch umgesetzte Fabel auf das Verhältnis von David und Peach, dessen Umwertung sich im Romantext formal spiegelt und von David zudem mehrfach reflektiert wird.357 All diese Elemente zusammengenommen erklären, warum der Epilog hier als Systemerwähnung angeführt wird und so gut an das Ende eines Textes passt, der durch zahlreiche intermediale Verweise seine eigene Fiktionalität, vor allem im Verhältnis zu den ‚neuen Medien‘ als Erzeuger einer ‚Realitätssimulation‘ thematisiert: punktuell ruft er durch seine Gestaltung die ‚neuen Medien‘ als Orte von oder Werkzeuge der Simulation auf. Diese ist laut Baudrillard „eine Dissuasionsmaschine, eine Inszenierung zur Wiederbelebung der Fiktion des Realen“,358 die „verbirgt, daß es außerhalb des künstlichen Umkreises nicht mehr Realität als in [ihrem] Innern gibt“.359 Nicht nur ist dadurch auch die ‚Autorlosigkeit‘ des Epilogs begründet, die so typisch für die Erfahrung von Simulationen und anderen Produkten ‚neuer Medien‘ ist;360 da er sich inhaltlich und formal aus der Handlung löst, betont der Epilog abschließend noch einmal die Fiktionalität des Romans, gerade indem er mit Niépce und seinem Sohn ‚reale‘ Personen der Geschichte zu den Akteuren einer Fabel macht, die typographisch im Romankontext als ‚Fälschung‘ markiert ist. Überdies wird auch die anscheinend objektive Geschichtsschreibung selbst als subjektiv und unsicher präsentiert: „Hvorfor mistet Joseph interessen like etter at han hadde lyktes i å skape det aller første heliografiet? 352 Virilio spricht von einem „Sehen, das ohne Sehen auskommt“ (Virilio 1991, 13), bei dem die aktive Elektro-Optik den Beobachter passiviert, so wie hier der Erzähler als Figur verschwindet und auf seine auditiven und olfaktorischen Eindrücke beschränkt wird. 353 Honoré 2002, 253 354 Ebd., 248 355 Dies markiert den Schlusspunkt einer Entwicklung, die die Erzählhaltung des ganzen Romans durchzieht. Immer wieder spricht David ein „du“ an, doch verbergen sich dahinter verschiedene Personen: Emilia (vgl. Honoré 2002, 53), Liv (vgl. ebd., 162f.), Marie als ‚Nachfolgerin‘ von Peach (vgl. ebd., 229). Gleichzeitig wechselt das Pronomen „jeg“ punktuell schon zu „han“ (vgl. ebd., 53), und hinter weiteren „du“s verbirgt sich David selbst (vgl. ebd., 151-159), was die gänzliche Auflösung der Erzählerautorität im Epilog bereits früher im Text vorwegnimmt. 356 Honoré 2002, 249 357 S. besonders die Rollenlisten in Honoré 2002, 142f. 358 Baudrillard 1978, 25 359 Ebd., 26 360 Virilio spricht von der „Automatisierung der Wahrnehmung“ durch die „Sehmaschinen“, die „nicht nur über wahr und falsch“ entscheiden, „sondern auch über das, was ist, und das, was nicht ist“. Die daraus entstehende Ästhetik, und dieser Begriff scheint sehr gut auf Inhalt und Stil des Epilogs zu passen, nennt Virilio „die Ästhetik des Verschwindens“ (Virilio 1991, 13). 4.2.3 Entfesselung des Blicks - ein komplexer intermedialer Systembezug 56 Hadde det med copyright å gjøre [...]? Du kunne si: Jeg har en annen teori.“361 Das „Ende der Geschichte“,362 ihr Verschwinden in der medialen Aufbereitung, geht einher mit dem Verschwinden des ‚Autors‘ und dem Status des ‚Originals‘, die beide seit Niépces Erfindung, der technischen Reproduzierbarkeit von Bildern und Abbildern, ebenso unhaltbar geworden sind363 wie die Unterscheidung zwischen ‚real‘ und ‚fiktiv‘. Das Bild, so Baudrillard, „und mit ihm die Information, unterliegt keinerlei Wahrheits- oder Realitätsprinzip“ mehr – sie werden frei zu lügen.364 Diese Freiheit ist es, die der Roman sich mit seinen intermedialen Verweisen auf ‚neue Medien‘ nimmt und mit denen er sie begründet. 4.2.3 Entfesselung des Blicks – ein komplexer intermedialer Systembezug Um nach diesem Deutungsversuch des besonders ‚offenen‘365 Epilogs nun noch ein Beispiel zu geben, anhand dessen sehr konkret gezeigt werden kann, wie ein intermedialer Systemverweis quer durch die von Rajewsky aufgestellten Kategorien verlaufen und sie damit sprengen kann, soll ein Verweis auf das System Kino (bzw. allgemeiner: auf ‚optische Bildmedien‘) nachvollzogen werden. Als Ausgangspunkt dient ein kurzer Satz, mit dem David sich als Beobachter des Bahnhofsvorplatzes in Oslo von der zweiten Etage des Restaurants Egon aus beschreibt: „Jeg er et fiberoptisk øye“.366 Diese Aussage kann als intertextuelle Anspielung auf den russischen Filmpionier Dziga Vertov gelesen werden, der seine entfesselt bewegliche Kamera sprechen lässt: „Ich bin das Kinoauge. Ich bin ein mechanisches Auge. Ich, die Maschine, zeige euch die Welt so, wie nur ich sie sehen kann.“367 Worauf es Vertov in seiner Schrift ankommt ist, die Beweglichkeit der Kamera als eine Entfesselung des Blicks zu beschreiben, der nun frei wird, Positionen einzunehmen und Bewegungen auszuführen, die dem an den menschlichen Sehapparat gebundenen Blick unmöglich sind. Indem in Orakelveggen nun aus dem „mechanischen Auge“ ein „fiberoptisk øye“ wird, wird auch die Entfesselung weitergetrieben: der Blick wird zu einem Blick ins Innere des Bildes. Dies wird deutlich, wenn David beschreibt, wie er den Großbildschirm auf dem Dach des Einkaufszentrums Byporten betrachtet: „Jeg er så nær skjermen at jeg kan se enkeltpunktene som frembringer fotballspillerens svette, triumferende ansikt.“368 Sein Blick rastert das Bild in die Einzelpunkte auf, aus denen es komputiert ist. Auch dass diese Komputation einem digitalen Code folgt, reflektiert er: „Jeg leter etter tall mellom null og én“.369 Gleichzeitig, und das folgt Flussers Gedanken von der Rückkopplung des vorherrschenden Codes an die Art und Weise der Wahrnehmung, betrachtet David die Menschenmenge auf dem Platz wie Bewegungen von Pixeln auf der Bildoberfläche: „Nede på torget er menneskemønsteret i ferd med å tynnes ut. [...] Ovenfra gir denne oppløsningen inntrykket av en fokusering. [...] Så klarner bildet. [...] Til slutt er jeg fokusert nok. [...] Det minner meg om fotografier fra en åstedsbefaring.“370 361 Honoré 2002, 254 Baudrillard 1994, 48 363 Vgl. z.B. Flusser 1999, 106f. 364 Baudrillard 1994, 97 365 Im Sinne von Umberto Ecos Begriff vom ‚offenen Kunstwerk‘ (Eco 1977) 366 Honoré 2002, 150 367 Deutsch in Dziga Vertovs Schriften zum Film von 1973, zitiert nach Virilio 1986, 35f. 368 Honoré 2002, 150 369 Ebd. 370 Ebd. 362 4.2.3 Entfesselung des Blicks - ein komplexer intermedialer Systembezug 57 Deutlich wird hier die Parallelisierung von Maschinen- und Menschenblick im Zoomvorgang, die Reduktion menschlicher Wahrnehmung auf Parameter seiner „Sehmaschinen“371 und, im Vergleich zu Vertov, die Übertragung des analogen auf den digitalen Blick eines „universalen Voyeurismus“.372 Eine weitere Entfesselung des digitalisierten Blicks liegt darin, dass er z.B. im Kinofilm nun Bewegungen vollführen kann, die nicht mehr an Seh-, sondern nur noch an (virtuelle) Simulations-Maschinen gebunden sind. Als ein besonders beeindruckendes Beispiel mag etwa die Anfangssequenz des 2. Teils von Peter Jacksons Herr der Ringe-Trilogie gelten, wo in der computergestützten Animation der Kamera-Blick mitsamt dem Magier Gandalf und dem feurigen Balrog trudelnd in die Tiefe stürzt. Hier ist der Blick endgültig entkörperlicht. Diese Eigenschaften des „digitalen Sehens“ sind nun in der angesprochenen Passage von Orakelveggen in Form einer simulierenden Systemerwähnung sprachlich umgesetzt. Zunächst ist die Metaphorik, wie das Zitat im vorigen Abschnitt zeigt, von filmischen Vokabeln durchsetzt. Dann beschreibt David seinen ‚Blick von oben‘373 so: „Jeg er på reise. Det kan være de dype skinnsetene som leder tankene til en togkupé. [...] Hvis dette er et skip, er vi på cruise i Middelhavet.“374 Dieses ‚Sehen als Reisen‘ bezeichnet Virilio als typisch für die Rezeptionssituation technischer Bilder: es scheint „so zu sein, als würde das Ende dieses Jahrhunderts mit der kurz bevorstehenden Durchsetzung des audiovisuellen Vehikels, des statischen Vehikels, einen Ersatz für unsere physischen Fortbewegungen [...] ankündigen. [...] Der räumliche Abstand wird plötzlich allein vom zeitlichen Abstand abgelöst, womit die weitesten Reisen kaum noch Unterbrechungen darstellen.“ Anstatt zu reisen, wird man nun von den Bildern bereist.375 Was David mit seinem Zugcoupé-Vergleich zunächst nur assoziiert, schlägt sich kurz darauf in einem längeren Abschnitt als Einbruch des digitalen Systems einer „aktiven Optik“,376 als eine sprachliche Simulation dieses neuen Sehens, in der Erzählung nieder. Denn kurz nachdem David aus der Menge der Menschen auf dem Platz das Gesicht von Peachs drogenabhängiger Schwester ‚herangezoomt‘ hat, beginnt ein mehrere Seiten andauerndes, assoziativ verknüpftes Springen der Erzählung an fremde Orte und in vergangene Zeiten.377 Gleichzeitig zu diesem virtuellen ‚Trip‘ in Echtzeit378 vollzieht sich im Wechsel des ErzählerPronomens von „jeg“ zu „du“379 sprachlich die von Virilio konstatierte Passivierung des Bildreisenden durch die aktive Optik. Das ‚Ziel‘ der Reise ist ein Kinderheim in Bhaktapur, das David mit seiner Frau Liv besuchte, und wo er beinahe den sexuellen Reizen eines elfjährigen 371 Ein Begriff von Paul Virilio: „Was aber Turin (sic) [Alain Turing, der Erfinder der ersten „Denkmaschine“, Anm.d.A.] zweifellos nicht ahnte, war, daß seine berühmte ‚Zahlenmaschine‘ dreißig Jahre später zum Erscheinen der Sehmaschine führen sollte.“ (Virilio 1997, 93) 372 Virilio 2000, 63 373 Dieser nicht mehr horizontale, sondern nun vertikale Blick ist laut Virilio eine typische Eigenschaft des elektronischen Bildes (vgl. Virilio 1986, 161) – als eine Folge von Luftbildfotografie und Radartechnik, die, so eine von Virilios zentralen Thesen in Krieg und Kino, Teil einer allgemeinen Medialisierung und Virtualisierung des Krieges und, nach der Übertragung der Technologien auf den zivilen Bereich, der Wahrnehmung insgesamt geworden sind. 374 Honoré 2002, 149 375 Virilio 1997, 38 / 42 376 Ebd., 43 377 Honoré 2002, 151-158 378 Echtzeit und Flashback benennt Virilio als typische Merkmale des elektronischen Bildes und der „aktiven Optik“ von Fernsehen und Internet (vgl. z.B. Virilio 1993, 18 und 28). 379 Ebd., 151. Der Wechsel findet in den letzten drei Zeilen des zweiten Abschnittes statt. 4.2.3 Entfesselung des Blicks - ein komplexer intermedialer Systembezug 58 Mädchens erlag, sowie ein Besuch in Kathmandu, wo er und Liv „Kumari, die lebende Göttin“ in Gestalt eines jungen Mädchens sehen. Die Episoden dieser Reisen sind in einem hektischen Stil als ein einziger fließender Satz ohne Punkte geschrieben, der jedoch, manchmal mitten in einer Sinneinheit, zu Einzelsequenzen zerhackt wird. Formal ist das durch doppelte Absätze markiert, die Lücken im Textbild öffnen, und durch Kleinschreibung am Beginn der Absätze. Fast könnte man die Passage als Gedankenstrom bezeichnen, doch der Strom ist zu Fragmenten gebrochen,380 was durch fremdmedial gefärbte Metaphorik gespiegelt wird: „du opplever det altså som en eneste ramme på en filmrull, et bilde som er kommet i klem mellom linsen og drivverket, et kornete, løsrevet fragment av en dokumentarfilm“.381 Auch sonst werden Eindrücke oft mit solchen Metaphern beschrieben: der Jumbojet sieht aus der Entfernung aus wie ein Trojanisches Pferd;382 das aus Einzelteilen komputierte Waisenhaus scheint David gewachsen zu sein wie „en åpen kode, eller improvisert musikk“;383 die wortlose Begegnung mit dem verführerischen jungen Mädchen erscheint David wie „et liv komprimert til en eneste billedramme“.384 Gleichzeitig enthalten die Fragmente ein reiches Reservoir an ‚Links‘ zu anderen Begebenheiten und Nebenhandlungen, die nicht einmal alle im Roman vorkommen: zu einer Reise nach Berlin, Alexanderplatz; zu seiner Kindheit und zu Emilia; zur zuvor schon angesprochenen Amerika-Reise; zu Erinnerungen an Davids Großmutter; zum Trompetenklang, der später das letzte Trojaner-Programm in Musik-Verpackung einleiten wird. Insgesamt entsteht durch diese sprachliche Umsetzung der Eindruck eines sehr kurz aufflackernden, stark assoziativen Bildgewitters, was sich in Davids eigener Ansicht bestätigt: „alt dette, som har hendt i løpet av et eneste øyeblikk“.385 In der Formulierung wird nochmals die Passivität des Erzählerblicks deutlich, der sich einer achronologischen Optik ausgeliefert sieht, die ferne Räume und Zeiten in Echtzeit zusammenkoppelt. In zwei Motiven verfestigt sich dieser Eindruck noch. Der Bilderstrom „legger seg på øyeeplet ditt i en ørliten pyramide av blod“, und gleichzeitig „ligner vannmerket i storskjermen ditt eget ansikt“.386 Der Verlust der Erzählerautorität manifestiert sich hier sowohl körperlich als auch im nicht länger kontrollierbaren technischen Bild, das nun ‚den Erzähler erzählt‘. Als ein letzter assoziativer ‚Link‘ dieser Episode kommt David ein Text ins Gedächtnis, den er in der bekannten Type mit den hochgestellten ‚t‘ im Netz fand. Der kurze Artikel erzählt die Geschichte einer Mutter, die nach den Anschlägen vom 11. September, die ihr Sohn im Fernsehen mit ansah, diesem am Abend Märchen zu erzählen beginnt, sich jedoch nur noch an Bruchstücke erinnern kann und so eigene „klønete, forvirrende mønstre“ erfindet. Als Rahmenerzählung bedient sie sich der Geschichte von Sheherazade, „for hele tiden handler historiene om mennesker som gjennomlever det umulige, fordi noen fortsetter å 380 Analog zu Benjamins „kaleidoskopischem Blick der Zerstückelung“ der durch das technische Bild beeinflussten Erinnerung (vgl. von Amelunxen 1995, 222) und Wahrnehmung (ebd., 229). 381 Ebd., 152f. Dieses Bild entspricht Virilios Behauptung, dass „das menschliche Gedächtnis eine filmische oder kinematische Funktionsweise“ hat (Virilio 1991, 8). 382 Ebd. Nach dem bekannten Holzpferd des Trojanischen Krieges ist ein Computervirus-Typ benannt, der Programme unbemerkt in fremde Rechner einschleust – über dieses Bild beschreibt David also implizit auch sein Gefühl, der ‚Eindringling‘ in einem fremden Land zu sein. 383 Ebd., 153 384 Ebd., 157 385 Ebd., 158 386 Ebd., 158f. 4.2.3 Entfesselung des Blicks - ein komplexer intermedialer Systembezug 59 fortelle“.387 Nicht nur erfüllt dieser kurze Einschub die schon häufiger genannte Funktion, den Roman selbst als Fiktion erfahrbar zu machen. Ebenso klingt darin die seltsame Erfahrung an, dass die Live-Bilder des 11. September 2001 von vielen wie eine Fiktion gelesen wurden.388 Zudem reflektiert der Abschnitt die Rolle eines Erzählers, der, wie hier zu zeigen versucht wurde, in den vorherigen Abschitten deutlich an Autorität verlor, und dessen Erzählstrategie insgesamt vor allem darin besteht, Material zu sammeln, so dass daraus „en fragmentasrisk rapport“ entsteht,389 und kein homogener Romantext – als formale Spiegelung von Virilios These der „Zunahme der ‚Blickwinkel‘“ durch die „kleinen Fenster“ der Bildapparate.390 Und nicht zuletzt ist die Art und Weise, wie der Abschnitt sich zum Resttext verhält, mit der Problematik von Realität und Fiktion aufgeladen, die typisch für Elemente ‚neuer Medien‘ ist: Er bedient sich, als Symbolisierung der aus Fragmenten mit unterschiedlichen Erzählern zusammengesetzten Erzählstruktur des Romans, eines (auf der Ebene der Erzählung) gefälschten Online-Zeitungsartikels, der die Komputation von Märchen zu einer neuen, fantastischen Geschichte zum Thema hat. In dieser kurzen Passage (neben dem Epilog) ist die Auflösung der Erzählerinstanz, die den Roman kennzeichnet, am deutlichsten zu sehen, verweist also auf eine Technik, die die ganze Erzählung durchzieht. Damit ist sie, zusammen mit dem vorherigen ‚fragmentierten Gedankenstrom‘, ein Beleg für eine Systemkontamination, die kontinuierlich wichtige Merkmale der ‚neuen Medien‘ Internet und (aktive) Computeroptik im Text aktualisiert: das Verschwinden einer alleinigen, dominanten Erzähler-Instanz; die Verwischung der Grenzen von Realität und Fiktion; die assoziative, achronologische ‚Link‘-Struktur des Internets; das Verschwinden von räumlicher und zeitlicher Entfernung in der Echtzeit-Kopplung der „audiovisuellen Vehikel“. Wie an diesen Ausführungen wohl deutlich wurde, scheint eine so kleinteilige Kategorienbildung, wie sie Rajewsky im Fall der „Systemerwähnung qua Transposition“ vornimmt, zwar methodisch gerechtfertigt, aber in der Anwendung nicht sehr praktikabel zu sein. In dem behandelten Beispiel verzahnen sich intertextuelle Bezüge, intra- und intermediale Systemverweise so sehr, dass sie mit der strikten Trennung der verschiedenen Kategorien gar nicht erfassbar wären. Das Beispiel kann daher wohl die zuvor schon getroffene Behauptung bestärken, dass gerade im Fall von intermedialen Bezügen eines Textes zum polymedialen Komplex der ‚neuen Medien‘, die Unpraktikabilität einer derart ausdifferenzierten Kategorienbildung nicht die Ausnahme sondern eher die Regel sein mag. Die hier getroffene, exemplarische Anwendung zeigt aber auch, dass die systematische Trennung Rajewskys 387 Ebd., 159 Dies lag wohl vor allem am Loop-Charakter der Bilder, da der Einsturzvorgang in vielen Nachrichtensendungen im Hintergrund andauernd wiederholt wurde. Zum einen erhalten solche Loop-Sequenzen als Ganze den Status eines einzelnen Bildes, so wie geloopte Klänge nach einiger Zeit als Kontinuum aufgefasst werden (vgl. Preikschat 1987, 144f.). Diese Wiederholungsstruktur ist laut Flusser typisch für die Realitätswahrnehmung schriftloser, „magisch“ denkender Gesellschaften (s. z.B. Flusser 1989, 12f.), aber ebenso für die mündliche Überlieferung z.B. von Märchen, die auch auf Wiederholungen beruht. Darin besteht also ein weiterer innerer Zusammenhang der angesprochenen Märchen-Geschichte in Orakelveggen. Zum anderen hatten die Bilder Ähnlichkeit mit allseits bekannten Katastrophen-Filmen, mit dem Unterschied, dass sie wegen der von Hand aus großer Entfernung gefilmten Amateurvideo-Bilder eher enttäuschend als bestürzend wirkten: „Wir, die von Hollywood Verdorbenen, konnten [...] nur an die atemberaubenden Szenen der großen Katastrophenfilme denken. [...] Das Undenkbare, das geschah, war schon Gegenstand der Fantasie“ (Zizek 2001). Dies wiederum ist ein weiteres Beispiel der Vermischung von Realität und Fiktion, die Peach mit den gefälschten Texten seines Desinformations-Trojaners remington.exe betreibt. 389 Honoré 2002, 14f. 390 Virilio 2000, 24 388 4.2.4 Kontamination des Romans mit Strukturen der ‚neuen Medien‘ 60 terminologisch eine große Hilfe darstellen kann, um die verschiedenen Techniken intermedialer Bezugnahmen eines Textes in ihrer ganzen Komplexität aufschlüsseln zu können. 4.2.4 Kontamination des Romans mit Strukturen der ‚neuen Medien‘ In einem letzten Kapitel soll nun noch an einigen weiteren, die schon genannten Bezüge ergänzenden, vervollständigenden und zusammenfassenden Beispielen gezeigt werden, wie das System der ‚neuen Medien‘ den gesamten Roman in seiner sprachlichen und formalen Struktur kontaminiert. Rajewsky unterteilt auch diese Systemkontamination nochmals: in die Kontamination qua Translation, die kontinuierlich über einen Bezug zu Teilen des fremdmedialen Systems die Makroform dieses Systems simuliert, wobei die Illusionsbildung die narrative Struktur des Textes nachweisbar dekonstruiert; und zweitens in die teilaktualisierende Systemkontamination, bei der medienunspezifische oder deckungsgleiche Elemente kontinuierlich zur Konstitution des Textes mit einbezogen werden. Auch bei dieser Unterscheidung treten in der Anwendung auf Orakelveggen Probleme auf, die vor allem der polymedialen Struktur der Bezugsmedien Computer und Internet geschuldet sind. Als recht eindeutiges Beispiel für den Typ der teilaktualisierenden Kontamination soll eine Bezugnahme auf das Medium Internet genannt werden, die, ohne explizit als solche markiert zu sein, den gesamten Romantext durchsetzt. Ein ‚metaphorisches Feld‘ ist rund um das Wort „stjerne“ auszumachen, dessen verschiedene Bedeutungen und bildhafter Gebrauch in verschiedenen Situationen sich auf vielfältige Weise miteinander vernetzen und Querbezüge im Text erzeugen. Folgt man als Leser diesen Bezügen, so verlässt man notgedrungen die chronologische Leserichtung, die der Text vorgibt, und springt vorwärts und rückwärts in der Handlung. Diese Lesehaltung entspricht nicht mehr dem Nachvollziehen der in den Schriftcode codierten ‚Bedeutung‘ eines Textes, der vom Leser durch das lineare Abtasten der Zeilen entziffert wird – also der linearen Rezeption des „eindimensionalen“, „erzählerischen“ und. „historischen“ Schriftsystems.391 Vielmehr entspricht sie der Rezeption des durch Links zu einem Gewebe verknüpften „Hypertextes“ des Internets,392 der nicht mehr ‚chronologisch‘ gelesen werden kann. Zweitens ist der im Netz lesbare Text stets nur die ‚Oberfläche‘ oder Erscheinung eines zugrunde liegenden codierenden Textes,393 der in einer der zahlreichen Programmiersprachen verfasst ist. Diesen Unterschied reflektiert Orakelveggen explizit, indem Peach die Programmiersprache wie Literatur liest: Det er når jeg går inn bak bildene og leser manuskriptet, HTML-kodene, scriptene, at jeg virkelig ser hvor vakker hun er. Ikke et eneste overflødig tegn, ikke en eneste overlappende kommando. Alt er harmonisk og konsekvent [...].394 391 Vgl. Flusser 1989, 11 Der Begriff des Hypertextes ist etwas problematisch. Einerseits dient er als Bezeichnung von onlineTexten, die untereinander über Hyperlinks zu einem „multisequentiellen Netzwerk von Textblöcken“ verbunden sind. Andererseits beschreibt er im Rahmen der Intertextualität aus literaturwissenschaftlicher Sicht einen auf andere Texte bezugnehmenden Text. Ein alternativer Terminus ist ‚Posttext‘; das Bezugsobjekt wird entweder als ‚Hypotext‘ oder ‚Prätext‘ bezeichnet (s. Rajewsky 2002, 198). 393 Diesen ‚Quelltext‘, wie er meist genannt wird, bezeichnet Flusser, die terminologische Situation weiter verwirrend, als Skript oder wiederum als Prätext (Flusser 1989, 133f.). 394 Honoré 2002, 77 392 4.2.4 Kontamination des Romans mit Strukturen der ‚neuen Medien‘ 61 Mit dieser Rezeptionshaltung läuft er Flussers Behauptung zuwider, dass sich Skripte nicht mehr an Leser richteten, sondern zu einem reinen „Hilfscode“ geworden seien.395 Tatsächlich werden sie im Roman sogar zu Metaphern des Weltverständnisses, wenn David äußert: „Noe er i ferd med å gå galt [...]. Kanskje viste språket seg å være utilstrekkelig. Kodene impotente.“396 Gleichzeitig dient die Programmiersprache Peach dazu, eine neue, klar strukturierte und logische Welt zu erschaffen – wie eine konsequente Anwendung des Foucaultschen Gedankens: „Welt ist nur durch Sprache zu ‚haben‘, wird durch sie nicht etwa repräsentiert, sondern (als diese bestimmte Welt) allererst konstituiert“.397 Diese beiden Eigenschaften des Hypertextes, seine Netzstruktur und sein Oberflächencharakter auf der Grundlage eines Quelltextes, spiegeln sich auch in der Struktur des metaphorischen Feldes rund um den Begriff „stjerne“.398 Einen ‚Knotenpunkt‘ in diesem Netz bildet die schon mehrfach genannte Silicon-Valley-Episode. In der Sandwüste glitzert Silikon „som ligner stjerner“,399 welches als Rohstoff bei der Herstellung von Computerchips wichtig ist. Über diese Assoziation wird die Episode als Flashback Davids auch eingeleitet: „Jeg [...] stirrer ned på sandkassen i bakgården. Regndråpene glitrer, lik stjernene på magikerens duk. Lik silikonstjerner.“400 Nicht nur wird hier metaphorisch die filmisch anmutende Überblendtechnik von einer Miniatur-Sandkasten-Landschaft zur amerikanischen Wüste unterstrichen; der Link verweist zudem auf einen anderen Themenblock: den Illusionisten <magician>. In der imaginären Beschreibung einer besonderen Zaubernummer für <webchild> verwandelt er einen weißen Hengst in ein Einhorn.401 Dieses dient nicht nur als (sexuell aufgeladenes) Symbol in <webchild>s konstruiertem Universum,402 sondern auch für dieses, wenn Peach schreibt: „Webchilds området av nettet får meg til å tenke på Monoceros; stjernebildet Enhjørningen“.403 Die beiden Sonnen im Zentrum des Sternbildes dienen Peach wiederum als Bild für die Beziehung zu seiner Schwester, indem aus den „tvillingssoler“ „tvillingssjeler“ werden. Der Vergleich zwischen Internet und Sternenhimmel wird noch ausgeweitet: auch Oslo ähnelt nachts einer Sternenkarte,404 und die Aussage „stjernehimmelen er opphavet til all vitenskap, [...] utgangspunktet for all moderne teknologi“405 koppelt die Metapher wieder zurück an die Computertechnologie und Silicon Valley. Ausgehend von diesem ‚Strang‘ lassen sich weitere Bezüge innerhalb der Linkstruktur ausmachen. Yoko Ono vergleicht in dem fiktiven Interview ihre Seesterne mit „stjerner på himmelen“;406 in der Geschichte, die Peach zur Fälschung des Artikels inspirierte, geht es um die Reise eines Anthropologen zu einem Südsee-Volk, das sowohl anhand der Sterne als auch anhand der Bewegungen jener leuchtenden Seesterne auf dem Meer navigiert.407 David selbst 395 Flusser 1989, 134 Honoré 2002, 146 397 Winko 1997, 466 398 Zum besseren Verständnis der folgenden Ausführungen s. Abbildung 3 im Anhang, S. 69 399 Honoré 2002, 101 400 Ebd., 97 401 S. ebd., 85f. 402 Vgl. z.B. ebd., 36 und 97 403 Ebd., 189 404 Ebd., 188f. 405 Ebd., 238 406 Ebd., 111 407 Ebd., 238ff. Übrigens lässt sich diese Geschichte wiederum als Kommentar der Erzählsituation lesen, indem David Peach als „min navigatør“ (ebd.) bezeichnet, der ihn nicht auf dem Meer, aber im Netz leitet. Und auch dort, wie in der Denkwelt des Südsee-Volkes, gibt es „Tabu-Orte“ – dort das Paradies verstorbe396 4.2.4 Kontamination des Romans mit Strukturen der ‚neuen Medien‘ 62 beschreibt die zunehmenden Komplikationen der Ereignisse, die ja fast nur auf Träumen, Hoffnungen und Illusionen beruhen, als „fabel“, auf die er sich einzulassen habe, um weiterzukommen: „Jeg må akseptere min nye drømmevevers premisser“.408 Dieser Eintritt in die Netzwelt, zu <webchild>s Homepage auf den Servern von Marie Kammers Firma Zell Media, gelingt ihm mit dem Passwort andromeda, dem Namen eines Sternennebels, auf den sich Prefab Sprouts Liedtitel Andromeda Heights bezieht,409 und darauf wiederum Peachs poetische Beschreibung seines fiktiven Netzortes als „Andromedahøyden“.410 Auch die weiter oben genannten Bezüge zu Star Wars und Star Trek können als Teile des metaphorischen Netzwerks genannt werden, ebenso wie der Vergleich des Theaterraumes mit dem Hyperraum.411 Auch abgerufen wird die popkulturelle Bedeutung von „stjerne“ im Sinne von „superstjerne“, was den Handlungsstrang rund um den Popstar Christina Carrera in das Linknetz eingliedert. Gegen den Willen Marie Kammers werden Christina Brustimplantate aus Silikon eingesetzt, was eine weitere Vernetzung der Silicon-Valley-Episode darstellt. Während der Operation hört Christina im Narkosetraum „Sfærenes musikk. Skimter stjernestøv“.412 Ein letztes Beispiel ist der Roman Byen under stjernene des fiktiven Balkan-Kriegspräsidenten Milo Marovic,413 der als negatives Spiegelbild von Peachs „landskap badet i mild stjernelys“414 verstanden werden kann – mit ähnlichen Auswirkungen bei der Verwirklichung der jeweiligen Utopie: Marovic führt Krieg, Peach wird zum Mörder. Das metaphorische Feld rund um das Wort „stjerne“ ist hier lediglich als ein besonders klares Beispiel angeführt. Andere ‚Netze‘ ließen sich für die Sammlung tektonischer Vokabeln (Verschiebung, tektonische Platte, Riss, Bruch) oder für das Symbol der Wüste im wörtlichen und übertragenen (persönlichen und zwischenmenschlichen) Sinn nachweisen. Die intermediale Funktionsweise dieser metaphorischen ‚Linkstrukturen‘ im Roman ist nur schwer in den Kategorien von Rajewskys Schema erklärbar. Zunächst könnte man ja argumentieren, dass die Bezugnahme eher eine intertextuelle sei, da das Bezugssystem wie der Text selbst dem alphanumerischen Code unterliegt – besonders dann, wenn man den weiten Intertextualitätsbegriff von Kristeva anlegt, der die „dialogische Relation aller Texte untereinander“,415 die Idee von einem komplex verflochtenen Universaltext also, meint. Betrachtet man jedoch Internet-Hypertexte als Bestandteile der ‚neuen Medien‘, so wird die Bezugnahme zu einer teilaktualisierenden Systemkontamination, indem strukturelle Äquivalenzen zwischen bezugnehmendem und Bezugssystem hergestellt werden – der Romantext wird dadurch selbst zu einer Art ‚Quelltext‘ im Sinne der Computer-Terminologie, und die Linkstruktur, die er ‚ausdrückt‘ bzw. codiert, hat der Leser selbst in eine interaktive ‚Oberfläche‘ zu verwandeln, anhand derer er sich kreuz und quer durch den Romantext ‚klicken‘ kann. Auf diese Weise treten thematische und motivische Verbindungen zutage, die bei der ‚normalen‘ Lesart verborgen geblieben wären – etwa die Kopplung von Christina Carner Kinder, im Netz Peachs Versuch, eine ‚heile Welt‘, einen geheimen, perfekten Ort für sich und seine Schwester zu schaffen – ebenfalls die Projektion der Vorstellung von einer ‚ewigen Kindheit‘. 408 Honoré 2002, 181 409 Ebd., 182 410 Ebd., 225 411 Vgl. ebd., 139f. 412 Ebd., 67 413 Vgl. Ebd., 33 414 Ebd., 216 415 zitiert nach Rajewsky 2002, 47 (Texttafel 4) 4.2.4 Kontamination des Romans mit Strukturen der ‚neuen Medien‘ 63 reras Operation an die Simulationswelt des Computers über das Wort „Silikon“, wodurch die Operation des menschlichen Körpers als (unnötig gewordene) materielle Variante der BildKomputationen Marie Kammers lesbar wird. Diese Lesart des Romans als ‚Quelltext‘, so könnte man argumentieren, wird durch den Text selbst nahe gelegt, indem Peach den <webchild>-Quelltext seinerseits wie eine Kunstform mit literarischen Qualitäten rezipiert (s.o.). Gleichzeitig reflektiert der Roman auf diese Weise seine Gebundenheit an den eigentlich streng linearen Schriftcode, sowie die ‚PseudoSchriftlichkeit‘ der Computer-Quelltexte, die nur noch unsichtbare „Vorschriften“416 im Hintergrund sind Außerdem werden so die Probleme deutlich, die durch eine intermediale Bezugnahme des einen Texttyps auf den anderen entstehen: eine Kontamination des sprachlichen Systems, die die gewohnte Lesehaltung unterläuft und so, wie andere genannte intermediale Bezüge auch, die illusionsbildende Wirkung des Textes reflektierend bricht. Die Kontamination des Romans mit Elementen des Systems ‚neue Medien‘ schlägt sich noch auf einige andere Weisen im Text nieder, die sich fast alle im Bezug auf Analysen benennen lassen, die innerhalb dieser Arbeit schon vorgenommen wurden. Beispielsweise wird die Erzählung immer wieder mit Schilderungen von Träumen angereichert, die stets als mediale Erlebnisse beschrieben werden – sei es in der Form von Davids Kino-417 und TheaterTräumen,418 die, wie er selbst rückblickend sagt, nie zuvor „så fargesterke, virkelighetstro“, so filmisch also gewesen seien,419 was sich in jenen Passagen auch in Sprache und Metaphorik spiegelt. Andere traumartige intermediale Bezüge sind weniger eindeutig als solche erkennbar. Hierunter fällt sowohl die schon mehrfach angesprochene Passage, in der Davids halluzinatorisches Großstadt-Erlebnis als das aggressive Einbrechen medialer Rezeptionsmuster in die Alltagserfahrung geschildert wird, wodurch die Grenzen zwischen Realität und Traum / Halluzination / Illusion verwischen.420 Ein weiteres Kapitel kam bisher noch nicht zur Sprache, obwohl es ganz ähnlich verfährt, wenn auch stilistisch konträr und daher mit anderer Wirkung. Eingeleitet von einer Anspielung auf die Terroranschläge in den USA am 11. September 2001 malt sich David auf einer Zugreise ein Katastrophenszenario aus.421 Anstatt jedoch das Unglück ebenfalls als medial geprägten Rausch oder Wahn zu beschreiben, orientiert etwa an der effektreichen Bildsprache von Katastrophenfilmen, ist die Sprache hier betont kühl und sachlich, eine mediale Gewöhnung an die Katastrophe vermittelnd,422 unterstützt noch durch den Wechsel des Erzählerpronomens von „jeg“ zu „du“. Denn: dette er et ukomplisert scenario: Noen (du) er tilfeldigvis et sted hvor det sorte hullet oppstår, det er ikke din feil, ikke en konsekvens av dine valg eller handlinger (om det er en vakker sommerfugl på Bali, et manglende anførselstegn i operativsystemet eller noe så banalt som solslyng vom forårsaket det, er uvesentlig), du forlater deg selv og din trygge, vante verden et øyeblikk for å mestre det umulige, kvantespranget, og etterpå er alt forandret [...]. Enkelt og greit, ingen gråsoner, intet uløselig dilemma. En verden for Peach. En verden for Emilia.423 416 Flusser 1989, 57 Honoré 2002, 205ff. 418 Ebd., 85f., 95ff., 128 419 Ebd., 15 420 S.o., S. 52 f. 421 Honoré 2002, 131ff. 422 Vgl. Virilio 2000, 37 423 Honoré 2002, 133f. 417 4.2.4 Kontamination des Romans mit Strukturen der ‚neuen Medien‘ 64 An diesem kurzen Abschnitt wird einiges deutlich. Zum einen kontrastiert er sprachlich den ‚filmischen‘, emotionsgeladenen Kino-Traum mit einer präzisen, kühlen Sprache, die eher der Natur einer Simulation entspricht, eines programmierbaren „Szenarios“ zu Versuchszwecken, eines von Apparaten kalkulierten Modells.424 Die Machtlosigkeit gegenüber derart automatisierten Verläufen lässt sich mit Davids Situation im Roman vergleichen: fast nie handelt er, sondern reagiert nur passiv auf die katastrophisch verlaufende Situation, in die Peach ihn bringt und am Ende wieder befreit. Die Zug-Katastrophen-Situation und das Gefühl des Ausgeliefertseins an sie ist, folgt man Baudrillard, symptomatisch für das Zeitalter der Simulation: „Weder Handlungen noch Reden noch Verbrechen noch die politischen Ereignisse ziehen wirkliche Konsequenzen nach sich. [...] Man bekommt automatisch Lust [...] auf ein fatales Ereignis“.425 Diese Ereignisse, das erkennt auch David, während er sich nüchtern die Katastrophe ausmalt, haben keinen ‚Grund‘ mehr – und mehr noch: „Nun ist aber das Ereignis, das auch hätte nicht statttfinden können (das ‚reale‘ Ereignis), weniger interessant als jenes, welches keineswegs hätte nicht stattfinden können (das ‚fatale‘ Ereignis)“.426 Diese Ereignisse, so Baudrillard weiter, sind irreal und finden virtuell statt: es sind Medienereignisse, die die Lebenswelt prägen und hyperreal werden lassen wie Davids KatastrophenSzenario: „es gibt keine Akteure und keine Zuschauer mehr, alle sind in dieselbe Realität verwickelt“.427 Dieser Bezug zur (Hyper-)Realität, die mit der Technik der ‚neuen Medien‘ einhergeht, findet in den zahlreichen Traum- und Visionsschilderungen, Flashbacks und Imaginationen durchgängigen Niederschlag im Roman. Zentrale Erkenntnisse ereilen David im Traum, seine Medienerfahrungen schlagen sich in Halluzinationen nieder, das Zug-Szenario spiegelt seine Verwicklung in Geschehnisse, die sich seiner Kontrolle entziehen: „jeg ville blitt sittende fastfrosset, paralysert av tenkbare strategier og valg og selve det umulige i situasjonen“.428 Diese Auflösung des Gegensatzes von real und irreal in der Simulation,429 die in Form der komputierten digitalen Bilder von <webchild> die Handlung erst anstößt, und die in Davids Träumen von der technischen auf die Bewusstseinsebene wechselt,430 beeinflusst die Erzählsituation des Romans durchgängig. Fiktive, ferne Ereignisse wie der Monterbia-Krieg und der Aufstieg der Superstars Christina Carrera werden von einem Erzähler geschildert, der in seiner Körperlosigkeit und annähernd auktorialen Haltung nicht mehr mit der Figur Davids gleichgesetzt werden kann; andere Erzählerstimmen wie die Peachs dringen in den Text ein, auch in Form gefälschter Texte im angeblich realitätsbezogenen Echtzeit-Medium der online-Zeitung; die Rahmenhandlung um Joseph Niépce und seinen Sohn ist als eine Fiktionalisierung der ‚objektiven‘ Geschichtsschreibung zu lesen, die sich im Epilog zudem vollständig von einer erzählenden Figur löst und sich gleichsam selbst erzählt. 424 Flusser 1999, 48 Baudrillard 2000, 182f. 426 Ebd., 184 427 Ebd., 188 428 Honoré 2002, 134 429 Vgl. Baudrillard 1989, 126 430 „Webchild er i drømmene mine hver eneste natt, og jeg har bestemt meg. Jeg må oppsøke henne. Gjennom speilet, over stakittgjerdet og inn i bildet“ (Honoré 2002, 109). Im Inneren der Bilder, die Träumen ähneln, verliert David die Kontrolle: „Det kjennes som om det er noen som overtar historien [...]. Og det er noe som skjer på skjermene. Inne i bildene.“ (Ebd., 171). Die Zug-Episode wäre dann ein gutes Beispiel, wie der Erzähler „grensen mellom drøm og virkelighet“ (Ebd., 216) überquert und die Realitätsebenen sich überschneiden lässt. 425 4.2.4 Kontamination des Romans mit Strukturen der ‚neuen Medien‘ 65 Gleichzeitig zu dieser Automatisierung, die im Roman formal vor allem im Verlust der Erzählerautorität bzw. in der Erzähler-Pluralität431 zu sehen ist, reflektiert das Zug-Kapitel die digitale Verfasstheit einer ‚neuen Realität‘, ihre von naturwissenschaftlichen Gesetzen beherrschte Logik: „kvantespranget“ und Verweise auf die Chaostheorie, die Schilderung des Zugs als „denne høyteknologiske katakomben“, das Bild des Schwarzen Loches, mit dem die vernichtende Kraft der „logiske, lineære begivenheter“ beschrieben wird, verlagern die ‚Entscheidungs‘-Prozesse auf die Ebene physikalischer Gesetzmäßigkeiten – eine Logik, die aus der Welt „en verden for Peach“ macht, eine digitale Entweder/Oder-Welt. Diese Welt ist David seit der Kindheit bekannt. Denn Emilias „Orakelwand“, die dem Roman den Titel gibt, ist eine Art primitive digitale Maschine, die den Kindern Entscheidungen abnimmt und sie, binär codiert, in die Hand des Zufalls legt: „Systemets kjerne var å formulere et spørsmål som bare kunne besvares med ja eller nei [...]. Så ble loddet kastet, om vinteren altså i form av en snøball. Hvis snøballen traff veggen, var svaret ‚ja!‘, hvis ikke var det ‚nei‘. Enkelt og klart, ingen gråsoner; en verden for Emilia“.432 Nicht nur die wörtliche Übereinstimmung des letzten Satzes mit dem Zitat aus der Zug-Episode lässt dieses Kinderspiel als Bild für Davids Verstricktheit in die Geschehnisse erscheinen, die unbeeinflussbaren Mustern folgen. Die Romanstruktur ist also durch die „Rückkopplungsschleife [...] aus Schreiben und Schalten, die wir unsere Gegenwart oder das digitale Zeitalter nennen“,433 kontaminiert, indem die Erzählung ebenso eine Komputation aus Fragmenten unterschiedlicher Herkunft ist wie etwa die <webchild>-Identität, oder wie jedes digitale Bild; indem die Pluralität und Anonymität, die für die Erzählersituation und die sprachstilistische Ebene des Romans beschrieben wurde, digitalen Erzeugnissen stärker anhaftet als materiellen Artefakten; indem typische Strukturen wie die Verlinkung des online-Hypertextes im Internet auf metaphorischer Ebene in den Roman übernommen werden; indem reale, fiktive, simulierte und geträumte Geschehnisse miteinander verschränkt werden, was ein zentrales Merkmal der durch technische Medien vermittelten Wirklichkeit zu sein scheint; indem elektronisch erzeugte und improvisierte Musik als Metapher und strukturell analoges System behandelt wird.434 Diese „im Realen von technischen Medien implementierte Graphie sich selbst aufschreibender Ereignisse“435 ist im alphanumerischen Romantext mit intermedialen Verweisen auf solche „selbstschreibenden“ digitalen Systeme umgesetzt: auf die Lichtschrift der ‚Foto-Graphie‘ und ihre Weiterentwicklung im Film, auf das digitale Bild als ‚Abbild‘ von in Computern codierten ‚Vor-Schriften‘, auf das Internet als virtueller ‚Nicht-Ort‘ ohne ‚Erzähler‘-Instanz, auf den Vorgang des Schreibens selbst, der vom schöpferischen ‚Erzählen der Welt‘ zum reinen Verwalten und Ordnen des ‚Copy & Paste‘ geworden ist.436 „Es ist der Riß einer im Denken 431 Reflektiert wird diese im Roman, wenn David beim ‚Einfädeln‘ der Erzählstränge über Monterbia und Christina von „andre stemmer som tvinger seg inn i samtalen“ spricht (Honoré 2002, 32), oder wenn er äußert: „Min rolle som allvitende forteller er kompromittert“ (Ebd., 171). 432 Honoré 2002, 52 433 Siegert 2003, 11 434 Eine Metapher wird sie in dem Moment, wo David rückblickend Peachs Rolle in der Geschichte und seine Vermischung von <webchild> mit der eigenen Schwester analysiert: „Diskjockeyen spinner, vever og forteller. Mikser rytmene fra to vinylplater. Det vet jeg nå“ (Honoré 2002, 32). Als analog strukturiertes System zieht Honoré selbst die Musik als Vergleich für die Form seiner ersten beiden Romane heran: „De to første romanene var nyjazz/elektronika“ (Holen 2005). 435 Siegert 2003, 14 436 Die emotionslose Haltung dieses neuen Schreibens schildert David so: „Jeg skriver med sorte fonter (Sabon 11 punkt) på en ren, hvit skjerm. Starter øverst i venstre hjørne, klipper, limer, skriver. Fyller skjer- 5 Ausblick 66 der Repräsentation verwurzelten Ordnung der Schrift, der die Passage des Digitalen freisetzt und den Raum der technischen Medien eröffnet“.437 Durch diesen Riß (der Ausdruck ist selbst Teil eines der metaphorischen Netze im Roman, s.o.), den der Text innerhalb seiner selbst öffnet, um sich als gemacht und erdacht erkennen zu geben, dringen die Parameter der technischen Medien ein, um ihn umzustrukturieren. Auf diese Weise kontaminiert das polymediale System der ‚neuen Medien‘ den Roman in seiner Großstruktur, seinen Erzählerinstanzen, seiner Metaphorik und Stilistik. Die Gestalten und Auswirkungen dieser intermedialen Bezüge zwischen Roman und ‚neuen Medien‘ aufzuzeigen, war Intention dieser Arbeit. 5 Ausblick Erik Honorés Orakelveggen ist, wie die Analyse gezeigt hat, ein Sonderfall an Reichhaltigkeit und Komplexität, was seine Strategien der intermedialen Bezugnahme angeht. Zudem geht er mit der Referenz auf technische und digitale Medien in eine Richtung, die mit klassischen Untersuchungen zu Text-Bild- oder Text-Musik-Relationen nicht mehr fassbar ist. Die beispielhafte Anwendung eines Intermedialitäts-Konzeptes, das dieser Komplexität angemessen erschien einerseits, und der Einbezug von Medientheorien in die Analyse andererseits, zeigte zweierlei. Zum einen lässt sich ein literarischer Text auf diese Weise besser als mit herkömmlichem, rein literaturwissenschaftlichem Werkzeug als verflochten mit der kulturellen und medialen Situation seiner Entstehung und Rezeption untersuchen. Zum anderen wurde aber auch deutlich, dass die Feinheit des Analysewerkzeugs bei der konkreten Anwendung an Grenzen stößt, zumal in einer Mediensituation, die von Hybridisierung und Verschmelzung vormals getrennter medialer Bereiche geprägt ist. Gerade indem der Text dies jedoch inhaltlich und strukturell reflektiert, bestätigt er Brüggemanns Vermutung, dass die Literatur der Wissenschaft oft weit darin voraus ist, „den Dialog mit den medialen Wahrnehmungsformen“ aufzunehmen.438 Dies mag als Anreiz verstanden werden, die Bezüge zwischen Literatur und (nicht nur ‚neuen‘) Medien weiterhin und verstärkt in den Blick zu nehmen. Allein für die norwegische Literatur der letzten Jahre ließen sich viele sehr unterschiedliche Gegenstände finden, von Jan Kjærstads enzyklopädischer, achronologischer und bildgewaltiger Wergeland-Trilogie mit ihren Fernsehbezügen, bis hin zu Johan Harstads komprimierter, strukturell und motivisch kunstvoll ‚verlinkter‘ Novellensammlung Ambulanse. Denn wenn das Schreiben, wie Flusser behauptet, immer auch eine Analyse unseres Welt-Bildes mithilfe des Metacodes der Schrift ist, dann erklärt uns die Untersuchung dieser Analysetechnik namens „Literatur“ nicht nur die Texte selbst. Dann kann sie auch etwas darüber aussagen, wie wir uns selbst ein Bild von der Welt machen – sie kann helfen, „über das Schreiben hinauszuschreiben“.439 men, lagrer, fortsetter. De rene tekstdokumentene gir meg en følelse av klarhet, av begrensede redigeringsmuligheter, og det er den eneste måten å samle dette materialet på.“ (Honoré 2002, 14) 437 Siegert 2003, 16 438 Brüggemann 2000, 14 439 Flusser 1989, 157 67 6 Anhang 6 Anhang Abbildungsnachweis Abbildung 1: eigenes Schema, nach Irina Rajewsky 2002, 157 Abbildung 2: www2.oakland.edu/users/ngote/images-full/niepce-balcony.jpg Abbildung 3: eigenes Schema 6 Anhang Abbildung 1: intra- und intermediale Bezüge nach Irina Rajewsky Abbildung 2: fotografischer Blick aus dem Arbeitszimmer von Joseph Niépce 68 6 Anhang Abbildung 3: metaphorisches Feld rund um das Wort stjerne 69 70 Literatur Literatur Agger, Gunhild. „Intertextuality Revisited: Dialogues and Negotiations in Media Studies“. In: Institut for Film og Medievidenskab (Hrsg.). Sekvens 99. Årbog for film- & medievidenskab. Intertextuality & Visual Media. Københavns Universitet, København 1999 Arnold, Heinz Ludwig / Detering, Heinrich (Hrsg.). 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Kampen Records, Oslo 2005 INTERNETQUELLEN www.ballade.no/nmi.nsf/doc/art2005092710472672233005 (Stand vom 30.09.2005) www.dagbladet.no/kultur/2002/08/20/346559.html (Stand vom 12.11.2005) www.debbi.dk/Files/Books/3061or.htm (Stand vom 15.11.2005) www.gerhard-richter.com/art/detail.php?paintID=8003 (Stand vom 6.12.2005) www2.oakland.edu/users/ngote/images-full/niepce-balcony.jpg (Stand vom 12.12.2005) Lebenslauf PERSÖNLICHE ANGABEN Name: Vorname: Geburtsdatum : Geburtsort: Staatsangehörigkeit: Pantel Sebastian 23.11.1979 Wuppertal deutsch AUSBILDUNG Schulbildung: 1990 bis 1999: Erzbischöfliches St.-Anna-Gymnasium Wuppertal Studium: WS 2000/2001 bis SS 2002: Skandinavistik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften und Musikwissenschaften an der Universität zu Köln SS 2002: Zwischenprüfung in Skandinavistik und Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften WS 2002/2003 bis SS 2003: Nordistik und Medienwissenschaften an der NTNU Trondheim / Norwegen als ERASMUS-Student WS 2003/2004: Zwischenprüfung in Musikwissenschaften WS 2003/2004 bis WS 2005/2006: Fortsetzung des Studiums in Köln SS 2006: Magisterprüfung