Das „System Modellprojekte“
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Das „System Modellprojekte“
Sozial Extra 7|8 ’10:14-19 DOI 10.1007/s12054-010-0074-8 Praxis aktuell: Modellprojekte Das „System Modellprojekte“ Von der nachhaltigen Wirkung eines Alibis in der Sozial- und Bildungspolitik Modelleinrichtungen, -projekte und -programme gelten als besonders fachkompetent und als wirksames Instrument zum Anschub sozialer Innovation. Im Idealfall sind sie Feldexperimente zur Effektivierung vorhandener oder Entwicklung und Erprobung neuer Dienstleistungen, Reformkonzepte und struktureller Alternativen im Sozial- und Bildungssektor, um auf der Grundlage der dabei stellvertretend gemachten „vorbildlichen“ Erfahrungen politische Entscheidungen (z.B. neue rechtliche Grundlagen) für das Regelsystem vorzubereiten ( KAUFMANN/SCHNEIDER 1975, 207). Diese Funktionsbeschreibung beruht auf einer von Machbarkeit und Fortschrittsoptimismus geprägten SozialplanungsHelmuth Schweitzer theorie, wie sie unter *1952 dem Stichwort „planned Dr., Diplom-Pädagoge. change“ zu Beginn der Leiter des RAA/Büro 70er Jahren aus den USA für interkulturelle Arbeit der Stadt Essen importiert (dazu kritisch und langjähriger Beirat HERING 1973,15FF und SCHEILvon Sozial Extra. Helmuth.Schweitzer KE 1975 ) und hier inner@raa-interkulturel halb der westdeutschen lesbuero.essen.de Sozialwissenschaft während der Reformperiode der sozialliberalen Koalition im Lichte der Kritischen Theorie für Handlungsforschungsansätze in Modellprojekten weiterentwickelt wurde. Im Unterschied zur Sozialen Arbeit wurden die richtungsweisenden Erkenntnisse aus vielen Modellversuchen im Bildungswesen nur selten ins föderal versäulte und mit der Jugendhilfe kaum vernetzte Regelsystem der Schule übertragen. Der Innovationsbedarf steht hier erst seit PISA 2001 und dem demografisch wie bildungspolitisch bedingten Fachar- beitermangel wegen der integrationspolitischen Notwendigkeiten wieder in der (fach-) öffentlichen Diskussion auf der Tagesordnung ( SCHWEITZER 2009 ). Aktuell ca. 46.400 Google-Einträge zu den Stichworten „Modellprojekt und Soziale Arbeit“ und 43.000 Nennungen zu „Modellprojekte und Sprachförderung“ (Stand 6.7.10) sind sicher kein Beleg für den nachhaltigen Erfolg dieser Innovationsstrategie. Es wäre jedoch zu einfach, den inflationären Gebrauch des Begriffs „Modellprojekt“ in der Sozialen Arbeit und im Bildungsbereich mit dem Hinweis zu erklären, auf dem globalisierten Sozialund Bildungsmarkt seien finanziell nicht abgesicherte Marktteilnehmer gezwungen, sich angesichts der Gleichförmigkeit der routinierten Arbeitsabläufe gegenüber der Konkurrenz als etwas „besonderes“ durch medial verstärkte Selbstinszenierung von konstruierten „Alleinstellungsmerkmalen“ zu behaupten. Zwiespältige Funktion Schon 1974 stellte das Bundesjugendkuratorium (BJK) fest, „dass der Modellbegriff immer dann angewandt wird, wenn ein Sachverhalt nicht hinreichend geklärt, eine öffentliche Förderung sonst nicht möglich oder eine tiefgreifende Änderung von Bedingungen und Organisationsstrukturen nicht gewollt wurde, obwohl die Notwendigkeit dazu deutlich ist. Modelle haben in diesem Zusammenhang eine Alibifunktion für die Vertagung von Reformen. Damit bewirken sie genau das Gegenteil der Intention ihrer Träger oder Förderer: Sie verschleppen und hemmen Innovation statt sie voranzutreiben. Aus diesen Gründen ist zunächst Vorsicht bei der Verwendung des Modellbegriffs geboten“ ( BMJFG 1974, 163 ). Zudem können Experimente „trotz aller wissenschaftlicher Vorbereitung und Absicherung auch negativ ausgehen“ (ebd.). Darüber werde in der (Fach-)Öffentlichkeit kaum berichtet und im positiven Fall sei die Übertragbarkeit in den Regelbetrieb schon aus finanziellen Gründen selten erfolgreich (ebd. 164f). Angesichts der Kluft zwischen sozialem Innovationsbedarf, leeren öffentlichen Kassen für die Regelversorgung auf der einen und fehlender Nachhaltigkeit, ja fragwürdigem Nutzen der zahlreichen „Modelle“ für die Zielgruppe und die Professionellen auf der anderen Seite (vgl. W. Hinte in diesem Heft), drängen sich zwei Fragen auf: • was macht dieses „System Modellpro- jekte“ bis heute so stabil und • wo gibt es Ansätze, die von befristeten Sonderförderungen durch staatliche und/oder private Drittmittel gespeiste und professionell vermarkte Modell-Inflation zu stoppen und tatsächlich messbare Schritte auf dem Wege zu einer nachhaltigen sozialen Innovation zu gehen? Stichworte Modellprojekte, Förderung, Ressourcen, Evaluation, Übertragbarkeit. Nutzen / Das Wichtigste in Kürze Finden die Ergebnisse von Modellprojekten Eingang in die Praxis? Welche Funktion haben Modellprojekte in von Sparzwängen geprägten kommunalen Haushalten? Oft ist der Nutzen von Modellprojekten fragwürdig. 14 Wem nützt ein „Modellprojekt“? Trotz geänderter Modalitäten von Modellvorhaben (z.B. Umfang und Form) ist ihr Nutzen für die beteiligten Akteure während der letzten 35 Jahre relativ konstant geblieben: • Die großen, für soziale Innovation engagierten Stiftungen mit Kapital aus privatwirtschaftlichen Unternehmen haben mit ihrem Konzept von „strategischer Philanthropie“(C. Petry in diesem Heft) häufig eine antizyklisch wirkende Initiativrolle für die Entwicklung staatlicher finanzierter Modellprogramme zu Themen, die (noch) nicht bzw. nicht mehr öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Um ihre „gesellschaftspolitische Jokerfunktion“ (ebd.) zu erhalten, lohnt es sich für diese Stiftungen, Projekte mit kurzer Laufzeit zu fördern. Dafür nehmen sie in Kauf, als Wanderbautrupp wahrgenommen zu werden, der durchs Land zieht, um Leuchttürme aufzurichten und notfalls deren Weiterbetrieb öffentlichen Kassen aufbürdet. • Die großen Träger (Verbände, Kom- munen) und Financiers (Land, Bund, EU, Stiftungen) können durch professionelle öffentliche Inszenierung von Zielen des Modellprojekts (beim „Kick off“) ANDREAS WEISS NORBERT MUSZEIKA KANDIDIERT FÜR DEN GEBIETSBEIRAT SÜDOST IM GELSENKIRCHENER MODELLPROJEKT und seinen (Zwischen-) Ergebnissen (z.B. Handlungsempfehlungen aus „workshops“ und während der Abschlusskonferenz mit Prominenten) zeigen, dass sie ein sozialen Missstand erkannt haben und nun „vor Ort“ etwas dagegen unternehmen (analog zur früheren „Ford“-Werbung „Die tun was“!), ohne die notwendigen strukturellen Veränderungen des Regelsystems anpacken müssen. Die kleinen, auf permanentes Fundraising angewiesenen freien Träger (gemeinnützige Vereine) oder die großen „armen“ Verbände brauchen die Zusatzmittel des Modellprojekts zur Selbstbehauptung in einem zunehmend von Konkurrenz geprägten internationalisierten Bildungs- und Sozialmarkt, so dass die Akquise von immer neuen (Nachfolge-) Projekten als Überlebensspritze wirkt, wenn sich der damit verbundene Aufwand für Beantragung, Lobbying für die Bewilligung und Abrechnung finanziell und ideell „lohnt“. • Die ProjektmanagerInnen können ideell durch Zuwachs an Selbstbewusstsein und Prestige, professionell durch den Kompetenzzuwachs und/oder materiell durch eine höhere Eingruppierung bzw. Zulage gegenüber den übrigen KollegIn- Anzeige 15 Sozial Extra 7|8 ’10 Praxis aktuell: Modellprojekte nen gewinnen. Die überschwängliche Lyrik über die erfolgreiche (Mit-) Arbeit im Modellprojekt in Arbeitszeugnissen eignet sich immer für die berufliche Karriere. Dies gilt auch dann, wenn nach Ende der Finanzierung entweder der befristete Vertrag ausläuft oder im günstigeren Fall für alle MitarbeiterInnen „die Mühen der Ebene“ beginnen, also positive Ergebnisse aus dem „Modell“ – und seien sie noch so gering – in der Institution dauerhaft verankert werden sollen, damit nicht der von KollegInnen manchmal zu Recht herbeigesehnte Arbeitsalltag aus der Zeit vor der Projektförderung wieder einkehrt. • Die externe Evaluation von Modell- projekten – anfänglich eher unspezifisch als „wissenschaftliche Begleitung“ bezeichnet ( KARSTEN/RABE-KLEBERG 1983 ) – dient nicht nur der Legitimation des Projekts gegenüber Träger, Geldgeber und Öffentlichkeit sondern verhilft NachwuchsforscherInnen auch ohne vorherige Kenntnis des Praxisfeldes zumindest zeitweise zu befristeten (Teilzeit-) Arbeitsplätzen am Rande des neuen wissenschaftlichen Prekariats und produziert Imagegewinn für deren Anstellungsträger. Die nicht immer mit brauchbaren Evaluationsinstrumenten ausgestatteten WissenschaftlerInnen profitieren von dem Praxiskontakt häufig mehr als umgekehrt. Sie schreiben den vom Auftraggeber zu genehmigenden, meist positiven Auswertungsbericht, häufig mit Handlungsempfehlungen von in der Regel folgenloser Richtigkeit. Hinzu kommt möglichst die theoretische Aufarbeitung in einem Aufsatz, dessen mediale Verbreitung – zumal heute im Internet – der eigenen Karriere in jedem Fall, d.h. auch unabhängig von den Ergebnissen des Projekts, förderlich ist. An oberster Position in der Hierarchie der Glaubwürdigkeit kann die praxisbegleitende Wissenschaft Probleme bei der Umsetzung des Innovationsprozesses oder sogar ein Scheitern eines Projektes in Übereinstimmung mit den Interessen von Träger und Geldgeber mit relativ wenig Formulierungsaufwand nach außen 16 immer noch als Erfolg darstellen oder sogar daraus Material für eine Doktorarbeit herausziehen. Negativ konnotierte Begriffe werden im Endbericht für den Auftraggeber per Mausklick durch neutral oder positiv besetzte Wörter ersetzt, kritische Sachverhalte nicht „problematisiert“ sondern „thematisiert“ oder ganz gestrichen, „Schwierigkeiten“ erscheinen als „Herausforderungen“ etc. Je höher der der Abstraktionsgrad eines Berichts bzw. Aufsatzes über ein Modellprojekt, je weniger dort die Zielgruppen mit ihren differenzierten Einschätzungen zum Nutzen des Projekts für sie persönlich selbst zu Wort kommen, desto einfacher ist es, sich für die Evaluation weiterer „Modellprojekte“ und im günstigsten Fall für die wenigen Planstellen an Hochschulen zu empfehlen. Junge AkademikerInnen, die bereits in der Schule unzureichend auf eine kritische Berufspraxis vorbereitet wurden, haben die neuen Bedingungen der Wissensproduktion und -Rezeption bereits so weit verinnerlicht, dass sie sich auf der Bühne des „Top-Modellprojekt“-Casting-Geschäfts gar nicht mehr verrenken müssen und erfolgreich Routinen mit entfremdeter Produktion von Pseudo-Wissen (-schaft) entwickeln. • Auch die (Fach-) Öffentlichkeit spielt mit: Vor 30 Jahren wurden kritische Rahmenbedingungen, Prozesse und Ergebnisse der noch seltenen „Modellvorhaben“ notfalls auch unter Pseudonym veröffentlicht ( BEHRENDT/SCHMIDCHEN 1978; MIERENDORFF 1983 ), wenn nach mühseligen Verhandlungen zwischen den Projektträgern, -financiers und Wissenschaftlichem Begleit-Institut und den Autoren des Abschlussberichts dessen VerfasserInnen zähneknirschend die zuletzt ausgehandelte Endversion akzeptieren mussten, um das noch ausstehende letzte Entgelt für die Textproduktion zu erhalten. Heute hingegen führt die erfolgreiche Anpassung des Sozialwissenschaftsbetriebes an die vertraglich akzeptierten Spielregeln der Auftragsforschung im Umgang mit der Nutzung und Verwertung der Ergebnisse selbst „zu wissenschaftli- chen Zwecken“ dazu, dass der mit Information überfluteten (Fach-) Öffentlichkeit und Politik meist gar nicht auffällt, wenn kritische Ergebnisse eines einst publikumswirksam gestarteten Modellvorhabens unter den nicht mehr roten, aber fettiger gewordenen Teppich zu kehren. Im Zweifelsfall ist für eine begradigte Präsentation zwiespältiger Projektergebnisse nicht einmal bewusste Selbstzensur der Begleitforschung notwendig ist. Eine medienwirksame Zusammenfassung unter Anwendung journalistischer Vereinfachungs- und Schönschreib-Techniken erstellt im Notfall die Presseabteilung des Auftraggebers. • Die wachsende Zahl von Modellvorhaben im Sozial- und Gesundheitsbereich und die damit vom Geldgeber verbundene Auflage an den Träger, diese Projekte nicht nur intern – als „vorbildlicher“ Teil von Qualitätssicherungsprozessen in der Regelpraxis (vgl. SOZIAL EXTRA 6/2004, SCHWERPUNKT „PROBLEM EVALUATION“ ) sondern durch scheinbar neutrale Außenstehende evaluieren zu lassen, hat inzwischen auch in Deutschland zur Entstehung einer „Evaluationsindustrie“ geführt. Bis zum Ende der 90er Jahre war die wissenschaftliche Begleitung von „modellhafter Praxis“ noch durch wenige, von institutioneller staatlicher Förderung und Auftragsforschung für Bundes- bzw. Landesregierung und die großen freien Träger abhängige Institute dominiert. Doch diese konkurrieren seit dem Beginn der „Modell“-Inflation im letzten Jahrzehnt zur einem Seite hin mit ( Fach-) HochschullehrerInnen, deren Status zunehmend von der Höhe der eingeworbenen Drittmittel bzw. der (zum Teil damit verbundenen) Zahl von Veröffentlichungen abhängig ist. • Auf der anderen Seite des wachsenden Evaluationsmarkts positionieren sich junge, selbstständig oder in kleinen „Consulting“-Unternehmen tätige NachwuchsakademikerInnen, die meist als MitarbeiterInnen in Modellvorhaben freier oder öffentlicher Träger Projekterfahrung ge- sammelt und dort Grundqualifikationen für das Evaluationshandwerk erworben haben. Trotz ihres Theorie-Praxis-Bezugs sehen sie für sich im Zuge des Abund Umbaus von HochschullehrerInnenKapazitäten in den Sozial-, Bildungs- und Verhaltenswissenschaften selbst mit Promotion keine langfristige Berufsperspektive. Sie wollen sich auch nicht auf die mit einer akademischen Laufplan verbundenen Zwänge des verschulten Lehr- und hierarchisierten Forschungsbetriebs innerhalb und außerhalb von Zitierkartellen einlassen. Diese jungen WissenschaftlerInnen sind – anders als (zusatz-) versorgte HochschullehrerInnen im Öffentlichen Dienst – darauf angewiesen, ihr Grundeinkommen als Wissenschaftsunternehmer durch (Modell-) Projektakquise immer wieder neu verdienen. Sie „hüpfen“ also, vermeintlich selbstbestimmt, als EvaluatorInnen von Projekt zu Projekt. „Modell-Projektitis“ durch Umtopfen Das „System Modellprojekte“ kann in der Regel auf Mobilisierung neuer Arbeitsenergien, positive öffentliche bzw. betriebsinterne Aufmerksamkeit und vor allem Zusatzressourcen (Personal- und/ oder Sachmittel für Beratung, Fortbildung, Reisekosten und Evaluation) bauen, die nach Ablauf der Förderung erheblich reduziert werden oder ganz wegfallen. Dies verstärkt den dargestellten Nutzen eines „Modells“ für die zentralen Akteure: Träger, Geldgeber, Projektmitarbeiter und die Evaluationsindustrie haben deshalb das Interesse dieses System zu erhalten möglichst zu verbreitern. Dies geschieht in mehreren Stufen: Auf der ersten Literatur BEHRENDT, R,/SCHMIDTCHEN, H.(1978). Alltagspraxis im „Modell“-projekt, Über die Schwierigkeiten von Berufsanfängern in der Arbeit mit ausländischen Jugendlichen. IN: Barabas,F./Blanke, T./Sachße, C./Stascheit, U.(Hrsg.) :Jahrbuch der Sozialarbeit 1978.Reinbek. ,123-163 BUNDESMINISTER FÜR JUGEND, FAMILIE UND GESUNDHEIT (HRSG.): (1974). Grundlegende Vorstellungen über Inhalt und Begriff moderner Jugendhilfe, Schriftenreihe des BJFG Bd. 13. Stuttgart. GERBER, P. (2006). Der lange Weg der sozialen Innovation – Wie Stiftungen zum sozialen Wandel im Feld der Bildungs- und Sozialpolitik beitragen können. Eine Fallstudie zur Innovationskraft der Freudenberg Stiftung. Weinheim. HERING, S. (1975). Strategien sozialen Lernens. Veränderungen von Resozialisierungsbedingungen. Düsseldorf KARSTEN, M.-E./RABE-KLEBERG (1983). Modellversuche – nur Moratorien für die Sozialverwaltung? Oder: Zur Ungleichzeitigkeit von Bewegungsprozessen staatlicher Innovationspolitik im Sozialisationssektor. IN: Institut für soziale Arbeit e.V. (Hrsg):(1983): Sozialpädagogische Begleitforschung. ISA Schriftenreihe Heft 9. Münster.,19-35 KAUFMANN, F.X. SCHNEIDER, S.(1975). Modelleinrichtungen – ein Instrument für experimentelle Reformverfahren in der Sozialpolitik ? IN: Neue Praxis 5/1975, 206 -218 KRUMMACHER,M./KULBACH, R.(2009). Interkulturelles Konzept Stadt Essen: Umsetzung, Erfahrungen und Anregungen zur Übertragung. IN: Gesemann, F./Roth, R.(Hrsg): Lokale Integrationspolitik in der Einwanderungsgesellschaft.Migration und Integration als Herausforderung von Kommunen.Wiesbaden.,383-397 MIERENDORFF, U.(1983). Der Bluff. IN: Sozialmagazin Heft 12, 1983, 13-17 SCHEILKE, C.(1975). Innovationstrategien. IN: Charlton,M./Dauber, H./Preuß, O./Scheilke, C.(1975). Innovation im Schulalltag. Reinbek, 232-255 SCHWEITZER, H. (2007). Läßt sich interkulturelle Öffnung in der Kommune steuern? Erfahrungen mit der neuen kommunalen Integrationspoltitk in der der Stadt Essen. IN: Migration und Soziale Arbeit 2.126-137 SCHWEITZER, H. (2009). Integration in lernbehinderten Systemen – Grundlagen kommunaler Bildungspolitik mit Zuwandererfamilien. IN: Mund, P./Theobald, B.(Hrsg): Kommunale Integration von Menschen mit Migrationshintergrund - ein Handbuch. Berlin. 150-172 STADT ESSEN (2007). Überführung von RAA-fi nanzierten Projekten und Maßnahmen des Konzepts für die interkulturelle Arbeit in der Stadt Essen. Drucksache 0377/2007/5 Stufe wird die Laufzeit je nach Richtlinie des Förderprogramms der verschiedenen Geldgeber um ein bis zwei Jahre verlängert wird. Die zweite Stufe ist erklommen, wenn vor Ort eine lange Förderkette für die im Kern gleich gebliebene Innovationsaufgabe geschaffen werden kann: Da eine Projektverlängerung nur im Ausnahmefall möglich ist, schlägt spätestens im letzten Drittel des jeweiligen Förderzeitraums die Stunde der „Gärtner“. Die Projektpartner müssen das „Umtopfen“ der Förderung managen, indem sie dafür sorgen, dass das bisherige Modellvorhaben am besten nahtlos aus dem bisherigen Programm in einen anderen Fördertopf möglichst eines neuen Geldgebers u.U. mit kleinen Zugeständnissen an die jeweiligen Bewilligungsbedingungen, im Idealfall mit dem gleichen Personal mit befristeten Arbeitsverträgen, weitergeführt werden kann. In diesem „Fundraising“Geschäft besteht die Kunst u.a. darin, durch eine an die jeweils aktuellen Ziele/ Zielgruppen und Bewilligungsbedingungen des Geldgebers angepasste Antragslyrik immer wieder den Eindruck zu erzeugen, als würde ein „neues Modellprojekt“ entstehen. Erleichtert wird dies in einem gut funktionierenden Trägernetzwerk, wenn ein Kooperationspartner den neuen Antrag stellt. In der dritten Stufe erschließen größere öffentliche und freie Träger EU-Mittel durch ein professionelles Drittmittelakquise-Management. Angesichts der zahlreichen Aktionsprogramme bzw. Struktur-Fonds aus Brüssel und den Kürzungsnotwendigkeiten in Haushalten von Bund, Länder und Gemeinden gewinnen diese imageträchtigen und voluminösen Fördertöpfe zunehmend an Bedeutung. Zu Beginn muss das eigene Projektinteresse als herzustellendes „Produkt“ in ein Modellgebäude mit der notwendigen „EU– Antragslyrik“ unter Verwendung der jeweils aktuellen „Container“-Begriffe und Darstellung einer professionellen Projektarchitektur mit Meilensteinen zur Zielerreichung und entsprechenden Steuerungsgremien eingebaut werden. Um den geforderten „europäische Mehrwert“ 17 Sozial Extra 7|8 ’10 Praxis aktuell: Modellprojekte Von der interkulturellen „Projektitis“ zur Veränderung der Regelstruktur In der Integrationspolitik werden die Funktionen des „Systems Modellprojekt“ besonders deutlich. In der Praxis des Regelsystems werden Familien mit Zuwanderungsgeschichte bis heute vielfach als „zusätzliche“, noch dazu mit Defiziten behaftete Zielgruppe betrachtet werden, für deren Versorgung und Förderung über das pflichtige Minimum hinaus – zumal in Zeiten von allgemeinem Leistungsabbau – keine Ressourcen „übrig“, sondern im Gegenteil „zusätzliche“ Mittel außerhalb der Regelfinanzierung erforderlich sind. Dazu drei Beispiele, die Schwierigkeiten und Chancen zeigen, diese Strukturen zu verändern: • Am 30.06.2010 hat der Rat der Stadt Essen beschlossen, ihren seit 1975 vertraglich gewährten jährlichen Zuschusses (bis zur Einführung des Euro 182.000 DM, seitdem 182.000 €) an die Universität Duisburg-Essen zur Durchführung des dort organisierten „Förderunterrichts für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund der Sekundarstufen I und II“ ab 1.1.2011 nicht mehr in der bisherigen Weise zu leisten. Vorausgegangen waren dieser Entscheidung dreimonatige heftige Proteste der betroffenen SchülerInnen, studentischen Förderkräfte, Projektmitarbeiter, der kommunalen Migrantenvertretung (Integrationsrat) sowie hinter den Kulissen begleitende Auseinandersetzungen der Vertragspartner und der kofinanzierenden Stiftung Mercator, die seit fünf Jahren mit über 10 Mio. € für die Verbreitung des erwiesenermaßen für alle Beteiligten erfolgreichen Essener Fördermodells in 32 Kommunen mit Hochschulstandorten sorgt: Der empörte Protest verdrängt in diesem Konflikt, dass seit 35 Jahren Essener Sek-I und II-LehrerInnen ihre per Landesgesetz individuell zu fördernden Schüler mit Migrationshintergrund (und nur diese!) 18 mit gutem Gewissen auf Kosten der dafür nicht zuständigen Kommune an den Förderunterricht durch die von der Praxiserfahrung ihrer Stundeten ebenso profitierenden Universität abschieben und damit in Essen das selektive deutsche Schulsystem stabilisieren helfen. Die Stadt Essen hingehen will nun endlich – nach 35 Jahren - aus ihrer finanzpolitisch (durch das Haushaltsdefizit geschuldeten) Not eine bildungspolitische Tugend zur Förderung von sozialer Systeminnovation machen, indem der mittelfristig auslaufende Zuschuss für den Förderunterricht zusammen mit der Universität und der Stiftung Mercator in den nächsten drei Jahren dafür benutzt werden soll, die erfolgreiche individuelle Förderung von Migrantenkindern an der Universität in das Regelsystem „Schule“ zurück zu verlagern. • Im Unterschied zum Förderunterricht an der Universität sind die 1980 ursprünglich in Essen und weiteren sieben Ruhrgebietsstädten ebenfalls als Modellversuch mit Unterstützung von Stiftungen aus der Wirtschaft gegründeten, „Regionalen Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien“ (RAA) 1 von vornherein im Regelsystem verankert. Die inzwischen 27 RAAs in NRW werden in kommunaler Trägerschaft durch die für Schule bzw. Jugendhilfe zuständigen Ministerien in NRW institutionell gefördert. Sie sind als Vermittlungsstellen zwischen Schule, Jugendhilfe und Elternhaus angelegt, indem sie die für eine gelingende Bildungsbiografie verantwortlichen Regelinstitutionen von der Elementarerziehung bis in die Berufsausbildung sozialraumorientiert dabei unterstützen, sich auf die Realität in der Einwanderungsgesellschaft vorzubereiten. Ihren Erfolg verdanken sie zum einen der über 25jährigen Projekt orientierten Unterstützung durch die Freudenberg Stiftung (Gerber 2006 und C. Petry in diesem Heft), zum anderen der eigenen Organisationsentwicklung als lernendes System und regionale Innovationsagentur für die interkulturelle Öffnung des Schul- und Jugendhilfessytems vor Ort: Ihre ursprünglich nur auf ausländische Familien bezogene Konzeption ist inzwischen im Leitbild der staatlich-kommunalen Verantwortungsgemeinschaft für die lokale Bildung in der Einwanderungsgesellschaft verallgemeinert (vgl. www.lernen-vor-ort.de). • Mit dem von der Essener RAA/Büro für interkulturelle Arbeit verwalteten kommunalen Sonderfonds zur Umsetzung des 1999 einstimmig vom Rat beschlossenen „Konzepts für die interkulturelle Arbeit in der Stadt Essen“ (IKK) steht trotz 1,5 Mrd. € kommunalem Haushaltsdefizit seit mehreren Jahren ein Innovationstopf in Höhe von zeitweise 1,8 Mio. € (inzwischen per Ratsbeschluss jährlich 1,3 Mio. €) zur Verfügung. Damit werden im Rahmen eines – im Jahre 2007 auch extern evaluierten – Modells strategischer Steuerung kommunaler Integrationspolitik ca. 55 in der Regel mehrjährige Integrationsmaßnahmen gefördert, die von einer aus Politik, Verwaltung und nichtstädtischen Akteuren bestehenden Steuerungsgruppe als „interkulturell“ und „modellhaft“ anerkannt sind ( SCHWEITZER 2007; KRUMMACHER/KULBACH 2009 ). Anfangs haben die deutschen RegeIinstitutionen erfolgreich versucht, ihre Haushalte für die „neue“ Zielgruppe der seit Jahrzehnten hier lebenden Familien mit Zuwanderungshintergrund zu schonen und für „Modellmaßnahmen“ Zusatzmittel aus dem IKK-Innovationstopf zu erhalten. Dennoch ist es seit vielen Jahren nach der Anschubfinanzierung gelungen ist, erfolgreich erprobte Projekte in die Steuerungs- und Finanzverantwortung der Regeldienste zu überführen ( STADT ESSEN 2007). Doch verstärkt durch die dramatische Haushaltslage und die damit notwendige Deckelung des IKK-Sondertopfes ist inzwischen bei allen Verantwortlichen die Einsicht gewachsen, dass die Mehrzahl der daraus inzwischen lang- jährig finanzierten Maßnahmen nach deren positiver Evaluation entweder im Rahmen einer „interkulturellen Personal- und Organisationsentwicklungsstrategie“ (ebd. 2) nach höchstens zwei mal drei Jahren IKK-Förderung vollständig als Produkt der Regeldienste in deren Haushalt übernommen werden muss. Andernfalls – wenn die dafür notwendige Prioritätenverschiebung und Umstrukturierung in Verwaltung und Politik nicht durchsetzbar sind – wäre die Sonderförderung beendet. Längst „überführungsreif“ sind vor allem die interkulturelle Elternbildung und Sprachförderung durch mehrsprachige Stadtteilmütter nach dem „Rucksack-Konzept“ in Kombination mit Fortbildung und Organisationsentwicklung für zwischen 60 Kita-Teams, zumal deren nachhaltige Wirkung auf die interkulturelle Öffnung der Familienbildung und der Elementerziehung in Essen erwiesen ist ( STADT ESSEN 2009 ). Versuche von interessierter Seite, die zur Überführung in den Haushalt des Jugendamts benötigten Mittel durch eine dauerhafte Beschneidung des IKKInnovationstopfes zu ermöglichen und damit der interkulturellen Organisationsentwicklung auszuweichen, kamen bislang dank standfester Haltung der Integrationspolitiker in der Steuerungsgruppe nicht zum Zuge. In den nächsten Monaten wird sich zeigen, wieweit die Politik unter dem Druck immer neuer Anträge auf „Modellförderung“ bei gleichzeitiger Verschärfung kommunalen Haushaltsdefizits dafür sorgt, das im Konsens im Jahre 2007 Jahre beschlossene Konzept für die Umsetzung interkultureller Innovationsprozesse für die Regeldienste umgesetzt wird. ∑ Anmerkung 1 ursprünglich regionale Arbeitsstellen zur Förderung von ausländischen Kindern und Jugendlichen (sprich: der Nutzen für das Zusammenwachsen der EU und die Übertragbarkeit der Erfahrungen des Modellprojekts auf andere Mitgliedsstaaten) sowie nachhaltige Wirkungen plausibel zu machen, reicht es in der Regel aus, die Ergebnisse auf internationalen Konferenzen vorzustellen, dazu eine Handreichung oder CD zu erstellen und ins Internet zu stellen. Bei den deutschen Projektpartnern besonders beliebt sind natürlich solche EU– mehrjährigen Programme, die mehr Ressourcen bringen als sie kosten. Dazu müssen sie die Verrechnung des notwendigen Eigenanteils des Trägers durch bereits vorhandene Personal- und Sachkosten erlauben und damit Ressourcen für die Akquise weiterer EU-Mittel erschließen. Erleichtert wird das Geschäft, wenn die Hauptarbeit der Antragstellung, Organisation und Abrechnung einem anderen („führenden“) EU–Partner überlassen werden kann und nicht mehr als die erforderlichen Partner aus drei Staaten mit möglichst deutsch oder englisch sprechenden Kontaktpersonen mitwirken. Der ganze Aufwand „lohnt“ sich für manche TeilnehmerInnen und Projektverantwortlichen in der Steuerungsgruppe schon, wenn die EU-Mehrwert-Schaffenden aus Deutschland durch das Projekt im Ausland auch in touristisch interessante Regionen kommen, so dass die Dienstreise mit einem Urlaub und/oder informellen dienstlich-privaten Kontakten zur Planung transnationaler Umtopfaktionen für die Akquise weiterer EU–Mittel verbunden werden kann. Fehlende Übertragung in die Regel Unabhängig von der Finanzierung wirken selbst erfolgreiche Modellvorhaben nur selten nachhaltig auf den Umbau der Regelpraxis. Dies liegt nicht nur an der desolaten Finanzlage der öffentlichen Hand. Beispielsweise sind die Kommunen der Ruhrregion seit über zwei Jahrzehnten mit wachsenden, strukturell vergleichbaren Haushaltsdefiziten konfrontiert. Und trotzdem ist es in Gelsenkirchen – im Unterschied zu Essen oder gar zu Duisburg – mit zentraler politischer Unterstützung durch die Verwaltungsspitze gelungen, den integrierten Stadtentwicklungsansatz des Modellprogramms „Soziale Stadt“ in den Regelstrukturen der Kommune zu verankern – wenn auch mit weniger und ehrenamtlichen Ressourcen (s. Schneider und Rommelfanger/Sauter in diesem Heft). In Essen hingegen ist ein entsprechendes Konzept zwar schon seit 20 Jahren mehrfach zu Papier gebracht worden, hat aber in dieser Zeit nicht die notwendige politische Priorität erhalten und steht immer noch im Schatten nicht im Stadtteil integrierter „Leuchtturmprojekte“: Das „Weltkulturerbe Zeche Zollverein“ in Essen-Katernberg verdunkelt den Blick auf den notwendigen Ressourceneinsatz in diesem und erst recht in den großen Nachbarstadtteilen. Das kommt die Kommune – insbesondere nach dem Stocken der Drittmittel als Energiezufuhr für das Leuchtfeuer zum Ende des Kulturhauptstadtjahres – ab 2011 teuer zu stehen. In Duisburg waren die seit 20 Jahren von Landes-, Bundes- und EU-Förderung in dreistelliger Millionenhöhe abhängigen Stadtteilentwicklungsprojekte konzeptionell von Beginn an nicht darauf angelegt, die Regelstrukturen der Verwaltung so nachhaltig umzubauen, dass die EinwohnerInnen – über 50 % mit Zuwanderungshintergrund – durch den gemeinsamen Aufbau langfristig auch interkulturell tragfähiger Beteiligungsformen für die Gestaltung einer lebenswerten Nahwelt aktiviert wurden. Nach Wegfall der kommunalen Finanzspritze muss das hoch gepriesene internationale Stadtteilfest in Duisburg-Marxloh ausfallen, weil die Kommune keine interkulturell und politisch tragfähigen zivilgesellschaftlichen Strukturen gefördert hat, die die benötigten 8.000 €, z.B. aus dem Kreis aller lokalen Gewerbetreibenden, akquirieren könnten. Die mit Kundschaft aus ganz Europa werbenden türkischen Brautmodegeschäfte vermarkten sich lieber mit einer Modenschau im Rahmen des Kulturhauptstadtspektakels „Still-Leben Ruhrschnellweg“ auf der dafür für einen Tag zwischen Duisburg und Dortmund gesperrten A 40. s 19