Sorites-Paradoxien
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Sorites-Paradoxien
Sorites, Vagheit und Wittgenstein -Wittgensteins Spätphilosophie und das Problem der Vagheit in der SpracheVon Michael Stauch April 2006 Inhaltsübersicht 1. Einleitung ………………………………………………………………. S. 3 2. Soritesparadoxien: Ab wann ist klein klein? 2.1 Beispiele solcher Paradoxien ….…………………………..……….. S. 4 2.2 Die Logik hinter den Sorites………………..……………………….. S. 4 2.3 Strategien des Umgangs……….. …………………………………… S. 6 3. Vagheit- Unbestimmtheiten in unserer Sprache? 3.1 Der Begriff Vagheit………………………………………………….. S. 6 3.2 Lösungsansätze im Schema Selbst-Sprache-Welt …………….......... S. 8 4. Wittgenstein – Vagheit als Bestandteil unserer Sprachspiele 4.1 Von der Perspektive Gottes zum Sprachspiel..……………………… S. 11 4.2 Sprachspiele und Regeln ………………………………………….... S. 12 4.3 Farbparadoxien und ihre Besonderheiten – An der Grenze zwischen Logik und Empirie…………………………………………………… S. 14 5. Schlußbemerkungen……………………………………………………… S. 20 6. Anmerkungen und Literaturverzeichnis ………………………………… S. 22 -2- 1. Einleitung Stellen wir uns folgende Situation vor: Zwei Personen wollen Tapete in einer bestimmten Farbe kaufen. Die eine steht im Baumarkt vor einer Tabelle mit Farbmustern, die andere telefoniert mit der ersten und hat das gleiche Muster vor sich. Beide wollen eine orange Tapete, doch das Muster zeigt ein ganzes Spektrum von Gelb- bis Orangetönen, die zur Auswahl stehen. Wie sollen die beiden Personen sich verständigen und sich auf eine Farbe einigen? Stellen wir uns weiter vor, beide Personen einigen sich auf den ersten Ton des Spektrums, der nicht mehr gelb ist. Werden nun beide auf die gleiche Farbe weisen? Ab wann ist Gelb nicht mehr Gelb, wenn die Mustertabelle ein so feines Spektrum zeigt, daß kleine Unterschiede kaum noch wahrnehmbar sind? Woher wissen beide, daß sie vom gleichen Farbton sprechen? Dieses Beispiel ist ein nicht (mehr) ganz realistisches. Baumärkte haben das Problem gelöst, indem sie unter dem jeweiligen Ton einen Zahlencode stehen haben, auf den sich unsere beiden Telefonierenden berufen können. Doch dieses Beispiel ist tieferliegender und von philosophischer Bedeutung. Dahinter steht das Problem vager Worte in unserer Sprache. Unser Begriff vom Gelben scheint unter kleinen Veränderungen in gewisser Hinsicht stabil zu sein. Das historische Beispiel für einen vagen Begriff ist „Haufen“. Wie viele Körner Reis beispielsweise machen einen „Haufen“? Auch der Begriff „Haufen“ scheint bezüglich der Änderung der Körneranzahl stabil. Aus solchen Begriffen lassen sich Paradoxien entwickeln, die scheinbar zeigen, daß nichts Orange ist, und eine Million Körner keinen Haufen bilden: die sogenannten Soritesparadoxien1. Diese sind in letzter Zeit vieldiskutiert und reichen in viele Felder der Philosophie, beginnend mit der Logik, über Sprachphilosophie bis hin zu Ethik und Rechtsphilosophie. Der vorliegende Text möchte diese Paradoxien vorstellen. Dabei sollen aus der logischen Formulierung des Problems und dessen Präzisierung mögliche Lösungsansätze dargestellt werden. Daraus soll der Begriff der Vagheit als ein Phänomen in unserer Sprache besprochen werden, der sich als zentral bei der Besprechung der Soritesparadoxien erweist. Diese Lösungsansätze sehen Vagheit zumeist als einen bestimmten Mangel an. In einem weiteren Teil dieser Arbeit möchte ich, ausgehend von Wittgensteins später Philosophie einige Antworten auf die Vagheitsproblematik geben. Zunächst soll Wittgensteins Auffassung von unserer Sprache dargelegt werden, kontrastiert zum „governing view“ auf unsere Sprache, wie ihn Crispin Wright beschreibt. Im Blickpunkt der Betrachtung sollen die Farbparadoxien stehen, ähnlich dem obigen Beispiel. -3- Dieser Text kann und will nicht die einzelnen Ansätze bis ins Detail aufzeigen und logisch diskutieren. Vielmehr möchte ich systematisch die verschiedenen möglichen Antworten auf die Vagheitsproblematik aufzeigen. Mein Ziel ist es, Vagheit nicht als Mangel, sondern als notwendigen Bestandteil unserer Sprachspiele zu beschreiben. Ich denke, „die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“ [Wittgenstein, PU 109] beginnt bereits mit den Worten „Vagheit“ bzw. „vage“, welche bereits den Mangel suggerieren. 2. Soritesparadoxien: Ab wann ist klein klein? 2.1 Beispiele solcher Paradoxien Bereits in der Antike kannten Denker solche Paradoxien. Der damals bereits bekannten Haufenparadoxie verdankt diese Klasse von Paradoxien ihren Namen: dem griechischen Wort für Haufen: soros. Ein Korn ist noch kein Haufen. Wenn ein Korn kein Haufen ist, so sind es auch keine zwei. Wenn zwei keinen Haufen bilden, dann auch keine drei. Usw… Also sind tausend Körner kein Haufen. Die letzte Aussage ist jedoch widersprüchlich, denn jeder würde doch sagen, daß tausend Körner einen Haufen bilden. Hierin steckt also die Paradoxie. Einen Fötus, der einen Monat alt ist zu töten, ist moralisch falsch. Zu jedem Zeitpunkt im Leben des Fötus macht eine Sekunde keinen Unterschied in unserer Entscheidung der moralischen Falschheit. Also müssen wir schließen, daß es zu jedem Zeitpunkt moralisch falsch ist, einen Fötus zu töten. Bis zum dritten Monat jedoch darf man den Fötus abtreiben. Hierin steckt ein Problem. Ein Mensch der 190cm mißt, ist groß. Ein Mensch der 152cm mißt, ist nicht groß. Also muß es eine bestimmte Zentimeterzahl geben, an der ein Übergang von groß zu nicht groß vollzogen wird. Dies ist jedoch widersprüchlich, da es eine solche Grenze in unseren Größenzuschreibungen nicht gibt. Dies sind nur drei von zahlreichen Beispielen von Soritesparadoxien. Jedes ist in einer leicht anderen logischen Form präsentiert, welche zu erläutern, Ziel des folgenden Abschnitts ist. 2.2 Die Logik hinter den Sorites2 Zunächst stehen am Anfang jeder Soritesreihe zwei kategorische Prämissen. Im ersten Beispiel ist das: „Ein Korn bildet keinen Haufen“ und „Ein Tausend Körner bilden einen Haufen“. Diese Prämissen sind unmittelbar aus dem Gebrauch unserer Sprache klar, d.h. kein kompetenter Sprecher würde sie bestreiten. Wenn wir das Prädikat3 mit F() bezeichnen, dann lassen sich diese kurz durch F(a1) bzw. ~F(a1000) schreiben. Weiterhin gibt es konditionale Prämissen. Sie besagen, daß beim Übergang von einer Instanz zur nächsten keine Änderung -4- in der Prädikatzuschreibung stattfindet (Wenn zwei Körner keinen Haufen bilden, dann auch keine drei…). Die Prädikate sind tolerant bezüglich kleiner Veränderungen, deshalb werden die konditionalen Prämissen zusammenfassend auch als Toleranzprinzip der Soritesprädikate bezeichnet. Auch die Toleranz als plausibel anzunehmen, scheint nicht bestreitbar, ein Korn Unterschied macht eben keinen solchen bei „Haufen“. Schließlich führt mehrmalige Anwendung des modus ponens auf die Prämissen zur Konklusion, die im Widerspruch zur zweiten kategorischen Prämisse steht. Formal können wir also schreiben: (a) (1) (1’) (2) (3) F(a1) ~F(a1000) F(a1) => F(a2) F(a2) => F(a3) … (1000) F(a999) => F(a1000) (K) F(a1000) & ~ F(a1000). (kategorische Prämisse 1) (kategorische Prämisse 2) (konditionale Prämisse) (konditionale Prämissen) (konditionale Prämisse) (Konklusion) In der Konklusion steckt dann die Paradoxie: aus annehmbaren Prämissen folgt eine nicht akzeptable Schlußfolgerung, denn sie widerspricht dem Bivalenzprinzip der klassischen Logik. Etwas kürzer läßt sich eine Soritesreihe wie folgt formulieren: (b) (1) F(a1) (2) Für alle n: F(an) => F(an+1) (K) Für alle n: F(an) (c) (1) F(a1) (2) Nicht für alle n: F(an) (K) Es ex. ein n: F(an) & ~F(an+1) Die Formulierung in (b) ist die kürzere Form von (a), in der die einzelnen konditionalen Prämissen in (b2) aufgehen4. Die Formulierung in (c) zeigt, daß es eine Grenze in der Prädikatenzuschreibung geben muß. Alle Konklusionen sind jedoch contraintuitiv, gemessen an vorangegangenen Beispielen, die jeweils einer Formulierung entsprechen. Weder ziehen wir eine klare Grenze bei der Körneranzahl beim Prädikat Haufen (c), noch würden wir sagen, daß tausend Körner keinen Haufen bilden (a), geschweige denn, daß es keine Haufen gibt (b). Da es Kornansammlungen gibt, die wir Haufen nennen, und welche, die noch keinen Haufen bilden, muß es eine Grenze geben, doch offenbar widerspricht jede konkrete Grenze unserer Intuition. Zunächst können wir einige Eigenschaften festhalten, die Begriffe haben müssen, um soritesanfällig zu sein: es müssen klare Zuschreibungen machbar sein, was unter den Begriff fällt, und was nicht. Die Begriffe sind tolerant bezüglich gewisser Veränderungen und klare Grenzen sind nicht vorhanden. Doch bevor ich diese Eigenschaften mit dem Begriff der Vagheit konkretisiere, möchte ich die Strategien darstellen, wie man mit den Sorites umgehen kann. Sie sind schließlich eng mit dem Umgang mit Vagheit verbunden. -5- 2.3 Strategien des Umgangs In der Literatur tauchen, soweit ich sehe, vier Antwortmöglichkeiten auf. Eine erste Möglichkeit, auf die Paradoxien zu reagieren, ist, ab einen bestimmten Punkt in Stille zu verfallen und die Antwort zu verweigern, wie es der antike Philosoph Chrysippus vorgeschlagen hat. Hierbei stellt sich jedoch die Frage, an welcher Stelle wir Stille walten lassen sollten - eine klare Grenze wäre auch hier wider die Intuition. Darüber hinaus ist das eine geistig unbefriedigende Antwort, denn der Stillebereich rückt ins Mysteriöse, Unbekannte. Weiterhin bleibt die Möglichkeit, Sorites teilweise oder komplett zu akzeptieren. Es ist schlicht ein Bestandteil unserer Sprache, daß bestimmte Worte soritesanfällig sind. Andererseits wäre auch eine epistemologische Akzeptanz möglich, d.h. es ist uns einfach kognitiv nicht möglich, konkret eine Grenze anzugeben. Hierbei ist jedoch zu klären, warum wir uns verständigen können, wenn ein Teil unserer Begriffe für uns unbestimmt ist. Die dritte Variante ist, Lehren aus den Paradoxien zu ziehen, und unsere Begriffe soweit zu konkretisieren, bis eine soritesfreie Sprache möglich ist. Schließlich kann man den Gedankengang ablehnen. Entweder einige oder alle Prämissen sind falsch, oder die logische Schlußweise ist nicht adäquat für solche Begriffe. Bei dieser Reaktion stehen jedoch fundamentale Elemente der klassischen Logik, wie das Bivalenzprinzip oder der modus ponens zur Disposition. Jede dieser Antworten braucht jedoch vorher eine konkretere Untersuchung der Natur dieser „vagen“, soritesanfälligen Begriffe. 3. Vagheit - Unbestimmtheiten in unserer Sprache? 3.1 Der Begriff Vagheit Betrachtet man obige Paradoxien, so scheint es Begriffe zu geben, für die gilt: „Die Natur der Dinge hat uns keine Kenntnis von Grenzen zur Verfügung gestellt, so daß wir festlegen könnten, wie weit wir gehen können - nicht nur im Falle von Haufen…“[Cicero, zit. nach Barnes S. 34]. Vagheit ist ein Phänomen unseres sprachlichen Umgangs mit der Welt, bei dem Begriffe intrinsisch Grenzfälle zulassen, d.h. Fälle, in denen wir nicht wissen, ob ihre Anwendung richtig oder falsch ist, bzw. bei denen wir nicht wissen, ob wir den Begriff anwenden wollen oder nicht. Intrinsisch meint hierbei, daß eigentlich genügend Information zur Verfügung steht, um eine Anwendung zu ermöglichen, es also am Begriff selbst liegen muß. Hierbei können Prädikate vage sein, z.B. „rot“, „Haufen“, „Kind“, „moralisch legitim“, es können Bestimmungswörter wie „sehr“ oder „morgen“ sein, oder aber singuläre Terme, wie -6- „Mount Everest“, „Küste von Schottland“. Alle diese Begriffe haben eine gewisse Toleranz bezüglich Veränderungen einer bestimmten Eigenschaft oder, wie Crispin Wright schreibt, bezüglich eines bestimmten Konzepts zu dem Begriff. Beispielsweise ist Anzahl der Körner ein Konzept zum Prädikat Haufen, Farbe zu Rot. Zu dem Konzept K des vagen Prädikats F gibt es ein Objekt, welches F bzgl. K erfüllt und eines, das dies nicht tut. F ist dann gegenüber kleinen Änderungen bzgl. K tolerant, d.h. die geringen Änderungen in K ändern nichts an der Zuschreibung von F. Es gibt also Bereiche, bei denen wir klare Zuschreibungen machen können - die positive und negative Extension des Prädikats - und einen Schattenbereich, wo dies nicht möglich ist - die Penumbra des Prädikats. Vagheit ist also eine bestimmte Form der Unwissenheit. In einem bestimmten penumbralen Bereich des Begriffs bezüglich eines Konzeptes wissen wir schlicht nicht, ob wir den Begriff anwenden sollten. Irgendwo in diesem Bereich muß die Grenze liegen. Doch die Unwissenheit liegt noch tiefer. Bei vagen Prädikaten wissen wir nicht einmal, wo die Grenze anfängt, d.h. es gibt Grenzfälle von Grenzfällen, die sogenannte höherstufige Vagheit. Daß diese notwendig ist, zeigt ein Beispiel Sainsburys. Definieren wir beispielsweise mit Haufen1 jede Ansammlung von Körnern, mit mehr als 47 und als nicht-Haufen1 jede, mit weniger als 43. So liegen alle 45-körnigen Ansammlungen im Grenzbereich und dieser ist klar begrenzt. Doch hier würden wir auf eine ungenügende Definition schließen. Der Mangel besteht darin, daß mit Haufen1 nichts über den Bereich von 44 bis 46 Körnern gesagt ist. Im Gegensatz dazu wissen wir nicht, ab welcher Kornanzahl wir über Haufen sprechen, bzw. wir überhaupt die Grenze der Unbestimmtheit festlegen würden. Vagheit ist dabei klar zu unterscheiden von Mehrdeutigkeit und Relativität. Wenn ich zu jemandem sage, er solle mir eine Bank zeigen, dann kann man die Mehrdeutigkeit von „Bank“ ausräumen, indem man präzisiert, ob es sich um ein Geldinstitut oder eine Sitzgelegenheit handelt, auf das verwiesen werden soll. Auch Relativität kann bei Vagheit nicht gemeint sein. So kann zwar ein 1,50m großer Mensch klein sein, aber groß relativ zu Kleinwüchsigen in Mitteleuropa männlichen Geschlechts. Doch wie weit die Präzisierungen auch reichen, die Vagheit von groß (bzw. klein) bleibt auch in diesen erhalten. Ich habe oben geschrieben, daß Vagheit ein Phänomen unseres sprachlichen Umgangs mit der Welt ist. Nimmt man das Bild an, das auf der einen Seite das Selbst, auf der anderen die Welt und als Zwischenglied, quasi als Vermittler die Sprache steht, so kann man den Ursprung von Vagheit auf jedes dieser drei legen. Vagheit kann als ein Unvermögen bei uns selbst gesehen werden. In der Welt gibt es scharfe Grenzen, wir sind mit unseren Wahrnehmungsfähigkeiten nur nicht in der Lage, sie zu bestimmen. Macht man Vagheit auf -7- Seite der Sprache fest, so haben wir unsere Begriffe nur noch nicht ausreichend definiert, prinzipiell sind wir in der Lage, dies zu tun, weil es scharfe Grenzen gibt und wir sie auch wahrnehmen können. Will man soweit nicht gehen und die Begriffe ausdefinieren, so bleibt auf dieser Seite nur die Suche nach einer Logik der Vagheit, welche die Soritesparadoxien vermeidet. Schließlich muß derjenige, der Vagheit in den Rücken der Welt legt, von vagen Gegenständen sprechen. Vagheit liegt einfach in der Natur der Dinge, über die wir sprechen. Die Gegenstände geben keine Information wo die Grenze liegt, weil es diese nicht gibt. Damit wären wir wieder am Anfang bei Cicero, und der Verweigerung der Welt, uns Informationen über die Grenzen zu geben. Natürlich kann man auch Vagheit auf mehrere Punkte legen, doch Bedarf der Klärung bleibt. Obige Sichtweisen haben jedoch eines gemeinsam: sie intendieren Vagheit als Mangel, als epistemologischen, als sprachlich-logischen oder als ontologischen. Alle diese Optionen stehen in der Pflicht, aus welcher Perspektive, d.h. von welchem Standpunkt aus, sie Vagheit beschreiben und vermeiden wollen. Ein Mangel ist nur aus der Kenntnis der Vollständigkeit, bzw. deren Möglichkeit zu sehen. D.h. alle schulden einen gewissen Einblick in die Mangellosigkeit. Im folgenden Abschnitt möchte ich einige dieser Optionen näher beschreiben und andeuten, inwieweit die Ansätze diese Pflicht erfüllen oder nicht. 3.2 Lösungsansätze im Schema Selbst <-> Sprache <->5 Welt Auf der Seite des Selbst ist die epistemische Theorie zu nennen, wie sie von Timothy Williamson vertreten wird. Demnach ziehen vage Begriffe in ihrer Semantik scharfe Grenzen. Die Unwissenheit der Grenzen rührt aus einer Beschränkung unserer kognitiven Mechanismen, d.h. unserer Sinnesfähigkeiten, diese Grenzen wahrzunehmen. Die Soritesparadoxien sind also von den Prämissen her abzulehnen. Nicht jede der konditionalen Prämissen ist richtig, es gibt einen Grenzpunkt in der Semantik der vagen Begriffe, irgendwann gilt die Toleranz bzgl. des Konzepts des Prädikats nicht mehr. Es gibt das Korn, welches die bloße Ansammlung von Körnern zu einem Haufen macht, d.h. es gilt nicht für alle n: F(an) => F(an+1). Jemand, der die epistemische Theorie vertritt, müßte also auch die Verifikationstheorie der Bedeutung mindestens in den Grenzfällen ablehnen. Da vage Begriffe wie exakte funktionieren, können klassische Logik und Semantik erhalten bleiben6. Das Problem der epistemischen Theorie ist, daß sie Grenzen postuliert, bei denen es uns prinzipiell nicht möglich ist, sie zu explizieren. Sie stellt sich auf eine Position außerhalb unserer Sprache und vertritt ihrerseits eine Perspektive, die prinzipiell nicht möglich ist. Woher das Wissen über die Existenz der klaren Grenzen, wenn wir sie nicht kennen können? -8- Die Position ist nur von einer uneingeschränkten Wahrnehmung her zu vertreten, die Zugang zu den wirklichen Grenzen hat. Auf der Seite der Sprache sind die prominentesten Theorien, die 3-wertige Logik, Mehrwertige Logiken, Supervaluationismus und Idealsprachen. Letztere, deren wesentlichste Vertreter Russel und Frege waren, geht davon aus, daß wir unsere Begriffe nur noch nicht präzise gemacht haben, sei es aus geistiger Trägheit oder aus fehlender Notwendigkeit bis dahin. Da wir aber grundsätzlich dazu in der Lage sind, dies zu tun, fordern sie die Schaffung einer Idealsprache, die ohne vage Begriffe auskommt. Doch die Idee der Idealsprache hat sich als unmöglich herausgestellt, da sie eine Perspektive auf unsere Sprache einnimmt, die sie nicht haben kann. Es müßte zu zeigen sein, daß die neue Sprache kohärent, konsistent und ohne vage Begriffe ist. Doch von welchem Standpunkt sollte dies geschehen? Auch Idealsprachen bleiben letztlich unsere Konstruktion, sie stehen nicht im „luftleeren Raum“(Wittgenstein). Weitere Probleme gibt es in der Anwendbarkeit einer solchen Sprache. Wenn alle möglichen Präzisierungen zu allen denkbaren Konzepten gemacht sind, die es zunächst ja auch erst zu finden gilt, ist diese Sprache nicht mehr sprechbar und fern von dem, was wir sprechen nennen. Eine in alle Richtungen präzisierte Sprache ist unflexibel, denn sie müßte bei neuen Entdeckungen permanent neue Worte erfinden bzw. alte neu konkretisieren. Vor jeder Anwendung eines Begriffes muß dann geprüft werden, ob alle Vorraussetzungen erfüllt sind. Sprache würde Mathematik gleichen. Vielfach gibt es Versuche, Teile der klassischen Logik aufzugeben, gleichsam die logische Gültigkeit der Soritesprämissen in Frage zu stellen. Michael Tye versucht eine 3-wertige Logik zu etablieren, die das klassische Bivalenzprinzip aufgibt, wie es die Fälle in der Penumbra nahelegen. Im Grenzbereich ist die Anwendung des Prädikats weder sicher wahr, noch sicher falsch. Also gibt Tye ihm den Wert „unbestimmt“. Mit diesem dritten Wahrheitswert lassen sich Wahrheitswerttafeln für alle Quantoren erklären. Das Problem an diesem Ansatz ist, daß höherstufige Vagheit, wie ich sie oben als notwendig beschrieben habe, verloren geht. An der Stelle, wo ich den Wert „unbestimmt“ erkläre, ziehe ich eine scharfe Grenze. Dies teilt die Extensionen vager Prädikate in klar positiv, klar negativ und klar unbestimmt. Es ist klar bestimmt, wann ein Haufen „unbestimmt“ ist. Doch wenn ich dies so mache, warum ziehe ich dann nicht gleich eine Grenze zwischen wahr und falsch? Letztlich kommt diese Herangehensweise den Eigenschaften von Vagheit nicht nahe. Schließlich ergeben sich Resultate, die nicht der Intuition entsprechen, so z.B. „unbestimmt Zuschreibungen“, wo wir intuitiv wahr bzw. falsch setzen würden. -9- Geht man diesen Schritt weiter und nimmt man statt der 3 Wahrheitswerte noch mehr bis schließlich kontinuum-viele7, so gelangt man zur Mehrwertigen Logik - der Theorie der Wahrheitsgrade, wie sie Machina vertritt. Jeder Instanz eines Prädikats wird dabei ein Wert aus dem Einheitsintervall zugeordnet: 0 für sicher falsch, 1 für sicher wahr und die Werte dazwischen für gewissen Grad an Unsicherheit. Machina versucht dadurch, unserer Redeweise von „wahrer als...“ und „falscher als...“ gerecht zu werden. Den Quantoren werden Regeln zugeschrieben, so daß die Soritesparadoxie dadurch gelöst wird, daß in jedem Schritt der konditionalen Prämissen Wahrheit verloren geht, bis schließlich der Konklusion der Wert null zugeordnet ist. Die Theorie der Wahrheitsgrade löst zwar die Paradoxie, offen bleibt jedoch, nach welcher Vorschrift wir die einzelnen Wahrheitswerte zuordnen. Wem geben wir beispielsweise den Wert 0,6? Auch diese Theorie zieht scharfe Grenzen an den Stellen null und nicht mehr null und eins und nicht mehr eins. Einen anderen Weg auf der sprachlichen Seite gehen Kit Fine und Rosanna Keefe. Ihre Theorie des Supervaluationismus erhält das Kalkül der klassischen Logik, abgesehen von der Bivalenz. Da eine Grenzziehung für Elemente in der Grauzone zwar machbar, jedoch willkürlich und künstlich ist, wird hierbei jede solche Präzisierung in der Penumbra des Prädikats betrachtet. Eine vage Aussage ist genau dann (super-)wahr ((super-)falsch), wenn sie klassisch wahr (falsch) unter allen Präzisierungen ist. Sonst ist sie weder wahr noch falsch. Beispielsweise ist die Aussage: „Es gibt ein n, so daß eine Ansammlung von n Körnern kein Haufen, eine von n+1 ein Haufen ist“ (super-)wahr, da ja gerade in jeder Präzisierung ein solches n festgelegt wird, wohingegen: „Für jedes n: n Körner bilden keinen Haufen, so auch n+1 Körner“ (super-)falsch ist. Dies widerspricht jedoch der eingangs geschilderten Intuition. Der Vorteil des Supervaluationismus ist der Erhalt der klassischen Logik. Doch auch hier entstehen drei klar abgegrenzte Mengen: superwahr, superfalsch, weder noch, die zu ähnlichen Konflikten mit höherstüfiger Vagheit führen wie oben. Sieht man Vagheit als ontologischen Mangel, gelangt man zur Theorie der vagen Objekte. Demnach ist Vagheit nicht ein Problem, ob wir in manchen Grenzfällen nicht in der Lage sind, klare Zuschreibungen zu machen, es mithin semantisch oder epistemologisch unbestimmt ist, sondern die Objekte selbst ziehen keine scharfen Grenzen. Ein Haufen hat eben keine Abgrenzung in der Körnerzahl, oder es ist eben unbestimmt, wo der Mount Everest endet und wo das Tiefland anfängt. Doch diese Theorie geht, glaube ich, von einer falschen Auffassung von Sprache aus. Es wird so gesprochen, als ob wir etwa einen Haufen oder den Mount Everest in ihren Grenzen entdecken könnten. Als ob die Welt gleichsam mit uns sprechen würde und manchmal die Grenzen ihrer Begriffe offenbart, manchmal nicht. - 10 - Woran sollte ich erkennen, wann sie es tut? Auch hier besteht das Problem, woher der Zugang zu solchem Wissen kommt, analog zur epistemischen Theorie. Während diese scharfe Grenzen postuliert, spricht jene vom Mangel eben solcher. Ich konnte in obiger Diskussion natürlich den einzelnen Theorien nicht gerecht werden. Vielmehr ging es mir um die Systematisierung der Herangehensweise der Antworten und einzelner Probleme dieser. Es sollte deutlich werden, daß die Ablehnung der Soritesparadoxien sich auf der Auffassung gründet, Vagheit als einen Mangel zu beschreiben, als einen in der Logik und Semantik unserer Begriffe, einen in der Welt oder einen bei uns. So überzeugend die einzelnen Theorien intern auch sein mögen, ihre eingeschlagene Perspektive auf Vagheit schlägt fehl. Jede bleibt die Antwort schuldig, wenn Vagheit Mangel an etwas ist, dieses „an“ zu beschreiben und unseren möglichen Zugang dazu zu erklären. Der Einblick in eine vaglose Sprache ist meiner Meinung nach nicht möglich. Von dieser Idee ausgehend möchte ich nun, mit einem Aufsatz Hillary Putnams beginnend, einen Blick auf Vagheit aus einer Wittgensteinschen Perspektive versuchen, die diese als notwendig in unseren Sprachspielen beschreibt. Dabei sollen auch einzelne Kritikpunkte an obigen Theorien noch einmal deutlich werden. 4. Wittgenstein- Vagheit als Bestandteil unserer Sprachspiele 4.1 Von der Perspektive Gottes zum Sprachspiel In seinem Aufsatz „Realismus mit menschlichem Antlitz“ beschreibt Hillary Putnam, ausgehend von der ‚Kopenhagener Deutung’ der Quantenphysik, wie uns eine externe, ganzheitliche Perspektive auf Sprache und Welt, mithin eine göttliche Perspektive, systematisch verschlossen ist. Wir müssen die Beschreibung der Beobachtungsebene stets von der des Beobachteten trennen. Jedes Ergebnis kann nur relativ zum Maßstab des Beobachters gedeutet werden und Bedeutung annehmen, welcher seinerseits nicht mit Teil des Ergebnisses ist. Dieses zunächst physikalische Ergebnis erweitert Putnam auf die Logik und Philosophie: „…wir müssen die Vorstellung einer einzigen darstellbaren Auffassung aufgeben, welche alle Situationen abdeckt.“[Putnam S.223] Auch in der Logik kann jede Metasprache, die etwas über unsere Sprache sagt, nichts über sich sagen: „Die ‚Perspektive Gottes’ - die Perspektive, von der aus absolut alle Sprachen gleichermaßen Teil der betrachteten Gesamtheit sind - ist für immer unerreichbar.“ [ebd. S.236] Wir sind also grundsätzlich von idealem, unpersönlichem Wissen abgeschnitten, ja wissen nicht einmal, was es bedeuten soll, ein solches Ideal zu erreichen. Dies ist, so Putnam, für uns das tiefste Paradoxon, welchem wir gegenüberstehen. - 11 - Da dieses aber ein nichtlösbares Paradoxon ist, müssen wir eine Methode von Innen auf unsere Sprache und auf die Untersuchung des Soritesparadoxien finden, die ohne ein Außen auskommt. Dies ist Ausgangspunkt und gleichzeitig Ergebnis der späten Philosophie Wittgensteins, ein Philosophieren ohne Draußen, denn: „draußen fehlt die Lebensluft“[PU 103]. Es soll mein Ausgangspunkt für den Blick auf Vagheit nicht als Mangel, sondern als semantische, notwendige Tiefe sein. Vagheit ernst zu nehmen heißt: nicht zu glauben, unsere Worte wären aus irgendeiner geistigen Faulheit noch nicht vollständig definiert, nicht zu denken, sie wäre prinzipiell eliminierbar und nicht zu meinen, die Welt hielte uns Informationen verborgen. Gleichzeitig wird aus dem genannten Fehlen der Außenansicht auf die Sprache obige Kritik an den anderen Theorien deutlich. Im Zentrum Wittgensteinscher Philosophie „ohne Außen“ steht der Begriff des regelhaften Sprachspiels. 4.2 Sprachspiele und Regeln Als Sprachspiele bezeichnet Wittgenstein einfache Handlungen im Gebrauch sprachlicher Zeichen, Verwicklungen von Sprache und Tätigkeit und den diversen Gebrauch von Ausdrücken. Im Zentrum stehen immer bestimmte Verhaltensweisen beim Verstehen und Verwenden von Sprache. Durch den Begriff Sprachspiel wird Sprache und Bedeutung also an die unmittelbare Lebenspraxis geknüpft. Der neue Blickpunkt liegt auf der Spielhaftigkeit unserer Sprache, dem Erlernen der Begriffe und deren richtiger praktischer Anwendung. Wie Spielen, ist Sprechen regelgesteuertes Interagieren mit anderen Menschen, stehen bestimmte wiederkehrende Verhaltensweisen im Vordergrund. Diese sind erlern- und wiederholbar. Wichtig ist dabei, daß Sprache keinem festen Kalkül folgt, d.h., es stehen zwar gewisse Regeln zur Verfügung, diese sind aber nicht immer explizierbar, noch regeln sie die komplette Sprache. Nicht an jeder Stelle stehen Regeln für die Verwendung zur Verfügung (ähnlich wie es beim Tennisspiel keine Regel für die Wurfhöhe beim Aufschlag gibt). Regeln sind vielmehr Verhaltensregelmäßigkeiten. Suchten Philosophen vor Wittgenstein nach dem Wesen der Sprache und der Worte, danach, notwendige und hinreichende Bedingungen für Bedeutung zu explizieren und allen gemeinsame Eigenschaften zu finden, so geht es ihm um den Begriff der Familienähnlichkeiten. Unsere Sprache enthält zahlreiche Ausdrücke und Regeln, deren richtiger Gebrauch Ähnlichkeiten erkennen läßt, doch muß diese nicht vollständig sein. Auch hier dient das Bild des Spiels als Gleichnis. Auf die Frage nach dem Wesen dessen, was wir als Spiel bezeichnen, im Sinne von allen gemeinsamen Eigenschaften, werden wir keine Antworten finden. Versucht man es mit gegeneinander Agieren von mind. zwei Spielern bei dem es um Gewinnen oder Verlieren geht, so stößt dieser Versuch bei - 12 - Patience an seine Grenze. Es gibt immer Eigenschaften, die sich gleichen, sowie auch stets Unterschiede erkennbar bleiben: „Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen.“[PU 66, Hervorhebung M.S.] In diesem Blick auf Ähnlichkeiten verschiedener Sprachspiele zeigt sich ein Beispiel für die Wendung von der Suche nach einem archimedischen Punkt, mithin den Gebrauch der Worte begrenzender Regeln, zur außenlosen Innenperspektive, zu der Suche nach Ähnlichkeiten in der Betrachtung unseres Sprechens und der Praxis. Eng mit dem Ähnlichkeitsbegriff in der Sprache ist das Gleichnis des Werkzeugkastens verbunden(vgl. PU 11f.). Unsere Begriffe funktionieren wie Werkzeuge. Es gibt verschiedene Anforderungen, die mit verschiedenen Werkzeugen gelöst werden können, mit manchen adäquater, mit manchen weniger. Auch hier ändert sich der Blick auf die Sprache: von Richtig und Falsch zu einem Adäquatheits- und Brauchbarkeitsbegriff. Die Erfindung neuer Werkzeuge, resp. die neuer Worte zur Beschreibung, ist möglich. Doch wo ein Zweck bei Werkzeugen vor deren neuer Erfindung steht, kann es bei Sprache andersherum sein. Eine andersartige Beschreibung macht erst neue Zwecke möglich, wie viele Beispiele in der Naturwissenschaft zeigen8. Unsere gesamte sprachliche und nichtsprachliche Praxis ist dabei an unsere Lebensform geknüpft. Sie ist der überkommene Hintergrund vor dem sich unser Leben vollzieht. Sie ist nicht wählbar und damit kein Verstandesbeschluß, nicht im ganzen überschaubar und transparent, und auch nicht suspendierbar. Unser Sprechen vollzieht sich immer vor diesem Hintergrund, er ist Vorraussetzung dafür, daß etwas als etwas Bestimmtes, als So-und-so erscheint. Ein Krönungsereignis ist für uns beispielsweise ein besonderes, prunkvolles Ritual. Aus einer anderen Sicht, vor einem anderen Hintergrund, kann es ein armseliges Ereignis sein. Die Lebensform ihrerseits ist verbunden mit einem bestimmten Weltbild. Es ist der Hintergrund: „auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide“[ÜG 94]. Ein Weltbild ist ein System bzw. ein Netz von Sätzen und Überzeugungen, die als Paradigmen gelten, welche eng mit unserer lebensweltlichen Praxis verbunden sind. Sie in Frage stellen bedeutet, unseren sprachlichen Umgang mit der Welt, mithin unser gesamtes Weltverständnis in Zweifel zu ziehen. Für Wittgenstein ist der Satz „Ich weiß, daß die Erde vor fünf Minuten existiert hat“ ein solcher, der nicht sinnvoll bezweifelt werden kann, ohne mein gesamtes Selbst- und Weltverständnis zu erschüttern, mein Bezugssystem zu zerstören. (vgl. ÜG). Dabei stehen diese Weltbilder nicht starr und statuenhaft fest. Sie können in Fluß geraten, durch andere, vormalige Erfahrungssätze ausgetauscht werden. Doch auch hier ist der Wechsel nicht willentlich, sind die wenigsten Weltbildsätze explizierbar. Ein Wechsel ist mehr eine - 13 - Bekehrung, als eine rationale Entscheidung, es spielen andere Gründe, beispielsweise ästhetische eine Rolle, da unser Weltbild weder auf Erfahrungswissen, noch auf Verifikation bzw. Falsifikation beruht. Wir erlernen Sprache immer schon innerhalb eines solchen Weltbildes, immer schon vor dem Hintergrund eines bestimmten Kontextes, welcher uns vorgelebt und als interne Bedingung jedes Sprechens vorgesprochen wird. Das Sprechen Lernen ist anfänglich einer Abrichtung ähnlich. Es besteht aus Vorzeigen, Vormachen, Vorsprechen und anschließendem Nachmachen und Nachsprechen. Ein sinnvolles Fragen nach dem Warum und dem Wie ist hier nicht möglich, da hier in der Praxis der Anfangsgrund und das Paradigma jedes Sprechens liegt. Jedes Fragen hat ein Ende im „So handeln wir eben“, und in diesem „so“ steckt der gesamte sprachliche und nichtsprachliche Hintergrund des Weltbildes und der Lebensform. Diese gesamte Betrachtung sublimiert in dem Satz: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“[PU 43]. Ein Wort hat seine Bedeutung nur innerhalb eines Praxissystems und einer Lebensform. Dabei wird es in vielen Situationen ähnlich gebraucht, d.h. es gibt gewisse Regeln des Gebrauchs, welche aber die Bedeutung nicht vollständig eingrenzen. Die Sprache an die Praxis zu knüpfen, in der es nicht alles eingrenzende, nicht immer explizierbare Regelhaftigkeiten des Gebrauchs gibt, in dem es Ähnlichkeiten aber auch Unterschiede bei der Verwendung ein und desselben Wortes gibt, ist die Möglichkeit, Vagheit als notwendigen Bestandteil unserer Sprache zu sehen. Vor dem Hintergrund bestimmter Paradigmen eines Weltbildes, d.h. nicht sinnvoll bezweifelbarer Sätze und dem Hintergrund bestimmter Kontexte der Verwendung müssen vage Begriffe verstanden werden. 4.3. Farbprädikate und ihre Besonderheiten- An der Grenze zwischen Logik und Empirie „Einerseits ist klar, daß jeder Satz unserer Sprache ‚in Ordnung ist, wie er ist’. D.h., daß wir nicht ein Ideal anstreben: Als hätten unsere gewöhnlichen, vagen Sätze noch keinen ganz untadelhaften Sinn und eine vollkommene Sprache wäre von uns erst zu konstruieren. - Anderseits scheint klar: Wo Sinn ist, muß vollkommene Ordnung sein.- Also muß die vollkommene Ordnung auch im vagsten Satze stecken.“ [Wittgenstein, PU 98, Hervorhebung M.S.] Dieses Zitat Wittgensteins läßt sich zweierlei deuten: zunächst als Aufforderung, nach der vollkommenen Ordnung in der Sprache zu suchen, mithin klare Regeln für den Gebrauch zu finden; da unsere Kommunikation funktioniert, müssen da determinierende Regeln sein, die bisher implizit vorhanden nun zu explizieren sind. Andererseits kann man Wittgenstein hier so verstehen, daß eben weil unsere Sprache funktioniert, wir im Sprechen nicht permanent in Widersprüche geraten und uns nicht dauernd mißverstehen, steckt in der Sprache schon die „vollkommene Ordnung“. Klar muß dann „vollkommen“ und „Ordnung“ anders verstanden - 14 - werden, als in der ersten Deutung. Hierbei kann Ordnung nicht das klare, konsistente und kohärente Regelwerk sein, wie uns die Sorites zeigen. Vielmehr muß das Funktionieren vor dem Hintergrund gemeinsam geteilter und geregelter Praxis, d.h. allen gemeinsamer Kontexte erklärt sein, in der die Regelumzäunung durchaus Löcher läßt und mit Wittgenstein gefragt werden muß, ob es denn wahr sei, daß „eine Umgrenzung, die ein Loch hat“, so gut ist wie keine (vgl. PU 99f.). Die erste Deutungsvariante ist ähnlich dem von Crispin Wright (in Wright 1) beschriebenen „governing view“ auf unsere Sprache. Demnach ist sie ein Spiel, in dem jeder korrekte Zug durch klare Regeln begrenzt ist, diese implizit vorliegen und durch Betrachtungen, bezüglich Beschränkungen kompetenter Sprecher, Fehlanwendungen etc. expliziert werden können. Dieser Auffassung widerspricht Wright mittels Betrachtungen über vage Prädikate und speziell dem Farbsorites. Er spricht von der Forderung nach einem Sprachvergleich, mehr „behavioristic“[Wright 2 S.205] als der Spielvergleich. Er rückt dabei, denke ich, in die Nähe des Sprachspielverständnisses Wittgensteins und die, der zweiten Deutung des obigen Zitats. Zwar spricht Wittgenstein auch von Spiel, doch ist dieses bei ihm nicht als klar explizierbares Regelwerk konzipiert. Wie funktionieren nun das Farbsorites und die spezielle Vagheit der Farbprädikate? Stellen wir uns ein Farbspektrum vor, daß von links Gelb zu Orange auf der rechten Seite übergeht. Man legt nun ein Fenster darauf, welches so klein ist, daß man innerhalb des Fensters keinen Farbunterschied erkennt. Das Spektrum sei dabei so groß, daß, wenn das Fenster bewegt wird, jeweils in ihm kein Farbunterschied feststellbar ist. Setzt man das Fenster links auf, so sieht man Gelb. Verschiebt man nun das Fenster weiter nach rechts, so ist kein Unterschied zu dem Gelb zu erkennen. Dies geht so weiter, bis man am Ende angelangt noch immer von Gelb sprechen muß. Darin besteht der Widerspruch: wir haben eine typische Soritesreihe. Wir können hier zunächst mehrere Beobachtungen machen: 1. Die Ununterscheidbarkeit unserer Farbprädikate verhält sich nicht transitiv, ab einer bestimmten Stelle machen wir eine Unterscheidung. 2. Bei jedem Durchlauf ist es eine andere Stelle an der die Intransitivität auftritt. 3. Verschiedene Personen machen unterschiedliche Grenzzuschreibungen, trotz gleicher externer Bedingungen (Lichteinfall, gleiches Muster…), sie können andere Zuschreibungen jedoch meist nachvollziehen. - 15 - Diese Beobachtungen stellen uns vor die Frage, nach welchen Regeln wir Farbzuweisungen machen? Gibt es ein allgemeingültiges Muster, wenn ja, woher wissen wir dessen richtige Anwendung? Wie können wir uns noch verstehen? Wir erlernen Farben durch hinweisende Definitionen. Letztlich kann ich nur auf etwas Gelbes zeigen, wenn ich jemandem erklären will, was Gelb bedeutet. Farbenprädikate sind solche der Beobachtung. Nur stehen wir hier vor dem Problem, daß jede hinweisende Definition auch anders gedeutet werden kann. Zeige ich auf einen gelben Ball, muß klar sein, daß ich mit Gelb die Oberflächenbeschaffenheit meine und nicht Form, Größe, etc. Wittgenstein spricht davon, daß bereits klar sein muß, „welche Rolle das Wort in der Sprache überhaupt spielen soll“[PU 30]. Hier sind also schon interne Vorraussetzungen notwendig, z.B. muß ich als Lehrender davon ausgehen, daß der andere die gleichen kognitiven Vorraussetzungen hat, er auch „versteht“, daß ich ihm etwas lehren will. Dies sind jedoch Vorraussetzungen, zu denen ich keinen Zugang habe, ob sie erfüllt sind. Sie zeigen sich nur in der gemeinsamen Praxis, indem der Schüler das Wort „Gelb“ in anderen Situationen richtig anwendet. Was ist nun jedoch mit dem Fall, daß der Schüler auf etwas Gelbes weist, ich dem jedoch nicht zustimmen kann? Beispielsweise ist vorstellbar, daß der Schüler keinen Unterschied feststellt (analog dem Farbspektrum), für mich da jedoch etwas klar Oranges liegt. Wie erkläre ich diesem „Orange“, oder vielmehr, woher weiß ich, daß es ein kognitives Unvermögen ist und nicht falsche Anwendung von „Gelb“? Wir führen immer weitere Gelbzuweisungen durch, bis sich praktisch Gleichheit zeigt. Wir lernen durch Unterschiede in der Gelbzuweisung erst das Farbspektrum kennen, d.h. das es ein gelblich gibt. So werden also Gelb und Orange Paradigmen, markante Punkte im Farbspektrum. Hier wird aus unseren empirischem Farbbegriff ein logischer, gleichsam paradigmatischer, der die Rolle anderer empirischer Daten in unserem Sprachspiel festlegt: „Sätze werden oft an der Grenze von Logik und Empirie gebraucht, so daß ihr Sinn über die Grenze hin und her wechselt und sie bald als Ausdruck einer Norm, bald als Ausdruck einer Erfahrung gelten.“[ÜF §32] Doch unsere Farben können noch als stärkere Grenzgänger bezeichnet werden. Wir können von verschiedener Art der Wahrnehmung sprechen: (i) das Gelb einer Oberfläche erkennen, heißt erlernte Fähigkeiten anwenden, (ii) das die Oberfläche weiß ist, heißt ein allgemeines, externes und für jeden zugängliches Kriterium dafür bereit zu haben, (iii) einen Gelbeindruck haben, heißt, mein Kriterium anwenden, meine Entscheidung treffen. Farbbegriffe sind also Grenzgänger zwischen Psychologisch/Empirischem ((i), (ii)), geschmacklichen Vorlieben ((iii)) und Logik im Sprachspiel((i)-(iii)). In verschiedenen Situationen verwenden wir „Gelb“ unterschiedlich und doch ähnlich, je nach Zweck im Sprachspiel. Man denke hier nur an folgende Aussagen: „Gelb!!!“, „Gelb!“, - 16 - „Gelb?“, „Gelb.“ Einmal kann es eine Warnung sein (gelbe Ampel), einmal ein Hinweis, ein Zeigen, ein Betonen, Klären, Befehlen, eine Aussage über ein Parteipräferenz… Gälte die Forderung nach expliziten Regeln, so müßten diese, jede der möglichen Verwendungen und Sprachspiele regeln, ja sogar schon noch nicht gedachte antizipieren. Die Verwendung unserer Farbworte ist wesentlich an ihren Beobachtungscharakter geknüpft. Durch kurzes Hinschauen sind wir in der Lage, eine Entscheidung über Richtigkeit oder Falschheit ihrer Anwendung zu treffen. Stellen wir uns vor, es gäbe Urmuster, ähnlich dem Urmeter in Paris, daß die richtige, verbindliche Farbzuschreibung festlegt. Es wäre damit Paradigma unserer Sprache. Jede Farbzuschreibung des Musters wäre klar getrennt von der anderen. Von ihm könnte ich in diesem Sprachspiel dann nicht sagen, es habe an der Stelle, die und die Farbe, denn es ist nichts Beschriebenes, sondern Mittel der Beschreibung. Hier können wir wieder zwei Fälle unterscheiden. Zunächst den der schon immer so mittels Farbschema Sprechenden, welche die Begriffe auch so gelernt haben, und uns, die wir das Farbschema als Paradigma einführten. Erstere würden nicht nur ganz anders über Farben sprechen als wir, sie würden auch eine andere Lebensform haben. Der Beobachtungscharakter würde ihren Farbbegriffen fehlen. Sagte ich zu einem solchen: „Bring mir eine gelbe Blume“, so würde er zunächst in eine Farbtabelle schauen. Ihre Beobachtung hätte den Charakter einer Rechnung, der Überprüfung mittels Nachrechnens. Wer ohne Rechnung (Farbnachprüfen) das richtige Ergebnis nennen kann, ist guter Kopfrechner (Kopffarbnachprüfer). Sicheren Nachweis bringt nur das Prüfverfahren, also das Rechnen oder der Vergleich mit der Tabelle. Ein solcher Mensch könnte auch eine Änderung im Schema nicht annehmen, beispielsweise Vergilbung, etc. So kann es sein, daß nach Generationen andere Farbzuweisungen vorgenommen würden. Schließlich bin ich davon überzeugt, daß diese Menschen auch kein Farbsorites kennen könnten. Das unsere Farben ein Spektrum bilden liegt, denke ich, wesentlich an der –lich-Zuschreibung in unserer Sprache (gelblich) und ihrem Beobachtungscharakter. Dieses alles fehlte jenen, da für sie entscheidend ist, was das Spektrum sagt. Im zweiten Fall wäre die Sache anders. Für uns wäre die Tabelle ein Hilfsmittel. Die Farbprädikate behalten ihren Beobachtungscharakter. Die Tabelle könnte als Mittel zum Lehren der Farbprädikate gebraucht sein, in Streitfällen als Kriterium herangezogen werden oder beim Abmischen eines speziellen Tones einer Farbe. Jedoch bleibt das zentrale Kriterium unser Gedächtnis. Wie wäre ein Konflikt hier zu verstehen, wenn die Tabelle Orange vorschreibt, ich mir aber sicher bin, des es Gelb ist? Ich würde höchstwahrscheinlich die Tabelle in Frage stellen, danach suchen, ob sich die Tabelle nicht geändert hat. Allgemein - 17 - kann die Tabelle als ein Ausdruck einer Regel des Farbsprachspiels angesehen werden. Hierin wird jedoch der unterschiedliche Charakter von dem deutlich, was wir mit Regeln bezeichnen. Einmal ist es Verwendungsregel, einmal Regel für den Konfliktfall. Hierbei tritt abermals die Notwendigkeit eines gemeinsamen Lebens- und Gebrauchskontextes zur Erklärung hervor. Auch in dem, was eine Regel sein soll, gibt es nur Ähnlichkeiten, nichts Wesentliches zu entdecken. Zu fragen bleibt, was bei zwei in Konflikt stehenden Zuschreibungen Kriterium der Entscheidung sein soll, beispielsweise für einen ist die Farbe noch Gelb, für einen anderen schon Orange. Wenn die Unterschiede wieder nur marginal sind, hilft der Vergleich mit dem Spektrum auch nicht. Denn auch dieser ist wiederum nur eine Beobachtung. Das Kriterium ist hier letztlich keines, da es auf der Ebene der Beobachtung bleibt. Es braucht eine Regel für den Konfliktfall einer Regel usw. ad infinitum. An einer Stelle hört auch die Frage nach den Regeln auf, und wieder bleibt: So ist es nun mal. So sprechen wir von den Dingen! An dieser Stelle stößt der schürfende Spaten auf eine harte Stelle und „biegt sich zurück“. Für Wittgenstein liegt eine zentrale Schwierigkeit, „die wir beim Nachdenken über das Wesen der Farben empfinden[…]in der Unbestimmtheit unseres Begriffs der Farbengleichheit beschlossen.“[ÜF 56] Er fragt: „Was ist das Kriterium der Röte einer Vorstellung? Für mich, wenn der Andere sie hat: was er sagt und tut. Für mich, wenn ich sie habe: garnichts. Und was für ‚rot’ gilt, gilt auch für ‚gleich’.“[PU 377] Ein Kriterium ist immer die Frage nach Berechtigung, doch Berechtigung muß immer eine für mindestens zwei sein. Niemand kann für sich allein nur einer Regel folgen. Dies gilt für die Verwendung von Rot, wie die für Gleichheit. Sage ich: „Dies ist gelb“, so ist meine Berechtigung dieser Zuschreibung gegenüber dem anderen, unsere gemeinsame Praxis, ein sich Gleichen in der Wiederholung. In dieser gemeinsamen Gleichheit kann man einen speziellen gemeinsamen Kontext sehen. Es ist ein Kontext im Sprachspiel (Beobachtungscharakter der Farbbegriffe, hinweisend gelehrte Definition), im Psychologischen (keine Farbenblindheit: gleiche Wahrnehmungsfähigkeiten), sowie im Kulturellen. Letzter bedeutet, daß es einen Unterschied macht, ob Physiker, Künstler, Philosophen oder ganz normale Menschen über Farben sprechen. So ist Gleichheit bei den Physikern beispielsweise, eine der Meßdaten eines Spektrographen, auch also hier nur bezüglich einer Meßgenauigkeit einer Apparatur, zu welcher innerhalb der Meßtoleranz der Maschine eine ähnliche Sorites wie die der Farben schaffen läßt9. Vagheit ist immer nur bezüglich eines bestimmten Konzeptes des Prädikats eliminierbar. Es bleibt aber innerhalb eines anderen, welches Vagheit nicht selbst ausschließen kann. So kann ich mittels physikalischer Festlegung zwar eine Farbfestlegung erzielen, kann aber den - 18 - Apparat selbst in einem neuen Konzept sehen, daß ihn vage werden läßt. Vagheit ist eben eine metasprachliche Sicht auf unsere Sprache, die selbst wiederum in einem Kontext stehen muß. In eine solche Richtung gehen auch neuere Diskussionen über die Frage, ob „vage“ vage ist. Abschließend läßt sich resümieren, daß Vagheit nicht kontextunabhängig ist. Diana Raffman nennt ein Kriterium für vage Prädikate: „Für jedes Objekt o, für jedes vage Prädikat P und für jeden Gesamtkontext GK gilt: P trifft relativ zu GK genau dann auf o zu, wenn ein kompetenter Sprecher o in GK beurteilen könnte und P auf o anwendete, würde er o in GK beurteilen.“ [Raffman S. 110] Anders als die von ihr intendierte psychologische Ebene, möchte ich dieses Kriterium im Sinne meiner Betrachtungen bezüglich einer Wittgensteinschen Betrachtung von Vagheit benutzen. Wichtig für die Betrachtung vager Prädikate ist der gemeinsame Kontext zweier oder mehrerer Sprecher einer Sprache. Dieser ist einer in Lebensform, Weltbild, Psychologie und Sprachspiel. Aber auch ein Kontext eines gemeinsamen Konzepts des Prädikats. So geht beispielsweise das Konzept der Zentimeterunterteilung am Beobachtungscharakter von „klein“ vorbei. Es ist nicht der gleiche logische Kontext innerhalb des Sprachspiels. Nur innerhalb dieser Grenzen lassen sich vage Prädikate anwenden. Die gleiche Anwendung in einem solchen gleichen Kontext zeigt sich praktisch, nämlich in der Anwendung. Doch viele Kriterien in dem Gesamtkontext sind privat und einander nicht zugänglich. Sie können sich nur im funktionierenden Sprachspiel zeigen oder müssen vorrausgesetzt werden. Der Gesamtkontext bildet die Normalbedingung, ohne die ein Sprachspiel keinen Witz10 hätte: „Die Prozedur, ein Stück Käse auf die Waage zu legen und nach dem Ausschlag der Waage den Preis zu bestimmen, verlöre ihren Witz, wenn es häufiger vorkäme, daß solche Stücke ohne offenbare Ursache plötzlich anwüchsen, oder einschrumpften.“[PU 142] Der Witz der Farbbegriffe liegt gerade in der schlichten und beiläufigen Unterscheidung durch Beobachtung. Geht dieser verloren und ist das Sprachspiel im Funktionieren gestört, so ändern sich bestimmte Paradigmen, oder die Farbbegriffe werden in einem neuen Sprachspiel mit neuem Konzept gesehen, wie das eingangs geschilderte Baumarktbeispiel zeigen sollte. Auch das Sprechen von „klein“ oder „moralisch gut“ in den Beispielen, ist eines in verschiedenen Sprachspielen. Das eine ist das im Kontext der Beobachtung und der Ethik, das andere ist ein quantitatives, in der Beobachtungscharakter zu einem Meßcharakter wird. Die Sorites sind somit Sprachspiele innerhalb zweier Kontexte, die in Konflikt geraten müssen. Solange aber unsere Prädikate nicht in solchen neuen Kontexten und Konzepten gesehen werden, benötigen wir keine Schubkarren voller „externer Krücken“[Wright], wie Tabellen, Meßgeräten und Testern. Sollte unsere funktionierende Sprache mit irgend etwas Internem (Innersprachlichem/im Weltbild) oder Externem (Empirischem) in Konflikt geraten, dann braucht es eine neue Sichtweise. Doch aus dem wirklichen Konfliktfall schaut die neue schon - 19 - heraus. Die drei eingangs gemachten Beobachtungen waren also Indizien für den Kontextcharakter der vagen Prädikate, einem zum Teil privaten (2, 3), zum Teil gemeinsamen Kontext der Sprachpraxis (3). Theoretische Forderungen an ein Verwendungsregelwerk schlagen fehl (1). 5. Schlußbemerkungen Wie also schließlich mit den Sorites und Vagheit umgehen? Paradoxien fordern unseren Verstand heraus, halten uns in einem Widerspruch, aus dem wir doch einen Ausweg finden müssen, wollten wir nicht in sprachlicher oder inhaltlicher Inkonsistenz enden. Oder wenigstens eine Erklärung, wie es zu dem Widerspruch kommt sollte doch möglich sein. Ich glaube deshalb ist die erste Alternative der Stille und der Verweigerung der Antwort keine zufriedenstellende Variante. Zum Verstehen der Paradoxien habe ich zunächst versucht, die Paradoxie darzustellen und logisch zu analysieren. Davon ausgehend bin ich zum Begriff der Vagheit gelangt. Soritesparadoxien funktionieren immer mit Prädikaten und Begriffen, die eine gewisse Toleranz bezüglich einer bestimmten Sicht auf die Worte aufweisen. Um also Sorites zu verstehen bedurfte es einer Betrachtung der Vagheit. Je nachdem, wie man zu den Prämissen oder dem Schluß in einer Soritesreihe steht, so ist auch der Blick auf vage Begriffe. Lehnt man die Prämissen ab, wird man eher in Vagheit einen epistemologischen oder ontologischen Mangel sehen. Sieht man den Fehler in der Logik und Semantik, so ist Vagheit mehr ein semantischer Mangel. Ausgehend von diesen Verbindungen habe ich versucht, die diversen Theorien vorzustellen, welche Vagheit als Mangel an etwas bestimmten betrachten. Doch meiner Meinung nach kranken alle diese Blickrichtungen gerade an diesem Mangelbild der Vagheit. Alle nehmen eine Perspektive ein, die aus einer externen Sicht, von der Mangellosigkeit her, vage Begriffe betrachtet. Da uns diese Sicht als „endliche Geister“ für immer verschlossen ist, blieb mir nur eine interne Perspektive, ohne Außen, einzunehmen, was mich zur Philosophie Wittgensteins führte. Wittgenstein selbst hat sich zu den Sorites nicht direkt geäußert. Mein Versuch war es, die verschiedenen Dinge, die er zu Sprache und Regeln, zu Kontexten und Lebensform und zu Vagheit sagt, zu einem Bild zusammenzustellen, das zwar Vagheit nicht logisch auflösen kann, doch als Notwendigkeit ansieht, als Teil unseres Sprechens, wie wir eben sprechen. Vagheit soll beschrieben sein und nicht gelöst - keine Theorie, sondern eine Betrachtung unserer Sprachpraxis, ganz im Wittgensteinschen Sinne.11 Die Besprechung der Farbparadoxien sollte dabei exemplarisch sein. Vieles dabei gesagte kann ohne weiteres auf andere Sorites übertragen werden. Beispielsweise kann man fragen, in welchen Sprachspielen - 20 - „Haufen“ wie gebraucht wird. Möglich sind dabei: als konkrete Anzahlangabe (Körner), als Maßangabe (Höhe), als geometrische Angabe (best. Form der Stapelung von Körnern) oder als unbestimmte Angabe (Ansammlung von Körnern). Man kann dem vorwerfen, daß es in einen Relativismus unseres Sprechens führt, in dem Regel durch Regelhaftigkeit und Regularität, Wesen durch Ähnlichkeiten im Gebrauch ersetzt werden, oder gar aus einer Gottesperspektive gesagt wird, daß es eine solche nicht geben kann. Nichts ist wirklich definiert, vieles bleibt selbst vage. Doch dies führt am Witz der Philosophie Wittgensteins vorbei. Günter Abel schreibt: „Wer fragt ‚Wie definieren sie Sprachspiel?’[…] der hat die sprachphilosophisch hier relevante Pointe noch nicht verstanden. Man könnte schlicht zurückfragen ‚Bitte definieren Sie mir zuvor <<Ein Sprachspiel definieren>>’[…] und so weiter ad infinitum.“[Abel 2 S. 111]. Die Betrachtung unserer Sprache, der Praxis der Sprecher, die Suche nach Ähnlichkeiten ist gerade die neue, außenlose Perspektive: „[…]willst du den Gebrauch des Worts ‚Bedeutung’ verstehen, so sieh nach, was man ‚Erklärung der Bedeutung’ nennt.“ [PU 560] Die Verwendung unserer Begriffe kann nur in einem internen, d.h. das Sprachspiel und seine Möglichkeiten betreffenden, und einem externen, die Psychologie der Sprecher, das Weltbild betreffenden Kontext gesehen werden. Überschneiden sich, wie bei den Sorites, eben solche verschiedenen, inkommensurablen Kontexte, kommt es zur Paradoxie. Auch hier mag der Vorwurf lauten, dies laufe auf ein privatistisches, nur dem jeweiligen Sprecher zugängliches Sprachverständnis hinaus. Doch niemand spricht richtig nur für sich allein. Die allen gemeinsame Praxis des Sprechens und Handelns kann hier nur Maßstab sein. Vielleicht steckt hinter den Sorites eine Vorstellung, die, wie Wittgenstein beschreibt, bereits bei Platon im Theätetos steht, die Vorstellung der Urelemente, aus denen alles zusammengesetzt ist, welche aber schließlich nicht beschreibbar sind. So ist unser Gesichtsbild eines Baumes aus Teilen: Ast, Blatt, Stamm. Und der Stamm aus einzelnen Holzfasern. Und diese wiederum…! Wittgensteins Frage ist, was wir wohl mit zusammengesetzt meinen (vgl. PU 47). Auch das Wort „zusammengesetzt“ hat verschiedene, ähnliche Verwendungen, je nach Sprachspiel und Kontext. Diese Vorstellung der Zusammengesetztheit und letzten definierenden Eigenschaften muß aufgegeben werden, wenn man Sorites erklären will. Die letzte Definition, das letzte Urelement der Beschreibung entzieht sich uns, nicht, weil es sie nicht gibt, sondern weil die Vorstellung ihrerseits nur eine bestimmte Perspektive, einen bestimmten Kontext, ein Sprachspiel darstellt: „Wir sind unfähig die Begriffe die wir gebrauchen, klar zu umschreiben; nicht weil wir ihre wirkliche Definition nicht wissen, sondern weil sie keine wirkliche „Definition“ haben. Die Annahme, daß sie eine solche Definition haben müssen, wäre wie die Annahme, daß ballspielende Kinder grundsätzlich nach strengen Regeln spielen.“[BlB S. 49] - 21 - 6. Anmerkungen und Literaturverzeichnis Anmerkungen 1 Eigentlich handelt es sich hier um eine Klasse von Paradoxien. Doch spreche ich folgenden meist von der Mehrzahl. 2 Ich folge im wesentlichen der Darstellung von Sainsbury/Williamson in ihren Artikel „Sorites“. 3 Ich konzentriere mich in der Arbeit auf Prädikate. Sorites sind aber auch mit anderen Worten möglich, wie die Betrachtung der Vagheit zeigt. 4 Diese Darstellung der Sorites erinnert an das mathematische Prinzip der vollständigen Induktion. Zum Beweis einer Aussage über die natürlichen Zahlen, wird die Aussage für eine erste konkrete Zahl gezeigt (F(0)), dann zeigt man, daß ausgehend von einer beliebigen Zahl die Aussage für deren Nachfolger gilt (F(n)=>F(n+1)). Zusammen kann man dann auf die gesamten natürlichen Zahlen schließen. Grundlage ist hierbei jedoch das 5. Peano-Axiom. Darin besteht der wesentliche Unterschied zu den Soritesschlüssen, die kein Axiom zur Grundlage haben. 5 Ich möchte nichts darüber sagen, wie Sprache zur Welt steht. Vielmehr sollen die verschiedenen Möglichkeiten, den Mangel zu beschreiben, in dem dreigeteilten Bild systematisiert sein. 6 Timothy Williamson sagt, daß das Bivalenzprinzip nicht kohärent bestritten werden kann: wenn F(a) unbestimmt, dann ist F(a) nicht wahr. Also ist ~F(a) wahr. Somit F(a) falsch. Somit haben wir F(a) unbestimmt und falsch. Also muß nach Williamson mind. das Bivalenzprinzip der klassischen Logik erhalten bleiben. 7 Als Kontinuum wird in der Mathematik die Mächtigkeit der Reellen Zahlen bezeichnet. 8 Beispielsweise machte erst Newtons neue, mathematische Beschreibungsweise der Mechanik, Berechnungen und damit präzise Vorraussagen möglich. Oder eben Wittgensteins Beschreibung der Sprache mittels Sprachspiele, die neue Blickrichtungen freilegt. 9 In Wright 2 bespricht er Soritesprobleme bei Apparaturen (Tacho z.B.) und auch deren Nichttransitivität von Unterscheidungen. 10 Mit Witz im Sprachspiel bezeichnet Wittgenstein die Einbettung in eine passende Umgebung, bestimmte Normalbedingungen, die erfüllt sein müssen. Gleichsam auch der Zweck und Nutzen am Sprachspiel. 11 „Und wir dürfen keinerlei Theorie aufstellen. […] Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten“ [PU 109] Literaturverzeichnis Zu Soritesparadoxien und Vagheit: Barnes, Jonathan: Medicine, Experience and Logic, in: J. Barnes et al., Science and Speculation. Cambridge 1982. Dummett, Michael: Wang’s Paradox, in: Keefe/Smith, S. 99-118. Hyde, Dominic, art.: Sorites Paradox, in: Stanfort Encyclopedia of Philosophie, http://plato.stanfort.edu/entries/sorites-paradox. R. Keefe, P. Smith: Vagueness a Reader. Cambridge MA 1997. Machina, Kenton F.: Truth, belief and vagueness, in: Keefe/Smith S. 174-203. Raffman, Diana: Vagheit und Kontextabhängigkeit, in: Walter. Sainsbury, R.M.: Paradoxien. Stuttgart 2001. R.M. Sainsbury, T. Williamson, art: Sorites, in: B. Hale, C.Wright (Hrsgg.): Blackwell Companion to the Philosophy of Language. Oxford 1995. Sorenson, Roy, art.: Vagueness, in: Stanfort Encyclopedia of Philosophie, http://plato.stanford.edu/entries/vagueness. - 22 - Walter, Sven (Hrsg.): Vagheit. Paderborn 2005. Williamson, Timothy: Vagueness. London 1994. 1 Wright, Crispin: Language Mastery and the Sorites Paradox, in: Keefe/Smith, S. 151-173. 2 ders.: Further Reflections on the Sorites Problem, in Keefe/Smith, S. 204-250. Zu Wittgenstein: (die Abkürzungen der Texte Wittgensteins folgen dem Standart: PU-Philosophische Untersuchungen, ÜFBemerkungen über die Farben, BlB- Das Blaue Buch. Bei PU sind die Zahlenangaben die der Paragraphen.) Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914-1916, Philosophische Untersuchungen. Frankfurt/Main 2004 Band 1. ders.: Bemerkungen über die Farben, Über Gewißheit, Zettel, Vermischte Bemerkungen. Frankfurt/Main 2002 Band 8. ders.: Das Blaue Buch. Frankfurt/Main 1984 Band 5. 1 Abel, Günter: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Kapitel 5. Frankfurt/Main 1993. 2 ders.: Zeichen der Wirklichkeit, Teil 1. Frankfurt/Main 2004. Putnam, Hillary: Realismus mit menschlichem Antlitz, in: Von einem realistischen Standpunkt. Schriften zu Sprache und Wirklichkeit. Hamburg 1993. Rorty, Richard: Die Kontingenz der Sprache, in: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt/Main 1992. Schulte, Joachim: Wittgenstein. Eine Einführung. Stuttgart 2001. ders.: Mischfarben. Betrachtungen zu einer These Brentanos und einem Gedanken Wittgensteins, in: Chor und Gesetz. Wittgenstein im Kontext. Frankfurt/Main 1990. von Savigny, Eike: Der Mensch als Mitmensch. Wittgensteins ‚Philosophische Untersuchungen’. München 1996. Wallner, Friedrich: Wittgensteins Philosophisches Lebenswerk als Einheit. Wien 1983. - 23 -