6. Einheit: «1814 – Adelbert von Chamisso, Peter Schlemihls
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6. Einheit: «1814 – Adelbert von Chamisso, Peter Schlemihls
6. Einheit: «1814 – Adelbert von Chamisso, Peter Schlemihls wundersame Geschichte» Autor Lebenslauf Adelbert von Chamisso (17781838) entstammt einer französischen Adelsfamilie (Champagne), während der Revolution wanderte die Familie aus, Flüchtlingsschicksale wurden zu der Zeit – u.a. von Goethe – literarische Themen. Er lernt erst mit 15 Jahren Deutsch, 1803 veröffentlicht er sein erstes Werk „Faust“, heute gilt der „ChamissoPreis“ als wichtigster Preis für nichtdeutsche Autoren im deutschsprachigen Raum. Während der napoleonischen Kriege war Chamisso Leutnant im deutschen Heer und musste gegen seine eigenen Landsleute kämpfen, deshalb schied er 1808 wieder aus der Armee aus. Als begeisteter Naturwissenschaftler hat er Pazifik und Antarktismissionen durchgeführt (von 1815 bis 1818), er war Schiffsreisender und Schriftsteller, wie z.B. Georg Forster vor ihm. Diese Mission machte er gemeinsam mit Otto von Kotzebue, Sohn von August von Kotzebue, sie untersuchten u.a. das Leben der Salpen und die hawaiianische Sprache (in Alaska ist ein Vogelschutzgebiet nach ihm benannt!). Er heiratete 1819 die viel jüngere Antonie Piaste (18001837). Werke Einige Werke Chamissons sind kanonisiert, allen voran „Peter Schlemihl“, v.a. aber seine Gedichte. Im „Peter Schlemihl“ findet eine Eigencharakterisierung statt, der ursprüngliche naturwissenschaftliche Untertitel war nur zur Tarnung gedacht. In seiner Lyrik war Chamisso ein realistische Beobachter (Das Dampfross, Die alte Waschfrau, Frauenliebe und leben etc. wurden zahn Jahre später von Schumann vertont); Balladen (Die Sonne bringt es an den Tag, Das Riesenspielzeug); „Peter Schlemihl“ machte ihn weltberühmt, weiter schrieb er zusammen mit Hoffmann und Fouqué an „Roman des Freiherrn von Vieren“, aber nur Fragment. Chamissos Dramen sind nicht relevant (Fortunati Glücksäcklein und Wunschhütlein) → magische Gegenstände, die unsichtbarmachen, Reichtum bringen etc. Textgestalt Herausgeberfiktion vorgeschaltete Herausgeberfiktion, die suggiert, dass es sich um eine authentische Geschichte handelt, fiktiver Briefwechsel mit Fouqué, Hitzig u.a. Durch die fiktive Textgenese wird die Autorschaft verkompliziert, Chamisso konstruiert eine reale Figur des Peter Schlemihl → Text wird zur persönlichen Erzählung und wird mit Sympathielenkung verbunden, Inszenierung: Schlemihl gibt Chamisso das Manuskript (hrsg. von Fouqué). Brieg Hitzigs polemisiert gegen die Herausgabe von Fouqué. 1827 ist die Geschichte bereits weltberühmt, E.T.A. Hoffmann wurde von ihr inspiriert („Abenteuer der Sylvesternacht“), Chamisso kommt von Weltreise zurück und wird von Weltruhm überrascht, in Briegen schreibt er von Entgrenzung der eigenen Identität und Aufspaltung der Person, Chamisso ist die Figur auf dem Titelblatt von „Peter Schlemihl“ → Botanisierstempel ein Hinweis dafür, durch die fiktive Überreichung des Manuskripts von „Peter Schlemihl“ wird die reale Welt in Fiktion eingebunden (Chamisso schreibt von Treffen mit Schlemihl im Jahr 1804). Chamisso gleichzeitig der „NichtAutor“ der Geschichte, da sie von Fouqué herausgegeben wurde und eben dieser irrtümlich bis 1830 für den Schöpfer gehalten wurde. Ludwig Bechstein schrieb eine Fortsetzung. Dass Autoren in den eigenen werken auftreten ist eine romantische Strategie (Doppelgängermotiv → Autor sein eigener Doppelgänger) Inhalt Prinzip: eine schuldhafte Tat wird begangen und die darauffolgende Reue wird erzählt. In Märchenform mit 11 Abschnitten. Im ersten Abschnitt ist die Erzählung sehr konzentriert, ein erregendes Moment passiert, Peters Name wird erst im nächsten Abschnitt genannt. Die Handlung spielt zuerst in einer Hafenstadt in Norddeutschland, Schlemihl ist dort als Bote für Thomas John und begegnet dort einer reichen Gesellschaft, inmitten derer befindet sich ein mysteriöser Mann mit grauem Rock, aus dem er große Gegenstände herauszuziehen scheint. Der Rest der Gesellschaft ignoriert ihn aber, der Mann schläft Schlemihl einen Handel vor: für Peters Schatten gibt er ihm Fortunas Glückssäcklein. Peter nimmt den Handel an, durch die Schattenlosigkeit folgt aber eine Zeit der Verstoßung. Sein treuer Diener Bendel und Rascal, der später sein Geheimnis enthüllt, spielen zentrale Rollen. Peter und Rascal kämpfen um die Liebe von Mina, die er nur haben kann, wenn er wieder seinen Schatten zurückbekommt. Er hofft auf die EinJahresFrist (der Handel wird nach einem Jahr wieder aufgehoben), der Mann taucht wieder auf und präsentiert sich als Teufel, der die Seele von Peter stehlen will. Peter will seinen Schatten zwar zurück und will den Teufel überlisten, dieser ist aber zu gewieft, vorerst lassen sie sich auf ein HerrDienerVerhältnis ein. Schlemihl lässt sich schließlich vom Teufel nicht korrumpieren und wirft den Geldsack weg → Totalverlust → positive Wende, die letzen Abschnitte heben sich vom Rest ab, Peter findet seine Bestimmung in der Naturforschung mithilfe der Siebenmeilenstiefel, die er ehrlich erwirbt. Erkenntnisgewinn Schlemihls und Selbstakzeptanz, Erzählung endet mit Rahmung → sichere Zuflucht in die Höhle, Einsiedlerdasein, Pudel als Gefährte (vgl. Faust!), erste acht Abschnitte in lokaler Beschränkung (deutsche Szenerie), die letzten drei dann global. In der lokalen Szenerie vermischt sich die Natur mit Domestizierung (Forst, Park, Schlucht als Touristenziel) → die exotische Natur bietet dann Raum für die Erkundung und Erforschung des Unbekannten. Der Schatten als Zeichen Symbolschichten Existentiell: Der Schatten als Symbol für die Existenz, ein Verweis auf eine Sache oder eine Person, repräsentiert das Wesen einer Sache, Trennung vom Schatten führt zur Entfremdung; ähnlich dem Spiegelbild – Abbildhaftigkeit ein Thema bei Hoffmanns „Abenteuer einer Sylvesternacht“, wo die Hauptfigur, die kein Spiegelbild mehr hat, auf Schlemihl trifft). Die Erzählung setzt den Akzent des Verlust anders, der Schatten ist nicht Sitz der Seele, aber in parabelhafter Gestaltung kann der Schattenverlust als persönlicher Makel und als Chiffre für das Außenseitertum gesehen werden, dafür wird die realistische Plausibilität aufgeopfert. Schattenbesitz hat eminente Bedeutung, der Schatten ist das erste, was dem Teufel auffällt, der Rest der Menschen ignoriert Schlemihl, als er aber den Schatten nicht mehr hat, wird er sofort von seiner Umwelt als „Schattenloser“ wahrgenommen (T. Mann meint dazu, dass es zwar nicht realistisch ist, aber im Kanon der Erzählung durchaus schlüssig angesehen werden kann); Bendel als treuer Diener und Freund will seinen Schatten für Peter hergeben, es werden Ausreden für den Schattenverlust gesucht, Schatten aös Ware, die eingetauscht oder verloren gehen kann, nicht als Abbild, sonders als Materielles. Schatten als Statussymbol: Rang der Gesellschaft durch Existenz eines Schattens → Parabel, aber nicht klar für was sie stehen könnte Medial: Verlust des Körperlichen, Schatten ist nicht dreidimensional, sondern flach → zeitgenössischer Medialdiskurs (Kulturhermeneutik → Einfluss der Medien auf literarische Werke). Schattenriss: Abgebildete wiedererkennbar, Charakter wird freigelegt, im 18. Jahrhundert modern, obwohl seit Antike bekannt, schneller und billiger als Porträtkunst, Silhouettenschneider als Unterhaltung, aber auch Wissenschaft → vor der Fotografie: möglichst genaue Abbildung (der Abbildung) → mediale Problematik: Schatten gehorcht nicht den physikalischen Gesetzen, sondern den Silhouetten (er kann eingerollt werden, weggepackt, abgelöst, gefaltet etc.) → verdinglichte Projektion Lesarten Autobiographisch Naheliegend, früher Wissenschaft v.a. mit autobiographischen Lesart beschäftigt, legt das Ende einen Wunschtraum bzw. Vorausschau Chamissos offen? Als Schlüsselerzählung haben die Figuren Äquivalente in der Wirklichkeit. Peter Schlemihl und Chamissos Vaterlandslosigkeit, er begann 1813 an dem Werk zu schreiben, gleichzeitig fingen die Befreiungskriege an → Zwiespalt Grund des Werks? T. Mann sieht in der Geschichte internationalen Charakter und die Figur des Schlemihls als Symbol für Unbürgerlichkeit, den Schatten widerum als Symbol für die Bürgerlichkeit → Zerrissenheit des Künstlers Sozioökonomisch Themen wie Ware, Handel, Tausch und Kapital als Kernmotive; die materialistische Literaturwissenschaft sah in dem Werk ein Vorbild für den literarischen Vormärz und des frühen Realismus, → soziopsychologische Lesart, wirtschaftliche Umbrüche, Schlemihl macht Lernprozess durch und reift, anfangs leichtsinnig, am Ende erkenntnisreich – ein kleiner Bildungsroman? Winfried Freund schreibt den magischen Geldsack, der im Widerspruch zur calvinistischen Wirtschaftsethik steht: ohne Arbeit kein Reichtum, Reichtum ohne Arbeit und Anstrengung dubios. Der Politökonom Sismondi analysiert es kapitalistisch: „Der Handel hat den Schatten vom Körper getrennt und so die Möglichkeit geschaffen, sie getrennt voneinander zu besitzen“ Intermedial In der Kunst fand die Erzählung eine sehr fruchtbare Rezeption, der Schatten markiert in der Kunst den Standort der Figur → ohne Schatten kein Standort, Loslösung von Umgebung Literaturgeschichtlicher Standort Verarbeitung früherer Traditionen Lektüre als Entwicklungs und Sozialisierungsgeschichte, Problematik des Schattenverlusts am Ende weniger präsent, aber gleichzeitig Negativbild → Held endet in Höhle, keine Sozialisierung, Hingabe an Tränen und Empfindsamkeit, starke Körpersprache und Ohnmachtsanfälligkeit Aufnahme aktueller literarischer Genres Novellenmärchen: magische Requisiten verweisen auf literarische Traditionen und tauchen schon bei Grimmelshausen auf, das Wunderbare ist mehr auf die Gegenstände ausgerichtet Schauergeschichte: Disassoziation: die Körperlichkeit geht teilweise verloren, Abbildverlust → Gefährdung des Körpers. Teufel: unauffällig in Gesellschaft, „Mann ohne Eigenschaften“, keine typischen Merkmale wie Pferdefüße u.ä. → vgl. „SerapionsBrüder“, wo die Teufelsfigur verbürglicht wird, Teufel pünktlich und vertragstreu, seine Umgangsformen sind gesellschaftlich akzeptiert. Antizipation realistischer Elemente Passagenweise realistische Züge, T. Mann sieht die Leistung in der Erzählhaltung, hohe Authentizität am Ende, wahrheitsdetailiert (Szene im Forsthaus). Schlemihl als Schwellentext → hybride Ordnung: Empfindsamkeit und Vorausschau auf Realismus. Gleichzeitig mediale Schnittstelle zwischen Schattenriss und Fotografie → veranschaulicht Begriffe der Romantik