gehalt, struktur und religióse haltung in novalis` `hymnen an die nacht`

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gehalt, struktur und religióse haltung in novalis` `hymnen an die nacht`
Dr. B.H.J. van tier Berg
D ep artem cn t D uits
GEHALT, STRUKTUR UND RELIGIÓSE HALTUNG
IN NOVALIS’ ‘HYMNEN AN DIE NACHT’
A ufgabc d es K u n stlers
Das K unsllertum slclu fiir Novalis iibcr dcrn M enschenlum , insofcrn nur
cirr Kiinsllcr zur V crahsolulierung dcs Aslhetischcn zu gclangcn verniag.
Dci Kiinsllcr ist Ideal dcs M enschcn, 1st Gipfcl dcs M cnschcnlunis, ja ci ist
soziisagcn Uberincnsch. Das Asthctischc ist die ErfVillungdcr nienscliliclicn
Existcnz ii!)crlianpt, indem dcr Kiinsllcr seine cigene Existcnz iind
P crsonlic.hkeit niit dern P oclisc li-A stlictisc h en erfu llt. K iinst isl
Lchcnserriillung, ist Univcrsalkaleproric, isl Vcliikcl zur Poclisicning dcs
Lebens. Die Pocsicsoll alle Ersciieinungen dcs menschlichen Lebcns in eincr
b cstim n iten Einlieit zusaminenf'assen. S pezialisierung d cr Bcrciche
mcnschliclien Lcbciis soli durcli diesc Einlieit von Wisscnschaft, Religion
und Philosophic iibcrw unden werden, darnit der M ensch vielseiligcr werdc.
Fichtes AniTassung, dafi das Ich das Verm ogen zur V ernunfl, V ernunit das
Vcrm ogcn zur Frciheit, Freihcil das Vcrtnogen zur Erfiillungder Pllicht ist,
verlanlaBl Novalis’ U berzcugung, daB die K unst das Vcrm ogcn dcs Ich ist,
sirh von dcr Eiii|}irie zu bcl'reien. D er Kiinstler produziert autonom und
absolul aus seinem Inneren heraus, E r schailt im Kunstwerk einc W eltanlhologie. Dalier isl Sprachc wichtig, wcil jed er seine eigene Sprache haben
niuB, insofcrn Spraclie AuBcrung des individuellen Geistes ist. Als AuBerung
dcs Gcnuits ist das K unstw erk also unabliangig von der empirischen
Tatsachenwelt und ermoglicht ihrc cntschcidcnde und cinmaligc Stimmutig.
Im K unstw erk vollzieht sich die Auilicbung jedes rationalen Sinnes, die
E rhcbung des Wortcs zu cincm Absolutismus.
Fiir Novalis ist dcr Mensch, der cine D iehtim g produziert, ein Universum.
D er cchte D ichtcr ist ein Wisser, dcr die N atu r besser verstcht als Jeder
wisscnscliaftliche Kopf. Insofcrn das Kunstwerk cine Romaritisierung von
P h ilo so p h ic, R elig io n u n d W isscn sch alt b e in h a lte t, zcigt es den
urspriinglichcn Sinn der Welt, die Novalis als feme Vergangenhcit
idcalisiert, wo Gottheit und N atu r m itciiiandcr vollig idcntiilzicrt und
harmonisiert w aicn. D a war N atu r noch unvcrfalscht, unkultiviert und
echt. Die em pirische N atu r ist nicht mclir O flenbarung des gotllirhen
1Icrzcns, sondern nur noch einc E ntartu ng und Verfálschung der damaligcn
VollkonuTienheit. Aulgabe des Ktinstlcrs soil es sein, die zerstorte H arm onic
wiederherzustellcn, aber au f eincr hoheren und etlleren Stufe als danials.
Das Empirische soil zuni Sinnbild dcs M ctaphysisehen und M ythischcn
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crhobcn werdcn, dem Endlichcn soil ein uncndliclicr Schein, dcm Bckanntcn
die W iirdc des U nbekanntcn vcrliehen wcrden. Novalis setzl dem Kiinstler
zum Zwcck die wechsclbare A m iaherung zwischen vcrschicdenen Entitaten
und Bcicichen wie elwa zwischen dem Endliclien und Uiiendlichei), dem
Irdischen und d em G ottlichen. D as ist echtes R o m an tisieren, die
entscheidende Funktion der Kunst.
Z ertruinnierung der E inhrit und H arm onic, Religions- und Gottlosigkeil
kennzeiclinct die Gcgenwart. U m von dieser U nart des Lebens abzuienkcn,
vcrweisl Novalis auf die kunftige Zeit, das d ritteodcrT ausendjahr-R eich —
das Reich Gottcs. D er echte Kiinstler muB letzten Endes prophetisch sein,
indeni cr die M enschheit auf dieses dritte Stadium der Geschichte
vorbercitet, in dcm m an zuriickkehrt zum urspriinglichen Zustand der
liinheit und Harm onic.
G ehalt der H ym n en
Die H ym nen umkreiscn im m er dasselbe Zenlrum , namlich die Bereiche
T ag und Nacht. Indem die 1. und 2. H ym ne das Ratscl des Raum es und der
Zcil beliandein, wird ein positiver Akzent auf die W eltnacht gelegt, der
W elttag dagcgcn abcr negativ gewertel. “ Arm und kindisch” (S. 132)' ist
das 'I’agcslicht, fcrnab “ licgt die Welt — in cine tiefc Gruft versenkt — wiist
und einsam ist ihrc Stcllc” . (S. 131) Das allerfrculiche I^icht der gestirnten
N acht abcr oiTnct im M enschcn die unendlichen Augcn und somit wird der
Bereich des M etaphysischen beriihrt. Zeit und Ewigkeit, W achen und
Schlafcn werden als Polaritaten von irdischcr Gewalt und himmlischcr
Heiligkcit kontrastiert. Die Naciit ist den empirischen Kategorien nicht
untergeordnet, sie ist zcitlos und raumlos.
Die 3. H ym ne bringt das M otiv des Todes, der anfangs negativ gcdeutet
wird, infolge des Dichtcrs Einsanikeit nach dem friihen T od seiner gcliebten
Sophie von Kiihn. Sein Problem ist, daB er noch zu sehr an der
verganglichcn Em piric hangt. In ciiier traum haftcn Vision sicht cr aber die
vcrklartcn Ziige seiner Gcliebten. Das ist die G eburt dcr metaphysischen
Welt, der E ingang in cine hoherc Stufc seiner Existcnz — “ und erst seitdem
fiihl ich cwigen unw andelbaren G lauben an den H im m el der N acht und
sein Licht, die Gciicbtc” . (S. 135)
Die 4. H ym ne bildet einen K ontrapunkt, indem sie zwischen Licht und
' Novalis. Schripen, I. hg. P aul K liirk h o lin im d R ic h a rd S am iirl iin tc r M ita ib c it von H einz
R illc r iind G rilia id S chulz (S tu ttR art, 1960/1977).
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Duiikcl abspielt. Das erw ahnlc Licht isl nichl melir cinclculig negativ, da
niclu nichr das hcllc Licht dcr Sonne, dcs Tagcs gcmeint ist, sondern das
milde Liclil dcs Mondcs. Das Spannungsverhallnis zwischen T ag und
Naclit hat sich zur kontrapunktischen Gcgeniiberslellung von empirischcr
nnd m ctaphysischer N acht vcrschobcn. Weil sich dcr D iclucr I'iirdas Rcich
dcs Dunkcls ciitschlossen hat, liat das Licht ihrc Gcwalt iiber ihn vcrlorcn:
aber du [Liclit] lockst niicli von dcr Erinncrung moosigem Dcnkm al
nicht. [...] getrcu dcr N acht blcibt mein geheinies H erz [...] (S. 137) Iin
Motiv dcr Kreuztragung wird die negative Bcdeutung des Todes iiberwunden.
“ Einst zeigte deine U h r das E nde der Zeit” (S. 139), jetzt ab er markiert der
T od ncue Erkcnntnis: er bcfrcit von den irdischen Beschrankungen, von den
Fesseln dcr beengenden Rcalitat, d aru m pladiert cr fiir willcntlichc
U bcrgabc an den Tod als Reich des wahrcn, vcrjiingcnden Lcbcns:
Noch wenig Zeilen,
So i)in ich los,
Und liege tninken
Dcr Lieb' ini SchooB. (cbd.)
Die echte Liebe schlagt die Briicke zwischen V erganglichkcit und Ewigkcit.
Dieses neue Lcbcn findet seinen p ragn anten A usdruck im Bild des Wasscrs,
das fiir Novalis U rgrund alles Lebens, Elem ent der Liebe und der
liimmlischcn Allgewalt ist.
In d cr 5. H ym ne tritt das Personliche zugunsten einer weltanschaulichen
Gcschichtsphilosophic, die die Vorzeit und die W eltschoplung miteinbezieht,
zuriick. Dicsc H ym ne sprengt die Polaritat von T a g u nd N acht, indem sie
zeigt, daB sic nicht polar wirkcn, sondern sukzessiv. An erster Stelle wird die
Atlantiszcit heraulbeschworen, da die N atu r noch allbeseell und allbelebt
war, gekennzcichnet durch vollkommene H arm onic und Liebe. Der
Anfang der Neuzeit, der Gegenwart, vcrkiindigt das Endc dcr alten Welt.
Die G egenwart ist wegen Rationalisierung ohne Phantasie und ohnc
H arm onic. Die einzige R ettun g aus der uncrfrculichcn Realitat licgt in
Vcrinnerlichung, in der empirischen N acht als Ersatz fiir die fehlendc
Einhcit. H ollnung und Verheiliung ist symlx)lisiert in der Gestalt Jcsu
Ghristi. Seine G eb urt bedeutet den Anfang der neuen M enschhcit, sciii
Stcrben die Befreiung von dem Tod, seine Auferstchung den Zugang zum
rausendjahr-R eich, zur metaphysischen Nacht.
Die letzte H ym ne gcstaltet den endgiiltigen E ingang in das Reicii der
N acht, das mit dem Reich Gotles gleichgesetzt wird. Dic.ses N achtreich ist
kein empirisches Phanom en, sondern Lst Symlwl und Sinnbild, 1st allegori.sche
W ahrheit, die sich von d cr U berschattung'dcr empirischen N acht losgclost
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hat, d ahcr ist dicser Bereicli nicht mit physischcn Details prazisiert, sondcrn
nur mit geistigcn Inhaltcn ausgeslattet.
S ym b olsch ich ten der H ym nen
Iin crsten Symbol wird die N acht als endlich und vcrganglich dargestellt.
Das Irdische 1st T rager dcs Leidens, alles Dasein ist nichtig. N ur die w ahrc
Liebe bildet einc ewige V erbindung, ist das Band, das die Verganglichkeit
iiberwindet. Dieses M otiv der 1. H ym ne wird in der 3. H ym ne H inw endung
ziim Reich des Todes, A bw endung von der empirischen Welt. Das fordert
ein zweipoliges Verhalten: es soli nicht nur einseitig negativen Verzicht
beinhalten, sondern soil zugleich als positiver, aktiver, vollkommener
Verzicht verstanden werden, weil der T od eine li ohe VerheiiJung ist, die im
Kreuzbild erfiillt wird; “ In m ir fiihl ich deiner Geschaftigkeit Ende —
himmlische Freyheit, selige Riickkehr.” (S. 139) D er T od bedeutet
V erbindung mit dem Urgrund.
Im zweiten Symbol ist das Reich der N acht ein Reich, das m an schon im
Leben in sicli erwecken kann. Inncrlichkeit und GemCit, das synonym ist mit
tiefereni H eiligtum (vgl. S. 145), gelten hier als Weltverzicht. D er Dichter
fordert eine weltentwertete Innerlichkeit, die sowohl alle Weltgehalte
abstoBt, wie auch die W elt vollkommen abstirbt:
wer oben stand auf
dem Grenzgcbiirge der Welt, und hinubersah in das neue Land, in der
N acht W ohnsitz — warlich der kehrt nicht in das Treiben der Welt zuriick,
in das Land, wo das Licht in ewiger U nruh hauset.” (S. 137) Es ist
W eltverzicht in seiner radikalsten Form. Nicht n u r das Abscheuliche soli
m an nicht bewerten, auch das Schone muB abgelchnt werden. M an soli
iiberhaupt keincn Bezug zu der Welt haben, nicht in Gluck oder Ungluck,
nicht in R eichtum odcr Armut.
Das 3. Symbol stellt die N acht dar als Schlaf, der ein schattenhaftes Abbild
und Sinnbild des metaphysischen Bereiches ist. Alles Gegenstandliche wird
abgelchnt, alle U nterschiede zwischen den empirischen Bereichen T ag und
N acht sind bchoben. Das 4. Symbol erhoht die Bedeutungskraft dcs Todes.
D er T od wird begrifTenals Urbild und Vorbild derreligiosen H altung. Das
Reich der N acht ist das Reich der Liebe und des Willens. Das Todesreich
wird erhoht zum zukiinftigrn Reich der Ewigkeit, wo ewige Liebe und
ewiger Friede herrschen:
H inunter zu der siilien Braut,
Zu Jesus, dem Geliebten —
Gctrost, die A bend dam m ru ng graut
Den Liebenden, Betriibten.
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Ein T rau m bricht unsrc Banden los
IJiid senkt uns in dcs Vaters ScliooB. (S. 157)
In den vcrschiedcncn Symbolschichten handelt cs sich um eine Antilhese
zwisclicn Liclit und Dunkel. Es ist ein musikalischcs T hcm a, das cinerscits
vielfaltig variiert, andererseits einlinig gcstallet wird. Das positive Lob auf
die Herrlichkeit dcr cm pirischen N acht wird kontrastiert niit einer
negativen A bkehr vom Tagesreich. Das Tageslicht wird gcwcrtct als
Inbcgrill des Bosen, als V erfiihrung und Lahrnung. Die irdische Gew alt des
Tagcs zerstort die H arm on ic der N acht; “ M uB im m er dcr M orgen
wicderkom m en? Endet nic dcs Irdischen Gcwalt? unselige Gcschaftigkeit
vcrzehrt den liiminlischen A nilugder N acht.” (S. 133) D er wesentliche Sinn
menschlichen Daseins liegt in der Nacht; der Schlaf ist ein M ittel zum
W aciien, ist heilig und ewig. So betrachtet, ist die N acht cwig, dcr T a g aber
steht im Zeichen der Verganglichkeit. Es ist klar, daB dcr Dichtcr eine
radikale, absolute Ablosung von T ag und W elt erschnt.
Das Irdisch-Empirische wird ab er als W undcrhcrrlichkcit gewertet sobald
das Ich a u f allc personlichcn Wiinsche, auf alle diesseitsgerichtcten Triebc
verzichtet. D ann ist das crschnte harm onische Reich schon im Diesseits
apriorisch vorweggcnommen. Das Ich muB erst au f seine Verbundenheit
mit dem Hier und dem Jetzt verziehtcn, um sein eigcncs Wollen au f die
W elt prqjiziercn zu konnen. D ahcr soil seine Ablosung von der W elt nicht
iniBverslanden werden als Wcltflucht, sondern als cine andcrsartigc
H inw end un g zur Welt. Das sctzt cin aktives W eltverhaltnis voraus. Im
G ru n d c wird die menschliche Existenz zuriickgefuhrt au f die Polaritat des
cigrnen Willens: wcil die W elt uncndlich ist, d cr M cnsch a b ercn dlich , soil
er sich der Welt ancignen.
R elig io se H altu ng der H ym n en
Die religiose H altu n g des M enschen durchlauft drei Phasen. Die crstc ist die
mytliologische oder vorhistorischc Phase, die gcm cinhin als Atlanti,szcit
bezeichnet wird. Sic reprasentiert die cigentliche Geschichte der Menschheit
und d er Welt, wobei die G otter eine zcntralc Rollc spielen. Diese Phase wird
m arkicrt d urch sowohl eine einmalige Einheit der G otter mit dem Irdischen
und M enschlichen wie auch ein harmonisches Einvcrstandnis zwischen
M cnsch und rom antischer N atur, die allbcsccit und allbclcbt ist: “ In den
krystallcncn G rotten schwelgte ein lippiges Volk. Fliisse, Baume, Blumen
und 'I'hierc h atten menschlichen Sinn. [...] Alle Geschlechter vcrchrtcn
kindlichdiezarte, tausendfaltigcFlam m c, als das hochste der W elt.” (S. H I
f.)
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In dcr zweilen Phase vollzeiht sich die Entgottcrung, die Entm ythisierung
m cnschliciien Daseins. D a ra u s rcsiilticrt eine e in d e u tig negativ e
TodcsaulFassung: “ [...] und ich einsam stand am diirren Hiigel, der in
engcn, dunkcln R au m die Gestalt nieines Lebens barg — (S. 135) Des
M ensrhcn Glaubensfahigiteit wird dcmgemalJ zerstort. Schuld daran ist in
erster Linie die aufgeitlarte, neue Zcit, die ailes Mystische diirch die
Wissenschaft enthiillen und erklaren will: “ Einsam und leblos stand die
Natur. Mit eiserncr Kette band sie die diirrc Zalil und das strengc MaaB.
W iein S ta u b u n d Lufte zeiTiel indunklc W ortedie unermeBliche Bliithedes
Lebens. Entilohn w ar der beschworende G lauben
(S. 145)
In der letzten Phase wird der O pfertod Jesu Christi als Vorbild sinnvollen
Sterbens dargestellt. Sein exemplarischer Tod beinhaUet seinerseits wiederum
drei wichtige Phasen. D er T od ist erstens physisches Erlcbnis, zweitens
Abkehr von dicser Welt und zulelzt ein chrisliiches Opfer des “ menschlichen
tiefen Verfalls.” (S. 147)
Novalis verkiindigt individuelle F rom m igkeit und Religiositat. Das
Individuum schalTl seine Religiositat weil auCerhalb vom Selbsl. Es findet
cine Verkniipfung voni Christlichen mit einer frei geschalTenen Symbolwelt
statt. Dazu braucht man die Schafl'ung cincs neuen Mythos, weil die
M ythologie ihrcn Z au ber vcrloren hat, wie auch ihren sagenhaften und
poetischen G harakter, da die Geschichte sich d aru m bcmiiht hatte, sie von
wissenschaftlichen Griinden aus zu untersuchcn und zu interprctieren. Der
neue M yth os soli den M enschen als M ed iu m zur W eitbegegnung,
W eltanschaulichkeit und W cltuberw indung iiberhaupt setzen. M usterhaft
sind die orientalischen M ylhologien, da die griechischen M ythologien
durch wissenschaftliche Interpretation fiir die Rom antiker an Bedeutung
und F orm at verloren haben. Der neue M ythos soil die Absolutheit des
Geistes beweisen, sein Inhalt soil idcalistisch sein, soli die Einheit vom
Gottlicheii und Mcnschlichen, vom Ideellen und Reellen zeigen und
i'ordern. A uf diese Weise kann der Dichter die kritische Distanz zur
empirischen Welt bewahren, die er braucht, das Leben zu gestalten.
Diese Subjektivierung des Religiosen ist kennzeiclinend liirdie romanlische
Epoclie iiberhaupt. Die W ell und das Selbst miissen erst abgelchnt werden,
um au f den tiefstcn G ru nd dcr eigenen Seele hinabsteigen zu konnen. N ur
au f diese Wcise verm ag es der Mensch, eine gottliche, paradiesische
H arm onic m it sich selber zu gewinnen. N ur so w ohnt das Reich Gottes
schon im Leben in uns und gelangen wir zu eincm Zustand der seligen
H arm onic und Alleinigkeit. Diese Alleinigkeit soli vorbildhaft fur das
individuelle Dascin sein — es soli cin Z ustand der Idcntitat geschail'cn
wcnJcn, wobei allcsdermaBcn hamionisch 1st, claB nichts ini Pcrsonlk-,hen auszusclieiden
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ist;
Gctrost, das Lcbcn schreilcl
Z um cwgcn Lcbcn hiii;
Von innrcr Glut gcweitct
Vcrklar( sirli unser Sinn. (S. 153)
D urch (licsc V crklarung wird cinc uncndliclic Einigkeil init Gotl sclion im
Dicsseils crrciclu, und kann m an zu ciner n u r scheinbar paradoxcn
Ziisammcnfassung von Licbe und Tod gelangcn.
D ie F orm der H ym n cn
Die H ym ncn, als G ru n d g atlu n g dcs Lyrisclicn, zcigcn das Verhaltnis voni
lyrischcn Ich zur Welt. Indem die H ym ncn die unauflosliche Vcrschmelzung
dcr bcidcn gestallcn, .sind sic Verkiindiger eincs Mystcriums.
Anfiere Form^
Er.ste Schichl
Kurze, rcimlosc Verse werdcn durch eincn frcicn R hythm us gckcnnzcichnet.
Die ungckiinstcltc Sprachc bctonl die N aturnahc. Das M ctrum ist cntwcdcr
Irocliaiscli odcr daktylisch, dh. durchgelicnd fallcnd. Kin Haucli dcr
Gclassenhcit, durciimischt m it W ehm ul, bildet die innerc Almospharc. Dcr
Dicliter zcichnct eincn Z ustand d cr H arm onic, dicvcrgangcn ist, und eincn
Z ustand der Harm onic, die noch kom m en muB. D er Lcser cm pfindet aiich
cinc S tim m ung dcs M cnschen in seiner verzichtcnden Weltrcsignation.
^w eile Schichl
Die Verse sind noch kurz, ab er schon langcr als die Kurzversc der crsten
Schicht. Das M ctrum ist hier jam bisch, dh. stcigcnd. Ein strcngcs Altcrnationsscliema wird beibchaltcn und die Verse sind kreuz- und paarwcise
gcreimt.
Dritte Schichl
Eine Art Prosa wird in der ganzcn drittcn H ym ne vcrwendct, wie auch zum
Anlarig d er vicrten H ym ne. Auch diese Prosa ist abcr dcnnoch rhytiimi.sch
d urchkonstruiert — sie ist keine norm ale Prosa, sondern poetische Prosa.
Diese drci Schichtcn sind weltanschatilichc Idcendiciitung, die die letztcn
Prinzipien dcs Daseins befragt. Sie sind cine Begrifl'sdichtung, die ins
* D ie F orm tir r H an clsrh rift u n d niclit die dcs A lh c n a c iim sd ru c k s wire) fiir dcii Z.wcrk d ic srr
A nalyse b caclilet.
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Foctischc umgcsetzl wird durch die Rhythm isierung der Sprachc. Alles
vcrhiilll sich in Symbolen, vor allein in Natursymbolen. Weitcre wicluigc
Syinbolc sind das Reich des 'I ages, das Reich der N acht und die G eburi Jesu
Christi. O bschon es Ideendichlung ist, ist es keine Lehrdichtung, die nur
abstrakl und reine Rellexion ist. Es ist ebenfalls kcine Erlebnisdichtung; es
ist im m er die Rede von allgcineinen GattungsbegriiFen wie Tag, Nacht,
T od, K reuz usw. Es h an d eh sich also sozusagen um gegenstandliche
IdcenzusamiTienhangc in lebendigen Symbolen. Alles Symbolhafte wird in
Allgemein- Typisches erhobcn, alles Stodlichc wird vergeistigt.
Die innere Komposition
Die H ym nen .sind zusamniengcsctzt aus Leitwortcrii und Leitmotiven, die
imm er wiedcrkehren. Es gibt einen standigen Wech.sel zwischen diesen
Leitwortern und -motiven. Ein groiks M erkm al ist die Steigerung wie die
standigc U m kehr des Positiven und Negativen.
Insgesamt pragen der G ehalt wie die Komposition und Architektonik der
H ym nen dicsen Gedichtzyklus zu einem hohen Kunstwerk.
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