USA 1975 - Rock and Pop in the Movies
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USA 1975 - Rock and Pop in the Movies
NASHVILLE USA 1975 R: Robert Altman. P: Robert Altman. D: Joan Tewkesbury. K: Paul Lohmann. S: Dennis M. Hill, Sidney Levin. Darsteller: David Arkin, Barbara Baxley, Ned Beatty, Karen Black, Ronee Blakely, Timothy Brown, Keith Carradine, Geraldine Chaplin, Robert Doqui, Shelly Duvall, Allan Garfield, Henry Gibson, Scott Glenn, Jeff Goldblum, Barbara Harris, David Hayward, Michael Murphy, Allan Nichols, Dave Peel, Christian Raines, Bert Remsen, Lily Tomlin, Gwen Wells, Keenan Wynn. V: 1975 (DVD). 160min, 1,33:1, Farbe, Englisch, Dolby-Stereo. Robert Altmans NASHVILLE hat auch nach über 35 Jahren nichts an seiner Aktualität und Brisanz verloren. Zwar zeichnet der Film auf sehr eigene Weise ein Seelenbild der 1970er Jahre Music City, USA, fungiert aber gleichermaßen als universale Metapher des american way of life, des so oft beschriebenen, besungenen, verfilmten amerikanischen Traums vom Tellerwäscher zum Millionär. Eine richtige Handlung gibt es nicht, vielmehr wird ein Handlungsrahmen gesponnen, indem sich 24 mehr oder weniger flüchtig verlaufende Schicksale zufällig kreuzen und auf irgendeine Weise mit der Country-Music-Industrie verwoben sind – wie z.B. Barbara Jean (Ronee Blakely) als aufsteigender Countrystar, Haven Hamilton (Henry Gibson) als politisch ambitionierter Grandseigneur der Country Music oder Connie White (Karen Black) als aussichtsreiche Mitstreiterin für die Auszeichnung als beste Countrysängerin. All diese Protagonisten mit ihren beiläufigen Liebesaffären, halbseidenen Geschäftskontakten, Starallüren, unerfüllten Träumen, persönlichen Verstrickungen vereint der Wunsch, eine wichtige Rolle in dem Soziotop der Musikindustrie Nashvilles zu spielen. Die eine als Groupie, die ROCK AND POP IN THE MOVIES, 1, 2011// 66 andere als talentlose Kellnerin, der andere als durchgeknallter Fan, der mit seinem außergewöhnlichen Motorrad immer auf Achse ist, um dort zu sein, wo Country Music zum Mittelpunkt des Nashville-Universums wird. Trotz oder gerade wegen der nur locker gesponnenen Rahmenhandlung suggeriert NASHVILLE den Charakter eines Dokumentarfilms über die Country Music-Metropole. Diese Anmutung wird durch die BBCReporterin Opal (Geraldine Chaplin) genährt, die für ein Radioporträt über Nashville an allen möglichen und unmöglichen Orten auftaucht. Ihr überambitionierter feministischer, zuweilen europäischsnobistischer Anspruch scheint irgendwie nicht in die Welt der Country Music zu passen. Das unaufhörlich laufende Tonbandgerät dokumentiert rücksichtslos die traditionslose Kulturwüste Amerikas. Diesen „Zusammenprall der Kulturen“ verwebt Altman ironischhumoresk in sein Breitbandfresko der Country-Music-Kultur. Der Film entlarvt von Beginn an die gnadenlosen Mechanismen einer einzig und allein auf Kommerz abzielenden Musikindustrie. In einem großzügig ausgestatteten Tonstudio nimmt Country-Star Haven Hamilton seine patriotische Hymne zur 200-Jahr-Feier der USA auf, deren Refrain (We must be doing something right the last two-hundred years) mehrfach von Hamilton mit harschem Ton unterbrochen wird, weil der Pianist seiner Auffassung nach falsch in die Tasten greift. Die Stimmung ist gereizt, zumal Hamilton die BBC-Reporterin als unangemeldete Zuhörerin entdeckt und sie vor versammelter Studiocrew zurechtweist. Nicht allein der Text des Songs weist auf eine intime Verbindung der Country-Musik zu den Werthorizonten der amerikanischen Gesellschaft und zur zeitgenössischen amerikanischen Politik hin. NASHVILLE spielt im Wahljahr 1976. Vor dem Hintergrund der größten innenpolitischen Krise, Vietnamkrieg-Desaster, Watergate-Skandal, Rücktritt von Präsident Nixon, Rezession und den bevorstehenden Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ist Altmans Epos ein zutiefst zeitkritischer politischer Film. Als Leitmotiv des Films fungiert ein mit Lautsprechern bestückter Lieferwagen, der unaufhörlich durch die Straßen Nashvilles fährt, um lautstark auf eine Wahlkampfveranstaltung des unabhängigen Präsidentschaftskandidaten Hal Phillip Walker der „Replacement-Party“ hinzuweisen, ein Phantom, ROCK AND POP IN THE MOVIES, 1, 2011// 67 das sich am Ende den Wählern vorstellen will. Aus den auf dem Dach des Wagens montierten Megaphonen plärrt in Endlosschleife sein dürftiges, inhaltsarmes Programm: Neben der Beseitigung aller Rechtsanwälte aus Regierungsämtern in Washington wird vor allem die Änderung der Nationalhymne gefordert. Dass Walker auch am Ende nicht die Bühne betritt, sondern nach dem finalen Attentat fluchtartig das Gelände verläßt, verstärkt nur den Eindruck einer phantasmatischen Größe im Hintergrund, die mit dem Bühnengeschehen ideologisch und ökonomisch verbunden ist, ohne im Film je auch manifest zu werden. Politik funktioniert in NASHVILLE nur im Zusammenhang mit Country Music und dem dahinterstehenden perfiden Establishment des Musikbusiness. Um dem Wahlkampfauftritt die nötige Aufmerksamkeit zu geben, bemüht sich der zynische Wahlkampfmanager Triplette (Michael Murphy) um die nötige Showprominenz. Hierzu ködert Triplette den einflussreichen Countrysänger Haven Hamilton, allerdings erst, nachdem dieser ihm die Aussicht auf das Amt des Gouverneurs von Tennessee eröffnet. Die Erkenntnis liegt nahe: Nicht nur Politik ist korrupt, auch Country Music. Der Film endet mit der unter freiem Himmel vor dem Pantheon inszenierten Wahlkampfveranstaltung für Hal Phillip Walker, dem unsichtbar gebliebenen Kopf der Ablösungs-Partei. Die vor der Bühne versammelte Menge erlebt hautnah, wie die zum Star stilisierte Countrysängerin Barbara Jean, die wie keine andere eine tiefe und irrationale Sehnsucht nach einem ursprünglichen Amerika verkörpert, von einem durch den Vietnamkrieg traumatisierten Einzeltäter ausgerechnet während des Liedes My Idaho Home erschossen wird. Schrecken und Panik wirken nur für einen Moment. Der ebenfalls verletzte Hamilton versucht das verunsicherte Publikum zu beruhigen und ruft resolut ins Mikrofon, anspielend auf die Ermordung von John F. Kennedy: ˮThis is not Dallas! This is Nashville. It can’t happen here!“ Unter dem Geheul der Polizeisirenen entfernt sich die Eskorte des Präsidentschaftskandidaten. Ein Manager drückt der seit Beginn des Films auf ihre große Chance wartende Albuquerque im Minikleidchen das Gesangsmikrophon in die Hand, die zögernd den Titelsong It Don’t Worry Me anstimmt. Ihre Stimme wird kräftiger, die Band setzt ein, ROCK AND POP IN THE MOVIES, 1, 2011// 68 unterstützt von einem farbigen Gospelchor. Im Rhythmus der Musik schwelgt das sich nunmehr gefasste Publikum, während die Kamera die Bühne samt Amerikaflagge und Wahlkampfbanner in einer zunehmend größer werdenden Totale als Abschlussbild wählt und in den Himmel schwenkt. Unabhängig von dem Plot, der in stenographischen Skizzen den Musikzirkus in Nashville mit leichter Ironie trefflich beschreibt, zeichnet sich NASHVILLE durch eine Kameraführung und Photographie aus, die sich durch die Stilistiken der verschiedenen Substile der Country-Musik bewegt, sich jeweils an den Duktus der Musik, die Aufführungsorte, die sozialen und emotionalen Bedingtheiten der Musiker anschmiegend. Auch tontechnisch war NASHVILLE auf der Höhe der Zeit: „Das 8-Kanal-Tonsystem ermöglicht eine unglaublich differenzierte, gezielte Hörwirkung. Nie ist die Musik, ob man sie mag oder nicht, Untermalung. Sie bildet vielmehr einen integralen Teil des Gesamtvorganges“ (Robert von Berg, Süddeutsche Zeitung, 16.8.1975). Dies gilt auch für den Soundtrack, dessen Songs sämtlich von den Schauspielern geschrieben und gesungen wurden. Dadurch wird auf sehr subtile Weise der Charakter des Dokumentarischen unterstrichen. (Dietmar Schiller) Literatur: Altman, Rick: Eine Narration der 24 Ton-Spuren? Robert Altmans NASHVILLE. In: Müller, Jürgen E. / Vorauer, Markus (Hrsg.): Blick-Wechsel. Tendenzen im Spielfilm der 70er und 80er Jahre. Münster: Nodus-Publikationen 1993, pp. 2143 (Film und Medien in der Diskussion. 3.). Baker, Charles A.: Illusion and Reality in Nashville. In: Studies in the Humanities 10,2, Dec. 1983, pp. 93-98. 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