Inhalt - Langenscheidt
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65309_001_064_d.qxd 11.01.2006 15:24 Uhr Seite 4 Inhalt Inhalt Die Thematik in Kürze Lessings Trauerspiel »Emilia Galotti« zeigt, wie eine bürgerliche Familie zwischen den Ansprüchen ihrer eigenen privaten Moral und der mit politischer Macht verbundenen skrupellosen höfischen Unmoral hilflos zerrieben wird. Lessing hat mit seiner »Emilia Galotti« die berühmte Virginia-Affäre aus der altrömischen Geschichte 1 in die stickige Atmosphäre eines kleinen absolutistischen Fürstentums verlegt und entfaltet darin die Tragödie eines Vaters, der seine eigene Tochter auf deren Wunsch ersticht: Nur so glaubt sie, sich vor der Verführung durch den Prinzen schützen und damit ihre Unschuld bewahren zu können. Es liegt nahe, ein solches Stück vor allem sozialkritisch als bürgerliche Anklage gegen den Absolutismus zu sehen, als Ausdruck der Empörung über die moralisch verkommenen Fürsten und ihre ganze Adelsgesellschaft. Unmoral wird aus dieser Sichtweise ganz in die höfische Welt verlagert, während die Bürger als sozial verantwortungsvoll, vernünftig und moralisch erscheinen. Diese Deutung hält aber nur stand, wenn man die Moral des Bürgers Odoardo Galotti (Emilias Vater) als in jeder Hinsicht vorbildlich ansieht. Ob aber jemand, der statt des Verführers die – noch gar nicht verführte – eigene Tochter tötet, wirklich als moralisches Vorbild angesehen werden kann, lässt sich aus heutiger Sicht mit Recht bezweifeln. Nichts an Aktualität eingebüßt hat dagegen die Figur des Prinzen, der sich von der Macht verführen lässt, der für die Befriedigung seiner Lust auch Verbrechen in Kauf nimmt, solange man ihn nicht selbst dafür verantwortlich macht. 1 Vgl. unten S. 37 4 65309_001_064_d.qxd 11.01.2006 15:24 Uhr Seite 5 Die Handlung in Kürze Ein Provinzfürst will Emilia Galotti, ein Bürgermädchen, kurz vor ihrer Hochzeit zu seiner Geliebten machen und wird dabei indirekt zum Mörder an dem Verlobten der Braut. Deren Vater tötet sie daraufhin auf ihren eigenen Wunsch, um ihre Unschuld und Ehre zu bewahren. Hettore Gonzaga, Prinz des kleinen Fürstentums Guastalla, will seine Geliebte, die Fürstin Orsina, loswerden, denn er hat sich Hals über Kopf in Emilia Galotti verliebt, die Tochter des Obersten Odoardo Galotti. Da Emilia kurz vor der Eheschließung mit dem Grafen Appiani steht, beauftragt der Prinz seinen Kammerherrn Marinelli, den Grafen unter einem Vorwand aus der Stadt zu schicken. Der Auftrag misslingt: Marinelli und Appiani geraten in Streit und Marinelli lässt Appiani auf der Fahrt zur Hochzeit umbringen. Emilia, Zeugin des Überfalls, wird zu ihrem »Schutz« auf das »Lustschloss« des Prinzen in Dosalo gebracht. Emilias Mutter, die, anders als ihr Mann, von dem Interesse des Fürsten an ihrer Tochter weiß, ahnt die Wahrheit, ohne eingreifen zu können. Odoardo trifft in Dosalo auf die Gräfin Orsina, die gerade vom Prinzen gedemütigt worden ist. Sie erkennt sofort die Zusammenhänge und klärt Odoardo über das Komplott des Prinzen auf. In ihrer rasenden Eifersucht gibt sie Odoardo ihren Dolch. Odoardo erreicht beim Prinzen, dass er mit seiner Tochter unter vier Augen sprechen darf. In diesem Gespräch bittet Emilia ihren Vater, sie zu töten: Sie fürchtet nicht die Gewalt des Prinzen, sondern ihre eigene Verführbarkeit. Odoardo erdolcht sie und stellt sich dem Gericht. 5 Inhalt Die Handlung in Kürze 65309_001_064_d.qxd 11.01.2006 15:24 Uhr Seite 30 Der Text in seiner Zeit Der Text in seiner Zeit Das Hintergrund 18. Jahrhundert gilt als die Epoche der Aufklärung, die glaubte, jedes Problem mit dem »Licht der Vernunft« lösen zu können. »Aufklärung« ist aber auch ein ständiger Prozess: die immer aktuelle Forderung, vernünftig zu handeln, sich seines eigenen Geistes zu bedienen, wie es Immanuel Kant in seiner berühmten Schrift »Was ist Aufklärung?« (1784) einprägsam formulierte.1 Aufklärung bedeutet, selbst zu denken (Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! 2), Autoritäten, vor allem der Kirche, zu misstrauen, Aberglauben, Vorurteile und Intoleranz abzulegen. Nach Kant sind es die selbst ernannten Vormünder wie z. B. Priester, die das Volk verdummen, abhängig machen und weiter unmündig halten, indem sie vor den angeblichen Gefahren der Selbstständigkeit warnen. Weil die Aufklärung aber diesen Zusammenhang ans Licht gebracht habe, sei jeder selbst schuld, wenn er dennoch in Abhängigkeit und damit Unmündigkeit bleibe. Auch Kant sieht Aufklärung als einen Prozess an: Er selbst lebe nicht in einem aufgeklärten Zeitalter, wohl aber in einem »Zeitalter der Aufklärung« 3 – d. h., die Vernunft beginnt erst sich durchzusetzen. Aufgeklärt werden kann jeder und alles kann Thema der Aufklärung sein: Sie kennt keine Tabus. Der unglaubliche Fortschrittsoptimismus der Epoche ist sich sicher, dass die Menschen durch Vernunft zu ihrem Glück kommen werden. Radikale Aufklärer wie Karl Marx stellten später die These auf, dass Voraussetzung für jede Kritik die Kritik an der Religion sei. Lessing war gemäßigter: Er versuchte religiöse Offenbarung und Vernunft in Übereinstimmung zu bringen; ihm ging es um einen vernünftigen Umgang mit der Religion, um Humanität und Toleranz. 1 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Zitiert nach: Texte, Themen und Strukturen. Berlin: Cornelsen 1994, S. 174 3 Ebd., S. 80f. 2 Ebd., S. 9ff. 30 65309_001_064_d.qxd 11.01.2006 15:24 Uhr Seite 31 Die literarische Gattung Die literarische Gattung »Emilia Galotti« wird oft als ein Musterbeispiel für eine »klassische« Tragödie angesehen, da das Stück in seinem Aufbau weitgehend den von Aristoteles aufgestellten Forderungen für die Tragödie entspricht. Die Form ● 1. Akt (Exposition): Ort, Zeit, Hauptpersonen, Lebensverhältnisse und Vorgeschichte der wichtigsten Personen werden vorgestellt; erste Konflikte deuten sich an. ● 2. Akt (Steigerung der Handlung, erregendes Moment): Die Handlung wird in Bewegung gesetzt; Spieler/Held (Protagonist) und Gegenspieler (Antagonist) haben ihr Wesen und ihre verschiedenen Interessen verdeutlicht; die Handlung verwickelt sich. ● 3. Akt (Höhepunkt): In dem Konflikt steht der Held in einer entscheidenden Auseinandersetzung, als deren Ergebnis eine Wendung (Peripetie) – Untergang oder Rettung des Helden – herbeigeführt wird. (Hier: Appiani ist tot, Emilia in der Hand des Prinzen.) ● 4. Akt (fallende Handlung, Umkehr, letzte Spannung): Die Handlung drängt auf den Schluss zu; aber noch einmal Spannungssteigerung durch ein retardierendes Moment, ein neues Ereignis, das auf ein gutes Ende hoffen lässt. (Hier: Orsinas Eingreifen.) ● 5. Akt (Lösung, Katastrophe): Die Hoffnung hat sich zerschlagen, der Konflikt löst sich durch den Untergang (Tod) des Protagonisten (in nicht tragischen Stücken oder Komödien dagegen durch den Sieg des Helden). 31 Hintergrund Einteilung in 5 Akte mit symmetrischem Aufbau 65309_001_064_d.qxd 11.01.2006 15:24 Uhr Seite 32 Die literarische Gattung Einhaltung von zwei der drei »Einheiten« ● ● ● Einheit der Zeit (Handlung innerhalb von 24 Stunden) Einheit der Handlung (keine Nebenhandlungen) Die Einheit des Ortes (das Stück soll nur an einem Ort, aber zumindest innerhalb der Stadtmauern spielen) hat Lessing nicht eingehalten, um den Gegensatz Hof – bürgerliche Gegenwelt deutlicher machen zu können. Der Inhalt Hintergrund Furcht und Mitleid, Katharsis Ziel der Tragödie ist es – insoweit folgt Lessing Aristoteles – Furcht und Mitleid zu erregen. (Das von Aristoteles verwendete Wort phobos [vgl. Phobie], das gewöhnlich mit »Schrecken« übersetzt wird, hat Lessing bewusst mit »Furcht« wiedergegeben und definiert sie als das auf uns selbst bezogene Mitleid.1 Die Erregung von Furcht und Mitleid kann aber nur erreicht werden, wenn die auf der Bühne handelnden Personen in ihren Leidenschaften dem Zuschauer ähnlich sind. Ein nur edler Mensch ist langweilig; wenn er einen unverdienten Tod erleidet, wirkt das auf den Zuschauer nur entsetzlich; umgekehrt kann das verdiente Schicksal eines absoluten Bösewichts den Zuschauer allenfalls befriedigen, ihm aber weder Mitleid noch Furcht einflößen. Solche Figuren sind zu fremd: Sie ermöglichen keine Identifikation. Der Held muss nach Lessing einen »gemischten Charakter« haben: Der Gute muss auch negative Eigenschaften aufweisen, der Böse auch gute oder zumindest solche, die eine Identifikation durch Mitleid, Furcht und Schrecken ermöglichen und den Zuschauer dadurch von eben diesen Eigenschaften befreien. (Aristoteles nannte diesen Vorgang Katharsis [Reinigung].) 1 G. E. Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 75. Stück 32 65309_001_064_d.qxd 11.01.2006 15:24 Uhr Seite 33 Die literarische Gattung Politisches Handeln des Bürgers würde freilich für das Drama das Ende der Empfindsamkeit bedeuten, das Ende von Mitleid und Rührung als Ziel des Trauerspiels. Wenn nun aber Politik für Empfindungen ungeeignet ist, muss das ja nicht heißen, dass sie nicht auf die Bühne gehört – es kann ja auch sein, dass es im Theater gar nicht so sehr auf Empfindungen ankommt! Diesen Schluss zogen jedenfalls schon die Dramatiker des Sturm und Drang, vor allem J. M. R. Lenz. Die Katharsis-Theorie wird heute noch diskutiert – ob Gewalt auf der Bühne oder im Film eigene Gewalttendenzen beim Zuschauer abbaut oder erst richtig anheizt, bleibt umstritten. Lessing war indes von der reinigenden Kraft des Theaters überzeugt. Eine Forderung des Aristoteles hat Lessing bewusst nicht übernommen: die Ständeklausel, nach der nur Personen aus dem Adel in der Tragödie vorkommen dürfen. Lessing setzt dem sein neues bürgerliches Trauerspiel entgegen: Waren bisher in deutschen Tragödien ausschließlich Aristokraten Träger einer tragischen Handlung, so sind es jetzt Bürgerliche, die im (moralischen, nicht sozialen!) Konflikt mit der Aristokratie tragisch enden. Lessing hat damit etwas radikal Neues geschaffen, denn im deutschen Theater kamen Bürgerliche vor seiner »Miss Sara Sampson« (1755) nur in Rollen in Komödien vor. 33 Hintergrund Diese Funktion des Theaters ist umstritten: Kann es denn damit getan sein, dass der Zuschauer das Schicksal der Emilia beweint, die Fürsten aber so weitermachen lässt wie bisher? Solange das Bürgertum nicht gegen den Absolutismus revoltiert und seinen Machtanspruch nicht anmeldet, lebt es nur seine Gefühle aus und weint ohnmächtig im Theater über das eigene Elend, für das doch Menschen verantwortlich sind und nicht, wie in der griechischen Tragödie, die Götter, gegen die man nichts machen kann!