Klagen gegen Bayer - Coordination gegen BAYER
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Klagen gegen Bayer - Coordination gegen BAYER
WIRTSCHAFT 29. Juli 2010 DIE ZEIT No 31 19 Klagen gegen Bayer Yasmin ist die meistverkaufte Verhütungspille der Welt – und nun das größte Problem des Leverkusener Konzerns VON JUTTA HOFFRITZ Bayer-Bestseller Kathrin Weigele nahm die Verhütungspille Yasmin. Und bekam eine Lungenembolie. Sie sieht einen Zusammenhang Fotos [M]: Michael Herdlein für DIE ZEIT; dpa (u.) I m Nachhinein lässt sich schwer sagen, und Co. höher aus als bei vielen älteren Pillen. Das wann in Kathrin Weigeles Leben die Nor- pharmakritische Ärzteblatt Arznei-Telegramm etwa malität abhandenkam. Irgendwann An- riet deshalb seit Jahren von der Verordnung ab. fang 2006 muss es gewesen sein, als sie Doch die Warnungen fanden wenig Gehör, beSchmerzen in Rücken und Brust spürte sonders nachdem zwei große Studien zu dem Erund immer häufiger außer Atem geriet. Ihr Re- gebnis gekommen waren, Drospirenon stehe der gensburger Hausarzt schickte die damals 24-Jäh- Konkurrenz in Sachen Thrombose-Sicherheit nicht rige zum Orthopäden. Der meinte, wegen des nach. Diese Studien hatte Bayer finanziert. nahenden Staatsexamens sitze sie wohl viel, und In Dänemark und den Niederlanden jedoch verschrieb Krankengymnastik. Doch wenig spä- stellten andere Forscher fast zeitgleich eigene Unterter schaffte die passionierte Pfadfinderin und suchungen an. Am besten schnitt dabei LevonorgesSnowboarderin zu Fuß nicht mal mehr die 800 trel ab, ein Hormon, das schon 1966 – nur sechs Meter durch die Altstadt zum Ärztehaus. Jahre nach der allerersten Pille – auf den Markt In der Notaufnahme der Uni-Klinik erfuhr sie kam. Die Bayer-Produkte beurteilten die Forscher schließlich, warum: Lungenembolie. Klitzekleine auf der Risikoskala schlechter als diese Pillen der Blutklumpen hatten die Gefäße der Lunge verstopft. zweiten und nur knapp besser als die der dritten Ob sie die Pille nehme, fragten die Ärzte, während Generation. All das wurde vergangenen September sie sie mit Schläuchen in der Nase auf die Intensiv- im British Medical Journal veröffentlicht – und zog station rollten. Sie sagten, dass das Mittel auf jeden weltweit Kreise. Beim Arzneimittelausschuss der Ärzteschaft in Fall abgesetzt werden müsse. Verhütung sollte aber erst mal zu ihrem geringsten Problem werden: Als Berlin fing man an, über einer Empfehlung für die alle Testergebnisse vorlagen, gab man ihr eine Über- Doktoren zu brüten. Bei der amerikanischen Gelebenschance von fünf Prozent. sundheitsbehörde FDA und deren Äquivalenten in Kathrin Weigele hat überlebt. Nach vielen Kli- Europa, wie dem Bfarm in Bonn, begannen die nikaufenthalten hat sie auch ihr Jurastudium wieder Experten zu tagen. Am schnellsten aber reagierte aufgenommen. Im Frühjahr will sie mit neun Se- Bayer: Nur wenige Wochen später, im Dezember mestern Verspätung ihr Examen nachholen. Und 2009, veranstaltete der Konzern einen Workshop außerdem bereitet sie zusammen mit einem erfah- zum Thema »Orale Kontrazeptiva und Venöse renen Anwalt die erste Klage ihres Lebens vor: gegen Thromboembolien«, zu dem Professoren aus aller Bayer, den Hersteller der Pille Yasmin, die sie für Welt nach Berlin eingeladen wurden. ihr Schicksal verantwortlich macht. Kathrin Weigele ist nicht die Einzige, die mit Die US-Gesundheitsbehörde dem Pharmariesen juristisch verkehrt. Ihr Anwalt hat die Risikowarnung verschärft vertritt noch eine weitere Betroffene. Auch in der Schweiz, wo eine 16-Jährige nach einer Embolie Von Norwegen bis Südafrika waren Fachleute dabei zum Pflegefall wurde, ist eine Klage anhängig. Und und sich offenbar sehr einig: So wird im »KonsenAmerikas geschäftstüchtige Anwälte suchen per sus-Papier« der Bayer-Veranstaltung einhellig vor Anzeige nach Pillenkonsumentinnen mit Throm- einer »Pillen-Panik« und den damit verbundenen »ungewollten Schwangerschaften« gewarnt. bosen und anderen Beschwerden. Außerdem befasst sich das Papier ausführlich 1750 Klagen seien aus den USA eingegangen, teilte Bayer auf Anfrage mit. Doch das ist der mit den Schwächen der beiden neuen Studien: Die Stand von April, weshalb der Bericht für das zwei- Holländer hätten zu wenige Yasmin-Nutzerinnen te Quartal, den Bayer-Chef Werner Wenning am untersucht, um valide Aussagen machen zu können. Donnerstag dieser Woche vorlegt, besonders in- Bei den Dänen sei das Gewicht der Teilnehmerinteressant ausfallen dürfte. Dann muss Wenning nen nicht berücksichtigt. Das benachteilige das aktuelle Zahlen nennen, auch zum Pillenumsatz, Bayer-Produkt, das ja für Dicke – mit ihrem höheder offenbar dramatisch sinkt. Der Branchen- ren Thrombose-Risiko – besonders attraktiv sei. Die Argumente sind nicht von der Hand zu dienst IMS Health meldet für den wichtigen USMarkt zwischen Januar und Mai 2010 Rück- weisen. Auch bei der US-Gesundheitsbehörde gänge bei Drospirenon von durchschnittlich etwa scheint man all das erwogen zu haben. Trotzdem 15 Prozent. Drospirenon, so heißt der zentrale entschloss sie sich, ihre Risikowarnung zu verschärfen. Seit April finden sich auf der FDA-InWirkstoff der Bayer-Pille. Bisher ist Yasmin nicht nur das meistverkaufte ternetseite unter »Yasmin« und »Yaz« die Erkennthormonelle Kontrazeptivum der Welt, sondern nisse aus den Niederlanden und Dänemark, direkt auch das umsatzstärkste Produkt von Bayers Phar- bei den Bayer-Studien – denen die Kritiker vom ma-Sparte. Wie ihre niedriger dosierten Schwestern Arznei-Telegramm ebenfalls methodische Schwächen vorwerfen. Yaz und Yasminelle soll sie Fast zeitgleich mit den nicht nur verhüten, sonAmerikanern reagierten dern laut Eigenwerbung auch schlank machen. Die auch Europas ArzneiwächWunderpille war einer der ter. Sie verpflichteten den Konzern, die PackungsHauptgründe, den Berliner beilagen zu ergänzen. Der Wettbewerber Schering zu Text wurde bereits abgeübernehmen und so die Die zehn umsatzstärksten Arzneien des Umsatzdelle zu glätten, die Konzerns im Geschäftsjahr 2009, stimmt. Doch in den deutentstanden war, nachdem in Milliarden Euro schen Apotheken liegen bis Bayer 2001 wegen Neben- Yaz/Yasmin/Yasminelle heute Pillen mit alten Bei1,28 (hormonelles Verhütungsmittel)* wirkungen den Cholestepackzetteln. Nach vier Mo1,21 rinsenker Lipobay vom Betaferon naten hat es der Konzern (multiple Sklerose) Markt genommen hatte. Kogenate nicht mal geschafft, die 0,89 Nun, ein knappes Jahr- (Bluterkrankheit) Online-Fachinformation zehnt später, steckt der Adalat für Ärzte zu erneuern. 0,63 (Bluthochdruck) Konzern just wegen Yas- Nexavar Irgendwie scheint die 0,60 (Leber- und Nierenkrebs) min in neuen Problemen. Botschaft nicht nach Berlin Zwölf Todesfälle unter Mirena zu dringen, wo die Pille 0,49 ihren Ursprung hat. Im deutschen Nutzerinnen (hormonelles Verhütungsmittel) 0,46 Südwesten der Stadt, zwiregistriert das Bundes- Avalox (Infektionen der Atemwege) schen Großem und Kleiinstitut für Arzneimittel Levitra 0,36 nem Wannsee, wohnt der und Medizinprodukte (erektile Dysfunktion) Chemiker Rudolf Wie(Bfarm) seit der Zulassung Ciprobay 0,33 (Infektionskrankheiten) chert. Er ist der Erfinder des Hormons Drospirenon Glucobay 0,32 der meistverkauften Pille im Jahr 2000 – fünf davon (Diabetes) *Hauptindikation der Welt. Der 82-Jährige allein im vergangenen Jahr. ZEIT-Grafik/Quelle: Bayer hat nach dem Ruhestand Weltweit sollen insgesamt jahrelang als Professor ge190 Yasmin- und Yaz-Konsumentinnen verstorben sein, wie die amerikanische lehrt. Er hat jüngst Carl Djerassi, den Erfinder der Gesundheitsbehörde FDA der ZEIT bestätigte. Der ersten Pille, zu dessen 85. Geburtstag geehrt. Und Leverkusener Konzern mag solche Zahlen nicht noch vor vier Jahren hat er in einem Buch den kommentieren. Spontanmeldungen seien nicht ge- Werdegang des Moleküls Drospirenon mit seinen eignet, die Häufigkeit von Nebenwirkungen zu filigranen Sechsecken erklärt. berechnen, heißt es. Man wolle die Öffentlichkeit Eigentlich sei er auf der Suche nach einem Entnicht verunsichern. wässerungsmittel für Herzpatienten gewesen, sagt Tatsächlich – oft können Ärzte Nebenwirkungen er stolz. Heraus kam ein Hormon, dessen Wirkung nicht zuordnen, und in der Hektik des Klinikalltags Wiecherts Arbeitgeber einen Vorteil auf dem umwerden manchmal sogar verdächtige Todesfälle den kämpften Pillenmarkt verschaffen sollte: Frauen Behörden nicht gemeldet. Dies spricht aber eher bringen damit weniger Gewicht auf die Waage. für eine Verschärfung der Berichtspflicht als für die Experten beziffern den Vorteil mit 0,7 Kilogramm Geheimhaltungsbemühungen des Konzerns. und sehen die Entwässerung eher kritisch. Wenn Kathrin Weigele denkt an ihre Ärzte-Odyssee dem Körper Flüssigkeit fehlt, wird das Blut dicker. und ist wütend. Sie glaubt, dass man ihr Leiden Das kann zu Thrombosen führen. früher erkannt hätte, wenn die Sicherheit des ProAuf die Frage nach Thrombosen wird der elodukts öffentlich diskutiert worden wäre. »Bayer quente alte Mann plötzlich wortkarg. Davon habe muss zu seiner Verantwortung stehen, Ärzte und er nichts mitbekommen, sagt Wiechert. Von NeFrauen müssen wissen, worauf sie sich einlassen«, benwirkungen wisse er nichts. Für Fragen der sagt sie und klopft auf den Ordner, in dem sie In- Biologie sei in der Firma Frau Professor Habenicht nenaufnahmen ihrer Lunge sammelt, um sich auf zuständig. Grüße vom Erfinder. den Rechtsstreit vorzubereiten. Bayer sagt, man Ursula-Friederike Habenicht sitzt in dem silbermüsse den Sachverhalt erst prüfen. nen Hochhaus an der Berliner Müllerstraße, an Leicht dürfte es für Weigele nicht werden. dessen Front vor vier Jahren das Schering- durch Grundsätzlich ist die Gefahr von Blutgerinnseln bei das Bayer-Logo ersetzt wurde. Sie ist Forschungshormonellen Kontrazeptiva seit Langem bekannt. chefin des Bereichs »Women’s Healthcare« und hat Alle Pillen haben Hinweise auf dem Beipackzettel, nur eine halbe Stunde. Man sei weiter überzeugt, auch das Präparat, das Kathrin Weigele gut zehn dass das Risiko von Yasmin »mit dem anderer moMonate lang schluckte. Was die junge Frau aber derner Kontrazeptiva vergleichbar« sei, sagt sie. Nachfrage: Auch mit den Pillen der zweiten nicht wusste, war, dass einige Experten schon damals den Verdacht hegten, das Risiko falle bei Yasmin Generation? Da holt Frau Habenicht doch weiter aus. Sie erklärt, dass es »aus wissenschaftlicher Sicht keine Handhabe« für die Unterscheidung zwischen den modernen Pillen der verschiedenen Generationen gebe. Weil sich durch die Hormone der Gerinnungshaushalt im Körper neu einstelle, sei das Thrombose-Risiko im ersten Jahr am höchsten, sagt sie. Neue Pillen schnitten so in Studien tendenziell schlechter ab. Rückblick: Bei der Einführung der dritten Pillengeneration gab es eine ganz ähnliche Sicherheitsdebatte. 1995 sperrte die deutsche Zulassungsbehörde die neuen Pillen deshalb für alle Frauen unter 30 Jahren, die mit der Verhütung starteten. (Es ging um die Wirkstoffe Desogestrel und Gestoden.) Darauf klagten die Hersteller – darunter Schering – gegen die Behörde. 1998 wurde die Sperre aufgehoben. Seither gab es nie wieder eine solche Vorsichtsmaßnahme. Was rät ein Gynäkologe wie Bernd Hinney, Mitglied der Arzneimittelkommission, jungen Frauen? »Sicherheit geht vor«, sagt er und unterscheidet sehr wohl Risiko-Generationen: »Frauen, die mit der Pille anfangen, sind mit einem Levonorgestrel-Präparat der zweiten Generation erst mal besser bedient«, urteilt der Professor. Und Frauen über 40 Jahre, die von Natur aus ein erhöhtes Thrombose-Risiko haben, empfiehlt er reine Gestagen-Präparate oder die Spirale. Vier Jahre nach ihrem Kollaps hat sich Kathrin Weigeles Leben so weit normalisiert, dass sie wieder regelmäßig am Schreibtisch sitzen kann, wenn auch nie mehr als drei Stunden am Stück. Danach macht sie Krankengymnastik. Das Skifahren und ihre Pfadfindergruppe hat sie aufgegeben. Immerhin ist sie wieder sportlich genug, das Parkett ihrer Wohnung mit dem Staubsauger zu bearbeiten. Und wenn sie die 35 Stufen zu ihrer Unterkunft erklimmt, muss sie nur noch selten innehalten. Gerade hat sie mit ihrem Freund sogar eine neue Wohnung im dritten Stock angeschaut. Verhütung ist nun ein schwieriges Kapitel für sie. Hormone möchte Weigele nach ihren Erfahrungen nicht mehr nehmen. Aber schwanger werden darf sie eben auch nicht, weil sie seit der Embolie den Blutverdünner Marcumar schlucken muss. »Das«, sagt sie, während sie vor einer Kommode mit Familienbildern sitzt, »finde ich an der ganzen Sache eigentlich das Traurigste.«