Hannah Montana lebt hier nicht mehr

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Hannah Montana lebt hier nicht mehr
Kultur
Nummer 238 • Montag, 14. Oktober 2013
Hannah Montana lebt hier nicht mehr
Zum angeblichen Skandal um Sängerin Miley Cyrus, der die Vereinnahmungsstrategien der Unterhaltungsindustrie offenbart
Miley Cyrus, die einst als Hannah
Montana in jedem amerikanischen
Kinderzimmer zu Hause war, inszeniert
sich nun als groteske Männerfantasie.
Die Auftritte der 20-jährigen Sängerin
mögen zwar geschmacklos sein, zum
Skandal taugen sie aber nicht wirklich.
Von Gunther Reinhardt
heute auf ihr Austoben erheblich empfindlicher als damals bei Britney und Co.
Erstaunlich ist bei der Entrüstung über
Cyrus’ MTV-Auftritt auch, dass keiner etwas
am Sänger Robin Thicke auszusetzen hat, mit
dem sie zu „Blurred Lines“ über die Bühne
turnte und der sich ungeniert als dumpfer
Sexprotz inszenieren darf. Vielleicht sollten
sich Eltern weniger darum sorgen, dass ihre
Töchter wie Cyrus enden könnten, und mehr
darum kümmern, dass ihre Söhne nicht wie
Thicke werden. Eine Emanzipationsgeschichte, das Drama einer sexuellen Befreiung, erzählt der Fall Miley Cyrus leider
trotzdem nicht. Es geht hier nicht um das
Märchen von einer traurigen Prinzessin, die
lange Zeit im Schloss eines prüden Königreichs gefangen gehalten wurde und sich
dann endlich beherzt die langen Harre abschnitten hat, um grell erblondet sich selbst
zu verwirklichen, sich nichts mehr verbieten
zu lassen, endlich frei zu sein. Nein, Miley
Irgendwann einmal, wenn die Welt in Schutt
und Asche liegt, werden die wenigen Überlebenden in den Trümmern sitzen und sich
fragen, wie es so weit kommen konnte. Sie
werden sich schnell einig werden, dass nicht
die Klimaerwärmung, nicht das Atomwaffenprogramm Nordkoreas und auch nicht
Obamacare schuld am Weltuntergang waren. Nein, alles begann damit, dass Miley
Cyrus am 25. August 2013 bei den MTV
Video Music Awards in Brooklyn auftrat
und mit unzüchtigen Tanzeinlagen,
heraushängender Zunge und
fleischfarbenem Bikini die Welt
in ihren Grundfesten erschütterte. Danach war nichts
mehr, wie es einmal war.
So sieht das zumindest
die US-Comedyshow „Saturday Night Live“. Diese
hat gerade mit einem
Sketch die Empörungswelle persifliert, die der
drastische und medienwirksam inszenierte Imagewechsel
von Miley Cyrus hervorgerufen hat. Und
tatsächlich erwecken die
öffentlichen Reaktionen,
die die Obszönitäten des
ehemaligen Kinderstars
ausgelöst haben, den Eindruck, dass es hier um
nicht weniger als um den
Untergang des Abendlands geht.
Diese neue Miley
Cyrus mag zwar geschmacklos und vulgär
sein. Die Aufdringlichkeit der verspäteten
Teenager-Rebellion
strengt an. Ihre trotzigen
Ich-tu-jetzt-nur-nochwas-ich-will-Posen sind
genauso aufdringlich wie
die Lieder ihrer neuen Platte
„Bangerz“ langweilig. Zu
einem Skandal reicht das alles
aber eigentlich nicht. Schließlich
folgt Miley Cyrus mit ihren aufgesexten Provokationen einer langen popkulturellen Tradition, die Künstlerinnen wie
Debbie Harry, Grace Jones, Madonna und
Lady Gaga lange vor ihr und ästhetisch viel
konsequenter umgesetzt haben.
¡ 1992 wird Miley Ray
Cyrus als Tochter des
Countrymusikers
Billy Ray Cyrus in
Nashville, Tennessee
geboren. 2001 hat
sie ihre erste TV-Rolle in der Serie „Doc“.
¡ 2008 erscheint das Miley-Cyrus-Debütalbum „Breakout“; soeben ist ihr drittes
Album „Bangerz“ (RCA/Sony) veröffentlicht worden. (StN)
Cyrus hat einfach nur eine andere vorgegebene Rolle übernommen. Ihr Image wird weiterhin von den Vereinnahmungsmechanismen
der US-Unterhaltungsindustrie bestimmt.
Schließlich lassen sich Männerfantasien
mindestens ebenso gut vermarkten wie
Kinderstars. Die neue Miley Cyrus bedient
jetzt lediglich eine andere Zielgruppe als früher. Und es wäre naiv zu glauben, dass die
neue Rolle näher dran an der Lebenswelt
der Sängerin aus Nashville ist, als die, die
sie vorher spielte.
Warum macht Miley Cyrus das alles
nur? Das wird in einer neuen MTVDokumentation namens „Miley Cyrus: The Movement“ gefragt. Und der
Produzent Pharrell Williams antwortet: „Weil sie ein amerikanisches Produkt ist.“ Denn diese mit
sexuellen Versprechungen garnierte Teenierebellion ist ein
Konsumgut, das die US-Unterhaltungsindustrie stets ganz
selbstverständlich dann anbietet, wenn der unschuldige
Charme ihrer Kinderstars nicht
mehr funktioniert.
Strategisch geplante
Hemmungslosigkeit
So war das bei Spears, Aguilera
und Lohan, und so ist das derzeit
bei Selena Gomez, Justin Bieber
und Miley Cyrus. Der Kulturkritiker Mark Greif geht in dem Essay
„Im Hochsommer der Sexkinder“
sogar so weit, in der Übersexualisierung solcher Jungstars ein moralisches Grundproblem der Kulturindustrie des 21. Jahrhunderts zu sehen:
„Er ist noch nicht zu spät, um die Trivialisierung der Sexualität und die Abschaffung des
Jugendkults auf die Agenda einer humanen
Zivilisation zu setzen“, schreibt er.
Die angebliche Hemmungslosigkeit von
Miley Cyrus erscheint jedenfalls strategisch
geplant zu sein: Erst der skandalöse Auftritt
bei der MTV-Show, dann das „Wrecking
Ball“-Video, in dem sie nackt durchs Bild
schaukelt, und die obszönen Fotos, die wie
das Video von Terry Richardson stammen,
der sich an einer Ästhetik zwischen Helmut
Newton und Richard Kern versucht. Und
schließlich der Auftritt bei „Saturday
Night Live“, bei dem Cyrus sich
selbst als Skandalnudel verulkt. Dass ihr inzwischen sogar ein großes US-Pornostudio ein unmoralisches Angebot gemacht hat, passt
ausgezeichnet ins Marketingkonzept. Untergehen
wird die Welt dadurch
jedenfalls nicht.
Nein, der Skandal ist ein anderer: Will
Smith, der bei der MTV-Show mit seinen
Kindern im Publikum saß, Sinead O’Connor,
Annie Lennox und all die anderen Gutmeinenden werfen der 20-Jährigen vor allem
eines vor: ein schlechtes Vorbild zu sein.
Miley Cyrus wird dafür verurteilt, dass sie
nicht mehr die Rolle des süßen, vernünftigen
Teenagers spielen will, den sie fünf Jahre
lang für den Disneykonzern unter dem Namen Hannah Montana gemimt hat. Das alterstypische Austesten und Überschreiten
von Grenzen wird ihr verboten. Zwar haben
solche nicht unproblematischen Abnabelungsversuche bereits andere ehemalige Disney-Kinderstars wie Britney Spears, Justin
Timberlake oder Christina Aguilera hinter
sich gebracht. Doch weil Cyrus als Hannah
Montana so perfekt in die wertkonservative
Disney-Produktpalette passte, reagiert man
Über 10 000 Euro darf sich die Olgäle-Stiftung für das kranke Kind freuen, eingespielt
haben sie Tänzer und Musiker rund um Eric
Gauthiers Tanzkompanie bei einer Benefizgala am Freitag im Theaterhaus. Freuen
durfte sich das Publikum auch über ein Wiedersehen: Armando Braswell, nach Basel
ausgewanderter Publikumsliebling von
Gauthier Dance, reiste mit einer Uraufführung zurück in die alte Heimat, die ihn für
„Housed“ mächtig feierte. Zu sehen war ein
schräger Pas de deux, in dem der Amerikaner mit seiner Basler Kollegin Raquel Rey
Ramos zu fetten Beats sein Auf-der-Höheder-Zeit-Sein zelebrierte und mit Humor
bewies, dass er auch in Basel das Zeug zum
nicest guy hat. Darüber, dass der Tanz nicht
mehr ohne Sponsoren auskommt, ist in
„Housed“ gut lachen. Die TheaterhausKompanie könnte einen potenten Geldgeber
mehr als gut gebrauchen und müsste dann
vielleicht weniger unterwegs sein. So war
die Benefizgala auch eine der raren Gelegenheiten, Gauthier Dance bei einem Heimspiel
zu erleben; inzwischen ist die Kompanie auf
dem Weg nach Seoul. (ak)
Miley Cyrus
¡ 2006 wird sie als
Titelheldin in der
Cyrus 2008 Disney
Disney-Fernsehserie
„Hannah Montana“, in der sie eine Sängerin spielt, zum Star. Mehrere Musikalben
werden veröffentlicht, 2010 kommt ein
Film ins Kinos. Die Serie läuft bis 2011.
Ist es wirklich ein Skandal,
kein gutes Vorbild zu sein?
Gauthier Dance
und Gäste tanzen
für kranke Kinder
Zur Person
Der Tod bleibt ein Mysterium
Christine Chu inszeniert im Theaterhaus einen modernen Totentanz
Von Brigitte Jähnigen
Ein Mann auf einem weißen Laken. Zwei
Frauen entkleiden und waschen ihn, wickeln
den Körper in ein zweites Laken. Die Zeit
gerinnt in ihren zärtlichen Handreichungen.
Wie aus einer anderen Welt zwingt eine
Frauenstimme aus dem Off, ihr beim Sterben
zuzuhören. Der Stärke ihrer Körperlichkeit
beraubt, ist der Lebensfunke auf das
Denken reduziert. Als Essenz ihres Lebens
vermittelt dieser Mensch Angst und Anklage
„Warum Herr, warum ich?“. Auf der schwarzen Bühnenrückwand zeichnen zwei Kinder
Kriegsszenen. Torf, weitläufig bis in die
erste Zuschauerreihe verteilt, illustriert die
liturgische Formel „Asche zu Asche, Staub
zu Staub“. Dann gibt es nichts mehr zu tun,
als den Toten dieser Welt ein afrikanisches
Klagelied zu singen.
Der Totentanz (französisch „Danse macabre“) fasziniert Künstler aller Genres als
Darstellung der Gewalt des Todes über das
Menschenleben. In ihrem als „modernen
Totentanz“ betitelten performativen Bühnenstück konfrontiert Christine Chu mit
dem universellen Wünschen des Menschen
nach einer guten Lebenszeit und einem
gnädigen Tod. Cynthia Gonzalez, Katja
Büchtemann, Penelope Pinson, Martin
Schultz-Coulon und die Knaben Jaro Nahálka und Elian Büchtemann und der Musiker Wolfgang Schnitzer gestalten mit
schwingenden Gliedmaßen, Sprüngen an
die Bühnenrückwand, schematisierten
Zeichnungen zum Zeit und Ewigkeitsbegriff
Die Spannung in Chinas
Megametropolen als Warnsignal
sicht- und hörbare Bilder der Inszenierung.
In Auszügen aus Interviews beschreiben
Frauen, Männer und Kinder aus dem Off –
kommentiert durch Klacken von Klanghölzern, Glockenläuten, Atemgeräuschen und
einer Klangcollage aus dem Computer – ihre
Todesvorstellungen. Das Skelett am rechten
Bühnenrand mag für die Omnipotenz des
Todes stehen, einbezogen in die Performances ist es nicht. „Absolute Ruhe“ sei der
Todeszustand, „das Ende vom Licht“, man
sei „da und nicht da“ oder „auf dem Seelenschrottplatz“.
Christine Chus Inszenierung wirkt in Erzählmomenten besonders stark. Etwa dann,
wenn eine Frau und ein Mann in einem Pas
de deux die Sprache der Sehnsucht und der
Liebe sprechen. Oder wenn eine amerikanische GI mit gellender Stimme Schulkindern
Feindbilder aufzwingt und sie den Gebrauch
von Schuss-, also Todeswaffen lehrt, während eine Performerin Namen von aktuellen
Kriegsgebieten mit Kreide an die Tafel
schreibt. Sperrig sind Momente gewollten
Humors (Witze) oder die mehrfach zitierten
biografischen Bezüge der Künstlerin: die
Explosion der Megametropolen in China als
apokalyptisches Zeichen.
Mit einem tröstenden, häufig zitierten Bild
entlässt Christine Chu ihre Zuschauer in den
Alltag. Ein Kind verlässt die Bühne. Durch
die geöffnete Tür fällt ein starker Lichtstrahl. Ihm folgen die übrigen Künstler.
Christine Chus Inszenierung ist Teil der Kulturwoche „Der Tod gehört zum Leben“ des
Palliativ-Netzes der Bürgerstiftung Stuttgart. Doch auch an diesem Theaterabend
entzieht sich der Tod aller Versuche, ihn
schlüssig zu erklären. Er bleibt, wie ein alter
Mann im Interview sagt, „ein Mysterium“.
11
TV-Kritik
Spielen lassen
„Polizeiruf 110“ aus Magdeburg
mit Michelsen und Groth
Von Reimund Abel
Alles, bloß nicht altbacken wirken:
Das neue Ermittlerpaar im „Polizeiruf
110“ aus Magdeburg spielt von der
ersten Sekunde an mit aller Entschlossenheit dagegen an, mit seinen Vorgängern, dem im März gottlob pensionierten Duo Schmücke und Schneider,
verglichen zu werden.
Doch der Reihe nach: Doreen Brasch
(Claudia Michelsen) und Jochen Drexler (Sylvester Groth) sind wie Feuer
und Wasser. Sie gibt sich locker und
schert sich wenig um Vorschriften. Er
ist korrekt und penibel bis ins Mark.
Gemeinsam müssen sie den Mord an
einem Afrikaner in einem Fitness-Studio klären. Die Ermittlungen führen
sie tief ins rechtsradikale Milieu, in das
zu allem Übel Braschs Sohn Andy
(Vincent Redetzki) eingetaucht ist.
Spannender Plot, solide gemacht.
Schade jedoch: Regisseur und Drehbuchautor Friedemann Fromm will
einen packenden Krimi erzählen und
gleichzeitig die Spannung zwischen
den beiden neuen Ermittlern aufbauen. Das gelingt in Ansätzen, die Story
zerfasert allerdings bisweilen.
Die Problematik des Nazisumpfs
in ostdeutschen Städten hätte eine
weniger holzschnittartige Verpackung
verdient gehabt. Das „Braver Bulle,
böser Bulle“-Spiel der Hauptakteure
haben Krimiliebhaber ebenfalls schon
besser dargestellt gesehen. Michelsen
und Groth, beide in der ersten Garde
deutscher Schauspielkunst, können
mehr. Wenn man sie lässt.
r.abel@stn.zgs.de
Die Menschheit
muss weg
Tri-Bühne in Stuttgart zeigt Felix
Mitterers „Krach im Hause Gott“
Von Horst Lohr
Er hat die Nase voll von den Menschen.
Mehr als 2000 Jahre kämpfte Gott vergeblich darum, seine Geschöpfe von Selbstsucht und Machtgier zu heilen. Jetzt soll
ein Schiedsgericht aus Heiligem Geist,
Jesus und dem Satan darüber entscheiden,
ob die Menschheit abgeschafft werden soll.
Vor knapp zwei Jahrzehnten hatte TriBühne-Chefin Edith Koerber die deutsche
Erstaufführung von Felix Mitterers Komödie „Krach im Hause Gott“ für eine witzige
Bühnenabrechnung mit der Weltferne des
M.V. Tavares da Silva (Sohn), Alexej Boris
(Gott), Marcus Michalski (Geist) Foto: tb
Unternehmens Gott genutzt. Mit noch bissigerem Witz, wenn auch manch szenischem Gag zu viel, wütet Koerbers Neuinszenierung des „modernen Mysterienspiels“ gegen die Abwesenheit des
Allmächtigen. Den Familienkonzern Gott
hat Bühnenbildner Stephen Crane in einer
Chefetage mit kaltem Designerlook angesiedelt. Hier lassen die himmlischen
Manager im feinen Business-Zwirn (Kostüme: Renáta Balogh) bei ihren Schuldzuweisungen wegen des Scheiterns des Projekts Menschheit die verbale Keule und die
Fäuste fliegen. Zwischendurch erfrischen
sich die Herren mit einem Glas Roten aus
einem pompösen Weihwasserbrunnen.
Gut gelingen Bilder hemmungsloser
Profilierungssucht unter dem Dach angeblicher Nächstenliebe, auch wenn der Regisseurin Felix Mitterers Personal zu plakativ geraten ist. So bleibt Konzernchef
Gott (Alexej Boris) im monotonen Modus
der Resignation stecken. Den Jesus gibt
Manoel V. Tavares da Silva als Freak in
Turnschuhen. Und während der Heilige
Geist bei Marcus Michalski ein serviler Beamter ist, übertreibt Severin Gmünders
Satan die Attitüde des zynischen Waffenhändlers. Gut gefällt dagegen die emanzipierte Muttergottes von Sofie Alice Miller,
die kühl eine Führungsposition im Hause
Gott einfordert.
¡ Wieder 16. bis 18. Oktober, jeweils 20
Uhr; Karten unter 07 11 / 2 36 46 10.
Kurz berichtet
Gemeinsame Kostüm-Sache
Der Südwestrundfunk (SWR) und das
Staatstheater Stuttgart kooperieren bei
der Nutzung von Requisiten. Ein entsprechender Vertrag ist am Freitag unterzeichnet worden. Das Staatstheater übernimmt Fundusgegenstände des SWR, der
Sender kann im Gegenzug den theatereigenen Requisiten- und Möbelfundus
zehn Jahre unentgeltlich nutzen. (StN)