Heinrich Heines Strategien der Zensurumgehung in
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Heinrich Heines Strategien der Zensurumgehung in
Stockholms universitet Institutionen för baltiska språk, finska och tyska Avdelning för tyska Heinrich Heines Strategien der Zensurumgehung in den versifizierten Reisebildern Deutschland. Ein Wintermärchen Petra Knuters Examensarbete för kandidatexamen 15 högskolepoäng Handledare: Frau Dr. Irina Hron-Öberg December 2012 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung………………………………………………………………… 1 2. Theoretischer Teil……………………………………………………….. 3 2.1 Einfluss des Saint-Simonismus………………………………….. 3 2.2 Einfluss von Karl Marx………………………………………….. 4 2.3 Literaturepoche des Vormärz (1815 – 1848)……………………. 4 2.4 Rhetorische Stilmittel der Zensurumgehung…………………….. 5 2.5 Reisedokumentation als Methode der Zensurumgehung………… 7 2.6 Zensur in der Literatur……………………………………………. 7 2.6.1 Externe Zensur……………………………………….……. 7 2.6.2 Selbstzensur………………………………………………. 8 3. Analyse des Epos………………………………………………………… 9 3.1 Deutschland. Ein Wintermärchen………………………………… 9 3.2 Rolle und Aufgabe des Dichters………………………………….. 10 3.3 Bedeutung des Vorwortes………………………………………… 11 3.4 Gestaltung des Versepos………………………………………….. 11 3.4.1 Aufbau……………………………………………………. 11 3.4.2 Zensurumgehung… ………………………………………..12 3.4.2.1 Gespräch mit Barbarossa…………………………. 14 3.4.2.2 Gespräch mit Hammonia…………………………. 17 4. Lyrische Form als Zensurumgehung……………………………………19 4.1 Metrikanalyse……………………………………………………. 20 4.2 Beschreibung des Interplays…………………………………….. 21 5. Schlussbemerkung……………………………………………………….. 22 6. Bibliografie………………………………………………………………. 24 1. Einleitung „Zensur verstümmelt das Wissen und behindert seine Verbreitung; schlimmstenfalls verursacht sie den Tod der Autoren.“1 Diesem Diktum hält Heinrich Heine jedoch entgegen „dass Zensur ästhetisch produktiv gewendet werden kann.“ 2 Diese ästhetische Produktivität realisiert Heine ganz klar in seinem Versepos Deutschland. Ein Wintermärchen, das nach einer Reise im Herbst 1843 nach Hamburg entsteht und in welchem er dem lyrischen Ich seine politische Einstellung in den Mund legt. Wie ein roter Faden wird Heinrich Heines großes Deutschlandgedicht „von der Auseinandersetzung mit der Zensur“ 3 durchzogen. Aber ihm gelingt es, „den Zensurmaßnahmen aus dem Wege zu gehen, indem er seine Aussagen so brillant verkleidet, dass den Zensoren der eigentliche Sinn verborgen bleibt.“ 4 In dieser Arbeit soll die Frage beantwortet werden, welcher sprachlichen und literarischen Mittel sich Heine bedient, um die behördliche Zensur zu umgehen und um sein von Gesellschaftskritik strotzendes großes Deutschlandgedicht unter der Bevölkerung populär zu machen. Das Versepos muss zweifellos vor dem historischen Hintergrund betrachtet werden, der eine Art der „Verstellungstaktik“ verlangt, bei der die Veröffentlichungsversion der Zensursituation angepasst ist und die Forderungen der Zensur so mit dem Text verwoben sind, dass die tatsächlichen Leserinformationen erhalten bleiben. Dies erfordert jedoch einen „geistig beweglichen Leser“ 5. Heinrich Heine ist ein Dichter, der die sozialen Fragen seiner Epoche wie nur wenige kennt und ständig nach Lösungen der Probleme sucht, die diese Fragen mit sich bringen. Heine wird als volkstümlicher Lyriker und geistvoller Erzähler, als kämpferischer Publizist und als Dichter bezeichnet, der um die geschichtsvorantreibende Kraft des Proletariats weiß. Das Große und Bleibende in seinem Schaffen ist die Emanzipation des Volkes. Er ist kein geschichteschreibender Dichter, der seinen Lebensunterhalt durch das Schreiben von Unterhaltungsliteratur verdient, sondern er ist ein Geschichte schreibender Dichter und Publizist. Er ist als politischer Schriftsteller ein gefürchteter Gesellschaftskritiker, der „die ____________________ 1 Brockmeier, Peter und Kaiser, Gerhard R.: Zensur und Selbstzensur in der Literatur. Könighausen und Neumann, Würzburg 1996, S. 1. 2 Ebd., S. 2. 3 Beutin, Wolfgang: Deutsche Literaturgeschichte. J.B. Metzler, Stuttgart / Weimar 2008, S. 568. 4 Walwei-Wiegelmann, Hedwig: Gesellschaftskritik im Werk Heinrich Heines. Ein Heine-Lesebuch. Ferdinand Schöningh, Paderborn 1974, S. 20. 5 Ebd., S. 20. Revolution …den Communismus und … die nationalistische Reaktion“ 6 voraussagt. Er greift aktuelle Probleme in der Gesellschaft auf und macht diese unter dem Volk populär. Das Wintermärchen kann als hervorragendes Beispiel dafür gelten. Hier reagiert Heine auf die Machtbestrebungen Preußens, in dem sich die politische Restauration etabliert und er reagiert auch auf die Zensur. Vorgehensweise Zur Beantwortung der in der Einleitung formulierten Frage bietet sich eine Analyse der sprachlichen Struktur in Heines Text an. Im theoretischen Teil des Aufsatzes werde ich auf die ihm zur Verfügung stehenden sprachlichen Momente eingehen. Besondere Beachtung finden hierbei die von ihm angewandten Symbole, Metaphern und Sagenfiguren, die, verpackt in Heines eigene Ironie, mit Witz der Verschleierung seiner tatsächlichen politischen Einstellung dienen. Außerdem kommt ein von Heine entwickeltes neues Genre zur Anwendung, das ich näher beschreiben werde: die versifizierten Reisebilder.7 Es wird auf die, für Heine aktuelle, literarische Epoche des Vormärz eingegangen und die unter diesem Zeitabschnitt herrschenden Zensurbedingungen, nachdem die verschiedenen literarischen Überwachungsmaßnahmen beschrieben wurden. Der Einsatz der verschiedenen Strategien der Zensurumgehung an Hand von Beispielen wird im Analyseteil des Aufsatzes gezeigt. Des Weiteren untersuche ich die lyrische Form des Wintermärchens, die in Heines Versepos ebenfalls der Funktion der Zensurumgehung dient. Heinrich Heine: Weltenbürger – Europäer – Deutscher Heinrich Heine wird am 17. Dezember 1797 in Düsseldorf als Harry Heine in eine jüdische Kaufmannsfamilie hineingeboren. Nach einer Kindheit in dem französisch angehauchten Düsseldorf studiert er an verschiedenen Universitäten und schließt mit dem Dr. jur. ab. 1825 konvertiert er zum Protestantismus und entwickelt sich zu einem politischen Schriftsteller. Enttäuscht von den Ergebnissen der Julirevolution 1830 emigriert er ein Jahr später nach Paris. Heines Lebens- und Wirkungszeit fällt in die Zeit der Revolutionen, angefangen mit der Französischen Revolution bis hin zur Märzrevolution 1848. Diese Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs beeinflusst ihn in seiner Schaffensperiode als politisch-denkender __________________ 6 Beutin, Wolfgang: Deutsche Literaturgeschichte. J.B. Metzler, Stuttgart / Weimar 2008, S. 258 Vgl. Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen. Reclam, Stuttgart 1979, S. 88. Im Folgenden zitiert als DEW mit Angabe der Seitenzahl. 7 gesellschaftskritische Schriftsteller. Er greift aktuelle Probleme in der Gesellschaft auf und macht diese unter dem Volk populär. Den Höhepunkt seiner politischen Dichtungen markieren das 1844 entstandene Deutschland. Ein Wintermärchen und Die schlesischen Weber. Eine Krankheit fesselt ihn ab 1848 an sein Bett und am 17. Februar 1856 stirbt er infolge dieser. Heinrich Heine liegt auf dem Friedhof Montmartre begraben. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit werde ich auf Heines schriftstellerische Arbeit eingehen, die den politischen Hintergrund, u.a. die Zensurbedingungen betreffend, widerspiegelt. 2. Theoretischer Teil Nach dem Wiener Kongress 1814/15 wird die Forderung nach einer Verfassung durch die feudale Herrschaftsform der Österreichischen Regierung abgelehnt und der Idee einer nationalen Einigung wird durch die Garantie kleinstaatlicher Rechte entgegengewirkt. Damit ist die Epoche der Restauration eingeleitet. Außerdem werden durch die Zeit der Restauration politische Ideen in einem nichtgekannten Ausmaß entwickelt und die Literatur wird zum Hauptbereich der Einflussnahme auf die politische Aktivität der Bürger. Allerdings beantwortet der Staat diesen literarischen Freiheitskampf mit Zensurmaßnahmen und Verboten von 1819 und 1835.8 „Eng damit verbunden war die Wiederaufnahme der Debatte über die Funktion der Literatur und die Rolle des Schriftstellers“9, die von Heine in seinem Wintermärchen Beachtung finden. Auch versieht Heine sein Versepos mit einer Vorrede, die einen von dem Gedicht losgelösten Text besitzt. In diesem schildert er sein wirkliches Anliegen. Er nimmt zum Beispiel Bezug auf Aristophanes, der sich der „beißenden Satire“ in seinen Komödien bedient, ein rhetorisches Stilmittel, das auch im Wintermärchen zur Anwendung kommt.10 2.1 Einfluss des Saint-Simonismus Heine sieht den Saint-Simonismus als Fundament für seine eigenen sozialistischen Anschauungen. Die Lehre des Grafen Saint Simon ist die Selbstoffenbarung seines eigenen Wesens. Für ihn ist der Saint-Simonismus eine Religion der Zukunft, die besagt, dass bereits auf Erden alle Menschen ein Leben in Wohlstand führen können und nicht erst die „größere und ärmere Klasse“ im Himmel glücklich sein wird.11 Das ist das wichtigste Merkmal der ___________________ 8 1819 wird die Buch-und Pressezensur eingeführt und 1835 ein Verbot der Schriften Heinrich Heines. Beutin, Wolfgang: Deutsche Literaturgeschichte. J.B. Metzler, Stuttgart / Weimar 2008, S. 247. 10 Walwei-Wiegelmann, Hedwig: Gesellschaftskritik im Werk Heinrich Heines. Ein Heine-Lesebuch. Ferdinand Schöningh, Paderborn 1974, S. 79. 11 Vgl. Hauschild, Jan-Christoph und Werner, Michael: Heinrich Heine. Ullstein, Berlin 1999, S. 197. 9 Theorie. Damit stimmt Heine der Grundidee zu, dass die Arbeiterfrage das soziale Grundproblem darstellt, das von der Gesellschaft zu lösen ist. Dies ist der Grundtenor auch in seinem Wintermärchen. Um jedoch der behördlichen Zensur keinen Anlass für den Rotstift zu geben, malt er diesen Grundgedanken des Saint-Simonismus unter anderem mit den Bildern eines Märchens, wie zum Beispiel in Caput I:12 Es wächst hienieden Brot genug Für alle Menschenkinder, Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust, Und Zuckererbsen nicht minder.13 Allerdings wird die Bewegung des Saint-Simonismus 1832 in Paris zerschlagen und verboten. 2.2 Einfluss von Karl Marx Heine verkündet bereits Anfang der 40er Jahre die proletarische Revolution als einzige Lösung der gesellschaftlichen Widersprüche. Bei seinem Zusammentreffen mit Karl Marx 1843, nur wenige Tage nach seiner Rückkehr aus Deutschland, beginnt eine neue Schaffensperiode Heines, die durch Marx stark beeinflusst wird: Heine beginnt aggressive politische Lyrik zu schreiben. Als Zeugnis dafür steht das Wintermärchen selbst. Die Kritik an den deutschen Verhältnissen, die rücksichtslose nationale Selbstkritik sowie die scharfe Unterscheidung zweier Nationen innerhalb einer Nation hat für Heine eine grundlegende Bedeutung und dies sind revolutionäre Elemente, die er in seinem Wintermärchen zum Ausdruck bringt.14 2.3 Literaturepoche des Vormärz (1815 – 1848) Der Beginn des Vormärz ist, wie alle literarischen Epochen, umstritten und wird angesetzt zwischen dem Ende des Wiener Kongresses 1815 bzw. der Julirevolution in Frankreich 1830 und der Märzrevolution von 1848. Der Vormärz ist eine Bewegung und ein Sammelbegriff der revolutionären und politischen Literatur der Jahrzehnte vor der Märzrevolution 1848.15 Man bekämpft die apolitische Haltung des Biedermeier, bei dem das Lebensglück in der Familie und der Heimat besteht, was gleichbedeutend mit Stillstand und Restauration ist und ____________________ 12 Um mehr Sachlichkeit zu erreichen und damit auch die behördliche Zensur zu beeinflussen, bezeichnet Heine seine Kapitel mit Caput. 13 DEW, S. 10. 14 Vgl. Walwei-Wiegelmann, Hedwig: Gesellschaftskritik im Werk Heinrich Heines. Ein Heine-Lesebuch. Ferdinand Schöningh, Paderborn 1974. 15 Vgl. Sørensen, Bengt Algot: Geschichte der deutschen Literatur 2. Verlag C.H. Beck, München 1997, S. 13ff. das restaurative Gesellschaftssystem ausdrückt. In dieser Zeit werden Briefe, Reiseberichte und politische Gedichte verfasst.16 In dieses Genre fallen Heinrich Heines Die schlesischen Weber und sein satirisches Versepos Deutschland. Ein Wintermärchen. Diese beiden Werke gehören zu seinen radikalsten Äußerungen als Autor. Der Vormärz ist eine progressive Strömung, die bis in das 20. Jahrhundert hineinreicht. Trotz der politischen Bedingungen des Vormärz und des Scheiterns der Revolution im März 1848 sind die bestimmenden Faktoren des Vormärz die Vertiefung der kapitalistischen Widersprüche und die Entwicklung der Arbeiterklasse. 2.4 Rhetorische Stilmittel zur Zensurumgehung Heinrich Heine als politischer Dichter wendet eine Reihe von rhetorischen Stilmitteln an um gezielt der externen Zensur zu entgehen. Alle behördlichen Augen sind auf Heine gerichtet, da er ein beliebter vielgelesener Schriftsteller ist und er Arbeiten vorlegt, die seine Kritik an der Gesellschaft zum Ausdruck bringen. In seinem Wintermärchen wendet er mehrere rhetorische Stilmittel der Literatur an, die allerdings von seiner Leserschaft richtig interpretiert werden müssen. Im Folgenden werden diese rhetorischen Stilmittel beschrieben, sowie ihr historischer Kontext in diesem Zusammenhang erläutert. Im Analyseteil dieser Arbeit werde ich auf diese Gestaltungsmittel zurückgreifen um mit Hintergrund dieser auf die Zensurumgehung einzugehen. Symbolik Ein Symbol ist ein „allgemein anschauliches Zeichen, das etwas nicht unmittelbar anschauliches repräsentiert. Das Symbol selbst stellt dabei meistens etwas anderes dar als das, was es repräsentiert.“17 Heine wendet Symbole in seinem Wintermärchen als Code an. Hinter diesem Symbol / Code verbirgt sich ein besonderer Begriff oder ein Vorgang, der oft keinen erkennbaren Zusammenhang mit dem Symbol hat, aber doch für den eingeweihten Leser von Bedeutung ist. Im Wintermärchen werden als Symbole unter anderem der Kölner Dom angeführt, der für den Religionskonflikt steht, der Deutsche Adler, der das Deutsche Reich verkörpert und der Rhein, der auf den Nationalsozialismus Deutschlands aufmerksam macht. ____________________ 16 17 Vgl. Ebd., S. 21ff. Ulfig, Alexander: Lexikon der philosophischen Begriffe. Fourier Verlag, Wiesbaden 1997, S. 408. Metapher Unter Metapher ist die „bildliche Übertragung eines Ausdrucks aus einem Bedeutungszusammenhang in einen anderen zu verstehen; dabei lässt sich zwischen dem Ausdruck und dem von ihm Bezeichneten kein direkter Zusammenhang feststellen.“18 Heine als „Sprachgenie“ wendet mit Absicht rätselhafte Metaphern an, um sich von dem gewöhnlichen Sprachgebrauch abzuheben. Bereits die Überschrift stellt eine solche dar: Deutschland. Ein Wintermärchen. So kalt, erstarrt, entwicklungslos wie der Winter ist, wird Deutschland mit dieser Metapher beschrieben. Mythologie „Die Mythologie ist die Wissenschaft vom Mythos. Die Mythen dienen den Menschen zur Erklärung der Wirklichkeit und des Geschehens, sie haben eine Erklärungsfunktion.“19 Heine bedient sich zweier Figuren, mit denen er den dichterischen Höhepunkt der versifizierten Reisebilder beschreibt: In den Kapiteln XIV bis XVII beschreibt Heine die Vergangenheit und Zukunft Deutschlands mit einer Sagengestalt: Barbarossa, der seit Jahrhunderten im Kyffhäuser wohnt und wartet, das deutsche Volk befreien zu können. Er vereint in sich die zwei deutschen Nationen, das alte restaurative und das progressive noch anonyme neue Deutschland.20 Eine andere Mythengestalt ist die Schutzgöttin Hamburgs, Hammonia, die in den Kapiteln XXIV bis XXVI auftritt. Zur Verbreitung seiner Meinung wendet Heine Sagengestalten an und umgeht damit erfolgreich die Zensurbehörde. Der Gedankengang wird unmittelbar auf die Sage gelenkt, wobei der Inhalt der geschriebenen Worte nicht identisch ihrer Bedeutung ist. Heine spricht zu seinen Lesern zwischen den Zeilen, wie wir im Weiteren sehen werden. Ironie Die Ironie ist „eine Redeweise, bei der etwas anderes gesagt wird, als was zu sagen beabsichtigt ist; dies soll jedoch vom Zuhörer erkannt werden.“21 Heine macht sich im Caput III auf ironische Weise lustig über Preußens Armee, hier speziell über den Helm: „Ja, ja der Helm gefällt mir, er zeugt Vom allerhöchstem Witze. Ein königlicher Einfall war´s!“22 __________________ 18 19 20 21 22 Ebd., S. 265. Ebd., S. 274. Vgl. Sørensen, Bengt Algot: Geschichte der deutschen Literatur 2. Verlag C.H. Beck, München 1997, S. 51. Alexander Ulfig, Lexikon der philosophischen Begriffe. Fourier Verlag, Wiesbaden 1997, S. 210. DEW, S.14. Mit dem letzten Vers verhöhnt er auch gleichzeitig den preußischen König. Bei Heine schmunzelt die Leserschaft über einen Missstand, wobei das Opfer des Spottes Preußen darstellt. In diesem Moment wird der Leser zu Heines Verbündeten. 2.5 Reisedokumentation als Methode der Zensurumgehung Die Reisebeschreibung hat eine reiche Tradition. Schon in früheren Literaturepochen hat man sich dieses Mittels bedient.23 In der Reisedokumentation werden nicht nur Reiseerlebnisse vermittelt, sondern sie stellt auch die Möglichkeit dar, kritische Gedanken, Vergleiche und Überlegungen zu publizieren. In einer Reisedokumentation ist es möglich, zwischen objektiver Schilderung und subjektiver Reflexion beliebig zu wechseln.24 Für Heine ist die Reisedokumentation ein Werkzeug, um die gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und kulturellen Zustände im zerrissenen Deutschland darzustellen; objektive Reiseschilderungen vereinen sich mit subjektiven Gedanken und Vergleichen. Im Wintermärchen stellen die Reiseerlebnisse mit den entsprechenden Landschaften den Hintergrund für die Kritik an dem Gesellschaftssystem dar. 2.6 Zensur in der Literatur Wie im vorangegangenen Kapitel genannt, bedient sich Heinrich Heine unter anderem verschiedener rhetorischer Stilmittel, um die Zensur zu umgehen, nämlich der Symbole und der Metaphern, die er in die nur ihm eigene Ironie gepaart mit Witz verpackt. Er verwirrt und er provoziert und er reizt zum Lachen mit seinen „gewollt dilettantischen Reimen.“25 Der Staat jedoch begrenzt mit Hilfe der Zensur die Gedankenmitteilung. Man unterscheidet mehrere Arten der Zensur, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. 2.6.1 Externe Zensur (amtliche Zensur) Während der Zeit des Vormärz gibt es eine 20-Bogen-Verordnung, d.h. ein literarisches Werk unter 20 Bogen (320 Blatt)26 muss der Vorzensur vorgelegt werden. Diese Verordnung bezieht sich nicht nur auf rein politische Schriften, sondern auch auf Belletristik. Ihren ____________________ 23 Goethe, beispielsweise, beschreibt seine Italienreise in Form eines Reiseberichtes. Vgl. Walwei-Wiegelmann, Hedwig: Gesellschaftskritik im Werk Heinrich Heines. Ein Heine-Lesebuch. Ferdinand Schöningh, Paderborn 1974, S. 12. 25 Sautermeister, Gert und Schmid, Ulrich: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Carl Hanser Verlag, München, Wien 1998, S. 564. 26 Vgl. Hauschild Jan-Christoph und Werner, Michael: Heinrich Heine. Ullstein, Berlin 1999, S. 229ff. 24 Höhepunkt erreicht die Zensur erst nach 1830. Da Preußen Angst hat, die revolutionären Gedanken könnten von Frankreich nach Deutschland überschwappen, erlässt Metternich27 sechs Artikel, in denen ein einheitliches Vorgehen gegen Unruhestifter und Ordnungsbruch beschlossen wird. Außerdem richtet man eine eigene Zensurbehörde ein, die Bundeszentralbehörde zur politischen Überwachung. Die Werke und Artikel der politischoppositionellen Schriftsteller unterliegen demzufolge einer scharfen Kontrolle durch die Zensurbehörden. Beide Seiten, die Autoren und Verleger auf der einen und die Kontrollinstitutionen auf der anderen, versuchen mit viel List und Tücke ihre Forderungen durchzusetzen. Der Zensor, dem alle frisch gesetzten Texte zur Kontrolle vorgelegt werden, trägt die Verantwortung für die Einhaltung der Zensurinstruktionen, die in den offiziellen Regierungsverordnungen verankert sind.28 2.6.2 Selbstzensur Die Selbstzensur ist Ausdruck der individuellen Einstellung und ein Mittel der sachlichen Vertretbarkeit dieser Einstellung. Unter dem Druck der Zensur kann Selbstzensur ein Mittel der Selbsterhaltung und Anpassung sein.29 Auch Heine war gezwungen, noch einmal Selbstzensur zu üben, nachdem er das Manuskript seinem Verleger geschickt hatte und dieser sich wehrte, das Wintermärchen ohne Vornahme von Änderungen zu drucken. Laut Heine kann die Zensur zur „stilbildenden“30 Institution avancieren. Als 1848 die Zensur aufgehoben wird, drückt Heine auf humorvolle Weise seine Enttäuschung darüber aus, denn sein Stil und seine Grammatik sind hoch entwickelt und verfeinert, um eben die Zensur zu umgehen. Publikationsbedingungen und Schreibweise sind zu einem Ganzen verschmolzen. Heine ist ein Meister der Verstellungstaktik. Er passt die Veröffentlichungs- der Zensursituation an. Er versteht es, die Zensurforderungen so in den Text einzubauen, dass die Leserinformationen erhalten bleiben. Geeignet dazu ist der ironisch-satirische Grundton, wobei sich hier das Problem auftut, dass nur Kritik vermittelt wird, das Positive aber unbestimmt bleibt. Diese Art von Zensurumgehungsstrategie setzt eine bestimmte Leserschaft voraus. Diese spezifische Zielgruppe muss zwischen den Zeilen lesen können, sie muss den kodierten Text richtig dekodieren können, um ein Missverstehen zu vermeiden. Je schärfer ____________________ 27 Metternich war österreichischer Staatsmann und führender Politiker der Restaurationszeit. Vgl. Hauschild, Jan-Christoph und Werner, Michael: Heinrich Heine. Ullstein, Berlin 1999, S. 229ff. 29 Vgl. Ebd., S. 229ff. 30 Ebd., S. 231. 28 der Druck durch die Zensur, desto grösser die Verstellungstaktik, aber auch umso unsicherer die richtige Interpretationsmöglichkeit der Texte. 31 Heine entwickelt mehrere Taktiken dieser Umgehungsarten; allerdings kann dieses Verstellungsspiel auch Schreibhemmungen hervorrufen, dann nämlich, wenn sich der Autor selbst überkontrolliert, wenn die Fremdzensur die Selbstzensur zu stark beeinflusst. Allerdings vermag Heine mit seinem subjektivistischen Stil die Zensur oft zu umgehen, mit der Gefahr, dass gewünschte Aussagen verlorengehen können.32 3. Analyse des Epos 3.1 Deutschland. Ein Wintermärchen Die Reiseroute, die Heine im Wintermärchen angibt, entspricht in umgekehrter Reihenfolge seiner eigenen Rückreise nach Paris. Als Stationen werden genannt: Aachen, Köln, Teutoburger Wald, Paderborn, Minden, Bückeburg, Hannover und als Ziel Hamburg.33 Der Grund seiner Reise 1843 nach Deutschland ist vor allem sein Heimweh, aber auch die bestehenden politischen Verhältnisse in seinem Heimatland. Es soll nicht länger Theorie sein, die Widerspiegelung der deutschen Verhältnisse, die er in seinen bisherigen Werken verkündet, es ist nun die Praxis, die politische Bewegung selbst, die politischen Reibungen, die neuen politischen Impulse, die ihn interessieren. Es bedarf einer lebendigen Anschauung, um das politische Gedicht schreiben zu können. Wenige Tage nach seiner Rückkehr aus Deutschland beginnt Heine mit dem Wintermärchen. Als Entstehungszeit gibt er selbst den Monat Januar an, aber die Arbeit zieht sich bis in den April, als Heine das Manuskript an Campe – seinen Verleger in Hamburg – schickt. Um die Zensur zu umgehen, wird das Gedicht in den zensurfreien Band der Neuen Gedichte integriert.34 Die Existenz des Deutschlandgedichts muss verheimlicht werden, um eine möglichst weite Verbreitung zu garantieren, bevor Verbote einsetzen. Gleichzeitig bereitet Campe einen Separatdruck des Wintermärchens vor, der allerdings der Zensurbehörde vorgelegt werden muss. Einiges fällt dem Rotstift des Zensors zum Opfer. Für den Separatdruck verfasst Heine ein Vorwort. 1844 fährt er ein zweites Mal nach Hamburg, um ___________________ 31 32 33 34 Vgl. Ebd., S. 232. Vgl. Ebd., S. 232ff. Vgl. DEW, S. 88. Vgl. DEW, S. 89. die Drucklegung seines Versepos zu überwachen. 3.2 Rolle und Aufgabe des Dichters Zu Beginn des Gedichts steht der Gruß an die Freunde, am Ende des Gedichts steht der Gruß an die Feinde; hier kommen die Macht sowie auch die Aufgabe des Dichters zum Ausdruck. Er spricht den preußischen König mit folgenden Worten an: Beleid´ge lebendige Dichter nicht, Sie haben Flammen und Waffen, Die furchtbarer sind als Jovis Blitz, Den ja der Poet hat erschaffen. 35 Sollte der König sich nicht des Dichters Worte annehmen, erwartet ihn eine furchtbare Strafe: Kennst du die Hölle des Dante nicht, Die schrecklichen Terzetten? Wen da der Dichter hineingesperrt, Den kann kein Gott mehr retten- 36 Das Gedicht soll politisch aufklärend wirken und jeder Leser soll sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung bewusst werden. Heine muntert seine Leserschaft zu einem kritischen Reflektieren über die gesellschaftlichen Verhältnisse auf und zu einer eigenen Meinungsbildung. Gleichzeitig wendet er sich an den preußischen König und macht ihm bewusst, welchen gesellschaftlichen Einfluss und welche Kraft die Worte des Schriftstellers haben. Vom Entwurf in Paris bis zum Druck in Hamburg muss das Gedicht mehrere Instanzen der Zensur durchlaufen, wobei es immer mehr von seinem ursprünglichen Text verliert; angefangen bei der Selbstzensur des Autors, über die Einwände aus dem Umkreis des Verlegers bis zu der behördlichen Zensurinstanz. 37 Dass die relativ milde Hamburger Zensur der wesentlich strengeren preußischen nicht genügt,38 ist dem Verleger bekannt. Deshalb hält er Verlagsankündigungen so lange zurück, bis die Buchhändler ihre zum Verkauf bestimmten Exemplare in den Händen halten. So verschafft er dem von der Zensur verfolgtem Wintermärchen einen Vorsprung gegenüber den Behörden. Die staatliche Behörde beschlagnahmt letztendlich nur cirka ein Duzend von den ____________________ 35 DEW, S. 74. DEW, S. 75. 37 Vgl. Hauschild, Jan-Christoph und Werner, Michael: Heinrich Heine. Ullstein, Berlin 1999, S. 443. 38 Vgl. Ebd., S. 443. 36 2050 herausgegebenen Exemplaren.39 Das Versepos in seiner erstmals publizierten Form ist also Resultat der öffentlichen Zensurbehörde und Heines intensiver Selbstzensur. 3.3 Die Bedeutung des Vorwortes Heinrich Heine bildet das Vorwort zu einem eigenständigen Text aus, in dem er seine wahren Absichten dem Leser zu erkennen gibt, da er besorgt wegen der Aufnahme seines Gedichtes ist.40 Dieses ist scharf revolutionär und gegen die gesellschaftlichen Missstände in Deutschland gerichtet. Das Vorwort verfasst Heine zu der Separatausgabe seines Versepos. In ihm bringt er seine uneingeschränkte Liebe zu Deutschland zum Ausdruck um Verleumdungen, er sei ein Vaterlandsverächter, zu begegnen. Des Dichters Gefühle für das Vaterland und seine Sehnsucht nach diesem werden in folgenden prominenten Zeilen deutlich: Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht, ich kann nicht mehr die Augen schließen, und meine heißen Tränen fließen. 41 Das Vorwort zielt auf die Fortführung und Realisierung der revolutionären deutschen Denktradition. Deutschland soll humaner werden, soll sozialer werden, soll gerechter werden; erst dann verdienen es die Farben schwarz-rot-gold wieder geachtet und verehrt zu werden. Vaterlandsliebe bedeutet für Heine gleichzeitig Kampf gegen die in Deutschland herrschenden politischen und sozialen Verhältnisse, gegen die deutschen Machthaber und gegen alles Rückständige. Heines Vorrede zum Wintermärchen und das Gedicht selbst sind ein Ausdruck seiner Vaterlandsliebe, seiner Liebe zu dem wirklichen Deutschland und ein Schlag gegen das alte aber doch noch reale Deutschland. 3.4 Gestaltung des Versepos 3.4.1 Aufbau So wie der Riese Antäus (Caput I, letzte Strophe) den Kontakt zur Erde braucht, so schöpft auch Heine seine Kraft und Gedankenfülle aus dem Kontakt zum Heimatland, sobald er die Grenze hinter sich lässt. Heines Kritik an dem Gesellschaftssystem findet ihre dichterischen Höhepunkte am Anfang des Gedichts in Caput I, in der Mitte mit Caput XIV bis XVII sowie am Schluss in Caput XXV /XXVI wie im Folgenden erläutert: ___________________ 39 Vgl. Ebd., S. 443. Vgl. Walwei-Wiegelmann, Hedwig: Gesellschaftskritik im Werk Heinrich Heines. Ein Heine-Lesebuch. Ferdinand Schöningh, Paderborn 1974, S. 21. 41 Aus Nachtgedanken 1843, wo Heinrich Heine seine wahren Deutschlandgefühle zum Ausdruck bringt. 40 Im ersten Kapitel steht die Widmung an die Freunde: „Ein neues Lied, ein besseres Lied, O Freunde, will ich euch dichten!“42 Auch nimmt Heine seinen sozialrevolutionären Gedanken auf und verkündet die natürlichen Lebensrechte der arbeitenden Bevölkerung: „Wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten.“43 Mit dieser Aussage wagt er einen positiven, optimistischen Blick in die Zukunft, wo nicht das himmlische Reich als Ideal steht, sondern die Erde, das Hier und das Jetzt. Im Mittelstück, Caput XIV – XVII, setzt er sich am Beispiel der deutschen Nationallegende von Kaiser Barbarossa, der zentralen Figur, mit der Vergangenheit und der Zukunft Deutschlands auseinander. Mit der optimistischen Zukunftsvision: „Es wächst heran ein neues Geschlecht ….“44 im letzten Caput ( XXVII) kündigt er eine neue Zukunft an, die Zeit nach der proletarischen Revolution, „wo alle Menschenkinder Zuckererbsen bereits auf der Erde essen können“.45 Wovon Heine im ersten Kapitel schreibt, greift er nochmals im letzten Caput auf; er schafft einen Rahmen und somit eine Einheit des Gedichts. 3.4.2 Zensurumgehung Heines Hauptsorge vor der Publizierung seines großen Versepos gilt der Umgehung der behördlichen Zensur. Heine ist ein exzellenter Sprachkünstler, Journalist und Dichter, ergo fällt es ihm beim Schreiben seines großen Deutschlandgedichts nicht schwer, Selbstzensur zu üben und politische Poesie in wohlklingende idyllische Phrasen zu packen. Er kann einen Gedanken zehn – oder zwanzigmal neu formulieren, bis die inhaltsmäßig treffendste aber auch zensurfreundlichste Aussage gefunden ist. Außerdem vermag er die Behörden durch den Einsatz seiner beißenden Ironie und seines Sarkasmus zu überlisten. Witz und Ironie sind geeignete Mittel, der behördlichen Zensur auszuweichen, da es sich um eine Verrätselungsstrategie handelt: Die Ironie, fein nuanciert und zweideutig angewandt, verhüllt das tatsächlich Geschriebene. Und Heine als Meister des instrumentalisierten Wortes feilt den sprachlichen Ausdruck bis in kleinste Detail.46 Er spielt mit den Worten. Des Weiteren bedient er sich Figuren aus der deutschen Mythologie: der Kaiser Barbarossa und Hammonia, die Beschützerin Hamburgs. Durch die Auseinandersetzungen mit diesen beiden Persönlichkeiten zeichnet er die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft ____________________ 42 DEW, S. 10. DEW, S. 10. 44 DEW, S. 73. 45 Vgl. DEW, S. 10 46 Vgl. Hauschild, Jan-Christoph Hauschild und Werner, Michael: Heinrich Heine. Ullstein, Berlin 1999, S. 233. 43 Deutschlands auf, wie im nächsten Kapitel dargestellt. Obwohl Heines Versepos nicht der Epoche der Romantik zugeordnet werden kann, trägt es doch klassische Motive der Romantik zum Zweck der Zensurumgehung. Neben der Symbolik und der bildlichen Sprache der Mythologie bedient er sich märchenhafter Momente und Traumsequenzen, um die tatsächlichen gesellschaftspolitischen Zustände in Deutschland darzustellen.47 Bereits in der Überschrift seines Versepos spricht Heine von einem „Wintermärchen“. Nur allein das Wort weist auf ein Märchen hin, das allerdings in einer Metapher endet, da er das Wintermärchen auf Deutschland bezieht. Und dieses Deutschland ist gesellschaftspolitisch einer winterlichen und entwicklungslosen Starre erlegen. In Caput II wird Heine als Ich-Erzähler des Versepos erfolglos vom Zoll kontrolliert, denn er hat die Contrebande, die mit ihm reist, im Kopfe.48 Er wendet eine religiöse Metapher an, er trägt „die Tempelkleinodien des neuen Gotts“ im Kopf. Hier übt er Kritik an dem preußischen Zoll; das, wonach gesucht wird, trägt er an sich – im Kopf. Ein Vogel wird in Caput III genannt: „Du hässlicher Vogel, wirst du einst…“.49 Dieses von Heine aufgegriffene Tier steht als Symbol für den preußischen Adler. Er nennt den Kölner Dom in Caput IV als Symbol für die Machtbestrebungen der Kirche. Die Kirche ist neben dem Staat die wichtigste Instanz, politische und soziale Forderungen bei dem Volk durchzusetzen. Heine spottet darüber, dass der Bau des Doms im Zuge Luthers Reformation abgebrochen wurde und seitdem ruht. Ein Weiterbau würde einer Huldigung der Restauration gleichen. Der Stillstand dokumentiert die eigentliche Stärke des deutschen Volkes und es drückt die Sehnsucht dessen nach Veränderung der Verhältnisse aus und ist gleichzeitig eine Aufforderung zum Handeln: Folgt meinem Rat und steckt sie 50 hinein In jene drei Körbe von Eisen, Die hoch zu Münster hängen am Turm, Der Sankt Lamberti geheißen.51 In Caput V hält Heine einen Dialog mit dem Rhein, der als Symbol der Nationalität angesehen wird. Er spricht die Rheinkrise von 1840 an in Verbindung mit der NationalismusWelle, in welcher Frankreich den Rhein als seine Ostgrenze fordert. Als Konsequenz hätte ____________________ 47 Vgl. Rosenberg, Rainer: Literaturverhältnisse im deutschen Vormärz. Akademie-Verlag, Berlin 1976, S. 173. Vgl. DEW, S. 11. 49 DEW, S. 15. 50 Jeder Korb ist bestimmt für einen der drei heiligen Könige aus dem Morgenland, die in dem Kölner Dom begraben liegen. 51 DEW, S. 18. 48 vor allem Preußen Territorium an Frankreich verloren. Heine, für den der Rhein mit Heimat gleichzusetzen ist, legt dem „personifizierten Strom“52 seine Meinung zur nationalen Frage in den Mund: „Doch schwerer liegen im Magen mir Die Verse von Nicklas Becker 53.“54 Mit diesen Worten kritisiert der Autor den gegen Frankreich gerichteten Hass. 3.4.2.1 Gespräch mit Barbarossa Den dichterischen und zugleich gesellschaftskritischen Höhepunkt des Versepos bildet die Diskussion mit der Sagengestalt Kaiser Barbarossa. Die Barbarossa-Figur, vom deutschen Volk verehrt, steht als Symbol für soziale Gerechtigkeit, kluge politische Führung sowie ein einheitliches Deutschland.55 Sämtliche gesellschaftspolitischen Tendenzen des Wintermärchens vereinen sich in dieser Gestalt: Kritik an Deutschlands Vergangenheit und die Perspektive eines neuen Deutschlands. Barbarossa erscheint als idealisierter Vertreter des restaurierten Deutschlands und ist somit Zielscheibe der satirischen Abrechnung des Dichters. Kaiser Rotbart steht jedoch auch für die in die Zukunft weisende Freiheit und Emanzipation des Volkes. Das Thema der zwei Nationen, des alten und neuen Deutschlands, ist hier verkörpert in einer Person, dem Kaiser Barbarossa. Die Epoche der politischen Passivität lässt Heine zu Bildern „des Schlafens, des Träumens und des Aufwecken greifen“,56 die man in seinem Wintermärchen, in der Begegnung mit Barbarossa wiederfindet. Dieses Gespräch zwischen Heine und Kaiser Rotbart, das den wichtigsten Teil des Versepos ausmacht, ist in der Mitte der versifizierten Reisebilder angesiedelt und findet in des Autors Traum statt. In Caput XIV werden Heines Kindheitserinnerungen wach. Er erinnert sich zunächst nur schemenhaft zweier Volksmärchen, die ihm seine alte Amme vor vielen Jahren erzählte. In diesen geht die weibliche Heldin unter: Die Mörder, die gemeuchelt einst Die teure, wundersame, Goldlockige Jungfrau Germania- 57 Die gequälte und gemeuchelte Heldin steht für das geschundene, aber nun erwachende und ____________________ 52 Kaufmann, Hans: Politisches Gedicht und klassische Dichtung. Aufbau, Berlin 1959, S.163. Nicklas Becker lebte von 1809 – 1845 und war durch seine Dichtung des Rheinliedes bekannt geworden, in dem es heißt: „ Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein.“ Mit „Sie“ sind die Franzosen gemeint. 54 DEW, S. 19. 55 Vgl. Jens, Walter: Kindlers neues Literatur Lexikon, Band 7, Kindler Verlag, München 1990, S. 568. 56 Ebd., S. 567. 57 DEW, S. 41. 53 erstarkende Deutschland.58 Die waffenklingende Realität des Heeres Barbarossas weist auf in dem Volk schlummernde revolutionäre Kräfte hin: Wohl mancher, der sich geborgen geglaubt, Und lachend auf seinem Schloss saß, Er wird nicht entgehen dem rächenden Strang, Dem Zorne Barbarossas! 59 Das Kapitel wird von dem Kehrreim „Sonne, du klagende Flamme“ 60 durchzogen. Die Sonne ist die Anklägerin der Mordtat an der weiblichen Person; im übertragenen Sinn wird hier die bloße Sehnsucht des Volkes nach Freiheit und Gleichberechtigung zum Ausdruck gebracht und in Verbindung mit der Barbarossa-Darstellung auf einen revolutionären Kampf hingewiesen, in dem das Volk als Sieger hervorgeht.61 Das Caput XV komplettiert das vorangegangene; das lyrische Ich, eingeschlafen, nun aber träumend, nimmt die Diskussion mit Kaiser Rotbart auf. Waffen, Soldaten und Pferde sind dieselben, aber sie werden nicht mehr mit der kindlichen Begeisterung wie im 14. Kapitel gesehen, sondern aus der Sicht des erwachsenen, politisch aufgeklärten Dichters. Nun wird Barbarossa als antiquierte Person dargestellt, über die sich der Dichter lustig macht: Er watschelte durch die Säle herum Mit mir im trauten Geschwätze. Er zeigte wie ein Antiquar Mir seine Kuriosa und Schätze. 62 Mit dieser Darstellung wird auf das alte Deutschland verwiesen, das sich in einem antiquierten Zustand befindet. Aber Barbarossa nimmt sich Zeit mit der Befreiung Deutschlands von dem restaurierten Deutschland:63 Ich warte, bis die Zahl komplett, dann schlag ich los und befreie Mein Vaterland, mein deutsches Volk, Das meiner harret mit Treue. 64 Heine lässt die revolutionären Kräfte, die ein neues Deutschland so bald wie möglich anstreben, antworten durch das lyrische Ich antworten: _____________________ 58 Vgl. Kaufmann, Hans: Politisches Gedicht und klassische Dichtung. Aufbau, Berlin 1959, S. 178. DEW, S. 41. 60 DEW, S. 37. 61 Vgl. Kaufmann, Hans: Politisches Gedicht und klassische Dichtung. Aufbau, Berlin 1959, S. 173. 62 DEW, S. 42. 63 Vgl. Kaufmann, Hans: Politisches Gedicht und klassische Dichtung. Aufbau, Berlin 1959. S. 183. 64 DEW, S. 43. 59 Schlag los du alter Geselle, Schlag los, und hast du nicht Pferde genug, Nimm Esel an ihrer Stelle. 65 In Caput XVI, Heine immer noch träumend, wird Kaiser Rotbart als Repräsentant der feudalistischen Gesellschaftsordnung und des Mittelalters dargestellt, was historisch bereits überlebt ist. Er ist sehr wissbegierig, doch kommt damit seine historische und politische Unkenntnis der Gegenwart zum Ausdruck:66 Er hatte aus der Oberwelt Seit vielen, vielen Jahren, Wohl seit dem Siebenjährigen Krieg, Kein Sterbenswort erfahren. 67 Heine zerstört den ganzen Sagenspuk, indem er Barbarossa direkt anspricht: Herr Rotbart“- rief ich laut – „du bist Ein altes Fabelwesen, Geh, leg dich schlafen, wir werden uns Auch ohne dich erlösen. 68 Heine beendet die Auseinandersetzung mit den Worten: „Bedenk ich die Sache ganz genau, So brauchen wir gar keinen Kaiser.“69 Damit erklärt er die Veränderung der Regierungsform durch eine politische Revolution als primäres Ziel.70 Wenn Heine dem Mittelalter in Caput XVII den Vorzug gibt, dann vor allem um die deutsche Gegenwart umso vernichtender zu kritisieren: Das Mittelalter, immerhin, Das wahre, wie es gewesen, Ich will es ertragen – erlöse uns nur Von jenem Zwitterwesen. 71 Mit dem „Zwitterwesen“72 ist der preußische König gemeint, ein Romantiker, der für sich den Ausdruck Kunstliebhaber beansprucht, aber die zeitgenössische Literatur unterdrückt, der mit dem Liberalismus sympathisiert jedoch die extremste Reaktion begünstigt.73 Mit dem letzten ____________________ 65 DEW, S. 43. Vgl. Kaufmann, Hans: Politisches Gedicht und klassische Dichtung. Aufbau, Berlin 1959, S. 184. 67 DEW, S. 44. 68 DEW, S. 46. 69 DEW, S. 47. 70 Vgl. Kaufmann, Hans: Politisches Gedicht und klassische Dichtung. Aufbau, Berlin 1959, S. 186. 71 DEW, S. 48. 72 DEW, S. 48. 73 Vgl. Kaufmann,Hans: Politisches Gedicht und klassische Dichtung. Aufbau, Berlin 1959, S. 188. 66 Vers in Caput XVII: „Komme du bald, o Kaiser!“74 drückt Heine seinen Freiheitsgedanken aus. Barbarossa erscheint nicht nur als alter antiquierter Kaiser, der für das Mittelalter steht, sondern auch als Symbol für eine bessere, fortschrittlichere Zeit.75 3.4.2.2 Gespräch mit Hammonia Als Personifizierung der Stadt Hamburg, weltoffene Handelsstadt, doch noch im Biedermeier sich sonnende Selbstgenügsamkeit, Eitelkeit und ihre korrupte Betriebsamkeit als Charaktereigenschaften und damit kein Vorbild für ein besseres Deutschland – greift Heine auf Hammonia zurück, der Schutzgöttin Hamburgs.76 Sie verkörpert die alte Gesellschaftsordnung, sie bevorzugt die Idylle, ihre Zeit; aber schon wird die Revolution angekündigt: „Es poltert heran ein Spektakelstück, zu Ende geht die Idylle.“77 Durch sie verspottet Heine die spießbürgerlichen gemütlichen Fortschrittsgedanken der Göttin. Auch möchte sie das alte Deutschland behalten, um dem Gestank zu entgehen, der beim Hinscheiden der überholten Gesellschaftsordnung entsteht. Heine lässt Hammonia über den Fortschritt Hamburgs diskutieren, aber er glaubt nicht an jenen; es ist ein banaler, oberflächlicher Fortschritt. In Caput XXV geht Hammonia ein auf diese Perspektive: Bleib bei uns in Deutschland, es wird dir hier Jetzt besser als eh´mals munden; Wir schreiten fort, du hast gewiss Den Fortschritt selbst gefunden.78 Sie hält dem Dichter einen langen Vortrag über die Vorteile der jetzt bestehenden politischen und sozialen Verhältnisse, wobei spießige Gemütlichkeit zum Ausdruck kommt: Du bist älter und milder jetzt, Wirst dich in manches schicken, Und wirst sogar die Vergangenheit In besserem Lichte erblicken.79 Doch ihr stärkstes Argument hebt sie bis zum Caput XXVI auf. Um den Dichter von seinem fortschrittlichen Gedanken abzubringen, zeigt ihm Hammonia die Zukunft Deutschlands, die sich im Nachtstuhl80 Karl des Großen wiederspiegelt. Aber es ist nicht die Zukunft ____________________ 74 DEW, S. 48. Vgl. Kaufmann, Hans: Politisches Gedicht und klassische Dichtung. Aufbau, Berlin 1959, S. 189. 76 Vgl. Jens, Walter: Kindlers neues Literatur Lexikon, Band 7, Kindler Verlag, München 1990, S. 568. 77 DEW, S. 68 78 DEW, S. 67. 79 DEW, S. 71. 80 Mit Nachtstuhl ist das gewisse Örtchen von Karl des Großen gemeint. 75 Deutschlands, die Heine nun sieht, sondern „die Zukunft des alten restaurierten Deutschlands“81: Entsetzlich waren die Düfte, o Gott! Die sich nachher erhuben; Es war, als fege man den Mist Aus sechsunddreißig Gruben.--- 82 Hier provoziert Heine, er nimmt ein Tabuthema auf: es schlägt ihm ein widerwärtiger Gestank entgegen. Durch den Schock rüttelt er an dem abgestumpften öffentlichen Bewusstsein. Als „Sensation, die der Leser mit einer Mischung aus Widerwillen und heimlicher Lust am Verbotenen wahrnehmen kann“,83 entreißt er der Privatsphäre sogar die Exkremente. Heine greift wiederum auf die Mythologie zurück und lässt seine Meinung durch die Schutzgöttin Hamburgs verbreiten. Er beschreibt die deutsche Nationen und deren Zukunft. Es wird eine Revolution geben: „Ihr Ziel ist Brot, Schönheit und Lust für alle Menschenkinder“.84 Aber auf dem Weg dahin muss man die 36 Gruben ausheben. Man darf also nicht zurückschrecken, wenn man es mit einem besonders übelriechenden feudalbürokratischem System zu tun hat, das es zu beseitigen gilt. Hammonia erscheint als Gegenspielerin des Harfenmädchens, welches in Caput I auftritt: Ein kleines Harfenmädchen sang, Sie sang mit wahrem Gefühle Und falscher Stimme, doch ward ich sehr Gerühret von ihrem Spiele.85 Dem Volk wird das Wasser der Tugend gepredigt, während die Herrschenden den Wein des Wohllebens und der Privilegien genießen können: Sie sang das alte Entsagungslied, Das Eiapopeia vom Himmel, Womit man einlullt, wenn es greint, Das Volk, den großen Lümmel.86 Wie das Harfenmädchen die feudalistisch-romantische Erscheinungsform vertritt, steht die Schutzgöttin Hamburgs für das alte vorrevolutionäre Deutschland. Das Harfenmädchen ____________________ 81 Kaufmann, Hans: Politisches Gedicht und klassische Dichtung. Aufbau, Berlin 1959, S. 156. DEW, S. 71. 83 Sautermeister, Gert und Schmid, Ulrich: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Carl Hanser Verlag, München, Wien 1998, S. 569. 84 Kaufmann, Hans: Politisches Gedicht und klassische Dichtung. Aufbau, Berlin 1959, S. 156. 85 DEW, S. 9. 86 DEW, S. 9. 82 drückt die religiöse Verklärung aus, Hammonia deren ruchlose Existenz.87 Hammonia will das lyrische Ich zum Bleiben in Deutschland überreden. Doch wider ihrer Worte hat sich an den gesellschaftlichen Verhältnissen nichts geändert. Deutschland ist der Restauration erlegen, und wie schon die Überschrift sagt, in eine winterlichen Starre gehüllt, die mit einem Stillstand der gesellschaftlichen Entwicklung einhergeht. An dieser Stelle lässt sich sagen, dass Heine alle ihm zur Verfügung stehenden sprachlichen und literarischen Strategien der Zensurumgehung in seinem Wintermärchen nutzt, um dieses durch und durch gesellschaftskritische Gedicht seiner Leserschaft präsentieren zu können und damit diese zum Nachdenken, Diskutieren, Argumentieren und schließlich zum Handeln gegen das restaurative Deutschland aufzurufen. 4. Lyrische Form als Zensurumgehung Selbst die Analyse der Reisedokumentation in Strophenform ist ein Beweis der Vorgehensweise bei der Umgehung der Zensur. Ein populärer Dichter wie Heine muss die literarischen Mittel finden, mit denen er seine Leserschaft beeinflussen kann. Er muss seine politischen Gedanken in einem Genre verpacken, das die verschiedensten volkspoetischen Elemente mit den Aussagemöglichkeiten der modernen politischen Prosa vereint. Das Ergebnis sind die versifizierten Reisebilder. Mit ihnen wird ein bedeutender Inhalt auf eine volkstümlich- realistische Weise gestaltet und dem Leser zugänglich gemacht. Der Dichter ist Publizist einer Reisedokumentation und Lyriker eines Gedichtes gleichzeitig. Heine dichtet dem lyrischen „ Ich“ seine Gefühls- und Gedankenwelt an, er macht es zum poetisch-satirischen Zeitkritiker. Der lockeren Form mit den oft gewagten und witzigen Reimen und dem freien und spielerischen Umgang mit den Reiseschilderungen stehen die zahlreichen gesellschaftskritischen Korrespondenzen gegenüber. In keinem anderen Werk ist es Heine so gelungen, das Ideal einer spannungsgeladenen Synthese von Dichtertum und politischem Engagement zu realisieren. Sie finden Niederschlag in der volkstümlich gehaltenen bildhaften Verssprache, die von hymnischer Begeisterung bis zu sarkastischem Spott reicht und von dem ____________________ 87 Vgl. Kaufmann, Hans: Politisches Gedicht und klassische Dichtung. Aufbau, Berlin 1959, S. 153. Volk als Zielgruppe seines Versepos verstanden wird. In Caput III zum Beispiel macht er sich in Aachen lustig über die preußische Armee und er zieht die Lacher mit seiner Ironie auf seine Seite: „Sie stelzen immer so steif herum, so kerzengerade geschniegelt.“88 Angekommen in Köln (Caput IV) spottet Heine über den unvollendeten Dom, was für ihn ein Fortschritt darstellt: „Er wird nicht vollendet, der Kölner Dom, Obgleich die Narren in Schwaben.“89 Auch verschont er die drei Könige nicht, die im Dom begraben liegen: „Folgt meinem Rat und steckt sie hinein in jene drei Körbe von Eisen.“90 Ideologie und Satire stehen in dem gesamten Gedicht in einem ständigen Wechselspiel. Durch die geschickte Handhabung der Verse gelingen Heine unzählige Effekte, überraschende Reime, die die festgelegte Beziehung zwischen den Wörtern erweitert.91 In die bunt aneinandergereihte Folge realistischer Reiseeindrücke und -erlebnisse fügt er spezielle Darstellungsformen ein: dichterischsymbolische Traumbilder (Kaiser Barbarossa), politische Überlegungen (Caput II: Zollkontrolle; Caput III: preußische Armee), persönliche Bekenntnisse (Caput I: Gesellschaftskritik) und kritische Beobachtungen (Caput XXIV: Hammonias Idylle). Trotzdem erreicht Heine eine Einheit, in dem er das lyrische Ich den gesellschaftskritischen Inhalt erzählen lässt, der sich wie ein roter Faden durch das Epos zieht. 4.1 Metrikanalyse Es wird eine Strophenform mit halber Reimbindung (abcb) und jambischen Viertaktern angewendet. Das Gedicht besteht aus dem Vorwort und aus 27 „Kapiteln“ (Caput I – XXVII) in Strophenform. Diese Strophen sind als Volksliedstrophen dargestellt, die in je vier sich reimenden Versen aufgeteilt sind mit drei oder vier Hebungen. Die Volkslied-Strophen zeichnen sich durch formale Schlichtheit aus. Sie sind ironisch und mit Witz erzählt mit Anwendung von Sagengestalten (Barbarossa), Metaphern (Stagnation – Wintermärchen) und Symbolen (Kölner Dom – Bündnis Fürstenherrschaft und Kirche). Der erste und dritte Vers jeder Strophe weist je vier Hebungen auf, der zweite und vierte je drei. Das Metrum wird überwiegend von Jamben bestimmt. Die Zahl der unbetonten Senkungen variiert jedoch, sodass der Rhythmus des Epos prosa-ähnlicher wirkt. Auch das Reimschema ist einfach – Vers 2 und 4 sind durch einen Kreuzreim verbunden, Vers 1 und 3 ______________________ 88 DEW, S. 13. DEW, S. 17. 90 DEW, S. 18. 91 Vgl. Hauschild, Jan-Christoph und Werner, Michael: Heinrich Heine. Ullstein, Berlin 1999, S. 442. 89 sind reimlos. Nach demselben Schema verteilen sich die Kadenzen: die Zeilen 1 und 3 klingen immer männlich (betont) aus, die Zeilen 2 und 4 immer weiblich (unbetont). 4.2 Beschreibung des Interplays Das lyrische Ich spricht von der Notwendigkeit gesellschaftspolitischer Veränderungen, die durch eine vom Volk getragene Revolution realisiert werden können. Dabei wählt der Autor abwechselnd die spöttische, ironische, plaudernde und die anklagende Ausdrucksform. Die Rhythmik der 500 Strophen ist einprägsam. Da es kurze und in ihrem Rhythmus gleichbleibende Zeilen sind, ist es ausreichend, wenn nur jede zweite Zeile (die zweite und vierte) einen Reim beinhaltet. Diese Technik lässt einen größeren Raum für die Sprache, so dass Heine der Reisedokumentation, die politische und umgangssprachliche Elemente enthält, gerecht werden kann. Er baut beißende Wortkombinationen („Der nackten hölzernen Wirklichkeit“92) ein, verwendet Füllwörter („wohl“, „da“, „so“93), in seinen Versen werden oft zusammengehörige Satzteile auf mehrere Zeilen verteilt: „Im nächtlichen Walde humpelt dahin die Chaise. Da kracht es plötzlich – “94. Die etwas gewagten Reime befinden sich „in scherzhaften oder leichteren Partien“.95 Heine legt der Schutzgöttin Hamburgs, Hammonia, eben solche in den Mund: „Turkoase“ – „Nase“ oder „Bettes“ – „Porträtes“.96 Auch wendet der Autor „seltsame, fremdgrelle Reime“ sehr selten an, um sie dann wie „plötzliche Trompetenstöße“ hervortreten zu lassen.97 Damit wird die Gleichmäßigkeit der Rhythmik unterbrochen, es wird einer Eintönigkeit entgangen und die Gedankengänge des Lesers werden aktiviert. Beinhalten die Strophen eine direkte politische Botschaft, ist der sprachliche Ausdruck einfacher gewählt, so dass sich diese Verse auch leichter einprägen lassen. Und er bringt den Leser durch die zum Teil humoristischen Passagen zum Schmunzeln sowie zum Nachdenken. Es ist auch möglich, die versifizierten Reisebilder als ein Zyklus von Gedichten anzusehen. Mehrere Kapitel können als geschlossene Einheit in Form eines Gedichtes existieren. So zum Beispiel Caput I, Caput III und Caput IV, um nur einige zu nennen. Gemeinsam ist ihnen die einprägsame rhythmische Strophenform. __________________ 92 DEW, S. 47. Kaufmann, Hans: Politisches Gedicht und klassische Dichtung. Aufbau, Berlin 1959, S. 114. 94 Ebd., S.110. 95 Ebd., S. 113. 96 Ebd., S.113. 97 Vgl. Ebd., S.113. 93 Man findet in fast jeder Strophe Momente der Zensurumgehung. Der Dichter vermischt Gattungen der Romantik: Seine Reisebilder dienen als Hintergrund für die Lyrikform mit ihren kurzen Versen, die auch märchenhafte Elemente enthält, einprägsam unterstützt durch die volkstümliche Rhythmik. Mit seinem großen Deutschlandepos bringt Heine die Wünsche und Träume des deutschen Volkes zum Ausdruck. Dabei versteht er es, die Lyrik so zu gestalten, dass ihm viele Möglichkeiten gegeben sind, die behördliche Zensur erfolgreich zu umgehen. Durch die ungewöhnliche und vielschichtige Konstruktion des Interplays provoziert Heine nicht nur seine Leserschaft und regt sie zum kritischen Denken an; er gibt ihr auch eine Lektüre voller Ironie und Satire in die Hand, die zum Schmunzeln anregt. Gleichzeitig rüttelt er seine Anhänger auf und macht sie auf die sozialen Missstände in der deutschen Nation aufmerksam. 5. Schlussbemerkung Abschließend und zusammenfassend lässt sich feststellen, dass „durch die eigenwillige Formgebung, jene Synthese von subjektiver Reisedarstellung, publizistischer Prosa und volkstümlicher Lyrik es Heinrich Heine gelingt, eine künstlerische Gestaltung der deutschen Verhältnisse, die an Tiefe, Vielseitigkeit und Weitsicht die übrige zeitgenössische Literatur übertrifft“98 aufzuzeichnen, die gleichzeitig geeignet ist, die behördliche Zensur erfolgreich zu umgehen. Die Vielfalt der angeschnittenen aktuellen Probleme und ihre meisterhafte künstlerische Gestaltung lassen das Wintermärchen zu einer großartigen nationalen Bekenntnis- und Kampfdichtung werden, darüber hinaus zu einer klassischen Zeitsatire der Weltliteratur. Das Gedichtepos Deutschland. Ein Wintermärchen stellt den gesellschaftskritischen Höhepunkt in Heinrich Heines Schaffen dar. In ihm vereint er sein schriftstellerisches wie auch gesellschaftspolitisches Wissen. Es lässt sich festhalten, dass es Heinrich Heine in seinen versifizierten Reisebildern gelingt, durch die Anwendung der Strategien der Zensurumgehung die eigentliche Absicht des Versepos Deutschland. Ein Wintermärchen zu verschleiern. Eine aufmerksame Leserschaft ist zum Verständnis der von Heine benutzten rhetorischen Stilmittel, der Sagenfiguren und der lyrischen Form gefragt, denn ohne ihre korrekte Dekodierung ist das Verstehen der politischideologischen Botschaft des Lyrikers nicht möglich: „Die analytische Schärfe, zugleich aber ____________________ 98 Kaufmann, Hans: Politisches Gedicht und klassische Dichtung. Aufbau, Berlin 1959, S. 118. auch die sprachlich-stilistische Meisterschaft zeigen ihn als einen politischen Schriftsteller“,99 der es versteht, die staatliche Zensur zu umgehen. Heine ist nicht den Romantikern zuzuordnen, trotzdem wendet er zum Zweck der Zensurumgehung Fragmente dieser Literaturepoche an, indem er Märchenhaftes paart mit Symbolen (Kölner Dom, Rhein), mit Metaphern (Deutschland. Ein Wintermärchen.) und mit der Mythologie (Kaiser Barbarossa, Hammonia). Auch sein Traum in Verbindung mit dem Barbarossa-Gespräch ist der Romantik entliehen. Es werden die Traumbilder benutzt, um im unbewussten Zustand die Wahrheit sagen zu können. Der Autor bedient sich bei seinem Wintermärchen der Reisedokumentation zur subjektiven Spiegelung der politischen Landschaft und eines Gedichtaufbaus, der die Zensoren ob ihrer Unwissenheit und ihres mangelnden Interpretieren Könnens im Ungewissen lassen. Durch all diese Elemente gepaart mit Ironie und Witz erreicht Heine sein Ziel: durch die erfolgreiche Umgehung der Zensur ist es möglich, das Versepos Deutschland. Ein Wintermärchen unter der Bevölkerung populär zu machen und auf die sozialen Missstände in Deutschland hinzuweisen. Mittels dieser vielen, in diesem Aufsatz aufgezeigten Strategien der Zensurumgehung, wird der Bevölkerung ein Versepos zugänglich gemacht, das die Situation und die Probleme transparent gestaltet und ein Schritt in Richtung Emanzipation des Volkes ist. Für die Erstpublizierung nimmt Heinrich Heine schließlich auch die Mittel der äußeren Strategien der Zensurumgehung wahr, indem er sein großes Deutschlandgedicht einem Werk beifügt, um mehr als 20 Bogen zu erreichen. Er benutzt den Raubdruck und, vermittelt durch Karl Marx, lässt es in dieser Form im Pariser Vorwärts veröffentlichen. Allerdings wird in Preußen und in anderen Teilen Deutschlands noch im Erscheinungsjahr 1844 das Versepos verboten und beschlagnahmt und Heine sieht sich gezwungen, sein Wintermärchen erneut umzuschreiben. ____________________ 99 Beutin, Wolfgang: Deutsche Literaturgeschichte. J.B. Metzler, Stuttgart / Weimar 2008, S. 257. 6. Bibliografie Primärliteratur: Heinrich Heine: Deutschland Ein Wintermärchen. Reclam, Stuttgart 1979. Sekundärliteratur: Beutin, Wolfgang: Deutsche Literaturgeschichte. J.B. Metzler, Stuttgart / Weimar 2008. Brockmeier, Peter und Kaiser, Gerhard R.: Zensur und Selbstzensur in der Literatur. Könighausen und Neumann, Würzburg 1996. Hauschild, Jan-Christoph und Werner, Michael: Heinrich Heine. Ullstein, Berlin 1999. Jens, Walter: Kindlers neues Literatur Lexikon, Band 7. Kindler Verlag, München 1990. Kaufmann, Hans: Politisches Gedicht und klassische Dichtung. Aufbau, Berlin 1959. Rosenberg, Rainer: Literaturverhältnisse im deutschen Vormärz. Akademie-Verlag, Berlin 1976. Sautermeister, Gert und Schmid, Ulrich: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Carl Hanser Verlag, München, Wien 1998. Sørensen, Bengt Algot: Geschichte der deutschen Literatur 1. Verlag C.H. Beck, München 1997. Sørensen, Bengt Algot: Geschichte der deutschen Literatur 2. Verlag C.H. Beck, München 1997. Ulfig, Alexander: Lexikon der philosophischen Begriffe. Fourier Verlag, Wiebaden 1997. Walwei-Wiegelmann, Hedwig: Gesellschaftskritik im Werk Heinrich Heines. Ein HeineLesebuch. Ferdinand Schöningh, Paderborn 1974.