festschrift christiAN NOWOtNY

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festschrift christiAN NOWOtNY
festschrift CHRISTIAN NOWOTNY
Festschrift
CHRISTIAN NOWOTNY
Zum 65. Geburtstag
Herausgeber
Prof. DDr. Walter Blocher
Prof. DDr. Martin Gelter, S.J.D. (Harvard)
Mag. Dr. Michael Pucher, LL.M. (Harvard)
Wien 2015
Manz’sche Verlags- und Universitätsbuchhandlung
Prof. DDr. Walter Blocher
Prof. DDr. Martin Gelter, S.J.D. (Harvard)
Mag. Dr. Michael Pucher, LL.M. (Harvard)
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der
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Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch
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ISBN 978-3-214-0-3497-9
© 2015 Manz’sche Verlags- und Universitätsbuchhandlung GmbH, Wien
Telefon: (01) 531 61-0
E-Mail: verlag@manz.at
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Bildnachweis: Stephan Huger
Satzherstellung: Anita Frühwirth
Druck: Ferdinand Berger & Söhne GmbH, 3580 Horn
Vorwort der Herausgeber
Es ist angesichts des immer noch jugendlich wirkenden Jubilars kaum zu
glauben: o. Univ.-Prof. Dr. Christian Nowotny feierte am 23. Juli 2015 bereits seinen 65. Geburtstag. Dies ist der Anlass, sein Leben und bisheriges Schaffen mit
der vorliegenden Festschrift zu würdigen.
Christian Nowotny wurde als Sohn eines Apothekerehepaars in Wien geboren. Nach Volksschule und Realgymnasium im fünften Wiener Gemeindebezirk
wandte er sich dem Studium der Rechtswissenschaften zu, das er im Jänner 1973
mit der Promotion abschloss. Noch während des Gerichtsjahrs nahm er eine Tätigkeit als Assistent auf, zunächst am Institut für Handelsrecht der Universität
Wien. Im Herbst 1973 folgte er Peter Doralt, der inzwischen den Ruf auf die dort
neu errichtete Lehrkanzel für Unternehmensrecht angenommen hatte, an die damalige Hochschule für Welthandel. Die Assistententätigkeit mündete im Juli
1985 in die Habilitation für Handels- und Wertpapierrecht mit einer Arbeit zu
grundsätzlichen Problemen der Neuordnung des Rechts der Rechnungslegung,
die damals im Zuge der Planungen für das spätere Rechnungslegungsgesetz im
Raum standen. Von 1984 bis 1986 an der nunmehrigen WU karenziert, ab­solvierte
Christian Nowotny eine Tätigkeit als Konzipient bei Paul Doralt in der heutigen
Kanzlei Doralt Seist Csoklich. Trotz großen Interesses an der Praxis überwog jenes an der Wissenschaft. 1986 kehrte Christian Nowotny ans Institut zurück. Zunächst war er Assistenzprofessor, ab 1989 fungierte er als außerordentlicher Professor, und 1993 trat er schließlich die Nachfolge von Karl Hannak als Ordinarius
an.
Die Verdienste des Jubilars zeigen sich auf mehreren Ebenen, allen voran
aber steht die Wissenschaft. Mehr als 270 Werke umfasst Christian Nowotnys Publikationsverzeichnis, die meisten davon sind Aufsätze. Seit 1986 Mitherausgeber der RdW, war es dem Jubilar stets ein Anliegen, sein wissenschaftlich geprägtes tiefes Verständnis des Unternehmens- und des privaten Wirtschaftsrechts in den Dienst der Rechtsanwendung zu stellen, was zu einer großen Zahl
von Beiträgen zu aktuellen Fragen mit hoher Praxisrelevanz führte. An größeren
Werken sind neben der Habilitationsschrift – von der ein Teil unter dem Titel
„Funktion der Rechnungslegung im Handels- und Gesellschaftsrecht“ in Buchform veröffentlicht wurde – mehrere Kommentierungen zu nennen, insbesondere zu zentralen Teilen der Rechnungslegungsvorschriften im von Manfred Straube
herausgegeben Wiener Kommentar zum UGB, weiters zum Vorstand im gemeinsam mit Peter Doralt und Susanne Kalss herausgegebenen Kommentar zum Aktiengesetz sowie zu mehreren wesentlichen Paragraphen im von Heinz Mayer herausgegebenen Kommentar zum Universitätsgesetz. Zudem war ­Christian Nowotny Mitautor der 1990 erschienenen 5. Auflage des Grundrisses des
österreichischen Gesellschaftsrechts von Walther Kastner und Peter Doralt und für
maßgebliche Teile des 2008 gemeinsam mit Susanne Kalss und Martin Schauer pu-
VI
 Vorwort der Herausgeber
blizierten Nachfolgewerks („Österreichisches Gesellschaftsrecht“) alleinverantwortlich, etwa zur GmbH. Auch die Herausgabe der gesellschaftsrechtlichen
Bände des Wiener Vertragshandbuchs (gemeinsam mit Oskar Winkler) ist hier
hervorzuheben.
Die meisten Arbeiten Christian Nowotnys sind dem Gesellschaftsrecht zuzurechnen, zu dessen führenden österreichischen Vertretern er seit Jahrzehnten
zählt. Im Rechnungslegungsrecht gibt es gar nur ganz wenige Autoren, die eine
vergleichbare wissenschaftliche Tiefe erreicht haben. Über diese Kernbereiche
hinaus publizierte Christian Nowotny aber auch immer wieder zum Zivilrecht
und zum allgemeinen Unternehmensrecht, zum Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht sowie zum Bankrecht. Regelmäßig forschte er auch im Überschneidungsbereich mit der Betriebswirtschaftslehre und zwar nicht nur im Recht der
Rechnungslegung, sondern etwa auch auf dem Gebiet der Rechtsform- und Vertragsgestaltung. Besondere Erwähnung verdient hierbei das in den 1970er-Jahren
gemeinsam mit Peter Doralt und Oskar Grün verfasste Werk zur Projektorganisation.
Zweifellos zählt auch die nahezu einzigartige Verbindung von Wissenschaft, Praxis und Beratung zu den hervorstechenden Merkmalen des Wirkens
von Christian Nowotny. Seit Jahrzehnten ist er gefragter Gutachter im Gesellschafts-, Unternehmens- und Bankrecht, und nicht wenige Transaktionen tragen
seine oft ausgesprochen kreative Handschrift, die somit auch die jüngere österreichische Wirtschaftsgeschichte mitprägte. Hinzu kommen verschiedene Aufsichtsratsmandate, einschließlich solcher in erfolgreichen börsennotierten Unternehmen. Seit den 1980er-Jahren wirkte Christian Nowotny – zunächst oft gemeinsam mit Walther Kastner und Peter Doralt – wiederholt als Berater an legistischen
Vorhaben mit, beispielsweise beim RLG oder beim EUGesRÄG. In der Folge
entwickelte er auch eine Nahebeziehung zum Berufsstand der Wirtschaftstreuhänder, etwa als Mitglied des (nunmehrigen) Fachsenats für Unternehmensrecht
und Revision des Instituts für Betriebswirtschaft, Steuerrecht und Organisation
der Kammer der Wirtschaftstreuhänder. Bereits 1986 schlug er in einem Aufsatz
die Gründung eines privaten Rechnungslegungsbeirats vor. Nunmehr existiert
eine Einrichtung dieser Art in Form des Austrian Financial Reporting and Auditing Committee (AFRAC), dessen Präsidium er seit dessen Gründung angehört.
Überdies fungiert er als Mitglied des Arbeitskreises „Corporate Governance“.
Hier zeigt sich, wie sehr der Jubilar, der in Studium und Beruf Wien und Österreich die Treue hielt, stets gegenüber neuen internationalen Entwicklungen offen
war, an deren Transformation in die österreichische Rechtslandschaft er maßgeblich mitwirkte.
Mit nur kurzen Unterbrechungen ist Christian Nowotny seit über 40 Jahren
an der WU tätig, deren Wachstum und Entwicklung er mitverfolgt und mitgeprägt hat. Zum einen ist hier das nunmehrige Institut für Zivil- und Unternehmensrecht als sein engerer Wirkungsbereich zu nennen, dessen Aufstieg zu einer
der führenden österreichischen Forschungsstätten auf diesem Gebiet er ebenso
wesentlich mitgestaltete, wie er zu dessen Wertschätzung durch die Wirtschafts­
praxis beitrug. Das bemerkenswerte Wachstum des juristischen Fachbereichs
von einer einzigen Professur bis hin zu den beiden heutigen Departments und
zur Einrichtung des eigenständigen Studiengangs „Wirtschaftsrecht“ fällt über-
Vorwort der Herausgeber
VII
wiegend in seinen Wirkungszeitraum. Stets war Christian Nowotny ein umsichtiger und pragmatischer Berater der jeweiligen Entscheidungsträger. An der
­Gestaltung des Universitätsgesetzes 2002, das die Universitäten der Christian
­Nowotny vertrauten Struktur unabhängiger privatrechtlicher Rechtsformen
näher­brachte, wirkte er maßgeblich mit, ebenso wie – in seiner kurzen Funktions­
periode als Vizerektor der WU – an dessen Implementierung. Zumindest für die
WU sind die auf diese Weise erlangte Vollrechtsfähigkeit und der damit verbundene Autonomiezuwachs zugleich als Erfolg und als Erfolgsfaktoren für die weitere Entwicklung zu betrachten.
Als Hochschullehrer zeichnet Christian Nowotny ein ganz besonderer Stil
aus: Er ist ein ausgesprochen unterhaltsamer (wenn auch nicht um jeden Preis
„politisch korrekter“) Vortragender, der den schwierigen Rechtsstoff nicht zuletzt mit unzähligen einprägsamen Anekdoten aus der Praxis anschaulich vermittelt. Dabei bestehen die Lehrveranstaltungen keineswegs bloß aus der Erzählung von „war stories“, im Gegenteil, die interessanten Punkte dienen stets der
Illustration der Anwendung des abstrakten Rechts in der Praxis. Generationen
von Studierenden sind seine Lehrveranstaltungen zur „Vertragsgestaltung“ und
im Wahlfach „Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht“, die stets auf einem umfangreichen und praxisnahen Fall beruhen, in bester Erinnerung, weil sie sich der
darin verborgenen Frage nicht – wie sonst oft in der Juristenausbildung – aus der
Sicht des Richters, sondern aus jener des juristischen Gestalters zu nähern hatten.
Viele der praktischen Hinweise zur Vertragsgestaltung, die der Jubilar in der
Lehrveranstaltung gab, wären auch so manchem erfahrenen Anwalt nützlich gewesen.
Unter diesem Gesichtspunkt ist es auch nicht verwunderlich, dass die meis­
ten von Christian Nowotnys akademischen Schülern Karrieren in der Anwaltschaft, im Bankbereich oder im Wirtschaftstreuhandwesen eingeschlagen haben.
Mitarbeitern mit vertieftem wissenschaftlichem Interesse legte er oft Auslands­
aufenthalte nahe, was – etwa im Kreis der Herausgeber der vorliegenden Festschrift – manchmal zu unerwarteten internationalen Karrieresprüngen führte.
Als Vorgesetzter und akademischer Lehrer ist Christian Nowotny unkonventionellen Ideen gegenüber aufgeschlossen und übt niemals Druck aus, Arbeiten in
einer bestimmten Form oder Art zu verfassen. Jüngere Assistenten werden zu
Publikationen angeregt, erfahrenere dürfen und müssen ihren eigenen Weg suchen.
Neben der Würdigung seiner wissenschaftlichen Verdienste soll jene der
menschlichen Qualitäten des Jubilars nicht zu kurz kommen: Sowohl die im wissenschaftlichen als auch die im administrativen Bereich tätigen Institutsangehörigen schätzen „den Chef“ wegen seiner stets ruhigen und freundlichen Wesensart. Er versteht es, selbst in angespannten Situationen und Zeiten dringender sowie drängender Arbeit Gelassenheit auszustrahlen und Druck nicht nach unten
weiterzugeben. Seine Selbständigkeit und die unkomplizierte, pragmatische
Handhabung der kleinen alltäglichen Dinge sind eine Wohltat für das Sekretariat
und das gesamte Mitarbeiterteam.
Wie nicht wenige andere sind die Herausgeber Christian Nowotny für viele
Jahre der Förderung und wohlwollenden Unterstützung zu Dank verbunden.
Gemeinsam mit den übrigen Verfasserinnen und Verfassern der Beiträge wünschen sie ihm zum 65. Geburtstag alles Gute.
Zahlreiche andere Personen haben im Hintergrund am Erscheinen der Festschrift mitgewirkt und wollen auf diese Weise ebenfalls ihre Dankbarkeit und
Verbundenheit zum Ausdruck bringen. Hier sind vor allem die derzeitigen
­Assistentinnen und Assistenten Bernhard Endl, Sophie Eisner, Verena Rainer und
Alexandra Reif zu nennen, die sich hilfsbereit an der Korrektur des Umbruchs
dieser Festschrift beteiligten.
Stellvertretend für die österreichische Rechtswissenschaft und Rechtspraxis
schließen sich den Glückwünschen der Verlag Manz, der die Festschrift bereitwillig in sein Programm aufnahm, und die B&C Privatstiftung an, die deren
­Erscheinen ebenso großzügig förderte wie das Symposion anlässlich ihrer Überreichung.
Gemeinsam hoffen wir, dass der Jubilar die Entwicklung des österreichischen Unternehmensrechts noch viele Jahre begleiten und vorantreiben wird.
Wien, im Juli 2015
Walter Blocher, Martin Gelter, Michael Pucher
Inhaltsverzeichnis
Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVII
Verbindung von Wissenschaft und Praxis
Christoph Badelt
Universitätsmanagement und Universitätsautonomie – zur praktischen
Umsetzung des UG 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Ewald Nowotny
Banken und Rechtsberatung – Odysseus ohne Penelope? . . . . . . . . . . . . . . . . 21
Zivilrecht und allgemeines Unternehmensrecht
Walter Blocher
Zu abstrakt? – Beobachtungen eines österreichisch-deutschen
Grenzgängers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
Raimund Bollenberger
Rücktritt vom Haustür-Wertpapierkauf – ein normatives Mikadospiel . . . . 55
Peter Csoklich
Über die (Grenzen der) Bedeutung des CMR-Frachtbriefes . . . . . . . . . . . . . . 71
Friedrich Harrer
Erhaltungspflichten bei Retention, Pfändung, Verwahrung? . . . . . . . . . . . . . 89
Gert Iro
Das Forfaitinggeschäft im Lichte der Uniform Rules for Forfaiting
(URF 800) der ICC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
Georg Kodek
Kollektiver Rechtsschutz in Europa – Diskussionsstand und
Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
X
Inhaltsverzeichnis
Michael Pucher
Auswirkungen einer Vertragsübernahme auf die weitere Anwendbarkeit
von AGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
Alexandra Reif
Der Erfüllungsort der Verbesserung im ABGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
Florian Schuhmacher
Aktuelle Fragen der Haftung des Unternehmenserwerbers
nach § 38 UGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
Rudolf Welser
Die Kausalität des Motivirrtums bei letztwilligen Verfügungen . . . . . . . . . . 205
Gesellschaftsrecht
Thomas Bachner
Individuelle Abwehransprüche und einstweilige Verfügungen
bei Missachtung der Holzmüller-Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
Kurt Berger
Folgen eines unrechtmäßigen Ausschlusses eines Vereinsmitglieds . . . . . . . 237
Markus Dellinger/Julia Schellner
Aufsichtsratsinterne Information und ihre Verweigerung am Beispiel
von Managerdienstverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
Michael Eberhartinger/Wolfgang Nolz
Der ÖCGK in der Fassung Jänner 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
Georg Eckert
Kapitalaufbringung und Agio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
Bernhard Endl/Philipp H. Zumbo
Der Aufsichtsratsvorsitzende – Erster unter Gleichen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
Martin Gelter
Funktionen des gesellschaftsrechtlichen Kapitalschutzes –
Rechtspolitische und rechtsvergleichende Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
Michael Holoubek
Business Judgment Rule und Privatwirtschaftsverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . 343
Inhaltsverzeichnis
XI
Susanne Kalss
Die Vergütung der Vorstandsmitglieder der Aktiengesellschaft . . . . . . . . . . 353
Hans-Georg Koppensteiner
Aktuelle Probleme des EKEG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
Heinz Krejci
Doppelvertretung durch Personalunionen in Konzernvorständen . . . . . . . . 383
Friedrich Rüffler
Gibt es im österreichischen Recht einen Nachteilsausgleich? . . . . . . . . . . . . . 405
Martin Spitzer
Gesellschaft bürgerlichen Rechts: Vermögensordnung und Insolvenz –
Ein vertikaler Rechtsvergleich vor und nach der GesBR-Reform 2015 . . . . . . 413
Elisabeth Stern
Neue Eigenkapitalinstrumente nach BWG und Aktienrecht . . . . . . . . . . . . . . 455
Manfred P. Straube
Gedanken zur geplanten „Societas Unius Personae“ (SUP) . . . . . . . . . . . . . . . 469
Ulrich Torggler/Hellwig Torggler
Zur Einlageleistung durch Aufrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489
Johannes Zollner
Related Party Transactions – Überlegungen zur geplanten Reform
der Aktionärsrechterichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499
Rechnungslegung
Romuald Bertl/Stéphanie Hörmannseder
Die Wahl des Jahresabschlussprüfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519
Thomas Haberer
Aktuelle Probleme der Dritthaftung des Abschlussprüfers – Kausalität
und Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539
Klaus Hirschler
Bewertung von Einlagen im Rahmen von Umgründungen und deren
Folgebewertung – Neue Erkenntnisse durch den VwGH und deren
Auswirkungen im Zusammenhang mit dem RÄG 2014 . . . . . . . . . . . . . . . . . 555
XII
 Inhaltsverzeichnis
Hanns F. Hügel
Zur Verrechnung des Spaltungsverlustes mit gebundenem und
ungebundenem Eigenkapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573
Martin Karollus
Unbedingte Rückstellungspflicht für den vom Abgabengläubiger
verlangten Betrag nach der Erlassung eines Abgabenbescheides? . . . . . . . . . 587
Gerhard Prachner
Die Einführung der International Standards on Auditing in Österreich
als österreichische Fachgutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603
Kapitalmarktrecht
Stefan Fida
Zur Ad-hoc-Publizität bei personellen Veränderungen im Vorstand . . . . . . 639
Michael Gruber
Retail cascade – eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 661
Eva Micheler
Die Durchsetzung von Rechten internationaler Anleger im
englischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673
Martin Winner
Ausnahmen von der Angebotspflicht in Europa – ein Überblick . . . . . . . . . . 685
Immaterialgüterrecht
Clemens Appl
Der Wissenschaftler und sein Werk – Eine immaterialgüter- und
universitätsrechtliche Untersuchung des wissenschaftlichen Arbeitens
von Universitätsangehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705
Alexander Schopper
Erfindung, Patent und Insolvenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751
Inhaltsverzeichnis
XIII
steuerrecht und sozialversicherungsrecht
Michael Lang
Der Vorschlag der OECD zur Neuregelung der Abkommensberechtigung
doppelt ansässiger Gesellschaften (Art 4 Abs 3 OECD-MA) . . . . . . . . . . . . . . 765
Franz Marhold
Zuzahlungen zu Sachleistungen in der sozialen Krankenversicherung . . . . 781
Publikationsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 799
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Univ.-Ass. Dr. Clemens Appl, LL.M., Institut für Zivil- und Unternehmensrecht,
Wirtschaftsuniversität Wien
Ass.-Prof. Mag. Dr. Thomas Bachner, LL.M., Ph.D. (Cambridge), Institut für Zivilund Unternehmensrecht, Wirtschaftsuniversität Wien
Rektor o. Univ.-Prof. Dr. Christoph Badelt, Wirtschaftsuniversität Wien
RA Dr. Kurt Berger, Berger Ettel Rechtsanwälte
WP/StB o. Univ.-Prof. Dr. Romuald Bertl, Institut für Revisions-, Treuhand- und
Rechnungswesen, Wirtschaftsuniversität Wien, BFP Steuerberatungs
GmbH
Univ.-Prof. DDr. Walter Blocher, Institut für Wirtschaftsrecht, Universität Kassel
RA Univ.-Prof. Dr. Raimund Bollenberger, Institut für Zivil- und Unternehmensrecht, Wirtschaftsuniversität Wien, Doralt Seist Csoklich RechtsanwaltsPartnerschaft
RA Hon.-Prof. Mag. Dr. Peter Csoklich, Doralt Seist Csoklich Rechtsanwalts-Partnerschaft
Univ.-Prof. Dr. Markus Dellinger, Österreichischer Raiffeisenverband
Dr. Michael Eberhartinger, LL.M. (Exeter), Wirtschaftskammer Österreich, Mitglied des Arbeitskreises für Corporate Governance
RA Univ.-Prof. Dr. Georg Eckert, Institut für Unternehmens- und Steuerrecht,
Universität Innsbruck, Wess Kispert Rechtsanwalts GmbH
Univ.-Ass. MMag. Bernhard Endl, Institut für Zivil- und Unternehmensrecht,
Wirtschaftsuniversität Wien
RA Mag. Dr. Stefan Fida, LL.M. (LSE), Grohs Hofer Rechtsanwälte GmbH
Prof. DDr. Martin Gelter, S.J.D. (Harvard), Associate Professor of Law, Fordham
University School of Law
Univ.-Prof. Dr. Michael Gruber, Fachbereich Arbeits- und Wirtschaftsrecht, Universität Salzburg
XVI
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
RA Priv.-Doz. Mag. Dr. Thomas Haberer, KWR Karasek Wietrzyk Rechtsanwälte
GmbH
RA o. Univ.-Prof. Dr. Friedrich Harrer, Fachbereich Arbeits- und Wirtschaftsrecht, Universität Salzburg, Harrer & Harrer Rechtsanwälte
Univ.-Prof. Mag. Dr. Klaus Hirschler, Institut für Finanzrecht, Universität Wien
Univ.-Prof. Dr. Michael Holoubek, Institut für Österreichisches und Europäisches
Öffentliches Recht, Wirtschaftsuniversität Wien, Mitglied des Verfassungsgerichtshofs
Univ.-Ass. Dipl.-Ing. Dr. Stéphanie Hörmanseder, MIM (CEMS), Institut für Revisions-, Treuhand- und Rechnungswesen, Wirtschaftsuniversität Wien
RA Univ.-Prof. Dr. Hanns F. Hügel, bpv Hügel Rechtsanwälte OG
Univ.-Prof. i.R. Dr. Gert Iro, Institut für Zivilrecht, Universität Wien
Univ.-Prof. Dr. Susanne Kalss, LL.M. (Florenz), Institut für Zivil- und Unternehmensrecht, Wirtschaftsuniversität Wien
o. Univ.-Prof. Dr. Martin Karollus, Institut für Unternehmensrecht, Universität
Linz
Hofrat d. OGH Univ.-Prof. Dr. Georg Kodek, LL.M. (Northwestern University),
Institut für Zivil- und Unternehmensrecht, Wirtschaftsuniversität Wien,
Richter am Obersten Gerichtshof
em. o. Univ.-Prof. Dr. Hans-Georg Koppensteiner, LL.M. (Berkeley), Fachbereich
Arbeits- und Wirtschaftsrecht, Universität Salzburg
em. o. Univ.-Prof. Dr. Heinz Krejci, Institut für Unternehmens- und Wirtschaftsrecht, Universität Wien
Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Lang, Institut für Österreichisches und Internationales Steuerrecht, Wirtschaftsuniversität Wien
RA o. Univ.-Prof. Dr. Franz Marhold, Institut für Österreichisches und Europäisches Arbeitsrecht und Sozialrecht, Wirtschaftsuniversität Wien, Herbst
Kinsky Rechtsanwälte GmbH
Ao. Univ.-Prof. Dr. Eva Micheler, M.Jur., M.Litt. (Oxford), London School of Economics and Political Science
SC i.R. Dr. Wolfgang Nolz, Vorsitzender der Ratsarbeitsgruppe „Verhaltenskodex
(Unternehmensbesteuerung)“, Vorsitzender des Arbeitskreises für Corporate Governance
Gouverneur o. Univ.-Prof. Dr. Ewald Nowotny, Oesterreichische Nationalbank
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
XVII
WP/StB Mag. Gerhard Prachner, PwC Österreich GmbH
Univ.-Ass. Mag. Dr. Michael Pucher, LL.M. (Harvard), Institut für Zivil- und Unternehmensrecht, Wirtschaftsuniversität Wien
Univ.-Ass. Mag. Alexandra Reif, Institut für Zivil- und Unternehmensrecht, Wirtschaftsuniversität Wien
Univ.-Prof. Dr. Friedrich Rüffler, LL.M. (European Law), Institut für Unternehmens- und Wirtschaftsrecht, Universität Wien
Mag. Julia Schellner, Österreichischer Raiffeisenverband
Univ.-Prof. Dr. Alexander Schopper, Institut für Unternehmens- und Steuerrecht,
Universität Innsbruck
RA Univ.-Prof. Dr. Florian Schuhmacher, LL.M. (Columbia), Institut für Zivil- und
Unternehmensrecht, Wirtschaftsuniversität Wien, DLA Piper Weiss-Tessbach Rechtsanwälte GmbH
Univ.-Prof. Dr. Martin Spitzer, Institut für Zivil- und Unternehmensrecht, Wirtschaftsuniversität Wien
RA Dr. Elisabeth Stern, Grohs Hofer Rechtsanwälte GmbH
Univ.-Prof. i.R. Dr. Manfred Straube, Institut für Unternehmens- und Wirtschaftsrecht, Universität Wien
RA Hon.-Prof. DDr. Hellwig Torggler, LL.M. (SMU), Torggler Rechtsanwälte
GmbH
Univ.-Prof. Dr. Ulrich Torggler, LL.M. (Cornell), Institut für Unternehmens- und
Wirtschaftsrecht, Universität Wien
em. o. Univ.-Prof. Dr. DDr. h.c. Rudolf Welser, Forschungsstelle für Europäische
Rechtsentwicklung und Privatrechtsreform, Universität Wien
Univ.-Prof. Mag. Dr. Martin Winner, Institut für Zivil- und Unternehmensrecht,
Wirtschaftsuniversität Wien, Vorsitzender der Übernahmekommission
Univ.-Prof. Dr. Johannes Zollner, Institut für Unternehmensrecht und Internationales Wirtschaftsrecht, Universität Graz
Dr. Philipp H. Zumbo, Eisenberger & Herzog Rechtsanwalts GmbH
Der Vorschlag der OECD zur Neuregelung
der Abkommensberechtigung doppelt ansässiger Gesellschaften (Art 4 Abs 3 OECD-MA)
Michael Lang, Wien*)
Übersicht:
I.Der Vorschlag zur Änderung des Art 4 Abs 3 OECD-MA
II.Die Rechtsentwicklung
III.
Die Verständigungsvereinbarung nach dem vorgeschlagenen Art 4 Abs 3 Satz 1
OECD-MA
IV.
Die Verständigungsvereinbarung nach der vorgeschlagenen Regelung des Art 4
Abs 3 Satz 2 OECD-MA
V.Weitere Konsequenzen der Nichtanwendbarkeit des Art 4 Abs 3 OECD-MA
VI.Verfassungsrechtliche Überlegungen
VII.Würdigung
I. Der Vorschlag zur Änderung des Art 4 Abs 3 OECD-MA
Steuerrecht knüpft oft an das Gesellschaftsrecht an. Dies ist gerade auf dem
Gebiet des Körperschaftsteuerrechts besonders häufig der Fall. In der Praxis
hängt die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte gesellschaftsrechtliche
Gestaltung daher mitunter von den steuerlichen Rechtsfolgen ab, die daran
knüpfen. Christian Nowotny, der sich als einer der führenden österreichischen Gesellschaftsrechtsexperten laufend auch mit praxisrelevanten Fragestellungen
auseinandersetzt, beschäftigt sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit daher häufig mit dem Zusammenspiel von Gesellschaftsrecht und Steuerrecht. Dementsprechend verfolgt er die aktuellen Entwicklungen auf dem Gebiet des Steuerrechts mit großer Aufmerksamkeit. Ich hoffe daher, dem Jubilar eine Freude zu
bereiten, wenn ich mich mit von den Arbeitsgruppen der OECD jüngst vor­
geschlagenen Änderungen des OECD-Musterabkommens auf dem Gebiet der
Doppelbesteuerung in Hinblick auf doppelt ansässige Gesellschaften beschäftige1). Die Begründung der OECD für die – einschränkende – Neuregelung der
Abkommensberechtigung doppelt ansässiger Gesellschaften liegt vor allem darin, dass die derzeit bestehenden Regelungen besonders gestaltungsanfällig ge
*) Das Manuskript habe ich am 27. 12. 2014 abgeschlossen. Frau Petra Koch, MSc danke
ich sehr herzlich für die kritische Diskussion dieses Manuskripts und für die Unterstützung bei der Erstellung des Anmerkungsapparats und der Fahnenkorrektur.
766
Michael Lang
wesen sein sollen2). Doppelt ansässige Gesellschaften wurden somit offenbar
nach Auffassung der OECD in erster Linie aus steuerrechtlichen Gründen errichtet.
Die von der OECD im Rahmen des BEPS-Projekts vorgeschlagene Regelung
des Art 4 Abs 3 OECD-MA soll nunmehr folgenden Wortlaut haben3): „Where by
reason of the provisions of paragraph 1 a person other than an individual is a
resident of both Contracting States, the competent authorities of the Contracting
States shall endeavour to determine by mutual agreement the Contracting State
of which such person shall be deemed to be a resident for the purposes of the
Convention, having regard to its place of effective management, the place where
it is incorporated or otherwise constituted and any other relevant factors. In the
absence of such agreement, such person shall not be entitled to any relief or exemption from tax provided by this Convention except to the extent and in such
manner as may be agreed upon by the competent authorities of the Contracting
States.”
II. Die Rechtsentwicklung
Schon bisher gab es eine eigene Regelung für doppelt ansässige Gesellschaften in Art 4 Abs 3 OECD-MA. Diese Regelung hatte seit 1963 folgenden Wortlaut:
„Where by reason of the provisions of paragraph 1 a person other than an individual is a resident of both Contracting States, then it shall be deemed to be a resident only of the State in which its place of effective management is situated.” Das
Verständnis dieser Regelung erhellt sich vor dem Hintergrund der Systematik
des OECD-Musterabkommens: Nach der – auch künftig – in Art 1 OECD-MA
enthaltenen Vorschrift ist abkommensberechtigt, wer in einem oder beiden Vertragsstaaten ansässig ist. Der dafür maßgebende Begriff der Ansässigkeit ist in
Art 4 Abs 1 OECD-MA definiert. Vereinfacht gesagt gilt nach dieser Regelung als
ansässig, wer in einem der Vertragsstaaten auf Grund des Wohnsitzes, des ständigen Aufenthalts, des Orts der Geschäftsleitung oder eines anderen ähnlichen
Merkmals steuerpflichtig ist. Seit 1977 findet sich in Art 4 Abs 1 OECD-MA auch
der Satz, dass dieser Ausdruck jedoch nicht eine Person umfasst, die in diesem
Staat nur mit Einkünften aus Quellen in diesem Staat oder in diesem Staat gelegenen Vermögen steuerpflichtig ist. Für Zwecke der „Ansässigkeit“ im Sinne des
Art 1 OECD-MA hat die in Art 4 Abs 1 enthaltene Definition der Ansässigkeit
ausgereicht.
Für Zwecke der Verteilungsnormen und des Methodenartikels muss aber
zwischen dem Ansässigkeitsstaat und dem anderen Vertragsstaat – in der Praxis
als Quellenstaat bezeichnet – unterschieden werden. Denn die Verteilungsnormen richten sich in erster Linie an den Quellenstaat, während der Methodenartikel dem Ansässigkeitsstaat die Verpflichtung auferlegt, Doppelbesteuerung
1)
OECD, Preventing the Granting of Treaty Benefits in Inappropriate Circumstances –
Action 6 (März 2014) 17 ff; OECD, Preventing the Granting of Treaty Benefits in Inappropriate Circumstances – Action 6: 2014 Deliverable (September 2014) 79 ff.
2)
OECD, Action 6: 2014 Deliverable, 79.
3)
OECD, Action 6: 2014 Deliverable, 80.
Abkommensberechtigung doppelt ansässiger Gesellschaften
767
zu vermeiden4). Wenn daher in diesen Vorschriften von der „ansässigen Person“
die Rede ist, können sie nur dann ihre Wirkungen entfalten, wenn im Falle doppelt ansässiger Personen entschieden werden kann, welcher Staat als Ansässigkeitsstaat gilt und welchem Staat dann folglich die Rolle des Quellenstaates zukommt. Diese Aufgabe übernahmen die „Tie-Breaker-Regelungen“ des Art 4
Abs 2 und 3 OECD-MA5): Für natürliche Personen findet sich in Art 4 Abs 2
OECD-MA ein Kriterienkatalog für die Bestimmung der Ansässigkeit doppelt
ansässiger Personen, der in der laufenden rechtspolitischen Diskussion auch
nicht in Frage gestellt wird. Demnach soll die Ansässigkeit – in dieser Reihenfolge – aufgrund der ständigen Wohnstätte, dem Mittelpunkt der Lebensinteressen,
dem gewöhnlichen Aufenthalt und der Staatsangehörigkeit entschieden werden.
Führen diese Kriterien zu keinem Ergebnis, sind die zuständigen Behörden gefordert, diese Frage „in gegenseitigem Einvernehmen“ – also im Rahmen eines
Verständigungsverfahrens nach Art 25 OECD-MA – zu klären. Für andere als
natürliche Personen findet sich die „Tie-Breaker-Regelung“ in Art 4 Abs 3 OECDMA. Einziges Kriterium zur Bestimmung der Ansässigkeit im Falle doppelter
Ansässigkeit ist – wie bereits erwähnt – der Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung („place of effective management“).
Allerdings hat die OECD bereits in ihrem Kommentar zum Musterabkommen in der seit 2008 veröffentlichten Fassung die nunmehr für das OECD-MA
selbst vorgeschlagene Regelung als Alternative zur derzeit noch immer in Art 4
Abs 3 OECD-MA enthaltenen Vorschrift zu Diskussion gestellt und dies wie
folgt begründet6): „Some countries, however, consider that cases of dual residence of persons who are not individuals are relatively rare and should be dealt
with on a case-by-case basis. Some countries also consider that such a case-bycase approach is the best way to deal with the difficulties in determining the place
of effective management of a legal person that may arise from the use of new
communication technologies. These countries are free to leave the question of
residence of these persons to be settled by the competent authorities, which can
be done by replacing the paragraph by the following provision: […]”.
Der nunmehrige Vorschlag der OECD geht dahin, die bisher im OECDKommentar enthaltene Vorschrift in Art 4 Abs 3 OECD-MA zu übernehmen und
statt dessen die bisherige Regelung den Mitgliedsstaaten im Kommentar nur
noch als mögliche Alternative dazu vorzuschlagen7): „The 2008 Update to the
OECD Model Tax Convention introduced an alternative version of Art 4 (3) (see
paragraphs 24 and 24.1 of the Commentary on Article 4) according to which the
competent authorities of the Contracting States shall, having regard to a number
of relevant factors, endeavour to determine by mutual agreement the State of
which the person is a resident for the purpose of the Convention. When that alternative was discussed, the view of many countries was that cases where a company is a dual-resident often involve tax avoidance arrangements. For that reason, it is proposed that the current rule found in Art 4 (3) be replaced by the alter4)
Lang, Introduction to the Law of Double Taxation Conventions2 (2013) 168 ff.
5)
Lang, Introduction2 208 ff.
6)
OECD, Kommentar zu Art 4 OECD-MA (2014) 24.
7)
OECD, Action 6: 2014 Deliverable, 79.
768
Michael Lang
native found in the Commentary, which allows a case-by-case solution of these
cases.”
Es passt zwar zur aktuellen rechtspolitischen Diskussion (BEPS – Base Ersion and Profit Shifting), dass die Sorge um „tax avoidance arrangements“ als alleiniger Grund genannt wird, warum die seit 2008 im Kommentar enthaltene
Regelung nun in das OECD-MA selbst übernommen werden soll. Allerdings findet sich auch kein Hinweis, welche – offenbar durch die abkommensrechtliche
Tie-Breaker-Regelung ermöglichten – „tax avoidance arrangements“ die OECD
im Auge hatte. Tatsächlich wurden in der Vergangenheit Gesellschaften, die in
einem Vertragsstaat faktisch geleitet wurden und die dort daher ihren „place of
effective management“ hatten, oft deshalb nach dem Recht eines anderen Staats
gegründet oder ihr Sitz dort festgelegt, um das DBA-Netz dieses anderen Staates
auch in Anspruch nehmen zu können. Das hat sich vor allem dann angeboten,
wenn der Geschäftsleitungsstaat mit einem oder mehreren Drittstaaten entweder
kein DBA abgeschlossen hatte oder aber DBA anwendbar waren, die im Drittstaat höhere Quellensteuersätze zuließen als die DBA des Sitzstaates mit diesen
Drittstaaten und daher – aus dem Blickwinkel des Steuerpflichtigen – ungünstiger waren. Daher war es eine naheliegende Gestaltungsmaßnahme, durch zusätzliche – und damit doppelte – Ansässigkeit in einem anderen Staat als dem
Geschäftsleitungsstaat die Folgen fehlender oder „schlechtere“ Abkommen des
Geschäftsleitungsstaates zu vermeiden. Allerdings vertreten mittlerweile die
meisten Finanzverwaltungen und auch die OECD selbst die Auffassung, dass in
solchen Konstellationen der Sitz- oder Errichtungsstaat der Gesellschaft aufgrund des DBA mit dem Geschäftsleitungsstaates in die Rolle eines Quellenstaates gedrängt wird und daher die DBA des Sitz- und des Errichtungsstaates
mit Drittstaaten nach der Ansässigkeitsdefinition des Art 4 Abs 1 OECD-MA –
und insbesondere dessen letzter Satz – nicht angewendet werden können und
daher die angestrebten Rechtsfolgen ohnehin nicht eintreten8). Zwar ist diese
Rechtsauffassung nach wie vor umstritten9). Der Umstand, dass die meisten Finanzverwaltungen auch ohne höchstgerichtliche Bestätigung dieser Auffassung
folgen, hat diese Gestaltung jedenfalls für Planungszwecke weitgehend unattraktiv gemacht. Welche „tax avoidance arrangements“ die Ängste der in den OECDGremien vertretenen Verwaltungsexperten noch 2014 geschürt haben, bleibt somit unklar.
8)
OECD, Kommentar zu Art 4 OECD-MA (2014) 8.2; BMF-Erlass 18. 10. 2010, BMF010221/2575-IV/4/2010, Salzburger Steuerdialog 2010 – Zweifelsfragen zum Internationalen Steuerrecht, Lösung Sachverhalt A; Smit, Treaty Residence of a Company
in a Triangular Situation: Decision of the Supreme Court of 28 February 2001, European Taxation 2002 (155 ff); Toifl, Dreieckssachverhalte bei doppelt ansässigen Gesellschaften, SWI 2002 (301).
9)
Dommes/Herdin, The Consequences of the Tie-Breaker Rule for Dual Resident Companies, SWI 2004 (450 ff); Schlager, Die Einschränkung der Ansässigkeit bei bloß inländischen Einkunftsquellen nach Art 4 Abs 1 Satz 2 OECD-MA, in Lang/Schuch/Staringer, Die Ansässigkeit im Recht der Doppelbesteuerungsabkommen (2008) 102 ff;
Dziurd'z, Kurzfristige Arbeitnehmerüberlassung im internationalen Steuerrecht
(2013) 224 ff.
Abkommensberechtigung doppelt ansässiger Gesellschaften
769
III. Die Verständigungsvereinbarung nach dem vorgeschlagenen Art 4
Abs 3 Satz 1 OECD-MA
Die von der OECD zur Aufnahme in das OECD-Musterabkommen vorgeschlagene Regelung unterscheidet zwischen zwei von den zuständigen Behörden
zu treffenden Maßnahmen: In erster Linie sollen die Behörden eine Verständigungsvereinbarung treffen, nach denen die Ansässigkeit von anderen Personen
als natürlichen Personen im Falle der Doppelansässigkeit bestimmt werden soll.
Nur dann, wenn keine derartige Verständigungsvereinbarung abgeschlossen
wird, fällt der Anspruch der Person auf die im Abkommen vorgesehenen Steuerermäßigungen und –befreiungen weg. An dessen Stelle tritt dann eine Entlastung
nach Maßgabe des Art 4 Abs 3 Satz 2 OECD-MA in der Höhe und der Art, wie
dies die zuständigen Behörden der Vertragsstaaten vereinbaren.
Bei der Verständigungsvereinbarung nach dem vorgeschlagenen Art 4
Abs 3 Satz 1 OECD-MA kann es sich sowohl um eine generelle als auch eine individuelle Vereinbarung handeln. Der Umstand, dass die Regelung einen „caseby-case approach“ ermöglichen soll, schließt nicht aus, dass sich die zuständigen
Behörden abstimmen und für bestimmte typisierte Fälle generell die Kriterien
festlegen, nach denen die Ansässigkeit zu bestimmen ist. Art 4 Abs 3 Satz 1
OECD-MA unterscheidet sich von der Vereinbarung nach Satz 2 OECD-MA dadurch, dass im erstgenannten Fall die Abkommenswirkungen zur Gänze zum
Tragen kommen: Sobald die Behörden – generell oder individuell – den Ansässigkeitsstaat bestimmt haben, entfaltet das gesamte Abkommen auch auf die
doppelt Ansässigen seine Wirkungen. Art 4 Abs 3 Satz 2 OECD-MA ermächtigt
die Behörden aber auch im Einzelfall Ermäßigungen oder Befreiungen zu gewähren, die aber nicht so weitreichend sein müssen, dass deshalb zwingend die entstandene oder drohende Doppelbesteuerung vermieden wird.
Somit trifft die beiden zuständigen Behörden zunächst die Verpflichtung,
sich um den Abschluss einer Verständigungsvereinbarung zu bemühen, die den
Ansässigkeitsstaat festlegt. An die Stelle der direkt im Abkommen enthaltenen
Tie-Breaker-Regelung tritt daher eine Regelung, die auf Verwaltungsebene zu
treffen ist. Vor dem Hintergrund einer auf dem Gewaltenteilungsgrundsatz basierenden Rechtsordnung wie der österreichischen soll in Zukunft eine Delega­tion
von Befugnissen durch den die DBA genehmigenden Gesetzgeber an die Exekutive erfolgen, die allerdings offenbar nur im Zusammenwirken mit der zuständigen
Verwaltungsbehörde des anderen Vertragsstaates ausgeübt werden kann.
In der vorgeschlagenen Regelung findet sich zur Festlegung des Ansässigkeitsstaates nur folgender Hinweis, wie die Behörden bei Festlegung des Ansässigkeitsstaates vorzugehen haben10): „having regard to its place of effective management, the place where it is incorporated or otherwise constituted and any
other relevant factors.“ Dies lässt weitreichende Spielräume. Denn es bleibt offen,
ob die Behörden die Wahl hätten, eines der genannten Kriterien heranzuziehen,
oder sie kombinieren könnten oder gar sollten und etwa – entsprechend der Regelung für natürliche Personen in Art 4 Abs 2 OECD-MA – eine Abstufung festzulegen hätten. Die Regelung selbst lässt auch offen, was die „other relevant fac10) OECD, Action 6: 2014 Deliverable, 80.
770
Michael Lang
tors“ sein könnten und was der abkommensrechtliche Maßstab ist, um ihre Relevanz festzulegen.
Weiterführende Hinweise finden sich schon bisher im OECD-Kommentar
zur derzeitigen Alternativregelung zu Art 4 Abs 3 OECD-MA, die bei Aufnahme
dieser Vorschrift in das OECD-MA nur sprachlich angepasst werden sollen:
„Competent authorities having to apply paragraph 3 would be expected to take
account of various factors, such as where the meetings of the person’s board of
directors or equivalent body are usually held, where the chief executive officer
and other senior executives usually carry on their activities, where the senior
day-to-day management of the person is carried on, where the person’s headquarters are located, which country’s laws govern the legal status of the person,
where its accounting records are kept, whether determining that the legal person
is a resident of one of the Contracting States but not of the other for the purpose
of the Convention would carry the risk of an improper use of the provisions of
the Convention etc. Countries that consider that the competent authorities should
not be given the discretion to solve such cases of dual residence without an indication of the factors to be used for that purpose may want to supplement the
provision to refer to these or other factors that they consider relevant. Also, since
the application of the provision would normally be requested by the person concerned through the mechanism provided for under paragraph 1 of Article 25, the
request should be made within three years from the first notification to that person that its taxation is not in accordance with the Convention since it is considered to be a resident of both Contracting States. Since the facts on which a decision will be based may change over time, the competent authorities that reach a
decision under that provision should clarify which period of time is covered by
that decision.”
Diese Ausführungen sprechen generell von Art 4 Abs 3 OECD-MA und lassen somit offen, ob sie sich auf die im ersten Satz angesprochene Verständigungsvereinbarung oder die im zweiten Satz angesprochene Vereinbarung beziehen.
Die im Text des OECD-Kommentars gewählten Formulierungen schließen nicht
aus, dass sie für beide Arten von Vereinbarungen maßgebend sein könnten. Die
im OECD-Kommentar genannten Kriterien könnten somit als die „other relevant
factors“ im Sinne der vorgeschlagenen Regelung des Art 4 Abs 3 OECD-MA angesehen werden. Als genereller Maßstab für die Beurteilung der Relevanz der
Faktoren könnte das im Kommentar angesprochene sonst befürchtete Risiko des
„improper use of the provisions of the Convention” angesehen werden.
All diese zusätzlichen Hinweise finden sich bloß im Kommentar des OECDSteuerausschusses, nicht aber in Art 4 Abs 3 OECD-MA selbst. Sie haben daher
klarerweise nicht die normative Bedeutung des Abkommenstextes, der in ein bilaterales DBA übernommen wird. Der vorgeschlagene OECD-Kommentar artikuliert daher von sich aus die Sorge, dass OECD-Staaten derartige Regelungen
nicht als hinreichend determiniert erachten könnten und stellt daher in solchen
Fällen die Aufnahme dieser Kriterien in das Abkommen selbst vor.
Kehrseite der Flexibilität, die diese Regelung den Behörden der Vertragsstaaten geben will, ist die Gefahr der Rechtszersplitterung: Wenn die Festlegung
der Kriterien für die Bestimmung der Ansässigkeit im Falle der Doppelansässigkeit in die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden beider Staaten gelegt wird
Abkommensberechtigung doppelt ansässiger Gesellschaften
771
und die OECD nicht einmal eine Musterregelung für eine derartige Verständigungsvereinbarung generellen Charakters vorlegt, liegt es auf der Hand, dass die
verschiedenen bilateralen Regelungen auseinanderdriften.
IV. Die Verständigungsvereinbarung nach der vorgeschlagenen
Regelung des Art 4 Abs 3 Satz 2 OECD-MA
Gelingt es den Verwaltungsbehörden nicht, eine Verständigungsvereinbarung über die Festlegung des Ansässigkeitsstaates abzuschließen, können „relief
or exemption from tax provided by this Convention“ nur dann gewährt werden,
wenn die zuständigen Behörden darüber Einvernehmen erzielen, in welchem
Ausmaß und in welcher Art, diese Befreiungen oder Ermäßigungen gewährt
werden. Dies bedeutet, dass dann, wenn die Behörden der beiden Staaten überhaupt keine für den Steuerpflichtigen maßgebende Verständigungsvereinbarung
nach Art 4 Abs 3 OECD-MA schließen – also weder nach Satz 1 noch nach Satz 2
–, die abkommensrechtlich vorgesehenen Steuerermäßigungen und –befreiungen gar nicht zum Tragen kommen.
Diese einschneidende Rechtsfolge überrascht jedenfalls an dieser Stelle des
Abkommens. Die Tie-Breaker-Regelungen haben nämlich bisher nicht über die
Abkommensberechtigung entschieden und im Falle des Art 4 Abs 2 OECD-MA
soll dies auch in der Zukunft nicht der Fall sein. Ihre Funktion bestand lediglich
darin, dass sie in den Fällen, in denen nach Art 1 OECD-MA Doppelansässigkeit
besteht, darüber entscheiden, welcher der beiden Staaten für Zwecke der Verteilungsnormen und des Methodenartikels als Ansässigkeitsstaat und welcher als
Quellenstaat gilt. Auf die schon nach Art 1 OECD-MA gegebene Abkommensberechtigung nahmen die Tie-Breaker-Klauseln bisher keinen Einfluss. Nicht nur
aus systematischen Gründen irritiert es, wenn zwar nach wie vor bei Ansässigkeit in einem der beiden Staaten die Abkommensberechtigung unangetastet
bleibt und dann, wenn sogar in beiden Staaten Abkommensberechtigung besteht,
bestimmte Abkommensvorteile nur mehr im Falle der Einigung zwischen den
beiden Behörden gewährt werden. Die Folgen für das Scheitern der Behörden, zu
einer Einigung zu gelangen, hat somit in diesen Fällen der Steuerpflichtige zu
tragen, der trotz Ansässigkeit in beiden Staaten nunmehr bestimmte Abkommensvorteile überhaupt nicht mehr in Anspruch nehmen kann.
Die für Art 4 Abs 3 OECD-MA vorgeschlagene Regelung hätte aber auch
nicht in Art 1 OECD-MA ihren idealen Platz, da es nicht um die Versagung der
Abkommensberechtigung schlechthin geht. Vielmehr bleibt das Abkommen für
die betroffenen Steuerpflichtigen wohl für Zwecke des Art 25 OECD-MA weiterhin anwendbar und kann bei doppelt Ansässigen auch die Rechtsgrundlage für
einen Informationsaustausch nach Art 26 OECD-MA abgeben. Es handelt sich
dabei nämlich nicht um „relief or exemption from tax provided by this Convention“. Anders ist dies möglicherweise im Anwendungsbereich des Art 24 OECDMA, wo meist Steuerermäßigungen und –befreiungen auf dem Spiel stehen.
Eine interessante Frage ist, ob Art 4 Abs 3 OECD-MA ausschließt, dass die
Behörde eines der beiden Vertragsstaaten die von dieser Vorschrift künftig erfassten Ermäßigungen und Befreiungen auch unilateral gewähren kann, in Österreich etwa durch auf § 48 BAO gestützte Maßnahmen. Die Voraussetzung,
772
Michael Lang
dass es zur Gewährung dieser Vorteile des Einvernehmens der Behörden beider
Staaten bedarf, könnte immerhin so gedeutet werden, dass damit den Behörden
die Möglichkeit genommen ist, dieselben Vorteile zu gewähren, ohne dass die
Behörde des anderen Staates ausdrücklich zugestimmt hat. Eine derartige Auffassung würde aber übersehen, dass von Art 4 Abs 3 OECD-MA nur jene Steuerermäßigungen und -befreiungen erfasst sein sollen, die aufgrund des Abkommens gewährt werden. Der Wortlaut schließt nicht aus, dass solche Ermäßigungen und Befreiungen aufgrund des nationalen Rechts auch einseitig von den
Behörden gewährt werden können. Dies entspricht auch der Systematik der
DBA: Die Abkommen verpflichten ja nicht zur Besteuerung11). Genauso wie es
den Vertragsstaaten frei steht, bestimmte Quellensteuern gar nicht oder zu einem
niedrigeren Satz als abkommensrechtlich zulässig zu erheben oder Einkünfte im
Ansässigkeitsstaat überhaupt zu befreien, können auch nationale Rechtsvorschriften Behörden des Staates ermächtigen, solche Ermäßigungen oder Vorteile
zu gewähren.
Auf abkommensrechtlicher Ebene ist wiederum überlegenswert, ob in den
Fällen, in denen von den Behörden weder eine Verständigungsvereinbarung
nach dem ersten noch nach dem zweiten Satz des vorgeschlagenen Art 4 Abs 3
OECD-MA erzielt werden kann, ein Schiedsverfahren nach Art 25 Abs 5 OECDMA eingeleitet werden kann12). Eine der Voraussetzungen nach Art 25 Abs 5
OECD-MA ist, dass bei einer nach Art 25 Abs 1 OECD-MA berechtigten Person
Maßnahmen eines oder beider Vertragsstaaten zu einer Besteuerung geführt haben, die dem Abkommen nicht entspricht. Zunächst stellt sich daher die Frage,
ob der fehlende Abschluss einer Verständigungsvereinbarung nach Art 4 Abs 3
Satz 1 OECD-MA alleine bereits Grund sein kann, nach Ablauf der entsprechenden Frist ein Schiedsverfahren einzuleiten. Dies ist aber bei erster Betrachtung zu verneinen, denn aus Art 4 Abs 3 Satz 2 OECD-MA geht ja implizit hervor, dass es nicht dem Abkommen widerspricht, wenn diese Frage nicht in einem
Verständigungsverfahren geklärt werden kann. Der betroffene Steuerpflichtige
hat nur insoweit Anspruch auf die im Abkommen vorgesehenen Ermäßigungen
und Befreiungen als dies die zuständigen Behörden vereinbaren.
In Hinblick auf die Gewährung der Ermäßigungen oder Befreiungen dürfen die Behörden aber nicht willkürlich vorgehen, sondern sie sind an die Wertungen des Abkommens gebunden. Sofern die Regelung das Ziel verfolgt, „improper use of the provisions of the Convention“ zu unterbinden, werden die zuständigen Behörden wohl nur jene Ermäßigungen oder Befreiungen versagen
können, die zur Erreichung dieses Ziels erforderlich sind. Kommt keine Einigung
zwischen den Vertragsstaaten zustande und ist der betroffene Steuerpflichtige
der Auffassung, dass ihm bestimmte Ermäßigungen oder Befreiungen gewährt
werden müssen, um den aus der Teleologie und der Systematik des DBA gewonnenen abkommensrechtlichen Vorgaben zu entsprechen, so ist er damit auch der
Auffassung, dass die Maßnahmen der beiden Vertragsstaaten zu einer Besteuerung geführt haben, die dem Abkommen nicht entspricht. Ein nach Art 4 Abs 3
11) Lang, Introduction2 42 f.
12) Pamperl, OECD-Deliverable zu BEPS-Action 6: Abkommensberechtigung doppelt ansässiger Gesellschaften in Gefahr? SWI 2014 (505).
Abkommensberechtigung doppelt ansässiger Gesellschaften
773
Satz 2 OECD-MA eingeleitetes Verständigungsverfahren ist somit auch als Verständigungsverfahren im Sinne des Art 25 Abs 1 OECD-MA anzusehen und berechtigt daher auch zur Einleitung eines Schiedsverfahrens nach Art 25 Abs 5
OECD-MA. In diesen Fällen muss der Schiedsspruch dann zwar nicht zwingend
zur Vermeidung der tatsächlichen oder drohenden Doppelbesteuerung führen.
Die von der Schiedskommission vertretene Auffassung über die dem Steuerpflichtigen abkommensrechtlich zustehenden Befreiungen und Ermäßigungen
tritt an die Stelle der nicht getroffenen Verständigungsvereinbarung und wird
damit nach Maßgabe des Art 25 Abs 5 OECD-MA verbindlich. Dieser Rechtsschutz versagt aber dann, wenn sich die Behörden der beiden Vertragsstaaten auf
bestimmte Ermäßigungen oder Befreiungen geeinigt haben oder sich auch nur
darüber verständigt haben, dass keine solche Ermäßigungen oder Befreiungen
angemessen sind. Der Steuerpflichtige kann nach Art 25 Abs 5 OECD-MA nur
dann Maßnahmen ergreifen, wenn keine Verständigungsvereinbarung zustande
gekommen ist. Ist eine Verständigungsvereinbarung zustande gekommen, berechtigt ihn diese auch dann nicht zur Einleitung eines Schiedsverfahrens, wenn
er den Inhalt der Vereinbarung als rechtswidrig erachtet. Nur Säumnis der beiden Behörden, nicht aber Rechtswidrigkeit kann aufgegriffen werden.
V. Weitere Konsequenzen der Nichtanwendbarkeit des Art 4 Abs 3
OECD-MA
Weitere Konsequenzen der Regelung des vorgeschlagenen Art 4 Abs 3
OECD-MA sind der OECD erst relativ spät bewusst geworden: Nachdem die
Regelung schon in einem Report in zahlreichen Details erläutert worden war,
kamen der OECD in einem am 21. 11. 2014 veröffentlichten weiteren „Public Discussion Draft“ noch folgende Bedenken13): „The new tie-breaker rule proposed in
paragraph 39 of the Report provides that in the absence of an agreement between
the competent authorities, a legal person that is a resident of each Contracting
State under Art 4 (1) ‘shall not be entitled to any relief or exemption from tax
provided by this Convention except to the extent and in such manner as may be
agreed upon by the competent authorities of the Contracting States’. It will be
necessary to clarify that the fact that the person would not be entitled to relief and
exemptions under the Convention will not prevent the person from being considered a resident of each Contracting State for the purposes of the provisions of
the Convention that do not provide reliefs and exemptions to that person (e.g.
Art 15 (2) b).“
Das Problem soll näher anhand des von der OECD erwähnten Beispiels des
Art 15 Abs 2 lit b OECD-MA erläutert werden: Einkünfte aus unselbständiger
Arbeit werden nach Art 15 OECD-MA im Ansässigkeitsstaat des Dienstnehmers
erfasst. Nur dann, wenn er seine Tätigkeit im anderen Staat ausübt, hat dieser das
Besteuerungsrecht. Auch in solchen Konstellationen fällt nach Art 15 Abs 2
OECD-MA das ausschließliche Besteuerungsrecht an den Ansässigkeitsstaat des
Einkünfteempfängers zurück, wenn sich der Empfänger der Einkünfte nicht län13) OECD, Follow Up Work on BEPS Action 6: Preventing Treaty Abuse (November
2014) 13.
774
Michael Lang
ger als 183 Tage im Quellenstaat aufhält und die Vergütungen von einem Arbeitgeber getragen werden, der dort nicht ansässig ist und auch keine Betriebsstätte
unterhält, von der die Vergütungen getragen werden. Ist nun der Arbeitgeber
keine natürliche Person und hat er beispielsweise bloß seinen formalen Sitz im
Ansässigkeitsstaat des Dienstnehmers, seinen Ort der Geschäftsleitung aber in
dessen Tätigkeitsstaat, dann kann – wenn weder eine generelle noch eine individuelle Verständigungsvereinbarung vorliegt – der Fall eintreten, dass der Arbeitgeber für Zwecke des Abkommens gar nicht als ansässig gilt. Dann würde –
wenn man Art 4 Abs 3 OECD-MA auch für Art 15 Abs 2 lit b OECD-MA als maßgebend ansieht – anders als bisher kein im Tätigkeitsstaat ansässiger Arbeitgeber
vorliegen und der Tätigkeitsstaat – wenn auch die anderen Voraussetzungen des
Art 15 Abs 2 OECD-MA gegeben sind – sein bisher gegebenes Besteuerungsrecht
verlieren14). Sobald eine individuelle Verständigungsvereinbarung in Hinblick
auf die doppelt ansässige Gesellschaft zustande gekommen ist, könnte der Tätigkeitsstaat wiederum ein Besteuerungsrecht für die Einkünfte des Dienstnehmers
begründen.
Art 15 Abs 2 lit b OECD-MA ist aber nicht die einzige Verteilungsnorm, auf
die ein neugefasster Art 4 Abs 3 OECD-MA Auswirkungen haben könnte. Ein
weiteres Beispiel ist Art 16 OECD-MA: Diese Vorschrift gibt dem Ansässigkeitsstaat der Gesellschaft das Besteuerungsrecht und ist nur anwendbar, wenn der
Empfänger der Aufsichts- oder Verwaltungsratsvergütungen im anderen Staat
ansässig ist15). Verliert die doppelt ansässige Gesellschaft mangels Verständigungsvereinbarung ihre Ansässigkeit überhaupt, können Einkünfte das Aufsichts- oder Verwaltungsrates auch nicht mehr von Art 16 OECD-MA erfasst
werden. Art 7 oder Art 15 oder gegebenenfalls Art 21 Abs 1 OECD-MA könnten
dann in Betracht kommen. Allerdings ist auch hier wiederum zu beachten, dass
eine nicht-natürliche Person nach dem Wortlaut des Art 4 Abs 3 OECD-MA nicht
generell ihre Ansässigkeit verliert, sondern nur die ihr selbst sonst zustehenden
Ermäßigungen und Befreiungen. Art 4 Abs 3 OECD-MA beraubt solche Rechtsträger daher nicht unbedingt ihrer Ansässigkeit für Zwecke der Anwendung des
Abkommens auf andere Steuerpflichtige – wie den Aufsichts- oder Verwaltungsrat. Wenn aber der bisherige Art 4 Abs 3 OECD-MA gestrichen wird, besteht –
bei Fehlen einer Verständigungsvereinbarung – keine Rechtsgrundlage, um im
Falle der Doppelansässigkeit die Ansässigkeit in diesen Fällen nach dem Ort der
Geschäftsleitung zu beurteilen. Daher könnte für diese Zwecke nur auf Art 4
Abs 1 OECD-MA zurückgegriffen werden. Sind die Aufsichts- und Verwaltungsräte im Geschäftsleitungsstaat ihrer Gesellschaft ansässig, hätte der Staat
des formalen Sitzes dennoch das Besteuerungsrecht für diese Einkünfte. Ob dies
zu akzeptablen Ergebnissen über die Verteilung der Besteuerungsrechte führt,
kann dahingestellt bleiben. Irritierend ist jedenfalls, dass im Falle einer – generel-
14)Vgl Lang, Die Ansässigkeit als Kriterium für die Besteuerung im Quellenstaat nach
den Verteilungsnormen im OECD-Musterabkommen, in Lang/Schuch/Staringer
(Hrsg) Die Ansässigkeit im Recht der Doppelbesteuerungsabkommen (2008) 235 ff;
Dziurd‘z, Kurzfristige Arbeitnehmerüberlassung im internationalen Steuerrecht
(2013) 272 ff.
15)Näher Lang in Lang/Schuch/Staringer 234 f.
Abkommensberechtigung doppelt ansässiger Gesellschaften
775
len oder individuellen – Einigung der beiden Verwaltungsbehörden über die Ansässigkeit der Gesellschaft dies dann unmittelbare Auswirkungen auf die Besteuerung des Aufsichts- oder Verwaltungsrates hätte: Verständigen sich die Behörden darauf, die doppelt ansässige Gesellschaft für Zwecke der Ansässigkeit dem
Geschäftsleitungsstaat zuzuordnen, fällt der Verwaltungs- oder Aufsichtsrat
wiederum aus dem Anwendungsbereich des Art 16 OECD-MA heraus.
Eine Reihe anderer Abkommensvorschriften knüpft auch an die Ansässigkeit anderer Personen als die des Einkünfteempfängers selbst an: Die Dividendendefinition des Art 10 Abs 3 OECD-MA zielt auf Gleichstellung mit aus Gesellschaftsanteilen stammenden Einkünften in dem Staat ab, in dem die ausschüttende Gesellschaft ansässig ist16). Art 10 Abs 4 OECD-MA nimmt jene Dividenden
vom Anwendungsbereich der Absätze 1 und 2 aus, die zu einer im Ansässigkeitsstaat der die Dividenden zahlenden Gesellschaft gelegenen Betriebsstätte
gehören. Art 10 Abs 1 OECD-MA macht die Anwendung dieser Vorschrift überhaupt davon abhängig, dass die Dividenden zahlende Gesellschaft im anderen
Staat ansässig ist, der dann nach Art 10 Abs 2 OECD-MA seine Quellensteuer zu
begrenzen hat. Eine andere Vorschrift ist Art 11 Abs 5 OECD-MA, nach der der
Quellenstaat von Zinsen – unter anderem – auch von der Ansässigkeit der die
Zinsen zahlenden Person abhängt17). Wenn in diesen Fällen auch viel dafür
spricht, für Zwecke der Ansässigkeit auf Art 4 Abs 1 OECD-MA abzustellen, ist
das alles andere als gesichert.
Will man bei all diesen Vorschriften jedenfalls vermeiden, dass sich die Ansässigkeit nach Art 4 Abs 3 OECD-MA bestimmt, müsste in das Abkommen eine
Regelung aufgenommen werden, wonach in den geschilderten Fällen für Zwecke der Ansässigkeit auf Art 4 Abs 1 OECD-MA abzustellen wäre. Dann wäre
zumindest sichergestellt, dass das Besteuerungsrecht des Einkünftebeziehers im
Falle des Abschlusses einer Verständigungsvereinbarung auf der Ebene des anderen Rechtsträgers nicht wieder wechselt. Die Besteuerungsrechte für Einkünfte
dieser Personen wären aber in manchen dieser Fälle anders verteilt als derzeit.
Wer hingegen sicherstellen möchte, dass in diesen Konstellationen der Doppelansässigkeit des die Einkunftsquelle darstellenden Rechtsträgers auf den Ort der
Geschäftsleitung abgestellt wird, müsste eine der bisherigen Fassung des Art 4
Abs 3 OECD-MA entsprechende Vorschrift jedenfalls für solche Fälle im Rechtsbestand belassen.
VI. Verfassungsrechtliche Überlegungen
Der Vorschlag zur Neufassung des Art 4 Abs 3 OECD-MA ist von der Intention getragen, Entscheidungsbefugnisse zu Fragen, die bisher in den Abkommen direkt geregelt sind, an die Exekutive zu übertragen. Das Spannungsverhältnis mit rechtsstaatlichen Postulaten ist damit offenkundig. Bei oberflächlicher
Betrachtung stellt sich die Frage, ob die in Art 4 Abs 3 Satz 1 OECD-MA gegebenen Hinweise auf den Ort der Geschäftsleitung, der Eintragung oder der Gründung und auf „other relevant factors“ die von den beiden Verwaltungsbehörden
16)Dazu Lang in Lang/Schuch/Staringer 232 ff.
17)Dazu Lang in Lang/Schuch/Staringer 230 ff.
776
Michael Lang
zu treffende Entscheidung hinreichend determinieren, und ob es reicht, weitere
mögliche Kriterien im OECD-Kommentar anzuführen, der im Rahmen der historischen Auslegung ergänzend berücksichtigt werden kann. Sieht man darin eine
Verwässerung rechtsstaatlicher Postulate, liegt es nahe, den im OECD-Kommentar selbst gemachten Vorschlag aufzugreifen, die im OECD-Kommentar genannten Kriterien in die Abkommen selbst zu übernehmen.
Die eigentlichen rechtsstaatlichen Probleme liegen aber woanders. Denn
Art 4 Abs 3 OECD-MA verlagert die Entscheidungsbefugnisse nämlich nicht
bloß an die Exekutive, sondern macht die Anwendung wichtiger Teile des Abkommens auf doppelt ansässige Personen von einer gemeinsamen Entscheidung
beider Verwaltungsbehörden abhängig. Hier hilft letztlich eine noch so präzise
Determinierung nichts: Wenn sich die Behörde des anderen Staates dem Abschluss einer Verständigungsvereinbarung sowohl nach Art 4 Abs 3 Satz 1 als
auch nach Satz 2 verweigert, bleibt es dabei, dass keine Vereinbarung zustande
gekommen ist, auch wenn die Voraussetzungen dafür gegeben wären. Das Vorliegen einer Verständigungsvereinbarung ist Voraussetzung dafür, dass die in
Art 4 Abs 3 OECD-MA angesprochenen Abkommensvorteile zu gewähren
sind.
Aus der Sicht des österreichischen Verfassungsrechts stellt sich die Frage,
ob es zulässig ist einen völkerrechtlichen Vertrag abzuschließen, der die Entscheidung über seine Anwendung auf bestimmte Personen – nämlich doppelt
ansässige nicht-natürliche Personen – in die undeterminierte und unüberprüfbare Entscheidung der Behörde des anderen Staates legt. Der Einwand, dass der
Steuerpflichtige noch schlechter gestellt wäre, wenn doppelt Ansässige zur Gänze aus dem Anwendungsbereich des Abkommens herausgenommen wären, verfängt nicht. Denn zum einen wäre fraglich, ob es einer gleichheitsrechtlichen Prüfung standhält, die Abkommensvorteile zwar sowohl den in Österreich als auch
den im anderen Staat ansässigen Personen zu gewähren, aber gerade in beiden
Staaten ansässigen Personen nicht. Zum anderen mag es aus rechtsstaatlicher
Sicht tatsächlich eher hingenommen werden können, die Abkommensvorteile
einem enger umschriebenen Personenkreis zu gewähren als sie auf einen größeren Kreis zu erweitern, diese Erweiterung aber in das Belieben der Behörden zu
stellen. Vor diesem Hintergrund kann der Umstand, dass der Steuerpflichtige
einen durchsetzbaren Rechtsanspruch auf Einleitung eines Schiedsverfahrens
nach Art 25 Abs 5 OECD-MA dafür ausschlaggebend sein, um sonst bestehende
rechtsstaatliche Bedenken zu entkräften. Denn der Rechtsschutz nach Art 25
Abs 5 OECD-MA könnte den sonst nach nationalem Recht nicht bestehenden
Rechtsschutz gegen die Vereitelung des Abschlusses einer Verständigungsvereinbarung durch Säumnis der Behörde des anderen Staates zumindest kompensieren.
In den Fällen, in denen eine Verständigungsvereinbarung nach Art 4 Abs 3
Satz 1 oder nach Satz 2 OECD-MA erzielt wurde, besteht aber kein Rechtsschutz
durch Schiedsverfahren. Denn Säumnis der beiden Behörden liegt nicht vor.
Dennoch kann der Steuerpflichtige der Auffassung sein, dass die beiden Behörden rechtswidrig gehandelt haben und sich in ihrer Verständigungsvereinbarung auf eine Rechtsauffassung geeinigt haben, die sich als rechtswidrig erweist:
Die Behörden könnten entweder ein rechtlich nicht gedecktes Kriterium für die
Abkommensberechtigung doppelt ansässiger Gesellschaften
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Festlegung des Ansässigkeitsstaates zugrunde gelegt haben oder aber nicht hinreichend Ermäßigungen oder Befreiungen gewährt haben, um den abkommensrechtlichen Vorgaben zu entsprechen. In anderen Fällen von Verständigungsvereinbarungen bleibt der Rechtsschutz gewährt: Denn die Gerichte betrachten entweder die Verständigungsvereinbarung über die Auslegung einer bestimmten
Abkommensvorschrift als für sie unverbindlich und prüfen die in Umsetzung
der Vereinbarung ergangene Behördenentscheidung und damit letztlich auch die
Verständigungsvereinbarung selbst nach18), oder aber die Verständigungsvereinbarung wird im Wege einer Verordnung umgesetzt, die wiederum der Kontrolle
durch den VfGH unterliegt19). Im vorliegenden Fall ist aber das Vorliegen der
Verständigungsvereinbarung auch Tatbestandsvoraussetzung, damit überhaupt
eine Ermäßigung oder Befreiung gewährt werden kann. Kommt das Gericht zum
Ergebnis, dass der Inhalt der Verständigungsvereinbarung rechtswidrig ist und
so nicht erlassen hätte werden dürfen, bleibt eine Rechtsschutzlücke, denn ohne
Existenz einer Verständigungsvereinbarung kann der Steuerpflichtige im Anwendungsbereich des Art 4 Abs 3 OECD-MA überhaupt keine Vorteile in Anspruch nehmen und die Behörde des anderen Staates kann nicht zum Abschluss
einer anderen Verständigungsvereinbarung gezwungen werden.
Aus verfassungsrechtlicher Sicht könnte das aufgezeigte Problem saniert
werden, wenn zur abkommensrechtlichen Vorschrift eine Regelung des österreichischen Rechts hinzutritt, auf deren Grundlage der von Art 4 Abs 3 OECD-MA
betroffene Steuerpflichtige einen Rechtsanspruch auf die Einräumung jener Vorteile hat, die ihm zustehen, wenn die Behörden der beiden Staaten eine den abkommensrechtlichen Vorgaben entsprechende Verständigungsvereinbarung abgeschlossen hätten. Eine Rechtsgrundlage dafür könnte § 48 BAO abgeben. Wenn
der doppelt Ansässige im Wege eines Antrags nach § 48 BAO beim BMF die Einräumung jener Vorteile begehren kann, die ihm nach Art 4 Abs 3 OECD-MA zu
gewähren gewesen wären, ist die Frage, ob eine Verständigungsvereinbarung
abgeschlossen hätte werden müssen und welchen Inhalt sie haben hätte müssen,
letztlich gerichtlich überprüfbar: Ein dem Antrag des Steuerpflichtigen nicht
oder nicht zur Gänze entsprechender auf Grundlage des § 48 BAO erlassener
Bescheid, könnte von diesem im Wege einer Beschwerde beim Bundesfinanzgericht bekämpft werden. Eine verfassungskonforme Interpretation des § 48 BAO
ist daher geeignet, die aufgezeigten verfassungsrechtlichen Bedenken zu zerstreuen. Der Wortlaut des § 48 BAO bedarf dabei aber einer großzügigen Auslegung, denn mitunter geht es um die durch die Behörden beider Staaten übereinstimmend erfolgte rechtswidrige Anwendung von Abkommensvorschriften, die
nicht zwingend zur Doppelbesteuerung führen müssen, sondern möglicherweise auch nur zur Besteuerung im „falschen“ Staat. Falls die Überprüfung solcher
Verständigungsvereinbarungen aufgrund einer den Wortlaut dieser Vorschrift
betonenden Interpretation nicht auf § 48 BAO gestützt werden könnte, träfe der
Vorwurf der Verfassungswidrigkeit wiederum Art 4 Abs 3 OECD-MA
selbst.
18) VwGH 20. 9. 2001, 2000/15/0116; 27. 8. 1991, 90/14/0237; vgl auch BFH 12. 10. 2011,
I R 15/11; 11. 11. 2009, I R 15/09; 2. 9. 2009, I R 90/08; 2. 9. 2009, I R 111/08.
19) VfGH 11. 3. 1993, V 98/92.
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Michael Lang
Im Wege eines Bescheides nach § 48 BAO kann allerdings nur auf österreichischer Seite die abkommenskonforme Anwendung der Art 4 Abs 3 OECD-MA
nachgebildeten Abkommensvorschriften durchgesetzt werden. Die Behörden
des anderen Vertragsstaats können auf diese Weise nicht gezwungen werden,
eine von ihnen nicht oder nicht so abgeschlossene Verständigungsvereinbarung
in ihrem Wirkungsbereich umzusetzen. Aus dem Blickwinkel des österreichischen Verfassungsrechts genügt es aber, die Rechtsanwendung in Österreich hinreichend zu determinieren und gerichtlich überprüfbar zu machen.
Ein weiteres Problem könnte dadurch auftreten, dass eine von der tatsächlich abgeschlossenen Verständigungsvereinbarung abweichende Beurteilung
eines österreichischen Gerichts im Wege der Anwendung des § 48 BAO doppelte
Nichtbesteuerung herbeiführen kann. Wenn also beispielsweise eine Gesellschaft
in Österreich ihren formalen Sitz hat und im anderen Vertragsstaat ihren Ort der
Geschäftsleitung und die Behörden verständigen sich darüber, den Sitzstaat als
Ansässigkeitsstaat anzusehen, und schließlich das Bundesfinanzgericht entscheidet, dass der Ort der Geschäftsleitung herangezogen hätte werden sollen, kann
dies darauf hinauslaufen, dass die österreichischen Behörden auf die Besteuerung von Einkünften verzichten müssen, die auch von den Behörden des anderen Staates – in Umsetzung der Verständigungsvereinbarung – nicht besteuert
werden. Die Kündigung oder Revision der Verständigungsvereinbarung könnte
die Behörde des anderen Staates wieder in die Lage versetzen, das Besteuerungsrecht für diese Einkünfte auszuüben, wobei allerdings erst zu prüfen sein wird,
ob das nach den dort geltenden verfassungsrechtlichen Maßstäben rückwirkend
möglich ist. Doppelte Nichtbesteuerung ist aber auch sonst eine mögliche Folge,
wenn ein Gericht sich nicht an eine Verständigungsvereinbarung gebunden fühlt
und bei Überprüfung des die Vereinbarung umsetzenden Bescheides zum Ergebnis kommt, dass eine andere Abkommensvorschrift anzuwenden gewesen wäre,
die Österreich nicht zur Besteuerung berechtigt. Ob die Behörden des anderen
Staates in solchen Fällen das österreichische Urteil zum Anlass nehmen, ihre eigene Entscheidung zu revidieren, ist keineswegs immer gesichert.
VII. Würdigung
Die von der OECD vorgeschlagene Regelung des Art 4 Abs 3 OECD-MA
wirft eine Fülle von schwierigen Fragen auf. Die Auslegung und Anwendung
dieser Vorschrift wird erheblich komplexer. Offen bleibt vor allem, welches Problem die OECD mit der Revision dieser Vorschrift lösen will. In den Erläuterungen der OECD ist vage von „cases where a company is a dual-resident often
involve tax avoidance arrangements“ die Rede20) und auf „a number of tax avoidance cases involving dual resident companies“ wird hingewiesen21). Welche
Gestaltungen die OECD hier vor Augen hat, wird nicht näher dargelegt. Doppelt
ansässige Gesellschaften entstehen aber nicht immer aus Steuergestaltungsgründen, sondern mitunter auch deshalb, weil sich die Leitung des operativen Geschäfts einer Gesellschaft entgegen den ursprünglichen Absichten im Laufe der
20) OECD, Action 6: 2014 Deliverable, 79.
21) OECD, Action 6: 2014 Deliverable, 81.
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Zeit stärker in das Ausland verlagert – wenn etwa eine Reihe der leitenden Manager dort ansässig werden und immer häufiger von dort ihre Entscheidungen
treffen. Solche Gesellschaften sind dann in Zukunft nicht mehr nur – wie schon
bisher – mit den meist im Rahmen einer Außenprüfung zum Tragen kommenden
unerwünschten Folgen einer zweifachen Welteinkommensbesteuerung konfrontiert, sondern in Zukunft auch damit, dass sie zunächst auch den Abkommensschutz verlieren und darauf angewiesen sind, dass die zuständigen Behörden der
Vertragsstaaten die plötzlich weggebrochenen steuerrechtlichen Rahmenbedingungen ihres grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Engagements durch Abschluss einer Verständigungsvereinbarung wiederherstellen.
All diese Gründe sollten die OECD selbst oder zumindest die DBA-schließenden Staaten zur Einsicht kommen lassen, auf eine Neuregelung des Art 4
Abs 3 OECD-MA zu verzichten. Fiskalisch ist durch diese Vorschrift wohl kaum
etwas zu gewinnen und der zu zahlende Preis ist zu hoch: Die Beeinträchtigung
des Rechtsschutzes, der Verlust an abkommensrechtlicher Systemgerechtigkeit
und die erhöhte Rechtsunsicherheit wiegen zu schwer.