EWR11Zips

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EWR11Zips
Werner Zips
»Mama Africa, lange nicht mehr gesehen…«
Repatriation aus der afrikanischen Diaspora
ins Mutterland
»Mama Africa, How are you doing mama
Mama Africa, Long time no see you mama
They took I away from you mama
Long before I was born …«
(Peter Tosh, Mama Africa, 1983)
Einleitung
Wenn Menschen aus der Karibik nach Europa wollen, scheitern sie seit einigen Jahren an
Fremdengesetzen, die das Reisen zum Privileg der »Reichen und Wichtigen« umgestalteten. Wenn sie nach Afrika wollen, sei es um das Land ihrer Vorfahren zu besuchen oder
dorthin zurückzukehren, von wo ihre Vorfahren herkamen und wo sie selbst willkommen
sind, werden sie als verschrobene Sozialromantiker und Realitätsverweigerer belächelt.
Aber sowohl der Gedanke an Afrika als auch der Wunsch nach Heimkehr/Repatriation
sind wohl so alt wie die Verschleppung der versklavten Afrikaner und Afrikanerinnen.
Beide haben ihren Ursprung in der zwangsweisen Verschiffung der menschlichen Fracht
in die Karibik und die Amerikas. Wer jemals in den Verliesen der Sklavenforts an der
westafrikanischen Küste war und die touristische Führung unterbrach, um für einen
Moment innezuhalten und in seinem Inneren auf die stumm gemachten Stimmen der hier
gelagerten Menschen zu lauschen, wird wahrscheinlich nachvollziehen können, was
Sklaverei bedeutete (Zips 2003a:27-37), selbst wenn sich das ganze Ausmaß der
individuellen Erniedrigung, physischen und psychischen Vergewaltigung sowie des
systematischen Ausblutens eines Kontinents sogar dem einfühlsamsten hermeneutischen Hineinfühlen verschließt. Wer zusätzlich in den Ghettos der karibischen (und
amerikanischen) Großstädte war, allen voran in den gewaltverseuchten Wohnblocksiedlungen von Tivoli Gardens oder den menschenunwürdigen Bretterverschlägen von
Denham Town, zwei Stadtteilen von Kingston, wird erahnen können, dass das Leben in
der großspurig »die Stadt des (englischen) Königs genannten« jamaikanischen Hauptstadt wenig bis keine Perspektiven bietet. Außer vielleicht mit Fire Bu(r)n-Texten auf der
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Bühne des internationalen Reggae (Show-)Business Erfolg zu haben. Auf den einfachsten Nenner gebracht: Die Karibik ihrer Bewohner steht im krassen Gegensatz zu den in
westlichen Breiten erträumten Bildern der Insel(-Welt) in der Sonne.
Es muss gar nicht der zuständige Steuerbeamte sein; die Reaktionen auf die Nennung
eines »Forschungsschwerpunktes Karibik« gleichen sich nur allzu häufig. Auch wenn
der Gesichtsausdruck, den allein die Erwähnung des Wortes Karibik regelmäßig hervorruft, immer Unterschiedliches bedeuten mag: von Missgunst über Neid bis hin zu
Sehnsucht und exotisierter Verklärung. In jedem Fall aber scheint allein der Gedanke an
die »Inselwelt« unmittelbar vorgeprägte Bilder wachzurufen: von Lebensfreude, Naturund anderen Schönheiten, Farbenvielfalt, Musik, unbelasteter Freiheit auf den Inselparadiesen unter tropischer Sonne – perfekte »Leichtigkeit des Seins«. Jamaika, Kuba,
Martinique, die »DomRep« wecken die genau gegenteiligen Assoziationen zu Afrika,
dem »schwarzen« oder zumindest »dunklen«, von Katastrophen, Seuchen und Kriegen
gebeutelten »Armenhaus der Menschheit«. Das eine Bild ist so falsch wie das andere.
Für viele Nachkommen der Versklavten bedeutet Afrika auch nach Jahrhunderten
der physischen Trennung so etwas wie eine geistige Heimat. Ein guter Teil dessen, was
viele im Westen als typisch karibische Lebensfreude und positive Energie wahrnehmen
und in ihren Vorstellungen als (fiktive) Gegenwelt zum eigenen alltäglichen, in starre
Abläufe gezwängten Lebensrhythmus umdeuten, lebt von der Erinnerung und Rückbesinnung an Afrika. Dieser »Traum« (von der verlorenen Welt) pulsiert in den Rhythmen
des Son und der Salsa aus Kuba, des jamaikanischen Reggae, haitianischen Rara, des
Zouk aus Martinique und Guadeloupe, des Soca und Calypso aus Trinidad oder der
kolumbianischen Champetas aus der Karibikregion um Cartagena (um nur einige Stile zu
nennen) genauso wie in den Religionen afrikanischen Ursprungs (Vodou, Santería oder
Ochá, Palomonte, Revival, Kélé, Myal, Candomblé u.v.a.), den Melodien der »gesprochenen Sprachen« und dem Fluss der geschriebenen Sprache (nicht nur von Nobelpreisträgern wie Derek Walcott), sowie in den (alternativen) Lebensentwürfen und Philosophien von Panafrikanisten, Afrikazentrikern, maroons und Rastafari. Sie alle suchen
nach Wegen, das belastende Erbe der Sklaverei abzubauen.
Panafrikanisten haben einen Zusammenschluss Afrikas und der afrikanischen Diaspora
vor Augen, Afrikazentriker eine unbedingte proafrikanische Werthaltung, maroons eine
Geschichte der Selbstbefreiung aus der Plantagensklaverei durch Rebellion, bewaffneten
Widerstand und die soziale Rekonstitution nach afrikanischen Erfahrungen und Rastafari
von all dem etwas und darüber hinaus die rechtlich-politische Forderung nach Repatriation.
Gemeinsam ist allen eine Kritik der Sklaverei und eine Forderung nach einer nachhaltigen Veränderung der anhaltenden Diskriminierung (Zips 2003c; Zips/Kämpfer 2001). In
jüngerer Zeit einen sie auch die Ansprüche auf Entschädigung für erlittenes Unrecht. Die
Schädiger und ihre Erben, die reichen Nationen der westlichen Hemisphäre, die von den
historischen Ausbeutungsverhältnissen bis in die Gegenwart und Zukunft profitieren
(werden), sind jedenfalls bekannt (Blake/Makeda 2005). Die Anklage dieses Unrechts
verbindet sich mit der Forderung nach Reparationszahlungen in großem Ausmaß sowie
nach völkerrechtlicher (freiwilliger) Repatriierung (siehe z.B. Abiola 1992). Ihr Argument lautet, dass erst die von den Nachfolgestaaten der Kolonialmächte bezahlte
Heimführung nach Afrika der ursprünglichen Versklavung ein Ende setzen würde (Zips
1993:237ff; vgl. Chevannes 1994:250ff).
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»Terra nullius« – die zynische Anwendung des Begriffes auf die längst besiedelte
Karibik bedeutete, dass die ansässigen Menschen ihrer Menschlichkeit de lege enteignet
wurden, um ihr Land besitzfrei und daher aneignungsfähig zu behaupten. So als würde
man ein bewohntes Haus »entdecken«, seine Bewohner rauswerfen oder umbringen und
den erworbenen Besitz für rechtmäßig erklären. Sklaverei – die extremste Form der
Ausbeutung von Menschen durch Menschen – wurde zur Grundlage des kapitalistischen
Wirtschaftssystems und damit der bis heute fortschreitenden ungleichen Verteilung von
materiellem Wohlstand der Menschheit. Daran vermögen symbolische Handlungen
wenig zu ändern. Auch durch die Erklärung der Sklavenburgen zum »Welterbe der
Menschheit« kann der traumatische interkulturelle Erfahrungsgehalt, der mit dem
totalitären Beziehungssystem Sklaverei verbunden ist, nicht neutralisiert werden. Das
Konzept der Repatriation, das physische, spirituelle und kulturelle Aspekte oder
Schwerpunktsetzungen beinhaltet, übt implizite Kritik an den herrschenden eurozentrischen Umgangsformen mit Menschen anderer Herkunft. Deren Marginalisierung
an die Peripherie der Verdammten dieser Erde (Fanon 1969 [1961]), die sogar ihrer
Identität(en) enteignet wurden, bekämpft der Repatriationsgedanke durch eine selbstbewusste »Zentralisierung« Afrikas im unverwirklichten universalen Bewusstsein der
globalen Grundlagen eines entfalteten Humanismus:
»›Our roots began in Africa‹ is not an exclusively black statement; it is a pan-human
one. Mankind originated in Africa and became global through diaspora.« (Fox 1999:375)
Jamaika oder besser seine aus Westafrika verschleppten Menschen und deren
Nachkommen besetzten seit der Frühzeit der transatlantischen Sklaverei eine Vorreiterrolle im Kampf zur Wiederbegründung ihrer Eigenständigkeit. Zumindest drei soziale
Bewegungen erlangten großen Einfluss in den historischen Bemühungen der afrikanischen Diaspora um Gleichberechtigung und Selbstbestimmung. Ob es die maroons
waren, die im Jahr 1738/39 nach beinahe 85-jährigem Krieg gegen die Supermacht
Großbritannien einen Friedensvertrag durchsetzten, der ihnen formelle Autonomie,
Selbstregierung und rechtliche Selbstkontrolle garantierte, die sie bis in die Gegenwart
als selbst regulierte Gemeinschaft bzw. »Staat im Staat« verteidigten (Zips 1999, 2002,
2003a, 2003b), oder Marcus Garvey, der als geborener Jamaikaner und Nachkomme von
maroons die erste schwarze Massenbewegung in den USA gründete und die Ideen des
Panafrikanismus, des Antikolonialismus und der rechtsstaatlichen Repatriation aller
Nachkommen von Afrikanern in der Diaspora nach Afrika so überzeugend vertrat, dass
sich zahlreiche afrikanische Unabhängigkeitsbewegungen auf seine Entwürfe stützten
(Clarke 1974; Cronon 1981; Zips/Kämpfer 2001: 134-152), oder schließlich die RastafariBewegung, die sich wiederum wesentlich auf Marcus Garvey berief, um eine afrikanische Identität gegen die erzwungene europäische Identifikation zu setzen: Das politische
Gewicht der jamaikanischen Einflüsse auf die Afrika-Diskurse in der Diaspora übersteigen das der geopolitischen Bedeutung der Karibikinsel um ein Vielfaches (Zips 1994).
Mit Hilfe des Massenmediums Reggae erreichten die Bestrebungen zur Neubegründung einer schwarzen afrikanischen Identität und die Forderungen nach Gerechtigkeit durch Reparationen und Repatriation ein internationales Publikum (Zips 2004).
Vor allem die universalen Gehalte der Musik und insbesondere der Texte von Bob
Marley, Bunny Wailer, Peter Tosh, Burning Spear, Luciano und vielen anderen in
Jamaika geborenen Künstlern und Künstlerinnen verschafften den gesungenen Geltungs-
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ansprüchen transnationale Anerkennung und symbolische Autorität. Viele Reggae Stars
bekennen sich zur Philosophie und Kultur von Rastafari, die sich seit den 1930er-Jahren
von Jamaika ausgehend um die ganze Welt verbreitet hat. Die Namensgebung bezieht
sich auf Ras Tafari – den »Prinz des Friedens«. Das war der Titel des äthiopischen Königs
Haile Selassie vor dessen Krönung im Jahr 1930. Manche auf der Karibikinsel Jamaika
sahen in dem damals einzigen, weltweit anerkannten schwarzen Herrscher den Erlösergott Jah und nannten sich fortan Rastafari oder kurz Rasta. Die Krönung Ras Tafari’s zum
äthiopischen König Haile Selassie im Jahr 1930 war und ist für Rastafari das Zeichen für
die Befreiung. Rastas sehen im König der Könige, dem Herrn der Herren und Siegreichen
Löwen Judah’s – so seine bereits in der biblischen Offenbarung vorkommenden Krönungstitel – den Erlöser aller Schwarzen, der für das Ende der neuzeitlichen »babylonischen«
Gefangennahme in der Karibik und den Amerikas sorgen sollte. Nur die (freiwillige)
Repatriierung von Schwarzen nach Afrika könne Krieg und Gewalt, den biblischen
Endkampf des Armagiddeon, verhindern.
Reggae wendet sich in der Mehrheit seines immensen künstlerischen Outputs an die
»historische Gegenwart« der Existenz verschleppter Afrikaner in Jamaika und der
Karibik, beruft sich damit auf eine grundlegende afrikanische Identität und knüpft
zugleich an universale menschliche Bedingungen an; vor allem an die grundlegende
Möglichkeit, sich qua Vernunft und Sprache auf einen für alle Beteiligten lebbaren,
»gerechten« Konsens verständigen zu können. Insofern beziehen sich die meisten
Reggae-Texte auf einen Diaspora-Kontext der Verschleppung, Zerschlagung, aber auch
der Kontinuität und des Widerstandes gegen kulturelle Enteignung sowie Entfremdung.
Zugleich sprechen sie (oftmals implizit) von einem kreativen Akt der Aneignung
zunächst fremder Äußerungsformen und folglich von der grundsätzlichen Möglichkeit
der Genugtuung und Versöhnung. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Anspruch auf Repatriation aller Nachkommen von versklavten Afrikanern auf freiwilliger
Basis stellt dafür eine geforderte Voraussetzung dar. Zweifellos wird das Konzept der
Repatriation überall dort diskutiert, wo es Sklaverei gab. Da die Forderung aber vor allem
von Jamaika ausging und dort insbesondere durch die Kombination der RastafariPhilosophie mit Reggae immer noch am wortgewaltigsten verbreitet wird, werde ich
mich im Folgenden schwerpunktmäßig auf den anglophonen Raum konzentrieren und
aus Platzgründen nicht näher auf die interessante Diskussion in der frankophonen Karibik
aber auch in den transatlantischen Diskursen in Europa eingehen.
Rastafari-Reasoning zur Repatriation
Exodus, Movement of Jah People – Bob Marleys Hitsong aus dem Jahr 1977, der unzählige
Menschen einen Refrain mitsingen ließ, den sie nicht verstanden, verlangte die Repatriation
nach Afrika. Er stammte vom ersten transnationalen Superstar der Zurückgewiesenen aus
dem Ghettobezirk von Trenchtown in Kingston und drehte den Spieß um: mit einer
fundamentalen (aber nicht fundamentalistischen) Zurückweisung der Errungenschaften
der »Moderne«. Diese Zurückweisung des Westens als Ort der Verschleppung (»Babylon«) bedeutete zugleich auch eine radikale Kritik von Unterdrückung, gerichtet vor allem
gegen das kapitalistische System, dessen supranationale Korporationen und deren An-
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spruch auf unbedingte Herrschaft. »400 Jahre und es herrscht immer noch dieselbe
Überzeugung«, beklagt ein jahrzehntealter Rasta-Song die Jahrhunderte der Gefangenschaft, was Peter Tosh zum gleichnamigen Text inspirierte, der von Bob Marley und den
Wailers 1973 neu aufgenommen wurde. Wenn Sklaverei endlich als Unrecht erkannt wird,
müssen auch Handlungen folgen – so die Forderung von Rasta: konkrete Schritte, die das
einmal erlittene Unrecht nicht ungeschehen machen können, aber zumindest dessen
Fortsetzung beenden. Der Verbleib im Land der Versklavung – Babylon in seinen modernen Varianten Karibik, Lateinamerika, USA und Europa – wird als Fortsetzung der
Sklaverei abgelehnt. Nur die (freiwillige) Repatriation nach Afrika könne im Lexikon der
Reggae Rebellen (»with a cause«), von Bob Marley über Peter Tosh bis hin zu Capleton,
Krieg, Gewalt und den biblischen Endkampf des Armagiddeon verhindern (Zips 2003d).
Wachsende Ghettos in den Städten, genährt von durch Armut bedingte Landflucht und
neokoloniale Wirtschaftsstrukturen vor dem historischen Hintergrund der Fremdbeherrschung sowie fortgesetzte Ungleichheiten innerhalb der (karibischen und allen anderen) Gesellschaften bilden den Kontext für die Zurückweisung der so genannten »Neuen
Welt« (der Neuauflage des »alten Babylon« nach der Rasta-Philosophie).
Rastas mussten sich für ihre Forderung nach Repatriation den Vorwurf der Realitätsflucht bzw. des Eskapismus gefallen lassen. Konservativ eingestellte Sozialwissenschafter,
wie Cashmore (1983:234ff), deklarierten die Rasta-Perspektive von Afrika als Konzept
eines (irrealen) Phantomlandes, das auf einer simplen Mythologie eines früheren goldenen Zeitalters aufgebaut wäre. Mit ähnlichen Argumenten hatten schon die Gegner von
Marcus Garvey und anderen schwarzen Nationalisten wie Edward Blyden oder Martin
Delany in den USA im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert versucht, die früheren Back
to Africa-Ansprüche zu desavouieren. Entgegen diesem Bemühen, rechtlich begründete
Forderungen in den Bereich der Irrationalität zu drängen, lässt sich der politische Kampf
um Repatriierung vor seinem geschichtlichen Kontext auch anders lesen. Danach
erscheint der Wunsch nach Heimkehr nicht als Flucht vor der sozialen Realität und deren
Anforderungen, sondern als fundamentale Kritik an den ökonomischen, politischen und
sozialen Verhältnissen, die historisch auf der systematischen Unterdrückung und Versklavung schwarzer Menschen basieren. (Sozial-)Psychologisierende Betrachtungsweisen lassen hinter ihren ahistorischen Spekulationen die politischen Geltungsansprüche
sozialer Akteure häufig verschwinden (Zips/Kämpfer 2001:41-99).
Auf der Praxisebene der realen historischen (und gegenwärtigen) Erfahrungen in der
»Neuen Welt«, die nur für eine Minderheit eine »schöne« heile Welt darstellt(e), hat die
Forderung nach Befreiung und Rückkehr nach Afrika nichts Erklärungs- oder
Begründungsbedürftiges an sich. In der Vergangenheit verfügten die Versklavten auf den
Plantagen jedoch kaum über Möglichkeiten, diese Forderung auch nur zu artikulieren, da
ihnen schon geringste Rechte wie ausreichend Nahrung oder Regenerationszeit verweigert wurden. Sie blieben, mit geringfügigen Unterschieden in den jeweiligen Kolonien
(Goveia 1970), bis zur Aufhebung der Sklaverei praktisch völlig rechtlos. Ihre kulturellen
Praktiken belegen aber auf vielfältige Weise die immense Bedeutung Afrikas als
Gegenwelt zum inhumanen Alltag auf den Plantagen der weißen Herren. Die Plantagensklaverei verstehen Rastafari als moderne Form der alttestamentarischen babylonischen
Gefangenschaft. Darauf gründet sich der innigste Wunsch, nach Zion/Afrika/Äthiopien
zurückzukehren (Nagashima 1984:149f).
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»Babylonische Gefangenschaft« bedeutet für Rastafari aber mehr als eine Metapher für
Sklaverei. Der Begriff nimmt eine zentrale Stellung in ihrer Sozialkritik ein. Ihr Hauptangriffspunkt ist die Trägheit jahrhundertealter Strukturen der Diskriminierung und Ausbeutung. Als die dafür Verantwortlichen benennen sie die kolonialen und postkolonialen
Machthaber. Eine Einigung mit den politischen Kräften über eine schrittweise Angleichung
der sozialen Schichten lehnen viele als aussichtslos ab. Dabei verweisen sie auf die
Hoffnungslosigkeit, Gleichstellung durch Besserstellung auf Raten zu erreichen sowie den
möglichen Ausverkauf ihrer Ansprüche. Repatriation nach Afrika ist eine wesentlich
weitreichendere Forderung, die auf die geschichtlichen Gründe für die Anwesenheit
schwarzer Menschen in der Diaspora zurückverweist. Damit wird die Kritik an den
systemischen Verhältnissen historisiert, Identifikations- und Solidarstrukturen werden
vertieft und veränderte Zukunftsperspektiven in Aussicht gestellt (Jah Bones 1985:70).
Back to Africa:
Marcus Garvey und die panafrikanische Bewegung in der Diaspora
Mit einem ähnlich begründeten Back to Africa-Programm mobilisierte Marcus Garvey
Anfang der 1920er-Jahre die erste internationale Massenbewegung schwarzer Menschen
in der Diaspora. Marcus Mosiah Garvey – die vielleicht bedeutendste Persönlichkeit im
Kampf für Bürgerrechte und Repatriation von Nachkommen der Versklavten in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – wurde am 17. August 1887 in St. Ann’s Bay an der
Nordküste Jamaikas als Sohn eines Bauarbeiters und einer Haushälterin geboren. Garvey
lernte schon in jungen Jahren die herrschenden Mechanismen der sozialen Distinktion
aufgrund rassistischer Kriterien kennen. Garvey gehörte der untersten sozialen Schicht
an, was er aber nicht einfach hinzunehmen beabsichtigte. Nach einigen Jahren internationalen Erfahrungsammelns in Europa und den USA gründete er noch als junger Mann
am 1. August 1914 in Kingston die Universal Negro Improvement Association (UNIA)
und die African Communities League (ACL). Beide Organisationen teilten den gemeinsamen Wahlspruch »One God! One Aim! One Destiny!«
Mit der Gründung einer New Yorker Niederlassung der UNIA (im Jahr 1917) legte
Garvey den Grundstein für die Entstehung der bis dahin ersten, ausschließlich von
schwarzen Menschen geführten Massenbewegung in den USA. Schon nach wenigen
Jahren besaß die UNIA Zweigstellen im gesamten Staatsgebiet der USA sowie in
mehreren anderen Staaten auf dem amerikanischen Kontinent. Mit Slogans wie »Africa
for the Africans, those at home and those abroad« suchte er den panafrikanischen
Zusammenschluss in einem Vereinigten Afrika, als Gegengewicht zu den Vereinigten
Staaten Amerikas (Garvey Jr. 1974:381). In den USA sah Garvey zweifellos zu Recht
keine realistische Chance auf einen friedlichen und freiwilligen Machtverzicht des
weißen Establishments während seiner Lebenszeit. Mit der Forderung nach Repatriation
verfolgte Garvey zwei zusammenhängende Ziele: die Selbstbestimmung und Befreiung
der Nachkommen versklavter Afrikaner sowie den Kampf für Unabhängigkeit und
Entkolonialisierung in Afrika (Cronon 1981:184).
Derartige radikale Botschaften brachten Marcus Garvey die Anerkennung breiter
Schichten der schwarzen Bevölkerung in der Diaspora. Dazu trugen insbesondere seine
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organisatorischen Leistungen bei. Nach nur zehn Jahren verfügte die UNIA über 1120
internationale Zweigstellen (Martin 1986:10ff). Durch die Wochenzeitung Negroe
World, die in Englisch, Französisch und Spanisch erschien, erreichten die Ideen der
UNIA internationale Verbreitung. Schließlich gründete Garvey auch wirtschaftliche
Unternehmungen, um die ökonomische Abhängigkeit der ausgebeuteten schwarzen
Bevölkerungen in Afrika und der Diaspora zu durchbrechen. Am symbolträchtigsten war
das Projekt der Schifffahrtslinie Black Star Line. Garvey hatte sie mit dem expliziten Ziel
aus der Taufe gehoben, alle repatriationswilligen Nachkommen verschleppter Afrikaner
nach Afrika zurückzuführen (Garvey 1974:139).
Viele sahen in Garvey einen Messias der Befreiung, ihren »Black Moses«. Sein
Einfluss blieb nicht auf die USA, Europa und die Karibik beschränkt. Führende afrikanische Nationalisten wie die Expräsidenten von Kenya (Jomo Kenyatta), Nigeria (Nramdi
Azikiwe) oder Ghana (Kwame Nkrumah) bezeugten später ihre Inspiration durch
Garveys politischen Kampf für Selbstbestimmung und panafrikanische Einheit (Lynch
1982:9). In seiner 1957, dem Jahr der Unabhängigkeit Ghanas, veröffentlichten Autobiographie, schreibt Kwame Nkrumah (1957:45), dass der Garvey-Reader Philosophy and
Opinions of Marcus Garvey ihn in politischer Hinsicht besonders stark beeinflusste.
Auch deshalb benannte Nkrumah die staatliche Schifffahrtslinie Ghanas zu Ehren
Marcus Garveys Black Star Line.
Trotz ihres ökonomischen Scheiterns bereits im dritten Jahr ihres Bestehens (1922)
war die ursprüngliche Black Star Line von Marcus Garvey, ganz nach den Intentionen
ihres Organisators, zu einem Symbol für Entschlossenheit und Selbstständigkeit geworden. Freilich bedeutete der schnelle Bankrott des Schifffahrtsunternehmens eine herbe
Enttäuschung der großen Hoffnungen auf eine rasche Realisierung der Massen-Repatriation
und einen finanziellen Rückschlag für die Investoren (Mulzac 1974:127). Andererseits
bewies gerade die konkrete Initiative, den Worten der Befreiung auch Taten folgen zu
lassen, dass eine neue Phase der politischen Auseinandersetzung begonnen hatte. In den
USA, der Karibik und insbesondere in Garveys Geburtsland Jamaika verstummte die
Forderung nach Repatriation auch nach Garveys Tod und dem Niedergang der UNIA nie
mehr. Garvey hatte seiner Gefolgschaft eine große Vision zurückgegeben, indem er sie
daran erinnert hatte, dass sie aus königlichen afrikanischen Familien kämen und eines
Tages wieder über ihre eigene Geschichte bestimmen würden können (Clarke 1974:8).
Mehrere Verhaftungen und Gefängnisstrafen in den USA, seine Abschiebung nach
Jamaika, die finanzielle Zerschlagung seiner Organisationen und der Druck der Kolonialbehörden in Jamaika zwangen ihn schließlich ins Exil nach London. Was Garvey ins
Rollen gebracht hatte, war aber nicht mehr zu bremsen. Rastafari in Jamaika erkannten
in Marcus Garvey ihren Propheten. Seiner relativen Erfolglosigkeit bei der Verwirklichung der eigenen Prophezeiungen maßen sie geringere Bedeutung bei, als dem energischen Versuch, die Rhetorik der Befreiung in die Praxis umzusetzen. Selbst das
fehlgeschlagene Schifffahrtsunternehmen lieferte so einen Beweis für die grundsätzliche
Realisierbarkeit der Repatriation. Das belegen zahlreiche Beispiele aus der ReggaeDiscographie, die unter der Black Star Line das Sinnbild für ihre uneingelöste Forderung
nach Rückkehr auf den ursprünglichen Heimatkontinent Afrika verstehen.
Freigelassene Sklaven in den USA waren unter den ersten, die bereits im 18.
Jahrhundert offen für ihre Repatriation eintraten. Ihre unsichere soziale Stellung in der
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sklavenhaltenden amerikanischen Gesellschaft und die fortgesetzte Diskriminierung
ließen sie für einen allgemeinen Exodus zumindest der freien Schwarzen eintreten. Zuerst
war es gegen Ende des 18. Jahrhunderts die britische Kolonie Sierra Leone, wohin die
ersten 2000 aus weißer Perspektive nutzlos gewordenen, weil freigelassenen Versklavten, repatriiert wurden. Unter ihnen waren die jamaikanischen maroons der ehemaligen
Trelawney Town, die nach dem zweiten maroon-Krieg im Jahr 1795/96, zwangsweise
zuerst nach Nova Scotia in Kanada und schließlich nach Sierra Leone deportiert wurden
(Zips 1993:123ff). Repatriation diente keineswegs ausschließlich schwarzen Interessen,
wie die Ansiedlung freigelassener Exsklaven durch die American Colonization Society
in Liberia demonstriert. In der im Jahr 1816 in Washington gegründeten Gesellschaft
dominierten Sklavenhalter (Lynch 1982:3). Der Konflikt zwischen Gegnern und Befürwortern einer rassistisch begründeten Repatriation spaltete die schwarze Bevölkerung in
zwei Lager. Während die einen auf der moralischen Unhaltbarkeit einer als Repatriation
getarnten Deportation beharrten und die negativen Konsequenzen für den Befreiungskampf in den USA unterstrichen, bezeichneten die anderen die Motive der American
Colonization Society als irrelevant, solange sie den panafrikanischen Zwecken dienten.
Die Auseinandersetzung lieferte einen Vorgeschmack auf die Kontroverse rund um den
Dialog, den Marcus Garvey mit Vertretern des Ku-Klux-Klan ein Jahrhundert danach
über die Repatriation führen sollte (Zips/Kämpfer 2001:140-151).
Liberia blieb insbesondere nach seiner politischen Unabhängigkeit im Jahr 1847
jedenfalls ein Hoffnungsträger der Back to Africa-Bestrebungen schwarzer Panafrikanisten
des 19. Jahrhunderts. Unter ihnen verdienen vor allem Edward Wilmot Blyden und
Alexander Crummell Erwähnung, die nach ihrer Emigration von Liberia aus gemeinsam
für einen panafrikanischen Zusammenschluss gegen die Kolonialmächte eintraten. Als
Liberian Emigration Commissioners besuchten sie im Jahr 1862 die USA, um die
geplante Repatriation voranzutreiben. Beim Aufbau eines starken, unabhängigen und
vereinigten Afrika sollten freiwillige Emigranten mit ihren im Westen erworbenen
Erfahrungen und Fähigkeiten mitwirken. Zum damaligen Zeitpunkt hatte allerdings der
Kampf gegen Sklaverei auf Seiten der Nordstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg
oberste Priorität. Erst als die Hoffnung auf politische und gleiche bürgerliche Rechte auch
nach der Niederlage der Südstaaten und der Aufhebung der Sklaverei im Jahr 1865
neuerlich enttäuscht wurde, lebte das Back to Africa-Begehren in den späten 1870erJahren bis zum ersten Weltkrieg wieder auf (Zips/Kämpfer 2001:152-180).
Reggae-Texte wie Bob Marleys Exodus oder Peter Toshs Song Mama Africa stehen
daher in einer langen literarischen, oral-literarischen und musikalischen Tradition
schwarzer Denker und politischer Akteure. Sie reicht vom kulturellen Widerstand der
Versklavten über die politischen Anstrengungen der frühen Panafrikanisten und schwarzen Nationalisten bis zur ersten internationalen schwarzen Massenbewegung unter der
Führung von Marcus Garvey, der seinerseits die genannten Vorläufer rezipierte (Asante
1991:11). Rastafari in Jamaika setzten Garveys Kampf für die Befreiung aller Afrikaner
unter dem UNIA-Motto »Africa for the Africans, those at home and those abroad« fort.
Auch ihre »afrikazentrische« Philosophie läßt sich nicht auf ein Back to Africa-Postulat
reduzieren. In ihren kulturellen und politischen Praktiken bleibt das Eintreten für
Repatriation eng verknüpft mit dem Widerstand gegen Rassismus, (Neo-)Kolonialismus
und Imperialismus. Sie setzen sich ebenso massiv für umfassende Selbstbestimmung und
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gleiche Rechte für Schwarze und alle anderen marginalisierten Gruppen in der Karibik,
Europa und den Amerikas ein. Die Erinnerung an Afrika ist nicht gleich bedeutend mit
ihrem »Auszug« aus der sozialen Realität, sondern – wie zumeist in der karibischen
Erfahrung – zugleich mit scharfer Gesellschaftskritik und dem Verlangen nach politischen Veränderungen verbunden (Martin 1985:28).
Repatriation als Rechtsanspruch und dessen Umsetzung
Nach der Befreiung Äthiopiens von den italienischen Invasoren unter dem Oberbefehl
von Mussolini und der Rückkehr von Haile Selassie I. auf den Thron im Jahr 1941,
konzentrierten sich die Hoffnungen der Rastas auf den in Afrika (neben Liberia) einzigen
nicht kolonialisierten Staat. Genährt wurden die Erwartungshaltungen in den frühen
1950er-Jahren überdies durch die Widmung von 500 Morgen Land durch Haile Selassie
I. an die Ethiopian World Federation in New York für rückwanderungswillige Afrikaner
und Afrikanerinnen. Damit erfüllte Haile Selassie I., der von Rastafari als der im Alten
Testament prophezeite Erlöser verehrt wird, seine noch als Thronanwärter Ras Tafari (im
Jahr 1922) an die UNIA ausgesprochene Einladung zur Rückkehr der im Westen
lebenden Afrikaner/innen, um am Aufbau des Kontinents mitzuhelfen (Martin 1985:20).
Trotz fehlender staatlicher Unterstützung emigrierten einige Rastafari aus Jamaika und
African-Americans aus den USA nach Shashamane in der Shoa Provinz, rund 250
Kilometer von Addis Abeba entfernt (Campbell 1985:223).
Dem inhaltlichen Begehren nach einer von den Kolonialmächten bezahlten
Repatriation wurde damit aber nicht entsprochen. Rastafari verweisen häufig auf die von
Königin Victoria bei der Aufhebung der Sklaverei in Jamaika im Jahr 1834 an die
Plantagenbesitzer ausbezahlte Entschädigungssumme von 20 Millionen Pfund Sterling.
Nach ihrer nachvollziehbaren Argumentation könne es wohl kaum rechtmäßig sein, den
Sklavenhaltern an Stelle der tatsächlich geschädigten Versklavten, eine Entschädigung
zukommen zu lassen, wie King Emmanuel Charles Edward (o.J.:35), der Gründer der
Bobo Shanty Gemeinde, einer besonders stimmgewaltig für die Repatriation eintretenden Rastafari-Organisation in unzähligen Briefen an Staatsoberhäupter schrieb. Damit
wurde King Emmanuel zum gedanklichen Vorreiter jener Dancehall Reggae Interpreten,
die sich seit den frühen 1990er-Jahren den Bobo Shanty (mit vollem Namen Ethiopia
Africa Black International Congress Church of Salvation) zugehörig fühlen: namentlich
Sizzla, Capleton, Anthony B, Turbulance, Jah Mason, Junior Reid, oder Chuck Fenda.
Die von ihnen erreichte weltweite Verbreitung der Repatriationsdoktrin findet zumindest
im Feld des Dancehall Reggae mehr Gehör, als die diesbezüglichen Bemühungen der
Bobo Shanty-Community, die praktisch ohne jegliche Resonanz von offiziellen Stellen
blieben (Zips 2005).
Nur einmal entschied sich der Staat Jamaika kurz vor Erreichung der Unabhängigkeit
(im Jahr 1962) zum Handeln. Nach einer gewaltvollen Auflösung eines Nyahbinghi (einer
Versammlung von Rastafari zur Verehrung Haile Selassies und zum spirituellen Kampf
gegen Babylon) durch Polizeieinheiten im Jahr 1959 drohten Rastas – Campbell (1985:222)
zufolge – mit einem Aufstand zur Durchsetzung des »Menschenrechts auf Repatriation«.
Ob tatsächlich unter dem Eindruck der ultimativen Formel »Repatriation or rebellion«
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durch Rastafari des Nyahbinghi-Ordens, wie Campbell nahe legt, oder als Referenz an
Marcus Garvey, der im Jahr 1964 zum ersten Nationalhelden des unabhängigen Jamaika
erklärt wurde, entschloss sich die jamaikanische Regierung zur Entsendung einer Delegation in fünf afrikanische Staaten. Ihr Auftrag war, Gespräche mit offiziellen Stellen in
Äthiopien, Nigeria, Ghana, Liberia und Sierra Leone über deren Haltungen zur Repatriation
sowie deren reale Bedingungen zu führen. Unter den sieben Delegierten der Mission to
Africa waren drei Rastafari, ein Repräsentant der UNIA, ein Vertreter der Ethiopian World
Federation und zwei weitere Abgesandte proafrikanischer Organisationen. Während ihres
sechswöchigen Aufenthaltes wurde die Delegation von den Staatsoberhäuptern der genannten Staaten empfangen. In ihrem Report an Norman W. Manley, den damaligen
Premier von Jamaika, berichtet die Mission to Africa (1961:1ff) detailliert von der
begeisterten Aufnahme der Back to Africa-Initiative in allen besuchten afrikanischen
Staaten. Ihr Bericht beschreibt sowohl die Lebensbedingungen in den besuchten Staaten als
auch die Haltungen der einzelnen Regenten gegenüber den Intentionen der Delegation als
überaus positiv. Vor allem Kwame Nkrumah drückte seine Bewunderung für Marcus
Garvey und dessen Back to Africa-Politik geradezu euphorisch aus und verwies auf die
historische Bedeutung dieses Treffens (Mission to Africa 1961:3-13).
Trotz dieser affirmativen Äußerungen bedeutender afrikanischer Staatschefs setzte die
jamaikanische Regierung nach der Unabhängigkeit keine weitere Initiative zu Verhandlungen auf offizieller Ebene über die Konkretisierung von Repatriationsprogrammen. Die
bedingungslose Identifikation von Rastafari mit Afrika vertrug sich nur schlecht mit der
Staatsideologie eines karibischen (bzw. »kreolischen«) Nationalismus. Jamaikas Erben des
britischen Rechts- und Verwaltungssystems gaben die neue Parole aus: »Out of many one
people«. Rastas kommentierten das Staatsmotto zynisch als Verschleierungsstrategie
gegenüber den tatsächlichen Besitz- und Machtverhältnissen (z.B.: Mutabaruka in dem
Reggae Text: Out of many one, 1983). Auf die Symbole ihrer afrikanischen Identität
(äthiopische Flaggen auf den Häusern, Dreadlocks, Haile-Selassie-Bilder und andere
afrikanische Ausdrucksformen) reagierten die staatlichen Behörden mit Schikanen und
(struktureller) Gewalt. Als »cult of outcasts« definiert (so z.B. Patterson in dem Artikel
»Ras Tafari: the cult of outcasts«, 1964:15) wurden die an ihren Dreadlocks leicht
erkennbaren »cultists« nicht nur marginalisiert, sondern wesentlicher Grund- und Freiheitsrechte beraubt. Ihr Wunsch nach Afrika zurückzukehren, erhielt das erwähnte Prädikat
irrational und wurde sogar von Sozialwissenschaftlern lächerlich gemacht: »…the last
thing the cultist, in the depth of his being, would wish to happen is for the ships to come«
(Patterson 1964:17). Die vom britischen Erziehungssystem geerbten Stereotypen vom
»wilden unzivilisierten Afrika« halfen lange Zeit mit, die Rastafari-Philosophie zu diskreditieren (Nettleford 1978:187ff). Darauf bezog sich Bob Marley (in dem Reggae Song
Redemption Song, 1980), als er seinen Landsleuten vorhielt, sich noch nicht aus der
mentalen Sklaverei befreit zu haben. Rastafari benützten die Popularität von Reggae, um
ihre wichtigste Forderung aufrechtzuhalten: »Repatriation is a Must!«
I want to go home to where I belong
I want to go home to live in my father’s house …
I want to go home to live with King Rastafari
Repatriation is a must
»Mama Africa, lange nicht mehr gesehen … «
199
We want go home
And we nuh make no fuss…
(The Heptones, 1979)
Internationales Recht und Repatriation
Die juridischen Diskurse kennzeichnet ein starker Tempozentrismus auf geschichtlich
rezente Zeit, dessen Zufälligkeit aus ethnohistorischer Sicht bezweifelt werden darf.
Tempozentrismus, als die ausschließliche Konzentration auf die unmittelbaren eigenen
Lebenszusammenhänge, kann insofern als neutralisierte oder verschleierte Form des
Ethnozentrismus verstanden werden. Denn Rechtsansprüche als Folge der Sklaverei und
des Kolonialismus werden damit aus der Diskussion praktisch ausgeschlossen. Durch
einseitige definitorische Macht wird die Anerkennung von Repatriationsansprüchen auf
Kriegsgefangene, Zivilisten, die im Zuge von kriegerischen Auseinandersetzungen
interniert wurden, und allenfalls auf (anerkannte) Flüchtlinge beschränkt. Diese Perspektive ignoriert und bestreitet letztlich jede individuelle »power to define oneself« (Berg
2005), die von vielen Menschen in der Diaspora seit den Tagen der Sklaverei mit
wachsender Ungeduld eingefordert wird. Damit erinnert sie auffällig an jene Definitionsmacht, die bis Ende des 19. Jahrhunderts Menschen zu Sklaven verdinglicht hat. Es
entbehrt nicht des Zynismus, wenn deren Nachkommen ein Recht auf Rückkehr mit der
Begründung verweigert wird, dass sie kein Herkunftsland, keine frühere staatliche
Zugehörigkeit beweisen können.
Ebenso zynisch erscheint es, wenn ihre unmittelbare Betroffenheit aufgrund der
generationenlangen Ansässigkeit in der so genannten »Neuen Welt« negiert wird.
Schließlich können beide Einwände als direkte Resultate jenes »Rechtssystems« der
Sklaverei gelesen werden, dem auf internationaler Ebene (erst) durch die Sklaverei
Konvention (Slavery Convention, in Kraft getreten am 9.März 1927) mit gesetzlichen
Mitteln begegnet wurde. In ihrem Artikel 2 fand sich die Absichtserklärung: (a) »To
prevent and suppress the slave trade«; (b) »To bring about, progressively and as soon as
possible, the complete abolition of slavery in all its forms.« Aber erst durch die
Zusatzkonvention, Supplementary Convention on the Abolition of Slavery, the Slave
Trade, and Institutions and Practices Similar to Slavery (in Kraft getreten am 30. April
1957) wurde (in den Artikeln 5 und 6) Sklaverei zum internationalen Unrecht erklärt.
Bis heute steht hingegen eine rechtsfolgenwirksame Verurteilung der Sklaverei im
internationalen Recht aus. Aus Angst vor den rechtlichen Folgen einer solchen Verurteilung, insbesondere durch das Entstehen von Reparationsansprüchen, inklusive den
Forderungen auf Repatriation, hat die überwiegende Mehrzahl der betroffenen Nachfolge-Staaten auf Täterseite jede Form von Entschuldigung anlässlich der UN World
Conference Against Racism and Xenophobia vom 31. August bis 8. September 2001 in
Durban/Südafrika abgelehnt. Ein Zusammenhang mit den Anschlägen auf New York und
Washington nur drei Tage nach dem Ende der Konferenz, die nicht zuletzt eine
entschiedene Ablehnung aller palästinensischen Ansprüche ergab, kann und soll nicht
hergestellt werden. Fest steht allerdings, dass die demonstrative Ignoranz aller Reparationsforderungen aus dem Tatbestand der Sklaverei zu einem Klima der Gewaltbereitschaft
200
Werner Zips
beiträgt, deren Höhepunkt noch nicht erreicht zu sein scheint. Jene Staaten, die durch die
rücksichtslose Ausbeutung von Millionen Afrikanern die Profite für die Ablösung des
Merkantilismus durch den Industrie-Kapitalismus und damit ihren historischen und
heutigen Wohlstand erzielen konnten, scheuen sich davor, in der transatlantischen
Versklavung ein völkerrechtliches Unrecht zu sehen. Damit blieb den Forderungen nach
Reparationen und Repatriation bisher nur die politisch-moralische Ebene. Eine Haftung
aller Staaten, die sich am transatlantischen Sklavenhandel bereichert haben, bedürfte aber
eines rechtlichen Durchbruchs, der schon allein aufgrund der bestehenden Machtverhältnisse in den zuständigen internationalen Organisationen aus heutiger Perspektive praktisch
unvorstellbar erscheint. Denn eine völkerrechtliche Wiedergutmachungspflicht besteht
nur, wenn die Übertretung einer Norm des Völkerrechts (an)erkannt wurde (Verdross/
Simma 1976:613f). Da die Sklaverei erst durch die zitierten Konventionen (1926 und 1956)
im internationalen Recht zum Unrecht erklärt wurde, war sie aus rechtspositivistischer
Sicht davor, d.h. vor der Begründung entsprechender Normen, nicht rechtswidrig. Die
von afrikanischen Staaten und schwarzen Organisationen in der Diaspora immer häufiger
gestellten Schadenersatzforderungen entbehren demnach der rechtlichen Grundlage.
Völkerrecht, das wegen seiner mangelnden Durchsetzbarkeit gerne als »soft law«
bezeichnet wird, war immer auch Herrschaftsrecht.
Zur kritischen Aufgabe einer dem interkulturellen Ausgleich und dem universalen
Frieden verpflichteten Sozialwissenschaft gehört es auch, unbequeme und provozierende
Fragen zu stellen: War die Sklaverei bis zu deren Abolition in den europäischen Staaten
tatsächlich Recht? Selbst von kruden rechtspositivistischen Positionen aus wird die
leichtfertige Bejahung dieser Frage schwer fallen. Gegen die argumentative Begründung
der diskurstheoretischen und naturrechtlichen Gegenpositionen des Völkerrechtes könnte sie sich kaum behaupten. Zu krass widerspricht jede Form der Versklavung von
Menschen durch Menschen allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die mit der kommunikativen Rationalität als ermöglichende Bedingung der basalen Freiheit der Menschheit als
Gesamtheit verknüpft sind. Einseitige Gesetzgebung, die dazu in Widerspruch steht,
kann von diesem Standpunkt aus kritisiert werden. Die Sklaverei-Gesetze der europäischen Nationen sind daher ebenso(wenig) Recht wie die Nürnberger Rassengesetze. Sie
sind Ausdruck eines Herrschaftswillens, der sich durch die artifiziell hergestellte Faktizität der Durchsetzungsmacht bestimmt. »Hingegen bemisst sich die Legitimität von
Regeln an der diskursiven Einlösbarkeit ihres normativen Geltungsanspruchs letztlich
daran, ob sie in einem rationalen Gesetzgebungsverfahren zustande gekommen sind –
oder wenigstens unter pragmatischen, ethischen und moralischen Gesichtspunkten
hätten gerechtfertigt werden können. Die Legitimität einer Regel ist von ihrer faktischen
Durchsetzung unabhängig.« (Habermas 1992:47f)
Die »Rechtsordnung« der Sklaverei muss danach auch schon für die Zeit vor ihrer
Aufhebung als illegitim betrachtet werden. Ihre faktische Durchsetzung durch den
Rückgriff auf diktatorische Mittel der Machtentfaltung lässt sich völkerrechtlich als
»denial of justice« qualifizieren. Darauf könnte sich das politische Eintreten für eine
Verantwortlichkeit der ehemaligen Sklavenhalter-Staaten stützen. Im Rahmen der allgemeinen Wiedergutmachungspflicht wären auch entsprechende Finanzierungsprogramme
für die freiwillige Repatriierung der Nachkommen der Versklavten als Reparationsansprüche konstruierbar. Gerade angesichts der gewaltigen Ausgaben der reichen Staaten
»Mama Africa, lange nicht mehr gesehen … «
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zur Verhinderung oder Eindämmung der Reisefreiheit und Emigration von Afrikanern
und Afrikanerinnen nach Europa hätten entsprechende Überlegungen auch einige pragmatische Aspekte für sich. Die freiwillige Repatriation aus der afrikanischen Diaspora
und ihren westlichen Metropolen würde ein mehrfach wirksames Signal ausstrahlen: zum
einen für die Auswanderungswilligen aus der Karibik und den latein- und südamerikanischen Staaten, zum anderen für viele, vor allem junge Afrikaner und Afrikanerinnen,
die mit den von Fernsehen und Kino erzeugten (i.e. virtuellen und irrealen) Vorstellungen
vom Goldenen Westen um fast jeden Preis, einschließlich ihres Lebens, nach Europa und
die USA drängen. Die guten Erfahrungen von Rastafari-Rückkehrern wie jenen Bobo
Shanty in der Nähe der ghanaischen Hauptstadt Accra könnten auch andere überzeugen,
ganz im Sinne des Reggae Songs Till I’m laid to rest von Buju Banton (1995):
Till I’m laid to rest, always be depressed
There’s no life in the West, I know the East is the best
All the propaganda they spread, tongues will have to confess …
Ethiopia awaits all the prince and princess …
Schlussbemerkung
Rechtsanthropologische und ethnohistorische Argumente für eine völkerrechtliche
Wiedergutmachungspflicht der sklavenhaltenden europäischen Kolonialstaaten unter
Einschluss von Reparationen zur Durchführung von Repatriationsprogrammen werden
sich wohl dem Vorwurf der Naivität aussetzen. Diese (scheinbare) Naivität wiegt aber
unverhältnismäßig leichter, als die stillschweigende Zustimmung zur fortgesetzten
Weigerung ehemaliger Sklavenhalternationen, ihre historische Schuld rechtswirksam
einzugestehen und einen Teil ihrer Bereicherung als Reparationszahlungen zurückfließen zu lassen. Daraus ließe sich die freiwillige Repatriation einer noch zu bestimmenden
Zahl von tatsächlich Repatriationswilligen finanzieren. Auf diese Freiwilligkeit wäre
besonderes Augenmerk zu legen. Zu schnell könnten rassistische Gruppierungen die
Repatriationsforderung in ihr Gegenteil, die zwangsweise Ausbürgerung und Ausweisung ethnischer Minderheiten, verkehren. Allerdings entspricht es dem zwingenden
Recht (ius cogens) der Achtung vor den Menschenrechten, Repatriation immer mit dem
Zusatz der absoluten Freiwilligkeit zu denken (Türk 1992:66).
Keine Naivität dürften sich rechtsanthropologische Betrachtungen gegenüber der
realen Umsetzung dieser freiwilligen Repatriation leisten. Dazu gehören zahlreiche
völkerrechtliche und politische Problembereiche, die in diesem Beitrag nur teilweise
andiskutiert werden konnten, wie insbesondere entsprechende zwischenstaatliche Übereinkommen, unter Einschluss mitbeteiligter NGO’s. Von staatlicher Seite wären an den
Verhandlungen die afrikanischen Herkunftsländer der Versklavten, die mittlerweile
unabhängigen ehemaligen Sklavenkolonien sowie die europäischen früheren Sklavenhalterstaaten zu beteiligen. In der gegenwärtigen Situation wachsender internationaler
Mobilität durch Migrationsbewegungen erscheint die Anregung einer entsprechenden
Diskussion längst nicht mehr so aussichtslos und geradezu utopisch wie vor einigen
Jahren. Absurd oder idealistisch war sie ohnehin niemals; zu dieser Diagnose genügt das
202
Werner Zips
historische Studium der Lebensverhältnisse während der Sklaverei und deren Kontextualisierung mit den heutigen Bedingungen der Nachkommen der verschleppten
Afrikaner. Wer mit dem Alltag in Kingston, Brixton, Bronx oder Brooklyn nur halbwegs
vertraut ist, wird die zunehmende afrikanische Identifikation und die damit zusammenhängenden Bestrebungen nach Rückkehr in das geschichtliche Motherland nicht als
irrational einstufen. Vor allem aber lässt sich aus der empirischen Nähe das andernfalls
immer weiter ansteigende Gewaltpotenzial antizipieren.
Abschließend möchte ich hervorheben, dass eine baldige Diskussion der Forderung
nach Repatriation, wie sie unter anderem von Rastafari erhoben wird, auch zur Reduktion
der Spannungen zwischen ethnischen Gruppen in multikulturellen Staaten wie etwa
Großbritannien oder Frankreich (sowie den meisten EU-Staaten) und Staatengemeinschaften wie beispielsweise den USA oder der EU beitragen könnte. Den historisch
begründeten Anspruch auf »Wiedergutmachung« ernst zu nehmen, solange er noch mit
friedvollen Mitteln gestellt wird, sollte im Interesse jener Staaten liegen, denen schwere
politische, religiöse und ethnisierte Konflikte drohen. Die Stimmungen in den schwarzen
Bevölkerungen der genannten Staaten, aber auch in der Karibik und der übrigen
afrikanischen Diaspora sind aus den Mitteln der Massenkommunikation abzulesen, die
ihnen zur Verfügung stehen. Musikalische Äußerungsformen wie Reggae, Rap oder
sogar Soca sind an Deutlichkeit nicht zu überbieten. Als künstlerisch-politische Medien
für Sozialkritik klagen die Interpreten und Interpretinnen die lange vorenthaltenen
Menschenrechte ein und fordern Gleichberechtigung und Gerechtigkeit. Das Postulat
»Repatriation is a Must« ist in diesem historischen und rechtsanthropologischen Kontext
zu diskutieren, wozu ich mit meinen Ausführungen beitragen möchte. Damit verbindet
sich die kritische Anregung, diesem Anspruch auch auf rechtlicher und politischer Ebene
zunächst einmal Gehör, letztlich aber auch Geltung zu verschaffen.
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